Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-
vor wir in die heutige Tagesordnung eintreten, möchte
ich dem Kollegen Dr. Thomas Gambke zu seinem heu-
tigen 65. Geburtstag ebenso gratulieren
wie dem Kollegen Norbert Schindler, der dieses stolze
Jubiläum gestern hinter sich gebracht hat.
Beiden Kollegen alle guten Wünsche für das neue Le-
bensjahr.
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Für den
Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen
Personenverkehr schlägt die Fraktion der CDU/CSU
vor, den Kollegen Dr. Stefan Heck und die Kollegin
Daniela Ludwig als Mitglieder zu wählen. Die SPD-
Fraktion schlägt als Mitglied für dasselbe Gremium die
Kollegin Birgit Kömpel vor. Sind Sie mit diesen Vor-
schlägen einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann sind die genannten Kollegen als Mitglieder des
Beirates gewählt.
Schließlich gibt es eine interfraktionelle Vereinba-
rung, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/2879 mit dem Titel „Ökologi-
schen Hochwasserschutz voranbringen“ als Zusatzpunkt
zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 27 aufzurufen.
Die Tagesordnungspunkte 20 und 24 sollen abgesetzt
werden. Der Tagesordnungspunkt 26 rückt auf die Stelle
des Tagesordnungspunktes 24. – Auch dazu sehe ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum ASEM-Gipfel am 16./17. Oktober 2014,
zum Europäischen Rat am 23./24. Oktober
2014 und zum Euro-Gipfel am 24. Oktober
2014 in Brüssel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir später nament-
lich abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an
die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. –
Auch das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können
wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der ASEM-Gipfel bietet eingroßes und bedeutendes Forum, auf der Ebene derStaats- und Regierungschefs regelmäßig Fragen zu be-sprechen, die von gemeinsamem Interesse für Europaund Asien sind. Er ist damit auch Ausdruck der immerenger und wichtiger werdenden Partnerschaft zwischenIndustrieländern, Schwellenländern und Entwicklungs-ländern, einer Partnerschaft, die wir heute und morgenauf dem ASEM-Gipfel in Mailand weiter stärken wol-len. Die großen globalen Herausforderungen – wir wis-sen es – werden wir nur gemeinsam bewältigen können.Eine – um das Motto des Gipfels zu zitieren – verant-wortungsvolle Partnerschaft für nachhaltiges Wachstumund Sicherheit kann hierzu wertvolle Beiträge leisten.Lassen Sie mich drei Beispiele nennen.Erstens. In Asien wird deutlich, dass freie und sichereSeewege wahrlich nicht nur eine regionale Angelegen-heit sind, sondern auch unsere Interessen als Handels-nationen sind dort unmittelbar berührt. Zusammen mitunseren Partnern setzen wir uns dafür ein, dass in stritti-gen Territorialfragen internationale Streitschlichtungs-mechanismen genutzt und vertrauensbildende Maßnah-men ergriffen werden.Was es bedeutet, wenn Völkerrecht gebrochen und sodie internationale Rechts- und Friedensordnung beschä-digt wird, führt uns in Europa die Ukraine-Krise dras-tisch vor Augen. Die Folgen sind nicht nur für dasbetroffene Land, in diesem Fall die Ukraine, verheerend,
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sondern auch weit darüber hinaus gravierend. Dem mussdie Staatengemeinschaft geschlossen und entschlossenentgegentreten.Am Rande des ASEM-Gipfels werde ich zu Gesprä-chen mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenkound dem russischen Präsidenten Putin zusammenkom-men. Die Lage in der Ukraine ist trotz der Vereinbarungder Waffenruhe weiterhin äußerst schwierig. Immerhinsind seit Inkrafttreten der Waffenruhe über 300 Men-schen gestorben; immer noch gibt es täglich Berichteüber Kämpfe und Opfer.Den entscheidenden Beitrag zur Deeskalation mussRussland leisten. Ganz wesentlich dafür ist die vollstän-dige Umsetzung der Minsker Vereinbarung vom Sep-tember. Das verlangt unter anderem den Abzug russi-scher Waffen, eine effektive Grenzsicherung unterFührung der OSZE sowie die Durchführung von Kom-munalwahlen im Osten der Ukraine, und zwar nachukrainischem Recht. Genau diese Dinge werden wirauch ansprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden weiter-hin keinerlei Zweifel daran lassen, dass die Verletzungder territorialen Integrität der Ukraine und der Bruch desVölkerrechts in unserer unmittelbaren Nachbarschaftnicht folgenlos bleiben. Deshalb sind Sanktionen einwichtiger Teil unseres Ansatzes, den Konflikt um dieUkraine zu lösen.
Selbstzweck sind sie aber nicht. Wir suchen unvermin-dert immer auch den Dialog mit Russland. Das eine,Sanktionen, schließt das andere, den Dialog, nicht aus –um immer wieder die Stärke des Rechts durchzusetzen.
Zweitens. Die Terrororganisation IS bedroht den Na-hen und Mittleren Osten in völlig neuer Qualität. Mehrnoch: Sie bedroht die gesamte freie Welt. Deshalb müs-sen wir sie auch als weltweite, als gemeinsame Heraus-forderung begreifen, der wir uns gemeinsam zu stellenhaben. So können wir zum Beispiel zwischen Europaund Asien eng zusammenarbeiten, um die Reisetätigkeitpotenzieller Dschihadisten einzudämmen. Wir könnenuns auch darüber austauschen, wie wir weiteren Radika-lisierungstendenzen in unseren Gesellschaften wirksambegegnen können.Drittens. Auch die Ebolaepidemie, diese schrecklicheHeimsuchung für die Menschen, die sich mit dem Virusinfizieren, diese Heimsuchung für die Länder Westafri-kas, die von ihr ganz besonders betroffen sind, ist in derglobalisierten Welt von heute nur mit einer deutlich en-geren internationalen Zusammenarbeit und mit deutlicheffektiveren Strukturen einzudämmen, als wir sie im Au-genblick haben. Ebola und vergleichbare Epidemien ma-chen nicht an Grenzen halt; sie gehen uns alle an.
Diese drei kurz skizzierten Beispiele stehen dafür,wie wichtig eine verantwortungsvolle Partnerschaft aufder Welt ist. Sie stehen dafür, wie wichtig bilateraleKontakte europäischer und asiatischer Partner sind, unddiese bilateralen Kontakte wird es natürlich auch amRande des ASEM-Gipfels geben. In solchen Gesprächenspüre ich im Übrigen immer wieder deutlich, wie hochdie Erwartungen an uns in Europa sind, dass wir unsereStimme erheben, sie zu Gehör bringen und andere unter-stützen. Umso wichtiger ist es, dass wir in Europa stetsaufs Neue verstehen, dass nur ein einiges, nur ein starkesEuropa seine Interessen und Werte in der Welt erfolg-reich vertreten kann.Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist und bleibt,dass Europa stärker aus der europäischen Staatsschul-denkrise hervorgeht, als es in sie hineingegangen ist. Wirmüssen Europa zu neuer Stärke führen. Das ist die großeHerausforderung, die die Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union und die europäischen Institutionen in dennächsten Jahren gemeinsam leisten müssen. Dazu mussdie europäische Ebene sich wirklich nicht für alles zu-ständig fühlen, sondern da, wo es darauf ankommt, starksein; sie muss ihre Ressourcen auf genau diese Bereichekonzentrieren. Deshalb ist es von so großer Bedeutung,dass der Europäische Rat im Juni mit dem neuen Kom-missionspräsidenten eine sogenannte strategischeAgenda für die nächsten fünf Jahre beschlossen hat. Ge-nau auf dieser Grundlage werden wir uns beim Europäi-schen Rat in der nächsten Woche damit beschäftigen,wie wir Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäf-tigung in Europa weiter stärken können, und zwar ge-zielt und nachhaltig. Genau das ist eine der wichtigenLehren aus der Krise der vergangenen Jahre.Dass wir seit ihrem Beginn den richtigen Weg einge-schlagen haben, belegen erste Erfolge. In den von derKrise besonders betroffenen Ländern steigt die Produkti-vität, die Leistungsbilanzen haben sich verbessert unddie Haushaltsdefizite werden abgebaut. Mit Irland, Por-tugal und Spanien haben drei von fünf Programmländernihre Programme bereits erfolgreich abschließen können.Dennoch – und das werde ich wieder und wieder sa-gen – sind wir noch lange nicht am Ziel. Die Krise istnoch nicht dauerhaft, noch nicht nachhaltig überwunden;denn ihre Ursachen, sowohl im Hinblick auf die Gestal-tung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunionals auch auf die Lage einzelner Mitgliedstaaten, sindnoch nicht vollständig beseitigt. Wir müssen unsere An-strengungen für nachhaltiges Wachstum, für solide öf-fentliche Finanzen und die Schaffung von Arbeitsplätzenweiter entschlossen vorantreiben.Die kontinuierliche Ausrichtung nationaler Politik aufStrukturreformen zur Stärkung von Wettbewerbsfähig-keit, von Wachstum und Beschäftigung ist und bleibtentscheidend für einen dauerhaften Erfolg der Wirt-schafts- und Währungsunion. Ich werde mich deshalbauch weiterhin – obwohl wir das vielmals schon ohne
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sichtbare Erfolge getan haben – für eine engere und ver-bindliche wirtschaftspolitische Koordinierung in Europaeinsetzen. Wir brauchen das, wenn wir in einem Wäh-rungsgebiet gemeinsam dauerhaft und nachhaltig wach-sen wollen und Beschäftigung generieren wollen.
Es war richtig und wichtig, dass sich die europäischenStaats- und Regierungschefs im Juni noch einmal ge-meinsam zu den Regeln des gestärkten Stabilitäts- undWachstumspakts bekannt haben. Alle – ich betone andieser Stelle noch einmal: alle – Mitgliedstaaten müssendie gestärkten Regeln des Stabilitäts- und Wachstums-pakts voll respektieren. Diese Regeln müssen gegenüberallen Mitgliedstaaten glaubwürdig angewandt werden.Nur dann kann der Pakt seine Funktion als zentraler An-ker für Stabilität und vor allen Dingen für Vertrauen inder Euro-Zone erfüllen.
Die entsprechenden europäischen Rechtsakte sind imÜbrigen nicht vom Himmel gefallen, sondern sie wurdenvom Europäischen Parlament mit beschlossen. Dieneuen Regeln zur Überwachung nationaler Haushaltewurden dort nach langen Beratungen vor gerade erst an-derthalb Jahren von einer breiten Mehrheit mitgetragen.Ich bin sicher, dass sich die derzeitige genauso wie diekünftige Europäische Kommission der zentralen Verant-wortung bewusst ist, die sie für die Glaubwürdigkeit desStabilitäts- und Wachstumspaktes trägt.Die wirtschaftliche Erholung in Europa, die endlich– wenn auch noch sehr zaghaft, vielleicht auch zu zag-haft – auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar ist, ist im-mer noch zu fragil, als dass wir einfach zur Tagesord-nung übergehen könnten. Dazu reicht allein schon einBlick auf die Jugendarbeitslosigkeit. Sie macht uns un-verändert große Sorgen. Wir müssen deshalb weiter da-ran arbeiten, dass nationale und europäische Mittel, diefür die Förderung von Jugendbeschäftigung verfügbarsind, schnell und effektiv eingesetzt werden.Wir müssen die Mobilität von Arbeitskräften nationalund grenzüberschreitend weiter voranbringen. So habenwir es auf dem Beschäftigungsgipfel in Mailand in derletzten Woche verabredet. Dennoch ist es nicht zufrie-denstellend, dass nur ein ganz kleiner Teil der 6 Milliar-den Euro, die für die Bekämpfung der Jugendarbeitslo-sigkeit zur Verfügung stehen, bis jetzt abgerufen wurde.
Es ist auch wichtig – ich habe noch einmal darauf hin-gewiesen –, dass wir wissen, wohin wir junge Leute aus-bilden. Wir haben hier leidvolle Erfahrungen aus derZeit der deutschen Einheit. Deshalb muss auch identifi-ziert werden, wo die Wachstumsregionen Europas lie-gen.Meine Damen und Herren, den Europäischen Rat undden Euro-Zonen-Gipfel in der kommenden Woche wer-den wir insgesamt dazu nutzen müssen, eine Bilanz zuziehen, was die im Rahmen des vor zwei Jahren be-schlossenen Pakts für Wachstum und Beschäftigung ver-einbarten Maßnahmen bisher gebracht haben. Ichglaube, es ist wichtig, eine solche Bilanz aufzustellen;denn nur auf dieser Grundlage sind wir überhaupt in derLage, richtige Entscheidungen für die Zukunft zu tref-fen. Darum wird es vor allem bei dem Ratstreffen imDezember gehen, bei dem wir über Investitionen undüber Wachstum sprechen werden sowie über dieSchwerpunkte, in denen das stattfinden soll.Ohne Zweifel können wir eine Reihe von Fortschrit-ten feststellen. Zum Beispiel hat die Europäische Inves-titionsbank, an deren Kapitalerhöhung wir hier durchBeschlüsse mitgewirkt haben, inzwischen Kredite fürrund 230 000 kleine und mittlere Unternehmen in Eu-ropa mobilisiert. Das ist eine gute Nachricht.
Im Übrigen hat die Europäische Investitionsbank – pa-rallel zu den Mitteln aus dem europäischen Haushalt –6 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslo-sigkeit eingesetzt. Über die Europäische Investitionsbanksind inzwischen Kredite in Höhe von 9,6 Milliarden Eurovergeben worden. Die Europäische Investitionsbank hatalso in kurzer Zeit mehr gemacht, als sie versprochenhat.Wir müssen auch über den EU-Haushalt sprechen, fürden wir seit 2012 eine Reihe wichtiger Weichenstellun-gen vorgenommen haben, die zeigen, dass wir denSchwerpunkt auf nachhaltiges Wachstum, Beschäftigungund Wettbewerbsfähigkeit legen. In diesem Zusammen-hang geht es aber immer wieder um die richtigen Rahmen-bedingungen für Investitionen. Ich glaube, wir können inDeutschland zeigen, dass Wachstum und Investitionengestärkt werden können, ohne dass man den Konsolidie-rungskurs verlassen muss.Im Übrigen sind es die Wirtschaft und die Unterneh-men, die Arbeitsplätze und Innovationen schaffen. Esmuss also vor allem, wenn wir Wachstum in Europawollen, um die Mobilisierung privaten Kapitals gehen,und das wird zurzeit zu wenig gemacht.
Wir müssen darüber sprechen, wo wir durch Investitionenund verbesserte Rahmenbedingungen gezielt Stärkungenhervorrufen können, um möglichst starke Wachstumsim-pulse zu erzeugen. Für mich gehören der gesamte Be-reich der digitalen Wirtschaft wie auch die Förderungkleinerer und mittlerer Unternehmen im Energiebereichdazu. Über den digitalen Bereich wird in diesem Hausheute ja noch debattiert; ich glaube, das ist außerordent-lich wichtig.Hinsichtlich der klima- und energiepolitischen Dis-kussion bedeutet der Europäische Rat in der nächstenWoche eine weitere wichtige Etappe, und zwar nicht nurinnerhalb der Europäischen Union, sondern auch mitBlick auf die internationalen Klimaverhandlungen, dienächstes Jahr in die entscheidende Konferenz in Parismünden. Wir haben das Ziel einer dauerhaft sicheren,bezahlbaren und umweltverträglichen Energieversor-
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gung; genauso verfolgen wir ehrgeizige Klimaziele.Beim Europäischen Rat werden wir konkrete Ziele undwichtige Eckpunkte für den Klima- und Energierahmender EU bis zum Jahr 2030 beraten.Die Situation in der Ukraine hat uns zudem in beson-derem Maße noch einmal die Bedeutung der Energiever-sorgungssicherheit für unser Land und für Europa vorAugen geführt. Beide Themen gehören eng zusammen:Fortschritte beim Ausbau der erneuerbaren Energien undbei der Energieeffizienz tragen auch dazu bei, die Ab-hängigkeit Europas von Energieimporten zu verringern.
Den Beratungen in der nächsten Woche liegen dieVorschläge der Kommission für einen Klima- und Ener-gierahmen 2030 zugrunde. Danach sollen die Treibhaus-gasemissionen um 40 Prozent gegenüber 1990 verringertwerden, der Anteil der erneuerbaren Energien soll 2030bei mindestens 27 Prozent liegen, und der Primärener-gieverbrauch soll um 30 Prozent gesenkt werden.
Wir wollen – ich glaube, hier habe ich die Unterstüt-zung des Bundestages –, ebenso wie viele andere Partnerin der Europäischen Union auch, dass von Europa einstarkes Signal für den Klimaschutz ausgeht, gerade auchmit Blick auf die internationalen Klimaschutzverhand-lungen.
Sie müssen im Dezember nächsten Jahres in Paris end-lich mit einem ambitionierten Abkommen abgeschlossenwerden. Dazu wollen wir uns auch die Möglichkeit of-fenhalten, im Kontext eines globalen Abkommens imKlimabereich über das vorgeschlagene 40-Prozent-Zielhinauszugehen.Für das Gesamtpaket setzt die Bundesregierung auchauf ein klares Signal für eine rasche und nachhaltige Re-form des europäischen Emissionshandels. Er ist undbleibt das zentrale Klimaschutzinstrument in Europa undmuss seinen Beitrag zur Erreichung der neuen Klima-ziele bis 2030 leisten.
Hier müssen wir es schaffen, die bestehenden Über-schüsse an Zertifikaten so schnell wie möglich abzu-bauen und den Emissionshandel wieder auf Kurs zubringen. So können wir Anreize für Investitionen in effi-ziente Technologien setzen. Damit aber unsere Wirt-schaft diese Investitionen tätigen kann, brauchen wirweiterhin effektive Regelungen, die unsere Wirtschaftim internationalen Wettbewerb schützen und eine Verla-gerung von Produktionskapazitäten ins Ausland verhin-dern. Deutschland will seine industrielle und wirtschaftli-che Stärke nutzen, um den Klimaschutz mit innovativenTechnologien weiterzubringen. Denn es wäre wahrlichniemandem geholfen, wenn CO2-Emissionen außerhalbEuropas freigesetzt würden und in Europa Arbeitsplätzeverloren gingen.
Wir Deutschen können uns beim Klimaschutz oderbeim Ausbau der erneuerbaren Energien durchaus nochambitioniertere Ziele als die von der Kommission vorge-legten vorstellen. Anderen Mitgliedstaaten hingegen ge-hen bereits die auf dem Tisch liegenden Vorschläge derKommission entschieden zu weit. Es steht also außerZweifel: Uns stehen noch schwierige Verhandlungen be-vor. Es ist auch noch offen, ob es schon nächste Wochegelingen wird, einen Klima- und Energierahmen 2030 zubeschließen, oder erst später.Wer Europa kennt, weiß, wie wichtig Geduld undAusdauer sind. Wer Europa kennt, weiß, dass es richtigist, die spezifischen Besonderheiten aller Mitgliedstaa-ten zu berücksichtigen und niemanden zu überfordern.Denn unser künftiger Klima- und Energierahmen mussvon allen Mitgliedstaaten – wir müssen das einstimmigentscheiden – getragen werden. Aber genauso richtig istund bleibt: Alle Mitgliedstaaten müssen faire Beiträgeleisten. Deutschland ist bereit, wirtschaftlich schwächereMitgliedstaaten bei der Modernisierung ihrer Energie-systeme und ihrer Wirtschaft im Rahmen des Möglichenzu entlasten. Aber Deutschland erwartet im Gegenzugauch, nicht über Gebühr belastet zu werden. Auf beideslege ich Wert.Es gehört zum Geist der europäischen Zusammenar-beit und der Verantwortung, dass am Ende immer alle ei-nen Beitrag leisten müssen, um ein gemeinsames Ergeb-nis zu ermöglichen. Ein solches gemeinsames Ergebniswird dem Klimaschutz dienen, und es wird dazu dienen,Klarheit über den anstehenden Investitionsbedarf imEnergiesektor sowie Planungssicherheit für unsere In-dustrie zu schaffen. Diesen Aspekt darf man nicht unter-schätzen. Die Industrie wartet auf klare Signale, wie sichder Klimaschutz weiterentwickelt.
Wir werden dabei natürlich auch die Fragen der Ver-besserung der Energieversorgungssicherheit für Europaund für unser Land beraten. Es ist richtig, unsere Ener-giebezugsquellen und -transportwege weiter zu diversifi-zieren und unsere Importabhängigkeiten zu verringern.Diesen Weg müssen wir ebenso entschieden wie mit Au-genmaß fortsetzen. Von zentraler Bedeutung ist dabeiauch die europäische Zusammenarbeit beim Ausbau derStrom- und Gasnetze, insbesondere um die Leitungsver-bindungen zwischen den Mitgliedstaaten weiter zu ver-bessern. Dieser Netzausbau ist zugleich eine zentraleVoraussetzung dafür, ein weiteres wichtiges Ziel zu er-reichen, und das ist die Verwirklichung des EU-Energie-binnenmarktes. Auch dafür setzt sich die Bundesregie-rung ein.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich wün-sche mir, dass bei dem heute beginnenden ASEM-Gipfelund beim Europäischen Rat in der nächsten Woche ge-zeigt wird, was Europa auszeichnet und was wir in derglobalen Welt brauchen: dass wir am Ende auch bei den
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schwierigsten Themen stets eine für alle tragfähige Lö-sung im Geist der Zusammenarbeit und der Verantwor-tung finden. Dafür setze ich mich heute und morgen inMailand und nächste Woche in Brüssel mit ganzer Kraftein und bitte um Ihre Unterstützung.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin, Sie haben zum Schluss auch über die Ener-giefrage gesprochen. Wenn ich es richtig verstandenhabe, soll es ja darum gehen, die Abhängigkeit von Erd-gas und Öl aus Russland abzubauen, und wenn ich esweiter richtig verstanden habe, sind die USA daran inte-ressiert – und Sie auch dazu bereit –, dass Sie den Importvon Erdgas aus den USA – welches übrigens durch Fra-cking hergestellt wird – ausweiten. Erstens ist Frackingumweltschädlich, zweitens ging es den USA bei ihrerForderung, dass sich die EU von Russland unabhängigmachen solle, und bei der Forderung nach Sanktionengegen Russland doch wieder um eigene ökonomische In-teressen: dass sie mehr verkaufen können; das kommtdabei heraus.
Nun ging der deutsche Export – die dramatische Zahlhat auch Herrn Gabriel etwas durcheinandergeworfen –im August um 5,8 Prozent zurück. Dafür gibt es zweiGründe, die Sie nicht benannt haben:Der erste Grund ist die völlig verfehlte Sanktionspoli-tik gegenüber Russland, das daraufhin die Importe ausDeutschland stark reduziert hat. Das ist politisch, ökono-misch und auch sozial der falsche Weg. Es wird ge-schätzt, dass uns das bis zu 300 000 Arbeitsplätze kostenkann.Jetzt sage ich Ihnen, was der Vorteil einer Mitglied-schaft in der EU ist: Der Vorteil einer EU-Mitgliedschaftbesteht darin, dass die Länder politisch, wirtschaftlichund zivilgesellschaftlich so eng miteinander verflochtensind, dass ein Krieg zwischen ihnen gar nicht mehrdenkbar wäre; da müsste vollständiger Irrationalismusherrschen. Wenn das stimmt, dann brauchen wir zuRussland genauso enge politische, ökonomische und zi-vilgesellschaftliche Beziehungen: damit ein Krieg zwi-schen Russland und dem übrigen Europa ebenfalls aus-geschlossen wird.
Wenn wir das hätten, wenn wir so enge Beziehungenhätten, könnten wir auch Einfluss nehmen auf Fragender Entwicklung der Demokratie, der Freiheit und desUmgangs mit Lesben und Schwulen und viele andereDinge, die uns stören. Das ist der richtige Weg. Der Wegder Sanktionen ist völlig falsch und schadet letztlichauch uns, unserer Wirtschaft wie unseren Bürgerinnenund Bürgern.
Deshalb ist, finde ich, die Verschiebung des PetersburgerDialogs ein völlig falsches Signal, das wir in dieser Zeitüberhaupt nicht brauchen können.Nun nehmen wir ja alle erstaunt zur Kenntnis, dasssich – es gibt immerhin das Minsker Abkommen – dochLösungen in der Ukraine anbahnen. Deshalb sage ich Ih-nen noch einmal: Jetzt müssen Sie auch Ihre Bereitschaftsignalisieren, die Sanktionen zurückzunehmen; andersist das Verhältnis nicht zu normalisieren.Für den Rückgang der Exporte gibt es noch einenzweiten Grund. Dieser zweite Grund hat mit der Politikin Bezug auf den Süden Europas zu tun. Diese Politikwar und bleibt falsch. Nach wie vor haben wir die Situa-tion, dass die Banken spekulieren können, soviel siewollen – es haften immer die Steuerzahlerinnen undSteuerzahler für sämtliche Verluste. Nach wie vor habenwir die Situation, dass die Banken, denen das Geld ja inden Rachen geworfen wird, dieses Geld nicht für Inves-titionen nutzen, sondern weiter mit Wertpapieren undImmobilien spekulieren. Die notwendige Regulierung,die Sie mehrfach angekündigt haben, findet bis heutenicht statt.Wenn jetzt angekündigt wird, dass die EuropäischeZentralbank bereit ist, den Banken auch noch die Staats-anleihen abzukaufen, macht das die Banken natürlichnoch reicher und noch sicherer. Vorgestern habe ichbeim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg argumen-tiert – ich finde: in Übereinstimmung mit dem Bundes-verfassungsgericht –, weshalb dies rechtswidrig ist. Wirwerden sehen, wie der Europäische Gerichtshof ent-scheidet. Ein direkter Ankauf von Staatsanleihen – beiden Staaten – durch die Europäische Zentralbank wäredurchaus sinnvoll, ist aber durch den Lissabonner Ver-trag verboten. Vielleicht müssen wir doch einmal da-rüber nachdenken, diesen zu korrigieren.
Jetzt komme ich zu Ihrem Spardiktat gegenüber demSüden Europas. Ich will Ihnen einmal wirklich aufzäh-len, was dort angerichtet worden ist. Die Folgen sind– zunächst in diesen Ländern und jetzt auch bei uns – er-heblich: Über 26 Millionen Bürgerinnen und Bürger inder EU sind arbeitslos. Millionen junger Menschen habenkeine Perspektive: In Griechenland und Spanien liegt dieJugendarbeitslosigkeit bei über 50 Prozent, in Italien bei44 Prozent. In Griechenland bekommen nur 27 Prozentder Arbeitslosen Arbeitslosengeld. Beim EuropäischenGerichtshof habe ich die Folgen für Griechenland einmalkonkret wie folgt benannt: Die Säuglingssterblichkeitstieg in der Zeit der Krise um 21 Prozent, die Kinder-sterblichkeit stieg um 43 Prozent, die HIV-Ansteckungs-quote stieg um 52 Prozent. Die Selbstmordrate stieg um37 Prozent. – Es tut mir leid, Frau Bundeskanzlerin, aberdas ist das Ergebnis Ihrer Politik.
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Dr. Gregor Gysi
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– Es tut mir leid, aber es war die Bundesregierung, diedieses Spardiktat diktiert hat. Und das sind die Folgendieses Spardiktats.
Jetzt sage ich Ihnen Folgendes: Erstens. Die Staats-schulden liegen in den betroffenen Ländern nun auf Re-kordniveau. Deshalb gibt es eine mögliche und eine jet-zige Folge. Wir haften bekanntlich für 27 Prozent dieserDarlehen. Ich sehe nicht, wie die Staaten das Geld je zu-rückzahlen können. Wenn wir mit 27 Prozent haften,müssen wir irgendwann 300 Milliarden Euro bezahlen.Ich möchte einmal wissen, woher Sie das Geld nehmenwollen. Sie unterbreiten keinen einzigen Vorschlag, wieSie das machen wollen. Sie unterschreiben die Bürg-schaft und verraten uns nicht, was im Haftungsfall pas-sieren soll.Mein zweiter Punkt. Sie organisieren, dass die betrof-fenen Länder Tag für Tag weniger Geld haben. Deshalbkönnen sich die Menschen in diesen Ländern die Im-porte aus Deutschland nicht mehr leisten. Das ist derzweite Grund für den Exportrückgang. Aber Deutsch-land ist Vizeweltmeister beim Export! Das haben wir üb-rigens immer wieder gerügt, weil wir der Auffassungsind: Wir sind damit weltweit sehr stark abhängig, wirmüssen stattdessen die Binnenwirtschaft stärken. AberSie haben uns diesbezüglich nie zugehört.
– Ford hat übrigens schon Kurzarbeit angekündigt, umIhnen nur ein Beispiel zu nennen.
Die Zahl der verlorenen Arbeitsplätze überschreitet bald300 000. Dann haben wir hier gewaltige soziale Pro-bleme, die Sie damit indirekt verursacht haben.
Herr Kauder, seit der ersten Debatte habe ich Ihnengesagt: Wenn wir das Spardiktat gegen den Süden durch-setzen, werden die Exporte zusammenbrechen. Sie ha-ben mir immer widersprochen. Jetzt brechen die Exportezusammen. Der Rückgang von 5,8 Prozent im August isterst der Anfang.
Sie sehen es wieder: Sie hätten gleich auf mich hörensollen, Herr Kauder; das habe ich Ihnen schon mehrfachgesagt.
Wissen Sie, was der Süden gebraucht hätte? Eine ArtMarshallplan, von dem wir nach 1945 profitiert haben.Das wäre sinnvoll gewesen, weil das ein Aufbauplan ge-wesen wäre.
Dann hätten die Länder mehr Geld und könnten die Dar-lehen zurückbezahlen. Aber das wollten Sie nicht. Wis-sen Sie, was Ihre Auffassung ist? Dass die Agenda 2010,erfunden von SPD und Grünen, weltweit ein Heilsbrin-ger ist.
Ein schwerer Irrtum, kann ich nur sagen.
Übrigens: Der französische, inzwischen zurückgetre-tene Wirtschaftsminister hat Folgendes gesagt – ich binmit meiner Meinung schließlich nicht alleine –: DieSparpolitik in Frankreich und in ganz Europa ist eineeinzige Absurdität. Sie führt in die Rezession und baldauch zur Deflation. –
Wegen dieser richtigen Erkenntnis musste er zurücktre-ten. Das ist die Wahrheit in Europa.
Ich sage Ihnen noch etwas: Der EZB-PräsidentDraghi stemmt sich nun hilflos gegen die Krise und dieDeflation. Die Leitzinsen machen jetzt ein halbes Pro-zentpünktchen aus. Was ich aber wirklich eine Unver-schämtheit finde – da will die Regierung zwar etwas ma-chen, aber bitte handeln Sie nicht halbherzig, Herr Maas,sondern machen Sie etwas Vernünftiges –, ist, dass dieBanken beim Dispokredit unverschämt hohe Zinsen kas-sieren, obwohl sie selbst das Geld fast kostenlos erhal-ten. Das darf nicht mehr geschehen.
Wissen Sie, dass die Sparerinnen und Sparer inDeutschland die ganze Krise mit einem Wertverlust ihrerSparguthaben bezahlt haben? 23 Milliarden Euro machtder Wertverlust der Sparguthaben aus. Auch darübersprechen Sie nie. Erklären Sie doch einmal den Sparerin-nen und Sparern, weshalb sie für die Krise haften, die sienicht verursacht haben.
Ich habe es schon gesagt: Wir müssen die Abhängig-keit vom Export abbauen. Wir brauchen mehr Binnen-wirtschaft. Dafür brauchen wir Investitionen. Ich sageauch Ihnen, Herr Bundesfinanzminister: Ihre schwarzeNull ist nichts wert, wenn dafür auf Zukunft verzichtetwird. Wir brauchen Investitionen in die Infrastruktur undin die Bildung. Dafür ist es höchste Zeit. Es wird Ihnenauch nicht gelingen, diese Bereiche zu privatisieren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5489
Dr. Gregor Gysi
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Dann wird eine Rendite erwartet, die für die Bürgerin-nen und Bürger unbezahlbar sein wird.
Deshalb sage ich Ihnen: Wir müssen umsteuern.Übrigens, Herr Peter Ramsauer, wenn Sie jetzt vor-schlagen, alle Maßnahmen auszusetzen, die Rente ab 63,den Mindestlohn: Mein Gott, damit ruinieren Sie dochdie Binnenwirtschaft. Machen Sie doch einmal einekleine volkswirtschaftliche Lehre! Dafür wird es höchsteZeit! Ganz abgesehen davon, dass das sozial ungerechtist. Also: Wir müssen in Europa umkehren.
Herr Kollege Gysi, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich habe einen Wunsch, den ich Ihnen zum Schluss
mitteilen will: Ich möchte, dass die europäische Integra-
tion attraktiv wird, gerade auch für die jungen Leute und
damit für die Zukunft. Die Europawahlen, die wir noch
gar nicht richtig ausgewertet haben, sind ein schlimmes
Zeichen. Rechtsextreme und nationalistische Parteien
hatten große Erfolge. Wenn wir das nicht wollen, Frau
Bundeskanzlerin, müssen Sie dafür sorgen, dass unter
dem Begriff „Europa“ gerade bei der Jugend endlich
wieder mehr Frieden, mehr Demokratie und mehr so-
ziale Wohlfahrt verstanden wird.
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Thomas
Oppermann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desregierung hat in dieser Woche ihre Wachstumspro-gnose korrigiert. Wir können 2015 mit einem Wachstumvon 1,3 Prozent rechnen. Das ist weniger als erwartet.Die Ursachen dafür sind bekannt. Unsere Binnenwirt-schaft läuft zwar gut, aber die internationalen Konfliktezwischen Russland und der Ukraine oder im Nahen Os-ten gehen nicht spurlos an der deutschen Wirtschaft vor-bei. Hinzu kommt, dass die Schwellenländer nicht mehrso stark wachsen. Vor allem aber bereitet uns die aus-bleibende Erholung im Euro-Raum ein riesiges Problem.Das bestätigen auch die Wirtschaftsinstitute in ihrenGutachten aus der letzten Woche. Gleichzeitig erweckensie aber den Eindruck, all das habe mit der Rentenreformund dem gesetzlichen Mindestlohn zu tun, obwohl der
erst 2015 in Kraft tritt. Was ist das für eine sonderbareArgumentation?
Wenn sich das Wachstum abschwächt, dann kann esdoch nicht falsch sein, wenn jetzt für 4 Millionen Arbeit-nehmer in diesem Land eine zusätzliche Kaufkraft vonüber 10 Milliarden Euro in den nächsten beiden Jahrengeneriert wird.
Der Mindestlohn schwächt unsere Wirtschaft nicht. Erwird die Binnennachfrage stimulieren, er wird die Kon-junktur ankurbeln und auch für mehr Importe sorgen.Das ist etwas, was auch unseren europäischen Nachbarnhilft.
Deshalb kommt der Mindestlohn genau zum richtigenZeitpunkt.Genauso ist es richtig, dass wir den Rentenbeitrag imnächsten Jahr senken, wenn die Möglichkeit dazu be-steht. Das kann weitere 3 Milliarden Euro Entlastung fürArbeitnehmer und Arbeitgeber bringen.Meine Damen und Herren, ich finde es erstaunlich,dass jetzt sogar die konservativen Wirtschaftsinstitutefordern, dass wir mehr Schulden machen sollen. Bisherhaben sie uns immer genau das Gegenteil erzählt.
Unsere Wirtschaft wird im nächsten Jahr über 1 Prozentwachsen. Das ist deutlich mehr als 2012 und 2013. Mitdiesem Wachstum können wir einen ausgeglichenenHaushalt erreichen. Den wollen wir und den werden wirhier im Bundestag im November auch beschließen,meine Damen und Herren.
Wir haben eine starke Binnennachfrage und einenrobusten Arbeitsmarkt. Deshalb gibt es überhaupt kei-nen Grund für Schwarzmalerei und Pessimismus. –Kassandra Gysi, es war völlig überflüssig, was Sie dagesagt haben.
Keine Panik wegen der wirtschaftlichen Situation,aber bitte auch keine Panik wegen der Frauenquote.
In der korrigierten Wachstumsprognose mögen einigeHerren die letzte Chance erkannt haben, die Frauenquote
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5490 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Thomas Oppermann
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doch noch zu stoppen. Aber, meine Herren, ich muss Sieenttäuschen: Die Frauenquote kommt, sie kommt mitMacht, und sie ist keine Belastung für unsere Wirtschaft,sondern eine große Chance für Wirtschaft und Gesell-schaft.
Wir brauchen kein schuldenfinanziertes Strohfeuer,keinen Aktionismus und keine Einmaleffekte. Was wirbrauchen, ist eine Strategie, wie wir mit öffentlichen undprivaten Investitionen die Wettbewerbsfähigkeit unsererWirtschaft dauerhaft stärken können. Daran hat dieseKoalition bereits kräftig gearbeitet, meine Damen undHerren.
Wir investieren 3 Milliarden Euro mehr in Forschungund Entwicklung, 5 Milliarden Euro mehr in die Moder-nisierung der Infrastruktur. Wir entlasten die Länder. Mitder Übernahme des BAföG werden in den Ländern1,3 Milliarden Euro frei, die in Kitas und Schulen ge-steckt werden können.
Das schafft nicht nur unmittelbar Arbeit; es sichert auchlangfristig ausreichend qualifizierte Fachkräfte.
Wir entlasten die Kommunen. Eine jährliche Entlas-tung um 5 Milliarden Euro bei der Grundsicherung istbereits realisiert. Eine weitere Milliarde Euro kommt ab2015 hinzu, und ab 2017 wird es weitere Entlastungengeben. Es geht darum, die Investitionsfähigkeit derKommunen in Deutschland wiederherzustellen, meineDamen und Herren.
Wir entlasten auch die Wirtschaft. Mit der Reform desEEG haben wir erreicht, dass Strom bezahlbar bleibt.Energieintensive Unternehmen bleiben von der Umlagebefreit und können in Deutschland investieren. Jetzt istauch der Anstieg der EEG-Umlage gestoppt. Insbeson-dere für Unternehmen ist es auch eine gute Nachricht,dass es jetzt eine Verständigung über Stromtrassen inBayern geben wird. Auch sie gehören zur Versorgungs-sicherheit und tragen zu Preisstabilität in der Energiever-sorgung bei.
Was wir jetzt brauchen, ist eine Investitionsagenda.Wir müssen Start-ups besser fördern und Bürokratie inder Wirtschaft abbauen. Bürokratieabbau bleibt unsergemeinsames Ziel. Daran werden wir arbeiten, meineDamen und Herren.
Unsere Wirtschaft ist in hohem Maße auf den Exportangewiesen. Der Löwenanteil, nämlich 60 Prozent unse-rer Exporte, geht in die Europäische Union. Deshalbbleibt die alte Wahrheit auch eine neue Wahrheit:Deutschland geht es auf Dauer nur gut, wenn es allen inEuropa gut geht.
Wenn es in Schlüsselländern wie Frankreich und Ita-lien kein Wachstum gibt, dann schlägt das auch auf unszurück. Deshalb sind dort jetzt harte Strukturreformennötig, die auch in Besitzstände eingreifen. Wenn manselber so etwas noch nicht getan hat, dann lassen sichsolche harten Strukturreformen leicht fordern. Aber wirSozialdemokraten wissen, wovon wir reden. Denn wirhaben bei der Agenda 2010 gesehen, dass sich durch-greifende Arbeitsmarktreformen und ein milliarden-schweres Sparprogramm jedenfalls gleichzeitig nichtdurchsetzen lassen. Deshalb dringen wir darauf, dass dieEU die Flexibilität des Stabilitätspaktes ausschöpft, umStrukturreformen zu ermöglichen.Gleichzeitig brauchen wir aber Wachstumsimpulseund Innovationsanreize, um die Reformländer zu unter-stützen. Wir freuen uns über die Initiative von Kommis-sionspräsident Jean-Claude Juncker, ein 300 MilliardenEuro schweres Wachstumspaket auf den Weg zu brin-gen. Aber es muss auch klar sein, dass das nicht aus Mit-teln des ESM finanziert wird.
Der ESM darf nicht geplündert werden.
Das würde das Vertrauen, das wir gerade hergestellt ha-ben, wieder infrage stellen. Eine Zweckentfremdung derESM-Mittel kommt für uns nicht in Betracht, meine Da-men und Herren.
Aber vor allen Dingen müssen die europäischen Län-der aufhören, sich gegenseitig die Steuerbasis abzugra-ben. Das sind Milliardenverluste, und es bezahlen amEnde immer die Steuerzahler, wenn einzelne Mitglieds-länder Schlupflöcher für internationale Konzerne schaf-fen, die am Ende nach Hause gehen, ohne überhaupt ei-nen einzigen Euro oder Cent an Steuern zu zahlen. Dasmüssen wir stoppen, meine Damen und Herren.
Ich habe Italien erwähnt. Italien braucht jetzt nichteinfach nur mehr Geld, sondern es muss zuallererst wie-der wettbewerbsfähiger werden. In Italien ist die Pro-duktivität in den letzten 15 Jahren so gut wie gar nichtgestiegen. Der Abstand zu Deutschland, was die Produk-tivität angeht, ist stattdessen um 35 Prozent gewachsen.Matteo Renzi hat seit seinem Amtsantritt ganz entschei-dende Reformen angepackt. Ob die Wahlrechtsreform,die Senatsreform, die Justizreform oder die Arbeits-
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Thomas Oppermann
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marktreformen: Ich finde, Matteo Renzi verdient dafürjede Unterstützung, die wir geben können.
Und ich danke der Frau Bundeskanzlerin, dass sieauch der französischen Regierung ihre Unterstützung zu-gesagt hat und dass sie die Reformanstrengungen derRegierung Valls gelobt hat. Auch wenn es Meinungsver-schiedenheiten gibt, ist und bleibt die deutsch-französi-sche Freundschaft der Lebensnerv und der Motor der eu-ropäischen Einigung. Deutschland und Frankreichdürfen sich nicht auseinanderdividieren lassen, meineDamen und Herren.
Meine Damen und Herren, uns beschäftigen die Fol-gen der internationalen Konflikte für unsere Wirtschaft.Aber noch viel mehr beschäftigt uns die Lage der Men-schen in den Konfliktregionen; denn in Syrien und imIrak scheint sich jetzt zu bewahrheiten, wovor wir aufunserer Sondersitzung am 1. September gewarnt hatten.Die ISIS-Terroristen lösen einen Flächenbrand bis an dieGrenze des NATO-Landes Türkei aus. Seit Wochen to-ben die Kämpfe um die syrisch-türkische GrenzstadtKobane. Es ist gut, dass unter Führung der VereinigtenStaaten jetzt eine internationale politische und militäri-sche Allianz gegen die ISIS-Terroristen zustande ge-kommen ist.
Es ist ganz klar eine Aufgabe der internationalen Ge-meinschaft, diesen ISIS-Terrorismus zu stoppen.
Eine Schlüsselrolle im Kampf um Kobane hat dieTürkei. Natürlich erwartet niemand, dass die Türkei jetztin Syrien einmarschiert. Aber die Türkei könnte denkämpfenden Kurden in Kobane mit anderen Mitteln hel-fen.
Das böte eine große Chance, den Frieden zwischen denKurden und der türkischen Regierung langfristig zu un-termauern. Diese Chance ist bislang nicht genutzt wor-den. Ich hoffe, dass es noch dazu kommt.
Wenn ich mir heute die Bilder vor Augen führe, diewir Tag für Tag aus Kobane sehen, dann bin ich jeden-falls froh, dass wir vor fünf Wochen die dringend benö-tigten Waffenlieferungen für die Kurden im Nordirak indiesem Hause nicht abgelehnt haben, meine Damen undHerren.
Diejenigen in der Opposition, die uns dafür kritisiert ha-ben, sollten das nun zum Anlass nehmen, ihre Entschei-dung noch einmal zu überdenken. Es ist schon bemer-kenswert, dass Sie, Frau Göring-Eckardt, plötzlich einenEinsatz der Bundeswehr in Syrien nicht mehr ausschlie-ßen.
Sie wissen genau, dass es in dieser Situation kein UN-Mandat geben wird. Der Sicherheitsrat ist in der Syrien-Frage blockiert. Weil Sie das genau wissen, gehört IhreForderung eher in das politische Schaufenster. Das halteich für nicht überzeugend.
Das, was ging, nämlich Waffen an die Kurden zu liefern,haben Sie abgelehnt. Aber das, was definitiv nicht geht,fordern Sie jetzt. Das ist keine glaubwürdige Politik.
Im Übrigen, ob mit oder ohne Mandat, halte ich es füreine völlig abwegige Idee, dass in dieser Situation deut-sche Soldaten in den syrischen Bürgerkrieg geschicktwerden.
Wir haben immer klargemacht, dass für uns die huma-nitäre Hilfe im Vordergrund steht. Wir sind aber auch imeigenen Land gefordert. Wir müssen alles dafür tun, dassdie Menschen aus den Kriegsgebieten bei uns menschen-würdig aufgenommen und untergebracht werden. DieZeit drängt. Hamburg muss jeden Monat 600 Flüchtlingeaufnehmen. In München ist die Erstaufnahme zusam-mengebrochen. Deshalb brauchen wir jetzt drei Dinge:erstens eine Änderung des Baugesetzbuches für denschnellen Bau von Unterkünften, zweitens eine Liegen-schaftspolitik des Bundes, die eine Unterbringung vonAsylbewerbern unterstützt, und drittens eine weitereEntlastung der Kommunen im Rahmen des Asylbewer-berleistungsgesetzes. Wir werden prüfen, was wir sonstnoch tun können. Wir dürfen die Kommunen in dieserSituation nicht alleine lassen, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Oppermann, darf der Kollege Ernst eineZwischenfrage stellen?
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Ja, gern.
Bitte schön.
Danke. – Herr Oppermann, Sie haben gerade die Si-
tuation in Syrien dargestellt.
Welche Konsequenzen wollen Sie daraus ziehen,
dass, wie jetzt bekannt geworden ist, die türkische Luft-
waffe Stellungen der Kurden bombardiert? Wir haben
also den Fakt, dass offensichtlich ein NATO-Land der
restlichen NATO in den Rücken fällt, indem es die Geg-
ner des IS bekämpft. Darüber hinaus besteht ja auch eine
direkte Bedrohung der NATO-Truppen in dieser Region.
Denken Sie auch darüber nach, die Waffenexporte in die
Türkei, die offensichtlich die Gegner der NATO unter-
stützt, zu stoppen? Ich halte das für einen unmöglichen
Vorgang. Ich habe dazu aber noch keine einzige Re-
aktion der Bundesregierung gehört.
Kollege Ernst, ich sehe durchaus die Komplexität der
Situation in der Türkei. Ich sehe mit Sorge, dass jetzt
diese Luftangriffe geflogen werden. Wenn ich mir aber
die Gesamtsituation anschaue, komme ich zu dem
Schluss: Wir müssen trotz dieser komplexen Situation
mit unserem Bündnispartner Türkei reden und darauf
dringen, dass sich die Türkei eindeutig gegen ISIS posi-
tioniert und dazu ihren Beitrag leistet. Das ist der erste
Punkt.
Zweitens würde ich gerne auf die Argumente zurück-
greifen, die einige Ihrer Kollegen in einem Text mit der
Überschrift „Kobane retten!“ aufgeschrieben haben.
Ihre Kollegen schließen darin nicht aus, dass wir die
Kurden, die um diese Stadt kämpfen, notfalls auch mit
militärischen Mitteln unterstützen müssen. So weit
würde ich in diesem Fall gar nicht gehen, weil wir die
bekannten Schwierigkeiten mit unserem Bündnispartner
Türkei haben. Aber ich finde, Sie und Herr Gysi sollten
diese Kollegen, die diesen nachdenklichen Text ge-
schrieben haben, unterstützen und nicht immer der
Mehrheit Ihrer eigenen Fraktion nach dem Munde reden.
Wir müssen damit rechnen, dass die Zahl der Flücht-
linge aus Syrien und Irak weiter zunimmt. In diesem
Winter könnte im Nahen Osten die größte Flüchtlings-
katastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs be-
vorstehen. Deshalb müssen wir zuerst dafür sorgen, dass
die Flüchtlinge den nächsten Winter überleben. Das
kann nur gelingen, wenn wir die Länder unterstützen, die
90 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen. Das sind vor al-
lem Libanon, Türkei und Jordanien.
Des Weiteren kommen aber auch wir selbst nicht um-
hin, in Europa mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
Es ist kein Ruhmesblatt, wie sich Europa insgesamt in
dieser Frage bisher verhält.
Einzelne Länder sind an der Grenze ihrer Aufnahmefä-
higkeit, andere halten sich weitgehend heraus. Flücht-
linge irren auf dem Kontinent umher. Im Mittelmeer
spielen sich Tragödien ab. Das ist beschämend für Eu-
ropa, meine Damen und Herren.
Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, habe ich die herzli-
che Bitte: Sprechen Sie auch dieses Thema im Europäi-
schen Rat an. Wir brauchen eine faire Verteilung der
Flüchtlinge auf alle Länder in Europa. Europa muss in
dieser Frage solidarisch zusammenstehen.
Vielen Dank.
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter HerrPräsident! Frau Bundeskanzlerin, die Debatte über mehrVerantwortung in der Welt ist jetzt acht Monate alt. DieDebatte ist allerdings acht Monate lang unvollständiggeblieben; denn Sie definieren die Welt und die Verant-wortung, die wir dort haben, immer, ohne Europa dabeimitzudenken. Egal ob es um die Konjunktur geht, egalob es um die Flüchtlinge geht, egal ob es um die Arbeits-losen geht: Europa, das sind in Ihren Worten immer dieanderen – oder es ist Krise. Das ist kurzsichtig. NehmenSie die nationalstaatliche Brille endlich ab, und sorgenSie dafür, dass klar wird: Wir sind Teil dieses Europas.
Meine Damen und Herren, auch wenn sich SigmarGabriel und Thomas Oppermann gerade so viel Mühegeben, es wegzudeuten: Die Konjunktur in Deutschlandverliert an Schwung. Wir brauchen jetzt die richtigenWeichenstellungen, und das heißt: mehr Investitionenfür Deutschland, mehr Investitionen für Europa, undzwar, ohne neue Schulden zu machen. Das ist ohne Wei-teres möglich. Wir müssen uns nur die Ausgaben an-schauen und überlegen, welche Subventionen wir ab-bauen können. Aber Sie investieren nicht genug, und Sie
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Katrin Göring-Eckardt
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verschulden sich trotzdem. Sie verschulden sich bei derInfrastruktur; Sie verschulden sich bei der Rentenkasseund bei den Krankenkassen; Sie verschulden sich beiden künftigen Generationen, egal ob es um das Klimageht oder um die Rente. Jetzt, Herr Grosse-Brömer, sol-len auch noch die Frauen daran schuld sein.
Sie müssen schon sehr unter der Frauenmacht in Ih-rem eigenen Laden leiden.
Sie sagen es jedem in Europa, der es hören oder nichthören will: Man möge sich doch bitte an Deutschlandorientieren. Nun schaue ich mir an, mit welcher Ignoranzoder, besser gesagt, mit welch warmen Worten Sie aufdie Jugendarbeitslosigkeit eingehen. Dabei ist diese einDrama für Europa. Es versteht kein Mensch, warum dieFördergelder – 6 Milliarden Euro sind das – bei den Ju-gendlichen nicht ankommen. Sinnvolle Maßnahmen ge-gen Jugendarbeitslosigkeit werden zu Tode verwaltet,und wir sind ein Teil davon. Wenn der BA-Chef, HerrWeise, sich hinstellt und sagt: „Der Kampf gegen Ju-gendarbeitslosigkeit braucht Zeit“, dann frage ich mich:Wie lange noch? Bis die Jugendlichen alle erwachsensind? – Wir sind dabei, eine Generation für Europa zuverlieren, die wie keine andere vor ihr dieses gemein-same Europa verkörpert. Deswegen sage ich: HängenSie sich rein, damit die Jugendarbeitslosigkeit wirklichbekämpft werden kann.
Meine Damen und Herren, seit der letzten Woche ha-ben 600 000 Menschen in Europa gegen TTIP, gegenCETA und gegen TiSA unterschrieben.
Diese Leute sind gegen eine Handelspolitik, die nur dieInteressen der Global Player vertritt.
Diese 600 000 Leute – täglich werden es mehr – erwar-ten Volksvertreter in der Regierung und keine Genossender Bosse, Herr Gabriel.
Die Menschen erwarten von Europa eine Handels-politik, die gut ist für die Wirtschaft und für die Verbrau-cher, die gut ist für die Kulturlandschaft und für dasKlima.
Insofern ist klar und deutlich: Natürlich müssen wirHandelsabkommen haben. Aber ihnen müssen Standardszugrunde liegen. Sie müssen dafür sorgen, dass die Inte-ressen der Menschen, die sich so schnell und so intensivengagieren, in Ihrer Politik, Herr Gabriel, überhaupt vor-kommen und eine Rolle spielen können. Sie können sichnicht wegducken, Herr Gabriel, und nur mit ein paarwarmen Worten darauf reagieren.
Die Umweltministerin musste hier letzte Woche ein-gestehen, dass sie in puncto Klima quasi nichts vorzu-weisen hat. Sie werden nächste Woche in Brüssel dieEnergie- und Klimaziele für 2030 beschließen. Spätes-tens dann steht es schwarz auf weiß: Die deutsche Kli-mapolitik ist nicht mehr als Schall und Rauch. DerRauch ist allerdings ziemlich dreckig, weil er vor allenDingen aus Braunkohle besteht. 42 Milliarden Euro, soviel kostet die deutsche Energieerzeugung die Allge-meinheit, sagt die EU-Kommission. Und warum? Weilim vergangenen Jahr so viel Kohle in Deutschland ver-stromt wurde wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr.Jetzt soll mit dem Segen der alten EU-Kommissionder Neubau des Atomkraftwerks Hinkley Point staatlichsubventioniert werden. Es kann doch nicht sein, dass wirdie unwirtschaftliche Risikotechnologie Atomkraft mitstaatlicher Beihilfe am Leben erhalten, während die Er-neuerbaren längst sauberer und wirtschaftlicher sind undgünstiger Strom produzieren. Wenn Sie als Bundesregie-rung es ernst meinen mit dem Atomausstieg und der eu-ropäischen Energiewende, dann müssen Sie beim Euro-päischen Rat gegen diese Fehlentscheidungen Druckmachen, und Deutschland muss sich der Klage vonÖsterreich beim EuGH anschließen.
Meine Damen und Herren, beim Wahrnehmen vonVerantwortung fallen der Bundesregierung immer gerndie europäischen Nachbarn ein, gerade wenn es um dieFlüchtlinge geht. Gleichzeitig landen immer mehrFlüchtlinge bei uns in Notunterkünften. In Münchenschlafen sie unter freiem Himmel. Es fehlt an Decken, anHelfern, an Unterbringungsmöglichkeiten, faktisch anallem. Wenn nicht wenigstens immer mehr freiwilligeHelfer da wären, wäre es noch schlimmer. Meine Damenund Herren, die Lösung wäre: deutlich weniger Seehoferund deutlich mehr Kretschmann.
Baden-Württemberg gibt 30 Millionen Euro extra fürPersonal und für ein Sonderbauprogramm aus. Bis zu1 000 Opfer sexueller Gewalt werden aufgenommen.Meine Damen und Herren, das Boot ist nie voll. Manmuss die Last gerecht verteilen, damit die Kommunennicht Schiffbruch erleiden, ja; aber Sie verweigern sichnach wie vor einem nationalen Flüchtlingsgipfel. Dakönnte man darüber reden, wie es Osnabrück schafft,47 Prozent der Flüchtlinge in Privatunterkünften unter-zubringen, oder warum es eigentlich so ist, dass in Thü-
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Katrin Göring-Eckardt
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ringen kaum unbegleitete Minderjährige aufgenommenwerden können, obwohl das gewollt ist. Die Schieflagezwischen den Ländern geht auf Ihr Konto, meine Damenund Herren.
Das europäische Flüchtlingsrecht ist und bleibt eineFehlkonstruktion, und zwar deshalb, weil Sie das so wol-len. Sie halten an einer Politik der Abschottung an denAußengrenzen fest. Sorgen Sie doch endlich dafür, dassdas Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ im Mit-telmeer weitergeführt wird
und dass Asylsuchende legal nach Deutschland kommenkönnen! Das wäre Verantwortung, wie ich sie mir vor-stelle.Frau Kanzlerin, Sie fahren jetzt zum EU-Asien-Gip-fel. Ihre Zeit dort werden Sie vermutlich besonders fürdie notwendigen Gespräche am Rande nutzen. Bitte sa-gen Sie Herrn Putin unmissverständlich, dass die EUihre Sanktionen erst lockern wird und kann, wenn seinenAnkündigungen auch Taten folgen und die Ukraine nichtmehr weiter gewaltsam destabilisiert wird.
Sagen Sie den Vertretern Chinas, dass mit der brutalenGewalt gegen friedliche Demonstrantinnen und Demon-stranten in Hongkong endlich Schluss sein muss und sieder Modernisierung eine Chance geben müssen!
Ja, die Bedrohung durch die Terrormiliz „IslamischerStaat“ und die Lage im Nahen Osten sind dramatisch.Deswegen sage ich Ihnen: Überzeugen Sie Russland undChina, dass sie ihre Blockade im UN-Sicherheitsrat end-lich aufgeben, und ergreifen Sie eine Initiative für einUN-Mandat! Es kann nicht bei Lippenbekenntnissenbleiben. Man kann nicht, Herr Oppermann, hier über dieVölkergemeinschaft reden und gleichzeitig sagen, beider UN hätte man sowieso keine Chance. Wenn man dieVölkergemeinschaft und ihre gemeinsame Verantwor-tung ernst nimmt, dann geht man zu den Vereinten Na-tionen und macht dort Druck. Wenn man das macht,dann wird man darüber reden müssen, welche gemein-same Strategie man hat. Ich habe nichts anderes gesagtals: Wenn man über dieses Gemeinsame redet, dannkann man nicht als Erstes sagen: Wir sind nicht dabei. –Ein Mandat der Vereinten Nationen und ein echtes Enga-gement, dafür muss und dafür soll sich Deutschland ein-setzen. Die Vereinten Nationen müssen stark gemachtwerden. Genau darum geht es. Da können wir uns nichtwegducken, in keiner Weise, meine Damen und Herren.
Ich sage Ihnen: „Gemeinsame Verantwortung in derWelt“, das muss für diese Bundesregierung endlich hei-ßen, Europa auch tatsächlich nicht mehr als lästigePflichtveranstaltung zu betrachten. Europa ist nur dannstark, wenn wir es stark machen, und zwar übrigens auchgegenüber der AfD, die jetzt so viel neue Unterstützungbekommt, und gegenüber ihren nationalistischen Ge-schwistern. Meine Damen und Herren, machen Sie Eu-ropa stark! Alles andere ist verantwortungslos.
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Friedrich
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In der nächsten Woche wird auf dem Europäi-schen Rat auch das Thema Klimaschutz behandelt. Esbestehe die Notwendigkeit, Verantwortung in der Weltzu übernehmen, für Europa die Stimme zu erheben, hatdie Frau Bundeskanzlerin gesagt. Das alles setzt eine so-lide ökonomische Grundlage in Europa voraus. Deswe-gen ist das, was Jean-Claude Juncker und seine Kom-mission in den nächsten Wochen und Monatenvorbereiten, von entscheidender Bedeutung.Ich gehe davon aus, dass dem das zugrunde liegenwird, was Juncker am 15. Juli noch als Kandidat für dasAmt des Präsidenten der Europäischen Kommission vor-gelegt hat, dass das die wesentliche Wegweisung seinwird. Er sagt, das Wichtigste und die erste Priorität seienfür ihn Investitionen, und zwar private und öffentlicheInvestitionen, um Wettbewerbsfähigkeit und Arbeits-plätze in Europa zu schaffen.Meine Damen und Herren, es ist nichts Genaueres be-kannt, woher diese 300 Milliarden Euro kommen undwie sie verwendet werden sollen. Nun kann man natür-lich abwarten, bis die Kommission etwas vorlegt. So ha-ben wir es in den vergangenen Jahren gemacht. Ich rateuns dazu, dieses Verfahren zu ändern und der Kommis-sion, noch bevor sie etwas vorlegt, einige Wegweisun-gen mitzugeben. Wir können das als Parlament auf demWeg über unsere Bundesregierung machen. Wir habenvielfältige Kontakte; viele von Ihnen haben Kontakte zurKommission auf allen Ebenen. Und wir können diestarken Persönlichkeiten im Europäischen Parlament– Martin Schulz als Parlamentspräsident und ManfredWeber als Vorsitzender der größten Fraktion – nutzen,um diese Wegweisungen auch der Kommission mit aufden Weg zu geben.Was ist nun das Wichtigste? Was sind unsere Bedin-gungen für diese Investitionspakete, die Herr Junckerschnüren will?Erstens: keine Neuverschuldung. Ich will vorlesen,was Juncker selbst im Juli gesagt hat:Ich glaube nicht, dass wir auf der Grundlage stän-dig wachsender Schuldenberge nachhaltigesWachstum schaffen können. Dies ist eine Lehre, diewir aus der Krise gezogen haben und die wir nichtaus den Augen verlieren dürfen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5495
Dr. Hans-Peter Friedrich
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Ich hoffe, dass auch in diesem Hause jeder diese Lektionaus der Krise gelernt hat: Schulden sind der falsche Weg.
Zweitens. Es muss klar sein, meine sehr verehrtenDamen und Herren, welche Haftungsfolgen sich für In-vestitionspakete ergeben, die auf europäischer Ebene fürdie Mitgliedstaaten geschnürt werden. Wir wollen hierim Deutschen Bundestag auch darüber diskutieren, obwir diese Haftung einzugehen bereit und in der Lagesind oder nicht. Deswegen ist es wichtig, dass wir auchbeim Schnüren dieser Pakete Transparenz einfordern.Drittens. Wir reden nicht nur vom Geldausgeben, son-dern von Investitionen. Was sind Investitionen? NachWirtschaftslexikon 24.com liegt eine Investition dannvor, wenn ein Bestandszugang eintritt. Meine Damenund Herren, volkswirtschaftlich heißt das: Eine Investi-tion liegt vor, wenn die Substanz einer Volkswirtschaftgestärkt wird, und nicht dann, wenn einfach Geld ausge-geben wird.
Ich denke, die Frau Bundeskanzlerin hat zu Recht ge-sagt: Es kommt entscheidend auf die privaten Investitio-nen an. Hierzu sagt – auch hier darf ich wieder zitieren –Jean-Claude Juncker:Europa wird nur dann Arbeitsplätze, Wachstum undInvestitionen hervorbringen, wenn wir für die rich-tigen rechtlichen Rahmenbedingungen sorgen undein Klima schaffen, das unternehmensfreundlichund neuen Arbeitsplätzen zuträglich ist.So Jean-Claude Juncker. Der Mann hat recht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist aberso: Das Schaffen eines unternehmensfreundlichen Kli-mas und von Rahmenbedingungen ist in erster Linie eineAufgabe, die bei den Nationalstaaten bzw. den Mitglied-staaten der Europäischen Union – und nicht auf der euro-päischen Ebene – angesiedelt ist. Weil Steuerpolitik, So-zialpolitik und Arbeitsmarktpolitik wesentliche Rahmensetzen, ist in allererster Linie jeder Mitgliedstaat selbstdafür verantwortlich, diese Rahmenbedingungen zu ge-stalten und die Konsequenzen aus Reformfähigkeit oderReformunfähigkeit selbst zu tragen. Das ist im ÜbrigenDemokratie.
Wir werden Reformunfähigkeit nicht europäisieren.Deswegen wird es auch keine europäische Arbeitslosen-versicherung geben, bei der die deutschen ArbeitnehmerBeiträge zahlen und für die Folgen haften müssen, dieandere Nationalregierungen mit ihrer Reformunfähigkeitproduziert haben.
Meine Damen und Herren, weil es aber so ist, dass dieMitgliedstaaten die Hauptverantwortung für die Schaf-fung der Rahmenbedingungen haben, müssen wir natür-lich auch auf die nationalen Akteure in Deutschlandblicken. Auch wir sind in der Verantwortung, die Rah-menbedingungen für ein investitionsfreundliches Klimaprivater Investoren in Deutschland zu schaffen. Was sinddafür die Bedingungen?Die erste Bedingung, dass Menschen investieren kön-nen, ist, dass wir ihnen Spielräume geben, Kapital auf-bauen zu können, das sie dann investieren können. Hierspielt die Steuerpolitik eine entscheidende Rolle. Ichfreue mich sehr, dass wir in der Koalition jetzt über dasThema „kalte Progression“ sprechen; denn diese Spiel-räume sind notwendig, um überhaupt die Voraussetzun-gen dafür zu schaffen, dass Menschen investieren kön-nen.Zweite Bedingung. Investitionen sind langfristige Ka-pitalbindungen. Deswegen ist die Voraussetzung für In-vestitionen, dass derjenige, der investiert, eine Chancehat, sein Geld wieder zurückzubekommen und vielleichteine Rendite zu erzielen. Dazu ist notwendig, dass erVertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung hat; dennnur dann wird er investieren. Mein Freund, VolkerKauder, unser Kollege, sagt immer: „Politik beginnt mitdem Betrachten der Wirklichkeit.“ Aber daraus mussman auch Schussfolgerungen ziehen.Die Wirklichkeit ist – Kollege Oppermann hat es vor-hin gesagt –, dass sich die Konjunktur verändert hat. DieWirklichkeit vom Oktober 2013 war bei strahlendemKonjunkturhimmel eine andere, als es die vom Oktober2014 ist. Jetzt müssen wir diese Wirklichkeit nicht nurbetrachten, sondern auch über Schlussfolgerungen ausdieser Wirklichkeit reden. Meine Damen und Herren,wir müssen uns als Vertreter des Volkes die Frage stellen– das dürfen wir nicht der Presse überlassen; „Könnenwir uns das noch leisten?“, so schreibt die Bild-Zeitungheute Morgen –, was wir uns noch leisten können undwas nicht. Wir müssen die Wirklichkeit in der Welt be-trachten und daraus die richtigen Schlussfolgerungenziehen.Deswegen ist es auch richtig, dass sich der eine oderandere in der Koalition Gedanken macht und diese öf-fentlich äußert, ob man die eine oder andere neue Vor-schrift, neue Belastung, neue soziale Wohltat vielleichtein bisschen verschieben oder vielleicht für andere Zei-ten aufheben sollte. Ich halte das für notwendig, auch fürdie Diskussions- und Debattenkultur in diesem Landeund in diesem Hohen Haus.
Dritte Bedingung. Private Investoren investieren na-türlich am liebsten dort, wo sie das Risiko, das sie ein-gehen, auch überblicken können. Aus der Krise 2008haben wir gelernt, dass Investoren damals Risiken einge-gangen sind, die sie nicht überblickt haben. Sie habenzwar dreimal verbrieft, aber am Ende wusste keiner, wodas Risiko lag. Private Investoren investieren vor allemdort, wo sie den Überblick haben: in ihr selbst genutztesHäuschen, in ihr mittelständisches Unternehmen, in ih-ren Handwerksbetrieb. Meine Damen und Herren, des-wegen ist es richtig, dass wir darüber nachdenken, dieInvestitionen in diesen Bereichen anzuregen und anzu-reizen. Deswegen ist es richtig, dass wir wieder über de-gressive AfA reden, dass wir wieder über die steuerliche
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5496 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Hans-Peter Friedrich
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Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen im Bereich derEnergieeffizienzsteigerung reden. All das halte ich fürdringend notwendig.Was in Deutschland gilt, gilt übrigens auch für dieMitgliedstaaten. Auch in den Mitgliedstaaten muss jedeRegierung Verantwortung für die Rahmenbedingungenfür Investitionen übernehmen. Wir können und müssenfeststellen: All die Länder, die harte Reformen gemachthaben, Herr Gysi, haben heute eine bessere Ausgangs-situation und gewinnen das Vertrauen privater Investo-ren in ihren Ländern. Die Leute sollen nicht deswegenReformen in ihren Ländern machen, nur weil es dieDeutschen wollen, sondern sie sollen erkennen, dass siedas Vertrauen privater Investoren nur gewinnen können,wenn sie die Reformen auch durchführen. Darum gehtes.
Kommen wir zum Thema der öffentlichen Investitio-nen. Bei den öffentlichen Investitionen stellt sich dieFrage: Was will die Europäische Union auf den Wegbringen? 300 Milliarden Euro – ein großer Teil wirddurch private Investitionen in den Ländern wohl schonaufgebracht werden. Ich bin dem Kollegen Oppermann,der Bundeskanzlerin und auch dem Bundesfinanzminis-ter sehr dankbar, dass sie klargemacht haben, dass sienicht akzeptieren werden, Hand an den ESM zu legen.Der ESM darf nicht zweckentfremdet werden. Das wäreauch gegen die ausdrückliche Beschlussfassung diesesHauses. Deswegen vielen Dank für die klare Aussage:Hände weg vom ESM.
Aber es gibt viele Spielräume im europäischen Haus-halt. Es gibt dort viele Fonds: Kohäsionsfonds und an-dere Fonds. Es ist richtig, dass wir diese Fonds immerwieder auf ihre Zielgenauigkeit und ihre Sinnhaftigkeitüberprüfen und sie auf das Ziel Investitionen und Wett-bewerb ausrichten. Das ist der entscheidende Punkt. Da-mit muss man nicht bis 2016 warten, bis der mehrjährigeFinanzrahmen offiziell evaluiert wird, sondern man kannschon jetzt beginnen. Ich erwarte, dass die Kommissiondazu einige Vorschläge macht.Stichwort Europäische Investitionsbank. Auch hiergeht es nicht darum, dass wir der Europäischen Investi-tionsbank einen großen Betrag geben und sagen: Suchtjetzt einmal nach Projekten. Schaut, wie ihr das Geldausgebt; irgendwie werdet ihr es schon unter die Leutebringen. – Es muss vielmehr umgekehrt sein: Erst müs-sen sinnvolle Projekte gesucht werden, die dem Ziel derWettbewerbsfähigkeit dienen. Wenn man diese Projektegefunden hat, dann kann man darüber reden, wie die Eu-ropäische Investitionsbank sie finanziert. So muss dieReihenfolge sein. Auch diese Wegweisung würde ichgerne Herrn Juncker und der Kommission mit auf denWeg geben.
Schließlich muss es bei allen öffentlichen Investitio-nen immer auch um die Frage gehen: Welche Auswir-kungen hat das Ganze auf den Mittelstand? Ich bin sehrfroh, dass Herr Juncker in seinen bisherigen Erklärungenden Mittelstand in besonderer Weise berücksichtigt hatund dass er eigens dafür den Posten eines Vizepräsiden-ten geschaffen hat, der sich mit dem Thema Entbürokra-tisierung, das insbesondere ein Mittelstandsthema ist,auseinandersetzt.Im Rahmen der Diskussionen, die wir hier in diesemHause darüber führen, wie wir öffentliche Investitionenin der Zukunft neu gestalten können, beispielsweisedurch Gewinnung privaten Kapitals, rate ich uns dazu,bei allen Schritten auch immer die Auswirkungen auf diemittelständische Wirtschaft zu betrachten.
Es geht nicht darum, irgendwie irgendwo Kapital zu ha-ben, von dem dann die Bankkonsortien und die Groß-konzerne profitieren, sondern wir müssen dafür sorgen,dass die Basis unserer mittelständischen Wirtschaft ge-stärkt wird. Das ist einer der entscheidenden Punkte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke,dass wir in Europa und im gesamten Bereich der OECDaufhören müssen, diesen Akademikerwahn zu pflegen,der dazu führt, dass wir immer mehr arbeitslose Akade-miker produzieren und immer weniger Menschen haben,die in der Industrie als Fachkräfte oder als Techniker ihreArbeit machen können. Wenn Herr Juncker verlangt,dass der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoin-landsprodukt in Europa von 16 auf 20 Prozent gesteigertwerden soll, dann geht das nur, wenn wir qualifizierteFachkräfte haben, die als Techniker, als Praktiker anpa-cken und helfen können, die Industrie nach vorne zubringen, anstatt sich als Arbeitslose in einem Elfenbein-turm gegenseitig auf die Füße zu treten.
In diesem Zusammenhang kann ich die Kommissionnur warnen, die Hand an den Meisterbrief zu legen.Wenn es einen Schlüssel für die Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit in Europa gibt, dann ist es der Ex-port unserer dualen Ausbildung. Nun lese ich mit großerBefriedigung, dass die Kommission immer erklärt, manwolle am Meisterbrief überhaupt nichts ändern. Aber esgeht ja nicht allein um den Meisterbrief, sondern darum,dass der Meisterbrief Voraussetzung für die Gründungeines Handwerksunternehmens bleiben muss. Das ist derentscheidende Punkt.
Ich kann nur davor warnen, die Hand daran zu legen;denn das würde dazu führen, dass in Deutschland Qualifi-kationsmöglichkeiten wegbrechen. Ich glaube, Deutsch-land hat eine wichtige Funktion, nämlich Vorbild für Eu-ropa in einer schwierigen und wichtigen Phase zu sein.Dafür hat dieses Hohe Haus eine große Verantwortung.Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Bernd Westphal für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Meine sehr verehrten Besucherinnen und Besucher!Deutschlands Wohlstand basiert zum großen Teil auf sei-ner Exportstärke. Mehr als die Hälfte unserer Exportegeht in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. DieEintrübung der wirtschaftlichen Aussichten in der ak-tuellen Herbstprognose der Wirtschaftsforschungsinsti-tute zeigt einmal mehr: Nur wenn es unseren europäi-schen Partnerländern gut geht, kann Deutschland auchauf Dauer erfolgreich sein.
Deshalb brauchen wir dringend eine europäische Politik,die Wachstum und Beschäftigung in ganz Europa stimu-liert.
Die in vielen Mitgliedstaaten anhaltend hohe Arbeits-losigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, undschädliche Deflationstendenzen müssen entschiedenangegangen werden. Das von Jean-Claude Juncker vor-geschlagene 300-Milliarden-Euro-Investitionsprogrammmuss daher schnell umgesetzt und die Finanzierung ge-klärt werden.Notwendig ist eine Überprüfung bestehender Pro-gramme. Der Abruf finanzieller Mittel auf europäischerEbene muss vereinfacht und der Pakt für Wachstum undBeschäftigung auf seine Wirksamkeit und Umsetzunghin überprüft werden. Die Genehmigungsverfahren beiProgrammen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit müssen effizienter gestaltet und die Freigabe derGelder muss so schnell wie möglich organisiert werden.Die EU darf auch bei wichtigen Technologien undArbeitsplätzen der Zukunft im globalen Wettbewerbnicht den Anschluss verlieren. Bei Investitionen in Bil-dung, Forschung und Entwicklung sowie Infrastruktursind alle Mitgliedstaaten dringend gefragt.
Es müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden,jetzt hierzulande Investitionen zu stärken, um innerhalbder EU neue Wachstumsimpulse zu setzen.Die Stärkung der Wirtschaft muss mit der Stärkungder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einhergehen.Viele Menschen sehen in Europa nur den Vorrang desWettbewerbs. Dies ist nicht das Europa, das wir den Bür-gern versprochen haben.
Lohndumping ist in einigen Ländern Europas an der Ta-gesordnung. Deshalb ist die Einführung des Mindest-lohns auch hier in Deutschland ein Gebot nicht nur so-zialer, sondern vor allem auch ökonomischer Vernunft.
Es war höchste Zeit für diesen Kurswechsel, weil es in-akzeptabel ist, wenn Menschen nicht von ihrer ArbeitLohn ein menschenwürdiges Leben führen können.
Neben anständiger Entlohnung sind Teilhabe der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Sagen und Ha-ben unerlässlich. Gute Arbeit, soziale Gerechtigkeit, si-chere Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung stehennicht im Gegensatz zu einem innovationsfreundlichenUmfeld und zu wirtschaftlichem Erfolg, sondern bildendie Grundlage dafür.
Europa braucht aber auch eine industriepolitische Ini-tiative. Sie muss mit privaten und öffentlichen Investi-tionen in Forschung und Entwicklung, in Innovationen,in Bildung und nicht zuletzt in eine intakte Infrastrukturverbunden sein. Eine zentrale Bedeutung kommt dabeider Energieversorgung zu. Europa braucht Versorgungs-sicherheit und eine gezielte Förderung umweltfreundli-cher, ressourcenschonender und effizienter Energiefor-men. Eine erfolgreiche Umsetzung der Energiewende inDeutschland ist auch für Europa wichtig. Sie ist aller-dings nicht im nationalen Alleingang möglich, sondernmuss europakompatibel sein. Vor allem muss die sozialeBalance durch bezahlbare Energien für private Haus-halte gewahrt werden. Auch die Wettbewerbsfähigkeitder Industrie darf durch steigende Industriepreise nichtzusätzlich beeinträchtigt werden. Hier ist der Kurs unse-res Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel absolut zu un-terstützen.
In Europa steigt die Abhängigkeit vom Import vonEnergierohstoffen. Damit gehen enorme Risiken für dieVersorgungssicherheit in Form von Menge und Preiseinher. Daher kommt der Exploration, Gewinnung undFörderung heimischer Rohstoffe eine zunehmende Be-deutung zu. Das gilt auch für die Förderung von Erdgasund Kohle als Brückentechnologien auf dem Weg ins re-generative Zeitalter. Nur so können wir den Ausstieg ausder Kernenergie sicher gestalten. Insofern ist der Wegder Briten ein falscher.
Vor dem Hintergrund des weltweiten Potenzials unddes bereits heute deutlich erkennbaren wirtschaftlichenImpulses billigen Erdgases in den USA wäre es geradezutöricht, die Förderung von Schiefergas in Deutschlandnicht wenigstens, wissenschaftlich begleitet, zu erproben –mit unseren hohen Standards, enger behördlicher Kon-trolle, jahrzehntelangen Erfahrungen, wissenschaftlichemKnow-how und hochqualifizierten Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern in dieser Branche. Wo denn sonst,wenn nicht hier, sollen diese Erfahrungen gesammeltwerden? Es muss doch wohl möglich sein, in einemtransparenten, wissenschaftlich begleiteten Prozess Er-
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Bernd Westphal
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fahrungen zu sammeln und auf dieser Basis dann poli-tisch zu entscheiden.Trotz seiner herausragenden Bedeutung wurde der in-dustrielle Sektor in der Vergangenheit häufig als rück-wärtsgewandt erachtet und die EU-Industriepolitik langeZeit sträflich vernachlässigt. Dienstleistungen und Fi-nanzmarkt standen im Vordergrund. OrdnungspolitischeVorstellungen reiner Marktregeln dominierten den Kurs.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss sich ändern.
Ein erhöhter Globalisierungsdruck, Rohstoffknapp-heit, die demografische Entwicklung oder dringend zulösende Fragestellungen im Klima- und Energiebereichmachen nicht vor den Landesgrenzen der EU-Mitglied-staaten halt. Sie verlangen nach einer koordinierten eu-ropäischen Handhabung. Wir brauchen eine in sichschlüssige Strategie der EU. Wir brauchen eine Strategieder nachhaltigen Entwicklung.Wirtschaftliche Dynamik, sozialer Fortschritt undSchutz der Umwelt hängen untrennbar und gleichrangigzusammen. So ist es wichtig und richtig, dass sich dieBundesregierung bei den Verhandlungen im Zuge desEU-Klima- und Energierahmens 2030 für drei verbindli-che Ziele eingesetzt hat; die Bundeskanzlerin hat aufdiese Zieltrias hingewiesen. Sie muss in den Beschlüs-sen des Europäischen Rates am 23. und 24. Oktober imFokus stehen. Daran werden wir die Bundesregierungmessen.Weitere wichtige Handlungsfelder auf europäischerEbene sind zum Beispiel die Harmonisierung von Steu-ersätzen, Industrie 4.0, aber auch der Ausbau der Breit-bandinfrastruktur.Es besteht sicherlich Einigkeit darüber, dass wir eineInnovationsagenda für Europa benötigen. Was dann abernicht zusammenpasst, ist die Kürzung von Mitteln fürden Bereich Forschung und Entwicklung im EU-Haus-halt um 10 Milliarden Euro. Hier muss die zuständigeMinisterin widersprechen.
Zum Schluss möchte ich noch einen wichtigen Punktansprechen. Große Sorgen bereiten mir die rechtsradika-len Tendenzen und die nationalen Entwicklungen in eini-gen Mitgliedstaaten. Mit einer perfiden Ausländerfeind-lichkeit wird Stimmung gemacht und dem rechten Randder Boden bereitet. Das dürfen wir nicht unwiderspro-chen hinnehmen. Das dürfen wir nicht zulassen.
Diese Entwicklung schadet der europäischen Idee, demgemeinschaftlichen Zusammenhalt und nicht zuletzt derWirtschaft. Sie ist Gift für ein friedliches Miteinanderder Menschen in Europa. Deshalb muss die künftige eu-ropäische Wirtschaftspolitik Perspektiven und Teilhabefür alle bereithalten bzw. schaffen. Lassen Sie uns ge-meinsam daran arbeiten.Vielen Dank.
Alexander Ulrich ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieinsbesondere von der Bundesregierung durchgesetzteAusteritäts- und Kürzungspolitik hat Europa in die Re-zession getrieben. Deshalb ist die Situation in Deutsch-land Ergebnis der eigenen Politik.
Man erntet, was man sät. Dafür tragen diese Bundesre-gierung, aber auch die Vorgängerregierung die Haupt-verantwortung.
Die Rezession ist nicht nur ein Problem für Deutsch-land und Europa. Letzte Woche tagten IWF und Weltbankin Washington. Auch dort wurde dringend angemahnt,dass Deutschland viel mehr für die Binnennachfrage undfür Investitionen tun muss.
Aber Herr Schäuble hat sich auch hier weitestgehendverweigert. Deshalb ist Deutschlands Wirtschaftspolitiknicht nur ein Problem für Deutschland und Europa, sieist mittlerweile ein Problem für die Weltkonjunktur. Ichfürchte, dass der US-amerikanische Wirtschaftsnobel-preisträger Paul Krugman recht hat, wenn er die deut-sche Wirtschaftspolitik mit dem Schiller-Zitat kommen-tiert: „Gegen die Dummheit kämpfen selbst die Göttervergebens.“ Ich glaube, das ist wirklich so, angesichtsdessen, was meine Vorredner gesagt haben.Herr Friedrich, Sie mahnen immer wieder an, dass esmehr private Investitionen geben sollte. Aber wennDeutschland auf Verschleiß gefahren wird, wenn Deutsch-land dringende Investitionen nicht tätigt, warum sollendann private Investoren an unser Land glauben?
Private Investitionen folgen öffentlichen Investitionen.Sie verweigern sich dem wegen des Fetischs der schwar-zen Null.
Herr Schäuble, Sie müssen der schwäbischen Haus-frau einmal erklären,
warum man angesichts der derzeitigen Niedrigzinspoli-tik dringende Investitionen nicht jetzt tätigt, sondernwartet, bis die Zinssätze wieder steigen. Das ist ver-schleudertes Geld. Dafür werden die künftigen Genera-
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Alexander Ulrich
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tionen zahlen müssen. Jetzt muss investiert werden! Jetztist das Geld billig! Es ist dringend notwendig, in Ver-kehr, Infrastruktur, Bildung und Forschung zu investie-ren.
Deutschland ist nicht Teil der Lösung, sondernDeutschland ist Teil des Problems. Das fing damit an,dass die Niedriglohnpolitik Deutschlands mit derAgenda 2010 und Hartz IV zu riesigen Außenhandels-überschüssen geführt hat. Das hat den Euro ins Wankengebracht. Dann ging es weiter mit der Umdeutung derFinanzmarktkrise in eine Staatsschuldenkrise. Es folgtenKürzungsdiktate, die zu verheerenden auch menschli-chen Katastrophen in Südeuropa führten. Ganz neben-bei: Ich finde es zynisch, dass Sie sich hier darüberempören, dass Gregor Gysi Ihnen den Spiegel vorhält.Ihre Politik in Südeuropa hat zu menschlichen Katastro-phen geführt.
Es geht noch weiter: Man unterlässt jedwede Solidari-tät, um durch mehr Investitionen die Wirtschaft endlichwieder in Gang zu bringen. Eine ganze Generation Ju-gendlicher überlässt man ihrem Schicksal, indem manihnen keine Perspektive gibt. Letzte Woche fand in Mai-land ein Beschäftigungsgipfel statt. Auf diesem Gipfelhat Frankreich gesagt: Wir müssen 20 Milliarden Euro indie Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit investieren.Deutschland hat das abgelehnt. Zur Erinnerung: Wir ha-ben 1,7 Billionen Euro zur Rettung der Finanzmärkte or-ganisiert. Aber zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit sind dieser Bundesregierung 20 Milliarden Euro zuviel. Das ist zynisch. Das kann man wirklich nicht ak-zeptieren.
Ich komme zum Schluss. Die Frau Bundeskanzlerinhat gesagt, dass 6 Milliarden Euro bereitstehen, abernicht abgerufen werden. Sie werden nicht abgerufen,weil die Länder kein Geld für die Kofinanzierung haben;denn die ihnen aufoktroyierten Spardiktate führen dazu,dass dieses Geld nicht bereitsteht. Wir brauchen drin-gend Investitionen ohne Kofinanzierung. Diesbezüglichmuss Europa viel mehr tun, und auch diese Bundesregie-rung.Vielen Dank.
Der Kollege Matern von Marschall ist der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Göring-Eckardt hat der Bundesregierung mangeln-des Engagement in der Europapolitik vorgeworfen; dieseFrage wird offensichtlich gerade im Gespräch mit FrauMerkel geklärt. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall: DieBundesregierung versucht, europapolitische Impulse zusetzen. Das wird sie mit Sicherheit insbesondere auf demEuropäischen Rat am 23. und 24. Oktober 2014 machen.Die Bundesregierung wird mit Sicherheit auch hin-sichtlich der Klimapolitik Impulse setzen. Sie hat – dafürbin ich ihr sehr dankbar – in der Vergangenheit und auchheute wiederholt darauf hingewiesen, dass im Rahmendes Klimapakets die Reform des Emissionshandels eineganz wesentliche Rolle spielt. Ich glaube, das ist der ent-scheidende Punkt, damit wir in der Europäischen Unioninsgesamt das Ziel der CO2-Reduktion erreichen. Ichwill nachher noch etwas genauer darauf eingehen. Esgeht, um das vorwegzunehmen, darum, dass wir die Ge-samtmenge der CO2-Emissionen in Europa bemessenund uns ernsthaft das Ziel setzen, die CO2-Emissionenbis 2030 zu reduzieren, aber auch weit darüber hinaus,und zwar bis 2050. Bis 2050 sollen die CO2-Emissionenübrigens um 85 Prozent reduziert werden. Das ist erfor-derlich, wenn wir die allerschlimmsten Auswirkungenund Schäden der Klimaveränderungen noch stoppenwollen. An diesem Ziel hält auch die Bundesregierungfest. Aus diesem Grund will die Bundesregierung denCO2-Emissionszertifikatehandel strukturell reformieren.Es ist ganz wichtig, dass wir erkennen, dass diese am-bitionierten, verbindlichen Vereinbarungen, die wir inEuropa treffen müssen, vor dem Hintergrund des Welt-klimagipfels im kommenden Jahr in Paris zu sehen sind.Das ist von ganz entscheidender Bedeutung; denn wennwir im Herzen Europas, in Paris, im kommenden Jahrnicht mit einer gemeinsamen, starken Position in dieserFrage auftreten, dann wird das als ein Scheitern Europasin dieser wesentlichen Zukunftsfrage gesehen, und dasdarf nicht geschehen.
Europa muss vielmehr, angeführt von Deutschland,das diesbezüglich ambitionierte Ziele verfolgt, eine Vor-reiterrolle in Sachen Klimaschutz spielen. Wir werdenaber sorgfältig darauf achten – das wird bei der Reformdes Zertifikatehandels genauso wichtig sein –, dass dieenergieintensiven Unternehmen, die in diesem Land undin Europa tätig sind, nicht zur Abwanderung gezwungenwerden, weil sonst anderenorts noch sehr viel mehr CO2emittiert wird. Das ist die eine Seite. Auf der anderenSeite werden wir auch sorgsam darauf achten müssen,dass der Zertifikatehandel so reformiert wird, dass einAnreiz für Investitionen in saubere Technologien gege-ben wird. Das ist das Wichtige.
Es kann unmöglich sein, dass es weiterhin rentabel ist,diese Kohle-Dinos, die uns doch sehr sauer aufstoßen,um es einmal so zu sagen, weiter zu betreiben, währendneue, moderne Gaskraftwerke stillstehen. Das gehtnicht. Auch unter diesem Aspekt muss der Zertifika-tehandel reformiert werden.
Ich will kurz erläutern, dass Klimapolitik für mich nurein Baustein von Nachhaltigkeitspolitik ist. Diese habenwir hier in Deutschland hoch angesiedelt – sie ist Chef-
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Matern von Marschall
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sache –, aber in Europa zeigt sie nur zarte, erste Ausprä-gungen. Insofern bin ich dankbar, dass Jean-ClaudeJuncker seinen ersten Vizepräsidenten Timmermans ge-beten hat, sich dieses Themas anzunehmen. Wir werdensorgsam darauf achten, dass sich daraus auch eine ge-samteuropäische Strategie zur Nachhaltigkeit entwickelt.Wir werden auch deshalb darauf achten, weil – davonbin ich überzeugt – Klimapolitik als Teil von Nachhal-tigkeitspolitik im Zusammenhang mit den globalenNachhaltigkeitszielen gesehen werden muss, die nach-folgend zum Klimagipfel in Paris von den Vereinten Na-tionen verabredet werden. Diesen Zusammenhang zu se-hen, ist wichtig. Deswegen brauchen wir auch in Europaeine Nachhaltigkeitsstrategie, die diesen Namen ver-dient. Dafür setzen wir uns besonders im Ausschuss fürdie Angelegenheiten der Europäischen Union, aber auchim Nachhaltigkeitsrat ein. Wir werden daran festhaltenund Jean-Claude Juncker daran erinnern.
Ich möchte den Zusammenhang zwischen diesen ver-schiedenen Aspekten in einem Gesamtkonzept derNachhaltigkeit verdeutlichen. Das ist nicht irgendwieGutmenschentum. Wenn wir sehen, wie stark die Aus-wirkungen des Klimawandels sind – Menschen leidendurch Überschwemmungen oder durch Dürreperiodenunter Hungersnöten, sie werden in die Flucht getriebenund durch ihre Flucht auch in Konflikte und in Kriege –,dann erkennen wir auch, dass es wesentliche sicherheits-politische Auswirkungen und, um es platt zu sagen, auchfinanzielle Auswirkungen gibt, die wir am Ende tragenmüssen. Deswegen muss man diese Dinge im Zusam-menhang einer globalen Nachhaltigkeitspolitik betrach-ten.Insofern bin ich sehr dankbar, dass das im Hause vonMinister Müller so gesehen wird. Ich denke zum Bei-spiel an die wunderbare Initiative letzte Woche, bei dersich Kinder für die Kinder in Westafrika engagiert ha-ben, die dort gezwungen sind, Kakaobohnen zu ernten,ohne entsprechend dafür bezahlt zu werden, damit wirim Supermarkt billige Schokolade kaufen können. Auchhier engagieren wir uns. Darauf wollte ich hinsichtlichdes Zusammenhangs zwischen Klimapolitik und Ent-wicklungspolitik in einem Konzept von globaler Nach-haltigkeitspolitik hinweisen.
Ich möchte zum Schluss noch einmal auf das Zertifi-katesystem zu sprechen kommen, damit es auch verstan-den wird; denn es ist einigermaßen kompliziert. Ichglaube, das System des CO2-Zertifikatehandels kann– Frau Bundeskanzlerin, Sie haben ja gesagt, dass Eu-ropa stark sein muss, aber nur dort, wo es die National-staaten nicht auch sein können – die Chance auf Subsidi-arität bieten. Denn wenn das allgemeine Ziel der CO2-Reduktion verbindlich festgelegt wird, können wir deneinzelnen Staaten mehr Freiheit innerhalb dieser Zielset-zung, innerhalb dieser Reduktionsstufen bieten, sodasssie die Reduktionsziele entsprechend der sehr unter-schiedlichen Gegebenheiten der einzelnen Staaten errei-chen. Das muss man sehen.Ich muss übrigens auch sagen: Wir müssen, FrauBundeskanzlerin, wenn wir diese ambitionierten Ziele inBrüssel verhandeln, natürlich nicht nur auf die Industrieachten, sondern auch auf die unterschiedlichen Gege-benheiten in den Staaten der Europäischen Union. Polenhat selbstverständlich ganz andere Möglichkeiten undauch Vorstellungen. Auch das muss bei einer Lastenver-teilung innerhalb des Zertifikatesystems berücksichtigtwerden.Ich glaube, nachdem ich diesbezüglich mit vielenwissenschaftlichen Instituten gesprochen habe, dass einPreiskorridor ein durchaus gutes und mögliches Verfah-ren ist, um diese Zertifikate künftig sozusagen auch fürdie Wirtschaft planbar zu machen. Ich denke hier an ei-nen Preiskorridor in der Größenordnung von 15 bis 30Euro pro Tonne CO2. Jetzt ist es so, dass wir durch dieWirtschaftskrise immer noch einen riesigen Überhang anZertifikaten haben, die gar nicht aufgebraucht wurden.Da geht es um gewaltige Mengen, die wir vielleicht vo-rübergehend aus dem Markt herausnehmen. Ich denke,in Zukunft brauchen wir eine Marktstabilitätsreserve,mit der flexibel umgegangen werden kann, und zwar soflexibel, dass wir bei den Preisschwankungen nach obenund nach unten die Menge der Zertifikate dem durch dieWirtschaftsphasen unterschiedlichen CO2-Ausstoß an-passen können. Das ist sicherlich der richtige Weg.Wenn wir es bei diesem Zertifikatehandelssystem belas-sen und es den Staaten darüber hinaus im Detail selberüberlassen, wie sie diese Ziele erreichen, wäre das gutund würde dem Subsidiaritätsprinzip genügen.Ich möchte zum Abschluss sagen: Ich glaube, wirkönnen durchaus darüber nachdenken, ob in Zukunftnoch andere Branchen in den Zertifikatehandel einbezo-gen werden sollten. Im Augenblick sind hier nur derEnergiesektor und der Industriesektor – und davon auchnur ein bestimmter Teil – integriert. Damit werden etwa45 Prozent der CO2-Emissionen Europas erfasst, 45 Pro-zent immerhin, aber keine 100 Prozent. Deswegen wirdes sinnvoll sein, den Zertifikatehandel auf andere Bran-chen auszudehnen, gegebenenfalls auf den Wärme- undauch auf den Transportsektor. Das ist aber eine mittel-fristige Perspektive. Erst einmal geht es darum, dass wirüberhaupt gemeinsam zu einem Ziel kommen. Ichglaube, dass die Bundeskanzlerin die Beste ist, um kraftihrer eigenen Überzeugung zu diesem Thema die euro-päische Gemeinschaft im Rat zu einem gemeinsamenZiel zu bringen – auch dank ihrer eigenen Überzeugungim Hinblick auf die Bedeutung einer nachhaltigen euro-päischen und globalen Politik.Danke.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun dieKollegin Annalena Baerbock das Wort.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eingangsgesagt, dass Sie von anderen Staaten immer wieder hö-ren: Wir erwarten, dass Sie Ihre Stimme erheben. – Da-rauf warten wir ebenfalls sehr lange: dass Sie endlichIhre Stimme erheben, und zwar zu wichtigen Punkten.
Wenn die Vereinten Nationen verkünden, dass der Um-fang der Lebensmittelhilfe um 40 Prozent gekürzt wer-den muss, vor allem für Syrien, dann erwarten wir, ver-dammt noch mal, dass Sie Ihre Stimme erheben undsagen: So geht es nicht, wir helfen.
Wenn Großbritannien weiter auf Atomkraft setzt unddie scheidende EU-Kommission sagt: „Ja, das befürwor-ten wir“, dann erwarten wir von Ihnen als Regierungs-chefin eines Landes, das aus der Atomkraft aussteigt,dass Sie Ihre Stimme erheben und deutlich sagen: Nein,nicht mit uns!
Wenn die Investitionsschwäche in Europa weiter umsich greift, dann erwarten wir von Ihnen, dass Sie IhreStimme erheben und endlich in eine nachhaltige Ent-wicklung investiert wird. Und da ist es wirklich derOberknaller, dass Sie in Bezug auf die wirtschaftlicheEntwicklung und auf Nachhaltigkeit in Europa ausge-rechnet den EU-Haushalt anführen. Was haben Sie dennals Teil der Staats- und Regierungschefs dazu beigetra-gen, dass Europa in den nächsten Jahren einen nachhalti-gen Haushalt hat? Gar nichts. Sie haben sich als Rat ge-meinsam gegen das Europäische Parlament gestellt, dasmehr Ausgaben für Forschung und Entwicklung, mehrAusgaben für Solidarität in Europa und mehr Ausgabenfür den Klimaschutz gefordert hat. Die Kürzung des EU-Haushalts, das sind auch Ihre Kürzungen, Frau Bundes-kanzlerin.
Sie haben es verpasst, die wichtige Frage der wirt-schaftlichen Entwicklung Europas mit den Klimazielenzu verzahnen. Sie hätten im Haushalt vor gut einem Jahrden Startschuss für eine sozial-ökonomische Transfor-mation Europas setzen müssen. Stattdessen haben Sie alsBundeskanzlerin einer zunächst schwarz-gelben Regie-rung und dann einer schwarz-roten Regierung dazu bei-getragen, dass Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit underneuerbare Energien in Deutschland und in Europa ge-geneinander ausgespielt werden – und jetzt wundern Siesich, dass wir bei den 2030-Zielen nicht wirklich voran-kommen!
Was Sie gebraucht hätten, wäre eine Strategie, wie siejüngst im New Climate Economy Report formuliertwurde, der unter dem Titel „Besseres Wachstum, besse-res Klima“ betont, dass ökonomisches Wachstum unddie Eindämmung der Risiken des Klimawandels Hand inHand gehen können, wenn es – das betont der Berichtsehr deutlich – „eine starke politische Führung und eineglaubhafte, in sich stimmige Politik“ gibt.Leider müssen wir heute hier konstatieren, dass esdiese starke politische Führung Ihrerseits für wirtschaft-liche Entwicklung und Klimaschutz in Europa nicht gibtund dass es keine stimmige Politik für die Energiewendein Deutschland und in Europa gibt.
Wir wünschen uns sehr, dass Sie einmal in den KellerIhres Bundeskanzleramtes hinuntersteigen. Vielleichtfinden Sie dort Ihre eingestaubte rote Jacke wieder, dieSie vor etlichen Jahren vor den Eisbergen von Grönlandpräsentiert haben – auch Herr Sigmar Gabriel war da-bei –, und dass Sie sich gemeinsam daran erinnern, wases bedeutet, ambitioniert für Klimaschutz zu kämpfen.Wie wollen wir unseren europäischen Nachbarn er-klären, dass erneuerbare Energien ein wirtschaftlicher,ein ökonomischer Erfolg sind, wenn wir hier in Deutsch-land immer wieder die hohen Energiekosten beklagen?Wie wollen Sie für eine engagierte europäische Klima-politik kämpfen, wenn Sie noch nicht einmal zum Kli-magipfel nach New York reisen und wenn Sie vor einemJahr – es war ziemlich genau vor einem Jahr – zwar beiden CO2-Grenzwerten für Autos auf den Tisch hauen,aber hier und heute zu den 2030-Zielen, mit denen wirdas 2-Grad-Ziel definitiv nicht erreichen werden, nichtsanderes zu sagen haben als folgenden Satz: „Von deut-scher Seite könnte man sich auch andere Ziele wün-schen“?Sie können sich so viel wünschen, wie Sie wollen:Wenn Sie als Mitglied der Europäischen Union etwaszum Klimaschutz beitragen wollen, dann braucht es dreiverbindliche und ambitionierte Ziele: Ausbau der Erneu-erbaren, Energieeffizienz und CO2-Minderung. Dafürmüssen Sie die verbleibende Woche hart kämpfen, damitEuropa das in die Klimaverhandlungen einbringt; dennsonst droht die Konferenz in Paris zu scheitern.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Joachim Poß ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir ste-hen in Europa, auch in Deutschland, im Epochenjahr2014, wie es Heinrich August Winkler nennt, vor großenAufgaben und Weichenstellungen. Zwar haben wir seitder Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 und dennachfolgenden Turbulenzen im Euro-Raum unsere Hand-lungsfähigkeit verbessert. Aber ich fürchte, dass wir fürdie nun kommende Zeit mit den bisherigen Fortschritten,einschließlich der Bankenunion, nicht auskommen, dass
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Joachim Poß
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wir uns in Europa weiter für das rüsten müssen, was daauf uns zukommt. Das sollten wir ganz realistisch insAuge fassen und auch bei allen Fortschritten nicht ver-schweigen.Deswegen möchte ich die Bundeskanzlerin, die jetztihren Flug nach Mailand antreten musste, wie sie mirsagte, in einem Punkt ergänzen. Sie sprach davon, dassIrland, Portugal und Spanien ihre Programme erfolg-reich abgeschlossen hätten. Es mag, technokratisch gese-hen, richtig sein, die Programme abzuschließen. DieKanzlerin hätte aber hinzufügen sollen: Die wesentli-chen Probleme in diesen Ländern sind damit noch nichtgelöst, vor allen Dingen nicht das Problem der Arbeits-losigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit.
Dies zeigen auch andere Strukturdaten. Die Verschul-dung in Spanien zum Beispiel wird bis 2015 noch stei-gen. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.Wir als Bundesrepublik Deutschland sollten unserenBeitrag dazu leisten, dass eine teilweise unfruchtbareDebatte in Europa – auf der einen Seite die Forderungnach mehr Investitionen, auf der anderen Seite die nachmehr Strukturreformen – in der bisherigen Form beendetwird. Sie führt in eine Sackgasse. Wir brauchen mehr In-vestitionen in den einzelnen Ländern Europas, und wirbrauchen auch mehr Strukturreformen in den einzelnenLändern; das ist nicht zu leugnen.
Strukturreformen bedeuten ja nicht nur, Arbeitsge-setze zu ändern. Strukturreformen bedeuten vor allenDingen, ein vernünftiges Berufsausbildungssystem ein-zurichten. Strukturreformen bedeuten auch, dass diestaatlichen Institutionen ihre Aufgaben wahrnehmen,dass etwa die Jugendgarantie tatsächlich umgesetzt wird.Ich habe nicht verstanden, warum Hollande in Mailandgesagt hat, wir bräuchten noch 20 Milliarden Euro mehr.Wir sind aus ganz unterschiedlichen Gründen noch nichteinmal in der Lage, 6 Milliarden Euro im Rahmen derBeschäftigungsinitiative kollektiv auszugeben. Das istTeil der europäischen Realität.
Mit dieser Realität müssen wir uns beschäftigen,ebenso mit der Praxis. Angesichts der Transparenz undEffizienz in manchen Ländern muss ich sagen: Da istnoch viel Luft nach oben; da ist man gelegentlich sogarerschrocken über das Ausmaß. Ich verschweige auchnicht das Ausmaß der Korruption, das in einigen Län-dern erschreckend hoch ist. Auch das muss thematisiertwerden, das können wir nicht so ohne Weiteres tolerie-ren.
Deswegen ist die wichtigste Reform in vielen Län-dern, Rechtssicherheit herzustellen. Matteo Renzi sagtnicht umsonst: Ich will eine Justizreform. – Wenn manin Italien innerhalb von fünf Jahren kein Urteil bekommt– egal in welcher Angelegenheit –, fördert das nicht dieRechtssicherheit und auch keine langfristigen Investitio-nen. Das sind Punkte, über die wir uns verständigenmüssen. Da müssen auch die vorhandenen Möglichkei-ten genutzt werden.Wenn Bulgarien, Italien, die Slowakei und Rumänienweniger als 56 Prozent der Strukturfördermittel in derPeriode 2007 bis 2013 abgerufen haben, bedeutet das ei-nen Verzicht auf viele Arbeits- und Ausbildungsplätze inden jeweiligen Ländern. Das muss die Linkspartei aucheinmal zur Kenntnis nehmen, bevor sie mit Schuldzu-weisungen arbeitet, die an der Realität in Europa vorbei-gehen.
Strukturmittel in Höhe von 102 Milliarden Euro sindnicht abgerufen worden. Wir müssen unseren Beitragdazu leisten, das konkret zu ändern, und zwar auf der eu-ropäischen Ebene. Das muss die neue Kommission leis-ten. Der Bewilligungsprozess ist in der Tat sehr bürokra-tisch, und es bestehen Unterschiede in den einzelnenLändern, was die Fähigkeit angeht, diese Mittel abzuru-fen.Nur nebenbei: Die Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nurein Problem in den südlichen Ländern. In 18 EU-Län-dern liegt sie über 20 Prozent, zum Beispiel in Schwedenbei 27,6 Prozent und in Irland bei 26,9 Prozent.Das sind die Probleme, mit denen wir uns in dennächsten Jahren auseinandersetzen müssen mit einemPolicy Mix, der konkrete Fortschritte bei Investitionenund Strukturreformen sowie eine angemessene Konsoli-dierung umfasst. Deswegen brauchen wir auch Finanzie-rungsmittel. Wir brauchen praktische Fortschritte imKampf gegen Steuerhinterziehung und Steuervermei-dung. Starbucks, Google und Co. und auch große deut-sche Konzerne müssen von uns gezwungen werden, end-lich Steuern in Europa zu zahlen, damit wir dieseInitiativen finanzieren können.
Die Aufhebung des sogenannten Bankgeheimnisses,die jetzt im Ecofin beschlossen wurde – dafür haben ei-nige wie ich jahrzehntelang gekämpft –, kommt zwar et-was spät, aber sie ist gleichwohl richtig und eine wesent-liche Voraussetzung, um in diesem Kampf erfolgreicherzu sein. Man muss es offen sagen: Dagegen gab es indiesem Parlament massiven Widerstand von Konservati-ven und Liberalen über Jahre und Jahrzehnte. Das hatsich geändert. Das halte ich für einen Fortschritt.Die Möglichkeiten der Europäischen Investitionsbankzur Ankurbelung der Investitionen sind genannt worden.Da müssen wir durch Anhebung des Eigenkapitals einVielfaches an Investitionsvorhaben fördern.In den Gesprächen, die ich in den letzten Monaten inEuropa geführt habe – sei es mit Ökonomen und Vertre-tern der Wirtschaft oder mit Politikern –, bin ich auf einProblem gestoßen, das mir nicht unbekannt ist: Das istdie wachsende Ungleichheit hier in Europa und auch in
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Joachim Poß
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den USA. Auch das ist ein Problem, das durch die Euro-päische Union und das, was Juncker bisher gesagt hat,nicht adressiert worden ist.Wir haben also viel zu tun. Dieses deutsche Parlamentsollte einen wirklich konstruktiven Beitrag leisten.
Nächster Redner ist der Kollege Maik Beermann für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi,das war heute wieder einmal ein Demagogenklamauksondergleichen, den wir uns hier anhören mussten.
Wenn wir nämlich auf Sie hören müssten, dann wäre un-ser leistungsfähiger Staat schon mausetot.
Frau Göring-Eckardt, ich glaube, dass Herr Gabrielnicht der Genosse der Bosse ist, sondern meines Wissensimmer noch der Boss der Genossen. Ich glaube, das istein kleiner Unterschied.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerne möchte ichdie Ausführungen unserer Kanzlerin im Bereich der eu-ropäischen Klima- und Energiepolitik untermauern. Ba-sierend auf der chinesischen Weisheit „Der Mann, derden Wind der Veränderung spürt, sollte keinen Wind-schutz, sondern eine Windmühle bauen“, betreiben wirals Union gemeinsam mit unserem Koalitionspartnereine solide Klima- und Energiepolitik. Durch eine engeVerzahnung der europäischen Ebene mit unserem Tunund Handeln hier in Berlin ist es uns gelungen, in denvergangenen Jahren eine verlässliche Politik in diesenBereichen zu erarbeiten.Im Grunde besteht sogar innerhalb unseres Hauseseine große Einigkeit darüber, dass der eingeschlageneWeg eine Grundlage für die europäische Energiepolitikbilden kann. Mit Herrn Günther Oettinger haben wir inden vergangenen Jahren auch auf europäischer Bühnemaßgeblich die Weichen der Energiepolitik gestellt.Wenn der Kollege Hofreiter lieber die Klimakommis-sarin unterstützen wollte, als auf den Energiekommissarzu hören, weil er der Meinung war oder ist, dassDeutschland beim Klimaschutz vom Vorreiter zumBremser geworden ist, dann kann ich dem nicht zustim-men. Denn wenn jemand zum Klimaschutzbremser ge-worden ist, dann eben genau die zuständige Kommis-sion.Das Abschaffen der ehrwürdigen Glühbirne, Staub-sauger mit nur noch 1 000 Watt, die eigentlich gar kei-nen Staub mehr saugen, weil die Power fehlt, oder Kaf-feemaschinen, die sich nach fünf Minuten automatischabstellen, sodass man danach einen kalten Kaffee ser-viert bekommt: All das haben die Menschen in unseremLand und in Europa nämlich satt, meine Damen undHerren.
Wenn man sich die aufwendige Produktion einerEnergiesparlampe vor Augen führt, dann kann man übereine gewisse positive Klimaschutzbilanz sicherlich nurschmunzeln. Wie im Energiefahrplan der EuropäischenKommission erwähnt, sind das Wohlergehen der Men-schen, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und dasFunktionieren der Gesellschaft insgesamt von sicherer,nachhaltiger und erschwinglicher Energie abhängig.Deutschland hat die Energiewende bereits eingeleitet,was in Europa mittlerweile zu einem geflügelten Wortgeworden ist. Wir sind auf einem guten Weg, uns vonder Atomkraft zu verabschieden und auf erneuerbareEnergien zu setzen.Anders unsere Nachbarn in Frankreich: Sie setzennach wie vor auf Atomstrom als zentralen Energieliefe-ranten. Etwa 60 Prozent der dortigen Stromerzeugungstammt aus Kernkraftwerken. Frankreich wäre derzeitwirtschaftlich aber auch überhaupt nicht in der Lage, aufAtomstrom zu verzichten.Unsere Freunde in Polen haben ein hohes Vorkom-men an Steinkohle. Sie möchten auf diesen kostengüns-tigen Energieträger ebenso wenig verzichten. Nur durchniedrige Energiepreise können im internationalen Han-del häufig Wettbewerbs- und Standortvorteile erzieltwerden.Meine Damen und Herren, wir leben nicht auf einerInsel der Glückseligkeit. Die europäische Klima- undEnergiepolitik ist und bleibt ein Gemeinschaftsprojekt.Wir müssen unsere nationalstaatlichen Projekte und An-sätze in den europäischen Weg einbringen und weiterhinals Taktgeber in Europa fungieren.
Nehmen wir die aktuell hitzigen und kontroversenDebatten um die Förderung von Schiefergas: Das soge-nannte Fracking ist derzeit in einigen EU-Ländern ver-boten; in manchen Ländern finden aber auch Probeboh-rungen statt. Ich warne aber in jedem Fall davor, ausIdealismus diese Möglichkeit von vornherein abzuleh-nen. Wir dürfen in jedem Fall nicht riskieren, dass ener-gieintensive Unternehmen in die USA abwandern, weilsich die Energiepreise dort im Sinkflug befinden, wäh-rend sie in Europa stetig steigen. Das wird uns in Europa
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5504 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Maik Beermann
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Arbeitsplätze kosten, und auch dem Klimaschutz wäre inkeiner Weise geholfen.Jedoch dürfen wir in dieser Frage nicht nur die wirt-schaftlichen Aspekte bei unserer Entscheidungsfindungin den Vordergrund stellen. Ebenso sollten der Natur-,Umwelt- und vor allen Dingen auch der Trinkwasser-schutz einen hohen Stellenwert einnehmen.
Mit Blick auf meinen Wahlkreis Nienburg-Schaum-burg im schönen Niedersachsen kann ich Ihnen mittei-len, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass auch die Be-völkerung bei mir zu Hause sehr kontrovers über diesesThema diskutiert. Wir sollten aber nicht nur eine Um-weltverträglichkeitsprüfung beschließen, sondern auchdarüber nachdenken, ob es nicht notwendig ist, Lager-stättenwasser verpflichtend aufbereiten zu lassen, bevores wieder im Erdreich verpresst wird.
Neben unseren nationalen Bemühungen zum The-menfeld Fracking wird auch in der EU-Kommission eineuropäischer Regulierungsrahmen erstellt. Ich finde, ge-nau hier gehört dieses Thema auch hin. Neben der natio-nalen Gesetzgebung sind bei solch sensiblen Themen eu-ropäische Rahmenbedingungen zu schaffen. Denn nur sokann einem langfristigen und grenzübergreifenden Na-tur- und Klimaschutz Rechnung getragen werden.Sehr geehrte Damen und Herren, ein weiteres Ziel istklar – das hat auch die Kanzlerin schon angesprochen –:Wir müssen die Entwicklung des europäischen Energie-binnenmarktes voranbringen. Hier gibt es noch enormviel Arbeit.Der Binnenmarkt für Gas und Strom muss endlichfunktionieren. Die Transeuropäischen Netze werden denheutigen und künftigen Anforderungen in keiner Weisegerecht. So hat Spanien beispielsweise völlig unzurei-chende Netze nach Frankreich. In den baltischen Staatengibt es nach wie vor Regionen, die vom europäischenEnergienetz entkoppelt sind. Dabei ist es längst be-schlossene Sache, dass es solche Energieinseln bis 2015nicht mehr geben soll. Hier brauchen wir mehr Europa,nicht weniger.
– Hier brauchen wir mehr Europa; Sie haben völligrecht.Machen wir uns nichts vor: Deutschland ohne eigeneMeiler am Netz und ohne das Risiko von Blackouts, fallsunsere Windräder und Solarpanels nicht genug Stromproduzieren, das wird nur dann funktionieren, wenn wirproblemlos Strom über gut ausgebaute TranseuropäischeNetze von unseren europäischen Nachbarn beziehenkönnen. Wie dem Bericht der Europäischen Kommissionzur Vollendung des Energiebinnenmarktes vom 13. Ok-tober dieses Jahres zu entnehmen ist, haben nun endlichdie Bemühungen um den Ausbau der transeuropäischenStromverbindungen den einen oder anderen Erfolg ge-zeigt. Entgegen der Kritik von Frau Bulling-Schrötervon der Fraktion Die Linke, die am 24. Juni formulierte,dass es weder für den Bürger noch für den Staat billigerwerden kann, zeigt der Bericht, dass nicht nur der Strom-großhandelspreis zwischen 2008 und 2012 um ein Drit-tel gesunken ist, sondern dass günstigere Preisangeboteauch dem Endkunden geboten werden.Die Energiewende ist daher für unser Land ein richti-ger Schritt auf dem Weg hin zur Industriegesellschaft derZukunft. Nur mit einer erfolgreichen Energiewende kön-nen nachhaltiges Wachstum und die damit verbundenenArbeitsplätze in unserem Land und in Europa gesichertwerden. Zudem müssen wir unsere Unabhängigkeit vonEnergieimporten ausbauen. Wir als Christdemokratenwerden für die Fortsetzung der Energiewende auch inder Europäischen Union werben, um zum Wohle derMitbürgerinnen und Mitbürger sowie der Industrie undWirtschaft die Energiepolitik der getrennten Wege zuüberwinden. Daher kann ich einer Pressemitteilung wie-derum der Fraktion Die Linke nicht folgen. Meine Da-men und Herren, Sie wiesen im letzten Monat, am9. September dieses Jahres darauf hin, dass Deutschlandaufgrund seiner Rolle als Industrienation der Welt alsVorbild in Sachen Energiereform agieren müsse. Im sel-ben Atemzug wird dann von Ihnen der Besuch der Kanz-lerin beim Interessenverband der Industrie kritisiert, woeben genau über dieses Thema gesprochen wurde, näm-lich wie die Energiewende in der Industrie zu realisierenist. Wenn ich mir die Ergebnisse oder die Initiativen aufder Internetseite der European Left Party in der Arbeits-gruppe „Energie und Umwelt“ anschauen möchte, dannfinde ich nur eine weiße Seite ohne Inhalt. Der Fehlersteckt hier anscheinend wieder einmal im Detail.
Wir müssen den Unternehmen die richtigen Anreizeund Regulierungsrahmen bieten, die dazu dienen, die nö-tige Infrastruktur zu schaffen. Wir müssen darauf ver-trauen können, dass in unseren EU-Partnerländern einegewisse Energiesicherheit nachhaltig besteht. Die vonAngela Merkel geführte Bundesregierung setzt sich na-türlich für die Fortführung des EU-Rahmens 2020 mitseinen drei eigenständigen sowie verbindlichen Zielenauch für das Jahr 2030 ein. Im Konkreten stehen wir ers-tens für das Treibhausminderungsziel in Höhe von40 Prozent, zweitens für das verbindliche EU-erneuer-bare-Energien-Ziel in Höhe von 27 Prozent beim End-energieverbrauch und drittens für ein verbindliches EU-Energieeffizienzziel von 30 Prozent gegenüber dem Ba-sisjahr 2005. Wir als Union stehen hinter der strategi-schen Agenda des Europäischen Rates. Ich möchte heuteaber auch ausdrücklich betonen, dass nicht nur umwelt-und klimapolitische Ziele in den Fokus rücken dürfen.Ebenso müssen wir uns sowohl die wirtschaftlichen alsauch die gesellschaftspolitischen Herausforderungen vorAugen halten. Die Energie- und Klimaziele dürfen dasdringend benötigte Wachstum bei uns in Europa nichtausbremsen.
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Maik Beermann
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Ich bin nun ein Jahr lang Bundestagsabgeordneterund habe in diesem einen Jahr feststellen müssen, wieschnell sich das Blatt in der politischen Ausrichtungwenden kann. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist nochnicht überwunden. Die Konflikte im Irak sowie der Kon-flikt zwischen Russland und der Ukraine sind ein beherr-schendes Thema in vielen politischen Debatten. DieBarbarei und die Gräueltaten des IS mit all den schreck-lichen Bildern sind uns allgegenwärtig. Noch vor gut ei-nem Jahr hat, denke ich, keiner von uns diese Entwick-lungen voraussehen können. Gleichwohl wird von unsallen politisches Handeln verlangt. Ich rufe Sie daherauf: Lassen Sie uns die Handelnden sein, die im Windder Veränderungen weitreichende und zielgerichtete Ent-scheidungen treffen! Aufgrund der enormen außenpoliti-schen Herausforderungen bin ich mir sicher, dass unsereBundeskanzlerin Angela Merkel dankbar für jeden kons-truktiven und umsetzbaren Debattenbeitrag sein wird.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Philipp Mißfelder, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diese Regierungserklärung zu den drei wichtigen inter-nationalen Gipfeln, die anstehen, hat gezeigt, dassDeutschland in der Lage ist, Verantwortung zu überneh-men. Wir sind zu Beginn des Jahres bei drei Reden aufder Münchner Sicherheitskonferenz mit der Frage vonmehr Verantwortung sehr pauschal konfrontiert worden;der heutige Tag und auch die Vorbereitung auf die dreiGipfel zeigen, was das konkret bedeutet.Konkret bedeutet mehr Verantwortung aus Sicht un-serer Fraktion nicht automatisch mehr Militär, es bedeu-tet für uns, dass wir koordinierter vorgehen wollen, wasdie Entwicklungszusammenarbeit angeht, aber auch wasabgestimmtes europäisches Handeln angeht. Dafür sinddie Rahmenbedingungen leider schwieriger geworden,weil wir sehen, dass trotz der Ankündigung des Präsi-denten der Europäischen Zentralbank für das OMT-Pro-gramm die Zeit, die dadurch gekauft worden ist – auchwenn es durch die Ankündigung gar nicht notwendigwar, große Schritte zu gehen –, nicht genutzt worden ist,um die wirklich großen Fragen in Europa zu beantwor-ten.Leider, muss ich an dieser Stelle sagen, war dies des-halb so, weil weder die strukturellen Reformen, die not-wendig sind, in Ländern wie Italien oder Frankreichvorangegangen sind, noch es gelungen ist, die Banken-union in dem Maße voranzubringen, wie es notwendigwäre. Das wird auch deshalb schwieriger, weil wirSignale haben, dass sich die wirtschaftliche Lage ein-trübt. Aber auch da sage ich an dieser Stelle, dass wir aufden psychologischen Faktor setzen müssen und wir dieSituation nicht schlechter reden sollten, als sie ist.Wir sind 2008/2009 definitiv stärker aus der Krise he-rausgekommen, als wir in die Krise gegangen sind. Daswar damals das zentrale Versprechen der Bundeskanzle-rin und der damaligen Großen Koalition, und dieses Ver-sprechen ist eingehalten worden.
Leider haben nicht alle europäischen Länder ihreHausaufgaben gemacht, so wie sie es hätten tun müssenund wie wir es schmerzhaft gemacht haben, beispiels-weise mit der Agenda 2010, aber auch in der ersten Gro-ßen Koalition und danach mit der Politik der schwarz-gelben Koalition. Vor dem Hintergrund befinden wir unsin einem besonders schwierigen Umfeld. Es ist schwie-rig, jetzt von integrativen Schritten und davon zu spre-chen, wie man Europa stabil weiter voranbringen kann.Deshalb ist es richtig, dass die Kanzlerin hier klar unddeutlich gesagt hat, dass wir das partnerschaftlich tunwollen. Wir haben gestern im Auswärtigen Ausschussden französischen Außenminister zu Gast gehabt. Ichmeine, die Diskussion ist zu Recht freundschaftlich ver-laufen. Die Franzosen wissen selber, vor welch großenHerausforderungen sie stehen und welche Aufgaben siezu erfüllen haben. Leider – das muss ich sagen – stößtdas französische politische System mehr und mehr anseine Grenzen, und die Franzosen haben Probleme, dieMaßgaben, die sie einst unterschrieben haben, nämlichden Maastrichter Vertrag, einzuhalten.Deshalb stehen wir alle miteinander vor einer beson-deren Herausforderung. Allerdings muss ich dazu sagen,dass derjenige, der glaubt, man könnte Fehler, die durchSchuldenpolitik angerichtet worden sind, durch nochmehr Schulden dauerhaft und nachhaltig lösen, irrt unddie Probleme nur noch verschärfen wird.
Die Geldmengenerweiterungspolitik hat Vor- undNachteile. Die Geldmengenerweiterungspolitik hat,wenn sie unkonditioniert stattfindet, fast ausschließlichNachteile. Am heutigen Tag warnt der amerikanischeWirtschaftswissenschaftler Nouriel Roubini vor den gro-ßen Risiken in der internationalen Finanzwelt. Es gibtverschiedene Blasen. Ich möchte meinen Blick auf Ame-rika richten. Die Studienkredite, die heute in den Verei-nigten Staaten von Studenten angesammelt worden sind,sind größer als die Verschuldung durch alle Kreditkartender Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn diese Blaseplatzen sollte, wird dies definitiv Auswirkungen auf dieWeltwirtschaft haben.Das heißt: Jeder, der glaubt, dass Verschuldung per seein Mittel ist, um Krisen zu verhindern, irrt. Deshalb istes auch richtig, dass wir mit unserem Bundesfinanz-minister daran festhalten, solide Finanzen auf den Wegzu bringen, um auf der Basis dieser soliden FinanzenEuropa fortzuentwickeln und wettbewerbsfähiger zu ma-chen.
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Philipp Mißfelder
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Die Kanzlerin trägt besondere Verantwortung, wennes darum geht, die Bundesrepublik Deutschland und dieEuropäische Union international zu repräsentieren. Vieleunserer Partner verlassen sich auf sie und kommen nachBerlin, um Gespräche zu führen. Wir hatten diese WocheGelegenheit, ausführlich mit unserem Bundesaußen-minister abzustecken, was für uns vor den drei großenKonferenzen, die jetzt anstehen, die wichtigen Themensind.Das eine Thema ist der Streit zwischen Russland undder Ukraine. Ohne jetzt zu optimistisch zu sein, glaubeich, sagen zu können, dass wir – da leistet GüntherOettinger als scheidender Energiekommissar wirklichüberragende Arbeit –, in den nächsten Tagen endlich einpositives Signal bekommen werden, was den Gasstreitzwischen der Ukraine und Russland angeht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich einfach bit-
ten, noch etwas Ruhe zu bewahren. Ich weiß, dass diese
Debatte zu vielerlei Gesprächen Anlass geben kann. Es
geht darum, dass man sie außerhalb des Plenarsaals
führt, damit man den Kollegen Mißfelder gut verstehen
kann.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Wenn es gelingen
sollte, eine Einigung zu erzielen – entweder in den
nächsten 48 Stunden oder in der kommenden Woche bei
den weiteren Gesprächen –, dann, glaube ich, eröffnet
das die Chance, den politischen Prozess auf Basis der
Minsker Verabredung von Präsident Putin und Präsident
Poroschenko voranzubringen. Aber ich bin nicht zu opti-
mistisch, weil nach wie vor ein grundsätzlicher Dissens
gerade zwischen Europa und der Russischen Föderation
besteht.
Das zweite große Thema, das uns beschäftigt, ist der
gemeinsame Kampf gegen den internationalen Terroris-
mus. Ich habe mit Verwunderung den Vorschlag der
Grünen zur Kenntnis genommen. Wir haben hier über
Waffenexporte diskutiert, und natürlich ist uns die Ent-
scheidung, Waffen in ein Spannungsgebiet, Waffen an
die Kurden zu liefern, nicht leichtgefallen. – Aber wir
haben Waffen an unsere Verbündeten, an unsere Freunde
geliefert, die uns auch nicht enttäuscht haben, sondern in
einem aufopferungsvollen Kampf ISIS in ihrem Bereich
zurückgeschlagen haben. Das ist verlässliche Außen-
politik.
Was ich mich bei Ihrem Vorschlag, Frau Göring-
Eckardt, gefragt habe – ich glaube, Ihre Fraktion ist Ih-
nen an dieser Stelle eher nicht gefolgt –, ist, welches
politische Konzept dahintersteht. Wollen Sie wirklich,
dass deutsche Soldaten in einen Bodenkrieg auf syri-
schem Territorium verwickelt werden? Ich kann Ihnen
dazu nur sagen: Nein, wir wollen das nicht. Wir erteilen
diesem Vorschlag eine klare Absage.
Ein UNO-Mandat ist – das wissen Sie selber – über-
haupt nicht absehbar. Wenn wir über regionale Partner
sprechen, dann müssen wir uns deutlich ausdrücken. Ich
weiß, dass die Türkei moralisch unter einem riesigen
Druck steht. Viele sagen: Jetzt müssten die Türken doch
etwas machen. – Ich stimme der politischen Konzeption
der Türken nicht zu, dass sie in Syrien nur einrücken,
wenn sie auch die Möglichkeit haben, einen Kampf ge-
gen Assad zu führen.
Wir haben von diesem Rednerpult aus oftmals gesagt:
Es gibt für die Probleme in Syrien mit Assad keine Lö-
sung. – Aber die Lage in diesem Land hat sich nun ein-
mal dramatisch verändert; wir wissen überhaupt nicht,
wer verlässliche Partner sein könnten. Die syrische
Opposition, die wir als positiv erachten, hat – leider –
überhaupt nicht die Kraft, gegen Assad vorzugehen;
vielmehr führt eine Intervention unter Umständen letzt-
endlich dazu, dass die Situation nur noch schlimmer
wird und dass man ISIS nur noch begünstigt.
Das ist nicht in unserem Interesse.
Jeder, der für Einsätze dort ist, muss auch eine politi-
sche Konzeption vorlegen. Die Bundeskanzlerin hat das
heute hier getan. Unser vorsichtiger Kurs ist besser als
das hasadeurhafte Verhalten der Grünen.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/2895. Dazu liegt eine ganze Reihevon Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge-schäftsordnung vor.1) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte jetzt dieSchriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenenPlätze einzunehmen. – Sind alle Abstimmungsurnen be-setzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstim-mung über den Entschließungsantrag.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat, aber sie noch abgebenmöchte? – Ich sehe niemanden mehr, der noch abstim-men möchte. Dann schließe ich die Abstimmung undbitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit derAuszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmungwird Ihnen später bekannt gegeben.2)1) Anlagen 2 und 32) Ergebnis Seite 5509 C
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Vizepräsident Johannes Singhammer
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Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 bauf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungDigitale Agenda 2014 bis 2017Drucksache 18/2390Überweisungsvorschlag:Ausschuss Digitale Agenda
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, DieterJanecek, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen digitalen Wandel politisch gestalten –Handlungsempfehlungen der Enquete-Kom-mission „Internet und digitale Gesellschaft“umsetzenDrucksache 18/2880Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss Digitale Agenda
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienFederführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Weil ichkeinen Widerspruch höre, gehe ich davon aus, dass Siealle damit einverstanden sind. Damit ist das so beschlos-sen.
– Ich bitte um Ruhe hier im Plenum, damit wir der De-batte gut folgen können.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Bundesminister Alexander Dobrindt das Wort.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben uns bei den Diskussionen der ver-gangenen Wochen und Monate über die Digitale Agendader Bundesregierung von einem zentralen Leitgedankenführen lassen: Wir wollen die Stärken der sozialenMarktwirtschaft nutzen, um die digitale Revolution zugestalten. Deutschland hat eine Chance auf ein digitalesWirtschaftswunder. Das muss der Auftrag sein, den wirhier erledigen, meine Damen und Herren.
Wenn man die Entwicklungen der letzten Monate be-obachtet, dann wird eines sehr offensichtlich: Wir stehennicht am Anfang einer digitalen Revolution, wie vieleimmer wieder berichten, sondern wir stecken mittendrinin einem digitalen Wandel. Das kann man daran feststel-len, dass sich die Anzahl der Patente im Bereich derdigitalen Technologien seit der Jahrtausendwende ver-doppelt hat, dass der Digitalisierungsanteil über alleWirtschaftsbereiche hinweg um 25 Prozent gestiegen istund dass die weltweite digitale Datenmenge in den letz-ten Jahren regelrecht explodiert ist; sie ist seit 2005 umdas 70-Fache gestiegen.Die Prognosen besagen, dass wir bis 2020 eine wei-tere Verzehnfachung und dann jedes Jahr wahrscheinlicheine Verdoppelung dieser Datenmengen erleben werden.Kurz gesagt, die Digitalisierung hat die Welt – also auchEuropa und Deutschland, vor allem aber das Leben einesjeden Einzelnen – in nur ganz wenigen Jahren tiefgrei-fend verändert. Deswegen diskutieren wir auch ganzneue Phänomene in diesem Bereich. Ich sage sehr klar,dass die Frage der Teilhabe an der digitalen Welt bei die-ser dramatischen Veränderung unserer Gesellschaft na-türlich eine Frage der Gerechtigkeit geworden ist. Weitersage ich klar, dass digitale Standortfaktoren mittlerweilegenauso entscheidend für Wachstum und Wohlstand sindwie Rohstoffe, Energieversorgung und Fachkräfte.Diese digitale Revolution hat einen gesellschaftlichenWandel ausgelöst, der vielleicht mit der Erfindung desVerbrennungsmotors oder der des PC vergleichbar ist.Diesen Wandel müssen wir nutzen. Wir wollen ihn ge-stalten. Auch wollen wir Deutschland an eine internatio-nale Spitzenposition heranführen. Im digitalen Zeitalter,meine Damen und Herren, kann das nur die größte poli-tische Herausforderung bedeuten, der wir uns aktiv alsPolitik – gemeinsam mit Wirtschaft und Wissenschaft –komplett neu stellen müssen. Die gesellschaftliche Än-derung braucht die politische Begleitung.
Diesem Auftrag haben wir in der Bundesregierunghöchste Priorität eingeräumt. Drei Ressorts setzen sichintensiv mit dem Thema der digitalen Revolution aus-einander. Der Bundesminister für Wirtschaft, der Bun-desminister des Innern und der Bundesverkehrsministererarbeiten gemeinsam die Digitale Agenda. Ich möchtean dieser Stelle auch einmal einen ganz herzlichen Dankaussprechen. Sehr geehrter Herr Gabriel, wir haben ge-meinsam mit Innenminister Thomas de Maizère die digi-talen Phänomene und Chancen intensiv miteinander dis-kutiert und das Projekt der Digitalen Agenda gemeinsambegleitet. Ich kann, wenn ich sehe, wie diese drei Res-sorts das in einer erstklassigen, harmonischen und auchinhaltsstarken Weise umgesetzt haben, nur sagen: In die-ser Bundesregierung gibt es ein beispielhaftes Vorgehenund Zusammenarbeiten.
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Bundesminister Alexander Dobrindt
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Herzlichen Dank, lieber Herr Gabriel, für diese vertrau-ensvolle Zusammenarbeit!
Wir sind gemeinsam der Meinung, dass wir in der di-gitalen Welt an der Spitze stehen müssen, wenn wirWachstum und Wohlstand in Deutschland weiterentwi-ckeln wollen. Deswegen gibt es drei ganz klare Aufga-ben, die auch in der Digitalen Agenda beschrieben sind:Erstens. Wir brauchen mehr soziale Marktwirtschaft inder digitalen Ökonomie. Zweitens. Wir müssen Big Dataals Chance begreifen. Drittens. Wir brauchen den flä-chendeckenden Zugang zu schnellen Breitbandtechnolo-gien.Nur wer bereit ist, diese drei Herausforderungen posi-tiv zu begleiten und Entscheidungen zu treffen, hat eineChance, dass der Wohlstand, den wir wollen, digital mit-bestimmt ist und in Deutschland einkehrt, meine Damenund Herren.
Die soziale Marktwirtschaft in einer digitalen Welt zudefinieren, ist keine ganz leichte Herausforderung. DieDigitalisierung hat nämlich mächtige globalisierte Kon-zerne entstehen lassen, von denen übrigens keiner ausDeutschland, nicht einmal aus Europa kommt.
Die Treiber dieser Entwicklung sind vielleicht in Kali-fornien oder China zu finden. Manche sprechen auchschon davon, wir hätten es vielleicht eher mit Mono-polen als mit globalisierten Konzernen zu tun. Ich sagedeswegen auch sehr klar: Man darf die Erkenntnis da-rüber, dass es sich um große, einflussreiche, globalisierteKonzerne handelt, nicht überhöhen, aber klar ist, dass essich um eine handfeste Herausforderung für die Balancein unserer sozialen Marktwirtschaft handelt. Jeder, derheute erkennt, dass es einzelne Konzerne sind, die dieWeiterentwicklung des Digitalen vorantreiben, weiß,dass ein Stück Wettbewerb in diesen Systemen mögli-cherweise fehlt. Deswegen ist das für mich eine klareFrage der Ordnungspolitik. Wir haben die Aufgabe, denWettbewerb im Digitalen zu beleben. Wir haben dieAufgabe, den Wettbewerb zu organisieren, das Antimo-nopol zu stärken und selber digitales Leistungszentrumzu werden. Die soziale Marktwirtschaft stärker in dasDigitale hineinbringen und den Wettbewerb fördern, dasmuss Aufgabe dieser Bundesregierung sein.
Das gilt übrigens auch im Bereich der Sharing Eco-nomy. In Diskussionen – auch heute wieder nachlesbar –sprechen Ökonomen wie Jeremy Rifkin von einer Ablö-sung der marktwirtschaftlichen Gesellschaft durch eineÖkonomie des Teilens. Dazu sage ich: Diese Diagnosemag vielleicht stichhaltig sein, aber die Schlussfolge-rung, die daraus gezogen worden ist, ist falsch. DieTrendwende vom Eigentum zur Nutzung ist nicht derSargnagel der klassischen Marktwirtschaft, sondern sieist die Chance für neue Geschäftsmodelle, neue Märkte,mehr Wettbewerb und mehr Wertschöpfung. Das kannman im Besonderen im Bereich der Mobilität sehr genausehen. In einer aktuellen Studie von Roland Berger wirdim Bereich Shared Mobility ein Wachstum von jährlichbis zu 35 Prozent vorausgesagt. Deswegen ist klar: Auchin der Sharing Economy müssen Angebot und Nachfragezusammengebracht, Technologien und Mobilitätsange-bote bereitgestellt sowie Sicherheit gewährleistet wer-den. Deswegen ist Sharing Economy folglich nicht dasEnde der klassischen Marktwirtschaft, wie es beschrie-ben wird, nein, es ist eher der Beginn einer neuen sozia-len digitalen Marktwirtschaft. Die gilt es, gemeinsammit denen zu gestalten, die heute bereit sind, SharingEconomy zur Verfügung zu stellen.
Wir bekennen uns in der Digitalen Agenda sehr klarzur Förderung jungen Unternehmertums, zu neuen Ideenund zu einem Ausbau des Gründungsgeschehens. DieFinanzierungsbedingungen für Start-ups in der Wachs-tumsphase zu gestalten, ist eines der Aufgabenfelder, diees zu bearbeiten gilt, wenn man die neue soziale digitaleMarktwirtschaft fördern will. Denn die Monopole sindeine Herausforderung für die soziale Marktwirtschaft.Wir wollen eine wettbewerbliche Konkurrenzsituationauch für die nächsten und übernächsten Entwicklungenerhalten.Wir haben die Rahmenbedingungen des Wettbewerbsin der Digitalen Agenda eindeutig beschrieben. Wir wol-len, dass Big Data die neue Wertschöpfungskette nichtnur unterstützt, sondern auch als Grundlage zur Verfü-gung steht. Big Data ist der Rohstoff des 21. Jahrhun-derts. Die Digitalisierung ist die Veredelung dieses Roh-stoffes. Die digitale Mobilität und die Vernetzung stehenim unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wachstum anDaten, das über Mobilität generiert wird. Wer heute BigData als Angstkulisse beschreibt, wer heute Big Datazum Angstwort macht, der hat nicht verstanden, dass zu-künftig jedes Produkt 50 Prozent seines Wertes aus demDatenanteil, aus der Digitalisierung erhalten wird. Des-wegen müssen wir dafür sorgen, dass wir an der digita-len Wertschöpfung der Zukunft teilhaben. Wir dürfenuns nicht aus Angst davor der Ressource „digitale Da-ten“ verschließen.
Wir sind Vorreiter bei der Mobilität 4.0. Wir haben ei-nen Runden Tisch „Automatisiertes Fahren“ ins Lebengerufen. Die meisten Daten, die in den nächsten Jahrenerzeugt werden, werden in irgendeiner Art und Weisemit der Mobilität in Zusammenhang stehen. Wir planenein digitales Testfeld Autobahn. Wir wollen sowohl dietechnischen als auch die rechtlichen Rahmenbedingun-gen für automatisiertes Fahren mit entwickeln. Wir sinddabei, den Grundstein dafür zu legen, damit diese Daten-
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Bundesminister Alexander Dobrindt
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flut, dieser Datentsunami, der auf uns zukommt, auchverarbeitet und transportiert werden kann. Maschinenmüssen in die Lage versetzt werden, untereinander zukommunizieren, und zwar so, dass zu jedem Zeitpunktder schnellstmögliche Austausch von Daten stattfindenkann. Dazu brauchen wir überall in Deutschland mo-derne Breitbandtechnologien.McKinsey hat in einer Studie sehr deutlich unterstri-chen, dass die Datenströme auch ein wesentlicher Teilder zukünftigen Wohlstandsentwicklung sind. Es gibtdiesen engen Zusammenhang zwischen Infrastruktur,Mobilität und Wohlstand. Deswegen haben wir uns zumZiel gesetzt, bis 2018 in ganz Deutschland eine Versor-gung mit einer Datenrate von mindestens 50 Mbit zurVerfügung zu stellen. Da sind wir auf einem guten Weg.
Wir haben die Voraussetzungen dafür geschaffen,
dass bei der Frequenzvergabe im nächsten Jahr die nöti-gen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden,um den Breitbandausbau zu unterstützen.
Ich habe mit der Netzallianz Digitales Deutschland, inder die Unternehmen, die investitionswillig sind, zusam-mengeschlossen sind, in der letzten Woche eine Verein-barung getroffen, dass die privatwirtschaftlichen Unter-nehmen allein im nächsten Jahr 8 Milliarden Euro in dieHand nehmen werden, um den digitalen Ausbau inDeutschland zu fördern.
Das ist ein Gemeinschaftsprojekt zwischen Wirtschaftund Politik. Wir brauchen in jedem Ort – überall; nichtnur in den Metropolen, sondern in allen Regionen – dieschnellen Breitbandverbindungen.
Das wird mit einer großen Kraftanstrengung der Wirt-schaft und durch die Unterstützung der Politik mit dennötigen Fördermitteln gelingen. Wir sind auf jeden Fallvorbereitet, damit Deutschland den Sprung in die digi-tale Welt schafft.Danke schön.
Vielen Dank, Herr Minister. – Bevor wir mit der Aus-sprache fortfahren, darf ich Ihnen das von den Schrift-führerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis dernamentlichen Abstimmung zu dem vorangegangenenTagesordnungspunkt bekannt geben: abgegebene Stim-men 594. Mit Ja haben gestimmt 118, mit Nein habengestimmt 475, Enthaltungen 1. Der Entschließungs-antrag ist damit abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 594;davonja: 118nein: 475enthalten: 1JaDIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatDr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichPia ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi Lemke
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5510 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Dr. Tobias LindnerNicole MaischPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerNeinCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Hans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufReinhard GrindelUrsula Groden-KranichKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Christina SchwarzerJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert Stegemann
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5511
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Peter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Michael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Thomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseWaltraud Wolff
Gülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesEnthaltenCDU/CSUJosef Göppel
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5512 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Wir fahren jetzt in der Aussprache fort. Ich erteile dasWort der Kollegin Halina Wawzyniak von der Linken.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Die Bundesregierung hat also eine DigitaleAgenda vorgelegt, über die wir hier reden sollen.„Agenda“ bedeutet: Dinge, die zu tun sind. Da hat alsonun die Bundesregierung auf knapp 40 Seiten Dinge auf-geschrieben, die zu tun sind. – Wow, was für eine Leis-tung!
Die Grünen weisen in ihrem Antrag zu Recht daraufhin, dass wir in der vergangenen Legislaturperiode eineEnquete „Internet und digitale Gesellschaft“ hatten, dieüber 100 konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitethat. Jetzt muss man Sie natürlich fragen: Haben Sie sienicht gelesen, halten Sie sich für schlauer, oder warumschreiben Sie nun, nachdem die Enquete schon aufge-schrieben hat, was zu tun ist, noch einmal auf, was zutun ist? Das, was Sie vorgelegt haben, ist folgenlose An-kündigungspolitik.
Ich hätte jetzt erwartet, dass Sie sich die Handlungs-empfehlungen der Enquete einfach mal anschauen undeinen Fahrplan vorlegen, was Sie wann wo umsetzenwollen, also nicht Dinge aufschreiben, die zu tun sind,sondern einfach tun.
Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhun-derts, die mit den Veränderungen der Produktionspro-zesse und der Gesellschaft durch die Digitalisierung ein-hergehen, geben Sie mit dieser Digitalen Agenda nicht.Ich mache das jetzt einfach mal konkret. Kaum eineWoche vergeht, in der nicht ein neuer Überwachungs-skandal bekannt wird. Es ist richtig, sich mit dem Schutzder Privatsphäre der Internetnutzerinnen und -nutzerauseinanderzusetzen. Gut ist, dass Sie laut der DigitalenAgenda „einfach zu nutzende Verschlüsselungsverfahren… fördern“ und die „Wirtschaft … stärker in die Verant-wortung“ nehmen wollen. Aber: Wann kommt die ge-setzliche Verpflichtung zur Ende-zu-Ende-Verschlüsse-lung? Wann formulieren Sie konkret und legengesetzlich fest, dass auf die anlasslose Vorratsdatenspei-cherung, die Onlinedurchsuchung, die nichtindividuali-sierte Funkzellenabfrage und die Quellen-TKÜ verzich-tet wird?
Und wann streichen Sie den nicht zu kontrollierendenGeheimdiensten die Befugnisse nach dem G-10-Gesetz?Die Formulierungen in der Digitalen Agenda zum Ur-heberrecht sind so schwammig und allgemein – die hät-ten Sie auch gleich weglassen können.
Wenn Sie in dem Bereich wirklich etwas Sinnvolles tunwollen, dann legen Sie schnellstmöglich ein Aufhe-bungsgesetz zum Leistungsschutzrecht für Presseverle-ger vor.
Sie wollen das Problem der Störerhaftung angehen.Das machen Sie nur halb; denn Sie wollen die Betreibervon WLAN-Netzen im öffentlichen Bereich, und dortauch nur gewerbliche Betreiber, künftig nicht mehr fürdie Rechtsverletzungen ihrer Kunden haften lassen. Sielösen das Problem nur halb, denn für Private soll die Re-gelung nicht gelten. Das ist unverständlich. Und auchhier: keine Aussage, wann ein solcher Vorschlag vorge-legt werden soll.Außerdem wollen Sie die Netzneutralität gesetzlichfestschreiben. Das ist gut; die Forderung erheben wirschon lange. Gut ist, dass Sie sie übernehmen. Schlechtist, dass Sie an diesem Punkt offenbar machen, wie ernstSie selbst Ihre eigene Digitale Agenda nehmen. Kürzlichveröffentlichte die von Ihnen initiierte Netzallianz einKursbuch für den weiteren Ausbau des Breitbandinter-nets. Ich zitiere daraus:Die Netzallianz weist zudem darauf hin, dass dieEntwicklungsfähigkeit der Geschäftsmodelle nach-haltig gesichert werden muss, um weitere Investi-tionen in den Netzausbau zu ermöglichen. Hierbeikann die Einführung von Qualitätsmerkmalen beider Datenübertragung einen zusätzlichen Beitragfür die Refinanzierbarkeit von Netzen und damitauch deren Ausbau im ländlichen Raum leisten.Sie nennen Qualitätsklassen einfach „Qualitätsmerk-male“ und hoffen, dass keiner mitkriegt, dass Sie dieNetzneutralität opfern wollen, um den Breitbandausbauzu finanzieren. Das ist mit uns jedenfalls nicht zu ma-chen.
Ein letzter Punkt. Sie sprechen das Thema Arbeit, ge-nauer: Erwerbsarbeit, zwar an, aber weder haben SieAntworten, noch haben Sie irgendeinen Fahrplan, wiedas Thema bearbeitet werden soll. Wann gibt es von Ih-nen in Auftrag gegebene Studien dazu, welche Folgendie Digitalisierung der Gesellschaft für Erwerbsarbeits-plätze hat und welche Auswirkungen dies auf die Soli-darsysteme hat? Das ist das Mindeste, was man von ei-ner Regierung erwarten kann.Kurz und gut – ich komme zum Schluss –: Die Digi-tale Agenda ist nur Papier. Gemessen werden Sie an denTaten. Ich hoffe sehr, dass dann mehr herauskommt alsdas, was in dieser Agenda steht. Notwendig wäre es, unddas schon viel zu lange.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5513
Halina Wawzyniak
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Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Sören Bartol.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Wawzyniak, wir können diese Debatte somiesepetrig wie Sie führen, wir können an allem einbisschen rummäkeln, wir können mit hängenden Schul-tern den Bedenkenträgern und Kritikern das Wort reden,oder aber wir können hier miteinander um die bestenIdeen ringen und uns vor allen Dingen an die Umsetzungmachen.
Die Menschen erwarten von uns im Bundestag, dasswir die Dinge nicht einfach laufen lassen. Entsprechendhat diese Bundesregierung die Digitale Agenda auf denWeg gebracht. Diese Koalition hat einen Ausschuss Di-gitale Agenda etabliert. Das ist der Unterschied: Wirhandeln, und Sie lamentieren immer nur.
Wer mit seinen Nachbarn über den Alltag spricht,wird feststellen, dass die Digitalisierung längst das Le-ben bestimmt. Es wird gesurft, gestreamt, gechattet, ge-mailt, alternativ auch gerne getwittert oder gebloggt.
Für viele steht die digitale Kommunikation für ein mo-dernes Lebensgefühl. Gleichzeitig treffe ich aber auchandere, die skeptisch sind, die die digitale Welt ableh-nen. Sie fühlen sich überfordert, beobachtet, ausge-forscht und manipuliert. Das Smartphone steht für sie fürpermanente Verfügbarkeit und Kontrolle. Alle sind sichjedoch einig: Der Megatrend der Digitalisierung ist of-fensichtlich nicht mehr aufzuhalten.Der Beschluss der Digitalen Agenda am 20. Augustdurch die Bundesregierung zeigt: SPD, CDU und CSUwollen die Digitalisierung aktiv gestalten. Die Netzpoli-tik ist inzwischen moderne Gesellschaftspolitik. Wir er-leben den größten Umbau unserer Gesellschaft seit derindustriellen Revolution.Damals wie heute stellen sich die gleichen Fragen:Wie entstehen neue, innovative Ideen für neue Produkte?Wie entwickelt sich das Verhältnis von Leben und Ar-beit? Wie sichern wir gute Ausbildung und Aufstiegs-chancen für alle? Wie erreichen wir eine gute Infrastruk-tur und eine schnelle Kommunikation? Und wie schaffenwir für die Bürgerinnen und Bürger die notwendige Si-cherheit der eigenen Person?Die Digitalisierung ist eine große Chance fürDeutschland. Wir brauchen deswegen keine Angstde-batte der verschränkten Arme. Die Digitalisierung kanndazu beitragen, dass Familie und Beruf sich besser mit-einander vereinbaren lassen. So hilft zum Beispiel dasInternet dabei, dass immer mehr Leute von zu Hause ausarbeiten können und zum Arbeiten nicht unbedingt an ei-nen anderen Ort wechseln müssen. Die Digitalisierungkann dafür sorgen, dass harte körperliche Arbeit erleich-tert wird, und sie kann mithelfen, dass die Industrie undder Mittelstand in Deutschland in einer globalen Wirt-schaft weiterhin erfolgreich mitspielen können.Das Internet muss dabei ein Freiraum für alle bleiben.Es darf keine Nutzer erster und zweiter Klasse geben.Wir werden daher auch darauf achten, dass wir die Netz-neutralität gesetzlich festschreiben. Dabei werden wirein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Absicherungeines freien und offenen Netzes für alle und der Förde-rung von Innovation und Investition erreichen. Gleich-zeitig brauchen die Betreiber von WLAN-NetzenRechtssicherheit. Dabei sollten wir nicht nur für die ge-werbliche, sondern auch für private Anbieter wie Schu-len oder Wohngemeinschaften eine gute Lösung finden.
Digitalisierung heißt Innovation. Sie schafft Wachs-tum und Beschäftigung. Dafür müssen wir einen neuenGründergeist in Deutschland wecken und junge Unter-nehmen mit dem notwendigen Kapital ausstatten.Die Digitalisierung wird die Industrie und den Mittel-stand in Deutschland verändern. Die Arbeitsplätze wer-den komplexer und anspruchsvoller. Digitale Technolo-gien werden immer weiter Einzug halten. Gute Bildungund Ausbildung sind daher die Triebfeder einer erfolg-reichen Digitalisierung Deutschlands. Hier sind in derSchulpolitik insbesondere die Länder gefragt. Sie solltenden Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister Gabrielaufgreifen: Das Erlernen einer Programmiersprachemuss neben dem Erlernen der klassischen Fremdspra-chen zu einem Pflichtfach in der Schule werden.
Alle klugen Ideen der Digitalisierung unserer Gesell-schaft werden wir allerdings nicht umsetzen können,wenn wir am Ende auf der Datenautobahn im Stau ste-cken bleiben. Unser Ziel ist deshalb ein schnelles Inter-net für alle. Wir müssen die digitale Spaltung zwischenStadt und Land beenden. Bis 2018 werden wir in ganzDeutschland flächendeckend Internet mit Geschwindig-keiten von mindestens 50 Megabit pro Sekunde aus-bauen. Dafür wollen wir zusätzliche private wie auch
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5514 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Sören Bartol
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öffentliche Investitionen für den Breitbandausbau mobi-lisieren.Seit den Enthüllungen von Snowden ist endgültigklar: Freiheit und Wohlstand in einer digitalen Weltfunktionieren nicht ohne den Schutz vor der Ausspähungprivater Daten durch ausländische Geheimdienste odervor Missbrauch durch Konzerne.
– Besser lesen.Genauso müssen wir unsere Unternehmen vor zuneh-mender Wirtschaftsspionage schützen. Hier wird, denkeich, das IT-Sicherheitsgesetz des BundesinnenministersLösungen bringen. Ich erwarte von der Bundesregie-rung, dass sie sich auch bei den Verhandlungen über dieEU-Datenschutz-Grundverordnung für ein hohes Sicher-heitsniveau für private Nutzerinnen und Nutzer einsetzt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitale Agendader Bundesregierung ist ein Maßnahmenplan für diekommenden Jahre. Dieser Plan wird jetzt vom ParlamentSchritt für Schritt abgearbeitet.
Es liegt in unseren Händen, ob wir dabei ängstlich nurdie Risiken der Digitalisierung betonen oder ob wir siegemeinsam optimistisch als Chance begreifen. Ich ladealle Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, aber auchalle in der Zivilgesellschaft, in den Unternehmen und inden Verbänden ein, diese Debatte positiv und vor allenDingen mit Zuversicht zu begleiten. Ich glaube, dannwird uns als Deutschem Bundestag am Ende etwas Gu-tes und Positives gelingen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Konstantin vonNotz, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Warum reden wir hier heute überhaupt über diesen kurz-fristig auf die Tagesordnung gesetzten Bericht der Bun-desregierung zur Digitalen Agenda, und warum beäugensich gleich mehrere Minister kritisch und misstrauischauf der Regierungsbank? Richtig, es ist wieder IT-Gip-felzeit.Sehnsüchtig warten die Menschen, aber auch dieWirtschaft in diesem Land auf einen digitalen Aufbruch,und die Erwartungen waren hoch. Vor dem Hintergrund,dass wir hier, in diesem Hohen Haus, seit Jahren dieseThemen diskutieren, und angesichts des Niveaus der400 Handlungsempfehlungen der Enquete, von denenSie keine einzige umsetzen, ist das, was Sie hier heuteabzufeiern versuchen, hochnotpeinlich.
Ihre Agenda bleibt sogar weit hinter Ihrem eigenenKoalitionsvertrag zurück, Thomas Jarzombek, sie ver-harrt im Nebulösen: Irgendetwas Konkretes? Fehlan-zeige. Finanzierung der wohlklingenden Absichtserklä-rungen? Fehlanzeige. Versprochene Beteiligung vonParlament, Ausschuss Digitale Agenda und Zivilgesell-schaft? Fehlanzeige.
Stattdessen spielen Sie, Herr Dobrindt, hier weiter Buzz-word-Bingo. Sie wollen zeigen, dass Sie nicht mehr imNeuland unterwegs sind; aber Sie scheitern.
Nur drei Beispiele dafür:Erstens. Sie, Herr Gabriel, wollen Deutschland zumdigitalen Wirtschaftsland Nummer eins machen. Dasklingt ja großartig; aber Sie kriegen es noch nicht einmalhin, Rechtssicherheit für WLAN-Betreiber herzustellen.
Gleichzeitig bedroht Ihr Kleinanlegerschutzgesetz dieCrowdfunding- und Start-up-Szene in Deutschland mas-siv. So wird das nichts.Zweitens. Herr de Maizière will Deutschland zumVerschlüsselungsland Nummer eins machen, aber er willweiterhin keine durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüs-selung. Er will IT-Sicherheit stärken, hält aber an derVorratsdatenspeicherung und dem Bundestrojaner fest.Das ist widersprüchlich. Das ist kontraproduktiv.
Drittens. Herr Dobrindt, Sie wollen den Breit-bandausbau nun endlich voranbringen – sehr originell –,Sie wollen ihn aber nicht finanzieren. Die digitale Spal-tung zwischen Stadt und Land wird von Jahr zu Jahrschlimmer, gerade bei Ihnen, in Nordbayern. Aber Sielegen hier nur unfinanzierte Zielmarken vor, die in dernächsten Wahlperiode, im Jahr 2018, liegen. Das ist lä-cherlich.
Das sind Offenbarungseide in Ihren Zuständigkeitsbe-reichen. Das geht so nicht, meine Herren Minister. Das
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5515
Dr. Konstantin von Notz
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ist kein Aufbruch. Das ist Stillstand. Diese Unzuläng-lichkeiten sind Ihnen ja total bewusst. Deswegen spre-chen Sie, wie der Kollege Bartol gerade, von einemMaßnahmenplan oder einem Hausaufgabenheft. Wenndas ein Hausaufgabenheft ist, dann ist das ein schludri-ges, unergiebiges und schlecht geführtes.
Fakt ist doch: Niemand ist mit Ihrer Digitalen Agendazufrieden. Alle sind enttäuscht: von den netzpolitischenSprechern ihrer eigenen Fraktionen
über die Verbraucherschutzverbände bis hin zur Wirt-schaft.
Sie können dreierlei nicht verdecken:Sie wissen erstens immer noch nicht, was die Digitali-sierung für unsere Gesellschaft eigentlich bedeutet,
und vor allen Dingen wissen Sie nicht, wie man diesenUmbruchprozess als Gesetzgeber gestaltet.Zweitens. Sie haben die Kompetenzstreitigkeiten undKonkurrenzen zwischen Ihren Ministerien nicht ent-schärft; Sie haben sie verschärft. Viele Köche verderbeneben den Brei, auch in der Netzpolitik. Die Krönung ist,dass Sie hier heute die Zuständigkeit des AusschussesDigitale Agenda streitig stellen. Das ist wirklich eineFarce. Unfassbar!
Drittens. Anderthalb Jahre nach den Enthüllungenvon Edward Snowden steht dazu kein Wort in Ihrer Digi-talen Agenda, kein Wort über die Bürgerrechte und denDatenschutz in der digitalen Welt. Wer soll Sie damiternst nehmen? Das ist im Jahr 2014 zu wenig. Das istviel zu wenig für die viertgrößte Wirtschaftsnation derWelt, für einen zentralen gesellschaftlichen Politikbe-reich und für den Grundrechtsschutz in der digitalenWelt. Das ist keine Angstdebatte, sondern das ist dieRealität. Edward Snowden ist die Realität. Wer dieseVertrauenskrise der Menschen ignoriert, ist im digitalenPhantasialand unterwegs, Herr Gabriel.
Wenn Sie mal etwas mit Substanz im digitalen Be-reich, in der Netzpolitik lesen wollen, empfehle ich Ih-nen die Regierungserklärung von Winfried Kretschmannaus dieser Woche. Er hat die Dimension der digitalenRevolution verstanden.
Sie liefern hier ein extrem dünnes Brett ab. Ich sage Ih-nen: Diese Bundesregierung geht für die billigen Punkte.Vizekanzler Gabriel forderte eine Woche vor der Euro-pawahl die Zerschlagung von Google. Na, das ist maleine originelle Nummer.
Nach der Europawahl treffen Sie sich auf Augenhöhemit den Google-Managern zu PR-trächtigen Diskus-sionsabenden. Na, vielen Dank!Regulierung, Gesetzgebung, Verbraucherschutz, nachJahren und Jahrzehnten endlich ein angemessener Da-tenschutz, die Aufkündigung von Safe Harbor – allesFehlanzeige. Diese Große Koalition ist digital so klein.Ganz herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Jarzombek,
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eineganze Reihe von uns waren dabei, als vor einigen Mona-ten der Historiker Professor Osterhammel einen Vortragdarüber gehalten hat, welche Veränderungen vor250 Jahren stattgefunden haben. Damals waren Chinaund Indien in der Textilindustrie weltweit führend, undEuropa war hoffnungslos hintendran. Dann kamen ei-nige ganz zentrale Innovationen. Es waren Innovationenin den Prozessen, die Erfindung der Dampfmaschine unddas Kolonialisierungssystem. Diese haben dazu geführt,dass in einem für damalige Verhältnisse disruptivenWandel die so glorreichen Textilindustrien in China undIndien am Ende vollständig zerstört wurden und Europaeine Führungsrolle eingenommen hat.Ich erzähle Ihnen das deshalb, weil sich das, was vor250 Jahren passiert ist, heute wiederholt. Die Frage ist,wo wir als Deutschland und als Europa dabei sind. DerEconomist hat gerade eine Studie publiziert, der zufolge47 Prozent unserer Arbeitsplätze in den nächsten 20 Jah-ren durch den digitalen Wandel massiv umgewälzt wer-den. Darauf müssen wir reagieren. Da kann man Angstbekommen. Kollegen haben mir gesagt: Ihr müsst denUnternehmen die Angst nehmen. – Aber wir werden de-nen die Angst nicht nehmen können. Angst ist nichtsSchlechtes, Angst ist gut. Denn Angst ist ein Treiber fürVeränderungen. Wer sich nicht bewegt, den wird es inzehn Jahren nicht mehr geben. Wer heute in einem In-dustrieunternehmen ist und den digitalen Wandel nichtaktiv gestaltet, sondern meint, er könne das einfach aus-sitzen, den wird es in zehn Jahren nicht mehr geben. Das
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5516 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Thomas Jarzombek
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ist die zentrale Aussage, die wir immer und immer wie-der kommunizieren müssen.
Deshalb bin ich der Bundeskanzlerin sehr dankbar,dass sie dieses Thema seit Monaten immer wieder pro-minent in den Raum stellt, dass sie immer wieder sagt:Der digitale Wandel ist die zentrale Herausforderung. –Heute Morgen hat sie gesagt, dass diese Debatte außer-ordentlich wichtig ist und dass das ein ganz zentralesHandlungsfeld ist. – Ich würde mir wünschen bzw. ichverbinde damit die Hoffnung, dass auch der Bundeswirt-schaftsminister dieses Thema noch stärker nach vornetreiben wird. Ich freue mich, Herr Gabriel, dass Sie indieser Debatte anwesend sind. Das ist ein gutes und star-kes Signal.Ich war am Dienstag dabei, als Sie mit Eric Schmidtgeredet haben
und es auch darum ging, dass vor 15 Jahren – ich glaube,das ist ein sehr gutes und richtiges Argument – unsereIndustrie schlechtgeredet wurde, dass man sagte, dashabe keine Zukunft mehr, und dass es allen Unkenrufenzum Trotz richtig war, an der Industrie festzuhalten.Aber man darf der Industrie jetzt nicht signalisieren:Auch in den nächsten 15 Jahren wird es einfach so wei-tergehen, ihr braucht euch nicht zu wandeln. – Das hielteich für gefährlich. Deshalb wünsche ich mir, dass wir derIndustrie ganz klar sagen: Ihr müsst loslaufen.Wir müssen, wenn es Kritik an Google gibt – die ja ineiner ganzen Reihe von Fällen auch berechtigt ist; dasThema Kartellrecht zum Beispiel verfolgt die Europäi-sche Union genau –, höllisch aufpassen, dass aus Kritikan Google keine Kritik, keine Verweigerung des digita-len Wandels wird. Damit würden wir nur einem schaden:uns selbst.Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben zu Rechtüber die Factory gesprochen – das ist eine tolle Einrich-tung hier in Berlin, ein Leuchtturm der Gründungsinten-sität –, Sie haben zu Recht darüber gesprochen, dass jetztauch die Wirtschaft dran ist: dass die DAX-Unterneh-men in Start-ups investieren müssen. Aber wir dürfennicht nur darüber reden, wir brauchen jetzt auch einekonkrete Agenda dafür, wie das passieren soll. Wir müs-sen auch darüber nachdenken: Wie groß sollte der Anteildes Staates sein – wie auch der Unternehmen –, zu dembei Start-ups eingekauft wird? In Frankreich diskutiertman über eine Quote: dass der Staat mindestens 2 Pro-zent seiner Einkaufsleistungen bei Start-ups bezieht. Dasist vielleicht sehr statisch; aber ich glaube, es ist sehrwichtig, dass wir hier konkret werden.Und ich würde mir wünschen, dass wir die Gründerauch stärker ins Schaufenster stellen. Herr Gabriel, Siehaben Eric Schmidt eingeladen in Ihre Veranstaltung„Wirtschaft für morgen“. Ich finde, es ist eine exzellenteIdee, eine Veranstaltungsreihe „Wirtschaft für morgen“durchzuführen. Aber wenn Sie über digitale Wirtschaftsprechen, warum laden Sie als Ersten Eric Schmidt ein?Warum laden Sie nicht Malte Siewert, Kolja Hebenstreitoder Ijad Madisch ein?
Um einmal drei Gründer zu nennen, die von Deutsch-land aus globale Unternehmen aufgebaut haben, vonDüsseldorf und Berlin aus.Ich glaube, in diesem Zusammenhang – Sie habeneine Initiative genannt: die Factory – ist auch wichtig,was Simon Schäfer, ein guter Netzwerker in dem Be-reich, sagt: Wir brauchen in der Europäischen Unionnicht nur eine Definition, was kleine und mittelständi-sche Unternehmen sind, wir brauchen auch eine Defini-tion, was Start-ups sind. Wir müssen denjenigen, die hierinnovative Firmen aufbauen, Erleichterungen geben, ins-besondere was die Bürokratie betrifft.Ein ganz wichtiges Thema ist auch: Wie ist eigentlichunsere Kultur im Umgang mit den Veränderungen, dieda kommen? Da komme ich auf das Thema Datenschutzzu sprechen. Ich glaube, dass Datenschutz eine zentraleHerausforderung ist für die Gründung neuer Unterneh-men, aber auch für die Wettbewerbsfähigkeit unserer be-stehenden.Ich nenne Ihnen mal ein ganz konkretes Beispiel: MitGoogle war bei der „Wirtschaft für morgen“ zuletzt einUnternehmen zu Gast, das an vielen Technologien fürdas selbstfahrende Auto arbeitet. Sie wissen, welche Be-deutung die Automobilwirtschaft für Deutschland hat.Sie wissen auch, dass in zehn Jahren das selbstfahrendeAuto das zentrale Wettbewerbsmittel sein wird. Jetztnehmen die meisten Szenarien an, dass dieses selbstfah-rende Auto in zehn Jahren noch nicht wird fahren kön-nen, sondern dass der Fahrer an bestimmten Stellen wirdübernehmen müssen. Dann muss das Auto aber wissen:Was macht denn der Fahrer? Ist der Fahrer aktiv undwachsam,
oder schaut er aus dem Fenster, liest ein Buch oderschläft sogar? Das lässt sich bei den bisherigen Fahrzeu-gen einfach herausfinden, weil der Fahrer ja lenkt undschaltet und bremst – beim selbstfahrenden Auto tut ernichts mehr davon; also brauchen Sie eine Kamera imAuto, mit der das Auto feststellt: Ist der Fahrer eigent-lich wach oder schläft er?Mit der Diskussion, die wir über Datenschutz führen,schüren wir ein Klima der Angst. Wenn eine obersteBundesbehörde als Werbemittel kleine Aufkleber ver-teilt, die man auf seine Handykamera kleben soll, sindwir, glaube ich, momentan nicht die Treiber des richti-gen kulturellen Wandels, sondern haben hier eher einProblem.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5517
Thomas Jarzombek
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Deshalb ist es mir persönlich, ist es uns als Union sehrwichtig, dass wir mit der europäischen Datenschutz-Grundverordnung einen Rahmen schaffen, der nicht nurdie berechtigten Datenschutzinteressen der Bürger be-rücksichtigt, sondern auch die Innovationsfähigkeit un-serer Wirtschaft nicht einengt; das ist wichtig.
Der Kollege von Notz hat sich sehr darüber be-schwert, dass die Digitalpolitik in diesem Hause nichtdas nötige Gewicht hätte.
– Lieber Konstantin, ich stimme dir bei einigen Thesenzu – bei dieser liegst du falsch. Schauen wir einmal zu-rück, wie wir vor fünf Jahren dagestanden haben: Da-mals hat sich gerade einmal ein Unterausschuss des Kul-turausschusses mit Digitalpolitik befasst. Wir hatten dieEnquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-schaft“. Wir haben es geschafft, einen vollwertigen Aus-schuss dazu einzurichten. Die Bundeskanzlerin hat denSchwerpunkt ihrer Haushaltsrede auf das Thema Digital-politik gelegt. Und: Wir bewerben uns mit GüntherOettinger für den Posten des Digitalkommissars in derEuropäischen Union.
– Frau Kollegin, wenn Sie das nicht begriffen haben,müssen Sie nachsitzen.
Die Bundeskanzlerin hat uns klar gesagt: Gerade fürdie Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft istdieses Ressort für digitale Wirtschaft in der Europäi-schen Kommission das entscheidende.
Wenn Sie glauben, dass es besser wäre, die Digitalpolitikin Europa von irgendwelchen Briten, Spaniern odersonst wem machen zu lassen, dann haben Sie bei diesemThema noch einiges aufzuholen.
Ich finde es gut, dass es die Digitale Agenda gibt. Ichglaube, das ist der Schritt in die richtige Richtung. Wirwerden noch sehr viel zu arbeiten haben. Wir werdennoch sehr viele Innovationen sehen, und wir werdendiese gemeinsam gestalten.Vielen Dank.
Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der
Kollege Herbert Behrens.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Blühende Landschaften in der digitalen Welt von mor-gen, schneller Internetzugang, Telemedizin, Automati-sierung der Produktion und kreative Start-ups,
Deutschland in der Führungsrolle: Mit diesen Verspre-chen, mit viel Pathos vorgetragen, versucht die Bundes-regierung, uns ihre Digitale Agenda zu verkaufen. Einewirkliche Agenda sieht anders aus; das hat meine Kolle-gin Wawzyniak bereits dargestellt.
Die Digitalisierung wird das Leben der Menschenstark verändern; das ist inzwischen ein Allgemeinplatz.Genau aus diesem Grunde gibt es heute schon vieleMenschen, die sich an der Gestaltung der digitalen Ge-sellschaft aktiv beteiligen und sich damit beschäftigen.Diese waren aber bei der Formulierung der DigitalenAgenda überhaupt nicht gefragt. Stattdessen haben dreiMinisterien über Monate zusammengesessen, um auf40 Seiten zusammenzuschreiben, was in einer GroßenKoalition möglich ist. „Eine bürokratische Kopfgeburt“,wie es in einem Kommentar hieß; dem stimme ich zu.
Im internationalen Vergleich befindet sich Deutsch-land bei der Versorgung mit schnellem Internetzugangim Hintertreffen. Aktuell haben weniger als 4 Prozent ei-nen schnellen Glasfaseranschluss. Dieser ist aber nötig,um in der Zukunft nicht bei geringen Bandbreiten hän-genzubleiben. 50 Megabit sollen es bis 2018 flächende-ckend sein. Das sind aber Downloadgeschwindigkeiten.Das heißt, Videos online ansehen und jede andere Artvon privatem Konsum können wir damit gut machen.Aber Sie sprechen in Ihrer Digitalen Agenda selbst voneiner netzbasierten, maßgeschneiderten Produktion, voneiner Industrie 4.0. Dafür brauchen wir aber mehr Band-breite, viel mehr Brandbreite.
Diese Bandbreite werden Sie mit Ihrem Energiemix ausoptimierten Kupferkabeln und neuen Funkfrequenzenfür mobiles Internet stabil nicht erreichen. Eine Netz-infrastruktur von morgen braucht ein Glasfasernetz.Finnland macht es vor: Bis 2015 sollen alle Finnen ei-nen Zugang zu einem Anschluss mit 100 Megabit haben.Weitere Breitbandvorbilder sind die anderen skandinavi-schen Länder, die EU-Länder Osteuropas, aber auchSüdkorea. Diese Länder nehmen aber auch das notwen-dige Geld in die Hand, oder sie gehen innovative Wege,indem Kommunen und Genossenschaften eigene Glasfa-sernetze betreiben. Die Bundesregierung dagegen setztauf das alte neoliberale Konzept, den Privatinvestorenund Telekommunikationsunternehmen den Breitbandaus-bau schmackhaft zu machen. Ich sage noch einmal: DieBreitbandversorgung ist eine öffentliche Infrastruktur-aufgabe.
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5518 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Herbert Behrens
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Wer auf „marktgetriebenen Ausbau“ setzt – so stehtes in Ihrem Papier –, wer Rahmenbedingungen durch„optimale Anreize für den Ausbau durch den Markt“schaffen will, der hat sich bereits heute von seinem Zielverabschiedet, einen schnellen Internetzugang für alle zuermöglichen.Was sind denn das für „optimale Anreize“? Sollen dieTelekommunikationsunternehmen also doch Spezial-dienste mit höherer Qualität zu höheren Preisen anbietendürfen? Das ist das Aus für Netzneutralität. Dazu kön-nen sich auch einmal die Minister äußern.
Keine Ihrer Finanzierungsideen ist seriös. Eine Pre-miumförderung Netzausbau bieten Sie an; Größenord-nung: Fragezeichen. Das digitale Antennenfernsehensoll zwei Jahre früher umgestellt werden und die freiwerdenden Frequenzen für mobiles Internet genutzt wer-den; Ertrag: ungewiss.Der Zeitplan ist heute schon Makulatur. Sicher sindallerdings die Kosten für die Bürger, die vorzeitig ihrealten Receiver durch neue ersetzen müssen. Sicher sindauch erhebliche Kosten für Kultureinrichtungen und bei-spielsweise auch für Hochschulen sowie für Leute, diefür ihre Arbeit Drahtlosmikrofone brauchen.
Nachdem ihnen bereits 2010 die 800er-Frequenzen ab-handengekommen sind, steht nun der Verlust der 700er-Frequenzen bevor.Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,wenn die digitale Infrastruktur nichts taugt, dann könnenwir uns alle Zukunftspläne abschminken – Sie auch. DieLinke fordert deshalb öffentliche Investitionen statt Pri-vatisierung. Das ist solide und innovativ, das ist Politikfür eine digitale Gesellschaft.Vielen Dank.
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Lars Klingbeil.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Die Große Koalitionhat in ihrem Koalitionsvertrag schon in der Präambel aufdas Thema der Digitalisierung und die riesige Herausfor-derung hingewiesen. Dort sind die drei großen Heraus-forderungen der Zukunft beschrieben: der demografi-sche Wandel, die Frage der Energiewende und dieDigitalisierung unserer Gesellschaft. Schon früh wurdehier also festgelegt, dass es eine der großen Aufgabenist, um die sich diese Koalition kümmern will.Wir alle wissen, dass die Digitalisierung einen enor-men Wandel für unsere Gesellschaft bedeutet und allegesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Wir reden überandere Bildungspolitik, über andere Verkehrspolitik,über Wirtschaftspolitik, über Arbeitsmarktpolitik. Allediese Bereiche verändern sich durch die Digitalisierung.Es geht dabei nicht um die Frage, ob die Digitalisie-rung schlecht oder gut ist, sondern es geht um die Frage,wie wir sie politisch gestalten. Das ist die große Auf-gabe. Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie mitder Digitalen Agenda einen Entwurf vorgelegt hat, wasin den nächsten drei Jahren passieren wird, welche Auf-gaben wir gemeinsam angehen wollen. Als Parlamentwerden wir natürlich an vielen Stellen schauen, wie wirbei der Umsetzung dieser Digitalen Agenda behilflichsein können, wie wir vielleicht den einen oder anderenAspekt noch in die Diskussion einbringen. Aber es istein guter Start, den wir in diesem Themenfeld machen.
Ich will einmal auf das eingehen, was ich hier von derOpposition erlebe: Das ist Meckern am laufenden Band.
Ich wünsche mir ja eine Opposition, die stark ist undden Finger immer wieder in die richtige Wunde legt,aber ich will einmal historisch aufarbeiten,
was in den letzten Wochen im Bereich der Digitalisie-rungspolitik passiert ist.
Da wurde uns nicht zugetraut, dass wir mit der Gro-ßen Koalition im Koalitionsvertrag das Thema veran-kern. Da wurde gemeckert. Dann wurde gesehen: Da istaber vieles in diesen Koalitionsvertrag hineingekom-men.
Dann hieß es, wir bekämen in diesem Bundestag keinenAusschuss hin. Dann haben wir gesehen: Der Ausschusskommt. Dann wurde gemeckert, dass dieser Ausschusskeine Federführung bekommen wird. Dann hat der Aus-schuss die Federführung bekommen.
Dann wurde gemeckert, dass die Digitale Agenda derBundesregierung nicht kommt. Auch die liegt heute vorund wird diskutiert. Ich würde gern einmal über Inhaltediskutieren. Das, was ich erlebe, ist aber Meckern am
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Lars Klingbeil
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laufenden Band. Das reicht nicht, liebe Kollegen von derOpposition.
Herr Kollege Klingbeil, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Rößner?
Sehr gern.
Vielen Dank. – Kollege Klingbeil, Sie haben ihn an-
gesprochen, der Kollege Jarzombek eben auch, den
Ausschuss Digitale Agenda, der eingerichtet wurde. Ich
verstehe nicht ganz – vielleicht können Sie mir das er-
klären –, dass der Ausschuss Digitale Agenda nicht fe-
derführend für unseren Antrag zur Digitalen Agenda zu-
ständig ist, sondern jetzt der Wirtschaftsausschuss
federführend sein soll. Das verstehe ich nicht. Vielleicht
können Sie mir das erklären, wenn Sie immer diesen
Ausschuss als so besonders herausstellen.
Das Entscheidende, liebe Kollegin, ist, dass der Aus-
schuss Digitale Agenda federführend für die Digitale
Agenda zuständig sein wird,
dass wir uns in dem Ausschuss mit der Digitalen
Agenda, mit dem Maßnahmenpaket der Bundesregie-
rung, auseinandersetzen werden, dass wir all diese The-
men jetzt im Ausschuss behandeln und dass wir sowohl
das Controlling als auch die Frage der Zeitplanung in
diesem Ausschuss behandeln können.
Das ist das Entscheidende in der Diskussion heute. Das
ist auch fest so verankert.
Lieber Konstantin von Notz, was ich zum Meckern
noch sagen will: Wenn dann hier der Bundeswirtschafts-
minister dafür kritisiert wird, dass er sich mit Google an-
legt
und die Frage von neuen Monopol- und Machtstrukturen
im Internet thematisiert,
und diese Kritik von den Grünen kommt, dann wundert
mich das an dieser Stelle schon sehr. Ich hätte dabei Un-
terstützung erwartet. Von uns hat er sie jedenfalls.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte vier
Punkte nennen, die für uns Sozialdemokraten in der Dis-
kussion und in der Digitalen Agenda sehr wichtig sind.
Der erste Punkt ist heute schon oft angesprochen wor-
den, nämlich der Breitbandausbau. Das ist die Grundlage
für alle Maßnahmen, die wir diskutieren und die in der
Digitalen Agenda vorgesehen sind. Wir müssen verhin-
dern, dass es in Deutschland zu einer digitalen Spaltung
kommt. Minister Dobrindt hat vorhin eindrucksvoll be-
schrieben, welche Maßnahmen er vorhat. Ich betone aus-
drücklich: Der Weg der Netzallianz ist der richtige.
Diese Große Koalition wird sich am Erfolg des Breit-
bandausbaus messen lassen müssen. Ich komme aus der
Lüneburger Heide. Dort gibt es noch genügend Flecken,
die nicht mit ausreichend schnellem Internet versorgt
sind.
Wir müssen für eine Gleichwertigkeit der Lebensver-
hältnisse sorgen. Das ist unsere Aufgabe. Ich würde
mich freuen, wenn dies das ganze Haus gemeinsam an-
packt.
Herr Kollege Klingbeil, gestatten Sie eine weitere
Zwischenfrage der Kollegin Wawzyniak?
Sehr gerne.
Herr Kollege Klingbeil, Sie haben gerade gesagt, der
Weg der Netzallianz zum Breitbandausbau ist der rich-
tige. Entnehme ich daraus, dass Sie den Vorschlag der
Netzallianz, aus Qualitätsklassen Qualitätsmerkmale zu
machen und das dann zum Breitbandausbau zu nutzen,
teilen? Und wie verträgt sich das mit der mir bisher be-
kannten Position der Sozialdemokratie, die Netzneutrali-
tät gesetzlich festzuschreiben?
Liebe Kollegin Wawzyniak, Sie kennen meine per-sönliche Position.
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Lars Klingbeil
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Sie kennen auch die Position, die im Koalitionsvertragsteht. Der Kollege Bartol hat darauf hingewiesen: Wirwerden die Netzneutralität gesetzlich verankern. Ichhabe selbst neulich auf einer Podiumsdiskussion mit ihmzusammen gesagt, dass mir die Position des Europäi-schen Parlamentes sehr angenehm ist und dass wir ver-suchen wollen, in diese Richtung zu gehen. Aber dasstellt nicht infrage, dass der Weg, den Minister Dobrindtmit der Netzallianz geht, nämlich alle Akteure an einenTisch zu holen und die Frage der privaten und der öffent-lichen Finanzierung und die Frage der Regulierung zuklären, der richtige Weg ist.
Klar ist auch, dass am Ende im Parlament entschiedenwird, wie der Weg bis ins letzte Detail hinein aussieht.Aber trotzdem ist der Weg der Netzallianz richtig. Espassiert endlich etwas im Breitbandausbau, und dafürsollten wir gemeinsam der Bundesregierung dankbarsein.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, sind dieInvestitionen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirmüssen dafür sorgen, dass in Deutschland Investitionenstattfinden. Das ist eine der großen Aufgaben, und das istauch in der Digitalen Agenda beschrieben. Wir müssenüber die Frage von Start-ups reden. Dabei geht es umWachstumskapital und Rahmenbedingungen. MinisterGabriel hat neulich ein Bürokratiemoratorium vorge-schlagen. Gestern war der zweite Geburtstag des Bun-desverbands Deutsche Startups. Es gab sehr viel Lob fürdas Wirtschaftsministerium und das, was auch unterMinister Gabriel gemacht wurde. Ich glaube, das wardas, was auch der Kollege Jarzombek sagen wollte, auchwenn ich es nicht an jeder Stelle verstanden habe.
Wir müssen in Deutschland über eine Datenpolitik re-den, die Geschäftsmodelle ermöglicht. Im wirtschaftli-chen Bereich liegt die große Herausforderung aber darin,dass wir Start-up-Branche und Mittelstand und Industrie,nämlich diejenigen in Deutschland, die Stärken haben,zusammenbringen und dafür sorgen, dass es auch in 20bis 30 Jahren noch einen guten Mittelstand und eine guteIndustrie, aber mit innovativen Geschäftsmodellen gibt.Das ist eine große Aufgabe der Politik, und das stehtauch in der Digitalen Agenda.Der letzte Punkt, auf den ich eingehen will, ist dieBildungspolitik. Das ist ein Thema, das in der DigitalenAgenda zu kurz kommt. Das liegt leider daran, dass derBund wenig Zuständigkeiten in der Bildungspolitik hat.Aber wir wissen alle, dass wirtschaftliches Wachstum,die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Sicherheit imNetz nur dann gelingen werden, wenn es genügend Men-schen gibt, die befähigt sind, sich im Netz zu bewegen.Deswegen brauchen wir eine gemeinsame Anstrengungmit den Ländern, um dafür zu sorgen, dass unser Bil-dungssystem umgekrempelt und auf das digitale Zeital-ter vorbereitet wird. Der Vorschlag, das Programmierenals zweite Fremdsprache einzuführen, ist ein sehr wichti-ger Impuls in dieser Diskussion. Wir brauchen einebessere Ausstattung an den Schulen, und die Lehrer-ausbildung muss dahin gehend verändert werden, dassausreichend digitale Kompetenz in den Schulen gelerntund gelehrt wird. Das ist eine Aufgabe, die wir gemein-sam mit den Ländern haben und die wir angehen müs-sen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitale Agendaliegt vor. Wir haben die nächsten drei Jahre genug damitzu tun. Ich lade noch einmal alle in diesem Haus ein,diesen Weg gemeinsam zu gehen. Es ist ein riesigerFortschritt, den wir mit der Großen Koalition in einemJahr geschafft haben. Ich wäre dankbar, wenn das Me-ckern aufhört und wir uns auf einen konstruktiven Wegmachen.Vielen Dank.
Dieter Janecek ist der nächste Redner für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Mir kommt diese De-batte wie ein Proseminar an der Volkshochschule vor.Die Große Koalition erklärt uns das Internet. Vor 20 Jah-ren wäre das noch spannend gewesen. Aber ich mussehrlich sagen: Ich hätte heute schon erwartet, dass Sieein bisschen mehr liefern als eine Textsammlung altbe-kannter Stichworte.
Wo ist denn der Plan, wie Sie die Digitale Agenda vo-rantreiben wollen? Wo sind die Handlungsaufträge? Wosind die Zahlen?Sie haben gesagt, das sei ganz oben angesiedelt. Ichsehe das so: Es ist zwar schön, dass drei Minister damitbefasst sind. Wenn Sie es aber ganz oben ansiedeln, dannmüssten auch die Kanzlerin oder der Vizekanzler heutehier Reden zur Digitalen Agenda halten, und nicht nurder Fachminister, der in sonstigen Debatten sehr wenigvorkommt, wenn ich das so sagen darf.
Stattdessen streiten Sie um Zuständigkeiten, und dasseit Anbeginn. Wer ist für was zuständig? Wir wissen esnicht. Sie wissen es auch nicht. Keiner weiß es. Wir wür-den aber gerne wissen, wohin Sie überhaupt wollen. AlsNutzer sind wir alle begeistert von anwendungsorientier-ten und cleveren Onlinediensten. Das erleichtert uns dasLeben. Da werden wahrscheinlich auch Jobs in Gefahr
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Dieter Janecek
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geraten. Thomas Jarzombek hat recht: Die Berufsweltwird sich verändern. Als Wirtschaftspolitiker, HerrGabriel, bereitet uns die Marktentwicklung Sorge; darinstimme ich Ihnen vollkommen zu. Die Herkulesaufgabeder Politik besteht in der Tat darin, für echten Wettbe-werb im Bereich der Internetwirtschaft zu sorgen. Dieentscheidende Frage lautet: Was folgt daraus? Eine Zer-schlagung von Google kann man zwar androhen. Aberwelche Instrumente haben wir, und sind wir willens,diese einzusetzen? Welchen Stellenwert geben wir derdeutschen Internetwirtschaft? Das ist für mich die zen-trale Frage, die wir beantworten müssen.
Im Hinblick auf Industrie 4.0 heißt das für mich: Sindwir denn ausreichend gewappnet und auf dem richtigenWeg? Ich würde sagen: Bei der Industrie sind wir aufdem richtigen Weg. Aber beim Mittelstand ist noch vielzu tun, insbesondere bei den Start-ups. Einige sind inno-vativ. Aber die Rahmenbedingungen stimmen überhauptnicht. Wir müssen für Zugang zu Venture Capital sorgen.Wir müssen die Bürokratie abbauen und Möglichkeitenschaffen, dass wir dort, wo Innovationen entstehen – dasbetrifft in erster Linie die Start-ups –, Zugänge schaffen.Das ist die zentrale Aufgabe der Wirtschaftspolitik inden nächsten Jahren.Wir müssen mehr über Ziele, Richtung und Chancender digitalen Strategie reden. Intelligente und vernetzteProzesse und Verfahren können und werden gerade inIndustrie und Mittelstand einen enormen Beitrag zu Res-sourceneinsparung und Energieeffizienz leisten. SetzenSie hierfür endlich die richtigen Anreize.
Die Energiewende muss konsequent mit der Digitalisie-rung zusammengedacht werden. Mit digitaler Verkehrs-steuerung können wir Staus vermeiden und die verschie-denen Mobilitätsangebote miteinander vernetzen. Das istweit mehr als Carsharing. Dann passiert vielleicht dochnoch das Unvorstellbare. Vielleicht fahren in 10, 15 oder20 Jahren nicht mehr Sie die Autos, sondern die AutosSie. Das ist dann ein völlig anderes Geschäftsmodell.Das nennt sich autonomes Fahren. Das hat drastischeAuswirkungen auf Produktion, Geschäftsmodelle undNutzerverhalten in der Mobilitätswelt. Wenn man das al-les bedenkt, dann kommt man zu dem Schluss, dass dieDigitalisierung als Modell für den ökologischen Wohl-stand gedacht werden muss. Das tun Sie aber nicht. Dasvermisse ich total bei der Digitalen Agenda. Da könntenSie Begeisterung schaffen. Tun Sie das endlich!
Während Sie die Digitale Agenda vorrangig zu einerStreitsache gemacht haben, hat sie WinfriedKretschmann – Konstantin von Notz hat das bereits er-wähnt – zur Chefsache gemacht. Genau darum geht es:zur Chefsache machen, Handlungsaufträge und Zahlenbenennen, keine Proseminare halten, sondern sagen, wasSie tun wollen. Tun Sie das, dann diskutieren wir auf ei-nem anderen Niveau beim nächsten Mal.Danke schön.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Jens
Koeppen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die erfolgreiche digitale Transformation be-nötigt klare politische und gesellschaftliche Rahmenbe-dingungen und Voraussetzungen. Zwei Voraussetzungensind in der Tat aus meiner Sicht schon erfüllt bzw. ge-schaffen worden. Das ist zum einen die von der Bundes-regierung vorgelegte Digitale Agenda 2014 bis 2017,und das ist zum anderen der gleichnamige AusschussDigitale Agenda, den wir ins Leben gerufen haben; dasist der 23. Ausschuss. Ich bin stolz, Ihnen als Ausschuss-vorsitzender sagen zu können, dass das weiß Gott keineRandnotiz ist – ein Ergebnis aus der Enquete-Kommis-sion „Internet und digitale Gesellschaft“. In nationalenund internationalen Gesprächen in Botschaften und an-derswo wurde uns für die beiden Voraussetzungen, dieDigitale Agenda der Bundesregierung und den Aus-schuss Digitale Agenda, sehr großer Respekt entgegen-gebracht. Es wurde gesagt, es wäre sehr gut, wenn dereine oder andere Staat auch so etwas hätte.Die Bedeutung haben wir längst erkannt. ThomasJarzombek hat eben darauf hingewiesen. Für Wirtschaftund Gesellschaft ist die digitale Transformation längstkein Randthema mehr, sondern Garant für Wohlstandund für Wachstum. Wir müssen die Wirtschaft, aberauch die Gesellschaft für die Digitalisierung fitmachen.Jetzt komme ich zu dem Punkt, was Anspruch undwas Wirklichkeit ist.
Darauf möchte ich jetzt eingehen. Ich werde nicht müde,lieber Herr Kollege von Notz, für diesen Ausschuss undunsere Arbeit zu werben.
Lassen Sie mich einiges dazu sagen.Natürlich wurde uns sehr viel Argwohn und Skepsisvon Fachpolitikern, von der Gesellschaft und von derOpposition entgegengebracht. Ich frage: Was ist unsereHauptaufgabe? Unsere Hauptaufgabe ist in allerersterLinie das Zuhören, das Ausgleichen und das Zusammen-führen. Das ist wichtig für diesen großen Querschnitts-ausschuss. Dann geht es weiter. Unsere Hauptaufgabeist, dass wir Chancen aufzeigen und dass wir die Poten-ziale, die die Digitalisierung hat, heben. Wir müssenmehr als nur ein reiner Communitybespaßungsausschusssein; denn das ist für mich einfach zu wenig.Wir sind auch keine Konkurrenz zu anderen Fachpoli-tikern – das will ich meinen Kollegen im gesamten Haussagen –, sondern wir sind Ergänzung, und wir denkenzusammen, was wir zusammendenken müssen. Wir sind
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5522 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Jens Koeppen
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eine Brücke. Wir werden niemandem etwas wegnehmen,sondern wir sind ergänzend unterwegs; denn die politi-sche Reaktionszeit ist einfach zu verkürzen. Wir sindmanchmal zu lange auf dem Weg. Es ist auch unsereAufgabe, wirtschaftspolitische Themen digital abzu-scannen, und wir müssen auch verkehrspolitische, innen-politische oder verbraucherpolitische Themen digitalabscannen. Das ist eine Aufgabe, die wir sehr ernst neh-men.
Wir sind also Treiber, wir sind Mahner, wir sindIdeengeber, und wir wollen auch ein Frühwarnsystementwickeln. Die Netzpolitiker müssen sagen: Wenn ihrso analog denkt wie bisher, passiert in unseren Unterneh-men oder in der Gesellschaft genau das, was wir nichthaben wollen. Deswegen haben wir die Digitale Agenda2014 bis 2017. Ich finde, das ist eine solide Grundlage;es wurde auch von einem Aufgabenheft gesprochen.Aber letztendlich dürfen wir nicht blauäugig sein. Esgab viel Verriss in den Medien, es gab viel Kritik undwenig Lob. Für mich ist das unverständlich, weil wir dieMinisterialstrukturen, die wir nun einmal haben, die Fi-nanzabläufe und die Prozesse, die vorhanden sind, nichtvon heute auf morgen verändern können. Es gibt Behar-rungskräfte, die wir überwinden müssen. Aber wenn sichdrei Minister federführend mit der Digitalen Agenda be-schäftigen, ist das in erster Linie zumindest aus der heu-tigen Sicht ein Vorteil; denn dieses Konkurrenzverhalten– sagen wir es ruhig – kann dazu führen, dass wir dasThema schneller nach vorne bringen.Wir müssen diese Chance nutzen. Es wird sehr oftvon Industrie 4.0 gesprochen. Ich würde eher von Wirt-schaft 4.0 reden. Eine Produktionssteigerung um 30 Pro-zent könnte mit einer erfolgreichen Umsetzung der Digi-talisierung in der Wirtschaft einhergehen. Jetzt ist esschon so, dass 1 000 Arbeitsplätze im IKT-Bereich wei-tere 1 000 Arbeitsplätze im vorgelagerten und nachgela-gerten Bereich schaffen. Das müssen wir ins Auge fas-sen, das ist unsere Chance. Die Oxford-Studie hatgezeigt, dass 47 Prozent der Arbeitsplätze entweder ver-lustig gehen oder umgewälzt werden. Genau da müssenwir ansetzen und daran arbeiten, dass sie nicht verlorengehen, sondern nur – „nur“ in Anführungsstrichen – ge-ändert werden.Wir müssen die Chance nutzen, dass neue Arbeits-marktmodelle da sind. Gerade im Bereich der Telemedi-zin ist viel möglich. Wir müssen auch bei der Informa-tion, bei den digitalen Bildungsangeboten, bei SmartHome und Smart Meter endlich nach vorne kommen.Smart Home und Smart Meter sind auch der Garant da-für, dass wir die Energiewende schaffen. Ansonstenkommen wir dort nicht weiter.Die Digitalisierung ist eine ganz klare Antwort aufden demografischen Wandel. Ich komme aus einer Re-gion, die nach UNESCO-Angaben als nicht besiedeltgilt. Das ist ein großer Wahlkreis. Vielen von Ihnen gehtes womöglich ähnlich. Dennoch müssen wir dafür sor-gen, dass in Regionen wie dieser eine angemesseneInfrastruktur installiert wird. Denn nur mit einem gutausgebauten Netz können wir letztendlich die Chancennutzen.Außerdem müssen wir den Menschen die Angst vordem Wort „Digitalisierung“ nehmen. Es gibt eine Arro-ganz der Sprache bei Juristen, bei Ärzten, aber auch beiNetzpolitikern. Wir müssen eine andere Sprache finden.Vieles ist für die Menschen viel zu diffus: Was passiertmit meiner Tageszeitung? Was passiert mit der Tages-schau um 20 Uhr? Was passiert mit dem Einkauf? Waspassiert mit meinem Arbeitsplatz? Wird es in Zukunft sosein, dass mein eigener Kühlschrank mich überwacht?Wir dürfen den Menschen nicht einfach irgendetwas vor-setzen, sondern wir müssen erklären, welche Vorteile mitVeränderungen verbunden sind: dass sie jederzeit die Ta-gesschau sehen können, dass auf dem iPad ständig ak-tuelle Tageszeitungen abrufbar sind und dergleichenmehr.Mein Fazit ist, dass die digitale Transformation in derZukunft das Topthema ist. Die Frage ist: Wollen wir zu-sehen, oder wollen wir es selber machen? Vor allen Din-gen: Wollen wir selber es vielleicht besser machen, alsUnternehmen es bisher gemacht haben? Es liegt in unse-rer Hand, ob wir die Wertschöpfung hierbehalten oder obwir zusehen, wie sie ins Tal nach Amerika abwandert.Wir dürfen keine Angsthasen sein, sondern müssen mu-tig sein. Die Digitalisierung ist der WachstumsmotorNummer eins für Wohlstand und Lebensfreude. Das soll-ten wir gemeinsam angehen.
Vielen Dank. – Herr Bundesminister Gabriel ist per-sönlich angesprochen worden. Er möchte dazu eine Er-klärung abgeben. Deshalb erteile ich das Wort HerrnBundesminister Gabriel.Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Vielen Dank, Herr Präsident. – Mit dem Internet istdas Problem verbunden, dass sich Falschaussagenschnell verbreiten lassen. Ich bin ganz sicher, dass derKollege Notz ein großes Interesse an intellektueller Red-lichkeit hat,
wie man seiner Rede entnehmen konnte. Daher wollteich ihn bitten, jetzt oder bei einer späteren Sitzung, dasZitat zu belegen, dass ich öffentlich die Zerschlagungvon Google gefordert hätte; er hat das hier behauptet.Herr Notz, ich fände es gar nicht schlecht, wenn Sie ein-mal schauen würden, ob Sie dafür einen Beleg finden.Ich lese Ihnen gern einmal vor, worauf Sie sich ver-mutlich beziehen – ich vermute, dass Sie hinterher zuder Einsicht kommen, dass Ihre Aussage falsch war, so-dass Sie bei Ihrer nächsten Rede sagen können, dass Siees gar nicht so falsch finden, was ich gesagt habe –:Wirtschaftsministerium und Bundeskartellamt prü-fen, ob ein Unternehmen wie Google seine markt-
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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beherrschende Stellung missbraucht, um durch dieBeherrschung einer „essential facility“, einer we-sentlichen Infrastruktur, Wettbewerber systematischzu verdrängen. …Wir fassen deshalb zuerst einekartellrechtsähnliche Regulierung von Internetplatt-formen ins Auge. Dreh- und Angelpunkt dabei istdas Gebot der Nichtdiskriminierung von alternati-ven Anbietern, die Platzhirsche innovativ heraus-fordern.Ich bin mir relativ sicher, dass in dem ganzen Artikelin der FAZ – er ist relativ lang gewesen – das Wort „Zer-schlagung“ nicht einmal vorkommt. Meine herzlicheBitte ist, dass wir miteinander mit möglichst hoher Red-lichkeit umgehen.Was es gibt, ist mein Hinweis darauf, dass wir in deranalogen Welt, zum Beispiel bei den Strom- und Gasnet-zen – auch das findet sich in diesem Artikel wieder –,ebenfalls Plattformen voneinander getrennt haben – –
– Nein, ich will nicht zerschlagen.
– Auch nicht angedeutet. – Sie haben behauptet, HerrNotz, ich hätte öffentlich die Zerschlagung von Googlegefordert. Dies ist falsch!Ich habe gefordert – offensichtlich war Zuhören ebennicht die stärkste Seite; ich lese es noch einmal vor –:Wir fassen deshalb zuerst eine kartellrechtsähnlicheRegulierung von Internetplattformen ins Auge.Dreh- und Angelpunkt dabei ist das Gebot derNichtdiskriminierung von alternativen Anbietern,die Platzhirsche innovativ herausfordern.Genau das prüfen wir. Wir reden auch über die Frage derErweiterung des Kartellrechts.Mir ging es nur darum, dass wir gegenseitig nichts indie Welt setzen, was man nicht gefordert hat. Ich finde,Sie haben jede Möglichkeit, zu suchen und irgendwo et-was zu finden, dass ich öffentlich die Zerschlagung vonGoogle gefordert hätte. Manchmal hilft es einfach, nichtnur Nachrichten, dpa-Meldungen oder Handelsblatt-Ar-tikel, sondern auch den Originaltext zu lesen. Das er-leichtert die Kenntnis dessen, was jemand anders gesagthat.
Jetzt hat sich der Kollege Dr. von Notz gemeldet, dem
ich auch das Wort erteile, allerdings mit dem Hinweis,
dass er sich bitte ausschließlich zu dem angesprochenen
Sachverhalt äußern möge; es geht nicht darum, die allge-
meine Aussprache fortzusetzen.
Die allgemeine Aussprache hatten wir ja auch schon. –
Ich bin sehr dankbar, dass sich der Vizekanzler in die
Debatte einschaltet. Herr Gabriel, Sie haben das Wort
„Zerschlagung“ nicht in den Mund genommen – das
mag so sein; ich google das gern noch mal und gucke es
mir genau an –,
aber Sie haben es – dazu stehe ich – bewusst eine Woche
vor der Europawahl suggeriert und in den Raum gestellt.
Eines machen Sie nicht – das habe ich am stärksten kri-
tisiert; dazu haben Sie kurioserweise gar nichts gesagt –:
Sie machen nicht das, was dieses Haus als Gesetzgeber
machen sollte, nämlich regulieren, sondern Sie treffen
sich mit Eric Schmidt zu lustigen Veranstaltungen. Wenn
man in der Digitalen Agenda danach guckt: „Was mit
Substanz kommt von Gabriel?“, stellt man fest: Da
kommt leider nichts. – Insofern bleibt die Suggestion im
Raum. Ich glaube, Sie haben sie auch bewusst gesetzt.
Herzlichen Dank.
Jetzt fahren wir mit der Aussprache fort, und ich er-
teile das Wort der Kollegin Petra Sitte, Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kritikund die Vorschläge der Opposition sind von der Koali-tion hier so ein bisschen unter der Rubrik „Nörgeln undMeckern“ zusammengefasst worden. Aber ein bisschengemeckert hat auch Herr Klingbeil. Er hat gesagt: In die-ser Digitalen Agenda kommen Bildung, Wissenschaft,Kultur und Medien zu kurz.
Das finde ich auch. Deshalb will ich mich auf diesen Be-reich konzentrieren.Ich will darauf hinweisen, dass wir hier gerade erst inder letzten Sitzungswoche darüber gesprochen haben,wie und nach welchen Regeln es an Unis auch zukünftigmöglich sein soll, sogenannte digitale Semesterapparatezusammenzustellen. Für jene, die das nicht genau ken-nen: Ein Semesterapparat ist eine digitale Zusammen-stellung von Vorlesungsunterlagen und Seminarunterla-gen. Das ist für die Studis extrem praktisch.Geregelt wird dies in § 52 a des Urheberrechtsgeset-zes. Dieser ist ausgesprochen eng gefasst. Wenn Ge-richte dazu Recht sprechen, legen sie ihn sogar noch en-ger aus. Infolgedessen ist diese Regelung im Alltag derUnis nur sehr schwer zu handhaben. Aber – immerhin! –es ist nach mehreren Verlängerungen der Frist in der
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5524 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Petra Sitte
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letzten Woche endlich gelungen, die Regelung zu ent-fristen.Aber eigentlich – das hatten wir schon vorhin ange-sprochen – geht die Digitale Agenda trotzdem noch wei-ter, auch wenn es unbefriedigend ist, wie Herr Klingbeilsagt. Sie sagen darin, dass Sie die Bildungs- und Wissen-schaftsschranke ins Urheberrecht einführen wollen.
Unis, Schulen etc. sollen sozusagen auch die Vorteile derDigitalisierung genießen können, und sie sollen dabeigerade nicht am Urheberrecht scheitern.Hierfür gibt es schon seit langem konkrete Rege-lungsvorschläge; das hätten Sie auch aufnehmen kön-nen. Der Witz ist nicht nur, dass es die schon lange gibt;das Bundesministerium für Bildung und Forschung hatsogar selbst die Ausarbeitung eines Regelungsvor-schlags in Auftrag gegeben. Der liegt jetzt auch vor, fin-det sich aber in der Digitalen Agenda nicht wieder. DasProblem ist – wir kennen es schon –: Die Netzpolitikerund die Urheberrechtspäpste der Koalition können sichvermutlich nicht einigen, und wir dürfen jetzt erst einmalneugierig darauf warten, was denn am Ende dabei he-rauskommt.
Wie wäre es denn beispielsweise, wenn es Ihnen end-lich gelänge, das Zweitveröffentlichungsrecht für Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler unabdingbar unddurchsetzungsstark zu gestalten?
Oder sorgen Sie doch endlich dafür, dass Forschungser-gebnisse, die überwiegend mit Bundesmitteln, also mitöffentlichen Geldern, mit Steuergeldern, finanziert wer-den, als Open-Access-Publikation erscheinen müssen!
Darüber hinaus kündigen Sie an, dass Sie die Deut-sche Digitale Bibliothek ausbauen wollen. Super! Aberim Haushalt 2015 sind dafür nur 1,3 Millionen Euro vor-gesehen. Die sind einfach notwendig, weil Sie sich ver-traglich gebunden haben, und sie dienen auch nur dertechnischen Ausstattung.Das heißt: Der Stau, der sich darin manifestiert, istsymptomatisch für diese Digitalpolitik. Deutschlandhinkt bei der digitalen Archivierung und der Zugänglich-keit von Kulturgütern im Vergleich zu anderen Ländernum Jahre hinterher – sogar im Vergleich zu privatwirt-schaftlichen Initiativen.
Wabert nun schon ziemlich viel Lyrik durch Ihre Di-gitale Agenda, so ist eigentlich noch bezeichnender,Herr Dörmann, was fehlt. Darüber haben wir hier schonmehrfach geredet. Wie sich die überaus prekäre ökono-mische Lage der meisten Kultur- und Medienschaffen-den verbessern soll, sucht man in dem Papier vergebens.Das ist insofern empörend, als wir mittlerweile zwei En-quete-Kommissionen im Bundestag hatten, die sich um-fangreich mit dieser Lage beschäftigt und umfangreicheVorschläge gemacht haben.
– Okay, aber dann – wenn Sie an vielen anderen Stellendarüber diskutieren wollen – gehört das auf jeden Fall inIhre Digitale Agenda.
Wir haben dazu – das will ich abschließend sagen –Folgendes konkret vorgeschlagen: Wir brauchen eindurchsetzungsstarkes Urhebervertragsrecht für die Me-dienschaffenden bzw. die Kreativen. Wir brauchen indiesem Bereich endlich Mindesthonorare. Wir brauchenden Erhalt und den Ausbau der Künstlersozialkasse.Schließlich brauchen wir auch eine Reform der Verwer-tungsgesellschaften wie VG Wort oder GEMA, damitauch einkommensschwächere oder umsatzschwächereKreative Einfluss und Stimme bekommen. Da, meineDamen und Herren von der Koalition, müssen Sie nochgewaltig nacharbeiten.
Die Kollegin Christina Kampmann spricht jetzt für
die Sozialdemokraten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieeinen nennen sie den „www-Wunschzettel der Bundes-regierung“, die anderen reden vom „Windelweichpa-pier“. Der Deutschlandfunkt wähnt sich im „digitalenMärchenland“, und Konstantin von Notz glaubt an eineAneinanderreihung von Absichtserklärungen.
Ich sage: Die Digitale Agenda ist kein Wunschzettel –und erst recht kein Märchen. Sie ist ein Erfolg. Währendandere sie zerreden, haben wir uns längst an die Umset-zung gemacht.
Ich bin mir sicher: Das ist der richtige Weg, und vondem werden wir uns auch nicht abbringen lassen, liebeKolleginnen und Kollegen!
Schauen wir aber einmal genau hin: Was bringt unsdie Digitale Agenda, wenn wir über den Staat der Zu-kunft reden? Als ehemalige Standesbeamtin weiß ich: Esmuss nicht gleich die Eheschließung sein, die aus-schließlich digital zur Verfügung stehen wird. Die Men-schen ärgern sich aber zu Recht, wenn sie sich den hal-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5525
Christina Kampmann
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ben Tag freinehmen müssen, um das neue Autoanzumelden oder die Geburtsurkunde für das neugebo-rene Kind zu beantragen. Unser Ziel ist es deshalb, Be-hördengänge da, wo es geht, entbehrlich zu machen. Un-ser Ziel ist es, Verwaltungshandeln transparent zumachen und Informationen, wann immer es möglich ist,zur Verfügung zu stellen. Unser Ziel ist die bürger-freundliche und moderne Verwaltung; denn wir wissen,dass der innovative Staat das Rückgrat der modernenGesellschaft ist. Die Digitale Agenda legt dafür ein Fun-dament, das auf festen Füßen steht, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Die Digitale Agenda funktioniert aber nur dann – dasmuss jedem von uns klar sein –, wenn Menschen Ver-trauen in die Sicherheit der Kommunikation haben.Denn Daten sind nicht irgendetwas. Daten sind das, waswir denken, was wir fühlen und was wir anderen mittei-len, und damit ein Teil unserer Persönlichkeit. Alleindiese Tatsache begründet eine enorme Verantwortung,wenn es um den Umgang mit Daten geht. Diese zuschützen, einfache Verschlüsselungsmöglichkeiten undsichere Infrastruktur anzubieten, muss deshalb unservorrangiges Ziel sein.
Um das auch auf europäischer Ebene erreichen zukönnen, brauchen wir die europäische Datenschutz-Grundverordnung. Sie sagen in der Digitalen Agenda,die Verabschiedung spätestens 2015 sei das Ziel. SeienSie sich gewiss: Hier werden wir Sie beim Wort nehmen,liebe Minister.Sie sagen auch, die Digitale Agenda sei ein Hausauf-gabenheft. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist;aber wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte,war Nachsitzen angesagt. Und ich sage Ihnen: Das warkein Spaß. Deshalb seien Sie sich sicher: Wir werden dieUmsetzung der Digitalen Agenda kritisch und konstruk-tiv begleiten.
Die Digitale Agenda ist nicht perfekt. Sie erhebt auchkeinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie beantwortetweder alle Fragen, noch hat sie auf alles eine Antwort.Dass sie da ist, ist dennoch – davon bin ich zutiefst über-zeugt – ein Erfolg.Konstantin von Notz sage ich: Wenn hier etwas imNebulösen verharrt, dann sind das Ihre eigenen Vorstel-lungen einer Digitalen Agenda. Sich an dieser Stelle inKritik zu erschöpfen, reicht nicht aus.
Es reicht auch nicht aus, sich immer nur auf die Enquete-Kommission zu berufen.
Ich glaube, Sie müssten an dieser Stelle auch einmal ei-gene Ideen präsentieren.
Dieses Internet hat nicht immer recht, sage ich. Ichmuss es wissen; denn ich komme aus einem Wahlkreisnamens Bielefeld,
der laut Internet gar nicht existiert.
Trotzdem ist das Internet etwas Großartiges. Es ist einOrt der Freiheit. Das Internet ist ein Ort der Gleichheitund der Innovation. Es politisch zu gestalten, bedeutetHerausforderung und Chance zugleich. Ich habe großenRespekt vor dieser Aufgabe und ebenso große Zuver-sicht, weil ich davon überzeugt bin, mit der DigitalenAgenda das richtige Instrument an der Hand zu haben.Danke schön.
Die Kollegin Tabea Rößner hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Minister Dobrindt ist verliebt.
– Ja, in das Wort „Tsunami“, in das Wort „Datentsu-nami“.
Wo immer er über Breitbandausbau redet, spricht er da-von – auch heute übrigens –, dass wir vor einem „Da-tentsunami“ stehen. Nun gibt es tatsächlich immer grö-ßere Datenaufkommen im Netz, zum Beispiel durchIndustrie 4.0, E-Mobility, Teleoffice-Plätze zu Hause.Das alles wissen wir. Nur ist das nicht, wie das Wort„Tsunami“ vermuten lässt, eine Naturkatastrophe, vorder man Angst haben muss und sich schützen muss, son-dern es ist eine Chance, die wir packen und ergreifenmüssen.
Ansonsten nennt der Minister große Begriffe. Da wer-den zwei Treffen mit der Industrie schnell zu einer„Netzallianz“ und ein vager Vorhabenplan zu einem
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5526 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Tabea Rößner
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„Kursbuch“. Netzallianz und Kursbuch, das klingt nachAbenteuer und Ritter der Breitbandrunde;
aber große Begriffe verlegen keine Leitungen.
Um Deutschland flächendeckend mit 50 Megabit an-zuschließen, braucht man 20 Milliarden Euro. Die Un-ternehmen wollen im nächsten Jahr 8 Milliarden Euroinvestieren. Dafür gebührt ihnen auch Dank. Dafür ha-ben Sie, Herr Minister, allerdings die Netzneutralitätverschachert.
Die Unternehmen sagen aber auch, dass sie nur 80 Pro-zent des Landes anschließen können. Der Rest ist für sienicht wirtschaftlich. Für ein Fünftel der Bevölkerungsieht es also schlecht aus. Der Ausbau in ländlichen Re-gionen wird teuer – da machen wir uns nichts vor –, soteuer, dass das Engagement der Bundesregierung nur ei-nen Tropfen auf den heißen Stein bedeutet.Es fehlt an Fördergeldern. Sie stellen auch nichts inden aktuellen Haushaltsentwurf ein. Stattdessen verstei-fen Sie sich auf die Frequenzversteigerung. Wissen Sie,warum das unseriös ist? Sie gaukeln der Öffentlichkeitvor, das sei das Allheilmittel und damit würde der Breit-bandausbau vorankommen. Aber erstens kann keiner ge-nau sagen, wie viel Geld die Versteigerung bringen wird.4 Milliarden Euro maximal, eher weniger. Die letzteVersteigerung brachte knapp 4 Milliarden Euro, undschon das war deutlich weniger als erhofft. Jetzt gibt esnur noch drei Anbieter. Außerdem werden die Frequen-zen der letzten Versteigerung bis heute nicht alle genutzt.Es ist also äußerst fraglich, ob die geplante Frequenzver-steigerung wirklich so viel einbringt.Zweitens müssen Sie sich den Erlös mit den Ländernteilen.
Drittens müssen Sie die Nutzer von Funkanlagen undMikrofonanlagen entschädigen. Das wird teurer, als Siezugeben. Unter dem Strich bleibt gar nicht mehr so vielübrig. Deshalb sage ich: Wenn Sie nicht zusätzliche Gel-der bereitstellen, bleibt Ihr stetes Bemühen um flächen-deckendes Breitband ziemlich erfolglos.
Außerdem wird die Frequenzumstellung für die Ver-braucher teuer. Um die Frequenzen für Breitband nutzenzu können, muss von DVB-T auf DVB-T2 umgestelltwerden. Das ist schon lange geplant. Das ist auch gut– Herr Dörmann, ich sehe, Sie melden sich –, und das istauch richtig.
– Wollen Sie sich noch melden?
– Ich lasse gerne eine Frage zu.
Ich sehe also, dass der Kollege Dörmann sich meldet
und dass die Kollegin Rößner diese Frage schon zugelas-
sen hat. Dann möchte ich Ihnen folgen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Kollegin
Tabea Rößner. – Wir haben diese Debatte ja schon in der
letzten Woche geführt. Deshalb kenne ich Ihre Thesen,
die darauf hinauslaufen, dass Sie den Leuten suggerie-
ren: Die Große Koalition ist schuld daran, dass ihr eure
Fernseher wegschmeißen könnt. Und das wird so richtig
teuer für euch. – Das haben Sie gerade schon wieder an-
gedeutet.
Ist Ihnen eigentlich bewusst, warum wir DVB-T2 ein-
führen wollen? Wir machen das deshalb, weil es der
Wunsch der Rundfunkanstalten ist, auf einen modernen
Standard zu kommen; denn die bisherige terrestrische
Verbreitung mit DVB-T ist nicht zukunftsfähig, weil
man damit keine HD-Qualität erreichen kann, die mitt-
lerweile auf anderen Übertragungswegen möglich ist.
Da es ja das Ziel ist, mit DVB-T einen billigen Übertra-
gungsweg für die Nutzerinnen und Nutzer aufrechtzuer-
halten, sagen sowohl die Öffentlich-Rechtlichen als auch
die Privaten: Lasst uns diesen Weg gehen. Wir gehen
den Schritt in Richtung der neuen Technologie. – Der
Gag ist: Es wird am Ende sogar für alle Beteiligten billi-
ger, weil dadurch nämlich Effizienzen gehoben werden.
Natürlich muss einmal umgestellt werden. Laut den
Berechnungen, beispielsweise den internen Berechnun-
gen der Öffentlich-Rechtlichen, wird das die Nutzerin-
nen und Nutzer einmalig 50 Euro kosten, weil ein Zu-
satzgerät angeschafft werden muss. Sind Sie nicht mit
mir der Meinung, dass wir die Rundfunkanstalten gerade
unter dem Gesichtspunkt einer kostengünstigen und mo-
dernen Versorgung der Nutzerinnen und Nutzer unter-
stützen sollten? Oder kritisieren Sie das Ziel des Koali-
tionsvertrages? Dann müssten Sie das aber auch bitte
schön denjenigen Nutzerinnen und Nutzern sagen, die
darauf hoffen, dass wir diesen Verbreitungsweg offen-
halten.
Lieber Kollege Dörmann, hätten Sie einen Momentgewartet, dann hätten Sie meine Ausführungen noch ge-hört.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5527
Tabea Rößner
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Diese kann ich jetzt nachholen. Ich habe ja schon gesagt,dass diese Umstellung richtig ist. Sie ist auch gut. Natür-lich wollen die Sendeanstalten diese Umstellung.
– Das habe ich nie infrage gestellt.
DVB-T2 ist technisch fortschrittlicher. Es ist günstiger;da haben Sie völlig recht. Aber selbst die Rundfunkan-stalten sagen, sie bräuchten eine längere Übergangsfristfür diese Umstellung.
Die Umstellung kostet nicht nur die RundfunkanstaltenGeld, sondern sie kostet auch die Verbraucher, die Mi-krofonanlagenbetreiber usw. Geld. Das ist eine Umstel-lung, die nicht mal eben in ein oder zwei Jahren zu ma-chen ist. Deshalb soll die Übergangsfrist, die auch dieRundfunkanstalten einfordern, eine wesentlich längeresein. Ich denke, wir sollten diese Übergangsfrist auchgewährleisten, damit nicht so viel Elektroschrott ent-steht, damit nicht jemand jetzt einen DVB-T-fähigenFernseher kauft und ihn in zwei Jahren auf den Müllschmeißen muss, sondern gleich das richtige Gerät kau-fen kann. Solche Geräte sind erst in zwei Jahren richtigmarktfähig und damit auch günstig; denn erst die Markt-fähigkeit macht Geräte günstig. Von daher wissen Siegenau: Wir sind für die Umstellung, aber wir wollen einelängere Übergangsfrist.
– Genau.Wir haben immer gesagt, dass diese Umstellung ver-braucherfreundlich sein muss. Insofern ist es wichtig,dass es diese Übergangsfrist gibt. Das kann man nichtmal eben so übers Knie brechen. Es gibt Berechnungen– übrigens auch aus dem Haus des Ministers –, dassknapp 4 Millionen Haushalte diese DVB-T-Empfängernutzen. Wenn man das ausrechnet, ergibt das Kosten indreistelliger Millionenhöhe. Wenn die Menschen das tat-sächlich begreifen, dann wird Ihnen das um die Ohrenfliegen.Wissen Sie, Herr Dobrindt, man sagt ja, Verliebtseinmache blind. Wenn Sie sich jetzt vom Begriff „Datentsu-nami“ trennen wollen – was ich Ihnen empfehlen würde,weil das kein schöner, sondern ein sehr negativer Begriffist –, dann können Sie wieder auf Brautschau gehen. Ichrate Ihnen: Schauen Sie doch einmal nach dem Wort„Förderprogramm“. Das finde ich viel attraktiver. Dasfehlt bei Ihnen aber leider völlig.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt das Wort zu einer Kurzintervention
dem Kollegen Lenkert.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege
Dörmann, ich möchte nur eines klarstellen: Mit DVB-T2
ist nicht nur die Anschaffung von neuen Geräten für
etwa 50 Euro notwendig, sondern es eröffnet den priva-
ten Rundfunkanstalten auch die Möglichkeit, ihr Pro-
gramm zu verschlüsseln und es nur noch gegen Bezah-
lung zur Verfügung zu stellen. Diese Möglichkeit wird
von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht
in Anspruch genommen werden, aber die privaten erhal-
ten sehr wohl die Möglichkeit.
Deswegen ist es sehr wohl möglich, dass die Kunden
durch DVB-T2 zukünftig doch stärker belastet werden,
als es hier bisher dargestellt wird.
Der Kollege Dörmann hat die Möglichkeit, darauf zu
antworten.
Sehr geehrter Herr Kollege, da Sie es ansprechen: Esgibt ein großes Interesse des öffentlich-rechtlichenRundfunks, den neuen Standard DVB-T2 zu nutzen, undzwar deshalb, weil es einfach kostengünstiger ist; manspart auf Sicht, und das kommt den Beitragszahlerinnenund Beitragszahlern bzw. den Programmen zugute.Man hat damit einen neuen Standard, mit dem man inZukunft einen für den Nutzer besonders günstigen Wegder Übertragung etablieren kann. Deshalb sagen die Öf-fentlich-Rechtlichen: Wir wollen, dass die Privaten da-bei sind, weil es auch eine Kostenfrage ist und wir übri-gens nur so eine Akzeptanz in der Bevölkerungerreichen. – Deshalb akzeptieren die Öffentlich-Rechtli-chen den Wunsch der Privatsender, dort zu einer Ver-schlüsselung zu kommen, um den Privatsendern eineRefinanzierung der Kosten zu ermöglichen.Deshalb: Man kann darüber streiten, ob der Weg einerVerschlüsselung der richtige ist; aber alle Fachbeteilig-ten sind sich einig, dass es am Ende keine Alternativedazu geben wird. Einen anderen Weg wird es nicht ge-ben. Die Öffentlich-Rechtlichen haben jedenfalls in denGesprächen, die ich geführt habe, immer gesagt: DieseInvestition macht am Ende eigentlich nur Sinn, wenn diePrivaten dabei sind. Da muss man zu fairen Bedingun-gen kommen; denn damit sind Kosten verbunden, die re-finanziert werden müssen.Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer kann frei ent-scheiden, ob man es bucht oder nicht. Es gibt andereÜbertragungswege. Insofern ist es am Ende eigentlichdie Wahl der Zuschauerinnen und Zuschauer, ob sie die-ses Geschäftsmodell unterstützen oder nicht.
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Wir fahren jetzt in der Rednerliste fort. Nachdem er
schon lange gewartet hat, kommt jetzt der Kollege Klaus
Barthel für die Sozialdemokraten dran, dem ich das Wort
erteile.
Danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Auf meine Rede haben bestimmt alle schon lange
gewartet.
Wir sind eigentlich schon mittendrin in dem Thema,
auf das ich hinweisen will: Die Digitalisierung verändert
alle Lebensbereiche der Menschen, auch das Wohnzim-
mer. Ich will vor allen Dingen auf die wirtschafts- und
arbeitspolitischen Perspektiven eingehen. Im Übrigen ist
es – auch wenn ich mich damit bei einigen hier bestimmt
unbeliebt mache – nicht ganz falsch, dass der Antrag der
Grünen im Wirtschaftsausschuss behandelt wird. Denn
die Wirtschaft wird mit am stärksten verändert; die glo-
balen Wirtschaftsbeziehungen, die Entwicklungen auf
den Finanzmärkten, die wir erleben und erlebt haben
– mit all ihren Licht- und Schattenseiten –, wären ohne
die Digitalisierung nicht denkbar.
Es verändern sich die Bedingungen des Wettbewerbs
innerhalb der Sektoren und zwischen den Sektoren der
Wirtschaft und zwischen den Regionen. Es verändert
sich die ganze Arbeitswelt: die Arbeitsorganisation, die
Arbeitsgestaltung und auch die Arbeitsbeziehungen. Das
passiert eben nicht nur in einigen Bereichen, die hier
gern als Highlights diskutiert werden – die Stichworte
„Industrie 4.0“ und „Gründerszene“ fallen oft –, sondern
es geht quer durch alle Branchen und Betriebe. Es geht
zum Beispiel auch um das Handwerk 4.0, um die indus-
trienahen Dienstleistungen, um die sozialen und die Hu-
mandienstleistungen; es geht um die ganze Wertschöp-
fungskette, vom Rohstoff über die Zulieferung – in
Klammern: Logistik – bis hin zum Einzelhandel, zu den
Verbraucherinnen und Verbrauchern und zur Entsor-
gung. All diese Bereiche – ich kann das nicht innerhalb
von vier Minuten ausführen – werden ganz praktisch und
hautnah davon berührt, und niemand ist in seinem Ar-
beitsleben mehr davon ausgenommen.
Ich warne hier immer ein bisschen vor dem falschen
Pathos, das hier manchmal durchklingt und das man im-
mer wieder in den Medien findet. Da ist die Rede von
der „Diktatur der Perfektion“ aufgrund der Digitalisie-
rung. Da ist die Rede vom „Kampfplatz Internet“ und
von einem dritten Weltkrieg, über den gerade entschie-
den wird. Da ist die Warnung vor „Maschinenstürmerei“
und vor den „Mormonen der digitalen Welt“; das sollen
diejenigen sein, die an der einen oder anderen Stelle
auch einmal „aber“ sagen. Herr Jarzombek, bei aller Ko-
alitionstreue: Ich finde, Angst ist in diesem Zusammen-
hang ein schlechter Ratgeber.
Ich halte mich eher an das Wissen. Es wimmelt zur-
zeit von Studien aller möglichen Verbände, Branchen
und Unternehmen. Aber wenn man fragt: „Was haben
wir eigentlich an systematisiertem Wissen über die Digi-
talisierung?“, dann stellt man fest: Es existieren wenige
Vorstellungen darüber, wie man zum Beispiel all die
schönen Chancen, die das Internet bietet, zum Vorteil der
Menschen nutzen kann, wie man die Risiken eindämmen
und die digitale Welt gestalten kann. In diesem Bereich
gibt es enormen Forschungsbedarf. Was bedeutet die flä-
chendeckende Digitalisierung für die Wirtschaft und für
die Arbeit? Welche Alternativen in der Entwicklung gibt
es?
Es ist gut, dass wir 1 Milliarde Euro für die For-
schung einsetzen können. Aber ich würde mir wünschen,
dass mit Blick auf den Bereich der arbeitsweltbezogenen
Forschung auch im Titel des Haushalts des Wirtschafts-
ministeriums, der sich auf die digitale Welt bezieht, ein
bisschen mehr getan würde, um die Vorhaben systema-
tisch darzustellen. Wir sind nämlich nicht nur dazu da,
den Lauf der Dinge zu beobachten und zu kommentie-
ren, sondern wir sind auch dazu da, den politischen Rah-
men zu setzen. Das bedeutet vor allen Dingen, die Men-
schen zu befähigen, ihren Arbeits- und Lebensalltag
selbstbestimmter zu gestalten. Dazu gehören die As-
pekte der Qualifizierung. Man kann nicht immer nur von
der Notwendigkeit von Weiterbildung reden, sondern
man muss auch sagen, welche Rechte, Instrumente und
Finanzierungsmöglichkeiten man schaffen will, um Wei-
terbildung und Qualifizierung zu sichern. Man kann
nicht immer nur darüber reden, dass die Digitalisierung
die Arbeitszeit verändert, sondern wir müssen uns über-
legen, wie man die gesparte Arbeitszeit nutzen kann, um
die Beschäftigten zu entlasten, um die digitale Prekari-
sierung zu verhindern und um neue Arbeitslosigkeit zu
vermeiden.
Wie kann man Gesundheitsschutz unter Berücksichti-
gung der alten und der neuen Belastungen, zum Beispiel
der psychischen Krankheiten, gewährleisten? Hier brau-
chen wir eine Humanisierungsstrategie. Was tun wir be-
züglich einer neuen Ordnung auf den neuen Arbeits-
märkten? Welche neuen Formen von informeller Arbeit
wird es geben: Cloud Working usw.? Wie können wir all
dem mit einer Mitbestimmungsstrategie begegnen?
Viele der genannten Aspekte sind in der Enquete-
Kommission angedeutet worden. Aber seien Sie, liebe
Mitglieder der Kommission, einmal ehrlich: Viele Pro-
bleme wurden zwar richtig benannt, aber die Empfeh-
lungen waren nicht so deutlich.
Herr Kollege Barthel, Sie denken an die vereinbarteRedezeit?
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Ich komme zum Schluss.
Herr Präsident, ich kann meinen letzten Satz nicht
ausführen, wenn die Kollegen dort drüben so unruhig
sind.
– Sie können gleich etwas dazu sagen, Herr Tauber.
Wir wollen die Arbeitswelt gestalten. Hier geht es
nicht um die Belastungen für die Wirtschaft oder um
Maschinenstürmerei, sondern es geht darum, dass wir
die Voraussetzung dafür schaffen, dass Digitalisierung
funktionieren kann. Wer die politische Gestaltung und
die gesellschaftliche Gestaltung als wirtschafts- und in-
novationsfeindlich diskreditiert – ich habe die Verände-
rungen gerade genannt –, ist der eigentliche Blockierer
der digitalen Zukunft.
Vielen Dank. Das war ein ausführlicher letzter Satz. –
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Marian Wendt
für die CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! „Das Internet ist eine Spielerei für Compu-terfreaks, wir sehen darin keine Zukunft“ – so der ehe-malige Telekom-Chef Ron Sommer vor 24 Jahren.
Gleich noch ein Zitat: „Das Internet ist nur ein Hype“ –Bill Gates, 1993.Heute debattieren wir mit der Gestaltung der Digita-len Agenda durch die CDU-geführte Bundesregierungüber dieses Internet.
Zu den beiden Zitaten kann ich nur zwei Dinge sagen:Das Internet ist kein Hype, sondern es gehört zur Le-benswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger in unse-rem Land.
Es ist so selbstverständlich geworden wie der Strom ausder Steckdose und das Wasser aus dem Hahn.Zweitens muss ich feststellen, dass die Geschwindig-keit, mit der Innovationen in der IT-Branche unser ge-sellschaftliches Leben verändern, einzigartig ist. Washeute der letzte Stand der Technik ist, kann morgenschon hoffnungslos veraltet sein. Wir haben das eben beider DVB-T-Debatte gesehen.Als Innenpolitiker möchte ich den Schwerpunkt aufzwei Bereiche der Digitalen Agenda legen, und zwarzum einen auf das Thema IT-Sicherheit und zum ande-ren auf das Thema E-Government und moderner Staat.Zum Thema IT-Sicherheit. Sicherheit und Vertrauensind das A und O, wenn es darum geht, Freiheit im Inter-net zu ermöglichen.
Bedauerlicherweise unterliegt die Kriminalität im digita-len Raum einer Dynamik, auf die sich unsere Gesell-schaft noch nicht eingestellt hat. Nirgendwo auf der Weltist der Schaden durch Cybercrime so groß wie inDeutschland.
Im vergangenen Jahr betrug er 44 Milliarden Euro.
Das sind ganze 1,6 Prozent des BruttoinlandsproduktsDeutschlands.
Phänomene wie Identitätendiebstahl, Passwortklau, Kre-ditkartenbetrug, digitale Erpressung von Daten, Ausspä-hung von Geschäftsgeheimnissen usw. – das alles be-droht unseren Wohlstand hier in Deutschland.
Die Cybercrimeszene professionalisiert sich zunehmend.Leicht zu bedienende Schadsoftware wird im Internetselbst an IT-Laien verkauft oder vermietet.
Diesen Entwicklungen müssen und werden wir ent-schlossen entgegentreten.
Unser Bundesinnenminister, Dr. Thomas de Maizière,und sein Haus haben sich dieser Herausforderungen an-genommen. Wir werden gemeinsam den Entwurf einesIT-Sicherheitsgesetzes vorlegen, das entsprechende Maß-nahmen zur Verhinderung von Cybercrime vorsieht. Wirwerden klare Verantwortlichkeiten für die Betreiber kri-
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5530 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Marian Wendt
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tischer Infrastrukturen, für Telekommunikationsanbieterund Telemedienanbieter schaffen.
Damit können wir die IT-Systeme, die Telekommunika-tionssysteme schützen und das Vertrauen der Bürgerin-nen und Bürger sichern. Zudem stärkt das IT-Gesetz dieIT- und Sicherheitsbehörden des Bundes in ihren Kom-petenzen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informa-tionstechnik in Bonn zum Beispiel leistet im BereichPrävention und hinsichtlich der Aufklärung über Gefah-ren im Internet eine sehr verdienstvolle Arbeit. Dafürvon dieser Stelle meinen herzlichen Dank.
Wir werden einfache, sichere und nutzerfreundlicheSicherheits- und Verschlüsselungstechnologien fördernund fordern. Wir müssen die Verschlüsselung von Datenund entsprechenden Kommunikationsverbindungen vo-rantreiben, Verschlüsseln muss einfach gehen, damit dieBürger die Verschlüsselungstechnik auch nutzen. Es istja so: Wir können die besten Technologien haben, aberder Bürger wird die Technik nicht nutzen, wenn sie zukompliziert ist. Deswegen ist es unser Ziel, Deutschlandzum Verschlüsselungsort Nummer eins in der Welt zumachen. Wir wollen die flächendeckende Verschlüsse-lung mit einem Klick.Der Staat kann mit gutem Beispiel vorangehen undden neuen Personalausweis verbessern. Viele von Ihnenkennen dieses kleine Kärtchen. Viele empfinden es alsVorteil, dass man nicht mehr eine große Papierkarte alsAusweis mit sich führen muss, sondern der Ausweis nunnur noch so groß wie eine EC- oder Kreditkarte ist.Diese Plastikkarte ist aber nicht nur viel kleiner, in ihrsteckt noch viel mehr.
– Zum Beispiel. – Wir haben sehr gute Sicherheitstech-nologien beim neuen Personalausweis. Der Ausweis hatPotenzial, und es gilt, dieses Potenzial auszubauen. DerAusweis kann ein zentraler Identitätsnachweis im digita-len Zeitalter werden. Dazu werden wir die Anwendungs-bereiche des neuen Personalausweises erweitern und dieNutzerfreundlichkeit verbessern.Das Thema Personalausweis bringt mich zu demzweiten Punkt: moderner Staat, moderne Verwaltung.Die Menschen in unserem Land wollen moderne IT-An-wendungen nicht nur von Google, Apple oder Microsoftsehen; sie wollen ebenso mit den Verwaltungsbehördenin Bund, Land und Kommune einfacher, sicherer undnutzerfreundlich kommunizieren. Dies muss überall inunserem Land gelten, in der brandenburgischen Ge-meinde Putlitz, in der sächsischen Stadt Torgau oder imBerliner Bezirk Treptow-Köpenick. Wir brauchen einezentrale Steuerung von Bundes wegen, um die IT-Ver-waltung der Kommunen, Länder und des Bundes zubündeln.Das E-Government-Gesetz, das in der letzten Wahl-periode verabschiedet wurde, hat hierzu einen Anstoßgegeben. Aber es ist in den Verwaltungen noch viel zutun; denn noch heute werden Akten in Behörde A ausge-druckt, per Post zu Behörde B verschickt und dort wie-der eingescannt. Das kann man niemandem mehr erklä-ren. Selbstkritisch müssen auch wir uns hier im Hausfragen, ob das papierlose Büro tatsächlich schon Realitätist. Ich denke, noch nicht ganz.Diese und viele andere Punkte zur Digitalisierung derVerwaltung werde ich gemeinsam mit den Innen- undNetzpolitikern meiner Fraktion sehr bald in einem eige-nen Antrag zum Regierungsprogramm „Digitale Verwal-tung 2020“ aufgreifen.
– Der ist natürlich eingeschlossen, Kollege von Notz.
Aber es ist gut, dass wir Sie als Erinnerer haben. Sie sindsozusagen der Kitt zwischen unseren beiden Fraktionen,wie ich hier sehe.
Ich komme zum Schluss. Gemeinsam werden wir dieSicherheit und das Vertrauen im Internet stärken. Wirwerden nutzerfreundliche, sichere und einfachere Kom-munikation mit und innerhalb der Verwaltung ausbauen.Mit unserer Digitalen Agenda werden wir nicht nur be-weisen, dass Bill Gates und Ron Sommer falsch lagen,sondern wir werden mit ihr auch Wachstum und Wohl-stand in unserem Land sichern.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Saskia Esken für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Endlich,möchte man sagen, diskutiert dieses Haus ebenso wiedie Öffentlichkeit auf allen Ebenen und Kanälen da-rüber, wie die Digitalisierung unser privates, unser ge-sellschaftliches und unser Arbeitsleben verändert undweiter verändern wird. Da ist die Rede von mehr Teil-habe am politischen Prozess und am Wissen dieser Welt,aber auch von Überwachung und der verloren gegange-nen Balance von Freiheit und Sicherheit ebenso wie vonData-Mining, also von Geschäftsmodellen, die auf derNutzung unserer persönlichen Daten basieren.
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Saskia Esken
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Wir wollen uns aber nicht Bange machen lassen undsprechen auch vom innovativen Staat, von der Moderni-sierung von Bildung und Wissenschaft, von neuen Mobi-litätskonzepten oder von einem zukunftsfähigen Ge-sundheitssystem. Wir sprechen von der viertenindustriellen Revolution und ihren weitreichenden Po-tenzialen für unsere Wirtschaft.Die SPD bringt ihre Erfahrung der vergangenen151 Jahre in diesen Prozess der Gestaltung von Zukunftsehr gerne ein. Wir haben schon einmal eine industrielleRevolution aktiv mitgestaltet. Heute wie damals geht esnicht nur um neue Produktionsmethoden. Es geht auchdarum, dass soziale Gerechtigkeit, gleiche Teilhabechan-cen und freiheitliche Bürgerrechte ihren angemessenenPlatz in der digitalen Welt behalten. Sowohl mit unseremProgrammprozess DigitalLEBEN als auch mit der Digi-talen Agenda der Koalitionsregierung nehmen wir So-zialdemokraten diese Herausforderung gerne an.Verkehrsminister Dobrindt hat deutlich gemacht, dassfür gleiche Teilhabe an der digitalen Entwicklung überallim Land der gezielte Ausbau des schnellen Internets inländlichen Regionen eine prioritäre Aufgabe sein muss.Eine digitale Spaltung des Landes müssen wir verhin-dern. Gerade für ländliche Regionen ergeben sich mitder Digitalisierung neue Chancen zur Bewältigung derdemografischen und der strukturellen Herausforderun-gen.
Damit alle Menschen in Deutschland kompetent undsouverän an den Errungenschaften der digitalen Weltteilhaben können, ist aber auch oder sogar zuallererst einWeiteres unabdingbar, und das ist die digitale Bildung.Schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen,die berufliche Aus- und Weiterbildung ebenso wie dieHochschulbildung und die Institutionen des lebensbe-gleitenden Lernens müssen sich in ihren Bildungszielenund in ihren Lehr- und Lernmethoden der Digitalisie-rung stellen.Die Digitale Agenda der Bundesregierung hat sichdazu vorgenommen:Der Bund wird gemeinsam mit den Ländern undweiteren Akteuren aus allen Bildungsbereicheneine Strategie „Digitales Lernen“ entwickeln, diedie Chancen der digitalen Medien für gute Bildungentschlossen nutzt, weiter entwickelt und umsetzt.Als Berichterstatterin meiner Fraktion für diesen Bereichfreue ich mich sehr darauf, diesen spannenden Prozessaktiv zu begleiten.
Die Bundesebene verfügt aber durchaus auch über ei-gene Wege und Werkzeuge, um das digitale Lernen inDeutschland voranzubringen. Dazu gehört die notwen-dige Weiterentwicklung gesetzlicher Regelungen wie– dies wurde alles schon angesprochen – das Urheber-recht, die Störerhaftung oder auch eine Open-Access-Strategie. Dazu gehört zweifellos auch die Qualitätsof-fensive Lehrerbildung, in deren Rahmen die medien-pädagogische Kompetenz von Lehrkräften gefördertwerden kann. Das ist auch nach deren Einschätzung eineder wichtigsten Grundlagen für die Digitalisierung desLernens.Ein weiteres mögliches Werkzeug des Bundes sehenwir in der gezielten Förderung und wissenschaftlichenBegleitung von Plattformen, auf denen freie, offene digi-tale Lehr- und Lernmaterialien entstehen können, soge-nannten Open Educational Resources. Entsprechend derKoalitionsvereinbarung würde ich mir wünschen, dassder Bund hier schon sehr bald erste Schritte geht, umvorhandene, gute Entwicklungen voranzutreiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehr-ten Damen und Herren, die Gestaltung einer freien undgerechten, positiven digitalen Zukunft kann dann gelin-gen, wenn digital souveräne Bürger gleichberechtigt anihr teilhaben. Die Strategie „Digitales Lernen“ wählt fürdiese Zielsetzung ebenso wie die gesamte digitaleAgenda der Bundesregierung den richtigen Weg: denWeg eines gemeinsamen, die politischen Ebenen über-greifenden gesamtgesellschaftlichen Projekts.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Peter Tauber.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat: Esist eine lebhafte Debatte. Da geht es nicht nur um Kra-wattenfarben, lieber Kollege von Notz – auch wenn dasein Punkt in der Debatte ist, der uns beide verbindenmag –, sondern wir haben schon gehört, dass es auch indiesem Hause den Versuch gibt, die Legende fortzu-schreiben, Bielefeld existiere wirklich.
Es gibt also viele Anknüpfungspunkte für eine span-nende und lebhafte Debatte.Mir ist ein Punkt zu Beginn sehr wichtig – ältere Kol-legen im Hause wie ich,
die in der letzten Legislaturperiode schon dabei waren,können das nachvollziehen –: Es wäre in der letzten Le-gislaturperiode wahrscheinlich nahezu ausgeschlossengewesen, dass wir an einem Donnerstag um diese Uhr-zeit in Anwesenheit von zwei Bundesministern über di-gitale Themen reden. Das zeigt – das ist etwas, was unsals Parlament in Gänze positiv stimmen sollte und waswir auch gemeinsam nach außen tragen sollten, auch die
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5532 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Peter Tauber
(C)
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Kollegen der Oppositionsfraktionen –, dass die Politik inDeutschland verstanden hat, welche Weichen wir aktuellzu stellen haben. Wenn wir sagen: „Wir müssen positivüber dieses Thema reden“, und wenn wir – ich habe denSchlagabtausch zwischen dem Bundeswirtschaftsminis-ter und dem Kollegen von Notz mit großem Interesseverfolgt – erkannt haben, dass Google-Bashing alleinnicht reicht, sondern dass wir uns fragen müssen: „Wastun wir eigentlich dafür, dass das nächste Google ausDeutschland oder aus Europa kommt?“, wenn wir dasverstanden haben und wissen, dass diese Debatte einenpositiven Impuls braucht, und wir alle das trotz Mei-nungsverschiedenheiten nach außen tragen würden,dann wäre in der Debatte viel gewonnen. Dazu möchteich auch die Kollegen aus den Oppositionsfraktionenanimieren. Das, was dieses Parlament mit der DigitalenAgenda in dieser Legislaturperiode im Vergleich zurletzten auf den Weg gebracht hat, ist ein echter Paradig-menwechsel; darauf sollte das Parlament in Gänze stolzsein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wenn wir einmal von der kurzfristigen Entwicklungabsehen und in die langfristige Perspektive wechseln,dann werden wir feststellen: Es braucht einen langenAtem. Die Wurzeln des Silicon Valley sind 1951 gelegtworden mit der Gründung des Stanford Industrial Parks.Der erste Boom des Silicon Valley, die erste disruptiveEntwicklung, begann bereits in den 70er- und 80er-Jah-ren; das ist dreißig Jahre her. Wenn wir wollen, dass inDeutschland und in Europa ähnliche Zentren entstehen– ob in Karlsruhe oder in Berlin –, dann müssen wir jetztGrundlagen legen. Wir können nicht erwarten, dass soetwas schon morgen Realität wird, sondern wir müssenin anderen Zyklen denken und nachdenken. Deswegenist es wichtig, dass wir in Europa einen gemeinsamenDatenschutz schaffen, der aber Innovationen fördert undder nicht angstgetrieben ist, der Neuerungen zulässt, derVertrauen schafft in die Fähigkeit von Unternehmen undin die Kompetenz des Staates. Auch da habe ich ein biss-chen die Sorge, dass ein Großteil unserer öffentlichenDebatte nicht den positiven Geist atmet, dass wir das ge-stalten können. Wir brauchen einen gemeinsamen Da-tenschutz in Europa. Wir brauchen eine europaweite Re-gelung der Netzneutralität,
bei der wir natürlich sagen: „Wir wollen Diskriminie-rungsfreiheit“; aber wir müssen doch zugleich Innova-tionen zulassen. Wir brauchen natürlich auch beim Urhe-berrecht Regelungen. Das heißt, wir haben eine volleTagesordnung. Ich finde, die Digitale Agenda, die dieBundesregierung hier vorlegt, ist ein starker Aufschlag.Wir sollten diesen Prozess positiv begleiten.Wahrscheinlich wird an einem Punkt ganz besondersdeutlich, dass sich etwas fundamental geändert hat – ei-nige Kolleginnen und Kollegen sind in der Debatteschon darauf eingegangen –: Wir merken diese Verände-rung so deutlich wie nie – das ist wahrscheinlich aufkeinem anderen Feld so –, wenn wir über Bildung reden.Der für mich entscheidende Punkt ist: Wir merken aufeinmal, dass die alte Regel „Die Jungen lernen von denAlten“ so nicht mehr gilt. Gerade im digitalen Wandelerleben wir, dass es die Jungen sind, die den Älteren et-was beibringen. Dafür müssen wir offen sein, das müs-sen wir annehmen.Es gibt jüngere Menschen, die diese Entwicklung vo-rantreiben. Die jungen Menschen gründen Unternehmenund investieren dann, wenn sie erfolgreich waren undGeld verdient haben, wieder in ihr Unternehmen. Ob je-des Mitglied des DAX-Vorstandes seine E-Mails selberliest, weiß ich nicht. Aber wenn er das nicht tut, ist dieFrage: Wie will er denn dann verstehen, was in der Wirt-schaft gerade geschieht? Da müssen wir anknüpfen undsagen: Wenn das der Wandel ist, dann müssen wir auchauf die jungen Menschen setzen und ihnen vertrauen.Wenn in 20 Jahren der eine oder andere seinen Kin-dern die Geschichte von Lukas dem Lokomotivführervorliest, dann bin ich mir, auch wenn heute die Lokfüh-rer streiken, ziemlich sicher,
dass die Kinder fragen werden: Warum brauchte mandenn damals einen Lokomotivführer? – Diesen Berufwird es dann wahrscheinlich nicht mehr geben.
Das zeigt, vor welchen Veränderungen wir gerade ste-hen. Weil das ein wunderschönes Buch ist, hoffe ich,dass es dann immer noch Eltern geben wird, die dieseGeschichte vorlesen. Aber das zeigt auch, dass wir aneiner Schwelle stehen und wie sehr sich unsere Weltverändern wird.Diese Entwicklung sollten wir nicht mit Sorge undAngst begleiten, sondern wir sollten die Chancen sehen.Wir werden diese Chancen aber nicht meistern, wennwir durch unsere Gesetze – ich komme immer wiederauf den Datenschutz zurück – Regeln schaffen, die zurFolge haben, dass es bei uns keine Innovationen mehrgeben wird, dass es Geschäftsmodelle und -ideen undauch Services am Ende gar nicht mehr in Deutschlandund Europa geben wird; denn durch unsere gesetzlichenRegelungen machen wir sie unmöglich. Ich glaube nicht,dass es erstrebenswert ist, so ängstlich zu sein. Ichglaube, wir sollten uns alle gemeinsam ein bisschenmehr zutrauen. Durch unser Verhalten wird die Grund-lage dafür gelegt, ob in Deutschland auf Dauer Wachs-tum und Beschäftigung gesichert werden können.Das Ganze ist natürlich ein Wirtschaftsthema, aber esist natürlich auch ein gesellschaftspolitisches Thema.Wir als Parlament spielen nicht nur in der Frage der Re-gulierung eine entscheidende Rolle, sondern wir spielenauch eine Rolle in der Frage: Trauen wir diesem Landeine positive Veränderung zu? Wenn wir bei diesemThema permanent negativ reden: Warum soll dann je-mand in diese Branche investieren? Warum soll sich ein
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5533
Dr. Peter Tauber
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junger Schüler kurz vor dem Ende der Schulzeit für einInformatikstudium entscheiden, wenn wir die Perspekti-ven von Big Data schlechtreden? Wenn wir immersagen: „Im Internet werden Daten immer nur miss-braucht. Diese ganze Technik ist per se etwas Schlech-tes“, warum soll sich dann jemand in diesem Feld eineZukunft aufbauen? Deswegen ist es unsere Aufgabe,über Perspektiven und Chancen zu reden und zu sagen:Wir müssen da etwas tun. Da geht noch etwas, geradefür uns in Deutschland. Schließlich haben wir vielejunge kluge Köpfe.
Der Bundesverkehrsminister hat nicht nur währendseiner Rede, sondern auch während der Debatte immerwieder einmal versonnen gelächelt; vielleicht ist er wirk-lich verliebt.
Ich finde, es gibt schlimmere Zustände; es sei ihm ge-gönnt.
– Ich weiß nicht, ob das nun für jemanden von den Grü-nen Anlass für eine Kurzintervention ist, wenn derMinister euch hier eine öffentliche Liebeserklärungmacht. Das lasse ich einmal so stehen, weil ich nicht fürden Minister sprechen muss, darf oder kann.
Wenn er verliebt ist, dann ist er wahrscheinlich, so ähn-lich wie die ganze Union, in den Erfolg und ins Gelingenverliebt.
Ich sage Ihnen: Wir werden die Sache mit dem Breit-bandausbau schaffen. Der Minister hat dafür unserevolle Unterstützung.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Martin Dörmann hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der letzten Legislaturperiode haben viele der heutigenRednerinnen und Redner in der Enquete-Kommission„Internet und digitale Gesellschaft“ zusammengesessen.Ich glaube, für uns alle war das ein Lernprozess, als wirdort angefangen haben, kontrovers zu diskutieren. Wirhaben aber im Lauf der Zeit gesehen: Die Dinge sindkomplex. Man kann auch zwei Meinungen gelten lassen.Dann muss am Ende mit demokratischer Mehrheit ent-schieden werden, was der richtige Weg ist.
Ich glaube, wir alle sollten uns eingestehen, dass nichtalle von uns direkt die perfekte Lösung für alles haben.Denn ich glaube, wir müssen verstehen, dass die Digita-lisierung eine so weitreichende Ausstrahlungskraft aufdie Gesellschaft, auf Veränderungen hat, dass wir nichtheute auf Knopfdruck für alles eine Lösung finden. Des-halb bin ich ein wenig enttäuscht, dass diese Differen-ziertheit, die wir in der letzten Wahlperiode ein Stückweit hatten, in der Debatte verloren gegangen ist,
weil die Opposition an vielen Stellen suggeriert hat: Jetztlegt ihr ein Konzept vor, aber morgen ist noch nicht allesgelöst.Entscheidend ist doch, ob wir den richtigen Weg be-schreiben, und der steht. Ich will das noch einmal anzwei Punkten deutlich machen. Zunächst eine Bemer-kung an Frau Kollegin Dr. Sitte, weil Sie mich auch per-sönlich angesprochen haben: Wir stimmen völlig darinüberein, dass die Digitalisierung auch Auswirkungen aufdie Arbeitswelt der Kreativen und Künstler hat. Ichglaube, die Zielsetzung ist klar: Wir müssen sie unter-stützen, wir müssen dafür sorgen, dass sie von ihrerArbeit auch leben können. Da spielt das Urheberrechteine wichtige Rolle. Sie haben das Thema Künstler-sozialkasse genannt. Dazu will ich aber sagen: Auch dahaben Sie suggeriert, wir hätten nichts getan. Fakt ist,dass wir vor der Sommerpause ein Gesetz zur Stabilisie-rung dieser Künstlersozialkasse verabschiedet haben,
und das tritt am 1. Januar 2015 in Kraft. Das einfach zunegieren, ist nicht richtig.Zweites Thema: Breitbandausbau. Wir sind uns dochalle einig darüber, dass das eine riesige Aufgabe ist.
Ich hätte zumindest einmal erwartet, dass berücksichtigtwird, welchen Quantensprung die Koalition hier vorhat.
Wir wollen nämlich 50 Megabit für alle erreichen. Wirhaben heute einen Ausbaustand von 63 Prozent. Wennman innerhalb von wenigen Jahren auf 100 Prozentkommen will, dann ist das ein Quantensprung. Uns allenist bewusst, dass das nicht Peanuts sind, über die wir re-den.
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5534 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Martin Dörmann
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Wir brauchen einen Mix.
Herr Kollege!
Ich will daran erinnern, dass die Koalition in der letz-
ten Woche einen sehr umfangreichen Antrag verabschie-
det hat, unser Breitbandkonzept mit vielen Bausteinen.
Und: Ja, dazu gehört auch Geld.
Kollege Dörmann, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Rößner?
Ja, gerne, Revanche ist immer gut, bitte.
Das ist nicht als Revanche gedacht, aber, lieber Kol-
lege Dörmann, wir haben in unserer Enquete-Kommis-
sion sehr konkrete Handlungsempfehlungen gegeben. Es
ist jetzt nicht so, dass wir auf alles eine Antwort hatten,
da gebe ich Ihnen recht. Es gibt sicherlich einige Fragen,
die noch nicht geklärt sind. Das Urheberrecht zum Bei-
spiel ist in vielen Facetten ein schwieriges Thema. Aber
es gibt trotzdem sehr konkrete Handlungsempfehlungen,
und die packen Sie jetzt nicht an. Sind Sie nicht auch der
Auffassung, dass, wenn man sagt, man will tatsächlich
einen Quantensprung hinbekommen, was den Breit-
bandausbau angeht, man möchte wirklich 2018 diese
50 Megabit erreichen, und eine Finanzierungslücke da
ist, die ganz offensichtlich mit der Versteigerung der Fre-
quenzen nicht geschlossen wird, es dann bedeuten muss,
dass der politische Wille da sein muss, Geld zur Verfü-
gung zu stellen und Förderprogramme aufzulegen? – Da
sehe ich von Ihnen leider keine Anstrengung. Das müs-
sen Sie mir einmal erklären.
Liebe Kollegin Rößner, das ist jetzt wirklich nicht ab-gesprochen gewesen, aber ich bin sehr dankbar für dieseZwischenfrage, weil ich sonst mit meiner Zeit nicht aus-gekommen wäre.
Was zum einen die Vorschläge der Enquete-Kommis-sion angeht, will ich daran erinnern, dass das ein Prozessüber mehrere Jahre war. Sie können nicht erwarten, dassinnerhalb von einem halben Jahr – denn seit dem Koali-tionsvertrag ist ein gutes halbes Jahr vergangen – alleGesetzentwürfe schon vorliegen. Aber wir sind auf demWeg. Sie wissen ganz genau: Die Digitale Agenda, überdie wir heute sprechen, hat so viele Facetten und einenRahmen dargestellt, dass wir ganz schön zu tun habenwerden, das rein arbeitstechnisch überhaupt in dieserLegislaturperiode umsetzen zu können. Aber das ma-chen wir.Zweiter Punkt: Finanzierung des Breitbandausbaus.Wir wollen einmal abwarten, was nächstes Jahr dannversteigert wird; denn die Versteigerung hat eine Beson-derheit: Wir wissen noch nicht genau, was heraus-kommt. Aber ich will daran erinnern, dass es Mindest-beträge gib, und es gibt insgesamt ein Frequenzpaket.Die Gesamtsumme des Frequenzpaketes, wenn man alleFrequenzen zusammennimmt, die nächstes Jahr dortversteigert werden, liegt – ohne dass es da zu einemBieterverhalten kommt – bei 1,5 Milliarden Euro. Dergrößte Teil davon ist übrigens dann nur für den Bund.Wenn es aber zu einer Versteigerung kommt, kannfür den Bereich, für den eine Mindestsumme von450 Millionen Euro eingetragen wurde, nämlich die 700-Megahertz-Frequenzen, durchaus ein Mehrfachesherauskommen. Die Bundesnetzagentur wird eineFrequenzknappheit feststellen. Das führt dann automa-tisch zu einer Versteigerung. Wir alle wissen nicht, wasdabei herauskommt.Ich gebe Ihnen aber recht, dass wir uns nicht nur da-von abhängig machen können, was am Ende heraus-kommt, sondern dass sich die Koalition darauf verstän-digen muss, dass wir in jedem Fall einen substanziellenBeitrag des Bundeshaushaltes dort einsetzen. Darin sindwir uns, glaube ich, in der Koalition auch einig. So habeich die Debatte in unserem Ausschuss verstanden.
Warten Sie doch erst einmal ab, was wir dann zusammenhinbekommen! Denn wie Sie wissen, müssen wir dazunoch mit den Ländern zusammenkommen. Aber dabeisind wir auf einem guten Weg.
Ich kann an dieser Stelle, um die Zwischenfrage nichtzu sehr zu strapazieren, auch gleich weitermachen. Dennin der Tat: Worin liegt das Hauptproblem beim Breit-bandausbau? Das ist die Wirtschaftlichkeitslücke vorallem bei den letzten 20 Prozent der Fläche, die derzeitnicht wirtschaftlich geschlossen werden kann. Dabeigeht es übrigens nicht nur um öffentliches Geld, sondernes geht in erster Linie auch um privates Geld, das dortinvestiert werden soll. Denn für 1 Milliarde Euro öffent-liche Mittel könnten wir 3 Milliarden Euro private In-vestitionen generieren. Je höher dieser Betrag ist, destobesser ist es also. Gerade angesichts der konjunkturellenUnwägbarkeiten der nächsten Jahre – wir wissen nochnicht genau, in welche Richtung sich das entwickelt –wäre das ein super Konjunkturprogramm.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5535
Martin Dörmann
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Wenn wir es hinbekommen, das, was an privatenInvestitionen angekündigt ist – 8 Milliarden Euro 2015laut Netzallianz Digitales Deutschland –, und das, wasdarüber hinaus noch notwendig ist, um unser Ziel, die di-gitale Spaltung in Deutschland zu überwinden, zu errei-chen, dann wird eine hohe zweistellige Milliarden-summe zusammenkommen. Diese muss übrigens aucherst einmal sozusagen verbuddelt werden. Das geschiehtschließlich nicht auf Knopfdruck.Insofern glaube ich, dass die Ziele der Bundesregie-rung bzw. der Koalition an dieser Stelle durchaus einenrealistischen Hintergrund haben. Ich würde mich freuen,wenn alle Kolleginnen und Kollegen daran mitwirken,dass wir zu einer Einigung mit den Ländern kommenund die Themen DVB-T2, drahtlose Produktionsmittelund Mikrofone gelöst bekommen. Wir sind auf dem Wegdahin.Am 12. Dezember soll es bei einem Treffen derBundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten zu einemBeschluss kommen. Wir arbeiten daran, dass das gelingt.Dann ist auch der Weg bereitet, den Breitbandausbauentscheidend nach vorne zu bringen. Nicht zuletzt hatdiese Bundesregierung die digitale Infrastruktur als ers-tes Maßnahmenpaket in ihrer Digitalen Agenda benannt.Wir sollten alles daransetzen, dass das umgesetzt wird.Denn das ist die wirkliche Grundlage dafür, dass dieDigitalisierung umgesetzt werden kann und ein Gewinnfür die Gesellschaft wird.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/2390 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Der Antrag auf Drucksache 18/2880 soll an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesenwerden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Frak-tionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführungbeim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführungbeim Ausschuss Digitale Agenda.Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, alsoFederführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke undder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, alsoFederführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener-gie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Über-weisungsvorschlag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion DieLinke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenBeate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae,Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENSolidarität im Rahmen der Tarifpluralitätermöglichen – Tarifeinheit nicht gesetzlichregelnDrucksache 18/2875Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Heute ist genau der richtige Tag, umendlich über die geplante gesetzliche Tarifeinheit zu dis-kutieren. Es geht dabei immerhin um ein Grundrecht;denn „jedermann und jeder Beruf“ hat das Recht, sich inGewerkschaften zu organisieren und über Tarifverträgezu verhandeln. Das bedeutet nichts anderes als Tarif-pluralität. Von daher geht es heute trotz Streik nicht umGDL und auch nicht um Cockpit, sondern um die Koali-tionsfreiheit und die Tarifpluralität, und die gehören zuden Grundprinzipien unserer Demokratie.
Die Tarifpolitik aber lebt selbstverständlich vonSolidarität innerhalb und zwischen den Gewerkschaften.Im Rahmen der Tarifpluralität erwarten wir also Koope-rationen. Nur solidarisch, nur gemeinsam können dieGewerkschaften alle Beschäftigten angemessen vertre-ten. Diese Solidarität wird aber gerade beeinträchtigt.Schuld daran sind weder das BAG-Urteil noch die Tarif-pluralität. Schuld daran ist die seit vier Jahren andau-ernde unsägliche Diskussion über eine gesetzliche Ta-rifeinheit. Wenn sich die Politik einmischt und anfängt,zwischen erwünschten und nicht erwünschten Gewerk-schaften zu unterscheiden, und ein Gesetz in Aussichtstellt, das elementar die Existenzberechtigung von Ge-werkschaften infrage stellt, dann müssen sich die Arbeit-geber nicht ernsthaft auf Tarifverhandlungen einlassen.Vor allem befeuert das zwangsläufig die Konkurrenzzwischen den Gewerkschaften; denn es geht immerhinum ihre Existenz. Deshalb fordern wir heute: Beenden
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Beate Müller-Gemmeke
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Sie endlich die Diskussion über die gesetzliche Tarifein-heit! Denn Solidarität lässt sich nicht verordnen undschon gar nicht gesetzlich erzwingen.
Die gesetzliche Tarifeinheit ist auch nicht notwendig.Nach dem BAG-Urteil im Jahr 2010 wurden Krisen,Chaos und englische Verhältnisse vorausgesagt. Heute,vier Jahre später, ist aber klar: Eine Flut von Arbeits-kämpfen ist definitiv ausgeblieben. Nehmen Sie das end-lich zur Kenntnis!
Weder sind neue streikfähige Gewerkschaften entstan-den, noch hat die Zahl der Arbeitskämpfe zugenommen.Seit 2010 waren alle relevanten Berufsgewerkschaftenzusammen gerade einmal in 29 Tarifkonflikte verwi-ckelt. Zum Vergleich: Bei Verdi waren es rund 600 undbei der NGG rund 110 Arbeitskämpfe. Auch wenn GDLund Cockpit bei den aktuellen Tarifverhandlungen strei-ken, gilt mit Blick auf die gesamten letzten Jahre den-noch: Ein Streikchaos sieht anders aus.
Die gesetzliche Tarifeinheit ist wahrlich auch kein„Wünsch dir was“-Thema, um Arbeitgeber zu beglü-cken; denn die gesetzliche Tarifeinheit ist ein Eingriff indie verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit.Und das lehnen wir strikt ab.
So warnt beispielsweise der ehemalige InnenministerGerhart Baum – seine Kanzlei hat immerhin vier Verfas-sungsbeschwerden durchgefochten –:Der Gesetzgeber sollte das Vorhaben der Tarifein-heit aufgeben, wenn er keinen verfassungsrechtli-chen Schiffbruch erleiden will.Sie von den Regierungsfraktionen sollten endlich dieEinschätzungen namhafter Rechtsexperten ernst neh-men.
Auch die Umsetzung wirft eine Menge Fragen auf:Wie wird „Betrieb“ definiert? Kann der Arbeitgeber zu-künftig Einfluss darauf nehmen, welche Gewerkschaftdie Mehrheit im Betrieb hat? Wenn ja, dann wäre dasfatal. Wie wird die Zahl der Mitglieder ermittelt, undwas passiert bei gleichen oder wechselnden Mehrheits-verhältnissen? Wie kann überhaupt noch ein Flächen-tarifvertrag ausgehandelt werden? Und ganz wichtig:Wie sieht es eigentlich mit dem Streikrecht aus?Für uns ist und bleibt die gesetzliche Tarifeinheit einAngriff auf das Streikrecht. Und das ist nicht akzeptabel.
Die Bundesregierung will diese Frage aber im Gesetznicht regeln. Das führt in der Konsequenz zu unzähligenGerichtsverfahren. Sie wissen aber – das gilt insbeson-dere für die SPD –: Das Bundesarbeitsgericht fordert fürjeden Streik ein „tariflich regelbares Ziel“. Minderhei-tengewerkschaften können dann also nicht mehr legalzum Streik aufrufen. Das Thema ist elementar wichtig.Sie müssen hier endlich Farbe bekennen – insbesonderedie SPD!All das spricht insgesamt gegen eine gesetzlicheTarifeinheit. Wir Grünen setzen auf Solidarität undKooperationen zwischen den Gewerkschaften. Dasfunktioniert aber nicht per Gesetz, sondern nur freiwil-lig, und das ist nicht Aufgabe der Politik, sondern Auf-gabe der Gewerkschaften.Sehr geehrte Mitglieder der Regierungsfraktionen,zum Schluss noch ein anderer Aspekt, der mich wirklichärgert. Die Ministerin behauptet, die Spartengewerk-schaften legen „die Axt an die Wurzeln der Tarifautono-mie“.
Auch die Arbeitgeber sagen, die Berufsgewerkschaftenwürden das sorgfältig austarierte Tarifgefüge aus derBalance bringen. Letzteres kann ich nur als scheinheiligbezeichnen. Tarifflucht, also Mitgliedschaft ohne Tarif-bindung, Ausgliederungen, Leiharbeit, Werkverträgeund auch das Aufweichen von Flächentarifverträgen –das sind die Gründe für die Zersplitterung der Tarifland-schaft. Nicht die Tarifpluralität, sondern diese jahrelangePraxis der Arbeitgeber ist ein Angriff auf die Tarifauto-nomie. Die logische Konsequenz ist nicht die Einfüh-rung einer gesetzlichen Tarifeinheit, sondern sind sozialeLeitplanken in der Arbeitswelt. Nur so wird die Tarifau-tonomie tatsächlich gestärkt.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU hat der Kollege Karl Schiewerling
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, den Rah-men zu setzen, um den es eigentlich in dieser Debattegeht. Anlass der aktuellen Diskussion, die wir jetzt erle-ben, ist eine vor vielen Jahren durchgeführte Klage einesArztes aus einem Krankenhaus, der weiterhin gerne nachBAT bezahlt worden wäre, während das Krankenhaussagte: Nein, alle Beschäftigten unterstehen jetzt demTVöD. Mit Verdi haben wir den Tarifvertrag vereinbart. –Normalerweise gelte für ihn jedoch – so war die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5537
Karl Schiewerling
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Meinung des Arztes – der Tarifvertrag, der für denMarburger Bund gilt. Das war der Anlass, warum dasBundesarbeitsgericht im Vierten und Zehnten Senat dieüber 50-jährige Rechtsprechung aufgegeben und damitdem bis dahin gültigen Grundsatz der Tarifeinheit einEnde gesetzt hat.Die Grundlage dieser Tarifeinheit ist übrigens – dasist spannend – 1954 gelegt worden, und zwar durch dendamaligen ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts,der in einer Lehraussage – apodiktisch, mit nur einemSatz – gesagt hat: In einem Betrieb gilt ein Tarifvertrag.– Er hat das anschließend nur ganz vorsichtig begründet.Auf diesen Satz hat sich 56 Jahre lang die kompletteArbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland berufen. Sie hatdanach ihre Urteile zum Beispiel über die Verhältnis-mäßigkeit von Streiks usw. gefällt. Das ist im Jahr 2010beendet worden. Deswegen diskutieren wir die Frage derTarifeinheit; denn wir stehen natürlich vor der Frage,welche Auswirkungen es haben wird, wenn die Recht-sprechung, die 56 Jahre lang gegolten hat, jetzt plötzlichnicht mehr gilt.Meine Damen und Herren, uns ist wichtig, bei diesemPunkt einige Dinge sachlich auseinanderzuhalten.
Die Tarifautonomie und das Recht von Menschen,Gewerkschaften zu bilden, ist in Artikel 9 Absatz 3 derVerfassung geregelt. Es ist ein ganz hohes Rechtsgut,dass sich Menschen zusammenschließen können, umihre Interessen zu vertreten, auch wenn es um wirtschaft-liche Interessen – sprich: Berufsgewerkschaften – geht.Das ist das eine.Auf der anderen Seite gibt es aber etwas, was nichtgesetzlich festgeschrieben ist, was sich aber in derUnternehmenskultur in Deutschland eingebürgert undwas uns zu hohem Wohlstand geführt hat, nämlich derBetriebsfrieden. Das hat dazu geführt, dass Deutschlandbis heute weltweit eines der Länder ist, in denen amwenigsten gestreikt wird. Es geht jetzt darum, nach demUrteil des Bundesarbeitsgerichtes zu überprüfen, wieman sich denn zwischen diesen beiden Polen, dem Arti-kel 9 Absatz 3 der Verfassung und dem guten Brauchdes Betriebsfriedens, auf eine Lösung verständigenkann.Wir wissen auch, dass sich die Tarifkonkurrenz vonBranchen- und Spartengewerkschaften gegenseitig auf-schaukeln kann.
Wir wissen darüber hinaus, dass ein Überbietungswett-bewerb stattfinden kann. Das erleben wir zurzeit bei ei-nigen Arbeitgebern. Ein solcher Wettbewerb könnteauch auf eine betriebliche Lohnpolitik und letztendlichauf Machtpositionen von Berufsgruppen Auswirkungenhaben. Darunter leiden nicht nur Unternehmen, sondernes könnte auch dazu kommen, dass gesamtgesellschaftli-ches Konfliktpotenzial entsteht.Ich sage allerdings an dieser Stelle sehr deutlich, weiles dazu einen aktuellen Bezug gibt: Entgegen dem, wasdie Überschriften einiger Tageszeitungen vermutenlassen, bedeuten die Konflikte bei der Bahn und imLuftverkehr, die wir derzeit erleben, nicht, dass be-stimmte Gewerkschaften unsere gesamte Volkswirt-schaft im Griff haben oder diese gar am Ende ist. Das,was geschieht, ist ärgerlich für die, die mit dem Fliegeroder mit der Bahn unterwegs sind; aber es bedeutet nochnicht das Ende der Prosperität unserer Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, wie könnten diese Pro-bleme gelöst werden? Wenn Artikel 9 Absatz 3 desGrundgesetzes die verfassungsmäßige Grundlage für dieBildung einer Vereinigung darstellt, dann heißt das: EineGewerkschaft ist nur dann eine Gewerkschaft, wenn sieauch streiken kann.
Wenn sie das nicht kann, kann sie nicht wirken. Insofernliegt hier die natürliche Grenze für Regelungen.
Wir müssen nach unserer festen Überzeugung einegesetzliche Regelung auf den Weg bringen, die, nach-dem der Grundsatz der Tarifeinheit weggefallen ist,Stufen enthält und wodurch letztendlich die Konsens-findung in einem Betrieb oder in einer Branche mitunterschiedlichen Gewerkschaften, aber mit gleichenZielgruppen geregelt wird. Diese Stufen müssen so aus-gestaltet sein, dass man am Ende möglichst zu einemvon allen Seiten akzeptierten Tarifvertrag kommt. Wennich sage „möglichst“, heißt das, dass es bei dem Ganzenam Ende dazu kommen kann – das wissen wir auch –,dass es keinen Konsens gibt; denn man kann einer Ge-werkschaft letztendlich nicht verbieten, zu streiken.
Aber jede Gewerkschaft, auch eine kleine Gewerk-schaft – selbst wenn sie nur sechs Mitglieder der Berufs-feuerwehr in einem kleinen Betrieb repräsentiert –, musssich dann überlegen, ob ihr Streik verhältnismäßig ist.Wenn nämlich ein Gericht feststellt, dass er nicht ver-hältnismäßig ist, kann es für diese sechs Mitglieder derBerufsfeuerwehr oder für die entsprechende Gewerk-schaft teuer werden, weil sie dann auf Schadensersatzverklagt werden kann. Deswegen wäre zu überlegen, in-wieweit in einem solchen Gesetz wenigstens der eineoder andere Stichpunkt zur Verhältnismäßigkeit vonStreiks mit aufgenommen werden könnte – ein Punkt,über den man zumindest nachdenken sollte.Meine Damen und Herren, auch uns in der Union gehtes um das hohe Gut der Tarifautonomie. Wir haben sienicht umsonst im ersten halben Jahr dieses Jahres, alswir über die Mindestlohngesetzgebung und die Tarif-gesetzgebung diskutiert haben, immer wieder in denMittelpunkt gestellt. Es geht auch um das Grundrecht
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5538 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Karl Schiewerling
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unserer Gesellschaft, sich frei zusammenzutun und ge-meinsam Interessen zu vertreten.Es geht aber auch um die Frage der Tarifverträgeselbst. Unter jedem Tarifvertrag stehen zwei Unter-schriften, nämlich die des Arbeitgebers und die derArbeitnehmervertretung, der Gewerkschaften. Kein Ar-beitgeber ist gezwungen, mit einer Gewerkschaft, dienur 60 Mitglieder hat, einen Tarifvertrag abzuschließen.
Kein Arbeitgeber darf sich eigentlich hinterher bekla-gen, wenn er, nachdem er ganz viele Tarifverträge abge-schlossen hat, weil in seinem Unternehmen so viele Inte-ressensgruppen vertreten sind –
das ist zum Beispiel bei der Lufthansa, bei Fraport oderanderswo der Fall –, in Bedrängnis gerät, weil eine derGewerkschaften anfängt zu streiken.Ein weiterer Punkt ist mir in diesem Zusammenhangwichtig: Augenmaß bewahren.
Jede Gewerkschaft weiß, dass ein Streik, der von derübrigen Belegschaft nicht akzeptiert ist oder gesell-schaftlich nicht mitgetragen wird, nicht von langerDauer sein wird;
einen solchen Streik hält eine Gewerkschaft politischnämlich nicht durch.Deswegen rate ich uns dazu, zwar ein Gesetz auf denWeg zu bringen, in dem einzelne Schritte treppenförmigund vielleicht noch der eine oder andere Punkt geregeltsind, aber bitte nicht zu erwarten, dass dieses Gesetz dasWunder bewirkt, alle Probleme, die sich aus einer tarif-lichen Auseinandersetzung ergeben, abschließend zulösen. Wir werden auch in Zukunft auf entsprechendeUrteile der Gerichte angewiesen sein. Dazu gehört ebenauch die Klärung der Frage der Verhältnismäßigkeitbzw. der Verantwortung für den Betrieb und für den Be-triebsfrieden. Wir werden uns bei der anstehenden Ge-setzesmaßnahme an diese Leitlinien halten.Ich bin ganz sicher, dass die derzeit laufenden Ge-spräche der Bundesarbeitsministerin im Auftrag derBundesregierung – solche Gespräche führt sie zurzeitauch mit den Gewerkschaften – auch die Früchte tragenwerden, die nötig sind, um ein Gesetz vorzulegen, dasdann in allen Bereichen konsensfähig ist.Herzlichen Dank.
Kollege Schiewerling, nicht nur deshalb, weil Sie
noch Redezeit haben, sondern vor allen Dingen deshalb,
weil die Kollegin Müller-Gemmeke sich gemeldet hat,
frage ich Sie: Sind Sie bereit, noch auf eine Frage oder
Bemerkung der Kollegin einzugehen?
Ja. – Soll ich noch mal ans Rednerpult?
Ja.
Das ist eine Premiere! Das habe ich auch noch nicht
erlebt! Es gibt Leute, die kriegen zweimal Redezeit!
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege. – Das hat sich ja alles sehr moderat angehört.
Sie sprechen von Schritten, Treppen usw. Ich möchte
noch einmal ganz konkret nachfragen: Wird das Gesetz
denn die Regelung enthalten, dass am Ende die Gewerk-
schaft, die die meisten Mitglieder hat, tatsächlich den
Tarifvertrag abschließen kann und ein Tarifvertrag mit
einer Gewerkschaft, die weniger Mitglieder hat, keine
Anwendung findet? Ist das konkret geplant? Das würde
ja zum Teil bedeuten, dass selbst Gewerkschaften, die ei-
nen extrem hohen Organisationsgrad haben, beispiels-
weise 80 Prozent, am Ende doch nicht den Tarifvertrag
abschließen könnten.
Ich bleibe bei der Aussage, die ich vorhin getroffen
habe: Wir werden am Ende kein verfassungskonformes
Gesetz hinbekommen, das einer Gewerkschaft den
Streik verbieten wird.
Wir werden das nicht hinbekommen; das wissen wir
auch.
Wenn Sie mich fragen, wie das Gesetz aussieht, fra-
gen Sie mich zu viel. Es liegt noch nicht vor. Wir haben
es noch nicht einmal erörtert. Wir sind ganz gespannt,
wie das Gesetz, das man uns vorlegen wird, aussehen
wird. Wenn es vorliegt, werden wir es gemeinsam mit
Ihnen gut beraten. Ich bin ziemlich sicher, dass wir zu ei-
ner vernünftigen Lösung kommen werden.
Der Kollege Klaus Ernst hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Schiewerling, das war sehr schön gesagt,auch der Schluss. Darauf, wie Sie das dann hinkriegen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5539
Klaus Ernst
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wollen, bin ich gespannt; ich komme gleich noch daraufzurück.Meine Damen und Herren, wenn man hierzulandeüber das Streikrecht redet oder wenn man die medialeBerichterstattung darüber verfolgt, auch jetzt wieder,dann hat man den Eindruck, man habe es mit einerNaturkatastrophe zu tun, die nur noch von Tsunamisoder Hochwasser übertroffen wird. Ich möchte es nocheinmal in aller Klarheit darstellen: Streik ist ein Grund-recht. – Das ist auch sehr schön gesagt worden.Ein Blick in die Realität zeigt auch, dass in dieser Re-publik keineswegs zu viel gestreikt wird. Die Statistikensind Ihnen doch auch zugänglich. Es gibt nur zwei Län-der, in denen noch weniger gestreikt wird als hier, unddas sind die Schweiz und der Staat Vatikanstadt.
Wir hätten also überhaupt keinen Grund, uns über dieStreikhäufigkeit als Problem für unsere Ökonomie ernst-haft zu unterhalten, aber wir tun es.Meine Damen und Herren, selbstverständlich werdenimmer die Gewerkschaften für Streiks verantwortlichgemacht. Warum eigentlich? Wer die betriebliche Reali-tät kennt, der weiß, dass viel passieren muss, bevor einArbeitnehmer in Deutschland wirklich einmal streikt.Die Zahl der Streiktage beweist das auch. Das heißt,wenn ein Streik stattfindet, hat es vorher im Betrieb ge-kracht. Da hat ein Unternehmen einen großen Konfliktmit der Belegschaft. Der Konflikt kann um Löhne gehen,er kann um die Absenkung von Standards gehen – wiebei den Piloten – oder um Ähnliches. Aber in der Öffent-lichkeit werden immer die Gewerkschaften für Streiksverantwortlich gemacht – Sie machen das auch –; dassind dann die Bösen.Mir kommt das so vor wie bei einem Brand. Bei ei-nem Brand kommt die Feuerwehr; das Haus wird nassund unbewohnbar. Da sagt doch keiner, die Feuerwehrsei schuld. Schuld ist vielmehr derjenige, der vorher ge-zündelt hat, hier vielleicht der Arbeitgeber, meine Da-men und Herren. Insofern bitte ich um eine faire Be-trachtung dessen, was Streik eigentlich ist.
Die Arbeitgeber sind bei Streiks im Übrigen immer inder besseren Situation: Sie müssen nicht streiken, umdas zu kriegen, was sie wollen; sie haben es schon. DieArbeitnehmer sind immer in der dummen Situation, dasssie den Arbeitgebern ein Stück weit das wieder nehmenmüssen, was diese ihnen freiwillig nicht geben. Deshalbbeim Streik und bei der Betrachtung desselben ein wenigVorsicht!Erst diskutieren wir, dass man die Tarifautonomiestärken muss. Beim Thema Mindestlohn hat das einegroße Rolle gespielt. Jetzt diskutieren wir aber plötzlichganz etwas anderes; wir diskutieren über die Einschrän-kung des Streikrechts. Meine Damen und Herren, ichwar erschüttert über die Aussage von Frau Nahles imZusammenhang mit Streiks von Spartengewerkschaften.Da sagte sie – Zitat –:Das untergräbt den Zusammenhalt in unseremLand, und es legt die Axt an die Wurzeln der Tarif-autonomie.Was ist denn das für ein Unfug: „Wenn einer streikt, ge-fährdet er die Tarifautonomie“?
Die Tarifautonomie ist geschützt. Sie wird durch einenStreik angewendet. Ich glaube, die Frau Nahles hat vonStreiks wirklich null Ahnung; ansonsten kann man so ei-nen Unfug nicht erzählen.
Meine Damen und Herren, jetzt sagen Sie – ich kannja auch lesen – Folgendes: Das Streikrecht wird nichteingeschränkt, sondern es wird geregelt, dass nur der Ta-rifvertrag der größeren Gewerkschaft wirkt. Sie wissenaber selber, dass es rechtlich so ist, dass nur gestreiktwerden darf, um einen Tarifvertrag zu erreichen. WennSie das so regeln, bedeutet das im Ergebnis, dass Sie denStreik faktisch aushebeln. In der Antwort auf unsereKleine Anfrage haben Sie das folgendermaßen formu-liert:Das Recht, durch Arbeitskampfmaßnahmen denAbschluss eines Tarifvertrags zu erzwingen, ist vonder Frage zu trennen, ob ein Tarifvertrag angewen-det wird.Respekt! Das wäre genauso, als wenn man sagen würde:Das Recht, vom Zehnmeterbrett in das Becken zu sprin-gen, ist von der Frage zu trennen, ob Wasser im Beckenist.
Für wie blöd halten Sie eigentlich die Menschen in die-sem Lande, meine Damen und Herren? Streikrecht istein Grundrecht!Abschließend sage ich: Wenn Sie sich über die Zer-splitterung von Tariflandschaften ernsthaft Gedankenmachen wollen, dann sollten Sie sich mit Leiharbeit, Be-fristung und Werkverträgen beschäftigen.
Es gibt eine große Zahl von Menschen, die in den glei-chen Betrieben teilweise vollkommen andere Tarifver-träge haben. Ich habe noch nie – auch nicht während Ih-rer Regierungszeit – eine Initiative erlebt, mit dergefordert worden wäre, dass man das, bitte schön, wie-der einheitlich regeln müsse. Jetzt, wo sich einige weh-ren und sich nicht mehr gefallen lassen, dass sie von derwirtschaftlichen Entwicklung abgehängt werden, habenwir hier das große Geschrei.Ich sage nur: Hände weg vom Streikrecht, meine Da-men und Herren!
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5540 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Klaus Ernst
(C)
(B)
Der Kollege Bernd Rützel hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden
heute über den Antrag der Grünen, in dem sie fordern,
dass keine Regelung für den Fall angestrebt werden
solle, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge für
dieselben Arbeitsverhältnisse gelten. Stattdessen soll die
jetzige Situation unverändert fortbestehen, dass nämlich
diejenigen, die Schlüsselpositionen im Betrieb besetzen,
ihre eigenen Interessen durchsetzen können.
Es gibt jedoch Budgetgrenzen. Oder anders ausge-
drückt: Der Kuchen kann nur einmal verteilt werden.
Die Durchsetzung von Partikularinteressen einer Sparte
durch Streik wirkt sich, was den Verteilungsspielraum
angeht, gegen alle anderen Beschäftigten im Betrieb aus.
Das, lieber Kollege Klaus Ernst, entspricht dem, was
Andrea Nahles gesagt hat, dass nämlich die Solidarität
auf der Strecke bleibt. Schon lange Zeit vorher hat schon
der Apostel Paulus sinngemäß gesagt: Starke Schultern
tragen mehr.
Ich sage hier keinesfalls – es ist mir wichtig, das zu
betonen –, dass die Tarifforderungen mancher Sparten-
gewerkschaften überzogen sind. Das liegt mir fern. Mit
Sicherheit haben sie ihre Berechtigung. Das ist Sache
der Tarifpartner. Ich sage aber schon, dass ein Zug nicht
nur deshalb fährt, weil ein Lokführer vorne sitzt, und
dass ein Flugzeug nicht nur deshalb fliegt, weil Piloten
darin sitzen.
– Ohne geht es auch nicht! Ohne Pilot fliegt kein Flug-
zeug, ohne Lokführer fährt kein Zug, und ohne Chirurg
gelingt auch keine Operation. Wir brauchen aber auch
die Krankenschwester, wir brauchen den Rangierer, wir
brauchen den Wagenmeister, wir brauchen den Narkose-
arzt und die Assistentin sowie Bodenpersonal wie zum
Beispiel den Flugzeugbetanker. Es geht doch um ein
großes Getriebe. Es gibt viele Zahnräder bzw. Men-
schen, die da mitarbeiten. Alle sind wichtig: jeder in sei-
ner Bedeutung und auf seinem Platz. Und nur, wenn alle
zusammenarbeiten, funktionieren die Schweizer Uhr
oder die Bahn oder das Krankenhaus oder die Luftfahrt.
Diese innerbetrieblichen Verteilungskämpfe gefähr-
den – darüber haben wir heute auch gesprochen – den
Betriebsfrieden. Er ist gefährdet, wenn sich diese Dis-
kussionen in die Tarifverhandlungen hineinverlagern.
Kollege Karl Schiewerling hat es schön erklärt, warum
uns diese Tarifeinheit über sechs Jahrzehnte hinweg in
Deutschland zu Wohlstand verholfen hat. Es war stän-
dige Rechtsprechung. Wir haben uns darauf verlassen
können: die Betriebe, die Gewerkschaften, die Beleg-
schaft – vor allem die Betriebe selbst konnten so immer
weiter wachsen und daraus Wert schöpfen. Ich erinnere
daran, dass bei Tarifautonomie die sogenannte Ord-
nungs- und Befriedungsfunktion extrem wichtig ist.
Es ist also mitnichten so, dass sich das Bundesarbeits-
gericht gegen die Tarifeinheit hin zu Auflösung in Tarif-
pluralität entschieden hat. Es mahnte lediglich an, dass
es dazu lange keine gesetzliche Grundlage gab.
Herr Kollege Rützel, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Ernst?
Ja, bitte.
– Es ist ihm halt noch etwas eingefallen.
Es ist doch schön, wenn die Debatte ein bisschen be-lebter wird, sonst wird sie vielleicht ein bisschen fade. –Ich möchte folgende Frage stellen, Kollege Rützel. Auchvor der Änderung der Rechtsprechung des Bundesar-beitsgerichtes gab es ja unterschiedliche Gewerkschaf-ten. Die Rechtsprechung sah nun vor, dass der jeweilsspeziellere Tarifvertrag zur Geltung kam, wenn es kon-kurrierende Tarifverträge gab. Der jeweils speziellereTarifvertrag – so die Interpretation – war der Tarifver-trag, der auf Betriebsebene abgeschlossen wurde. Erwurde dann dem Flächentarifvertrag immer vorgezogen.Das führte im Ergebnis dazu – ich habe das selber erlebt –,dass mit kleineren Gewerkschaften – zum Beispiel dieChristliche Gewerkschaft Metall, die kaum Mitgliederhatte – ein Tarifvertrag abgeschlossen wurde und die Ar-beitnehmer dann schlechter bezahlt wurden als nach demFlächentarifvertrag. Das wurde allgemein akzeptiert. Ichhabe keine Initiative der Politik gespürt, dieses Tarif-dumping zu beenden. Jetzt haben wir plötzlich eine an-dere Situation. Die kleineren Gewerkschaften versuchen,im Niveau oft mehr zu erreichen, als eine größere Ge-werkschaft – aus welchen Gründen auch immer – in derFläche erreicht hat.Könnte es sein, dass das Motiv, jetzt gesetzlich einzu-greifen, darin begründet liegt, dass die Tarifverträge jetztin der Tendenz nach oben gehen, während sie, als derspeziellere Tarifvertrag, also der betriebsnähere Tarifver-trag galt, eher in der Tendenz nach unten gingen? Wärees im Sinne einer gemeinsamen Gewerkschaftsbewe-gung nicht sinnvoller – natürlich sind gemeinsame Ge-werkschaften besser als verschiedene zersplitterte –, da-rauf hinzuwirken, dass die einzelnen Gewerkschaftendies unter sich regeln, als eine gesetzliche Regelung zumachen?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5541
Klaus Ernst
(C)
(B)
Lieber Klaus Ernst, Sie waren Gewerkschafter. Man
ist das immer; es hört nicht auf. Auch ich bin Gewerk-
schafter. Es kann niemand etwas dagegen haben, dass
man als Gewerkschaft, als Interessenverband so viel wie
möglich für seine Mitglieder herausholt. Das ist berech-
tigt, das ist verdient. Die entscheidende Frage ist doch,
ob ich das Ganze im Blick habe oder ob ich speziell auf
manche Gruppen schiele. Ich habe das gerade an dem
Bild des Betriebes erklärt. Wenn sich nur manche – ich
will nicht sagen, dass es zu viel ist; um Gottes willen –
etwas nehmen, bleiben andere auf der Strecke.
Ich glaube schon, dass die Politik die Aufgabe hat, hier
ausgleichend zu reagieren.
Ich will eines sagen – ich fahre mit meiner Rede fort;
Sie können die Uhr weiterlaufen lassen –: Die Bundesre-
gierung lotet momentan unter Federführung der Arbeits-
ministerin eine entsprechende gesetzliche Regelung aus.
Ich gebe zu, es ist ein sehr schmaler Grat, auf dem man
sich bewegt.
Auf der einen Seite stehen die Festschreibung des Mehr-
heitsprinzips in den Betrieben – das ist vorhin angespro-
chen worden – und die Ordnung des Verfahrens, und auf
der anderen Seite steht das Recht von Vereinigungen, die
Tarifverhandlungen frei zu führen und dafür auch zu
streiken.
Kollege Rützel, es gibt einen weiteren Wunsch zu ei-
ner Frage oder Bemerkung, nämlich des Kollegen Kurth.
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Rützel, dass Sie die Frage zulas-
sen. – Sie betonen das große Ganze, das Gesamtsystem
Betrieb, und sagen, dass der Verteilungsspielraum be-
grenzt ist. Ist es aber nicht vielfach so, dass gerade die
Arbeitgeberseite dieses Gesamtsystem in verschiedene
Bestandteile aufspaltet, indem zum Beispiel Betriebsein-
heiten ausgegliedert werden? Beim Flughafen ist es bei-
spielsweise so, dass vielfach Bodenpersonal, Gepäck-
abfertigungen in gesonderte Betriebe und schlechtere
Tarife ausgegliedert werden. Ist es dann nicht nachvoll-
ziehbar und verständlich, dass die Belegschaften dieser
ausgegliederten Betriebsteile darauf reagieren und dann
zum Beispiel als Gepäckabfertiger, wie es am Frankfur-
ter Flughafen vorgekommen ist, sagen: Dann organisie-
ren wir uns als angegriffene Berufsgruppe – denn das
sind sie – und nehmen das Recht auf Streik wahr.
Wollen Sie als Sozialdemokrat tatsächlich verantwor-
ten, dass es nicht mehr möglich sein soll, auf solch einen
Angriff durch den Arbeitgeber mit einem Streik zu re-
agieren?
Herr Kurth, ich bin Ihnen für diese Frage sehr dank-bar, weil sie die Möglichkeit eröffnet, auf diesen Punktgenauer einzugehen.Ich gebe Ihnen absolut recht: Die Geister, die ich rief,werde ich nicht mehr los.
Viele Arbeitgeber hatten geglaubt, die Gewerkschaftendurch Zerschlagung und durch das Entstehen vieler klei-ner Gewerkschaften besser im Griff zu haben. Dann hatman irgendwann festgestellt: Auch kleine Gewerkschaf-ten können wehtun, können stechen, können ihre Interes-sen durchsetzen.Die Lufthansa ist von 40 Streiks betroffen gewesen,was sie sich selbst zuzuschreiben hat, weil es wegen dervielen Einzelbetriebe – ich freue mich, dass der KollegeErnst zustimmt – so viele Gewerkschaften gibt. Mankönnte jetzt aufzählen, wie das alles zusammenhängt; esist ein kompliziertes System, das dafür sorgt, dass einFlugzeug fliegt. Aber die Tarifeinheit, lieber KollegeKurth, hat mit dem, was Sie gerade gesagt haben, nichtszu tun; denn die Tarifeinheit regelt nicht, dass für ver-schiedene Betriebe ein Tarifvertrag gelten muss. Die Ta-rifeinheit bezieht sich nur auf den Betrieb selber undnicht auf die Frage, ob outgesourct wurde und mancheAufgaben durch eine zweite, dritte, vierte oder fünfteFirma erledigt werden.
Über diesen schmalen Grat – ich habe es Ihnen erklärt –wollen wir gehen.Es ist mir auch noch wirklich wichtig, eines zu sagen:Wir haben schon in den ersten vier Wortmeldungen ge-hört, dass dieses Gesetz noch diskutiert werden muss,dass wir darüber reden müssen;
denn man hat Angst, dass wir an Artikel 9 des Grundge-setzes gehen und dass die Koalitionsfreiheit und dasStreikrecht eingeschränkt werden sollen. Das machenwir nicht. Wir schränken das Streikrecht nicht ein. Wirändern nicht das Grundgesetz; das liegt uns fern. Daswürden auch die Gewerkschaften gar nicht mitmachen.Wir sind hier eng mit den Gewerkschaften in Kontakt.Wir werden das gesetzlich verbriefte Streikrecht nichtantasten.
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5542 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Bernd Rützel
(C)
(B)
Die Sozialpartnerschaft hat uns in den letzten sechs Jahr-zehnten – ich habe es erwähnt, weil es mir wichtig ist –sehr viel Planungssicherheit, aber auch Teilhabe der Be-schäftigten gebracht.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Siebeklagen in Ihrem Antrag, dass die Tarifbindung zurück-geht und Flächentarifverträge aufgeweicht werden. Ge-nau deshalb haben wir ja – Sie gemeinsam mit uns – imJuli dieses Jahres das Tarifautonomiestärkungsgesetz aufden Weg gebracht. Ich erinnere an die Regelungen zurAllgemeinverbindlichkeit. Ich erinnere an das Arbeit-nehmer-Entsendegesetz. Die Stärkung der Tarifautono-mie wollen wir nun mit einem sehr ausgewogenen Ge-setz zur Tarifeinheit fortsetzen; denn in der Krise 2008/2009 hat sich gezeigt, dass die kluge und schnelle Re-aktion der Gewerkschaften und der Unternehmen imRahmen der Mitbestimmung sehr schnell geholfen hat,relativ gut aus der Krise zu kommen.
Deutschland ist danach weitaus besser neu gestartet alsmanch anderes Land.Zum Schluss will ich sagen: Ich halte es für unsereAufgabe, dieses Erfolgsmodell weiterhin zu stärken unddafür zu sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer gemeinsam für ihre Interessen kämpfen. Denn esheißt nicht: „Einsam bist du stark“, sondern es heißt:„Gemeinsam sind wir stark“. Insofern muss die Tarifein-heit gesetzlich geregelt werden.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Wilfried Oellers das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Solidarität im Rahmen
der Tarifpluralität ermöglichen – Tarifeinheit nicht ge-
setzlich regeln“. In meinen Augen ist der Titel des An-
trags zwar etwas widersprüchlich, zeigt aber in Teilen
die große Problematik des Themengebiets der Tarifein-
heit auf.
Solidarität der Arbeitnehmer untereinander bei Er-
möglichung von Tarifpluralität – bereits in diesem Teil-
ausschnitt der Problematik, der lediglich die Interessen
der Arbeitnehmerseite beleuchtet, stellt man bereits fest,
wo die Schwierigkeit in diesem Themengebiet liegt. So
verwundert es nicht, dass man beim Lesen der ersten
Hälfte des Antrags den Eindruck hat: Nun müsste eigent-
lich die Tarifeinheit gefordert werden, da doch Solidari-
tät gefordert wird.
Denn Solidarität innerhalb der Arbeitnehmerschaft bei
Tarifpluralität in ein und demselben Betrieb ist nur ganz
schwer zu erreichen.
Der Spannungsbogen des gesamten Themenkomple-
xes ist nach meiner Auffassung jedoch größer; neben
den berechtigten Interessen der Arbeitnehmerseite müs-
sen auch die Interessen der Unternehmer berücksichtigt
werden. Der Spannungsbogen zieht sich von der verfas-
sungsrechtlich garantierten Tarifautonomie bis hin zum
hohen Gut des Betriebsfriedens.
Die Interessenlage der Arbeitnehmer ist, sich gemäß
Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes im Rahmen der
gewährten Tarifautonomie frei organisieren zu können
und für die eigenen Ziele streiken zu dürfen. Daneben
sollte den Arbeitnehmern allerdings auch die Solidarität
untereinander wichtig sein. Diesem Solidaritätsgedan-
ken steht es jedoch entgegen, sich mit einer kleinen
Gruppe von Mitarbeitern eines Betriebes separat zu or-
ganisieren, die aufgrund der von ihr ausgeübten Tätig-
keit im Falle eines Streiks ein hohes Druckpotenzial hat
und dieses dazu nutzt, um für sich einen möglichst posi-
tiven Abschluss der Tarifverhandlungen zu erreichen.
Die übrigen Arbeitnehmer im Betrieb, deren Tätigkeit
ein weniger hohes Druckpotenzial hat, haben dagegen
von Grund auf eine schlechtere Ausgangsposition.
Kollege Oellers, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Ernst?
Ich würde zunächst gerne fortfahren. Vielleicht er-übrigt sich das dann auch schon.Das Interesse der Unternehmer liegt darin, geordneteTarifverhältnisse zu haben, die es ermöglichen, Tarifver-handlungen in einem funktionierenden Tarifvertragssys-tem zu führen, das Rechtssicherheit und Rechtsklarheitbietet, und damit zu wissen, dass die Tarifverhandlungenfür die Dauer der Vertragslaufzeit beendet sind. DasInteresse der Unternehmen am betrieblichen Frieden istdaher berechtigterweise sehr hoch. Zur Gewährleistungdes betrieblichen Friedens gehört nach meiner Auffas-sung allerdings auch, dafür Sorge zu tragen, dass keineKonkurrenz zwischen mehreren Gewerkschaften be-steht, die im selben Betrieb identische Berufsgruppenvertreten; denn das würde den betrieblichen Frieden stö-ren.Bis zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts imJahre 2010 wurde diese besondere Situation, die sich ausden aufgezeigten Interessenlagen ergibt, durch die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5543
Wilfried Oellers
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Rechtsprechung mit dem Grundsatz der Tarifeinheit ge-regelt. In Betrieben, die in den Geltungsbereich mehrerersich überschneidender Tarifverträge fielen, fand nachdem Grundsatz der Tarifeinheit nur der Tarifvertrag An-wendung, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fach-lich und personell am nächsten stand und deshalb denEigenarten und Erfordernissen des Betriebes und der da-rin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung trug.Nachdem sich das Bundesarbeitsgericht im Jahre2010 von diesem Grundsatz gelöst hat, besteht nun diebesondere Situation, dass in einem Betrieb mehrere Ta-rifverträge gelten können. Darüber hinaus ist auch eineKonkurrenzsituation zwischen Gewerkschaften in einemBetrieb entstanden. Zum Beispiel beanspruchen GDLund EVG jeweils für sich, sowohl für die Lokführer alsauch für das Zugpersonal und weitere Mitarbeiter, diebei ihnen Mitglied sind, verhandeln zu dürfen. Dass indiesem konkreten Fall die Bahn als Arbeitgeber geord-nete Verhältnisse wünscht, ist nachvollziehbar. Den glei-chen Wunsch hegen auch die Fluggesellschaften und an-dere betroffene Unternehmen.Auch zeigt die Gründung von Minigewerkschaften imBereich der Feuerwehrleute und der Containerkranfüh-rer, dass sich einzelne Berufsgruppen aus der Solidarge-meinschaft verabschieden und die oben geschilderte be-sondere und wichtige Position ihrer Tätigkeit im Betriebfür sich ausnutzen. Ein solches Vorgehen darf im Sinneder Solidarität durchaus infrage gestellt werden.Nun hat das Bundesarbeitsgericht seine Rechtspre-chung im Jahre 2010 zur Tarifeinheit mit dem Verweisauf das Grundrecht der Tarifautonomie nach Artikel 9Absatz 3 geändert. Anschließend wurde von der Arbeit-geberseite, aber auch von Gewerkschaften, allen voranvom DGB, der Wunsch geäußert, die Tarifeinheit gesetz-lich zu regeln. Das Streikrecht spielt in diesem Zusam-menhang eine besondere Rolle, da es verfassungsrecht-lich garantiert ist und naturgemäß das schärfste Schwerteiner Gewerkschaft ist. Dieses Recht muss ihr natürlichweiterhin zustehen; das steht außer Frage.
Allerdings ist das Streikrecht im Hinblick auf die wei-terentwickelte tarifrechtliche Situation und auch in je-dem Einzelfall vor dem Hintergrund der Verhältnis-mäßigkeit zu beleuchten. Hierzu kann der Gesetzgeberzumindest gewisse Regeln aufstellen. Insoweit darfsicherlich nicht in das Grundrecht nach Artikel 9 Ab-satz 3 GG eingegriffen werden, aber bestimmte Ausge-staltungen sind möglich.
Dies erscheint mir geboten, um die Interessen der Allge-meinheit zu wahren; denn gerade am Beispiel der aktuel-len Streiks im Verkehrsbereich wird deutlich, dass nichtnur die Interessen der Tarifvertragsparteien zu berück-sichtigen sind. In der heutigen Zeit ist die Mobilität fürjedermann ein wichtiges Gut. Die Menschen erwarten,dass die Verkehrsmittel zur Verfügung stehen, um ihr ei-genes Leben organisieren und bewältigen zu können.Daher sind auch die Interessen der Allgemeinheit imRahmen der Erarbeitung von Lösungen zu berücksichti-gen.
Wünschenswert wäre es, wenn die Tarifvertragspar-teien diese Problematik im Rahmen der Tarifautonomieselber lösen und sich hierzu an den Verhandlungstischsetzen würden. Denn es gehört in meinen Augen auchzur Tarifautonomie und zum Tarifsystem, Probleme zulösen. In der Vergangenheit ist dies immer in einem aus-gewogenen Verhältnis gelungen, und das hat Deutsch-land Wohlstand gebracht. Es kommt nicht von ungefähr,dass Deutschland weltweit das Land mit den nahezu we-nigsten Streiks ist. Wir werden darum auch beneidet.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen,dass Spartengewerkschaften auch schon zur Zeit desGrundsatzes der Tarifeinheit gemäß der Rechtsprechungdes Bundesarbeitsgerichts existierten und die Interessenihrer Mitglieder vertreten haben. Es kann auch keiner et-was dagegen haben, wenn verschiedene Gewerkschaftenihre Zuständigkeiten untereinander selber regeln undaufteilen – ich halte dies sogar für wünschenswert undgeboten, da dies zur Umsetzung der Tarifautonomie ge-hört –,
und zwar auf Grundlage von klaren und einverständli-chen Regeln. Es ist daher mein Wunsch, dass die Pro-blemstellung hinsichtlich der Tarifeinheit einvernehm-lich im Sinne aller Beteiligten gesetzlich gelöst wird unddass die Tarifautonomie mit ihrem Streikrecht sowie dashohe Gut des Betriebsfriedens gewahrt werden.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst.
Herr Kollege Oellers, gestatten Sie mir eine Bemer-kung zu dem von Ihnen erwähnten Betriebsfrieden. Siesind meines Wissens Anwalt für Arbeitsrecht.
Es müsste Ihnen daher bekannt sein, dass der Begriff desBetriebsfriedens im Tarifvertragsrecht nicht zu finden
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5544 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Klaus Ernst
(C)
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ist. Vielmehr bezieht sich der Begriff des Betriebsfrie-dens eindeutig auf das Betriebsverfassungsrecht, nachdem ein Betriebsrat kein Streikrecht hat. Dort heißt esnämlich, dass Maßnahmen des Arbeitskampfes zwi-schen Betriebsrat und Arbeitgeber unzulässig sind.Jetzt in Bezug auf das Streikrecht permanent mit demBegriff des Betriebsfriedens zu argumentieren, geht ander Logik der Sache vollkommen vorbei.
Denn ein Streik ist gerade keine Zeit des Betriebsfrie-dens. Darum heißt es übrigens auch Arbeitskampf. Ichwürde Ihnen diese Information gerne mitgeben und Siebitten, diese zu berücksichtigen, wenn Sie über diesesThema reden; denn sonst bringen wir das total durch-einander.Das Streikrecht betrifft eigentlich nur eine Seite dertarifvertragschließenden Parteien. Die Arbeitgeber strei-ken ja nicht – das ergibt sich aus der Natur der Sache –;sie sperren vielleicht aus. Man könnte darüber nachden-ken, das zu verbieten; aber das ist eine andere Sache.Wenn aber das Streikrecht einseitig eine Sache der Ar-beitnehmer ist, dann ist es doch auch Sache der Arbeit-nehmer, zu überlegen, wie sie ihre Streiks organisierenwollen. Ob sie das gemeinsam machen – was mir lieberwäre – oder ob sie es getrennt machen, das sei ihnen sel-ber überlassen. Wie gesagt: Das hat nichts mit dem Be-triebsfrieden zu tun. Eine Regelung, die den Betriebs-frieden schützt, würde sich eindeutig gegen dasStreikrecht richten.
Möchten Sie erwidern, Kollege Oellers?
Vielen Dank. – Herr Ernst, ich denke schon, dass
beide Themenbereiche zusammen behandelt werden
müssen, weil Betriebsfrieden und Streikrecht sich allein
schon von der Begrifflichkeit her gegenüberstehen.
Sie haben natürlich recht, wenn Sie feststellen, dass das
Streikrecht als solches im Grundgesetz fest verankert ist.
Allerdings hat es auch immer die Vereinbarung der
Tarifvertragsparteien gegeben, die Friedenspflicht beizu-
behalten und den Betriebsfrieden hochzuhalten. Ich
denke, dass beide Begriffe und beide Themenbereiche
sehr wohl gegenübergestellt werden können und ich das
hier nicht in unzulässiger Weise vermengt habe.
Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin Jutta Krellmann aus der Frak-
tion Die Linke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als Gewerkschafterin stehe ich voll und ganzzu dem Grundsatz der Tarifeinheit. „Ein Betrieb, eineGewerkschaft – ein Betrieb, ein Tarifvertrag“, das ist dasBild, zu dem ich stehe und das ich richtig und gut finde.Die Tarifeinheit muss aber politisch hergestellt werden,und das ist alleine Aufgabe der Gewerkschaften.
Das Problem ist: Jeder Versuch, die Tarifeinheit gesetz-lich festzulegen, zu lenken oder zu reglementieren, istpraktisch ein Eingriff in die Tariffreiheit. Das lehnen wirals Linke absolut ab. Hände weg vom Streikrecht!
Alle bisherigen Redner haben über die Bahn und überdie Lufthansa geredet. Dort, wo ich herkomme, gibt eskeine Spartengewerkschaften. Es gibt keinen Flughafen,und es gibt keinen Betrieb der Deutschen Bahn. Bei mirim Wahlkreis gibt es viele Betriebe, die zwar von außenaussehen wie ein einziger Betrieb, aber wenn man genauhinschaut, stellt man fest, dass sie nichts anderes als einlöchriger Schweizer Käse sind.Ich will ein Beispiel nennen: Ein Betrieb in Springe,ein Leuchtenhersteller, war früher ein Betrieb undMitglied im Verband der Metallindustriellen Niedersach-sen. Heute ist dieser Betrieb in zwei Betriebe aufge-spalten. Einer ist nach hartem Kampf wieder in denArbeitgeberverband eingetreten – für diesen Teil gilt derTarifvertrag –, der andere Teil nicht. Für die „alten“ Be-schäftigten gelten noch die ursprünglichen Regelungen,aber jeder, der neu in den Betrieb reinkommt, hat Pechgehabt. Er bekommt weniger Geld und hat längere Ar-beitszeiten als die anderen Beschäftigten. Nichts mehrmit Tarifeinheit! Pustekuchen! Das haben aber nicht dieBeschäftigten oder die Gewerkschaften veranlasst. Daswaren die Arbeitgeber.Dass sich nun ausgerechnet die Arbeitgeberverbändefür das Prinzip „ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ aus-sprechen, ist doch völlig unglaubwürdig. Es waren undsind die Mitgliedsfirmen der Arbeitgeberverbände, dieentscheidend dazu beigetragen haben, dass die historischgewachsene Tarifeinheit und damit die Tarifbindungdurchlöchert wurden. Die neoliberale Politik von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen haben die Arbeitgeber seitMitte der 90er-Jahre zum Anlass genommen, Tariffluchtund Tarifkonkurrenz systematisch voranzutreiben. DieArbeitgeber haben in den letzten Jahren nichts unver-sucht gelassen, um ganze Betriebe und Belegschaften zuspalten, auszugliedern, gegeneinander in Konkurrenz zubringen und im Grunde zu entsolidarisieren. Jetzt kom-men genau diese Arbeitgeber plötzlich wie Kai aus der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5545
Jutta Krellmann
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Kiste und versuchen, uns weiszumachen, dass sie sichnun darum kümmern wollen, die Belegschaften wiederzu einen. Wir führen hier aus meiner Sicht eine völligunglaubwürdige Debatte über die Themen, die inDeutschland eine wichtige Rolle spielen.Frau Nahles ist leider nicht anwesend. Ich hätte ihrgerne folgende Frage gestellt: Was glauben Sie eigent-lich, warum die Arbeitgeber und ihre Verbände so sehrdarauf aus sind, ein Gesetz zur Tarifeinheit zu bekom-men? Was glauben Sie, warum das so ist? – Sie machensich vor unseren Augen gerade zu Erfüllungsgehilfen derArbeitgeber. Die aktuellen Streiks von GDL und Cockpitwerden genutzt, um selbst erzeugte Probleme auf demRücken der Beschäftigten zu lösen, und zwar nicht nurauf dem Rücken der Beschäftigten der Bahn und derLufthansa, sondern auf dem Rücken aller Beschäftigtenin Deutschland.
Ich kenne keine Gewerkschaft, die streikt um desStreikes willen und weil es so viel Spaß macht. Wer dasglaubt, hat keine Ahnung, wie schwierig das ist. Es gehtimmer um die Verbesserung der Arbeits- und Lebens-bedingungen oder um den Erhalt bestehender Regelun-gen. Deshalb: Tarifeinheit ja, aber ohne Gesetz. Händeweg vom Streikrecht!Vielen Dank.
Der Kollege Michael Gerdes hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Zuschauerinnern und Zuschauer! Wer mich und meine
Biografie kennt, wird sich nicht wundern, wenn ich sage:
Hände weg vom Streikrecht! Das Streikrecht muss fort-
bestehen. Es darf nicht angetastet werden.
Ohnehin sind die Möglichkeiten der Arbeitsnieder-
legung im Vergleich zu anderen Ländern bei uns einiger-
maßen starr. Gleichwohl sind wir mit diesen Regelun-
gen, so meine ich, bisher gut gefahren.
Das Thema Tarifeinheit steht auf der politischen
Agenda, weil wir eine gewisse Zunahme an Arbeits-
kämpfen beobachten. Sie gehen allerdings nicht in die
Breite, sondern die Streiks finden an Stellen statt, wo
sich der Effekt aufgrund der Arbeitsniederlegung weni-
ger Menschen potenziert und die Auswirkungen für viele
Unbeteiligte deutlich spürbar sind. Wenn Förderbänder
in einem Betrieb bestreikt werden, hat das andere Di-
mensionen als die Streiks beispielsweise von Lokführern
oder Piloten.
Selbstverständlich haben auch Spartengewerkschaf-
ten das Recht, ihre Interessen mit Streiks zu vertreten.
Der Streik der GDL zeigt beispielsweise auf: Das Ver-
ständnis für die Forderung nach besseren Arbeitsbedin-
gungen und mehr Lohn ist vorhanden, aber es ist nicht
unendlich. Wer als Minderheit eine Schlüsselfunktion
hat, hat auch besondere Verantwortung für die Mehrheit
in seinem Betrieb und auch außerhalb des Betriebes.
Wenn Tausende Pendler an mehreren Tagen im Jahr
streikbedingt gar nicht oder zu spät zur Arbeit kommen,
ist das Gesamtgefüge gefährdet. Speziell bei der Bahn ist
die öffentliche Mobilität zu gewährleisten. – Ich glaube,
Frau Krellmann möchte eine Zwischenfrage stellen.
Kollege Gerdes, genau, ich wollte Sie nur nicht im
Redefluss unterbrechen.
Danke schön.
Möchten Sie der Kollegin Krellmann eine Bemer-
kung oder Frage gestatten?
Ja, natürlich, ich weiß nur noch nicht, womit ich Sie
gereizt habe, Frau Krellmann.
Sie haben gesagt, dass es so viele neue Streiks gibt.
Da hätte ich gerne von Ihnen gewusst, wo denn eigent-
lich.
Ich kann mich daran erinnern, Frau Krellmann, dassdie Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten, wasStreiks anging, sehr zurückhaltend waren, aber die Aus-wirkungen der Streiks in den letzten Monaten – ichnannte vorhin das Beispiel Mobilität – deutlich zuspüren sind. Wenn Sie zum Beispiel gestern oder letzteWoche oder im September am Bahnhof gestandenhaben, dann werden Sie festgestellt haben, dass esdurchaus mehr Streiks gibt. Ich habe gerade auch deut-lich gesagt, dass wir mit den Regelungen, die festlegen,wie bei uns überhaupt gestreikt werden darf – sie sindrelativ starr –, in den letzten Jahren gut leben konnten.Dennoch bemerken wir jetzt eine Zunahme von Streiks.Das ist doch der Grund dafür, warum wir hier heuteüberhaupt über Tarifeinheit und über eine mögliche Ge-setzesänderung diskutieren. – Danke schön.
Ich fahre fort. Streiks bei der Bahn verursachen fürdie Kunden nervige Wartezeiten, aufwendige Planände-rungen im Berufsalltag und auch Zusatzkosten füralternative Transportmittel. Die Koalition hat sich diesogenannte Tarifeinheit zur Aufgabe gemacht. Noch istnicht klar, wie eine gesetzliche Tarifeinheit im Detailaussehen könnte. Ehrlich gesagt: Die Juristen sind nicht
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Michael Gerdes
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zu beneiden. Wir suchen im Grunde genommen nach derQuadratur des Kreises.
Das Streikrecht ist ein hohes Gut, das wir erhaltenwollen. Die Tarifpolitik der Gewerkschaften und die be-triebliche Mitbestimmung sind seit Jahrzehnten festeGrößen in unserem Wirtschaftssystem und in unseremSozialstaat. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brau-chen eine starke Stimme. Der Interessensausgleich zwi-schen Arbeitnehmern und Arbeitgebern funktioniert nurmit den Gewerkschaften, nicht gegen sie und schon garnicht gegen ihre Rechte.
In einem gemeinsamen Positionspapier schlagenBDA und DGB vor, den Grundsatz der Tarifeinheit ge-setzlich zu regeln. Als einen wesentlichen Punkt fordernsie, dass bei Überschneidung mehrerer Tarifverträge ineinem Betrieb der Tarifvertrag anwendbar ist, an den dieMehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb ge-bunden ist. Mit diesem vorgeschlagenen Prozederewürde der Grundsatz der Tarifeinheit beibehalten undRechtsklarheit für den Fall einer Kollision unterschiedli-cher Tarifverträge geschaffen werden. Das ist ein Punkt,über den die Tarifparteien, so meine ich, nachdenkensollten.Ich sehe im Übrigen auch die Tarifparteien in derPflicht, sich über die Tarifeinheit Gedanken zu machen.Der kurze Satz, den wir heute schon oft gehört haben:„Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“, macht Sinn; so schlechtwar diese Regelung nicht.
Es geht nicht um „erwünschte“ oder „unerwünschte“Gewerkschaften, es geht um klare Positionen undVerhandlungspartner, es geht darum, dass Gewerkschaf-ten als letztes Mittel zum Streik aufrufen können. Wirwollen eine gesetzliche Regelung, um angesichts derRahmenbedingungen, die sich in den letzten Jahrengeändert haben, klare Positionen zu schaffen – gesetzes-konform, im Interesse der Beschäftigten wie im Inte-resse der Betroffenen. Ich bin dankbar, dass wir diesesThema heute auf die Tagesordnung gesetzt haben, umausführlich darüber zu diskutieren.Sicherlich macht sich an dieser Stelle auch das Thema„Verankerung von Gewerkschaften in Betrieben“ be-merkbar. Die Veränderungen der Branchen durch neueTechnologien und Privatisierung – Sie haben es geradeauch noch einmal gesagt, Frau Krellmann und HerrErnst – stellen die Gewerkschaften seit Jahren vor neueHerausforderungen. Zersplitterung, meine ich, müssenwir verhindern. Solidarität hat uns in Deutschland starkgemacht.Gestatten Sie mir zum Schluss noch einen Appell andie Sozialpartner insgesamt: Das Zusammenspiel vonArbeitnehmern und Arbeitgebern hat sich in Deutsch-land bewährt. Setzen Sie sich wieder an einen Tisch!Stellen Sie realistische Forderungen und gemeinsameZiele auf! Erhöhen Sie die Tarifbindung! Nur so lassensich übertriebene Arbeitskämpfe verhindern.Herzlichen Dank und Glück auf!
Die Kollegin Katja Keul spricht nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit unserem heutigen Antrag wollen wir
Grüne ein grundlegendes liberales Freiheitsrecht vor ei-
nem Eingriff durch die Große Koalition verteidigen, ein
liberales Freiheitsrecht,
das zugleich ein soziales Schutzrecht und Säule unserer
Arbeits- und Wirtschaftsverfassung ist. Es geht um nichts
Geringeres als die Koalitionsfreiheit des Artikels 9
Absatz 3 Grundgesetz, der da heißt:
Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Ar-
beits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen
zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe ge-
währleistet.
Wir wollen diese Koalitionsfreiheit vor der Koalition
schützen. Das ist nötig, weil im Koalitionsvertrag ver-
einbart wurde, dass die betriebliche Tarifeinheit gesetz-
lich festgeschrieben werden soll, um, so heißt es, „den
… Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken“.
Das ist wirklich nett formuliert: Ich ordne dich, indem
ich dich abschaffe. – Eine gesetzliche Normierung der
Tarifeinheit bringt aber weder eine geordnete Bahn noch
eine gesetzliche Ausgestaltung von Tarifpluralität, son-
dern ist schlicht ein Grundrechtseingriff.
Das mit der Gestaltung geht schon deshalb nicht, weil
Artikel 9 Grundgesetz gar keinen Gesetzesvorbehalt ent-
hält und das Vereinigungsrecht der Berufe damit vorbe-
haltslos gewährleistet wird. Es liegt auch keine Rechtfer-
tigung für einen solchen Eingriff vor in Form von
nachweisbaren schweren Gefahren für das Allgemein-
wohl. Streiks von Berufsgewerkschaften sind jedenfalls
nicht der Untergang des Abendlandes, sondern in Arti-
kel 9 Absatz 3 ausdrücklich vorgesehen.
Kollegin Keul, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Henke?
Bitte sehr.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Keul, für diese Möglich-
keit, eine Frage zu stellen.
Sie zitieren in Ihrem Antrag aus einem Gutachten von
Professor Di Fabio:
Wenn sich Arbeitnehmer eines bestimmten Berufs
als Koalition zusammenschließen, um Tarifverträge
auszuhandeln und notfalls zu streiken, ist dies
genau dasjenige Recht, das der Wortlaut des Art. 9
Abs. 3 GG garantiert.
Das ist eine berufsbezogene Garantie des Grundgeset-
zes. Dass ich das für richtig halte, wird hier niemanden
wundern.
Meine Frage mit Blick auf Ihren Antrag – weil Sie da-
von gesprochen haben: wir Grünen –: Ist das die Haltung
der Bundestagsfraktion? Oder kann das Publikum davon
ausgehen, dass das auch eine Haltung der Grünen in den
Bundesländern ist?
Bislang ist es ja so, dass die Landeskabinette noch
keinen Anlass hatten, sich hierzu eine Position zu bilden.
Die Rechtslage ist seit 2010 klar, und wenn wir uns zu
allem, was im Koalitionsvertrag steht, schon im Vorfeld
eine Position bilden müssten, hätten wir viel zu tun.
Aber ich gehe davon aus: Wenn ein solches Gesetz
kommt, dann wird es zustimmungspflichtig sein und
auch die Bundesländer beschäftigen. Dann können Sie
sich darauf verlassen, dass die Grünen hier an der Seite
des Grundgesetzes und an der Seite des Freiheitsrechtes
im Artikel 9 stehen werden.
Es ist also so, dass Artikel 9 Absatz 3 unseres Grund-
gesetzes gerade das Vereinigungsrecht der Berufe ge-
währleistet. Da steht nichts von „betrieblicher Mehrheit“
oder Ähnlichem. Wenn diese Berufe von ihrem Vereini-
gungsrecht Gebrauch machen, dann nicht, um Briefmar-
ken auszutauschen oder Weihnachtsfeiern zu organisieren,
sondern um als Tarifvertragsparteien Tarifverhandlun-
gen zu führen und dafür eben auch streiken zu können.
Wenn wir einer solchen Vereinigung gesetzlich verweh-
ren, für ihre Berufsgruppe Tarifverhandlungen zu füh-
ren, weil diese sich im Betrieb gerade in der Minderheit
befindet, dann sind sie keine Vereinigung mehr im Sinne
des Grundgesetzes.
Oder, um es mit den Worten des ehemaligen Verfas-
sungsrichters Udo Di Fabio auszudrücken – ich zitiere
dieses Mal eine andere Stelle, auch wenn sie ähnlich
ist –:
Ein vom Gesetz auferlegtes Gebot zur betrieblichen
Tarifeinheit würde für Berufsgewerkschaften den
Kernbereich von Art. 9 Abs. 3 GG betreffen, weil
der hoheitliche Entzug einer in der sozialen Wirk-
lichkeit bereits erkämpften Tarifautonomie der Be-
rufsgewerkschaft ihre Wesensbestimmung nimmt.
Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
ich verstehe ja, dass ihr unter eurer Koalitionsfreiheit lei-
det. Aber deswegen solltet ihr sie nicht auch den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern verwehren.
Vor allen Dingen solltet ihr nicht riskieren, dass erst das
Verfassungsgericht einer sozialdemokratischen Arbeits-
ministerin erklärt, welche Bedeutung dem Grundrecht
der Koalitionsfreiheit für die Arbeits- und Wirtschafts-
verfassung in unserem Land zukommt.
Mit Pluralität und Vielfalt ist unsere Bundesrepublik
nicht erst seit 2010 bisher gut klargekommen, und auch
die Streiks der Lokomotivführer werden wir noch über-
stehen. Nehmen Sie sich also beide die Freiheit, von Ih-
rem Koalitionsvertrag Abstand zu nehmen. Das dient auf
jeden Fall der Koalitionsfreiheit.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Tobias Zech für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Jahrzehntelang galt derGrundsatz: ein Betrieb – ein Tarifvertrag. Wir haben dasheute schon mehrmals gehört. Ich habe immer dasGlück, als einer der Letzten zu sprechen, was dazu führt,dass ich mein Konzept zur Seite legen kann. Aber jetzthabe ich in das Konzept von Bündnis 90/Die Grünen ge-sehen; denn zu diesem Thema gab es von Bündnis 90/Die Grünen einen Fraktionsbeschluss vom 1. Juli 2014.Darin lese ich: Jahrzehntelang hat es keine verfassungs-rechtlichen Bedenken gegeben, jahrzehntelang warensich Gesetzgeber und Rechtsprechung, Gewerkschaftenund Arbeitgeberverbände einig.Jahrzehntelang galt, dass nur ein Tarifvertrag Anwen-dung findet. Vor 2010 hieß der Grundsatz in der Recht-sprechung: Die Folgen der Verdrängung anderer Tarif-verträge seien im Interesse der Rechtsklarheit und derRechtssicherheit hinzunehmen. Die Anwendung mehre-rer Tarifverträge nebeneinander führe zu rechtlichen undtatsächlichen Unzuträglichkeiten, die durch den Grund-satz der Tarifeinheit vermieden würden. – So klar wardie Rechtsprechung bis 2010. Bis dahin konnte damit je-der gut leben.Jetzt diskutieren wir heute über das Bestehen der Ta-rifpluralität. Dafür haben Sie einen Zeitpunkt gewählt,zu dem wir noch nicht einmal einen Gesetzentwurfvorliegen haben, sondern nur ein Eckpunktepapier. Esstammt vom Juli 2014 und ist wahrscheinlich schonüberholt. Versuchen wir also, die Verfassungsmäßigkeit
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Tobias Zech
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eines Gesetzes zu prüfen, von dem wir nicht wissen, wiees aussieht
– auch wir nicht, Kollege Ernst –, von dem aber zu er-warten ist – das hat der Kollege Schiewerling klarge-macht –, dass darin auf die Verfassungstreue ein beson-deres Augenmerk gelegt wird.Zudem heißt es in dem vorliegenden Antrag, es gebekeinen Handlungsbedarf. Eines muss man natürlichschon sagen: Von britischen oder französischen Verhält-nissen sind wir weit entfernt.
Auch ein Streik ist nicht der Untergang des christlichenAbendlandes. Zu der vernünftigen Tarifpolitik, die wirseit 60 Jahren machen, gehört: Arbeitnehmer und Ar-beitgeber entscheiden gemeinsam.
Das Ziel dieser Politik ist aber immer – auch das hatKarl Schiewerling dargestellt –, den Betriebsfrieden zuwahren. Streik ist aber die Unterbrechung dieses norma-len Zustandes.
Aber können wir davon ausgehen, dass dieser Zu-stand so bleibt? Es haben sich natürlich seit 2010 einpaar kleine Gewerkschaften gegründet. Müssen wir erstabwarten, wenn wir doch schon sehen, dass sich die Ta-riflandschaft verändert?Mit Blick auf die Geschichte müssen wir noch etwassagen: 2010 haben sich nach der Änderung der Recht-sprechung die BDA und der DGB in ungekannter Einig-keit gemeinsam aufgemacht und festgestellt, dass für dasDurchsetzen der gemeinsamen Interessen eine Regelungder Tarifeinheit notwendig ist. Auch das gehört zurWahrheit dazu.Gestern stand in der Süddeutschen Zeitung, dass dieVereinigung Cockpit seit April sechs Streikaktionen miteiner Streichung von mehr als 4 300 Flügen und 500 000betroffenen Passagieren durchgeführt habe. Auch wennsich die Zahl der Streiktage im Allgemeinen im Rahmenhält, nimmt die Zersplitterung natürlich dann ihren Lauf,wenn ich immer für Partikularinteressen kämpfe. MeineMeinung ist, dass Zustände wie bei der Lufthansa nichtauch in anderen Betrieben überhandnehmen dürfen. Da-her brauchen wir eine Regelung, und zwar eine gesetzli-che Regelung der Tarifeinheit.
Die sollte insbesondere zwei Schwerpunkte abde-cken, zum einen den volkswirtschaftlichen Schaden,über den wir auch sprechen müssen: Wenn die Bahnstreikt, verursacht das täglich einen Schaden von100 Millionen Euro. Da ist die Volkswirtschaft aus mei-ner Sicht ab einer gewissen Dauer unverhältnismäßighart getroffen.
„Die Tarifpolitik der Gewerkschaften lebt von Solida-rität“, heißt es in Ihrem Antrag. Unter Solidarität ver-stehe ich aber nicht, dass einige wenige – es sind teil-weise weniger als 1 Prozent der Beschäftigten – einenganzen Betrieb lahmlegen können, diesen schlimmsten-falls sogar in der Existenz gefährden können, um eigenePartikularinteressen durchzusetzen. Uns geht es um dieSolidarität unter den Mitarbeitern und in der Beleg-schaft. Die Tarifautonomie hat eine Ordnungs- und Be-friedungsfunktion. Von der entfernen wir uns immerweiter. – Das war der erste Punkt.Der zweite Punkt: Es geht auch darum – das wird frü-her oder später auch volkswirtschaftliche Folgen nachsich ziehen –, den innerbetrieblichen Frieden zu sichern.Eine Tarifkonkurrenz in einem Betrieb kann nur zu im-mensen betriebsinternen Verstimmungen führen. Glau-ben Sie mir, ich war früher in einem Betrieb, in dem wirSpartengewerkschaften hatten. Da wird diskutiert, dawird auch unter den Kollegen diskutiert. Der Erhalt derTarifpluralität kann uns dahin bringen, dass unterschied-liche Arbeitsverträge und Löhne in einer Mannschaftgelten. Das treibt die Truppe auseinander und gefährdetin höchstem Maße den Betriebsfrieden.Wie man diesen zerstört, haben wir jetzt bei der Aus-einandersetzung zwischen GDL und EVG wunderbarbeobachten können. Die GDL verhandelt für 30 Prozentder Zugbegleiter mit und will 5 Prozent mehr Lohn undwöchentlich zwei Arbeitsstunden weniger erreichen.Das würde im Ergebnis dazu führen, dass knapp einDrittel der Zugbegleiter zwei Stunden weniger arbeitet,und zwar für mehr Lohn als der Rest der Mannschaft.Das ist Gift für den Betrieb und kann in diesem zu irre-parablen Schäden führen. Schlimmstenfalls drohen Spal-tungen der Belegschaft, exzessive Arbeitskämpfe undeine sinkende Akzeptanz des Tarifvertragsystems. Daskann eigentlich niemand wollen.
– Bitte.
Sie lassen die Kollegin Müller-Gemmeke etwas sagenoder auch fragen? – Bitte schön. Ich halte die Uhr an.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter HerrKollege, Sie haben mich jetzt doch gereizt, zwei Vorbe-merkungen zu machen und eine Frage zu stellen.
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Beate Müller-Gemmeke
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Das Erste. Sie haben die Verhältnismäßigkeit vonStreiks angesprochen. Ich bin froh, dass wir dafür Ge-richte haben, die das zu beurteilen haben, und nicht diePolitik.
Das Zweite ist: Ich höre bei Ihnen heraus, dass Sieauch beurteilen, ob Tarifverhandlungen gut verlaufenoder nicht. Auch da sage ich: Ich glaube, Politik hatnicht zu beurteilen, ob Tarifverhandlungen gut verlaufenoder nicht.Meine Frage ist: Sie reden gerade die ganze Zeit vominnerbetrieblichen Frieden. Jetzt haben wir nun einmaldie Situation, dass es Tarifpluralität gibt; das heißt, wirhaben die großen DGB-Gewerkschaften, aber wir habenauch die Berufsgewerkschaften. Jetzt kommen Sie even-tuell mit einem Gesetz daher, das besagt, dass da wiederOrdnung hineingehört.
Wie die Ordnung auszusehen hat, können wir uns mo-mentan vorstellen.Da frage ich Sie jetzt wirklich ernsthaft: Glauben Sie,dass die kleinen Berufsgewerkschaften das einfach sohinnehmen werden? Ich bin der Meinung, dass es zurichtiger Konkurrenz in den Betrieben kommen wird.Natürlich wird der Kampf um die Mehrheit im Betriebverschärft. Glauben Sie wirklich, dass die kleinen Be-rufsgewerkschaften einfach sagen: „Okay, dann hörenwir halt auf“? Stattdessen werden sie kämpfen. GlaubenSie nicht, dass dann der betriebliche Friede tatsächlichgestört wird?
Zunächst einmal danke für die Frage. – Nein, dasglaube ich eben nicht. Wissen Sie, ich bin sogar davonüberzeugt, dass der Grund dafür, warum wir Spartenge-werkschaften haben, ist – das muss man fairerweise an-sprechen; nehmen wir einmal das Beispiel MarburgerBund –, dass sich die Ärzte von Verdi nicht richtig ver-treten gefühlt haben.
Dazu gehört natürlich auch, dass man die eigene Mei-nung artikuliert. Die Frage ist nur, ob man für einen Teilder Belegschaft spricht oder das Gesamtinteresse imBlick hat. Ich glaube nicht, dass es zu einer Zersplitte-rung kommt, weil die Gewerkschafter, die ich bis jetztkennengelernt habe – und zwar alle; vielleicht gab eseine Ausnahme –, nicht die Interessen Einzelner undkleiner Sparten, sondern immer den Betrieb und die ge-samte Belegschaft im Blick gehabt haben. Deswegen istmeine Antwort auf Ihre Frage: Nein, das glaube ichnicht.
– Doch. Das war ein klares Nein auf die Frage.Die zentrale Herausforderung des anstehenden Ge-setzgebungsverfahrens liegt darin, ein demokratischesund pluralistisches Mehrheitsprinzip bei der Wahrungder Tarifeinheit im Betrieb zu entwickeln. Es geht darum– jetzt kommen wir noch einmal zu Ihrem Thema, FrauMüller-Gemmeke –, die kleineren Gewerkschaften in eindemokratisches Verfahren mit starken Minderheitsrech-ten einzubinden. Zudem sollen die Ausnahmen gelten,dass eine Auflösung nicht erforderlich ist, wenn die Ge-werkschaften ihre jeweiligen Zuständigkeiten abgestimmthaben und die Tarifverträge jeweils für verschiedene Ar-beitnehmergruppen gelten. Das ist die sogenannte ge-willkürte Tarifpluralität. Eine Auflösung ist ebenfallsnicht erforderlich, wenn die Gewerkschaften inhaltsglei-che Tarifverträge abgeschlossen haben.Dass wir ein Gesetz zur Tarifeinheit verfassungskon-form ausgestalten werden, sollte selbstverständlich sein.Diese Verfassungsmäßigkeit haben wir im Koalitions-vertrag festgeschrieben. Wir befinden uns hierbei, wieKollege Schiewerling schon gesagt hat, auf einer Grat-wanderung. Das ist allen klar. Das Thema ist auch in derinternen Debatte nicht einfach. Wir wollen Spartenge-werkschaften nicht verhindern und nicht verbieten.
Die Frage ist aber, wie wir sie tarifpolitisch agieren las-sen.Durch die Zersplitterung der Tariflandschaft liegt eineUnverhältnismäßigkeit zwischen Ziel und Schaden vor,die weder wirtschaftlich noch sozialpolitisch geduldetwerden kann.
Allein mit Streikdrohungen werden Kunden verschrecktund immense Schäden angerichtet.Ich möchte noch eines betonen, bevor ich zumSchluss komme: Es geht nicht um eine Abschaffung derKoalitionsfreiheit. Es geht nicht um die Abschaffung ei-nes Grundrechts. Es geht um Rechtsklarheit für den Falleiner Kollision unterschiedlicher Tarifverträge. Das istsowohl der Wunsch der Arbeitgeberseite als auch derArbeitnehmerseite. Dessen müssen wir uns annehmen.Deshalb warten wir auf eine Gesetzesvorlage.Wir wollen keine Ausschaltung kleiner Gewerkschaf-ten, sondern ihre Einbindung. Jede Gewerkschaft sollEinfluss auf die Tarifverhandlungen nehmen können.Mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb sollen zurKooperation aufgerufen werden. Der Kollege Rützel hatvorhin gesagt: Gemeinsam statt einsam. – Das steht da-hinter. Die Existenzberechtigung der Minderheitsge-werkschaften wird dadurch aber eben nicht infrage ge-stellt. Das Streikrecht bleibt, wenn es im Interesse dergesamten Belegschaft besteht. Wir wollen Einheit oder,besser gesagt, Regeln in der Vielfalt.Ich möchte abschließend betonen, dass ich mich jetztvor allem darauf freue, vom Arbeitsministerium bzw.von der Ministerin den Entwurf eines verfassungskon-
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Tobias Zech
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formen Gesetzes zu bekommen. Lange genug wurdedem Thema Tarifeinheit aus dem Weg gegangen. Nun istes endlich an der Zeit, einen konkreten Gesetzentwurfvorzustellen. Die gesetzliche Tarifeinheit darf nicht wei-ter auf die lange Bank geschoben werden.Herzlichen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Hans-Joachim Schabedoth für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir scheinen uns ja ziemlich einig zu sein, dass wir allebis zum Juni 2010 froh waren über ein funktionierendesSystem des tarifpolitischen Interessenausgleiches. Nichtimmer konfliktfrei – wie könnte es auch –, aber stetskonsensfähig. Versuche, die Belastbarkeit der Tarifpart-nerschaft auszureizen, hat das nie ausgeschlossen. Esgab selbst hochrangige Arbeitgeberfunktionäre, die Ta-rifverträge am liebsten am Lagerfeuer verbrannt sehenwollten.
Aber selbst das kühnste ideologische Draufsatteln auftarifpolitische Gestaltungsarbeit konnte bislang die Ta-rifeinheit mit dem Prinzip „Ein Betrieb – ein Tarifver-trag“ nicht beschädigen. Es lässt sich deshalb wirklichnur schwer nachvollziehen, warum diese Praxis ausge-rechnet durch die Arbeitsrechtsprechung infrage gestelltworden ist. Damit wurde völlig unnötig die Büchse derPandora geöffnet, sagen Kritiker. BerufsverbandlicheOrganisationen hatten diese Entscheidung als eine ArtErmutigung missverstanden, Sonderinteressen privile-gierter Arbeitnehmergruppen ohne Rücksicht auf Ge-samtinteressen zu realisieren. Und es ist nur verständ-lich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass deshalb dasöffentliche Interesse an einer klarstellenden politischenRahmensetzung für Tarifeinheit gewachsen ist. Schonseit Jahren hat es zu dieser Problematik Konsultationender Tarifvertragsparteien gegeben. Und auch der politi-sche Rahmensetzer hatte die Hausaufgabe akzeptiert, dieTarifeinheit neu zu fundieren, ohne die Koalitionsfrei-heit und das Streikrecht zu beschädigen. In der abgelau-fenen Legislaturperiode gab es jedoch auch in dieser Be-ziehung einen Stillstand.Die jetzige Regierung hat dieses Problem also geerbt,aber nicht, um es abermals auszusitzen, sondern um eszweckgerecht und verfassungsgemäß zu lösen.
Seien wir miteinander sehr sicher: Sobald ein beratungs-fähiger Entwurf vorliegt, wird sich ja dann auch diesesParlament sorgfältig damit auseinandersetzen können.Und Sorgfalt ist hier der Feind des falschen Eifers. Esgeht dabei schließlich um eine Operation am offenenHerzen der Tarifautonomie. Gerade deshalb scheint esmir äußerst fahrlässig,
hier mit der heißen Nadel Patentlösungen zu strickenoder gar, Frau Kollegin, Regulierungsnotwendigkeitenvöllig zu leugnen.
In Ihrem Antrag fällt mir auf, dass Sie das Wort „Ta-rifpluralität“ so nutzen, als sei das etwas Erstrebenswer-tes, das man unbedingt gegen Veränderungen erhaltenmüsse.
Ich verstehe ja die Begeisterung für das Prinzip „Lasstviele Blumen blühen“. Aber bei diesem Gegenstand istdiese Begeisterung vielleicht doch nicht richtig amPlatze. Ich will das erläutern. Es gibt aus guten Gründenkeine Pluralität bei der Straßenverkehrs-Ordnung. Esgibt auch nur ein demokratisch legitimiertes Gremiumder Bundesgesetzgebung. Wir befinden uns gerade in ih-rem Zentrum.
Es macht einfach keinen Sinn, für jede Verkehrsteilneh-mergruppe eine eigene Ordnung zu schaffen. Es mag jaeine lustige Vorstellung sein – doch man sollte das liebernicht wollen –, dass jede Partei in Konsequenz von Ge-setzgebungspluralität Gesetze für die eigene Mitglied-schaft verabschieden darf.
– Ja, das sage ich Ihnen doch. – Aber genauso fatal ist es,eine Situation für tolerierbar zu halten, in der jede Be-rufsgruppe Tarifsetzungsmacht beansprucht.Ein zentrales Argument der Antragsteller ist, trotzBAG-Entscheidung von 2010 ließen sich keine negati-ven Folgen beobachten. Ich halte das für eine leichtfer-tige Verharmlosung der Situation. Auch bei einem Sturzvon einem Hochhaus sollte man beim Passieren der un-teren Stockwerke lieber nicht darauf vertrauen, es könnedoch noch irgendwie gut ausgehen. Warum zum Beispiel– das ist ein Anlass für Regelungsüberlegungen – sollteeine potenzielle Vereinigung christlicher Lokführer nichtversuchen, über Arbeitskämpfe einen noch besseren Ta-rifvertrag auszuhandeln als die GDL-Kollegen?
– Ja, das ist auch unbestritten. Aber können Sie mir dannerklären, warum jemand, der 80 Prozent der Lokführerorganisiert und nur eine marginale Zahl aller anderen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5551
Dr. Hans-Joachim Schabedoth
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Beschäftigten, sagt: „Ich will auch für die anderen Be-schäftigten verhandeln“?Bisher war es gute Praxis, dass beide Parteien mitei-nander verabredet haben, wer für was verhandelt. Aberdie Konflikte, die wir jetzt beobachten, sind dadurch ent-standen, dass der eine Teil sagt: Nein, ich möchte miteuch nicht verhandeln, über was ich verhandele und wieich für meine Klientelgruppe die Forderungen abgrenze.
In Kooperationen getrennt marschieren, aber vereint ge-winnen – diese Strategie ist ja leider durch die Praxisentwertet worden. Wir möchten gerne, dass diese Strate-gie wieder maßgeblich wird.
Kollege Schabedoth, Sie haben es nicht geschafft, je-
manden zu animieren, Ihnen eine Frage zu stellen. Ich
bitte Sie, auf die Redezeit zu achten. Es funktioniert jetzt
nicht im Zwiegespräch. Sie hätten das anders lösen müs-
sen.
Darf ich zu meinem Fazit kommen? Wer glaubt, dass
es hier keinen Sprengstoff für das etablierte und be-
währte System der Tarifsetzung in unserem Land gibt,
der müsste treu darauf vertrauen, dass zum Beispiel die
Fahrdienstleiter bei der Bahn, die Feuerwehren an den
Flughäfen oder die anlagenführenden Industriemeister
das auch glauben.
Kollege Schabedoth, setzen Sie bitte einen Punkt.
Fazit: Nein zum vorliegenden Antrag, ja zur Debatte,
die nötig wird, um den bald vorliegenden Regierungs-
entwurf zur Tarifeinheit parlamentarisch zu optimieren.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/2875 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 h sowieden Zusatzpunkt 1 auf:27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurDurchführung des Haager Übereinkom-mens vom 30. Juni 2005 über Gerichts-standsvereinbarungenDrucksache 18/2846Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Kultur und Medienb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demProtokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Ände-rung der Konvention zum Schutz der Men-schenrechte und GrundfreiheitenDrucksache 18/2847Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Valerie Wilms, Beate Walter-Rosenheimer,Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMaritime Ausbildung in Kooperation mit denKüstenländern neu ausrichtenDrucksache 18/2748Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenFriedrich Ostendorff, Harald Ebner, BärbelHöhn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHofabgabe als Voraussetzung für den Zugangzur Altersrente für Landwirte abschaffenDrucksache 18/2770Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschafte) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Sabine Zimmermann ,Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKESozialrechtliche Diskriminierung beenden –Asylbewerberleistungsgesetz aufhebenDrucksache 18/2871Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten CarenLay, Dr. Dietmar Bartsch, Jan Korte, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEFür eine transparente Haushaltskontrollenachrichtendienstlicher TätigkeitenDrucksache 18/2872
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5552 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussg) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldEbner, Steffi Lemke, Bärbel Höhn, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENNachhaltige Waldbewirtschaftung sicherstel-len – Kooperative Holzvermarktung ermögli-chenDrucksache 18/2876Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheith) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorinnaRüffer, Beate Müller-Gemmeke, Doris Wagner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSchluss mit Sonderwelten – Die inklusive Ge-sellschaft gemeinsam gestaltenDrucksache 18/2878Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterMeiwald, Dr. Valerie Wilms, Steffi Lemke, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENÖkologischen Hochwasserschutz voranbrin-genDrucksache 18/2879Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 18/2872 zumTagesordnungspunkt 27 f soll federführend im Haus-haltsausschuss beraten werden. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun-gen so beschlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 28 a bis28 l. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla-gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 28 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom13. Februar 2014 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und der Republik CostaRica zur Vermeidung der Doppelbesteuerungauf dem Gebiet der Steuern vom Einkommenund vom VermögenDrucksache 18/2659Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
Drucksache 18/2898Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe aseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2898,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 18/2659 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und derSPD-Fraktion gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-men.Tagesordnungspunkt 28 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Protokoll vom 24. Juni 2013 zurÄnderung des Abkommens vom 4. Oktober1991 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und dem Königreich Norwegen zur Ver-meidung der Doppelbesteuerung und über ge-genseitige Amtshilfe auf dem Gebiet derSteuern vom Einkommen und vom Vermögensowie des dazugehörigen ProtokollsDrucksache 18/2660Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
Drucksache 18/2898Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe bseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2898,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 18/2660 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FraktionDie Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke angenommen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5553
Vizepräsidentin Petra Pau
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Tagesordnungspunkt 28 c:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom11. März 2014 zur Änderung des Abkommensvom 1. Juni 2006 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und Georgien zur Vermei-dung der Doppelbesteuerung auf dem Gebietder Steuern vom Einkommen und vom Ver-mögenDrucksache 18/2661Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
Drucksache 18/2898Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2898,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 18/2661 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke angenommen.Als kleine Dienstleistung für diejenigen, die uns hierbeobachten und sich jetzt fragen, warum die Abgeordne-ten bei manchen Gesetzen dadurch abstimmen, dass siesich gleich von ihren Plätzen erheben, während sie beianderen Gesetzen zweimal abstimmen – einmal durchHandaufheben und einmal durch Erheben von den Plät-zen –: Die Gesetze, über die wir dadurch abstimmen,dass sich die Abgeordneten gleich von ihren Plätzen er-heben, sind sogenannte Vertragsgesetze. Was das ist,müssen Sie bitte selbst herausfinden. Unsere Zeit reichtnicht, das zu erläutern.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Hinterlegung der historischen Archive derOrgane beim Europäischen Hochschulinstitutin FlorenzDrucksache 18/1779Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für die Angelegenheiten der Europäi-schen Union
Drucksache 18/2851Sie können davon ausgehen: Alle, die jetzt darüberabstimmen, haben sich genau informiert, was hinter die-sem sperrigen Titel steckt.Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-schen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/2851, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung auf Drucksache 18/1779 anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegendie Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 28 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,Bau und Reaktorsicherheit zuder Verordnung der BundesregierungZweite Verordnung zur Änderung der Elek-tro- und Elektronikgeräte-Stoff-VerordnungDrucksachen 18/2554, 18/2672 Nr. 2, 18/2899Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/2899, der Verordnung der Bun-desregierung auf Drucksache 18/2554 zuzustimmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthal-tung der Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkte 28 f bis 28 l. Wir kommen zuden Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 28 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 96 zu PetitionenDrucksache 18/2763Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 96 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 28 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 97 zu PetitionenDrucksache 18/2764Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 97 ist ebenfalls ein-stimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 28 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 98 zu PetitionenDrucksache 18/2765
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5554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 98 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion DieLinke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 99 zu PetitionenDrucksache 18/2766Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Das sindalle Fraktionen. Damit erübrigen sich die Fragen, werdagegenstimmt und wer sich enthält. Die Sammelüber-sicht 99 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenom-men worden.Tagesordnungspunkt 28 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 100 zu PetitionenDrucksache 18/2767Wer stimmt dafür? – Die Koalition und die Linke.Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieSammelübersicht 100 mit den Stimmen der Koalitionund der Linken gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen worden.Tagesordnungspunkt 28 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 101 zu PetitionenDrucksache 18/2768Wer stimmt für die Sammelübersicht 101? – Das sinddie Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmtdagegen? – Die Linke. Enthaltungen? – Niemand. Damitist die Sammelübersicht 101 mit den Stimmen der Koali-tion und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stim-men der Linken angenommen worden.Tagesordnungspunkt 28 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 102 zu PetitionenDrucksache 18/2769Wer stimmt dafür? – Das ist die Koalition. Werstimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und dieLinke. Enthaltungen? – Keine. Damit ist die Sammel-übersicht 102 mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Opposition angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung und Land-wirtschaft
zu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rates überdie ökologische/biologische Produktion unddie Kennzeichnung von ökologischen/biologi-schen Erzeugnissen sowie zur Änderung derVerordnung Nr. XXX/XXX des Europäi-schen Parlaments und des Rates [Verordnungüber amtliche Kontrollen] und zur Aufhe-bung der Verordnung Nr. 834/2007 desRates
Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder, HeidrunBluhm, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE sowie der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Harald Ebner, Nicole Maisch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rates überdie ökologische/biologische Produktion unddie Kennzeichnung von ökologischen/biologi-schen Erzeugnissen sowie zur Änderung derVerordnung Nr. XXX/XXX des Europäi-schen Parlaments und des Rates [Verordnungüber amtliche Kontrollen] und zur Aufhe-bung der Verordnung Nr. 834/2007 desRates
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5555
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Die Biobranche ist eine Wachstumsbranche. DerMarkt zeigt dies unzweifelhaft. Wir sind führend in Eu-ropa, was den Marktanteil der Ökobranche angeht. Siehat zwischenzeitlich einen Jahresumsatz von etwa7,5 Milliarden Euro erreicht und führt damit längst keinNischendasein mehr. Sie ist ein Teil des Nahrungsmittel-markts, die den Bedarf in sehr anspruchsvoller Art undWeise deckt. Das sind Kennzahlen des Erfolgs, der nochweiter gehen kann. Zusammen mit dem aktuellen Regio-naltrend stehen die Zeichen für einen weiteren Spurt derBiobranche eigentlich gut. Ich möchte allerdings, dassdas Marktpotenzial des gesamten Lebensmittelmarktesmehr von deutschen Bioprodukten beschickt wird alsbisher. Hier ist noch Spielraum vorhanden.
Unsere ökologische Landwirtschaft stellt sich bereitsheute hohen Anforderungen, die nicht nur von den Ver-brauchern, sondern auch von der Politik an sie herange-tragen werden. Auch bedient sie eine überdurchschnitt-lich sensible Verbraucherschicht, die sehr genau daraufachtet, was ihr angeboten wird und ob alle Regeln einge-halten worden sind. Diese Auflagen bzw. Regeln werdenvon den Bauern bzw. den Organisationen erfüllt, denensie weit überwiegend angeschlossen sind, sodass sie aus-gezeichnete Produkte anbieten können.Nun hat die EU-Kommission eine vollständige Revi-sion der Öko-Basisverordnung vorgeschlagen. Norma-lerweise macht man dann etwas komplett Neues, wenndas Alte nicht mehr funktioniert. Jetzt frage ich mich ei-gentlich, was an der geltenden Verordnung, die schonjetzt wesentliche Grundlage für die Zukunft des ökologi-schen Landbaus ist, so fundamental nicht funktioniert.Ich meine, es gibt sehr viele Punkte, die weiterentwickeltwerden müssen; aber im Kern ist die Öko-Basisverord-nung nach wie vor tragfähig.Mit dem nun vorliegenden Brüsseler Legislativvor-schlag wird ein Kurswechsel – ich muss sagen: weg vonder Praktikabilität – vollzogen. Ich meine, dass die Kom-mission weit über das gemeinsame Ziel hinausschießt,Verlässlichkeit und Verbrauchervertrauen zu sichern.Seit ich mir die Vorschläge der Kommission genauer an-gesehen habe – auch Sie haben das in den Beratungenund bei der Erstellung Ihres Antrags getan –, bin ichskeptisch. Die drastische Verschärfung der Produktions-vorschriften bereitet mir Sorgen. Es bereitet mir Sorgen,wenn erforderliche Flexibilitätsregelungen – beispiels-weise beim Saatgut oder dem Einsatz von Zuchttieren –unreflektiert gestrichen werden sollen. Weiter geht es umdie Einführung gesonderter Schwellenwerte für Rück-stände bei Biolebensmitteln. Das ist ebenso problem-behaftet und meiner Meinung nach nicht notwendig.Mit solchen Maßnahmen würde die Kommissionhohe Hürden aufbauen, vor denen viele im ökologischenLandbau nur kapitulieren können. Das betrifft dann diegesamte Wertschöpfungskette vom Bauern über die Ver-arbeitung bis zum Handel. Dieser Kommissionsentwurfbirgt leider die Gefahr, dass er den Ökolandbau nichtstärkt, sondern schwächt. Das können wir nicht zulassen.
In einer ersten Stellungnahme im Ministerrat sowiegegenüber der Kommission habe ich mich für eine ge-zielte, problembezogene Weiterentwicklung der Rechts-vorschriften ausgesprochen. Wir müssen dabei aber imSystem bleiben. Es bleibt meine Skepsis, ob das mit demvorliegenden Entwurf wirklich machbar ist. Die gesetzli-chen Vorgaben müssen erfüllbar bleiben sowie eine sta-bile und verlässliche Grundlage bilden. Wir brauchen dieTransparenz der Kontrollsysteme. Allerdings gibt es beiden Kontrollsystemen einen Punkt, der meiner Ansichtnach zu wenig beachtet wird. Dabei geht es um die Bau-stelle der Drittlandsimporte. Für sie wollen wir die glei-che Sicherheit wie für Binnenprodukte.
Ich teile die Auffassung des Deutschen Bundestageszu den von ihm genannten Punkten, die geändert werdenmüssen. Auch ich bin der Meinung, dass wir die Über-tragung in die horizontalen Kontrollmechanismen nichtnotwendigerweise brauchen. Eigentlich brauchen wir siegar nicht. Vielmehr sollte das bewährte System der Öko-kontrollen beibehalten werden. Sollte sich zeigen, dassdiese und andere Verbesserungen nicht in den bestehen-den Entwurf eingepflegt werden können, muss ein völligneuer Anfang gemacht werden. Ich werde jedenfallsnicht dabei helfen, ein totgerittenes Pferd zu satteln. Dasheißt, dass wir mit einer ganzen Anzahl von Kollegenaus anderen Mitgliedsländern, die dieselbe Skepsis ha-ben wie ich, sehr an die Kommission – das werden wirauch im Rat zum Ausdruck bringen – appellieren, dasses nicht zu einer Veränderung um der Veränderung wil-len kommt. Vielmehr sind wir für eine Flexibilisierungim Sinne der Marktgängigkeit der Ökoprodukte sowiefür allgemeine, gleiche Vertrauens- und Kontrollgrund-sätze für alle Produkte – seien sie in Deutschland, in an-deren EU-Ländern oder in Drittstaaten hergestellt.
Nationale Instrumente müssen natürlich wirken. Ich willkurz darauf hinweisen: Sie sind in der Ökoverordnungnicht verboten und nicht angesprochen worden.
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5556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Bundesminister Christian Schmidt
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Sie wissen, dass wir die Prämiensätze in den letztenJahren ständig erhöht haben. In den Jahren 2013 bis2015 haben wir uns zu einem Prämienanstieg um fast25 Prozent für diejenigen, die im Ökolandbau aktiv blei-ben, entschlossen. Ökolandbau ist bei uns gegenwärtigeher rückläufig. Mancher Landwirt überlegt sich, ob ereine teilökologische Umstellung noch halten kann oderob er von den Auflagen nicht ein Stück erdrückt wird.Wir müssen die Branche kontinuierlich und verläss-lich unterstützen. Wir haben hierzu das BÖLN-Programm. Sie kennen das. Das Programm werden wirverstetigen. So sieht es der Koalitionsvertrag vor. Ausdem Programm haben wir die neue Eiweißpflanzenstra-tegie herausgenommen. Damit schaffen wir im BÖLN-Programm neue Förderspielräume. An der Begrifflich-keit möchte ich allerdings festhalten, und zwar nicht nurökologisch; denn es gibt noch andere Formen, die sinn-haft, vertrauenswürdig und vertrauenserheischend sind.Auch sie werden von dem Programm unterstützt. Natür-lich liegt der Fokus bei der Ökologie.Wir sind außerdem entschlossen, unangemessene Bü-rokratie zu verhindern. Diesen Satz sage ich gerne. Ichbitte Sie, dass Sie das als einen Programmsatz von mirverstehen. Ich weiß nach genauerer Lektüre dessen, wasuns in Europa auf den Tisch gelegt wird, manchmal sehrgenau, dass die Umsetzung nicht einfach wird. Trotzdemmuss man damit beginnen und für gute Ergebnisseackern.Ich bin mit den Bioverbänden im Gespräch. Wir ha-ben vor, einen Strategieplan zur Stärkung der ökologi-schen Landwirtschaft zu entwickeln. Die Politik sollnicht an den Erzeugern vorbeigehen. Sie soll Politik fürdie Wertschöpfungskette sein. Ich denke, dass der An-trag – sollte er eine Mehrheit im Deutschen Bundestagfinden, was bei der Zustimmung aller Fraktionen nichtganz ausgeschlossen werden kann – für mich eine Rü-ckendeckung bei den schwierigen Verhandlungen seinwird, die wir in den nächsten Monaten in Brüssel führenwerden. Ich zweifle daran, dass es in diesem Kalender-jahr noch zu entscheidenden Regelungen und Vorlagenkommen kann. Wir sollten uns darauf vorbereiten, dasswir dieses Thema intensiv begleiten. Es ist noch nichtdurch. Wir haben im Sinne eines pragmatisch orientier-ten ökologischen Landbaus in unserem eigenen Landsehr gut an Boden gewonnen.Herzlichen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kirsten
Tackmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Ich möchte daran erinnern: Es geht heuteum die Zukunft von 35 000 Betrieben, die über 1 MillionHektar Fläche bewirtschaften, also um nicht wenig.Ich kann mich noch gut erinnern, dass EU-Kommis-sar Ciolos uns am Rande der Grünen Woche darüber in-formierte, dass er die EU-Öko-Verordnung novellierenmöchte, also den Rechtsrahmen für den Ökolandbau.Seine Begründung war zunächst einmal durchaus nach-zuvollziehen. Natürlich ist auch der Ökolandbau keineheile Welt. Der mächtige Lebensmittelhandel knebeltauch hier die Erzeugerbetriebe. Manchmal riecht es auchbei Bio ein bisschen sehr nach Werbekampagne. Es gibtAusnahmeregelungen, die unterdessen eher zur Regelgeworden sind. Die Ökobilanz eines argentinischen Ap-fels ist vielleicht in Argentinien noch gut, aber im deut-schen Supermarkt eher übersichtlich. Deshalb ist dieDiskussion richtig und wichtig, wie wir das Vertrauen inBio wieder stärken können.
Die Glaubwürdigkeit von Bio ist genau die harteWährung, die Bio braucht. Ich finde den Anspruch voll-kommen richtig, dass natürlich auch bei Importen in dieEU Bio drin sein muss, wenn Bio draufsteht.
Der Entwurf der neuen EU-Öko-Verordnung, den derKommissar dann vorgelegt hat, geht allerdings am selbstgesteckten Ziel vollkommen vorbei. Er legt sogar dieAxt an die Wurzeln des Ökolandbaus. Diese Kritik teilenzum Glück wirklich alle Fraktionen hier im Bundestag.Der wichtigste Streitpunkt für uns ist der Plan, quasi dieDefinition des Ökolandbaus zu ändern. Grundidee desÖkolandbaus ist nämlich, Lebensmittel ökologischer zuproduzieren. Es geht also um umweltverträgliche Pro-zessqualität. Das muss auch dringend so bleiben. DieKommission dagegen will eine Neudefinition über dieProduktqualität. Dazu will sie für Lebensmittel aus öko-logischer Produktion andere Grenzwerte als für Lebens-mittel aus konventioneller Produktion festlegen. Das wi-derspricht nun wieder der grundsätzlichen Aufgabe vonGrenzwerten; denn natürlich müssen Grenzwerte in je-dem Fall sicherstellen, dass der Verzehr von Lebensmit-teln unbedenklich ist.
Sie sind kein Qualitätssiegel, und sie dürfen es auchnicht werden – egal aus welcher Produktionsrichtung.
Im Ergebnis würde diese neue Verordnung – derMinister hat schon darauf hingewiesen – den Ökoland-bau schwächen und nicht stärken. Ökobetriebe und kon-ventionelle Betriebe würden in diesem Fall sogar gegen-einander ausgespielt. Auch das dürfen wir nichtzulassen. Deshalb sage ich für die Linke ganz klar: Die-ser Entwurf muss vom Tisch. In dieser Frage gibt es so-gar einen ungewöhnlich breiten Schulterschluss, nichtnur hier im Haus, sondern sogar zwischen dem Deut-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5557
Dr. Kirsten Tackmann
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schen Bauernverband und den Ökolandbauverbänden.Das ist nach meiner Kenntnis ein Novum in der Ge-schichte des Ökolandbaus.Wir hatten der Koalition angeboten, mit einem ge-meinsamen Antrag zu signalisieren, dass wir alle dieserMeinung sind. Leider ist dieser nicht zustande gekom-men. Das ist parlamentarischer Kindergarten. Damitwird aus meiner Sicht in Brüssel eine Chance verspielt.Das ist einerseits schade. Andererseits werden wir natür-lich erstens dem Antrag der Koalition zustimmen, undzweitens hatten wir die Gelegenheit, mit den Grünen ge-meinsam einen sehr viel qualifizierteren und umfassen-deren Antrag vorzulegen.
Denn zur Stärkung des Ökolandbaus muss natürlich vielmehr getan werden, als in Brüssel nach einem neuen undbesseren Entwurf zu rufen. Die Stärkung des Ökoland-baus ist dabei für die Linke nicht Klientelpolitik, son-dern ein Gebot der Vernunft, wobei wir zumindest wich-tig finden, dass die nachhaltige Produktion auf allenFlächen, auf allen Wiesen und in allen Ställen stattfindet.Der Ökolandbau hat unbestritten viele positiveEffekte. Es ist doch zum Beispiel ökologisch vernünftig,wenn Tierhaltung und Flächenbewirtschaftung aneinan-der gekoppelt sind und das benötigte Futter vor Ort an-gebaut wird.
Ökolandbau ist nicht nur schonender für Boden, Gewäs-ser, Klima und biologische Vielfalt, sondern auch sozialvernünftig, weil er mehr Menschen beschäftigt, undzwar mit guter Arbeit.
Biolebensmittel erfreuen sich einer so schnell wachsen-den Beliebtheit, dass die einheimische Produktion über-haupt nicht hinterherkommt. Deswegen ist es auchvolkswirtschaftlich sinnvoll, den Ökolandbau zu stärken.Es ist also in unser aller Interesse, einen vernünftigenund vor allen Dingen verlässlichen Rechtsrahmen fürden Ökolandbau zu organisieren. Nach unserer Einschät-zung werden noch mehr Forschungsmittel gebraucht, umeinige Fragen im Ökolandbau besser zu beantworten,und bessere regionale Verarbeitungs- und Vermarktungs-möglichkeiten. Heute aber spielen wir zunächst einmalden Ball zum designierten EU-Agrarkommissar Hogan.Die Iren haben ja gerade bewiesen, dass sie in der Nach-spielzeit noch Tore schießen können. Insofern bin ich dasehr optimistisch.
Unsere Unterstützung hätte er, die vieler europäischerParlamentarier auch. Jetzt ist Nachspielzeit.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Johann Saathoff
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute ist Welternährungstag. Für den Welter-nährungstag haben wir uns die Debatte über die ökologi-sche Landwirtschaft ausgesucht; denn der ökologischeLandbau oder, besser gesagt, eine auf regionalen Res-sourcen aufbauende extensive Landwirtschaft spielt inden Entwicklungsländern im Gegensatz zur intensivenAgrarproduktion in Deutschland, Europa und Amerikaeine viel größere Rolle. Weltweit wird in kleinbäuerli-chen Strukturen der überwiegende Anteil an Nahrungs-mitteln lokal erzeugt und regional vermarktet. Es gibteine extensive Landwirtschaft ganz ohne Kontrollen,ohne Ökozertifikate und Ökozertifikatsverpflichtung.Genauso wie wir mit der Weiterentwicklung der Ge-meinschaftsaufgabe Küstenschutz den ländlichen Raumin den Mittelpunkt unserer Agrarpolitik der Zukunft rü-cken wollen, müssen auch die ländlichen Räume in denEntwicklungsländern abseits der großen Städte entwi-ckelt werden, um die Lebensbedingungen der Menschendort zu verbessern.
Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört in ersterLinie die Bekämpfung des Hungers. Jeder Mensch hatdas Recht auf Nahrung; aber ein Recht zu haben undBrot zu bekommen, sind eben zwei verschiedene PaarSchuhe.Genauso wie wir den ökologischen Landbau in klein-bäuerlichen Betrieben in den Entwicklungs- undSchwellenländern schützen und stärken wollen, wollenwir auch den ökologischen Landbau in Europa stärkenund damit die Marktchancen der Biolandwirte deutlichverbessern.Nun liegt ein Entwurf der EU-Kommission vor, undals ich ihn gelesen habe, fiel mir ein: Wat de een sienUul, is de anner sien Nachtigall.
Also: Dem einen mag es gefallen, dem anderen nicht. –Ich glaube, wir können feststellen: Uns allen gefällt esnicht. Denn dieser Entwurf von Noch-Kommissar Ciolosbedeutet eine Bedrohung des ökologischen Landbaus.Mit unserem gemeinsamen Antrag wollen wir derBundesregierung bei ihren Verhandlungen in Brüsselden Rücken stärken; denn diese setzt sich in Brüssel ve-hement für gute Rahmenbedingungen für den ökologi-schen Landbau ein. Und wir wollen, liebe Kolleginnenund Kollegen, ein Signal an das Europäische Parlamentsenden, nämlich dass wir die Rahmenbedingungen desökologischen Landbaus weiterentwickeln wollen, abermit den von der Kommission vorgeschlagenen Maßnah-men nicht einverstanden sind.
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5558 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Johann Saathoff
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Meine Kollegin Rita Hagl-Kehl und ich waren kürz-lich in Brüssel und haben sowohl mit der Generaldirek-tion AGRI wie auch mit dem Berichterstatter des Euro-päischen Parlamentes, dem Grünen Martin Häusling,gesprochen. Mit Herrn Häusling waren wir uns absoluteinig, genau wie wir es heute im Deutschen Bundestagsind.Das Gespräch mit den Kommissionsbeamten verliefnicht ganz so erfreulich. Am Anfang war von Missver-ständnissen die Rede: Das sei doch alles gar nicht soschlimm, und eigentlich seien wir doch einer Meinung;wir hätten nur unterschiedliche Ansätze. Aber je längerdas Gespräch dauerte, desto kälter wurde es. Es habensich deutliche Differenzen herausgestellt. Rita Hagl-Kehl wird auf diese Differenzen weiter eingehen.Ich möchte an dieser Stelle nur ein Beispiel heraus-greifen. Die Kommission schlägt vor, die Rückstands-werte für Pestizide aus der ökologischen Produktion be-sonders niedrig anzusetzen – auf dem Niveau vonBabynahrung. Auf den ersten Blick könnte man der Mei-nung sein, das sei doch genau das Richtige. Aber für denBiolandwirt bedeutet das Folgendes: dass er mehr Geldfür Kontrollen hinsichtlich potenzieller Verunreinigun-gen mit Pestiziden auszugeben hat, deren Einsatz er ei-gentlich gar nicht zu verantworten hat. Denn im ökologi-schen Landbau ist der Einsatz von synthetisch-chemischen Pestiziden verboten.Zum anderen – geht es nach dem Willen der EU-Kommission – soll zukünftig nur noch der Rückstands-wert im Endprodukt beachtet werden. Damit würde diebiologische Landwirtschaft eines deutlichen ökologi-schen Mehrwerts für die Umwelt, für die Gewässer undfür die Böden beraubt werden. Denn wer sich ein wenigin der ökologischen Landwirtschaft auskennt, der weiß,dass das System Ökolandbau sowohl einen ökologischenMehrwert im Hinblick auf das Produkt erbringt als auchauf jeder einzelnen Stufe der Produktion die ökologischeIntegrität bewahrt; die entscheidenden Qualitätsmerk-male können immer wieder kontrolliert werden. Es wirdeben nicht nur das Endprodukt betrachtet.Wir alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollenheute ein Signal nach Brüssel senden, dass wir dieseQualitätsmerkmale der ökologischen Land- und Lebens-mittelwirtschaft erhalten wollen. Wir wollen verhindern,dass ökologischer Landbau künftig nur noch unter Glasstattfinden kann. Wie ökologisch das ist, sollte sich dereine oder andere einmal überlegen.
Die Kommission in Brüssel muss einen verlässlichenund eindeutigen europäischen Rechtsrahmen schaffen.Nur dadurch kann die ökologisch bewirtschaftete An-baufläche in Deutschland und Europa ausgeweitet wer-den, was Landwirten, Verbrauchern, landwirtschaftli-chen Nutztieren und der Umwelt gleichermaßenzugutekäme.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Harald Ebner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Vor 90 Jahren hat der LandwirtschaftlicheKurs die Basis für die Demeter-Bewegung und die öko-logische Landwirtschaft gelegt. Grundlage des ökologi-schen Landbaus ist seither: Bio ist, was mit ökologi-schen Methoden erzeugt wird. Nach dem Motto „KeinGift drauf, kein Gift dran“ weisen diese Produkte vielweniger Pestizidrückstände auf als unter Einsatz vonAgrochemie erzeugte Lebensmittel, wie das Ökomonito-ring seit über zehn Jahren beweist. Der Verzicht auf syn-thetische Pestizide und Düngemittel – Kollege Saathoffhat bereits darauf hingewiesen – ist also das, was denÖkolandbau auszeichnet. Deshalb ist der Beitrag derÖkolandwirtschaft für den Schutz von Klima, Böden,Artenvielfalt und Wasser wissenschaftlich und gesell-schaftlich anerkannt.Der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat den Öko-landbau zum Goldstandard der Nachhaltigkeit erklärt.Bio ist also gut für die Umwelt; schon allein deshalblohnt es sich, für mehr Ökolandbau zu kämpfen.
Bio ist aber auch ein Wirtschaftsfaktor mit – MinisterSchmidt hatte es erwähnt – nahezu 8 Milliarden EuroUmsatz in Deutschland und 20 Milliarden Euro Umsatzin der EU. Bio ist also gut für die Wirtschaft. Auch des-halb lohnt es sich, für mehr Bio zu kämpfen.
Der Trend zu Bio geht also weiter; der Minister hat dieZuwachsraten genannt. Die Menschen wollen Bio, undsie haben recht damit.Bio ist gut, aber nicht perfekt. Wir alle wissen:Nobody is perfect. Minister Schmidt hat die Problemeadressiert, sie sind bekannt. Einige lassen sich durch Än-derungen – wohl gemerkt: Änderungen – der EU-Öko-Verordnung lösen. Gerade in der Betrugspräventionwäre innerhalb und außerhalb Europas schon viel ge-wonnen, wenn die aktuelle EU-Öko-Verordnung konse-quent umgesetzt werden würde und Verstöße so sanktio-niert würden, dass Wiederholungstäter auch wirklichabgeschreckt werden.
Auch Bürokratieabbau ist sinnvoll und notwendig.Aber mit dem Entwurf der Kommission wird gerade dasnicht erreicht. Statt die Branche mit absurden Ideen,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5559
Harald Ebner
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etwa mit einer Neudefinition von Bio, zu verunsichernund Ökolandwirte für den Pestizideinsatz ihrer Kollegenaus der konventionellen Landwirtschaft haftbar zu ma-chen, sollte man beispielsweise endlich die längst über-fällige Abschaffung von Teilbetriebsumstellungen anpa-cken.
Inhaltlich sind wir in all diesen Fragen dicht beieinan-der. Umso mehr bedauere ich es, dass Sie, Kolleginnenund Kollegen von der Koalition, unser Angebot, eine ge-meinsame Initiative aller Fraktionen im Bundestag zustarten, ausgeschlagen haben.Inhaltlich stimmen wir Ihrem Antrag zu – da stehtnichts Falsches drin –, aber wichtig ist auch, was nichtim Antrag steht. Auf nationaler Ebene ist die Agrarpoli-tik der bisherigen Regierungen Merkel ein Generalan-griff auf den Ökolandbau. Das kann auch der heutigerichtige Antrag nicht ansatzweise ausgleichen.
Für mehr deutsche Bioprodukte, Herr Minister, tunSie bisher doch gar nichts. Bei der Reform der Gemein-samen Agrarpolitik haben die Bundeskanzlerin und dieUnion die Rahmenbedingungen für Biobetriebe und sol-che, die es vielleicht einmal werden wollen, drastischverschlechtert. Die Kürzung der Mittel für Agrarum-weltmaßnahmen ist nun einmal das Gegenteil von Öko-landbauförderung. Ich kann es nicht ändern, es ist so.
Eine Auslastung des Bundesprogramms ÖkologischerLandbau und anderer Formen nachhaltiger Landwirt-schaft von 90 Prozent, Kollege von der Marwitz, ist einegute Auslastung. Aber es bleibt auch unter Schwarz-Rotein Selbstbedienungsladen für alle möglichen Akteureaußerhalb des Ökolandbaus, und das muss sich ändern,Kolleginnen und Kollegen.
Obwohl Sie wissen, dass Gentechnik über Wohl undWehe des Biolandbaus entscheidet, gibt es enormeMehrbelastungen dadurch, dass Sie der Zulassung des„Merkel“-Mais 1507 nicht widersprochen haben unddass die Abschaffung der Kennzeichnungspflicht fürHonig mit Gentechnik-Bestandteilen nun Ihre Zustim-mung gefunden hat. Die bittere Wahrheit ist: Wenn hierein paar Freunde des Ökolandbaus reden, ändert dasnoch lange nicht die Agrarpolitik der Koalition.
Der Ökolandbau braucht ein vielfältiges Angebot vonSaatgut. Das Problem ist, dass der Strukturwandel aufdem Züchtungsmarkt das Gegenteil bewirkt: mehr Kon-zerne, weniger mittelständische Züchter, die auf die An-forderungen eingehen. Deshalb muss man beispiels-weise die Forschungsmittel erhöhen. Man muss auch indie öffentliche Forschung einsteigen, um ökologischeTier- und Pflanzenzüchtung voranzubringen.Es ist richtig: Die Vorlage der Kommission ist eineKatastrophe. Was aber gar nicht geht, ist, mit dem Fingernach Brüssel zu zeigen und sich zu Hause einen schlan-ken Fuß zu machen. Aber leider machen Sie genau das.Mit dem gleichen gespielten Erstaunen, mit dem Sie imAusschuss unserem Antrag begegnet sind, werden Sieam Ende angesichts der Erfolglosigkeit in Brüssel ent-rüstet dem Wahlvolk erklären, Sie hätten sich ja bemüht,es hätte aber nichts genützt. Das haben Sie aber nicht. Esmuss auch hierzulande etwas getan werden. Wer mehrBio will, der muss auch vor der eigenen Haustüre keh-ren.Danke schön.
Als nächster Redner hat der Kollege Hans-Georg von
der Marwitz das Wort.
Frau Präsidentin Bulmahn! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Liebe Kollegen! Harald, das war jetztein bisschen sehr drastisch.
Da müsste einiges richtiggestellt werden. Aber geradeweil euer Antrag sehr weitreichend ist und weit über dashinausgeht, über das heute diskutiert werden soll,
ist klar, dass wir nicht näher darauf eingehen können.Heute diskutieren wir über den Vorschlag der Kom-mission, die EU-Öko-Verordnung komplett neu zu struk-turieren. Beim ersten Lesen wirken die Forderungen desehemaligen Kommissars Ciolos eigentlich plausibel.Wer sich aber näher mit dem Verordnungsvorschlag be-fasst, wird schnell nachdenklich. Denn der Teufel steckt,wie immer, im Detail. Worum geht es? Grenzwerte fürökologisch erzeugte Produkte sollen eingeführt, Ausnah-meregelungen bei der Verwendung von ökologischemSaatgut abgeschafft, das Kontrollsystem effizienter ge-staltet und das Importregime verbessert werden. DieKommission möchte durch diese Maßnahmen das Ver-brauchervertrauen in ökologische Produkte stärken, dieQualitätsstandards der Produkte verbessern und denWettbewerb fördern. Das hört sich erst einmal alles gutan. Es ist nachvollziehbar, dass sich der Rechtsrahmenfür ökologische Produkte fortentwickeln muss. Die Öko-branche hat sich in den letzten Jahren prächtig entwi-ckelt. Ein weiteres Wachstum ist wünschenswert, da die
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5560 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Hans-Georg von der Marwitz
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Ökoproduktion eine besonders umweltschonende Formder Landbewirtschaftung ist; das wissen wir.Doch auch die Biobranche musste in den letzten Jah-ren Nackenschläge verkraften. 2010 beschäftigte uns derSkandal um dioxinverseuchte Bioeier aufgrund kontami-nierter Futtermittel aus der Ukraine. Nur ein Jahr späterstand Italien im Fokus. Über 700 000 Tonnen konventio-nelles Getreide und Lebensmittel wurden als Biopro-dukte umdeklariert und in andere europäische Länderverkauft. Das Frappierende an diesem Skandal war, dassselbst Kontrolleure in den Betrug verwickelt waren.Insofern ist es nachvollziehbar, dass die gesetzlichenBestimmungen an steigende Absatzzahlen und Verbrau-cheransprüche angepasst werden sollen, auch um Be-trugsfällen dieser Art vorzubeugen.Uns stellt sich jedoch die Frage nach der Ausgestal-tung. Sind die aktuellen Vorschriften tatsächlich unge-eignet, oder müsste nur die Durchsetzung der geltendenBestimmungen schärfer kontrolliert werden? Von wis-senschaftlicher Seite hat das Thünen-Institut bei derEvaluierung der derzeitigen Verordnung festgestellt– ich zitiere –:Die Prinzipien des Ökologischen Landbaus sind inder EU-Verordnung grundsätzlich gut verankert, einfairer Wettbewerb und ein reibungsloser Binnen-handel werden sichergestellt. Probleme gibt es je-doch unter anderem bei der Umsetzung der Verord-nung in nationales Recht.Zitat Ende. – Da liegt der Hase im Pfeffer. Jetzt überlegtsich die Kommission, die Öko-Verordnung komplett zuerneuern. Meiner Ansicht nach wäre die gezielte Fort-entwicklung der bestehenden Verordnung die bessereAlternative gewesen;
denn die Umsetzungsprobleme in einigen Mitgliedstaa-ten werden mit einer neuen Verordnung nicht gelöst, vorallem nicht, solange Schummeln als Kavaliersdelikt an-gesehen wird.Der Entwurf der neuen Öko-Verordnung sieht Regelnvor, die die Planungssicherheit für Ökolandwirte massivverschlechtern würden. Dadurch könnten bestehendeBetriebe – wir haben es heute schon gehört – aus demMarkt gedrängt und für umstellungswillige Landwirtegrößere Hürden aufgebaut werden. Lassen Sie mich an-hand zweier Punkte in die Problematik einsteigen:Erstens. Ein wesentlicher Unterschied zwischen öko-logischer und konventioneller Produktionsweise ist derVerzicht auf chemische Pflanzenschutzmittel. Das heißt,ökologisch produzierte Pflanzen werden während desProduktionsprozesses nicht mit chemischen Pflanzen-schutzmitteln behandelt. Trotzdem können im End-produkt minimale Rückstände von Mitteln enthaltensein. Das erklärt sich dadurch, dass Ökobauern unterdemselben Himmel wie konventionelle Bauern produ-zieren. Durch Umwelteinflüsse wie Luft, Wasser oderBodenbewegungen können Pflanzenschutzmittel auch inÖkoprodukte gelangen. Allerdings sind in diesen erheb-lich weniger Rückstände zu finden als in konventionel-len Produkten. Laut Ökomonitoring des Landes Baden-Württemberg von 2013 war die Mehrzahl der Proben so-gar rückstandsfrei.
Übrigens gelten derzeit für alle Lebensmittel einheitlicheRückstandsgrenzwerte, egal ob konventionell oder öko-logisch produziert.
Nun möchte die Kommission neue Grenzwerte spe-ziell für die ökologischen Produkte – nicht für die kon-ventionellen, lieber Kollege Saathoff – einführen. Darinliegt letztlich das Problem. Denn je niedriger die Grenz-werte angesetzt werden, desto größer ist das Risiko fürden Ökobauern, allein durch unvermeidbare Umweltein-flüsse diese Grenzwerte zu erreichen. Im Klartext: DerÖkobauer hätte die gesamten Kosten des ökologischenProduktionsprozesses zu tragen, um am Ende Gefahr zulaufen, sein Produkt nur konventionell vermarkten zudürfen.
Zweites Beispiel. Wer nach den Kriterien des ökolo-gischen Landbaus produziert, muss auch ökologischesSaatgut verwenden. Für einige Sorten gibt es Ausnahme-regelungen, da zurzeit nicht ausreichend ökologischesSaatgut am Markt verfügbar ist. Die Kommissionmöchte ab dem Jahr 2017 diese Ausnahmeregelungenabschaffen, um Anreize für Forschung und Produktion,so sagen sie, beim ökologischen Saatgut zu schaffen.Allerdings ist schon jetzt absehbar, dass für viele Gemü-sesorten oder neue Züchtungen von Getreide, Öl- oderEiweißsaaten die Verfügbarkeit von ökologischem Saat-gut nicht gegeben sein wird. Welchen Anreiz soll derLandwirt haben, neu in die Ökoproduktion einzusteigen,zum Beispiel in die Gemüseproduktion, wenn er vonvornherein weiß, dass Saatgut für das Produkt, das ereventuell produzieren möchte, knapp oder nicht vorhan-den sein wird?Dabei ist es aus meiner Sicht gar nicht so schwer, bei-des unter einen Hut zu bringen. Ausnahmeregelungensollten nur für Sorten erlassen werden, deren Verfügbar-keit nicht zugesichert werden kann. Für jede Sorte kannindividuell die Ausnahmeregelung verschärft bzw. ge-strichen werden. Stattdessen laufen wir Gefahr, dass sichÖkolandwirte aufgrund der pauschalen Abschaffung derAusnahmeregelung aus der ökologischen Produktionverabschieden werden. Sie merken, es geht mir nichtdarum, die Vorschriften für den ökologischen Landbauso gering wie möglich zu halten. Wenn jedoch die EU-Kommission den Wünschen des Verbrauchers nachkom-men möchte, sollte dies nicht zum Verlust von Betriebenund ökologischer Produktion führen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5561
Hans-Georg von der Marwitz
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Lassen Sie mich noch kurz auf das Kontrollmanage-ment eingehen. Um die Einhaltung der ökologischenProduktionsvorschriften sicherzustellen, werden Be-triebe von privaten Kontrollstellen überprüft. Die Arbeitselbiger wird wiederum von Länderbehörden überwacht.Dieses System hat sich übrigens in Deutschland wunder-bar bewährt. Allerdings lässt der aktuelle Verordnungs-entwurf erhebliche Interpretationsspielräume bei dentatsächlichen Anforderungen an die Kontrollen. Diesesollen in delegierten Rechtsakten und Durchführungs-bestimmungen erst nach Abschluss der politischen Ver-handlungen durch die Kommission bekannt gegebenwerden. Das wiederum sichert der Verwaltung eine Viel-zahl von Entscheidungsbefugnissen. Das Mitsprache-recht der EU-Parlamentarier wird allerdings dadurchnachhaltig beschnitten. Ferner stellt sich abermals dieFrage nach der Planungssicherheit für Betriebe. JederLandwirt muss wissen, mit welchem Rechtsrahmen er eszu tun hat.Ein weiteres Kuckucksei hat sich die Kommission mitder Abschaffung des Einzelhandelsprivilegs ins Nest ge-legt. Zurzeit müssen Einzelhändler, die ausschließlichendverpackte und kontrollierte Biowaren verkaufen,nicht kontrolliert werden. Diese Ausnahme von derKontrollpflicht soll nun abgeschafft werden. Dadurchwerden beispielsweise Tankstellen oder Kioske in dasKontrollsystem mit eingebunden. Was das für einenenormen Aufwand an Verwaltung bedeutet, können Siesich sicher vorstellen.Last, but not least: die Einfuhrregelungen. Die Kom-mission hat sich auf eine Verschärfung des Import-regimes fokussiert, wodurch die Einfuhr von Erzeugnis-sen aus Drittländern erschwert werden könnte. Diebestehenden Defizite bei den Kontrollen und der Über-wachung der Drittländer werden dadurch garantiert nichtgelöst. Dies haben wir heute schon mehrfach gehört.Die Neufassung der EU-Öko-Verordnung hat vieleSchwachpunkte. Der einstige Agrarkommissar Cioloswollte den Ökolandbau voranbringen und fit für dieZukunft machen. Nach meiner Auffassung ist das mitdem vorliegenden Verordnungsentwurf in keiner Weisegelungen. Daher nutzen wir die Gelegenheit und gebenunserem Bundesminister Schmidt – lieber Herr Schmidt,Sie haben es ja heute schon angekündigt – unsere Stel-lungnahme mit auf den Weg. Wir hoffen sehr – ganz imGegensatz zu meinem Kollegen Harald Ebner, der jaschon unkenrufenmäßig prophezeit hat,
dass wir letztlich keinen Erfolg haben werden –, dass wirdamit in Brüssel erfolgreich sein werden. Angesichts derVehemenz, mit der Sie es heute vorgetragen haben, geheich davon aus, dass wir es sein werden.
– Ich habe nur noch wenige Minuten Redezeit. Du kannstgerne einen Einwand machen, dann steh bitte auf. – Okay,bitte, Kollege Ebner möchte etwas sagen.
Herr Kollege Ebner.
Danke schön, Hans-Georg, dass du mir das freimütig
einräumst.
Wir hatten schon einmal den Fall mit einem Artikel-
23-Antrag: Das war zum Opt-out. Da wurden hier große
Sprüche geklopft, wie man sich einbringen möchte. Wer
das Protokoll dieser Ratssitzung gelesen hat, der weiß,
wie leidenschaftlich der Einsatz für diesen Antrag des
Bundestages ausfiel. Im Protokoll ist nämlich zu lesen:
Der Vertreter Deutschlands erwähnt, dass im Übrigen
eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages vor-
liege, er nenne einen Punkt daraus, bitte auch die andere
Mitgliedstaaten um eine Stellungnahme dazu; im Übri-
gen werde man aber der Beschlussvorlage zustimmen. –
Wenn man so verhandelt, kann dabei nichts herauskom-
men. Ich bitte darum, dafür zu sorgen, dass das im vor-
liegenden Fall anders läuft.
Danke.
Harald, du weißt, dass wir jetzt eine ganz andere Ve-hemenz haben durch eure Zustimmung
und durch die Zustimmung der Linken, aber ganz beson-ders auch durch die Koalition, die einhellig diesePosition vertritt. Ihr habt es ja gehört: Der Minister weißsich einer ganz anderen Allianz – auch anderer Länder –sicher. Insofern gehe ich davon aus, dass deine Befürch-tungen unbegründet sind; wir werden es sehen.
Ganz zum Schluss: Es tut mir leid, dass wir deinen/euren Antrag nicht unterstützen können. Das ist sicher-lich verständlich; denn ihr schießt wieder einmal weit– weit! – über das Ziel hinaus.
Da sind soundso viele Punkte mit angesprochen, darauskönnte man ein abendfüllendes Programm machen. In-
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5562 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Hans-Georg von der Marwitz
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sofern: Nehmt jetzt erst einmal unseren Antrag an, unddann sehen wir weiter.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Rita Hagl-Kehl
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrMinister Schmidt! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AlsBerichterstatterin für die Bereiche Ökolandwirtschaftund Regionalvermarktung ist mir natürlich daran gele-gen, dass wir die Bioproduktion in Deutschland steigern,damit wir mit dem Angebot die größere Nachfrage be-dienen können und nicht weiterhin auf den Import ange-wiesen sind.Auf den ersten Blick erscheint der Verordnungsent-wurf der Kommission positiv, weil gerade die Steigerungder ökologischen Produktion in Europa als Ziel genanntwird. Liest man den Verordnungsentwurf allerdings ge-nau durch und spricht mit den Verbänden, dann merktman, dass das Gegenteil der Fall wäre, würde diese Ver-ordnung umgesetzt werden. Bei unseren Gesprächen mitVertretern der Kommission, die mein Kollege JohannSaathoff ja schon erwähnt hat, wurden unsere Bedenkenals Missverständnisse abgetan.Die Kommission beabsichtigt eine vollständige Inte-gration der speziellen rechtlichen Regelungen zurGewährleistung des bewährten prozessorientiertenÖkokontrollsystems in die horizontale EU-Kontrollver-ordnung. Wir sind der Meinung, dass diese Regelungenim EU-Fachrecht verbleiben müssen; denn im Gegensatzzu anderen Bereichen der Lebensmittelwirtschaft achtetder Ökolandbau nicht nur auf die Kontrolle des End-produktes, sondern auch auf die Kontrolle der Pro-zessabläufe.
Dieses System hat sich bewährt und genießt das Ver-trauen der Verbraucher. Das Argument der Kommission,dass wir ja unser System zugleich beibehalten könnten,ist für uns nicht treffend, da innerhalb der EU die glei-chen Regeln und Standards gelten müssen.Der Verordnungsvorschlag der Kommission beinhal-tet eine hohe Anzahl delegierter Rechtsakte; sie begrün-det das mit der Notwendigkeit von mehr Flexibilität fürihre Handlungen. Die Anzahl von 43 delegierten Rechts-akten betrachten wir als zu hoch. Wir sind der Überzeu-gung, dass diese Zahl reduziert werden muss.
Erforderlich sind klare Vorgaben, um die Kommission inihrem Gestaltungsspielraum einzugrenzen. ZentraleRegelungen der Verordnung müssen dem ordentlichenGesetzgebungsverfahren vorbehalten bleiben. Wir sindnicht bereit, der Kommission einen Blankoscheck auszu-stellen, da unsere Biolandwirte Rechtssicherheit brau-chen.
Verbesserungen sind auch im Hinblick auf die Kon-trolle der Produktion von ökologischen und biologischenLebensmitteln in Drittländern nötig. Der Vorschlag derKommission enthält keine Regelungen für die aktuell zubeobachtenden Schwachstellen. Die Anerkennung gleich-wertiger Standards für Importware in den Einfuhrrege-lungen muss unserer Meinung nach beibehalten werden.Deren anforderungsgerechte Umsetzung in Drittländernmuss aber wesentlich verbessert werden. Die Kontrollenin Drittländern sind an die bestehenden Risiken anzupas-sen. Nur dadurch können gleiche Wettbewerbsbedingun-gen für Erzeuger innerhalb und außerhalb der Europäi-schen Union geschaffen werden.Wir möchten bewirken, dass mehr heimische Land-wirte aktiv von den Marktchancen profitieren und dassmehr Betriebe auf eine ökologische Produktionsweiseumstellen. Eine systematische Stärkung der ökologi-schen Landwirtschaft wollen wir durch den „Zukunfts-plan Öko“ erreichen. Im Rahmen dieses Zukunftsplanswollen wir die unterschiedlichen Fördermaßnahmen fürden Ökolandbau strategisch besser koordinieren.Durch die Verordnung der Kommission würden wirdas Gegenteil bewirken, nämlich dass unsere Bioprodu-zenten sich wieder der konventionellen Landwirtschaftzuwenden. Darin waren sich in den Ausschussberatun-gen alle Abgeordneten der im Bundestag vertretenenParteien einig. Als noch neue Abgeordnete hatte ich des-halb die Vision, dass wir einen fraktionsübergreifendenAntrag zustande bringen, um unserem Landwirtschafts-minister bei den Verhandlungen den Rücken zu stärkenund in Brüssel ein deutliches Zeichen zu setzen. Viel-leicht hätte ich den Ausspruch von Helmut Schmidt be-herzigen sollen, der meinte, dass jemand mit Visionenzum Arzt gehöre.Der Versuch eines fraktionsübergreifenden Antragsscheiterte nämlich an unserem Koalitionspartner, derCDU/CSU-Fraktion, die sich zunächst offen und interes-siert zeigte, beim ersten Gespräch dann aber schon kund-tat, dass sie aus Prinzip keine Anträge mit den Linkenmachen würde; so viel zum Thema Kindergarten, FrauDr. Tackmann. Als der Antrag fertig war und er in derfolgenden Sitzungswoche in den Ausschuss sollte,wurde beim Berichterstattergespräch auch noch kurzer-hand die Fraktion der Grünen ausgeladen, die sich gernean dem Antrag beteiligt hätte.Dieser Brüskierung haben wir es zu verdanken, dassnun zwei Anträge vorliegen, die inhaltlich eigentlichgleich sind. Es tut mir leid für Sie, Herr Minister, dassIhre eigene Fraktion verhindert hat, dass der DeutscheBundestag in dieser wichtigen Frage Einigkeit zeigt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5563
Rita Hagl-Kehl
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Was beim Wein geht, geht anscheinend beim Ökoland-bau nicht.
Außerdem ist diese Brüskierung nicht gerade förder-lich für die Verhandlungen im Europäischen Parlament,da der zuständige Berichterstatter, Martin Häusling, mitdem Johann Saathoff und ich in Brüssel gesprochenhaben und dessen Unterstützung wir natürlich für dieAbstimmungen im Europaparlament brauchen, ebenfallsder Fraktion der Grünen angehört.Es ist nur gut, dass die Opposition in so wichtigenDingen nicht so starrköpfig wie unser Koalitionspartnerist und sie deshalb, obwohl sie vom Antrag ausgeschlos-sen wurde, versprochen hat, diesem zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Ernährung und Land-
wirtschaft auf Drucksache 18/2839 zu dem Vorschlag für
eine Verordnung des Europäische Parlamentes und des
Rates über die ökologische/biologische Produktion und
die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen
Erzeugnissen sowie zur Änderung und zur Aufhebung
bestimmter Verordnungen, hier: Stellungnahme gegen-
über der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes. Der Ausschuss empfiehlt, in Kennt-
nis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Arti-
kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind alle
Fraktionen. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der
Fall. Gibt es Gegenstimmen? – Auch das ist nicht der
Fall. Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stim-
men aller Fraktionen angenommen.
Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/2873 mit dem Titel „Ökolandbau voran-
bringen – In Europa und Deutschland“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Bündnis 90/Die Grünen und die Frak-
tion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition.
Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist der Antrag mit
den Stimmen der Koalition abgelehnt worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesord-
nungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe
– zu dem EU-Jahresbericht 2012 über Men-
schenrechte und Demokratie in der Welt
Ratsdok. 9431/13
– zu dem Entwurf des EU-Jahresberichts
2013 über Menschenrechte und Demokra-
tie in der Welt
Ratsdok. 10848/14
Drucksachen 18/419 Nr. A.156, 18/2533
Nr. A.60, 18/2866
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch zu diesem Vorschlag, dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache, und wenn die Kollegin-
nen und Kollegen sich gesetzt haben, können wir die De-
batte auch beginnen. Ich bitte Sie, dass Sie das jetzt auch
zügig tun. Vielleicht können die Kollegen, die noch die
Diskussion von vorhin fortsetzen wollen – Herr Kollege
Ebner –, das etwas weiter hinten tun.
Als erster Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Frank Schwabe das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In einer Umfrage der Körber-Stiftung in diesem Jahr ha-ben zwei Drittel der Befragten gesagt, dass der Schutzder Menschenrechte das wichtigste Ziel der Außenpoli-tik sei. Ich glaube, es ist wichtig, uns das immer wiederklarzumachen, und zwar in allen außenpolitischen,verteidigungspolitischen, aber auch innenpolitischenDebatten, weil der Schutz der Menschenrechte zumeinen unser Ziel sein muss, zum anderen aber auch dieLegitimation unserer Politik darstellt. Es legitimiertunsere Politik, wenn wir den Schutz der Menschenrechtein den Mittelpunkt unserer politischen Anstrengungenrücken.Die EU hat 2013 den Friedensnobelpreis bekommen,sicherlich für die historischen Verdienste, die man hiernicht noch besonders würdigen muss, aber auch auf-grund einer Erwartungshaltung für die Zukunft. Deshalbist es gut, dass die Europäische Union ihre Menschen-rechtspolitik weiterentwickelt. Das tut sie mit dem Stra-tegischen Rahmen für Menschenrechte und Demokratieund einem Aktionsplan, den sie im Jahr 2012 vorgelegtund beschlossen hat. Dieser Aktionsplan läuft jetzt aus.Es wäre gut, wenn es einen neuen solchen Aktionsplangäbe. Das ist jedenfalls Teil der Beschlussempfehlung,die uns hier vorliegt.Es ist ebenfalls gut, dass die Europäische Union mitStavros Lambrinidis 2012 einen Sonderbeauftragten fürMenschenrechte ernannt hat. Auch hier ist eine Fortset-zung des Mandats wünschenswert.Eine der Aufgaben eines solchen Aktionsplans, den esfortzuentwickeln gilt, und auch des Sonderbeauftragtenmüsste es sein, das, was in Artikel 2 des EU-Vertragsformuliert ist, auch umzusetzen:
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5564 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Frank Schwabe
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Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind dieAchtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokra-tie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wah-rung der Menschenrechte einschließlich der Rechteder Personen, die Minderheiten angehören.Mein Eindruck ist, dass ein solcher Anspruch bei denBeitrittsverhandlungen zur Europäischen Union durch-aus mit Leben gefüllt und umgesetzt wird. Mein Ein-druck ist aber auch, dass wir bei den Mitgliedern, dieschon Teil der Europäischen Union sind, nicht die richti-gen Instrumente haben, um dem Anspruch am Ende dau-erhaft gerecht werden zu können. Ich glaube, das musssich in der Europäischen Union ändern.Zeichen setzt die Europäische Union auch durch ihrenjährlichen Menschenrechtspreis, den das EuropäischeParlament vergibt, den Sacharow-Menschenrechtspreis.Malala Yousafzai, die jetzt auch den Friedensnobelpreisbekommen hat, war im letzten Jahr Trägerin des Sacha-row-Menschenrechtspreises. In diesem Jahr gehört dieMenschenrechtsaktivistin Leyla Yunus aus Aserbaid-schan zu den Nominierten.Es kann kein Zufall sein, dass erst vor kurzem AnarMammadli den Vaclav-Havel-Menschenrechtspreis desEuroparats zugesprochen bekommen hat, sondern esverweist – leider – auf eine Verhaftungswelle in Aserbai-dschan, die in diesem Jahr exzessiv geworden ist.Mit absurden, fadenscheinigen Anklagen, die eher an C-Klasse-Thriller aus den 70er-Jahren erinnern, werdenMenschen unter Anklage gestellt. Es werden ihnen Dro-gen untergeschoben.Es gibt andere, absurd konstruierte Anklagevorwürfe.Es ist ganz klar: Aserbaidschan prosperiert durch Öl undGas. Aber Aserbaidschan sucht auch nach Anerkennung,durch Gesangswettbewerbe, Europameisterschaften undÄhnliches. Allerdings muss auch klar sein: Mit Affrontsgegenüber der Europäischen Union, auch während dergegenwärtigen Präsidentschaft im Europarat, wird es in-ternationale Anerkennung für Aserbaidschan nicht ge-ben können.Deswegen müssen wir, glaube ich, aus dem Deut-schen Bundestag einen klaren Appell an Aserbaidschanrichten: Sorgen Sie dafür, dass insbesondere IlgarMammadov freikommt, der auch nach einem Urteil desEuropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte freige-lassen werden muss! Sorgen Sie dafür, dass auch andereInhaftierte in Aserbaidschan, die nach den Kriterien desEuroparats als politische Gefangene einzustufen sind,freigelassen werden!Sorgen Sie insbesondere dafür, dass Leyla Yunus, diemit schweren Erkrankungen zu kämpfen hat – ich machemir, wie sicherlich auch andere von uns, große Sorgenum sie –, aus dem Gefängnis freigelassen wird! Es mussklar sein: Der Präsident von Aserbaidschan, Herr Alijew,hat persönliche Verantwortung für das Wohlergehen vonLeyla Yunus.
Wir können nicht über Menschenrechte in der Euro-päischen Union reden, ohne dabei das Thema Flücht-linge mit anzusprechen. Dabei ist völlig klar – das wurdeschon mehrfach betont –, dass es zunächst darum geht,den Menschen vor Ort zu helfen, in den Regionen, ausdenen sie flüchten. Aber bevor gleich wieder geklatschtwird, will ich, weil wir in der politischen Debatte schonweiter sind, an der Stelle sagen: Es geht zunächst einmalum humanitäre Hilfe. Darin stimmen wohl alle überein.Dann muss das Parlament aber auch dafür sorgen, dasswir in den Haushaltsberatungen zu einem realistischenAnsatz für humanitäre Hilfe kommen. Das ist unsere ge-meinsame Aufgabe in den nächsten Wochen.
Es kommen dann aber trotzdem Menschen zu uns, al-lein Tausende unbegleitete Kinder und Jugendliche. Esmuss, glaube ich, klar sein, was passiert sein muss, wennman Kinder und Jugendliche in Boote setzt, von denenman nicht weiß, ob sie am anderen Ende des Meeres an-kommen. Am Ende sind es unsere Werte, liebe Kollegin-nen und Kollegen, die mit jedem Toten auf dem Mittel-meer mit Füßen getreten werden.Trotz „Mare Nostrum“, der Rettungsaktion aus Ita-lien, ist es 2014 bei den Toten im Mittelmeer zu Höchst-werten gekommen. Bisher gab es mehr als 3 000 Tote.Ich fürchte, bis zum Ende des Jahres werden es nochdeutlich mehr werden. Es ist völlig klar: Wir müssenbesser werden, als es bisher mit dem italienischenRettungsprogramm der Fall war. Die Befürchtung istaber, dass es eher schwieriger wird. Deswegen ist unsereErwartungshaltung an die Europäische Union, ein Pro-gramm aufzulegen, das am Ende mehr Menschen rettet,auch aus der schwierigen Situation auf dem Mittelmeer.
Ich will die Debatte noch einmal für zwei Appelle zuFlüchtlingsfragen nutzen. Ich habe das in den letztenWochen schon einige Male gesagt.Ich appelliere an jede Stadt, an die Abgeordneten,Bürgermeister und andere Verantwortliche in den Kom-munen: Kümmern Sie sich um die aktuelle Flüchtlings-lage! Bilden Sie runde Tische! Versuchen Sie, zweiDinge zu tun, nämlich zum einen der Frage nachzuge-hen, wie es den Menschen geht und wie die konkreteLebenssituation in den Flüchtlingsheimen und -wohnun-gen ist, und zum anderen: Werben Sie um Verständnis!Ich glaube, man muss die Flüchtlingsfrage personali-sieren. Wenn man das persönliche Schicksal von Men-schen erläutert, ist es viel einfacher, um Verständnis zuwerben.Ich muss, obwohl dies keine Debatte über humanitäreHilfe ist, aber auch das Thema Ebola ansprechen, weilich die große Sorge habe, dass wir gerade eine zweiteKatastrophe erleben. Die erste Katastrophe ist, dass wirzu spät reagiert haben. Jetzt muss man, glaube ich, auf-passen und die Länder benennen, statt einfach zu sagen:„in Afrika“. Wir haben in Sierra Leone, Guinea und
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Frank Schwabe
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Liberia zu spät reagiert. Jetzt kommt die zweite Kata-strophe hinzu. Meine Sorge ist, dass wir jetzt eine Panikerleben – die leider auch von vielen Medien nicht nur inden Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa und inDeutschland geschürt wird –,
die davon ablenkt, wo die Hilfe jetzt dringend vonnötenist, und die zudem noch zu einem absurden Rassismusführt. Damit werden die Menschen, die schon getroffenund belastet sind, zusätzlich mit Rassismus bestraft. Dasdarf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Menschenrechtspolitik braucht Institutionen. Das giltin Europa genauso wie in Deutschland. Eine solche In-stitution ist der Beauftragte der Bundesregierung fürMenschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe. Ichglaube, nach einem halben Jahr kann man sagen, dassChristoph Strässer die schon sehr gute Arbeit vonMarkus Löning in einer hervorragenden Art und Weisefortführt. Ich rufe schon jetzt dazu auf, in den nächstenMonaten und Jahren darüber nachzudenken, wie mandiese wichtige Institution weiter stärken kann.Wir haben weitere wichtige Institutionen. Eine wei-tere wichtige Institution ist das Deutsche Institut fürMenschenrechte, das ebenso hervorragende Arbeit leis-tet, unabhängig und nicht schrill, sondern klar in derpolitischen Ansage ist. Wer die Debatte kennt, weiß, wiedringend notwendig es ist, eine gesetzliche Grundlagefür das Deutsche Institut für Menschenrechte zu schaf-fen. Die Zeit drängt. Ich begrüße deshalb ausdrücklich,dass Bundesjustizminister Heiko Maas einen Gesetzent-wurf vorgelegt und öffentlich benannt hat. Dieser Ent-wurf befindet sich in der Kabinettsabstimmung. Ich willin aller Ruhe und Klarheit betonen: Ich gehe davon aus,dass sich die Koalition der großen Verantwortung be-wusst ist. Sonst droht in Kürze die Aberkennung desA-Status der internationalen Menschenrechtsinstitute.Sicherlich haben auch Aserbaidschan und Russland ei-nen solchen A-Status. Es gibt aber viele gute Gründe,warum es trotzdem wichtig ist, unseren A-Status zu er-halten. Ich habe erst heute gehört, dass sich Russland inder Überprüfung befindet. Es droht den A-Status zu ver-lieren und auf den B-Status herabgestuft zu werden. Ichmöchte mir die Peinlichkeit nicht ausmalen, dassDeutschland, während es im nächsten Jahr den Vorsitzim UN-Menschenrechtsrat übernimmt, gemeinsam mitRussland von A auf B herabgestuft wird. Wir sollten al-les tun, um das zu vermeiden.
Das Thema der Zukunft wird Wirtschaft und Men-schenrechte sein. Das ist bereits ein menschenrechtlichesSchwerpunktthema der Europäischen Union ebenso wieDeutschlands. Das wird das erste Halbjahr im Ausschussfür Menschenrechte und Humanitäre Hilfe bestimmen.So kritisch man manches an TTIP und CETA sehenkann, so dankbar bin ich für die entsprechenden Debat-ten; denn sie eröffnen endlich die Chance, über anderehandelsrechtliche Fragen und andere Abkommen kri-tisch zu diskutieren. Ich freue mich darüber, dassDeutschland nach europäischer und internationaler Auf-forderung endlich einen nationalen Aktionsplan zur Um-setzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Men-schrechte vorbereitet. Am 6. November fällt derStartschuss im Auswärtigen Amt. Ich glaube, das ist eingroßer Erfolg und ganz wichtig für die BundesrepublikDeutschland.
Genauso wichtig ist allerdings, dass das Fakultativ-protokoll zum UN-Sozialpakt endlich ratifiziert wird. ImBericht der Europäischen Union werden die Länder dazuausdrücklich aufgefordert. Damit ist wohl auch Deutsch-land gemeint. Ich halte es außerdem für überfällig, dasswir nicht nur an die Entwicklungsländer appellieren, et-was zu tun, sondern auch nach über 20 Jahren mit gutemBeispiel vorangehen und endlich die ILO 169 zu Rech-ten der indigenen Bevölkerung ratifizieren und umset-zen. Das steht nach über 20 Jahren dringend an.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Groth
das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wir debattieren nun über die EU-Menschenrechtsbe-richte für die Jahre 2012 und 2013. Diese Berichte be-leuchten genauso wie beim letzten Mal vor allem die Si-tuation der Menschenrechte in Nicht-EU-Staaten.Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU will manwohl verschweigen. Was ist zum Beispiel mit den Waf-fenexporten aus Ländern der EU? Sie sind, wie wir allewissen, für schwerste Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich. Doch der Bericht fordert keinerlei Kon-sequenzen, wie zum Beispiel ein Exportverbot für Aus-rüstungsgegenstände für Polizeien oder paramilitärischeEinheiten in autoritären Regimen.Eine Auseinandersetzung mit den äußerst negativenAuswirkungen von EU-Freihandelsabkommen mit Län-dern des globalen Südens fehlt in dem Bericht völlig.Durch das EU-Abkommen mit Kolumbien zum Beispielwären, wenn es in Kraft treten würde, etwa 400 000Milchbauern in ihrer Existenz bedroht. Das sind dieAuswirkungen von Freihandelsabkommen.
In vielen Staaten der EU ist eine zunehmende Ein-schüchterung und Kriminalisierung von Menschen, diegegen die neoliberale Politik protestieren, festzustellen.Bei den großen Demonstrationen in Spanien, Italien und
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5566 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Annette Groth
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Griechenland ist die Polizei mit unverantwortlicherHärte gegen die Demonstrierenden vorgegangen. Etlichewurden verhaftet, viele mit teilweise hohen Geldstrafenbelegt. Dazu herrscht zumeist lautes Schweigen. Ganzanders ist es bei China, wie wir gerade in Hongkong be-obachten. Da ist die Entrüstung zu Recht groß, wenn diePolizei mit solcher Härte gegen die Demonstrierendenvorgeht.Aber auch in Deutschland ist eine solche Entwicklungfestzustellen. Die ständig zunehmende Repression gegenden antifaschistischen Widerstand, die Blockupy-Bewe-gung oder die Menschenrechts- und Sozialproteste ge-fährden das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dage-gen müssen wir uns doch alle wehren.
Wir fordern, dass der nächste Menschenrechtsbericht diekonkreten Folgen dieser Repression für demokratischeRechte in der EU aufzeigt und die Akteure klar benennt.Durch die verfehlte Politik in der EU hat die sozialeAusgrenzung in den letzten Jahren immer mehr zuge-nommen. Armut, Perspektivlosigkeit, Wohnungsnot,fehlender Zugang zu Gesundheitsversorgung und Ar-beitslosigkeit sind für viele Millionen EU-Bürgerinnenund EU-Bürger eine traurige Tatsache. Fast 25 MillionenMenschen in der EU haben keinen Arbeitsplatz, darunter5 Millionen Jugendliche. In Griechenland leben heute21 Prozent der Bevölkerung von einem Einkommen, dasweniger als den Mindestlohn von 470 Euro im Monatbeträgt. Mehr als ein Drittel kann die Miete nicht mehrbezahlen und ist von Obdachlosigkeit bedroht. EinGroßteil der Arbeitslosen hat keine Krankenversiche-rung mehr.Diese schrecklichen Lebensbedingungen sind mit derEU-Grundrechtecharta keinesfalls vereinbar. Die wach-sende Kluft zwischen Arm und Reich ist demokratiege-fährdend und fördert Rassismus und Fremdenfeindlich-keit. Das haben die Wahlen in mehreren EU-Ländern,zuletzt in Ungarn, klar gezeigt. In Ungarn ist die rechts-extreme Jobbik-Partei inzwischen zweitstärkste politi-sche Kraft. Das ist ein Skandal und macht mir Angst.
Skandalös – Frank Schwabe hat es gerade erwähnt –ist natürlich die EU-Flüchtlingspolitik, die aber in demMenschenrechtsbericht überhaupt nicht erwähnt ist. Inden letzten 14 Jahren sind mindestens 25 000 Menschenim Mittelmeer ertrunken, in diesem Jahr mehr als 3 000.Ohne „Mare Nostrum“, verehrter Herr Schwabe, wärenes noch viel mehr. Jetzt will die italienische Regierung„Mare Nostrum“ stoppen, weil sich die anderen EU-Staaten weigern, sich finanziell daran zu beteiligen. Dasist doch eine Schande für uns alle; denn die Zahl der Er-trinkenden wird steigen. Das ist völlig klar.
Ich habe mich über den Friedenspreis des DeutschenBuchhandels an Jaron Lanier gefreut und möchte ausseiner bemerkenswerten Rede zitieren.Der Anspruch, dass alte Vorrechte über Bord ge-worfen werden müssen – etwa Datenschutz oder dieErrungenschaften der Arbeiterbewegung –, umneuer technologischer Effizienz Platz zu machen,ist grotesk. … Allen Technologie-Schaffenden gebeich zu bedenken: Wenn eine neue Effizienz von di-gitalem Networking auf der Zerstörung von Würdeberuht, seid ihr nicht gut in eurem Fach.Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung istein Menschenrecht, das aber nicht den Profitinteressenvon Amazon, Google und Co. geopfert werden darf. Esist zu wünschen und zu hoffen, dass in den nächstenMenschenrechtsberichten der EU alle diese vergessenenThemen, die aber so wichtig für uns sind, endlich thema-tisiert werden. Dafür müssen wir uns alle einsetzen.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Erika
Steinbach das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Koalitionsfreund Schwabe, als politischer Le-bensabschnittspartner Ihrer Partei darf ich Ihnen ver-sichern: Wir wollen selbstverständlich das Deutsche In-stitut für Menschenrechte auf eine gute Grundlagestellen, damit es endlich den Pariser Prinzipien ent-spricht. Da sind wir einer Meinung. Das wird auch kom-men.Die beiden vorliegenden EU-Jahresberichte 2012 und2013 über Menschenrechte und Demokratie in der Weltzeigen, wie die Europäische Union sich positioniert undengagiert hat. Aber es ist auch erkennbar – gerade imBlick auf die aktuellen Entwicklungen in diesem Jahr –,dass wir vor neuen, ganz gewaltigen Herausforderungenstehen, die uns noch sehr lange in Atem halten werden.Dabei ist es nötig, dass die Europäische Union mehrnoch als bisher mit einer Stimme spricht, dass wir allebeieinander bleiben. Nur so haben wir auch Durchset-zungsmöglichkeiten.Die künftige EU-Außenbeauftragte FedericaMogherini hat vor dem Auswärtigen Ausschuss des Eu-ropäischen Parlaments verdeutlicht, wo sie die Schwer-punkte ihrer Politik setzen will. Ich finde es gut, dass siedie Menschenrechte als ein Herzstück der europäischenAußenpolitik bezeichnet hat. Das ist eine gute, positiveAussage in diesen schwierigen Zeiten.
Außerdem haben mich auch ihre Ausführungen zumSchutz der Zivilgesellschaft sowie zu weiteren klassi-schen Menschenrechtsthemen, wie zum Thema Todes-strafe oder zum Thema Folter, sehr überzeugt. Es istauch gut, dass es einen Sonderbeauftragten der Europäi-schen Union für Menschenrechte gibt. Stavros Lambrinidis
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Erika Steinbach
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hat diese Aufgabe in den letzten Jahren sehr verantwor-tungsvoll wahrgenommen. Deshalb sind wir ausdrück-lich für die Erteilung eines Folgemandats. Er hat seineArbeit gut gemacht.Berichte wie die jetzt vorliegenden, die wir beraten,beschreiben weitgehend die Vergangenheit. Das ist sehrnützlich; man kann daraus lernen. Inzwischen bedrängenuns aber auch akut neue gewaltige Herausforderungeninnerhalb und außerhalb der Europäischen Union. So hatder Terror des „Islamischen Staates im Irak und inSyrien“ weltweites Entsetzen ausgelöst. Vor allem diewirklich unbegreifbare, brutale Gewalt gegen religiöseMinderheiten wie Christen und Jesiden, aber auch gegenalle anderen Andersgläubigen durch Mord, durch Folter,durch Vergewaltigung, durch Versklavung, durch Ver-treibung macht uns jetzt im 21. Jahrhundert fassungslos;schließlich haben wir doch eine ganze Weile geglaubt,die Welt könnte endlich besser werden. Ein Ende ist lei-der nicht absehbar.Insofern, glaube ich, ist es gut, dass es deutsche Waf-fenlieferungen an die dagegen kämpfenden kurdischenKräfte gibt; das ist eine richtige Entscheidung gewesen.Das wird zwar nicht viel helfen, aber kann wenigstensetwas helfen, die Zivilbevölkerung vor den barbarischenIS-Horden zu schützen.Wichtig ist auch Deutschlands humanitäre Hilfe, umden Hunderttausenden Binnenflüchtlingen über denWinter zu helfen. Ich begrüße ausdrücklich, dass derHaushaltsausschuss des Bundestages unter anderem inder vergangenen Woche zusätzlich 60 Millionen Eurofür die Flüchtlingshilfe bewilligt hat.
Die Türkei steht zurzeit – ich sage: mit Recht – inter-national für ihr mehr als halbherziges Vorgehen gegenden IS in der Kritik. Präsident Erdogan ist wirklich drin-gend gefordert, sich der internationalen Koalition gegendie islamistischen IS-Terroristen anzuschließen, damitdie Region nicht noch tiefer im Chaos versinkt. WennErdogan glaubt, dass er durch Toleranz gegenüber demIS sein Land vor diesen Verbrechern beschützen kann,dann irrt er fundamental; davon bin ich überzeugt. DerIS wird dort nicht haltmachen.Im aktuellen EU-Fortschrittsbericht ist die Türkei da-rüber hinaus erneut unter anderem für die Einschränkungder Medien- und Meinungsfreiheit kritisiert worden.Auch im Umgang mit Minderheiten ist Ankara nochweit entfernt von europäischen Standards. Das Men-schenrecht auf Religionsfreiheit wird den religiösenMinderheiten nach wie vor nicht ohne weitgehende Ein-schränkungen gewährt – und das ist keine Freiheit. Auchder Völkermord an den Armeniern, an den Assyrern, denAramäern und den Chaldäern, der sich im kommendenJahr zum 100. Male jährt, wird von der Türkei weiterhinweitgehend geleugnet.Die EU-Kommission hält ungeachtet massiver Kritikim Fortschrittsbericht – so heißt es so schön; richtigerwäre „Rückschrittsbericht“ – an den Beitrittsgesprächenmit der Türkei fest. Nichts sei besser geeignet als der Bei-trittsprozess, um Reformen anzustoßen und Kooperations-projekte im Interesse der Europäischen Union voranzubrin-gen, so heißt es. Die Realität sieht aber anders aus. Ich sageIhnen: Die Europäische Union ist keine Besserungsanstaltfür unwillige Beitrittskandidaten. Das haben wir eigentlichnicht nötig.
Richten wir den Blick in den Osten unseres eigenenKontinents: Russland hat mit seiner gewaltsamen Annexionder ukrainischen Halbinsel Krim das Völkerrecht massivgebrochen. Dort stehen vor allem die Krimtataren unterstarkem Druck; Einreiseverbote gegen ihre führenden Ver-treter Mustafa Dschemilew und Refat Tschubarow spre-chen eine deutliche Sprache. Auch in der Ostukraine brichtRussland mit seiner aktiven Politik der Unterstützung derprorussischen Rebellengruppen das Völkerrecht.Im eigenen Land geht Putin – das haben wir den Me-dien aktuell entnehmen können – massiv gegen unbe-queme Kritiker und Menschenrechtsorganisationen vor.Gerade hat das russische Justizministerium mit der Zer-schlagung der angesehenen MenschenrechtsorganisationMemorial gedroht. Memorial ist eine im gesamten post-sowjetischen Raum aktive Organisation. Deutlich ist,dass Putin seine repressiven Maßnahmen gegen die Zi-vilgesellschaft konstant fortsetzt. Er lässt sich nicht beir-ren, auch nicht durch noch so viele Telefonate, auchnicht durch noch so vieles Bitten, er macht einfach wei-ter.Wir haben über zwei Berichte zu befinden. Beide unsvorliegenden Berichte machen deutlich, dass die Men-schenrechte in der Politik der Europäischen Union einimmer größeres Gewicht erhalten. Das ist eine gute Bot-schaft. Fazit ist auch: Die prekäre Weltlage der Gegen-wart erfordert, dass dies unabdingbar ist und weiter in-tensiviert werden muss.Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner spricht Tom Koenigs.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wörtlichheißt es im Aktionsplan:Die EU wird die Menschenrechte in den Mittel-punkt ihrer Beziehungen zu sämtlichen Drittländerneinschließlich ihrer strategischen Partner stellen.Das ist eine gute Feststellung.Die 97 Aktionen, die im Aktionsplan enthalten sind,werden in dem hier zur Debatte stehenden Bericht abge-arbeitet. Die EU hat damit den Anspruch bekräftigt, ihreinternen Strukturen und die externe Politik konsequentauf die Menschenrechte auszurichten. Die jährlichen Be-richte sind ein wichtiger Teil dabei.Meines Erachtens kommt es darauf an, dass manglaubwürdig bleibt und in der internen Situation genauso
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Tom Koenigs
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rigoros vorgeht, was die Ansprüche und die Berichte be-trifft.
Denn die Menschenrechtsorientierung ist im Augenblickvon zwei Seiten im Feuer, einerseits von außen, nämlichdurch neu entstandene nichtstaatliche Organisationen– solche sind es, auch wenn sie sich „Staat“ nennen –,die frontal die Menschenrechte, die universelle Erklä-rung der Menschenrechte angreifen, wie der sogenannte„Islamische Staat“ oder Boko Haram, eine Organisation,die dies sogar im Namen führt. Das ist eine Infragestel-lung aller unserer Werte, und die müssen wir ernst neh-men.Gleichzeitig ist die Europäische Union bezüglich derMenschenrechte auch in einer internen Krise, nicht nurweil sich populistische Parteien über Fremdenfeindlichkeitoder Rassismus zu profilieren versuchen, sondern auch weilan einzelnen Stellen bis in die konservative Mitte hinein derRespekt und die Achtung vor den europäischen Menschen-rechtsinstitutionen erodieren. Cameron sagt: Wir werdenuns nicht mehr den Richtersprüchen des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte unterwerfen. – Das ist einAngriff auf die Europäische Menschenrechtskonvention,die 1953 in Kraft getreten ist. Damit diskreditiert er diemenschenrechtlichen Institutionen. Kürzlich legte sein Jus-tizminister Chris Grayling nach, indem er sagte: Wir wer-den gegebenenfalls auch aus der Europäischen Menschen-rechtskonvention aussteigen. – „Gräulich“, kann ich nursagen.
Die europäische Antwort muss sein, Menschenrechteals Leitmotiv der Außenpolitik konsequent weiterzuver-folgen und andererseits intern, innerhalb der EU, Men-schenrechtsverletzungen ebenso schonungslos anzupran-gern und abzustellen. Wir diskreditieren unsereGlaubwürdigkeit, wenn wir das nicht tun.Eben ist schon angesprochen worden, dass das Mittel-meer die offene Wunde der Menschenrechtspolitik derEuropäischen Gemeinschaft ist. Es ist nicht nur so, dasswir uns abschotten, sondern wir betreiben eine Flücht-lingspolitik – wenn man das überhaupt noch „Politik“nennen kann –, die nicht anders als menschenverachtendbezeichnet werden kann und vom Kommissionspräsi-denten, von der zuständigen Kommissarin, vom EP-Prä-sidenten bis hin zum Papst auch so bezeichnet wordenist. Nun gibt es endlich eine Aktion der italienischenMarine, genannt „Mare Nostrum“, die wenigstens in ein-zelnen Bereichen Ertrinkende auffischt und an Landbringt. Jetzt heißt es, dass sie eingestellt werden muss,weil sie 9 Millionen Euro im Monat kostet. Das kanndoch nicht so sein! Ich habe kein Vertrauen zu einerFrontex oder Frontex Plus, die letzten Endes doch imZeichen der Gefahrenabwehr – so wie übrigens unserAusländerrecht auch – handeln: Gefahr Flüchtlinge!Schutz vor Flüchtlingen, nicht für Flüchtlinge!
Es hilft auch nicht, Herr Schwabe, wenn Sie sagen,die humanitäre Hilfe muss angehoben werden. Das ha-ben wir beantragt, und Sie haben erst gestern dagegengestimmt. Auch hilft nicht, dass die Beitrittskandidatenauf Herz und Nieren geprüft werden, sondern wir müs-sen uns selber prüfen. Da das vereinte Europa stark ist,könnte es auch stark genug sein, Whistleblowern – diehandeln ja in unserem Sinne, im Sinne der von uns ein-gebrachten UN-Resolution für Privacy – selbst dannAsyl zu geben, wenn der „große Bruder“ in den Verei-nigten Staaten zürnt. Wenn er deswegen der ganzen Eu-ropäischen Gemeinschaft zürnen würde, würden wir dasnoch durchhalten – ein kleiner, schwacher Staat wieDeutschland vielleicht nicht. Das kann sein.Dazu brauchen wir starke menschenrechtliche Vorga-ben, eine starke menschenrechtliche Stimme der Euro-päischen Gemeinschaft und eine Orientierung nach in-nen, wie sie verbal nach außen hin besteht. Ich hoffe,dass zukünftige Berichte in diesem Sinne ausfallen wer-den. Diese Stimme darf nicht die globale Hoffnung, wel-che durch die Europäische Gemeinschaft nach außen hinerweckt wird, Lügen strafen. Dann bleibt nämlich nureine Orientierung an Autokraten, Technokraten oder– noch schlimmer – Theokraten.Vielen Dank.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Julia Bartz das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Mädchen mit Büchern sind der schlimmsteAlbtraum für Terroristen“. So titelte der Daily Tele-graph. Malala Yousafzai ist ein solches Mädchen. Sie istein Mädchen, das sich gegen die religiös begründete Un-terdrückung wehrte und für das Menschenrecht „Bil-dung“ – für sie und für andere Kinder – eintritt. Malalastammt aus dem Swat-Tal in Pakistan, das den meistenvon Ihnen als ehemalige Talibanhochburg bekannt ist.Systematisch wurden dort die Menschenrechte vonFrauen mit Füßen getreten. Mädchen durften nicht mehrunverschleiert aus dem Haus gehen. Sie durften nichtmehr tanzen, nicht mehr Spaß haben. Mädchenschulen– aus Sicht der Taliban verkörpern sie das Böse schlecht-hin – wurden einfach dem Erdboden gleichgemacht.Malala und ihr Vater, ein Lehrer an einer Mädchen-schule, leisteten Widerstand. Am 9. Oktober 2012 stopp-ten Taliban den Schulbus von Malala und anderen Mäd-chen, die sich dem Schulverbot widersetzten. Ausnächster Nähe wurde der damals 14-Jährigen, die aufdem Weg zur Schule war, in den Kopf und in den Halsgeschossen.Wie durch ein Wunder überlebte sie. Dieser Ein-schnitt in ihr Leben hielt Malala nicht auf. Heute kämpftsie weltweit für das Menschenrecht auf Bildung. Malalamacht Hoffnung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5569
Julia Bartz
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Hoffnung ist wichtig, gerade angesichts des Treibensder ISIS-Terrormilizen. Die ISIS-Terrormilizen nenneich ganz bewusst so. Den Begriff „Staat“, den sie in ih-rem Namen verwenden, erkenne ich ihnen ab; denn miteinem Staat verbinde ich Diplomatie, Rechtsstaatlich-keit, Gewaltmonopol, keine Willkür und keine Schariaund nicht Gewalt als einziges Mittel.
Wie in fast allen Konflikten sind es vor allem Kinderund Frauen, die unter ISIS leiden. ISIS gibt, so Berichtedieser Woche, ihre Gräueltaten ganz offen zu. TausendeMädchen und Frauen werden auf Sklavenmärkten ver-kauft, als Haussklavinnen gehalten und Opfer sexuellerGewalt. Teile von Irak und Syrien sind zu menschen-rechtsfreien Zonen verkommen. Krieg und Schreckentreiben Millionen in die Flucht. Es leben bereits mehr als3 Millionen Syrer im Exil, 1,5 Millionen Flüchtlinge al-leine in der Türkei. Besonders dramatisch ist die Lageim Libanon. Über 1 Million Flüchtlinge sind dort unter-gekommen. Das ist eine dramatische Anzahl, wenn manbedenkt, dass der Libanon selbst nur ungefähr 4,5 Mil-lionen Einwohner hat. Umgerechnet auf Deutschlandwürde das 20 Millionen Flüchtlinge bedeuten.Die Infrastruktur im Libanon steht kurz vor dem Kol-laps. Die Situation im Nordirak ist nicht besser. Hiermüssen mehr als 2 Millionen Binnenflüchtlinge unterge-bracht werden. Unser Minister Gerd Müller war erstkürzlich vor Ort und hat berichtet, dass die Essenspaketedort rationiert werden und viele ohne Zelte auf derStraße leben. Es fehlen Decken und Zelte, von medizini-scher Versorgung ganz zu schweigen.
Rund 12 Millionen Menschen benötigen dringend un-sere Hilfe. Um es drastisch zu sagen: Erst kommt derRegen, dann der Winter und dann der Tod, wenn wirnicht stärker helfen. Deutschland hat seit 2012 für dieFlüchtlinge in Syrien, im Irak und in den angrenzendenStaaten bereits über 671 Millionen Euro zur Verfügunggestellt, erst Anfang Oktober noch einmal weitere Mil-lionen. Ich bitte an dieser Stelle die Europäische Union,auch wenn noch nicht alle Kommissare neu bestellt sind,schleunigst ihre vorhandenen Mittel freizugeben undjetzt zu handeln.
Tausende flüchten vor den schwarzen Fahnen derISIS und sind froh, wenn sie die der Vereinten Nationensehen. Nach den Fahnen der Europäischen Union mussman derzeit dort leider noch suchen. Unsere EU mussaufwachen und sich stärker als bisher im Nordirak und inSyrien an der humanitären Hilfe beteiligen. Dass wirnämlich auf europäischer Ebene viel bewirken können,zeigen auch die vorgelegten Berichte. Innerhalb der letz-ten Jahre konnten wir die Menschenrechtspolitik nochstärker im auswärtigen Handeln der EU verankern. DasAmt des EU-Sonderbeauftragten für Menschenrechtewurde geschaffen. Die EU hat 2012 und 2013 mit 30Partnerländern Menschenrechtsdialoge geführt. Dieseländerspezifischen Menschenrechtsstrategien befindensich auf einem guten Weg. 146 wurden ausgearbeitet,und 123 werden bereits umgesetzt.Ein wichtiges Signal ist auch die Benennung einesBeauftragten für Religionsfreiheit; denn die freie Aus-übung von Religion ist vielerorts nicht möglich. DasChristentum ist weltweit die am stärksten verfolgte Reli-gion. Wir wollen Todesstrafe, Folter und Misshandlungweltweit abschaffen und haben hierfür die Mittel auf1,33 Milliarden Euro aufgestockt.Der Europäische Auswärtige Dienst hat mit der Ent-wicklung eines Konfliktfrühwarnsystems begonnen, indas auch Menschenrechtsverletzungen als Indikatorenaufgenommen wurden. Dieses Projekt läuft in acht Län-dern der Sahelzone und soll ausgeweitet werden. Eskönnte langfristig dazu dienen, neue Handlungsoptionenin der Krisenprävention zu eröffnen.Wie Sie sehen, gibt es zahlreiche Maßnahmen an un-terschiedlichen Orten, um Menschenrechte durchzuset-zen. Das ist gut so; denn in vielen Teilen dieses Planetenbleiben besonders Kindern und Frauen Menschenrechteverwehrt, sei es aus religiösen Gründen, Armut, Gewaltoder staatlicher Willkür. Auch in Europa müssen wirnoch an der universellen Umsetzung der Menschen-rechte arbeiten.Es gibt 23 623 offiziell registrierte Opfer von Men-schenhandel in der Europäischen Union; Tendenz stei-gend, und zwar von 2008 bis 2010 um 18 Prozent. Unterden Betroffenen sind 80 Prozent Frauen und Mädchen.Die tatsächliche Dunkelziffer liegt sicherlich noch weitüber dieser Zahl von 23 623 Opfern. Deshalb ist es rich-tig und wichtig, dass wir nun in Deutschland das Prosti-tutionsgesetz verschärfen, um Zwangsprostitution einzu-dämmen und Opfer sexueller Gewalt zu schützen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Menschen-rechte sind ein Querschnittsthema, das viele Politikfel-der berührt. Wir sind diesbezüglich in unterschiedlichenpolitischen Bereichen tätig, insbesondere auch in derAußen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Zum Bei-spiel hilft die Bundeswehr in Mali beim Staatsaufbau.Stabile staatliche Strukturen sind wichtig, damit Kindersicher leben können, um Bildung und wirtschaftlichesWachstum zu ermöglichen und auch um Menschenhan-del einzudämmen. Im Norden Malis verläuft eine derdrei Hauptrouten durch die Sahara, über die nahezu dergesamte afrikanische Menschen-, Waffen- und Drogen-handel abgewickelt wird.Sie sehen: Die Zusammenhänge sind komplex. In ei-ner immer stärker zusammenwachsenden Welt brauchenwir einen vernetzten Ansatz aus Diplomatie, humanitä-rer Hilfe, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Sicher-heit. Damit Menschen eine gute Zukunft in ihrer Heimatfinden, beteiligen wir uns zum Beispiel am Aufbau einerPanafrikanischen Universität.
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5570 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Julia Bartz
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In Afghanistan haben wir Schulen auch für Mädchen ge-baut und Lehrerinnen ausgebildet. Ohne den Schutz vonISAF wäre das aber nicht möglich gewesen. Ich hoffesehr, dass unsere mittlerweile zwölf Jahre währendenAnstrengungen von nachhaltigem Erfolg geprägt sindund Bildung den Grundstein für Afghanistans Zukunftlegt. Um es mit den Worten von Malala zu sagen: Stifteund Bücher sind Waffen, die Terrorismus besiegen.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die De-
batte.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
den EU-Jahresberichten 2012 und 2013 über Menschen-
rechte und Demokratie in der Welt. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/
2866, in Kenntnis der EU-Berichte eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? –
Das ist die Opposition. Enthaltungen gibt es keine. Dann
ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Ko-
alition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/
2896. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition. Wer
enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist dieser
Antrag abgelehnt worden mit den Stimmen der Koalition
bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Schulsozialarbeit an allen Schulen sicherstel-
len
Drucksache 18/2013
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Deshalb ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte. Wenn die Kolleginnen und
Kollegen sich gesetzt haben, können wir auch beginnen.
– Als erste Rednerin hat die Kollegin Dr. Rosemarie
Hein das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sie alle wissen, dass sich die Bedingun-gen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichenin den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert ha-ben. Lehren und Lernen ist deutlich schwieriger gewor-den. Das liegt auch daran, dass sich die Schule inDeutschland nicht in gleichem Maße mitverändert hat.So klagen heute Lehrerinnen und Lehrer, dass die ihnenanvertrauten Schülerinnen und Schüler immer schwererzu motivieren seien, dass sie nicht wüssten, was sie wol-len, dass die Familien sich zu wenig kümmerten usf.Ausbildungsbetriebe beklagen, dass die Disziplin unddie Leistungsbereitschaft fehlten, dass die Jugendlichennicht gelernt hätten, pünktlich zu sein usw.Nun könnte man die alten Griechen zitieren, die Ähn-liches auch über die Jugendlichen der damaligen Zeit ge-sagt haben. Aber das hilft uns ja heute nicht weiter. Inder Tat verlangen wir heute sehr viel von jungen Men-schen, und in der Tat sind Familien und Lehrkräfte oftnicht in der Lage, in dieser Situation die nötigen Hilfenzu bieten. Auch darum hat sich in den letzten Jahrzehn-ten die Schulsozialarbeit als ein Instrument entwickelt,das geeignet ist, das Lernen von Kindern und Jugendli-chen zu unterstützen. Dabei ist Schulsozialarbeit ein An-gebot für Kinder und Jugendliche, aber ebenso für Lehr-kräfte und Eltern.
Schulsozialarbeit erübrigt nicht das soziale Engage-ment von Lehrerinnen und Lehrern. Sie ist auch kein Er-satz für Freizeitangebote, etwa am Nachmittag an Ganz-tagsschulen. Sozialpädagogische Fachkräfte sehen oftProbleme, bevor sie wirklich aufbrechen, und wissenRat, wenn es scheinbar nicht mehr weitergeht. Sie kön-nen Hilfen vermitteln und manchmal auch einfach Hil-fen bieten. Darum ist Schulsozialarbeit ein unverzichtba-rer Bestandteil erfolgreicher Schule von heutegeworden.
Aber Schulsozialarbeit ist noch lange nicht an jederSchule verfügbar, und dort, wo es sie gibt, ist sie nichtdauerhaft gesichert. Oftmals wird Schulsozialarbeit alsNotnagel an vermeintlichen Problemschulen oder in so-genannten sozialen Brennpunkten angesehen, und tat-sächlich meinen manche, an Gymnasien sei das alles garnicht nötig. Aber erstens ist die Schulsozialarbeit ebennicht die Feuerwehr, wenn die normale Bildungsarbeitversagt, und zweitens gibt es beim Lernen an Gymnasiennicht weniger Probleme; es sind bestenfalls andere.Schulsozialarbeit ist darum an jeder Schule wichtig.
Im Jahre 2011 wurde das Bildungs- und Teilhabepa-ket beschlossen, über das Kindern aus Hartz-IV-Fami-lien zusätzliche Hilfen bei der Teilhabe gewährt werdensollten. In diesem Zusammenhang hat die SPD damals,sozusagen als Preis für ihre Zustimmung, zusätzlicheMittel in Höhe von 400 Millionen Euro pro Jahr ausge-handelt, mit denen unter anderem Schulsozialarbeit fi-nanziert werden sollte. Auch wenn wir das Paket für
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5571
Dr. Rosemarie Hein
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fragwürdig halten, waren die 400 Millionen Euro in derTat ein Segen. Die Kommunen haben die Mittel in allerRegel reichlich genutzt; ungefähr 3 000 Schulsozialar-beiterinnenstellen wurden darüber finanziert. In meinerHeimatstadt Magdeburg konnte damit an zwölf Grund-schulen zusätzlich Schulsozialarbeit angeboten werden;an anderen Schulen wurde die Stundenzahl heraufge-setzt. Viele Kommunen haben das ganz ähnlich gehand-habt.Das Dumme ist nur, dass dieser Geldregen bis zumJahresende 2013 begrenzt war. Nun gibt es zwar nochdas Bildungs- und Teilhabepaket, aber vom Bund nichtsmehr für Schulsozialarbeit. Sie haben den Leuten Appe-tit gemacht und gezeigt, wie gut es sein könnte, und nunmüssen sie sehen, wo sie bleiben. Das halten wir für we-nig sinnvoll.
Nun erklärte die Ministerin, Frau Wanka, die Länderkönnten ja schließlich mit den ab 2015 eingespartenBAföG-Mitteln auch Schulsozialarbeit finanzieren.Doch das ist, glaube ich, eine Milchmädchenrechnung.Mit 400 Millionen Euro im Jahr kann man maximal4 000 Stellen finanzieren. Bundesweit gibt es aber34 000 allgemeinbildende Schulen und noch einmal un-gefähr 9 000 berufsbildende Schulen. Wenn man an jederSchule nur eine pädagogische Fachkraft haben wollte,dann wäre ein Finanzvolumen von 1,7 Milliarden Euroerforderlich, und das ist weit mehr als die gesamteBAföG-Ersparnis. An großen Schulen bräuchte man na-türlich nicht nur eine Fachkraft; man sagt, für 150 Schü-lerinnen und Schüler sollte idealerweise eine Fachkraftzur Verfügung stehen. Wir haben 11 Millionen Kinderund Jugendliche, die derzeit an Schulen in Deutschlandlernen. Rechnen können Sie selber.Weil Schulsozialarbeit künftig aus der schulischenBildungsarbeit nicht mehr wegzudenken ist, haben wiruns überlegt, wie man das Problem der Finanzierung lö-sen könnte. Dazu wollen wir einen eigenen Paragrafenim Kinder- und Jugendhilfegesetz verankern. Das istauch deshalb wichtig, weil die Schulsozialarbeit nichtgegen andere Formen der Jugendhilfe ausgespielt wer-den soll, sondern als eigenständige, neue Säule verankertwerden soll.
Natürlich muss man das auch finanzieren, und darumsoll die Schulsozialarbeit bei der Neuordnung der Fi-nanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern in dennächsten Jahren berücksichtigt werden. Bis die Neuord-nung in Kraft treten kann – das wird, wenn wir Glückhaben, 2020 sein –, brauchen wir ein Förderprogramm,um Schulsozialarbeit flächendeckend aufzubauen. Da-nach sollte es auf anderem Wege zu finanzieren sein.Wir sind uns sehr sicher, dass damit den Lehrenden,den Lernenden und den Familien gut geholfen werdenkann und dass es mehr bringt als die halbseidenen Vor-schläge der Ministerin oder viele weitere Hilfspro-gramme. Wir sind uns auch sicher: Es wird den Kindernund Jugendlichen helfen, bessere Lernergebnisse zu er-zielen, auf denen sie auf ihrem Lebensweg entsprechendaufbauen können.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Christina
Schwarzer das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Damen und Herren! Wie die meistenvon Ihnen vielleicht wissen, komme ich aus Berlin-Neu-kölln. Manche von Ihnen wissen sicherlich auch, dassich dort 14 Jahre lang Kommunalpolitik im Bereich Kin-der- und Jugendhilfe gemacht habe. Diese lange Erfah-rungszeit hat mir dabei geholfen, sehr gut einschätzen zukönnen, welchen Stellenwert Schulsozialarbeit für dieEntwicklung unserer Kinder, aber auch für das Bildungs-system selbst hat, insbesondere an sogenannten Brenn-punktschulen.Die Schulsozialarbeiter sind häufig die Schnittstellezwischen Schülern und Eltern, Lehrern und außerschuli-schen Aktivitäten. Sie unterstützen Kinder und Jugendli-che bei gesellschaftlicher Teilhabe, ebnen den Weg, umungleiche Startchancen bei der Bildung zu gleichenChancen zu machen und einen guten Schulabschluss zuermöglichen. Die Lebens- und Entwicklungsbedingun-gen der Kinder und Jugendlichen werden durch die pä-dagogische Arbeit der Schulsozialarbeiter nachhaltigverbessert. Diese hilft, eigenverantwortlich ins Berufsle-ben zu starten.Ich kenne keine Schule, die auf die wichtige Arbeitder Schulsozialarbeiter jemals wieder verzichtenmöchte, gerade weil die Sozialarbeiter an den Schuleneinen hervorragenden Job machen. Wenn Sie in IhremAntrag fordern, nur noch qualifiziertes Personal einzu-stellen, dann schwingt für mich erhebliche Kritik am ak-tuellen Status quo mit. Diese Kritik kann ich aufgrundmeiner Arbeitserfahrung in Neukölln, einer Kommunemit einer vergleichsweise hohen Dichte an sogenanntenBrennpunktschulen, nicht teilen.
– Ach, Herr Mutlu, Sie kennen Berlin ja ganz gut; dannwissen Sie, was ich meine. – Im Gegenteil: Ich habe dieQualität der Arbeit der Schulsozialarbeiter als durchwegsehr gut wahrgenommen.Die Schüler bringen oft vielfältige Probleme mit; vonkleinen Disputen zu Hause bis hin zur kriminellen Karri-ere ist oft alles dabei. Ich habe unsere Schulsozialarbei-ter immer als aufopferungsvolle Anwälte der Jugendli-chen erlebt, die sich mit vollem Einsatz und nach bestemWissen und Gewissen um die Kinder und Jugendlichenbemühen und ihnen bei Bedarf auch ihre Grenzen auf-zeigen. Dafür gilt ihnen meine große Anerkennung und
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Christina Schwarzer
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mein Dank. Ich denke, dass sich das ganze Haus dem an-schließen kann.
In meiner Zeit als Kommunalpolitikerin bin ich oft anmeine Grenzen gestoßen. Oft musste ich sagen: Da kön-nen wir nichts machen, da muss der Bund ran. Im Be-reich der Schulsozialarbeit jedoch wäre mir dieser Ge-danke nie gekommen.
– Ich lerne immer wieder gerne dazu, aber in dem Fallnicht. – Wer in den Kommunen arbeitet, wer möglicher-weise selber dort Praxiserfahrung gesammelt hat, derweiß besser als jeder andere, dass die Schulsozialarbeitam besten funktioniert, wenn sie möglichst kleinteiligund bedarfsgerecht organisiert ist; denn ein Sozialpäda-goge im Norden meines schönen Bezirks Neukölln hatsicherlich ganz andere Aufgaben und Schwerpunkte alseiner in Ehingen, Würzburg oder Lüneburg.
Wenn ich den vorliegenden Antrag der Linken richtigverstehe, dann geht es ohnehin nur ums Bezahlen, abernicht ums Organisieren, Lenken und Entscheiden. Den-noch: Obwohl wir bei der Schulsozialarbeit von einerAufgabe sprechen, die im föderalen System klar denLändern und den kommunalen Gebietskörperschaftenzugeordnet ist, stellte der Bund in den Jahren 2011 bis2013 zusätzliche Mittel zur Verfügung, um die Länderund Kommunen bei ihrer ureigenen Aufgabe zu unter-stützen. Das haben Sie in Ihrem Antrag ganz richtig dar-gelegt.Das Stichwort heißt jedoch: Anschubfinanzierung.
Gemeinsam wurde vereinbart, dass die Anschubfinan-zierung 2013 ausläuft; und das ist auch gut so. Eine dau-erhafte zweckgebundene Finanzierung der Schulsozial-arbeit durch den Bund verbietet das Grundgesetz. DieZuständigkeit für das Schulwesen liegt allein bei denLändern. Es ist mir klar, dass Sie das durch Ihre Forde-rung, die Finanzierung in SGB VIII zu verankern, umge-hen wollen. Schlau gedacht; aber Tatsache ist: Schul-sozialarbeiter arbeiten im schulischen Raum, und ohneWenn und Aber bewegen wir uns hier in einem Bereich,für den die Kompetenz bei den Ländern und Kommunenliegt.
Darum widerspricht eine dauerhafte Finanzierung derSchulsozialarbeit durch den Bund dem Anspruch derLänder auf die Bildungshoheit. Die Verantwortung derLänder für den Bildungsbereich spielt auch bei der Fi-nanzierung eine große Rolle. Dennoch hat der Bund dieLänder und Kommunen in den vergangenen Jahren – bisheute – bei der Bewältigung ihrer eigenen Aufgaben sostark unterstützt wie nie zuvor.Lassen Sie mich noch zwei Dinge anmerken:Erstens. Ab dem Jahr 2014, in dem die 400 MillionenEuro für die Schulsozialarbeit weggefallen sind, entlas-tet der Bund die Kommunen um einen riesigen Haus-haltsposten. Er übernimmt seit diesem Jahr die Kostenfür die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-rung komplett von den Kommunen. Das hat das Parla-ment damals mit der Mehrheit von Schwarz-Gelb be-schlossen. Für die Städte und Gemeinden bedeutet dasallein bis zum Jahr 2016 eine Entlastung um über18 Milliarden Euro.Zweitens. Nachdem die letzte Bundesregierung hin-sichtlich der Entlastung der Kommunen Geschichte ge-schrieben hat, tut es ihr diese Bundesregierung hinsicht-lich der Entlastung der Länder gleich.
Mit der Übernahme der vollen Finanzierung desBAföG durch den Bund zum Jahresbeginn 2015 entlas-tet der Bund die Länder künftig jährlich um1,2 Milliarden Euro; aber das wissen Sie ja alle.Wir sehen: Der Bund nimmt seine Aufgabe, die Kom-munen und Länder bei ihren vielfältigen Aufgaben zuunterstützen, sehr ernst. Hier kommen wir aber in einenBereich, bei dem es um eine ureigene Aufgabe der Län-der in unserem föderalen System geht. Darum sagen wir:Ja, Schulsozialarbeit ist natürlich an jeder Schule wich-tig – das ist vollkommen unstrittig –, und ja, um die Ar-beit vernünftig zu leisten, braucht man eine auskömmli-che Finanzierung. Wir sagen aber auch: Das müssen dieLänder und die Kommunen selbst machen. Jetzt liegt derBall dort, diese großen Einsparungen sinnvoll zu nutzen.Mein Rat an Länder und Kommunen lautet: Setzen Sieetwas von dem Geld für die Schulsozialarbeit ein. Wirsind uns einig, dass es dort besonders gut angelegt ist.Im Sinne der Schulsozialarbeit: Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu-nächst einmal möchte ich etwas Ungewöhnliches tun,und mich bei Ihnen, liebe Frau Hein, und bei der Frak-tion der Linken dafür bedanken, dass Sie dieses Themamit Ihrem Antrag aufgesetzt haben, sodass wir heute indiesem Hohen Haus über dieses wichtige Thema debat-tieren dürfen.
Warum ist mir das so wichtig? Die Schulsozialarbeitin Deutschland ist ein unverzichtbares Element unsererSchule; das haben wir gerade schon gehört. Ich glaube,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5573
Beate Walter-Rosenheimer
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wir sind uns alle einig, dass Schule heutzutage nicht län-ger einfach nur ein Ort sein darf, an dem man Wissenund Fakten vermittelt, die abgefragt werden, ein Ort, andem gepaukt, geprüft, benotet und bewertet wird, son-dern dass die Schule den Kindern auch die Möglichkeitbieten soll, sich zu entfalten, sich wohlzufühlen und un-terschiedliche Erfahrungen zu machen, und dass sie vorallem die persönliche Entwicklung fördern soll; dennSchule ist auch Lebensraum. Gerade in Ganztagsschulenist das von zentraler Bedeutung.
Auch das Thema Inklusion an unseren Schulen stelltuns vor Herausforderungen. Die Schulsozialarbeit berei-tet den Weg zu echter Chancengerechtigkeit in unseremBildungssystem. Sie ist eine Stütze auf diesem Weg. Sieermöglicht Unterstützung in einer Art und Weise, die imregelhaften Schulalltag leider nicht möglich ist.Wie oft hören wir von Brennpunktschulen – daswurde schon gesagt –, wie oft hören wir von Schülernund Schülerinnen, die nicht beschulbar seien, wie oft hö-ren wir von Kindern, die schon in der Grundschule totalüberfordert sind, die den Erwartungen, die man an sierichtet, schon in der Grundschule nicht gerecht werdenkönnen und zu Hause keine Unterstützung finden? In derSchulsozialarbeit gibt es Formen der Zusammenarbeitund des sozialen Lernens, die viele Kinder und Jugendli-che sonst nicht kennenlernen: Gruppenarbeit, Beratungbei schulischen und persönlichen Problemen, Projektar-beit, Erlebnispädagogik, aber auch berufsorientierte An-gebote. Das ist etwas ganz Wesentliches; denn Bildungist auch Charakterbildung und Zukunftsförderung.
Unterstützung bei Fragen wie: „Was mache ich nachder Schule?“, „Wer bereitet mich auf das Leben danachvor?“, „Wer begleitet mich?“, brauchen wir dringenderdenn je. Mit der notwendigen Zuwendung jenseits vonMathe, Physik und Englisch können wir Talente und Po-tenziale unserer Jugendlichen entdecken und fördern, diesonst vielleicht untergehen.Schulsozialarbeit ist also Teil einer präventiven Ar-beitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik. Wenn wir alldie Chancen anschauen, die sie bietet, finde ich es sehrschade, dass deutschlandweit immer noch so wenigeSchulen Schulsozialarbeit haben. Das ist ein Missstand,den wir gerne beheben würden. Dass jetzt auch noch dieFinanzierung ins Wanken gerät – das ist einfach so – unddass ziemlich unklar ist, wie manche Projekte weiterfi-nanziert werden können, ist mehr als bedauerlich.Bis Ende 2013 wurde die Schulsozialarbeit – wir ha-ben es gehört – über das Bildungs- und Teilhabepaketdurch den Bund mit unterstützt. Das war eine gute Sa-che, aber es war in der Ausgestaltung ein bürokratischesMonster. Das muss man ganz ehrlich sagen. Es ist nichtklar, wo und wie die Gelder in den Kommunen und Län-dern wirklich geflossen sind. Es gab Kompromisse, Un-klarheiten, Unzulänglichkeiten und negative Erfahrun-gen bei der Umsetzung. Die damit verbundeneHängepartie macht für uns deutlich, dass das Koopera-tionsverbot abgeschafft werden muss, damit wir da mitden Ländern besser zusammenarbeiten können.
– Da stimmen Sie mir zu, Herr Mutlu.Jetzt komme ich zu Ihnen, Frau Hein, und zu IhremAntrag. Sie schlagen vor, Schulsozialarbeit als Regel-leistung des Bundes zu installieren. Das klingt ja ersteinmal wunderbar; dort wäre sie gut aufgehoben. DerBund zahlt und kümmert sich um einen flächendecken-den Ausbau von Schulsozialarbeit. Das wäre sehr schön.Aber wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, dass inIhrem Antrag die Finanzierung fehlt. Den erforderlichenFinanzierungsbedarf konkretisieren Sie nicht. Eine An-gabe, mit welchen Kosten solch ein Ausbau verbundenist, finde ich in dem Antrag leider auch nicht.Wir Grünen wollen keine Förderung mit der Gieß-kanne. Wir denken, dass bei weitem nicht alle Regionenund auch nicht alle Kommunen den gleichen Bedarf ha-ben. Auch nicht jede Schule hat den gleichen Bedarf.Wir finden, dass die Möglichkeit regionaler Förderungoder auch die Stärkung einzelner Schulen durchaus eingewichtiges Argument ist.
Frau Rosenheimer, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hein zu?
Ja.
Vielen Dank, Frau Rosenheimer, dass Sie das zulas-sen. – Ich will eine kleine Korrektur anbieten, weil ichgerne möchte, dass wir über das reden, was wir tatsäch-lich beantragen. Wir beantragen nicht eine Regelleistungdes Bundes, sondern wir beantragen, die Schulsozialar-beit als Regelleistung in das Kinder- und Jugendhilfege-setz aufzunehmen, genauso wie es dort übrigens auchden Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung gibt, was jaauch eine Aufgabe von Ländern und Kommunen undkeine Aufgabe vorrangig des Bundes ist. Also insofernwürde sich das nicht beißen. Die Finanzierung habe ichnachgetragen; sie steht im Antrag. Wir gehen eben nichtdavon aus, dass der Bund hier dauerhaft bestimmte Sum-men an die Kommunen gibt, sondern dass es im Rahmender Bund-Länder-Finanzbeziehungen, also über denLänderfinanzausgleich, entsprechend vorbereitet undverrechnet wird.
Okay, gut. Danke für diese Klarstellung.
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5574 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
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Darf ich einmal unterbrechen? – Liebe Kollegen, ich
erinnere Sie daran, dass unsere Geschäftsordnung Zwi-
schenfragen zulässt.
Kurzinterventionen gibt es auch; das ist aber ein anderes
Instrument. Zwischenfragen bitte.
Es ist auf jeden Fall wunderbar, dass ich das jetzt
weiß. Denn wir sagen auch, dass zum Beispiel der Land-
kreis Starnberg bei mir zu Hause mit Sicherheit in dieser
Hinsicht ganz andere Bedürfnisse hat, was den Bedarf
und auch die finanzielle Ausstattung angeht, als zum
Beispiel Dortmund. Ich habe Ihre Frage vernommen. Sie
dürfen sich wieder setzen.
Setzen, eins.
Das gehört aber nicht zur Schulsozialarbeit.
Doch, Ermutigung und Förderung.
Ermutigung ja, aber nicht: Setzen, eins.
Motivation ist sehr wichtig. – Wir Grünen setzen uns
dafür ein, dass die Schulen, die es brauchen, gestärkt
werden. Wir fragen eben auch, ob es spezielle Bedarfe
gibt. Es gibt einfach Gegenden, in denen der demografi-
sche Wandel, fehlende Infrastruktur usw. ganz andere
Bedarfe schaffen.
Wir wollen keinen neuen Bürokratieberg durch eine
entsprechende Regelung. Ich bin gespannt, wie das funk-
tionieren soll. Ich möchte nicht, dass wir etwas Ähnli-
ches wie zuvor bekommen, bei dem ziemlich unklar ist,
wie man an die Leistung kommt. Wir brauchen eine
klare, transparente, bedarfsgerechte und verstetigte Fi-
nanzierung. Ich finde es unsäglich, dass wirksame Pro-
jekte nach zwei, drei Jahren immer wieder auslaufen –
das Problem haben wir ja in vielen Bereichen – und die
Leute nicht wissen, wie es weitergehen soll. Ich glaube,
hier gibt es noch viel Diskussionsbedarf.
Ich komme zum Ende. Ich finde, ein Gipfel, wie Sie
ihn vorgeschlagen haben, ist eine ganz gute Idee. Es gibt
dringenden Handlungsbedarf. Ich finde, das können wir
im Sinne unserer Kinder und Jugendlichen gemeinsam
angehen.
Ich sage danke fürs Zuhören.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Bahr
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Meineganz persönliche kommunalpolitische Laufbahn ist aufsEngste mit dem Thema Schulsozialarbeit verknüpft. Alsehemalige bayerische Hauptschullehrerin kann ich michnur zu gut daran erinnern, wie früher über Sinn oder Un-sinn von Schulsozialarbeit diskutiert wurde. Aus genaudieser Zeit habe ich den Kommentar eines damaligenStadtrates – ich verrate jetzt nicht, aus welcher Fraktion;jedenfalls nicht aus der SPD-Stadtratsfraktion – nochallzu gut im Ohr, der sich damals zum Thema Schulsozi-alarbeit folgendermaßen äußerte: „Schulsozialarbeit? Sowas brauchen wir nicht – wir haben doch einen Zaun umdie Schule“,
als kämen Probleme immer nur von außen, als könneman sich allein durch Abschottung ganz leicht schützen.Hinzu kam eine große Angst vor Stigmatisierung, wenneine Schule sich die Blöße geben musste, Unterstützungvon außen – noch dazu sozialpädagogische – in An-spruch zu nehmen, ja nehmen zu müssen.Diese Grundhaltung, meine sehr verehrten Damenund Herren, in der Schule gehe es nur ums Lernen undnicht auch ums Leben und um das Meistern ganz grund-sätzlicher, persönlicher Herausforderungen – wozu esmanchmal schlicht auch der Hilfe von außen bedarf –,gehört zum Glück der Vergangenheit an.Nun aber zu dem Antrag der Linken. Natürlich haltenauch wir in der SPD-Bundestagsfraktion die Sicherstel-lung der Schulsozialarbeit für ein wichtiges Mittel undInstrument, Schulen zum Lebensraum zu machen. Ganzabgesehen von verfassungsrechtlichen Grundsätzen undFinanzierungsregeln in unserem föderalen System seheich bei Ihrem Antrag aber ein generelles Problem: DerSchulsozialarbeit – das gilt im Wesentlichen auch für dieKinder- und Jugendhilfe – wird von außen, oft unüber-legt, viel zu viel aufgebürdet: Beide werden als Platzhal-ter für eine Art Generalreparatur verwendet – als wennman mit ein bisschen Schulsozialarbeit hier und ein biss-chen Jugendsozialarbeit dort gesellschaftliche Problemeleicht und abschließend lösen könnte.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5575
Ulrike Bahr
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Eine kurzsichtige Symptombehandlung bringt uns hieraber keinen Schritt weiter. Ein neuer Paragraf im SGBVIII löst nicht automatisch grundlegende Probleme.Die Kinder- und Jugendhilfe hat mit ihrem Ansatz, je-des Kind und jeden Jugendlichen bestmöglich in seinerEntwicklung zu begleiten und zu unterstützen, Erfolgs-geschichte geschrieben – eine Erfolgsgeschichte, die wirunbedingt fortschreiben wollen. Deshalb haben wir unsim Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Kinder- undJugendhilfe zu einem inklusiven, effizienten, dauerhafttragfähigen und belastbaren Hilfesystem weiterzuentwi-ckeln, und zwar in einem strukturierten und sorgfältigenProzess. Diese Weiterentwicklung darf nämlich nicht ineiner unüberlegten Überlastung und in einem vermeint-lich einfachen Überstülpen zusätzlicher Zuständigkeitenmünden.
Solange Bildungs- und damit Schulpolitik in den Zu-ständigkeitsbereich der Länder fällt, sehe ich diese hierauch in der Verantwortung, gute Rahmenbedingungenfür Schulsozialarbeit zu gewährleisten. Eine bundesein-heitliche Regelung der Schulsozialarbeit erscheint mir inAnbetracht des aktuellen schulischen und trägerspezifi-schen Flickenteppichs weder verfassungsrechtlich reali-sierbar noch sinnvoll.Die 400 Millionen Euro jährlich, die die Länder durchUnterstützung des Bundes in den Jahren 2011 bis 2013für Schulsozialarbeit verwenden konnten, haben guteStrukturen geschaffen. Heute und in den nächsten Jahrenentlastet der Bund die Länder und Kommunen wiede-rum, an anderer Stelle, beispielsweise im Rahmen der6 Milliarden Euro für die Finanzierung von Kinderkrip-pen, Kitas, Schulen und Hochschulen. Im Zuge dessensehe ich auf Länderseite durchaus Spielraum für nach-haltige Investitionen in die Schulsozialarbeit; wo einpolitischer Wille ist, ist auch ein Weg.
Sehr verwundert hat mich allerdings Ihre Forderungnach einem Schulsozialarbeitsgipfel auf Bundesebene;denn eigentlich gilt es, die Autonomie einer Schule zufördern und zu fordern, und es gilt, dem Anspruch einerBildungslandschaft der Zukunft gerecht zu werden,nämlich Schulen zu Bildungshäusern mit ihren ganz spe-zifischen Bedarfen und Profilen zu entwickeln. DieseBildungshäuser wiederum müssen sich vernetzen mitden Akteuren vor Ort, zum Beispiel mit der Jugendar-beit, aber auch mit den Mehrgenerationenhäusern oderauch mit Projekten im Rahmen der „Sozialen Stadt“.Schule als Lebensraum darf auch nicht den Stempel„Made in Berlin“ tragen. Was wir vielmehr brauchen, istdie Unterstützung und Stärkung der örtlichen Schulge-meinden mit ihrem breiten Erfahrungsschatz, den Schü-ler- und Elternvertretungen, den örtlichen Trägern,Lehrerinnen und Lehrern, die im Übrigen in Ihrem Vor-schlag vom Schulsozialarbeitsgipfel unerwähnt bleiben.Eine Top-down-Strategie kann hier nicht der richtigeWeg sein; denn Schulsozialarbeit ist wie Brückenbauen:Am besten und am sichersten sind die Brücken dann,wenn die Menschen, die künftig auf ihnen gehen wollen,sie selber mit bauen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner hat der Kollege Paul Lehrieder
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren aufden Tribünen, aber auch draußen an den Bildschirmen!Ausnahmsweise herrscht in diesem Hohen Haus heuteeinmal parteiübergreifend Einigkeit. Alle Parteien stim-men zumindest in dem Punkt überein, dass Schulsozial-arbeit heute unverzichtbar ist.
– Frau Hein, bis jetzt haben Sie noch recht. – ModerneBildung darf sich nicht auf die Vermittlung von fachli-chen Fähigkeiten beschränken. Sie muss auch die So-zial- und Lernkompetenz der Schüler stärken.
Für Lehrer ist es schwierig, sich neben der Vermittlungvon Sach- und Fachkompetenzen und der Leistungsbe-wertung auch noch eingehend um die sozialen und indi-viduellen Probleme der Schüler zu kümmern und alsneutraler Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen.Genau diese Lücke schließt – darauf haben die Vorred-ner zum Teil schon hingewiesen – die Schulsozialarbeit.Mit ihrer sozialpädagogischen Ausbildung und entspre-chenden Methodenkenntnissen haben die Schulsozialar-beiter oftmals eine andere Herangehensweise an die Pro-bleme des Schulalltags. Sie können sich für dieBedürfnisse der Schülerinnen und Schüler mehr Zeit neh-men und bei Schwierigkeiten gemeinsam mit den Betei-ligten nach Lösungen suchen. Vor allem aber arbeiten siepräventiv, um Kinder in ihrer Persönlichkeit zu stärken,Mobbing und Gewalt zu verhindern und Schulverweige-rung entgegenzutreten. Schon die alten Lateiner wuss-ten: Non scholae, sed vitae discimus. Auch das sozialeZusammenleben wird in der Schule eingeübt, wie manmit dem anderen umgeht, wie man sich in ein gesell-schaftliches Gefüge einpasst.Auch die Lehrer profitieren von den neutralen Ver-trauenspersonen. Sie können sich vom Schulsozialarbei-ter beraten lassen und bei Problemen im pädagogischenAlltag gemeinsam Strategien ausarbeiten. Auf Wunschkönnen selbstverständlich auch Eltern die Hilfe derSchulsozialarbeiter in Anspruch nehmen. Weil sie mitanderen Anbietern von Hilfsangeboten in der Kommunemeist gut vernetzt sind, können Schulsozialarbeiter bei
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5576 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Paul Lehrieder
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der Suche nach passenden Ansprechpartnern für die Lö-sung von Problemen helfen.Gerade in einer Zeit, in der Eltern leider immer mehrVerantwortung an die Schulen abgeben, gewinnen dieSchulsozialarbeiter gewaltig an Bedeutung. Es ist unbe-stritten, dass durch den täglichen Kontakt mit den Kin-dern wertvolle Unterstützer im Prozess des Erwachsen-werdens gefunden werden können.Die Schulsozialarbeit als Schnittstelle zwischenSchule, Familie und Jugendhilfe zahlt sich in mehrfacherHinsicht aus. Mit gestärkten sozialen Kompetenzen kön-nen sich die Schülerinnen und Schüler besser auf denUnterricht konzentrieren. Damit steigen zugleich ihreChancen auf einen guten Schulabschluss, der wiederumden Einstieg ins Berufsleben erleichtern kann. OhneSchulsozialarbeit würde so manches benachteiligte Kindgleich ganz aus dem Bildungssystem herausfallen. Defi-zite, die die Kinder beispielsweise von zu Hause mit-bringen, können durch konsequente Schulsozialarbeitausgeglichen werden.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine bisherigenAusführungen – ich sehe es am Lächeln der KolleginHein – mögen für Sie wie aus einer Werbeveranstaltungfür Schulsozialarbeit klingen.
– Dann hätten Sie öfters klatschen können, FrauDr. Hein.
Ja, ich möchte ausdrücklich für Schulsozialarbeit wer-ben, aber eben im Rahmen der verfassungsrechtlichenZuständigkeiten.Bei der Schulsozialarbeit handelt es sich – da reicht esschon aus, wenn wir uns genau das Wort anschauen:Schul-Sozialarbeit – um ein professionelles pädagogi-sches Angebot, das verfassungsrechtlich auf dem Gebietder Allgemeinbildung und des Schulwesens bei den Län-dern liegt; so ist es in unserer Verfassung normiert. DieVerantwortung nach dem klar vereinbarten Auslaufendieser Anschubfinanzierung liegt bei den Ländern bzw.bei den kommunalen Gebietskörperschaften. Die Forde-rung nach einer Fortsetzung der Schulsozialarbeit ausBundesmitteln ignoriert, dass dieses Bundesprogrammvon vornherein mit den Ländern auf eine Dauer von dreiJahren vereinbart worden war.
Frau Kollegin Hein, Sie sind erfahren genug und Siesind lang genug in diesem Parlament, um zu wissen,dass eine Verankerung der Schulsozialarbeit imSGB VIII natürlich bedingt, dass die Länder zustimmen.Dafür werden sie fragen: Wenn ihr uns diese Aufgabezuweist, wo bleiben dann die Mittel dafür? – Das habenwir in vielen Bereichen bereits erlebt. Das heißt also,ganz ohne Geld vom Bund werden die Kommunen einerVerankerung der Schulsozialarbeit im SGB VIII nichtzustimmen. Da müssen wir uns schon ehrlich machen.
CDU und CSU hatten den Bundesländern für dieJahre 2011 bis 2013 jeweils 400 Millionen Euro für dieSchulsozialarbeit und für das außerschulische Hortmit-tagessen von Schülerinnen und Schülern zur Verfügunggestellt. Dies wurde im Rahmen des Vermittlungsaus-schusses zum Bildungs- und Teilhabepaket Anfang 2011beschlossen. Allerdings war dieses Geld – auch daraufwurde bereits hingewiesen – nur als Anschubfinanzie-rung gedacht, die im letzten Jahr auslief. Ab diesem Jahrliegt die Verantwortung für die Schulsozialarbeit wiederallein bei Ländern und Kommunen; denn eine dauer-hafte, zweckgebundene Finanzierung der Schulsozialar-beit durch den Bund verbietet, wie bereits ausgeführt,das Grundgesetz.
Die Zuständigkeit für das Schulwesen liegt nun einmalbei den Ländern.Meine Vorrednerin, Frau Kollegin Schwarzer, hat be-reits darauf hingewiesen, dass den Kommunen ab 2014mit rund 5 Milliarden Euro aus der größten Kommunal-entlastung in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland ein Vielfaches für die Kosten der Schulso-zialarbeit zur Verfügung steht. Sie haben es im letztenJahr mitbekommen: In drei Stufen haben wir die Kom-munen im SGB-XII-Bereich entlastet. Darüber hinauswerden wir die Kommunen mit der kompletten Über-nahme des BAföG in den nächsten Jahren entlasten. Wirgeben den Ländern Spielräume, um genau diese Aufga-ben, die von uns für drei Jahre befristet übernommenworden sind, wieder in Länderzuständigkeit bzw. kom-munaler Zuständigkeit durchzuführen.
Es ist völlig richtig: Durch die Kleinteiligkeit der vorOrt bestehenden unterschiedlichen Aufgabenstellungensind die Kommunen – mein großer Respekt an die Ge-meinderäte, an die Stadträte, an die Kreisräte, die da ent-sprechende Verantwortung tragen – vielmehr in derLage, zu wissen, wo welche Hilfe passgenau hinkommt.Die werden das auch tun, davon bin ich überzeugt. –Jetzt brauchen wir einen Applaus.
Eins noch, Frau Kollegin Walter-Rosenheimer vonden Grünen: Sie haben sich erfreut gezeigt über den An-trag. Sie waren letzte Legislaturperiode auch schon imBundestag. Hätten Sie einmal die Drucksache aus der17. Wahlperiode mit der Nummer 17/11870 herausge-sucht. Da steht über einem Antrag der Linken, über denam 21. Februar 2013 hier im Plenum debattiert wurde:Für ein neues Verständnis der Zusammenarbeit vonSchule und Jugendhilfe – Schulsozialarbeit an allenSchulen.Eine Fortführung der durch den Bund gefördertenSchulsozialarbeit wurde vor Jahresfrist bereits gefordert
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5577
Paul Lehrieder
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– alter Wein in neuen Schläuchen, meine Damen undHerren. Es hat sich an unserer Auffassung nichts geän-dert.
Wir haben die Länder und Kommunen massiv entlastetund werden Spielräume schaffen, damit die Länder undKommunen in der Zuständigkeit, in der sie es viel besserkönnen, genau die Aufgabe machen, die Sie – mit einergroßen Gießkanne – dem Bund angedeihen lassen wol-len. Das ist nicht der richtige Weg, Frau Kollegin. Wirwerden leider Ihrem Ansinnen insofern nicht nähertretenkönnen. Das tut mir fürchterlich leid.
Noch einmal meinen Respekt an alle Schulsozialar-beiter, an all die, die in den Schulen Verantwortung tra-gen, die uns helfen, Schülern die Möglichkeit zu geben,eine Berufsausbildung zu erhalten. Das finde ich ganztoll. Ich freue mich auch über die Präsenz der Staatsse-kretäre bei uns in der Familie, die Kollegin Ferner, derKollege Kelber und natürlich aus dem Bildungsministe-rium der Kollege Stefan Müller von der CSU. – Schön,dass Sie alle da sind und zugehört haben.Danke schön.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lin-ken haben – das finde ich auch – einen spannenden An-trag vorgelegt. Vordergründig geht es um den bundes-weiten Ausbau der Sozialarbeit an unseren Schulen, aberim weiteren Sinne geht es doch um den großen KontextQualität an Schulen.
In der SPD-Fraktion sind wir überzeugt: Kinder undFamilie fördern wir am besten durch erstklassige Kitasund erstklassige Schulen.
Aber was bedeutet das, eine erstklassige Schule? – Na-türlich kleine Klassen und gute Ausstattung, einen Ganz-tagsunterricht, bei dem Lernen, Bewegung, Spiel undMuße in einem ausgewogenen Rhythmus über den gan-zen Tag verteilt sind, Hausaufgabenhilfe, gesundesSchulessen, vielleicht sogar Heilfürsorge an der Schule.Für viele wird die Schulsozialarbeit ein ganz wichtigerBaustein im Gefüge einer erstklassigen Schule sein, ge-rade da, wo so eine Schule am dringendsten gebrauchtwird und wo die meisten Kinder geboren werden – inden sozialen Brennpunkten unserer Republik. Ob esSchulsozialarbeit gibt, kann dafür entscheidend sein,dass sich ein junger Mensch in der Krise fängt, nicht sit-zenbleibt oder seinen Abschluss schafft.Deshalb ist es richtig, dass wir auch hier im Deut-schen Bundestag darüber nachdenken, wie wir dieSchulsozialarbeit stärken können. Wir wissen ja, dasseine Stärkung gebraucht wird, denn die Förderung derSchulsozialarbeit – Herr Lehrieder hat eben darüber ge-sprochen –, die die SPD in der vergangenen Legislatur-periode durchsetzen konnte
und für die wir in unserem Wahlprogramm geworben ha-ben, ist am 1. Januar 2014 ausgelaufen.
Nicht nur das Land Nordrhein-Westfalen beklagt jetztdurchaus zu Recht, dass bundesweit 400 Millionen Euroim Jahr nicht mehr für die Schulsozialarbeit zur Verfü-gung stehen.
– Beruhigen Sie sich! Ich komme gleich dazu.
Ja, meine Damen und Herren, das Auslaufen dieserFörderung hat zunächst eine Lücke hinterlassen. Aber indieser Legislaturperiode entlastet der Bund die Länderund Kommunen um 6 Milliarden Euro zusätzlich für dieBildung von der Kita bis zur Hochschule. Weil es strenggenommen nicht unmittelbar in diesen Zusammenhanggehört, will ich nicht groß darauf eingehen, dass dieKommunen bis 2016 außerdem um knapp 20 MilliardenEuro entlastet worden sind, nachdem der Bund die Kos-ten für die Grundsicherung übernommen hat. Schon die6 Milliarden Euro zusätzlich für die Bildung machen denVerlust, der bei der Schulsozialarbeit entstanden ist,mehr als wett.
– Sie können doch eine Zwischenfrage stellen, wennSie so neugierig sind. Nun beruhigen Sie sich doch! –Deswegen meine ich, dass die Koalition mit dieser Ent-lastung einen besseren Weg gefunden hat, um die Quali-tät von Schule zu verbessern, als Sie ihn vorschlagen,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken.
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5578 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Fritz Felgentreu
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Sie wollen im Zusammenhang mit der Jugendförde-rung regeln, dass Schulsozialarbeit überall als Regelleis-tung angeboten wird. Damit legen Sie schon ziemlichweitgehend fest, wie das Geld ausgegeben werden muss,das der Bund den Ländern und Kommunen zusätzlichzur Verfügung stellt.Ich bin Abgeordneter aus Berlin-Neukölln. Mich er-schreckt diese Vorstellung gar nicht. Natürlich wäre esschöner, bei uns im Bezirk frei über das Geld entschei-den zu können. Aber Schulsozialarbeit können wir inNeukölln an so ziemlich jeder Schule gut gebrauchen.
Deshalb wäre eine solche Bestimmung aus unserer Sichtdurchaus hilfreich. Angewiesen sind wir auf diese Rege-lung aber nicht. Wir können auch so entscheiden, dasswir die zusätzlichen Mittel für Schulsozialarbeit ausge-ben, wenn wir das wollen und wenn es nötig ist.Nun kann ich mir aber auch Gegenden und Schulen inDeutschland vorstellen, wo noch etwas mehr heile Weltherrscht als im Berliner Brennpunktquartier. Die gibt esübrigens sogar in Neukölln. Die Politikerinnen und Poli-tiker dort wollen mit dem Geld, das ihnen zur Verfügungsteht, die Qualität ihrer Schulen vielleicht lieber mit an-deren Maßnahmen verbessern als mit Schulsozialarbeit,die dort nicht ganz so dringend gebraucht wird.
Die Verbesserung der Schulqualität ist ein langfristi-ges Reformvorhaben. Wir werden in jeder Legislaturpe-riode dafür nachlegen müssen. Denn nirgendwo errei-chen die Mittel, die wir für Familien einsetzen, Kinderund Jugendliche effektiver und gerechter als in der Kitaund in der Schule.Aber weil wir den großen Wurf, der alle Probleme aufeinmal löst, so nicht hinbekommen, ist es besser, denLändern und Kommunen Spielraum zu lassen. Dannkönnen sie ihre eigenen Prioritäten setzen.
Deshalb geht es um kleinere Schritte, liebe Kolleginnenund Kollegen – wobei 6 Milliarden Euro gar nicht ein-mal so ein kleiner Schritt sind –, und um Entscheidungs-freiheit vor Ort, wo man die Probleme am besten kennt.Die verfassungsrechtlichen Probleme kann man lö-sen. Herr Lehrieder, Sie haben davon gesprochen, dasswir vom Bund aus keine Dauerfinanzierung der Schulso-zialarbeit machen können. Das ist zwar richtig, aber dashaben wir streng genommen auch beim letzten Mal inden Jahren 2011 bis 2013 nicht gemacht. Der Bund hattemit den Ländern eine Vereinbarung getroffen, aber ent-lastet wurden die Länder nicht durch eine direkte Finan-zierung der Schulsozialarbeit, sondern dadurch, dass derBund einen Teil der Wohnkosten im Hartz-IV-Bereichübernommen hat.Insofern kann man verfassungsrechtliche Hürden si-cherlich durch kreative politische Ansätze umschiffen.Aber ich finde den Ansatz richtig, dass man diese Ent-scheidung auf der Ebene lassen muss, wo sie zurzeit ge-fällt wird.Am Ende kommt es doch für uns alle vor allen Din-gen darauf an, dass alle Jugendlichen ihren Abschlussmachen und danach einen Ausbildungs- oder Studien-platz finden.
Unsere Aufgabe ist es, dafür die Voraussetzungen zuschaffen. Damit haben wir noch lange alle Hände voll zutun. Dabei ist der Bund in der Pflicht. Für die Umset-zung im Einzelnen sind bei uns die Länder und Kommu-nen verantwortlich. Wir sollten es bei der Schulsozialar-beit jetzt nicht auf einmal darauf anlegen, an diesemSystem etwas zu ändern.
Ich danke Ihnen.
Als letzter Redner in dieser Aussprache erteile ich
dem Abgeordneten Heinz Wiese, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schulsozial-arbeit ist unbestritten eine sehr wichtige Aufgabe. AlsLehrer bringe ich die notwendige Wertschätzung mit undkann auf meine eigenen Erfahrungen verweisen, wiewertvoll es ist, wenn ein Schulsozialarbeiter oder eineSchulsozialarbeiterin einem Pädagogen zur Seite steht.Ich werde nachher ausführlicher darauf eingehen. Ichwill vorweg nur sagen, dass das in unserem föderalenSystem eine hoheitliche Aufgabe der Länder und Kom-munen ist. Wir haben bei der Schulsozialarbeit unsereVerfassung im Auge zu behalten und wollen uns nach ihrrichten. Es ist falsch, mithilfe des SGB VIII quasi durchdie Hintertür eine Zuständigkeit Richtung Berlin zu er-kämpfen.
Wir sehen in der Schulsozialarbeit den Dreiklang ausBildung, Erziehung und Betreuung. Dabei rückt vor al-len Dingen die Schulsozialarbeit die jeweilige Lebens-lage sowie die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schülerin den Fokus. Aber um es noch einmal klar zu sagen:Dafür ist nicht der Bund zuständig, sondern es sind dieLänder und Kommunen. Es war eine Freiwilligkeitsleis-tung – darauf hat der Kollege Lehrieder schon hingewie-sen –, dass der Bund in den Jahren 2011 bis 2013 jeweils400 Millionen Euro für die Schulsozialarbeit zur Verfü-gung gestellt hat, aber nicht direkt, sondern im Zuge ei-ner Umwegfinanzierung. Wir wissen noch ganz genau,wie das damals ablief.Es handelte sich um eine überhöhte Beteiligung anden Leistungen der Grundsicherung, die nicht zweckge-bunden war. Deshalb hatte man hier Spielraum. Es war
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5579
Heinz Wiese
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klar, dass das nur eine vorübergehende Finanzierung,quasi eine Anschubfinanzierung sein konnte. Dass dieseirgendwann ausläuft, mussten alle Beteiligten wissen.Deshalb kann sich niemand hinter anderen Argumentenverstecken.
Die Linke behauptet in ihrem Antrag, dass es dasEnde bedeutet, wenn der Bund kein Geld mehr gibt. Daskann überhaupt nicht sein; denn der Bund kann im Rah-men der Subsidiarität zur Seite stehen. Es ist aber festzu-halten, dass es sich hier um Aufgaben der Länder undKommunen handelt. Sie sind zuständig.
Wenn ich mir anschaue, welche Unterstützungsmaß-nahmen sich der Bund zur Konsolidierung der Haushalteder Länder und Kommunen in den letzten Jahren leistenkonnte – beispielweise bei der Grundsicherung und derErwerbsminderungsrente –, dann stelle ich fest, dass essich hier um große Summen handelt. In der mittelfristi-gen Finanzplanung von 2013 bis 2016 sind Entlastungender Länder und Kommunen in der Größenordnung von20 Milliarden Euro vorgesehen. Ich gehe davon aus,dass so etwas nicht so schnell wiederkommt. So etwashaben wir bislang auch noch nicht erlebt. Wir solltenheute froh sein und sagen: Die Länder sind so ausgestat-tet, dass sie ihre eigenen Aufgaben schultern können.In der Schulsozialarbeit geht es inbesondere um Prä-ventionsmaßnahmen, individuelle Förderung und darum,Fehlentwicklungen zu vermeiden. Wir wollen rechtzeitigund prophylaktisch tätig werden. Die Schnittstellen zwi-schen Schulen, Familien und Jugendhilfe wurden bereitsvon dem Kollegen erwähnt. Das gilt für die Schulsozial-arbeit an allen Schularten. Ich stehe zu dem, was zuvorbetont wurde, nämlich dass nicht nur Förderschulen, andenen ich selber tätig war, und die Brennpunktschulen,sondern auch alle anderen Schulen Schulsozialarbeit be-nötigen. Ich möchte an dieser Stelle den über 3 000 Schul-sozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern für ihrewertvolle Arbeit, die sie jeden Tag leisten, herzlich dan-ken.
Wir haben die Länder in den letzten Jahren spürbarentlastet und werden das auch in den kommenden Jahrentun. Wir haben am letzten Freitag hier im Hohen Hauseeine Grundgesetzänderung auf den Weg gebracht, mitder wir das Kooperationsverbot entschärfen. Wir lockernes, sodass sich der Bund künftig an der Hochschulfinan-zierung beteiligen kann. Wir sind dafür; denn Koopera-tion ist notwendig und richtig. Sie darf aber nicht in allenFällen im Vordergrund stehen.Wir sind der Auffassung, dass es richtig ist, künftigim Hochschulbereich bei Forschung und Lehre Wettbe-werbsfähigkeit herzustellen und für künftige Exzellenz-initiativen Gelder bereitzustellen. Aber es ist nicht nurso, dass wir das Kooperationsverbot ein Stück weit lo-ckern – nicht abschaffen, wie die Grünen es wollen –,
sondern es gibt auch das Durchgriffsverbot. Wir wollenam Durchgriffsverbot durchaus festhalten. Das soll be-deuten, dass nicht in allen möglichen Bereichen derDurchgriff des Bundes bis auf die Ebene der Kommunenerfolgen kann. Dazu stehen wir, und daran wollen wirauch künftig festhalten.
Herr Kollege.
Eine Bemerkung noch, Herr Präsident. – Wir wollen
natürlich, dass das Geld, das die Länder durch die Über-
nahme des BAföG durch den Bund – das sind 1,17 Mil-
liarden Euro – sparen, von den Ländern in Bildungsein-
richtungen investiert, nicht aber zum Stopfen von
Haushaltslöchern verwendet wird. Es ist ein Gebot der
Stunde, dass Schulangelegenheiten auch künftig im Ho-
heitsbereich der Länder verbleiben. Deshalb lehnen wir
den Antrag der Linken ab.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/2013 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Antiterrordateigesetzesund anderer GesetzeDrucksache 18/1565Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
Drucksache 18/2902Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner für die Bundesregierung dem ParlamentarischenStaatssekretär Professor Dr. Günter Krings das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In den letzten Wochen erreichen uns fast täglichNachrichten von Schreckenstaten der Terrororganisa-tion „Islamischer Staat“. Die Anhänger dieser radikalenMiliz haben es sich zum Ziel gesetzt, die sogenanntewestliche Gesellschaft zu schockieren und zu verängsti-gen, ja, im wahrsten Wortsinne zu terrorisieren.Auch in Deutschland hat sich eine nicht geringe Zahlvon jungen Männern der Terrororganisation „Islami-scher Staat“ angeschlossen und beteiligt sich nun im Na-hen Osten an den Greueltaten. Die Gefahr, die von die-sen radikalisierten Deutschen für unser Land ausgeht,darf unter keinen Umständen unterschätzt werden.Doch gilt es nicht nur, die Bedrohungen durch den in-ternationalen Terrorismus vor Augen zu haben; auchetwa die Aufklärung der furchtbaren Mordserie derrechtsextremistischen Gruppe „NationalsozialistischerUntergrund“ hat Schwächen und Defizite in der Zusam-menarbeit der zuständigen Sicherheitsbehörden aufge-zeigt.
Eine Verbindung zwischen den einzelnen Mordenwurde bekanntermaßen jahrelang nicht erkannt, auchweil es an einer zeitgemäßen informationstechnischenVernetzung der Behörden von Bund und Ländern fehlte.Diese Defizite hat der NSU-Untersuchungsausschussklar herausgearbeitet.Mit der Antiterrordatei und der Rechtsextremismus-datei haben wir die richtigen Konsequenzen für unsereföderale Sicherheitsarchitektur gezogen. Dank der Da-teien kann ein Behördenmitarbeiter, der ermittelt oderaufklärt, schnell herausfinden, ob zu einer bestimmtenPerson bei anderen Behörden bereits Informationen vor-handen sind und an wen er sich wenden muss. Aus die-sem Grunde brauchen wir diese Dateien dringend.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteilvom 24. April 2013, das mit Ausgangspunkt unseresGesetzgebungsvorhabens ist, die Antiterrordatei alssinnvolle und im Wesentlichen verfassungsgemäße Ein-richtung für die Fälle, in denen eine schnelle und un-komplizierte Kontaktaufnahme möglich ist, erachtet.Allerdings fordert das Bundesverfassungsgericht ei-nige Änderungen – es ist wichtig, auch das festzuhal-ten –, die wir nunmehr umsetzen. So fassen wir die Defi-nition der Personen, die gespeichert werden, enger.Dabei möchte ich noch einmal klarstellen, dass die Vo-raussetzungen für eine Speicherung im Gesetzentwurfeindeutig festgelegt sind. Die wichtigste Bedingung istzunächst, dass die beteiligten Behörden bereits über ent-sprechende polizeiliche oder nachrichtendienstliche Er-kenntnisse verfügen, die sie auch in ihren eigenen Da-teien speichern dürfen. Für die Antiterrordatei und dieRechtsextremismusdatei werden also keine zusätzlichenDaten erhoben; es werden nur bereits vorhandene Datenin einem Index zusammengeführt und damit zur effekti-ven Terrorbekämpfung nutzbar gemacht.Meine Damen und Herren, weitere Voraussetzung fürdie Speicherung einer Person in der Antiterrordatei istzudem, dass diese Person tatsächlich Verbindungen zumTerrorismus hat, also Mitglied oder Unterstützer einerterroristischen Vereinigung oder gewaltgeneigter Extre-mist ist, wie zum Beispiel ein terroristischer Einzeltäteroder ein Hassprediger. Diese Voraussetzungen werdenmit dem Änderungsgesetz noch einmal geschärft.Gespeichert werden darüber hinaus auch Kontaktper-sonen – das ist richtig –, aber nur Kontaktpersonen, dienicht in zufälligem Kontakt zu den vorgenannten Perso-nen stehen und zur Aufklärung beitragen können.Ferner ist mit der Speicherung als Kontaktperson – esist wichtig, auch das festzuhalten; im Gesetzentwurfwird es deutlicher dargestellt – zukünftig keinerlei nega-tives Urteil verbunden. Es ist im Gesetzentwurf eindeu-tig klargestellt, dass die Kontaktperson einzig und alleindeshalb als erweitertes Grunddatum zu einer Hauptper-son gespeichert wird, weil sie Auskunft zum Beispielzum Aufenthaltsort, zum Verbleib einer Hauptperson ge-ben kann.Die Suche nach einer Kontaktperson führt auch zukeiner Treffermeldung. Nur wenn die einstellende Be-hörde die Daten zu einer gesuchten Hauptperson auf An-frage freigibt, kann die suchende Behörde die hierzu be-kannten Kontaktpersonen überhaupt einsehen.Außerdem haben wir zahlreiche Maßnahmen ergrif-fen, um die Transparenz der Datei zu erhöhen. Insbeson-dere wird das Bundeskriminalamt dem Bundestag einenregelmäßigen Tätigkeitsbericht erstatten. Die Datenschutz-beauftragten des Bundes und der Länder müssen die Da-teiführung mindestens alle zwei Jahre kontrollieren.Meine Damen und Herren, im Zuge der Evaluationder Antiterrordatei mussten wir allerdings feststellen,dass deren Suchfunktion den Anforderungen einer effek-tiven Ermittlungsarbeit nach bisherigem Stand nicht ge-nügt. Eine weitaus frühere Entdeckung des rechtsextre-mistischen Terrortrios NSU wäre möglich gewesen,wenn es eine Datei mit einer Suchfunktion nach aktuel-len technischen Standards gegeben hätte. Deshalb habenwir die Analysefähigkeit der Dateien erweitert. Die Nut-zung der erweiterten Suchfunktion ist jedoch – auch dasist wichtig – nur in engen Grenzen unter Einhaltung ho-her formeller und materieller Hürden möglich.Meine Damen und Herren, im Ergebnis können wirfeststellen, dass wir heute einen guten und praktikablenGesetzentwurf abschließend beraten, der sowohl denverfassungsrechtlichen Anforderungen des Grundgeset-zes als auch den Herausforderungen der Praxis bei dereffektiven Terror- und Extremismusbekämpfung gerechtwird. Ich bitte Sie alle daher um Zustimmung zu diesemwichtigen und dringenden Gesetzentwurf.Vielen Dank.
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Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Urteil
zur Antiterrordatei hat das Bundesverfassungsgericht
nicht zum ersten Mal die allzu weit ausgedehnten Kom-
petenzen von Polizei und Geheimdiensten wieder ein-
schränken müssen. Das vorliegende Änderungsgesetz
der Bundesregierung ist nichts weiter als eine dürftige
Flickschusterei. Nicht einmal die offensichtlichsten Verfas-
sungsverstöße werden kaschiert. Die Linke lehnt diesen
Gesetzentwurf ab, weil er zur Bekämpfung des Terrors
nichts beiträgt, aber den Grundrechten weitere Ketten
anlegt.
Mehrere Sachverständige haben bei der Anhörung im
Innenausschuss schon darauf hingewiesen, dass die Vor-
gaben des Bundesverfassungsgerichts nicht umgesetzt
werden. Dafür einige Beispiele:
Karlsruhe hat gefordert, bei sogenannten Kontaktper-
sonen nur die Elementardaten zu speichern. Aber statt
sich auf die Daten zu beschränken, die wir alle im Perso-
nalausweis haben, sollen weiterhin auch Handy-
nummern, E-Mail-Adressen und berufliche Anschriften
erfasst werden, obwohl Kontaktpersonen weder Be-
schuldigte – sie sind also Unschuldige – noch Verdäch-
tige sind.
Weiterhin sollen Personen gespeichert werden, die
eine den Terror unterstützende Organisation unterstüt-
zen. Was genau das Unterstützen von Unterstützern be-
deuten soll, weiß kein Mensch und wird im Gesetz auch
nicht weiter ausgeführt.
Weiter: Die Datei soll Personen umfassen, die Ge-
walthandlungen durch bloßes Befürworten hervorrufen.
Da bleibt schon unklar, was genau ein „Befürworten“
eigentlich sein soll. Ist hier die Rede von Gewaltauf-
stachelung oder von Sympathiebekundungen? Können
Ursachenbeschreibungen erfasst werden? Und wie bitte
soll ein kausaler Zusammenhang mit einem Terroran-
schlag bewiesen werden?
Das sind Gummiparagrafen. Sie sind ein Freibrief für
die Geheimdienste, Personen bei noch so geringen An-
haltspunkten zu speichern. Mit sauberer Gesetzgebungs-
arbeit hat das wirklich nichts mehr zu tun.
Meine Damen und Herren, es kommt noch schlim-
mer: Der Entwurf der Regierung sieht einen völlig neuen
Paragrafen vor, der alle Grundrechtsverstöße der alten
Fassung in den Schatten stellt. In sogenannten Projekt-
dateien sollen die Daten miteinander verknüpft und
quasi experimentell miteinander kombiniert werden. Das
heißt, die Daten werden für einen ganz anderen Zweck
genutzt als für den, zu dem sie ursprünglich erhoben
wurden. Das ist ein ganz klarer Verstoß gegen den
Grundsatz der Zweckbindung.
Hier wird nach einer Salamitaktik verfahren. Die ur-
sprüngliche Begründung für die Datei war ja, sie solle
Schwierigkeiten beim Informationsaustausch zwischen
Polizei und Geheimdiensten beheben. Kaum hat man die
Datei, weckt sie Gelüste auf noch mehr Datenaustausch,
und das bedeutet: weitere Eingriffe in das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung.
Die Kritik an der Antiterrordatei gilt im Grundsatz
auch für die Rechtsextremismusdatei, die wir ja heute
hier ebenfalls behandeln. Die Linke ist dafür, Terroris-
mus und Nazis zu bekämpfen – keine Frage –, nur: Die
Bundesregierung ist dem Parlament bislang jeden Nach-
weis schuldig geblieben, dass diese Dateien tatsächlich
ein effektives Instrument gegen den Terror sind. Deswe-
gen sagt die Linke: Wir hatten in den letzten Jahren
schon viel zu viele sogenannte Sicherheitsgesetze, die in
Wahrheit nur Freiheitseinschränkungen waren. Damit
muss wirklich endlich Schluss sein.
Ohnehin würde ein bloßes Herumdoktern am Gesetz
nicht genügen. Das Verfassungsgericht hat ein informa-
tionelles Trennungsprinzip zwischen Polizei und Ge-
heimdiensten festgeschrieben, und mehrere Sachverstän-
dige haben die Konsequenzen daraus angesprochen: Der
Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz und
BKA muss eingeschränkt werden. Der ganze Komplex
der polizeilich-geheimdienstlichen Zusammenarbeit
muss auf den Prüfstand, weil er, gelinde gesagt, verfas-
sungsrechtlich auf Kante genäht ist.
Ich danke Ihnen.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Uli Grötsch, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch voreinem Jahr war das Ausmaß der Terrororganisation„Islamischer Staat“ der deutschen Öffentlichkeit nichtbekannt. Natürlich haben wir uns über al-Qaida, überSalafismus und über Dschihadisten unterhalten, aberdass wir es hier in Deutschland ganz unmittelbar mit rei-senden und in Terrorcamps ausgebildeten Terrorkämp-fern zu tun haben, von denen eine konkrete und nicht
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Uli Grötsch
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einschätzbare Gefahr für uns ausgeht, ist eine ganz neueDimension des Terrors.Weil der Terror nicht statisch, sondern dynamisch ist,ist der Kampf gegen den Terror auch ein Kampf gegendie Zeit, wie es BKA-Präsident Ziercke formuliert hat.Wenn es darum geht, Anschläge in Deutschland zu ver-hindern, zählt jeder Tag. Ich halte daher eine Diskussionüber die Notwendigkeit der Antiterrordatei für unverant-wortlich.
Ich bin sehr glücklich und erleichtert, dass wir nunfristgerecht einen Gesetzentwurf zur Novellierung desAntiterrordateigesetzes vorlegen, damit dieses wertvolleInstrument zum Informationsaustausch der Sicherheits-behörden über das Jahr 2014 hinaus weitergeführt wer-den kann.Dass die Antiterrordatei verfassungsgemäß ist, hatdas Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil bereitseindeutig festgestellt. Das ist insbesondere für diejeni-gen eine wichtige Nachricht, die sich um das Trennungs-gebot von Nachrichtendiensten und PolizeibehördenSorgen machen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier hat uns dieRealität doch bereits eingeholt; denn das GemeinsameExtremismus- und Terrorismusabwehrzentrum sowiedas Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextre-mismus sind gelebte Kooperation zwischen Polizei undVerfassungsschutz.
Beide Einrichtungen sind unverzichtbare Bausteine derSicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschlandund – ich sage es ganz deutlich – eine „zeitgemäße Aus-formung einer Informations- und Kommunikationsplatt-form aller beteiligten Behörden“. Auch die ATD ist soeine Plattform für die fast 40 Sicherheitsbehörden – ebeneine Kontaktanbahnungsdatei, nicht mehr, aber ebenauch nicht weniger.
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Wir alle hier haben im Nachgang zumNSU-Skandal und in den Handlungsempfehlungen desNSU-Untersuchungsausschusses gemeinsam im Hausden nicht vorhandenen, fatalen Informationsaustauschder Sicherheitsbehörden bemängelt. Wenn wir unsereBürgerinnen und Bürger vor extremistischen Angriffenschützen wollen, müssen wir Verbrechern informations-technisch einen Schritt voraus sein.
Selbstverständlich sind wir uns bewusst, dass wir unsim Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Sicher-heit auf der einen Seite und den zu schützenden Grund-rechten auf der anderen Seite bewegen. Das Bundes-verfassungsgericht hat festgehalten, dass einegemeinsame Verbunddatei ein besonders schwererGrundrechtseingriff ist, dem enge Grenzen zu setzensind. Ich sage: Gut, dass das Bundesverfassungsgerichtdies auch so klar betont hat.
Wir als SPD sind nicht der Meinung, dass es ein Super-grundrecht Sicherheit gibt. Nur: Ohne Sicherheit gibt eseben auch keine Freiheit!
Wenn es also so etwas wie ein Supergrundrecht gebensollte, dann muss das, wie wir meinen, zunächst die Frei-heit sein und nicht die Sicherheit.
Natürlich ist das ein Spagat. Wir glauben aber, dass dieGrundrechtseingriffe in der Antiterrordatei verhältnis-mäßig sind.Fakt ist doch auch, dass die Anwender sehr sensibelmit der Datei umgehen. Je höher der Grundrechtseingriffist, desto seltener wurde abgefragt. Fast alle Abfragen inder ATD betrafen die Grunddaten. Sehr selten wurde inden erweiterten Grunddaten gesucht.
Die hochsensible Eilfallregelung, die gerade schon ange-sprochen wurde, wonach die abfragende Behörde unterbestimmten, im Übrigen klar definierten Voraussetzun-gen unmittelbaren Zugriff auf die erweiterten Grund-daten hat, wurde – das hat der Evaluierungsbericht ge-zeigt – im überprüften Zeitraum nur ein einziges Malangewendet.Nur um es noch einmal klarzustellen: In der Antiter-rordatei werden nicht die Daten von unbescholtenenBürgerinnen und Bürgern unseres Landes gespeichert,sondern Daten von Menschen, von denen eine konkreteterroristische Gefahr ausgeht. Wir haben auch in dervorliegenden Neufassung noch einmal konkretisiert,welche Personen als terrorismusnah gelten. Daten vonKontaktpersonen etwa, die mit einer terrorismusnahenHauptperson in Kontakt stehen, dürfen künftig nur nochals erweiterte Grunddaten gespeichert werden. Als Per-son sind sie gewissermaßen gar nicht mehr gespeichert,sondern sie sind einfach nur noch ein Informationsme-dium in Bezug auf die Hauptperson.
Eine weitere Änderung – das ist mir wichtig, anzu-sprechen – haben wir im neuen § 6 a eingeführt. ImKoalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass die Analy-sefähigkeit der Antiterrordatei verbessert werden soll.
Auch der Evaluierungsbericht, der von denen verfasstwurde, die jeden Tag mit der Antiterrordatei arbeiten, hatergeben, dass eine komplexe Abfrage im Datenbestandder ATD sinnvoll wäre. So ist es künftig möglich, im
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Uli Grötsch
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Rahmen von einzelfallbezogenen Projekten, Informatio-nen im Rahmen einer erweiterten Nutzung zu sammelnund auszuwerten und Zusammenhänge darzustellen. Esweiß hier jeder, wie vernetzt gerade die Zielgruppe ist,um die es hier geht.
Diese Möglichkeit gibt es bereits heute in der Rechts-extremismusdatei, sodass es auch nichts Neues ist.Ich komme zum Schluss. Ich bin mir bewusst, dassdie Antiterrordatei nicht überall und bei jedem aufGegenliebe stößt. Auch ich würde mir wünschen, dassich ruhigen Gewissens sagen könnte, wir brauchen dieAntiterrordatei und die Rechtsextremismusdatei garnicht, weil das Terrorrisiko in Deutschland kalkulierbarund handhabbar ist. Das ist aber leider nicht so. Wirdürfen uns nicht belügen. Schließlich tragen wir die Ver-antwortung für die Sicherheit der Menschen in unseremLand.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre es einrichtiges Signal, wenn die Antiterrordatei mit den hiervorgeschlagenen Änderungen den Beamtinnen und Be-amten in den Polizeien und Nachrichtendiensten mitbreiter Unterstützung dieses Hauses auch weiterhin zurVerfügung stehen würde.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Über anderthalb Jahre haben Sie sichjetzt Zeit genommen, um hier einen verfassungskonfor-men Gesetzentwurf vorzulegen. Dafür, dass Sie es amEnde doch nicht geschafft haben, diesen Gesetzentwurfirgendwie verfassungskonform zu machen, ist es nachmeinem Empfinden eine viel zu lange Zeit.
Am informationellen Trennungsprinzip und an derVerfassung – das hat Ihnen auch die Bundesdatenschutz-beauftragte ziemlich deutlich ins Stammbuch geschrie-ben – stören Sie sich in Ihrem Gesetzesentwurf nicht imGeringsten. Mit dem Datenschutz sieht es leider nichtbesser aus, und – das nehme ich Ihnen auch persönlichwirklich übel – Sie lassen die Sicherheitsbehörden beider konkreten Umsetzung dieses Gesetzes schlicht undergreifend im Regen stehen. Das ist angesichts derGefahren des Terrorismus heutzutage völlig unverant-wortlich.
Ich sage Ihnen auch, warum. Der Kollege Grötsch hatvorhin den Änderungsantrag angesprochen, mit dem Siejetzt versuchen, das Ganze verfassungsrechtlich noch ir-gendwie zu glätten. Zu diesem Zweck definieren Sie imGesetzentwurf, was unter einem Projekt bei der weiterenDatennutzung, § 6 a, zu verstehen ist, damit jeder Benut-zer der Antiterrordatei auch weiß, was er zu tun hat. Ichzitiere die Definition:Ein Projekt ist eine gegenständlich abgrenzbare undauf bestimmte Zeiträume bezogene Aufgabe, derdurch die Gefahr oder den drohenden Schaden, dieam Sachverhalt beteiligten Personen, die Zielset-zung der Aufgabe oder deren Folgewirkungen einebesondere Bedeutung zukommt.Ja, dann ist ja jetzt alles klar, oder?
– Es ist ja allein deshalb schon so traurig, Herr KollegeReichenbach, weil es sprachlich schon schwierig ist. Ichweiß ja, dass Sie diesen Vorschlag aus der Expertenan-hörung übernommen haben. Es ist zwar fast schonlöblich, dass Sie sich auch einmal an das halten, was dieExperten sagen, aber im Ernst, liebe Kolleginnen undKollegen:
Diesen Satz versteht außerhalb von Professorenzirkelnkein Mensch.
Sie wälzen mit dieser Scheindefinition die Verantwor-tung für die richtige Auslegung des Gesetzes einfach aufdie Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden ab. Das kannnicht sein.
Es ist Ihre Aufgabe, einen verfassungskonformen undumsetzbaren Gesetzentwurf vorzulegen. Was Sie denMitarbeitern da zumuten, geht gar nicht.Genauso sieht es auch bei der Bekämpfung des IS-Terrorismus aus. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Sienicht davor warnen und an dem Sie sich nicht mit denabenteuerlichsten Forderungen geradezu überschlagen.Sie schreien nach neuen Gesetzen, die aber im Grundevöllig nutzlos sind, anstatt den vorhandenen Rechts-rahmen einmal konsequent auszuschöpfen und auch indie Praxis umzusetzen.Anstatt beispielsweise lückenlose Grenzkontrollen imDatenbestand auch bei der Ausreise sicherzustellen,bringen Sie lieber den Pass mit Terroristenstempel oderirgendwelche Ersatzdokumente ins Gespräch. Das istnicht nur rechtsstaatlich hart an der Grenze, sondernbringt auch für die Gefahrenabwehr rein gar nichts.
Das sagen uns auch die Experten bei der Bundespolizei.Wenn Sie Terrorverdächtige wirksam an der Ausreise
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Irene Mihalic
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hindern wollen, dann ist die grafische Darstellung aufdem Perso völlig egal. Worauf es ankommt, ist die Kon-trolldichte bei der Ausreise. Das ist das Kerngeschäft.Darauf sollten Sie sich endlich einmal konzentrieren, an-statt hier irgendwelche verfassungswidrigen Experi-mente zu veranstalten.
Aber Sie machen genau das Gegenteil: Allem, wasvernünftig ist, zum Trotz kürzen Sie auch noch das Geldda, wo es dringend gebraucht wird. Der Haushalt derBundespolizei soll in diesem Jahr zum Beispiel erneutum 51 Millionen Euro gekürzt werden. Und warum?Man fasst es ja nicht: zur Finanzierung des Betreuungs-geldes. Dazu kommt, dass die Haushaltssperre bei derBundespolizei bis heute noch nicht aufgehoben wurde.Wenn das Ihr sicherheitspolitisches Gesamtkonzept ist,dann gute Nacht!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihnen und dieserBundesregierung – ich spreche Sie an, Herr Krings –fehlt es schlicht an einer Strategie für die Bekämpfungdes Terrorismus. In der öffentlichen Debatte sagen Sieimmer, was Sie nicht alles tun wollen, aber die, auf diees in der Praxis ankommt, die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter der Sicherheitsbehörden, lassen Sie schlicht undergreifend im Regen stehen: finanziell, gesetzgeberischund konzeptionell. Tun Sie endlich das, was im rechts-staatlichen Rahmen möglich ist. Ein verfassungskonfor-mes Antiterrordateigesetz vorzulegen, haben Sie jaleider versäumt. Nehmen Sie jetzt wenigstens die Kür-zungen bei der Bundespolizei zurück, und sorgen Sie fürein koordiniertes Vorgehen von Bund und Ländern imKampf gegen den Terrorismus und vielleicht auch ein-mal bei der Deradikalisierung. Die Sonder-Innenminis-terkonferenz – Herr Krings, das können Sie ja dem Bun-desinnenminister einmal mit auf den Weg geben – istgenau der richtige Ort, um das zu tun.Wie gesagt: Lassen Sie verfassungswidrige Experi-mente! Tun Sie das Richtige!Ganz herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Clemens Binninger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Das Thema, das wir heute zu behandeln haben, ist außer-gewöhnlich ernst: eine Terrorarmee, die in einem ganzenLandstrich zwischen Syrien und Irak herrscht und Schre-cken verbreitet, ein Anschlag auf das Jüdische Museumin Brüssel mit vier Toten, die Planung öffentlicher Ent-hauptungen in Australien durch IS-Kämpfer, die übri-gens nicht in Syrien waren, sondern in Australien gelebthaben, 450 Personen aus Deutschland, die mutmaßlichals IS-Kämpfer in dieser Region unterwegs sind und ir-gendwann auch zurückkommen. Also, vor einer größe-ren Herausforderung, was die Bedrohungslage angeht,haben wir in diesem Land selten gestanden. Insofernmuss ich sagen: Ich verstehe es bei allen Unterschieden,die wir ja immer haben können, überhaupt nicht, dassLinke und Grüne kein Wort darauf verwenden
und stattdessen etwas beckmesserisch den Gesetzent-wurf kritisieren und ganz andere Sorgen haben. Ihre bei-den Beiträge gingen wirklich an der Lebenswirklichkeitvorbei, und zwar komplett vorbei.
Frau Mihalic, wenn Sie sagen: „Wir überbieten unsmit Vorschlägen“ – wobei es gar nicht so viele waren –,und schon den Vorschlag ablehnen, Ausweise bei derAusreise zu kennzeichnen, damit man Personen abhaltenoder wenigstens erkennen kann, entgegne ich Ihnen: DerErste, der diesen Vorschlag in die politische Debatte ein-gebracht hat, war Volker Beck von den Grünen.
Wen kritisieren Sie denn jetzt: uns oder sich selbst? Dashätte ich gern heute noch gewusst. Das war jedenfallsganz dünnes Eis, auf dem Sie da unterwegs waren.
Frau Jelpke, in der Rechtsextremismusdatei, mit derwir uns ja heute auch befassen, sind ausschließlich amts-bekannte Neonazis verzeichnet. Die Sorgen, die Sie sichmachen, kann ich, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen.Eine der Lehren aus den Verbrechen des NSU war esdoch, dass wir uns an den Kopf gefasst haben und ge-fragt haben: Wie kann es sein, dass Erkenntnisse übergewaltbereite Strukturen überall vorhanden sind, aberniemand sie zusammenführt? Sie schwadronieren jetzt,als ob man hier den Datenschutz für Neonazis missach-ten würde.
Das tun wir nicht. Das, was wir tun, ist eine wichtige undnotwendige Maßnahme.Da Sie das, was wir hier tun, ablehnen, hätte ich vonIhnen wenigstens einen Satz dazu erwartet, was Sie statt-dessen vorschlagen. Nichts davon! Bei Ihnen hat manimmer den Eindruck: Die Linken haben mehr Angst vor
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5585
Clemens Binninger
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Sicherheitsbehörden als vor Extremisten. Das ist unfass-bar und auch nicht akzeptabel.
Herr Kollege, der Abgeordnete von Notz würde gerne
eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Selbstverständlich, wenn Sie die Zeit anhalten, Herr
Präsident!
Eine gute Idee. Das mache ich jetzt.
Was heißt „eine gute Idee“?
Bitte schön, Herr von Notz.
Herr Kollege Binninger, vielen Dank. – Eine Bemer-
kung darf ich vielleicht machen: Ich weise es für meine
Fraktion und für die Kollegin Mihalic aufs Schärfste zu-
rück, dass wir diese Problematik nicht ernst nehmen.
Das wissen Sie auch; wir sagen das in der Diskussion
immer wieder.
Ich will gleich eine Frage stellen. Ich habe mit Ihnen
ja schon mehrere Diskussionen in dieser Form geführt,
gerade auch zu diesem Thema, und jedes Mal, Herr
Binninger, reden Sie und Ihre Fraktion mit der Inbrunst
der Rechtschaffenheit über die Verfassungskonformität
Ihrer Vorschläge hier im Haus.
An dem Punkt war ich noch nicht, aber Sie dürfen
gerne vorweg fragen. Hervorragend!
Genau, ich schenke Ihnen Redezeit. Das ist ja ein gu-
ter Zug von mir. – Jedes Mal sagen Sie mit der Inbrunst
der Überzeugung, wie unglaublich verfassungskonform
Ihre Vorschläge sind. Jetzt haben Sie die Antiterrordatei
genau so, wie wir es Ihnen vorhergesagt haben, von
Karlsruhe um die Ohren gehauen bekommen, genau we-
gen der Punkte, die wir Ihnen genannt haben. Damals
haben Sie auch schon gesagt: Die Grünen und die Lin-
ken kümmern sich nicht um Sicherheit. – Wir haben
ganz schlicht eine Bitte: Legen Sie verfassungskonforme
Gesetze vor! Das ist gut für die Sicherheit in Deutsch-
land; denn die werden nicht gleich wieder von Karlsruhe
eingesammelt.
Vor diesem Hintergrund würde ich gerne wissen: Wa-
rum sind Sie denn diesmal überzeugt, dass Sie nicht wie-
der falschliegen, wie in den letzten sieben Diskussionen,
in denen es um ähnliche Problematiken ging?
Herr Kollege von Notz, um keine unnötige Schärfe indie Debatte zu bringen: Ich spreche Ihnen nicht grund-sätzlich ab, dass Sie ein Problembewusstsein haben.
Aber ich habe die Erwartung, dass man, wenn wir hierim Deutschen Bundestag über so etwas sprechen, einpaar Sätze mehr zur Bedrohungslage verliert, als es dieOpposition bisher getan hat.
Dabei bleibe ich auch. Und das kann man, wie ichglaube, zu Recht erwarten.Jetzt zu Ihrer Frage. Ich war in meiner Rede noch garnicht bei dem Punkt der verfassungsgemäßen Ausgestal-tung, aber wenn Sie quasi vorweg danach fragen, willich Ihnen trotzdem eine Antwort geben. Ich war bei dermündlichen Verhandlung und auch bei der Urteilsver-kündung in Karlsruhe, übrigens als einziger Abgeordne-ter – von der Opposition war niemand da. Ich glaube, ichkann deshalb relativ gut sagen, wie Karlsruhe dieses Ge-setz bewertet hat. Man hat gesagt: im Grundsatz verfas-sungsgemäß, aber vier oder fünf Punkte müssen korri-giert werden.
– Das ist richtig, aber Ihre immer wieder aufgestellteHauptthese, wir würden ein verfassungswidriges Gesetzvorlegen, wurde von Karlsruhe widerlegt.
– Sie haben die Punkte so nicht benannt,
was die Kontaktpersonen anbelangt.Jetzt gab es Korrekturbedarf. Dem sind wir nachge-kommen. Wir haben etwas gemacht, was Sie währendder Zeit der rot-grünen Regierung nie gemacht haben– ich persönlich kann mich jedenfalls nicht erinnern –:Wir haben auf die Sachverständigen gehört. Wir habenzwei Punkte, die von den Sachverständigen bezüglich
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der Kontaktpersonen und der Projektdateien vorgeschla-gen wurden, umgesetzt.Ich glaube: Niemand von uns – Sie doch auch nicht –kann zu jedem Zeitpunkt vorhersagen, ob ein Gesetz inKarlsruhe in jedem Falle Bestand hat; so vermessen wirdkeiner sein. An die vielen Gesetze, die während der rot-grünen Regierungszeit in Karlsruhe gescheitert sind– sorry, das kann ich euch nicht ersparen; das Luftsicher-heitsgesetz ist das Paradebeispiel –, will ich Sie jetzt nurkurz erinnern. Da muss niemand mit dem Finger auf – –
– Die Grünen waren da schon im Bundestag, Sie persön-lich nicht. – Wir haben jetzt das getan, was wir tun kön-nen, damit dieses Gesetz verfassungskonform ist.Frau Mihalic, Sie haben die im Gesetz enthaltene De-finition der Projektdatei etwas ironisiert.
– Wer das versteht? Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen,das zeigt, worum es da geht. Da geht es um Projekte wiejenes, das auf Rückkehrer aus Kampfgebieten in Syrienausgerichtet ist. Genau dafür gilt diese Definition. Mitetwas gutem Willen versteht man sie auch.
Nur wenn man es nicht verstehen will, muss man dasGesetz ironisieren. Aber das ist der falsche Weg, dieseDebatte zu führen – der ganz falsche Weg.
Warum brauchen wir überhaupt eine solche Verbund-datei? Das ist doch die Ausgangsfrage. Bei aller Kritik– vielleicht kommen wir da nicht zusammen; das machtja auch nichts – müssten Sie eigentlich eine eigene Ant-wort darauf parat haben. Warum brauchen wir also einesolche Verbunddatei? Wir brauchen sie, weil wir auf-grund unserer föderalen Struktur in Deutschland 37 ver-schiedene Behörden haben, die für die Bekämpfung desinternationalen Terrorismus zuständig sind: Verfassungs-schutz, Polizeien, LKA, BKA, MAD, BND und Bundes-polizei. 37! Wenn wir wollen, dass diese Behörden imInteresse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürgererfolgreich sind, dann müssen wir sicherstellen, dass dieInformationen, die an 37 verschiedenen Stellen anfallen,auch zusammengeführt werden. Ich persönlich kann mirkein anderes Instrument vorstellen, als zu sagen: Die In-formationen, die schon da sind, führen wir in einer Dateizusammen.
– Wenn Sie einen anderen Vorschlag haben, dann sagenSie es. Aber tun Sie nicht so, als ob wir das nicht bräuch-ten.Wie war das in der Vergangenheit, wenn eine Polizeivom Verfassungsschutz eine Information über eine Per-son haben wollte? Beispiele aus dem NSU-Untersu-chungsausschuss zeigen: Dauer der Beantwortung –neun Monate! Wir reden hier über Terrorismusbekämp-fung. Da können wir uns keine neun Monate erlauben,sondern es muss im Zweifel innerhalb von Minuten fest-stehen, ob eine Person schon bekannt ist und irgendwoals militanter Rechtsextremist oder als gewaltbereiter Is-lamist aufgefallen ist. Deshalb brauchen wir dieses In-strument. Wir gestalten es mit dem heute vorliegendenGesetzentwurf verfassungsgemäß aus. Die Punkte, dievon den Sachverständigen moniert wurden, haben wirkorrigiert.Zu den Kontaktpersonen.
– Frau Jelpke, wir sollten schon redlich bleiben. – DerSinn und Zweck, warum wir Daten von Kontaktperso-nen speichern, ist doch folgender: Was machen Sie,wenn Sie übers Wochenende den Hinweis auf einen ge-planten Anschlag durch zwei Personen bekommen? Diezwei Verdächtigen sind weg, sie sind verschwunden, kei-ner weiß, wo sie sind. Dann sind Sie doch darauf ange-wiesen, dass Sie irgendwo Daten einer Person gespei-chert haben, die Ihnen helfen kann, die vielleicht weiß,wo sich ein Verdächtiger aufhält. Und wenn Sie diesePerson erreichen wollen, dann brauchen Sie natürlichTelefonnummer, Adresse, E-Mail-Adresse oder Handy-nummer. Frau Jelpke, Sie können doch nicht kritisieren,dass wir die Telefonnummern von Kontaktpersonenspeichern. Ja, was denn sonst! Sonst kann ich mit denendoch gar nicht reden. Was wäre denn das für ein Instru-ment?Angesichts solcher Scheuklappen muss ich sagen: Esist wirklich schade um die Debattenzeit, wenn man sieauf diese Weise verschwendet. Das passt auch nicht zurRealität. Wir speichern die Daten von Kontaktpersonenso, wie es Karlsruhe vorgegeben hat. Wir brauchen je-denfalls diese Personen,
und wir brauchen natürlich auch Daten, um mit diesenPersonen im Bedrohungsfall – darum geht es doch – inKontakt treten zu können.
Ein weiterer Punkt, den die Grünen und, ich glaube,auch Sie von den Linken vorhin angesprochen haben, istder Eilfall. Wir haben den Eilfall, bei dem eine Behördevorneweg auf alle Daten zugreifen kann, die über einePerson gespeichert sind, so streng geregelt, weil der Vor-wurf bei der Gesetzgebung immer gelautet hat, mit demEilfall werde eine Hintertür geöffnet, und jede Dienst-stelle dürfe sich alle Daten ansehen; das werde im Rah-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5587
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men des Eilfalls passieren. Es wurden dunkle Szenarienfür den Datenschutz an die Wand gemalt.Jetzt haben wir die Terrordatei evaluiert und stellenfest: Die Bestimmung des Eilfalles war so eng gewählt,dass er nur einmal angewandt wurde. Nun ziehen Sie da-raus den Schluss, dass wir den Eilfall ja gar nichtbräuchten. Das überzeugt nicht. Solche Argumente ge-hen – nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch –ziemlich weit an der Sache vorbei.Unsere Sicherheitsbehörden brauchen Instrumente,mit denen sie in die Lage versetzt werden, der derzeiti-gen Bedrohungslage, die uns noch eine ganze Weile be-schäftigen wird, etwas entgegenzusetzen. Natürlich istdie Antiterrordatei nicht das einzige Instrument. Natür-lich müssen wir uns auch um das Personal kümmern; dasist aber nicht Gegenstand der heutigen Debatte.Auch mir persönlich bereitet es etwas Sorge – Sie ha-ben es genannt –, dass es im Haushalt noch Sperrver-merke gibt. Das passt nicht in unsere Zeit, und es passtnicht zur Bedrohungslage. Deshalb müssen wir an dieserStelle Korrekturen vornehmen.
Im Ergebnis wird es immer so sein: Egal was wir angesetzgeberischen Änderungen machen, egal was wir anDateien einführen, am Ende sind es die Männer undFrauen in den Sicherheitsbehörden, die in der Lage seinmüssen, diese Instrumente anzuwenden. Sie müssen wirordentlich bezahlen. All das gehört dazu. Hier stehen wirin der Pflicht. Wir stehen aber auch in der Pflicht, alleszu tun, was der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger inunserem Land dient.Gerade angesichts der schrecklichen Bedrohungdurch den IS, die uns sicher und leider einige Monateoder sogar noch länger beschäftigen wird, ist festzuhal-ten: Die Antiterrordatei ist ein wichtiges Instrument. Wirbringen sie heute mit den entsprechenden Korrekturenauf den Weg. Es wäre ein gutes Zeichen gewesen, wennSie sich zu einer Zustimmung zu diesem Instrument hät-ten entschließen können. Wir werden es tun und damiteinen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes leisten.Herzlichen Dank.
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
das Wort dem Abgeordneten Gerold Reichenbach, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich will hier keine neuen Bedrohungsszenarien aufzei-gen.Ich gehe davon aus, dass es in diesem Haus Konsensist, dass wir unsere Sicherheitsbehörden in die Lage ver-setzen müssen, mit den zur Verfügung stehenden techni-schen Möglichkeiten im Rahmen der Gesetze Informa-tionen optimal auszutauschen; das gilt auch für dieDienste. Gerade wir Sozialdemokraten haben vor demHintergrund unserer Geschichte und aus Respekt vor un-serer Verfassung immer darauf geachtet, dass das Tren-nungsgebot nicht aufgeweicht oder durchbrochen wird.Frau Jelpke, ich muss Ihnen Folgendes sagen: Siemüssen sich irgendwann einmal entscheiden. Die Links-partei kann nicht einerseits kritisieren, wenn auch zuRecht, dass es den Behörden im Zusammenhang mitdem NSU nicht gelungen ist, Kontaktpersonen bzw. de-ren Telefonnummern mit dem Terrortrio zusammenzu-bringen, um die Verbrechen früher aufdecken und dasTrio stoppen zu können, und andererseits kritisieren,dass wir die Ursache für diesen Umstand beheben wol-len. Das passt nicht zusammen.
Wir stehen zu diesem Instrument. Das Bundesverfas-sungsgericht hat deutlich gemacht: Dieser tiefe Eingriffist vor dem Hintergrund dessen, was wir als Ziel errei-chen wollen – Bekämpfung des Terrorismus von rechts,von Islamisten, von links oder sonst woher zum Schutzvon Gut, Leib und Leben –, zu rechtfertigen, aber – dashat das Bundesverfassungsgericht auch festgelegt – un-ter strenger Beachtung des Bürgerrechts auf informatio-nelle Selbstbestimmung. Das Bundesverfassungsgerichthat gesagt: Wenn Daten zusammengeführt werden, dannhat das eine neue Qualität, auch wenn die Daten woan-ders schon erhoben worden sind.Wir haben uns bei der Novellierung dieses Gesetzesbemüht, diese Vorgaben genau umzusetzen. Ich denke,das ist uns auch gelungen. Der ursprüngliche Gesetzent-wurf wurde nach der Anhörung im Zuge der parlamen-tarischen Beratung verändert. Das ist ja auch der Sinnder parlamentarischen Beratung; insofern gilt dasStruck’sche Gesetz. Die Anhörung hat gezeigt: Der Ge-setzentwurf hat Mängel. – Wir haben diese Kritik derSachverständigen aufgegriffen: sowohl beim ThemaKontaktpersonen als auch bei der Berechtigung der Län-derbehörden zur Abfrage und hinsichtlich § 6 a des Anti-terrordateigesetzes. Ich gebe zu: § 6 a konnte nicht Ge-genstand der Beurteilung des Bundesverfassungsgerichtssein, weil wir ihn neu einführen.Nach der Anhörung haben wir uns aber bemüht, dasThema Projekt/Projektdateien so einzugrenzen, dass wirden Normen, die das Bundesverfassungsgericht hinsicht-lich der Antiterrordatei festgelegt hat – das ist auch aufdie Rechtsextremismusdatei zu übertragen –, Genügetun.Liebe Kollegin Mihalic, wir sind uns hinsichtlich Ih-rer Kritik durchaus einig – als Innenpolitiker brauchenwir uns da nicht gegenseitig schlau oder katholisch zumachen –: Wir müssen uns nicht nur um gesetzliche In-strumente kümmern – auch Clemens Binninger hat dasgesagt –, sondern wir müssen uns auch darum kümmern,dass wir am Ende genügend Beamte haben, die diese
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Gerold Reichenbach
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Gesetze zum Schutze der Bevölkerung anwenden kön-nen.
Das ist völlig unbestritten. Unbestritten ist aber auch dieTatsache – Sie sind vom Fach –, dass wir als Gesetzge-ber keine Dienstvorschriften und keine Umsetzungs-anweisungen für Polizeibeamte machen.
Wir müssen ein Gesetz machen, das juristisch umsetzbarist. Der gesetzliche Rahmen für die Eingriffsrechte, denwir hier festlegen, muss in die polizeiliche Praxis um-setzbar und praktikabel sein.
Für die Umsetzung sind die Behörden zuständig. Dafürgibt es Dienstanweisungen, Umsetzungsanordnungenund, und, und.Ich glaube, dass der Gesetzentwurf mit den Änderun-gen, die wir nach der Anhörung eingebracht und im Aus-schuss beschlossen haben, tragbar ist. Deswegen bitteich um Ihre Zustimmung.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Antiterrordateigesetzes und anderer Gesetze.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/2902, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/1565 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/2911. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der
Entschließungsantrag abgelehnt mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Enthal-
tung der Fraktion Die Linke und Zustimmung durch die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa
Paus, Britta Haßelmann, Anja Hajduk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für eine Bundessteuerverwaltung – Gleiche
Grundsätze von Flensburg bis zum Bodensee
Drucksache 18/2877
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeord-
neten Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ta-gen die Ministerpräsidenten in Potsdam, um über dieNeuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen zusprechen. Ein Thema scheint dabei aber schon wiedervom Tisch zu sein, kaum, dass es einmal darauf lag,nämlich der Kampf gegen Steuerbetrug durch einen effi-zienten Steuervollzug. Ein einfaches Veto aus Bayernscheint zu genügen, damit gar nicht mehr darüber ge-sprochen wird. Wir sagen: Wir lassen uns den Mund vonden Bayern nicht verbieten.
Es ist höchste Zeit, dass der Bundestag, der übrigensauf der Bundesebene der Gesetzgeber ist – das ist nichtder Finanzminister, und das ist auch nicht die Bundes-kanzlerin –, die Themen anspricht, die aus unserer Sichtmit auf den Verhandlungstisch gehören. Mit unserer For-derung „Für eine Bundessteuerverwaltung – GleicheGrundsätze von Flensburg bis zum Bodensee“ wissenwir Grüne viele Abgeordnete auch aus den Reihen derCDU/CSU und der SPD in diesem Hause auf unsererSeite. Lassen Sie uns gemeinsam dieses Thema wiederauf den Verhandlungstisch bringen.
Denn die Wahrheit ist: Deutschland entgehen jedesJahr zig Milliarden Euro an Steuereinnahmen aufgrundder ineffizienten Organisation der Steuerverwaltung inunserem föderalen System. Der Bundesrechnungshofbemerkte hierzu 2006: Ein Großteil der Steuererklärun-gen wird in den Finanzämtern nicht mehr ordnungsge-mäß geprüft. Der gesetzmäßige und ordnungsgemäßeVollzug der Steuergesetze ist in Deutschland nicht mehrgewährleistet. – Wenn Steuergesetze in Deutschland
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Lisa Paus
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nicht mehr umgesetzt werden können, dann bestehtwirklich dringender Handlungsbedarf.
Dafür, dass es so ist, gibt es strukturelle Gründe. We-gen der föderalen Regeln, die wir haben, gilt für jedenLandesfinanzminister in diesem Land das gleiche Para-dox: Er will keine Steuern einnehmen. Denn die Kostenfür einen zusätzlichen Steuerprüfer muss ein Finanz-minister zu 100 Prozent zahlen, von den zusätzlichenSteuereinnahmen bekommt der Finanzminister im Landaber oft nur 10 Prozent, egal ob in Berlin oder in Baden-Württemberg. Es liegt in diesem Fall also tatsächlich amSystem. Deswegen müssen wir dieses System ändern,meine Damen und Herren.
2011 haben wir Grüne in elf Landesparlamenten dieRegierung zum Zustand der Steuerverwaltung befragt.Das Ergebnis: Kamen in Hamburg auf 10 000 Bürger20 Finanzbeamte, waren es in Bayern gerade noch 12.Aber damit nicht genug: Bayern reduzierte seine ohne-hin niedrige Zahl von Betriebsprüfern noch weiter, wäh-rend andere Länder wie Schleswig-Holstein in den letz-ten fünf Jahren die Zahl ihrer Betriebsprüfer um20 Prozent gesteigert haben.
Die Wahrscheinlichkeit, Besuch von der Steuerfahndungzu bekommen, war in Hessen beinahe zehnmal größerals in Bayern. Es kann nicht sein, meine Damen undHerren, dass in Deutschland der Wohnort und nicht dieLeistungsfähigkeit darüber entscheidet, wie viel Steuernjemand zahlt.
Und doch ist die Realität des Jahres 2014 nochschlimmer: Der Umzug eines Steuerpflichtigen von ei-nem Bundesland in ein anderes stellt die Finanzämterhier und heute noch immer vor Herausforderungen un-vorstellbaren Ausmaßes. Die elektronischen Daten wer-den nämlich nicht einfach überspielt, sondern es gehenauch im 21. Jahrhundert zumeist ausschließlich Papier-akten auf die Reise.
Das neu zuständige Finanzamt muss dann mühsam allenoch relevanten Steuerbescheide der Altjahre per Handin den PC bringen. Sind noch Einsprüche offen oderRückstände einzufordern, müssen zusätzlich noch dieBuchungskonten des Steuerpflichtigen mit den Altdatengefüttert werden. Wir brauchen endlich eine bundesweiteinheitliche Software, um solchen Koordinationsproble-men ein Ende zu machen, meine Damen und Herren.
Wie sieht es aus bei den Betriebsprüfungen? Deutsch-land 2014 heißt, dass große internationale Konzerne inzentralen Steuerabteilungen Bataillone von Steuerbera-tern und Anwälten beschäftigen. Ihnen gegenüber sitzenim Zweifel vielleicht zwei Betriebsprüfer, die selbstver-ständlich auch dann, wenn das Unternehmen mehrereBetriebsstätten hat, unabhängig von den Finanzbeamtenim anderen Bundesland und jeweils in Eigenregie, dieBilanzierungs- und Steuerehrlichkeit prüfen und auswer-ten. Kein Wunder, dass Unternehmen in Deutschland imDurchschnitt nur alle 44 Jahre geprüft werden – dieFinanzämter in Deutschland sind einfach hoffnungslosunterlegen.
Weitere Aufgaben kommen: Die OECD erarbeitet imMoment Vorschläge, wie sich die Steuervermeidungs-strategien der Konzerne stoppen lassen. Wir fordern des-halb eine neu zu schaffende Spezialeinheit, die personellund technisch auf Augenhöhe mit den Steuerabteilungender Konzerne zu bringen ist und dann für sämtlicheSteuerangelegenheiten dieser Großkonzerne und vonEinkommensmillionären zuständig sein soll.
Frau Kollegin, da gibt es den Herzenswunsch des
Kollegen Zimmermann nach einer Zwischenfrage.
Möchten Sie die gestatten? – Ich halte auch die Uhr an.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen-frage zulassen. Sie haben Hessen angesprochen. Das hatmich jetzt dazu veranlasst, auch länger die Hand zu he-ben.Ich weiß, das ist nicht unter RegierungsbeteiligungIhrer Partei in Hessen passiert; aber die Steuerverwal-tung und vor allem die Steuerfahndung in Hessen habenja leider eine wenig rühmliche Vergangenheit. Ichmöchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, was man inHessen bereit ist zu tun, um die Steuerfahnder, die da-mals – man muss es ja so sagen – für verrückt erklärtwurden, zu rehabilitieren.
– Das ist überhaupt kein Nebenkriegsschauplatz.
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Sie haben völlig recht: Dieser Fall ist unsäglich. Zum
Glück haben die betroffenen Steuerbeamten inzwischen
vor Gericht Recht bekommen. Ich teile Ihre Auffassung,
dass sie sich großen Respekt verdient haben.
Ich war gerade dabei, auszuführen, dass wir eine Spe-
zialeinheit brauchen, die den Steuerabteilungen großer
Konzerne und den Steuerberatern von Einkommensmil-
lionären tatsächlich auf Augenhöhe begegnen kann. Nur
so können wir sicherstellen, dass auch leistungsfähige
Gruppen angemessen an der Finanzierung des Gemein-
wesens beteiligt werden. Dadurch würde übrigens auch
der Austausch mit ausländischen Steuerverwaltungen er-
leichtert, da diese dann nur noch mit einer statt mit
16 Behörden zusammenarbeiten müssten. Eine solche
neue Abteilung macht gerade jetzt Sinn, wo die OECD
neue Vorschläge erarbeitet, wie wir die Steuervermei-
dungsstrategien der Konzerne endlich stoppen können.
Ich fasse zusammen: Das Thema Bundessteuerverwal-
tung muss bei den Verhandlungen über die Bund-Länder-
Finanzbeziehungen zurück auf den Verhandlungstisch.
Erste Schritte, die mindestens gegangen werden müss-
ten, sind: Aufstellung einer Spezialeinheit für den Um-
gang mit Großkonzernen und Einkommensmillionären.
Der unterschiedliche Zustand der Verwaltungen muss
endlich transparent gemacht werden und durch bundes-
einheitliche Zielvereinbarungen kontrolliert werden.
Und wir brauchen endlich eine einheitliche Software.
Ich freue mich auf die Debatte, damit wir hier endlich
vorwärtskommen.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Margaret Horb, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Immer wenn die Gründung einer Föderalismus-kommission ansteht oder eine tagt, steht das ThemaBundessteuerverwaltung auf der Agenda. Heute beglü-cken uns die Grünen mit einer Debatte zu diesemThema.Die Diskussion ist wichtig, gerade auch im Kontextder Föderalismuskommission; denn die Steuerverwal-tung ist der Maschinenraum unseres Finanzsystems. Daist es nicht so glamourös wie beim Captain, der oben aufder Brücke steht, das Schiff lenkt und beim Captain’sDinner mit den Gästen plaudert. Aber ohne die Mann-schaft im Maschinenraum fährt kein Schiff der Welt.Und ohne eine funktionierende, effiziente Steuerverwal-tung funktioniert kein Staat der Welt. Ich finde die Dis-kussion, die wir heute führen, deshalb gut und richtig.Von dem vorliegenden Antrag der lieben Kollegen undKolleginnen der Grünen kann ich das leider nicht be-haupten.
Da ist zunächst der Titel: „Für eine Bundessteuerver-waltung – Gleiche Grundsätze von Flensburg bis zumBodensee“. Ihre Geografiekenntnisse in allen Ehren,aber gleiche Grundsätze gibt es bereits. Die Abgaben-ordnung gilt überall in Deutschland gleichermaßen.
Die Steuerverwaltung ist Ländersache. Die Steuerge-setze sind überall gleich, in Flensburg wie am Bodensee.Kommen wir aber zum Steuervollzug; denn darumgeht es Ihnen ja. Da schreiben Sie in Ihrem Antrag ernst-haft – ich zitiere wörtlich –:Es kann aber nicht sein, dass die Höhe der Steuer-zahlung vom Wohnort abhängt, weil in einem Landgeprüft und im anderen weggesehen wird.Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie damit sagen? Ich selbstkomme aus der Finanzverwaltung. Wenn ich so etwaslese, dann werde ich sauer, und zwar richtig sauer.
Ich kenne keinen Mitarbeiter, keine Mitarbeiterin, kei-nen Sachbearbeiter und keinen Betriebsprüfer in der Fi-nanzverwaltung, der bei Steuererklärungen und -prüfun-gen wegsieht. Hier sind wir auch ganz schnell imBereich von Straftaten. Wenn Sie einzelnen Bundeslän-dern unterstellen, dass sie ihre Steuerverwaltungen extraschlecht ausstatten, um Standortvorteile zu generieren,dann müssen Sie das auch belegen.
Wo wir gerade bei den Ländern sind, liebe Kollegenund Kolleginnen der Grünen: Lassen Sie mich Ihnenvorlesen, was Ihr grüner Ministerpräsident Kretschmannvon einer Bundessteuerverwaltung hält. Ich zitiere ausdem Mannheimer Morgen:Würde man die Gesetzgebung in diese Richtung än-dern, sei der „Kern des Föderalismus“ betroffen, soder Regierungschef. Denn durch die kompletteÜbertragung der Steuerverwaltung nach Berlin könn-ten die Länder über den Bundesrat keine Gesetzes-initiative des Bundes mehr beeinflussen. „Das istaus Gesichtspunkten des Föderalismus keine gutePosition“, stellte Kretschmann klar und ergänztebarsch: „Es gibt keinen Anlass, diese Diskussionjetzt weiterzuführen.“
Das ist doch eine klare Abfuhr. Was zeigt uns das?Das zeigt, dass sich die Grünen auf Bundesebene nicht
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Margaret Horb
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mit ihrem eigenen Ministerpräsidenten abstimmen. Aberdas kennen wir ja schon. Wir sehen daran aber auch,dass es bei den Ländern oft eine ganz andere Interessen-lage als beim Bund gibt. Gerade die großen Bundeslän-der achten hier sehr genau auf ihre Eigenständigkeit.Ich komme noch einmal auf mein Bild vom Anfangmeiner Rede zurück. Wenn unsere Steuerverwaltung derMaschinenraum ist, dann wollen Sie mit Ihrem Antragden ganzen Schiffsmotor auswechseln. Das ist nicht rea-listisch. Das heißt aber nicht, dass der Motor nicht in dieInspektion muss. Wir haben einigen Wartungsbedarf.Nationale und internationale Entwicklungen stellen un-ser Steuersystem vor neue Herausforderungen, neuePflichten und Aufgaben. Danach handeln wir.Im Koalitionsvertrag haben wir die Stärkung des Bun-deszentralamtes für Steuern vereinbart. Wir werden dieSteuerfahndungen der Länder stärker unterstützen. DieBekämpfung von Steuerhinterziehung muss oberstePriorität haben. Dafür brauchen wir auch eine stärkereEinbindung des Bundes.Das gilt besonders für den Bereich Umsatzsteuerbe-trug. Auch wenn prominente Hinterziehungsfälle bei derEinkommensteuer medial immer besonders viel Auf-merksamkeit erregen: Das meiste Geld wird bei derMehrwertsteuer hinterzogen. Hier entstehen der öffentli-chen Hand die meisten Verluste. Hier reden wir auchüber organisierte Kriminalität. Diese Form der Steuer-hinterziehung ist natürlich länderübergreifend, ja, sieagiert europaweit, sie agiert weltweit. Deshalb machteine Kontrolle und Bekämpfung auf Bundesebene Sinn.Es macht ebenso Sinn, dass Betriebsprüfungen – ins-besondere bei Großunternehmen – auf Bundesebenestattfinden, sei es in alleiniger Zuständigkeit oder in Zu-sammenarbeit mit den Ländern. Um die Fälle für dieBundesbetriebsprüfung auswählen zu können, brauchtdas Bundeszentralamt aber auch die notwendigen Daten.Damit sind wir bei dem Punkt IT. Der zunehmendeEinsatz elektronischer Programme in der Steuerverwal-tung ist sinnvoll und notwendig, und das ist Fakt. In ei-ner digitalen und globalisierten Welt muss die Steuerver-waltung digital arbeiten. In diesem Bereich wird eineganze Reihe von Projekten gerade umgesetzt, läuft be-reits oder ist in Planung. Ich selbst habe im Finanzamtmit diesen Programmen gearbeitet und kenne den Nut-zen und die Probleme. Ich weiß auch um manchesSchönreden von Zahlen, Evaluierungen und wissen-schaftlichen Studien. Nur, dadurch erledigt sich keineeinzige Steuererklärung oder Steuerprüfung. Fakt ist:Wir brauchen eine funktionierende EDV, und wir brau-chen den Dialog mit den Praktikern.Nehmen wir ein ganz besonders anschauliches Bei-spiel, das sind die ESt-4B-Mitteilungen. Das sind Mit-teilungen über Einkünfte, an denen mehrere Personenbeteiligt sind, beispielsweise über Beteiligungen anGmbHs, Fonds oder Ähnlichem. Diese Mitteilungenwerden in Papierform an das Finanzamt geschickt, dasfür den Bezieher der Einkünfte zuständig ist. Diese Mit-teilungen und auch jede Korrekturmitteilung werdenzum Teil durch ganz Deutschland geschickt – per Postoder Kurier – und dann im Finanzamt händisch erfasstund verarbeitet. Dieses Verfahren ist unglaublich perso-nalintensiv und fehleranfällig. Daher braucht es hier eineelektronische Lösung, und zwar dringend. Das ist nur einBeispiel. Wir müssen im Zuge der Bund-Länder-Ver-handlungen in das Thema Modernisierung der IT fri-schen und starken Wind bringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Abgeordnetehaben aber auch noch eine ganz andere Verantwortung:Steuervollzug und Steuergesetzgebung gehen Hand inHand. Gesetze müssen auch praxistauglich sein. Daraufmüssen wir als Abgeordnete achten. Die Verhandlungenzwischen Bund und Ländern bieten die Chance, wichtigeTeile unseres Motors „Steuervollzug“ zu erneuern, zu re-parieren und zu justieren. Das werden wir in den kom-menden Monaten auch intensiv tun – mit Sorgfalt, mitWeitblick und ohne Polemik.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Richard Pitterle, Fraktion Die Linke, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Horb, um beiIhrem Beispiel zu bleiben: Wir sitzen hier in der Tat aufdem Deck. Der Maschinenraum ist aber leider auf16 Boote verteilt, auf die wir von unserem Deck aus kei-nen Einfluss haben. Ich glaube, das ist das Problem.
Im Juli 2010 hat die OECD, die Organisation für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den Zu-stand der Steuerprüfung in Deutschland scharf kritisiertund gefordert, „die Steuerprüfung zu verschärfen undvor allem die Banken härter zu kontrollieren“. So ließensich Einnahmen um „viele, viele Milliarden Euro“ imJahr erhöhen. Jeffrey Owens, der Leiter der Steuerabtei-lung der OECD, sagte zutreffend – ich zitiere –: „Inves-titionen in die Steuerverwaltung sind Investitionen mithohen Renditen.“Aber was ist zwischen Juli 2010 und Oktober 2014passiert, meine Damen und Herren von der Regierungs-koalition? Es ist in diesem Bereich rein gar nichts pas-siert, um die Situation zu ändern. Das ist leider die bit-tere Wahrheit.
Die Steuergesetze gelten zwar für alle, aber das heißtnoch lange nicht, dass auch alle in Deutschland gleicher-maßen die anfallenden Steuern zahlen. Es kommt daraufan, in welchem Bundesland man wohnt; denn es gibtgroße Unterschiede beim Steuervollzug. Wenn die Bun-desländer zum einen die Kosten für die Besteuerung zutragen haben, aber von den zusätzlich eingetriebenen
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Richard Pitterle
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Steuereinnahmen aus Betriebsprüfung und Steuerfahn-dung kaum etwas behalten dürfen – es war von 10 Pro-zent die Rede –, ist es nicht verwunderlich, dass sich ei-nige Länder „kostenbewusst“ verhalten und ihr Interessean intensiven Prüfungen von Steuererklärungen, an Be-triebsprüfungen und an Steuerfahndungen eher geringist.Zum anderen hat der Abbau vieler Stellen in der Fi-nanzverwaltung dazu geführt, dass Steuererklärungen,insbesondere von reichen Selbstständigen und Unterneh-men, wenn überhaupt, nur unzureichend geprüft werdenkönnen. Dabei muss sich die Finanzverwaltung meistauf die Angaben der Steuerpflichtigen verlassen, ohnesie weiter zu überprüfen.Bundesweit fehlen nach Angaben der Steuergewerk-schaft 15 000 Beschäftigte in der Steuerverwaltung. Seitlangem fordert die Linke eine Aufstockung der Zahl derSachbearbeiter, Betriebsprüfer und Steuerfahnder, um zueiner gerechteren Steuererhebung zu kommen, sodassalle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler entsprechend ih-rer Leistungsfähigkeit besteuert werden.
Steuervollzug ist zwar Ländersache, aber wer führtdie Regierungen in den Bundesländern – mit AusnahmeBaden-Württembergs – an? Entweder die CDU, die CSUoder die SPD. Die Regierungsparteien CDU, CSU undSPD hätten es somit in der Hand, dort für eine bessereUmsetzung und Durchsetzung der vom Bund und damitvon uns erlassenen Steuergesetze zu sorgen. Sie tun esnicht, und das ist schlecht für das gesamte Land.Eine weitere Ursache für die Steuerungerechtigkeitinnerhalb Deutschlands liegt in der ineffizienten Steuer-verwaltung. Sie ist auf die 16 Länder bzw., wie gesagt,auf 16 Boote verteilt. Das heißt, es gibt unterschiedlicheDatenverarbeitungssysteme, unterschiedliche Personal-ausstattung und unterschiedliche Interessen. Außerdemwird von einzelnen Bundesländern – Stichwort Bayern –laxer Steuervollzug gezielt als Wettbewerbsvorteil zurAnsiedlung von Unternehmen eingesetzt.
Das ist doch nicht zu fassen.
Ein erster Schritt zu mehr Steuergerechtigkeit inner-halb Deutschlands wäre eine stärkere Zuständigkeit desBundes beim Steuervollzug hin zu einer Bundessteuer-verwaltung. Das fordern Die Linke und die Grünen seitmehr als zehn Jahren.Meine Damen und Herren, der beste Weg zur Steuer-gerechtigkeit in Deutschland sind eine einheitlicheDurchsetzung der Steuergesetze bundesweit – insbeson-dere der Steuererhebung –, ein einheitlich funktionieren-des Datenverarbeitungssystem in den Finanzverwaltun-gen, eine ausreichende personelle Ausstattung in denFinanzämtern, einschließlich Betriebsprüfungen, sowieSteuerfahndungen.Wir brauchen eine bundesweit einheitlich handelnde,leistungsfähige Finanzverwaltung, erheblich erweiterteZuständigkeiten des Bundes sowie die von unserer Frak-tion vorgeschlagene Bundesfinanzpolizei. Denn nur sokönnen Steuerumgehung besser bekämpft und Steuer-hinterziehung und Steuerbetrug besser verfolgt werden.Die Linke wird diesem guten Antrag der Grünen zu-stimmen. Tun Sie es auch, meine Damen und Herren derRegierungskoalition!
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Andreas Schwarz, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Jedes Jahr gehenunserem Land Milliarden an Steuereinnahmen verloren,weil es Menschen, aber manchmal auch Unternehmengibt, die Steuern hinterziehen oder Steuerumgehungs-strategien nutzen und damit die Allgemeinheit schädi-gen. Alles, was dazu beiträgt, dass dem Staat die Finanz-mittel zufließen, die ihm auch zustehen und die erdringend braucht, findet selbstverständlich die volle Un-terstützung der SPD-Bundestagsfraktion.
Der vorliegende Antrag der Grünen ist somit ein inte-ressanter Vorschlag, über den wir natürlich gerne disku-tieren. In unserem Leitmotiv für die Verhandlungen überdie Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungensetzen wir uns als SPD-Fraktion für eine stärkere Koor-dinierung und Vereinheitlichung der Steuerverwaltungein, um, wie wir formuliert haben, „einen Standortwett-bewerb zu vermeiden und einen gerechten Steuervollzugzu erreichen“.
Lassen Sie uns konstruktiv darüber streiten, wie dieSteuerverwaltung effizienter gestaltet werden kann. DieSPD-Fraktion ist auf jeden Fall dabei. Aber das Ergebnissteht am Ende eines solchen Diskussionsprozesses festund nicht am Anfang. Deshalb bin ich der Überzeugung,dass es überhaupt keinen Sinn macht, den derzeitigenVerhandlungen über die Neuordnung der Finanzbezie-hungen zwischen Bund und Ländern vorzugreifen, in-dem wir jetzt etwas beschließen, obwohl überhaupt nochnicht feststehen kann, wie das Ergebnis der Verhandlun-gen zwischen Bund und Ländern am Ende tatsächlichaussieht.
Ich unterstreiche aber, dass wir es begrüßen würden,wenn in den Bund-Länder-Verhandlungen mehr Effi-
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Andreas Schwarz
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zienz in der Steuerverwaltung erreicht werden könnte.Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Grü-nen, machen wir uns doch nichts vor: Die Signale derLänder sind momentan nicht sehr ermutigend. Oder ha-ben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-nen, die Antwort auf die Zitate der Kollegin Horb, ausdenen hervorgeht, wie Ihr Ministerpräsident in Baden-Württemberg über eine einheitliche Bundessteuerver-waltung denkt? Sie könnten abschließend noch Ihre poli-tischen Freudinnen und Freunde aus dem schwarz-grünregierten Hessen ansprechen und fragen, wie sie denSachverhalt einschätzen und – in unserem Sinne – umUnterstützung bitten.
Ich bin mir aber nicht sicher, ob Ihnen Ihre eigenen Par-teifreundinnen und -freunde diesen Gefallen tun würden.Ich weiß aber, dass der Finanzminister Nobert Walter-Borjans in Nordrhein-Westfalen bereits fleißig neue Be-triebsprüferinnen und -prüfer einstellt. Das ist der rich-tige Weg.
Die Steuerverwaltungen müssen endlich personell indie Lage versetzt werden, ihren Aufgaben gerecht zu wer-den. Vielerorts ist das leider nicht so. Herr Eigenthalervon der Deutschen Steuer-Gewerkschaft hat vor zweiJahren gesagt – ich zitiere –:Wenn der Steuerzahler weiß, dass das Finanzamtnicht so gut besetzt ist, dann wird er lockerer. Undviele Fälle können gar nicht bearbeitet werden. Un-term Strich sind die Südländer Bayern und Baden-Württemberg hinsichtlich der Personalstärke amunteren Ende der Skala.Seit in Baden-Württemberg Nils Schmid Finanz-minister ist, wird hier konsequent gegengesteuert. Übermein Heimatland Bayern kann ich das leider noch nichtsagen. Auf eine Anfrage der bayerischen SPD-Landtags-fraktion Ende Februar 2014 teilte das bayerische Finanz-ministerium mit, dass es nach der Personalverteilungsbe-rechnung zum 31. Dezember 2013 16 600 Stellen in denFinanzämtern des Freistaats gab. Die Iststärke hingegenwurde mit 14 791,25 Vollzeitkräften angegeben. Wie solleine Verwaltung effizient arbeiten, wenn von 16 600 Stel-len fast 2 000 unbesetzt sind? Bei fast 2 000 unbesetztenStellen verschenkt der Freistaat Bayern viel Geld, dasnachher für die Erfüllung staatlicher Aufgaben fehlt.Bayern ist dringend aufgerufen, seine Finanzverwaltungeffizienter zu machen.
Herr Kollege, es gibt den Wunsch der Kollegin Paus
nach einer Zwischenfrage. Wollen Sie diese zulassen?
Lassen wir sie zu.
Bitte schön.
Herzlichen Dank. – Herr Schwarz, Sie haben richtig
beschrieben, wie die Gemengelage in den Bundeslän-
dern ist. Das bestreite ich auch gar nicht. Trotzdem habe
ich wahrgenommen, dass wir beide der Auffassung sind,
dass wir Grüne dennoch recht haben.
Von daher möchte ich sagen: Die Bundesländer haben
sich grundsätzlich zu der Frage „Bundessteuerverwal-
tung, ja oder nein?“ positioniert. Mit unserem Antrag
versuchen wir, uns genau dieser Frage zu stellen. Wir sa-
gen: Zwischen Schwarz und Weiß gibt es vielleicht noch
Schritte dorthin. Vielleicht macht es Sinn, noch einmal
zu verhandeln, ob man nicht doch noch weitere Schritte
gehen kann. Das ist unser Angebot heute.
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie bereit sind, mit Ihren
Leuten zu sprechen, so wie wir bereit sind, noch einmal
mit unseren Leuten zu sprechen, um die Schritte hin zu
einer Bundessteuerverwaltung und zu einem effiziente-
ren Steuervollzug in Deutschland zu gehen?
Liebe Frau Kollegin Paus, die Verhandlungen laufen;das habe ich gerade erwähnt. Alles ist im Fluss, wir sindim Gespräch. Natürlich werden auch wir mit unserenVertretern in den Ländern reden, genauso wie sicherlichauch Sie mit Ihren Vertretern in den Ländern reden wer-den. Aber machen wir uns nichts vor: Das wird einschwieriger, steiniger Weg. Wir haben den Föderalis-mus, und das ist auch gut so.
Hier geht es um die Verlagerung von Kompetenzen.Dieser Weg – da möchte ich an die Worte eines Sängerserinnern – wird kein leichter sein; er wird sicherlich auchsteinig sein. Man sollte aber auch hier eine Politik derkleinen Schritte angehen und versuchen, gemeinsameine Lösung zu erarbeiten.
Die Verhinderung von Steuerhinterziehung ist abernicht nur eine Frage der effizienten Ausrichtung derSteuerverwaltung. Steuerbetrug bzw. -vermeidung kannnur wirksam bekämpft werden, wenn alle staatlichenEbenen ihren Teil dazu beitragen. Da geht es im Momentin Europa Schlag auf Schlag.Bereits im Oktober wird sich in Berlin ein globalesSteuerforum treffen, auf dem viele weitere Staaten denweltweiten Standard für den automatischen Informa-tionsaustausch gegenzeichnen werden. Am Dienstagwurde verkündet, dass auf europäischer Ebene ab demJahr 2017 in fast allen europäischen Staaten der automa-tische Austausch von Bankdaten gelten wird. Dies sindgroßartige Erfolge, zu denen wir der Bundesregierung
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5594 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Andreas Schwarz
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und dem Bundesfinanzminister natürlich ganz herzlichgratulieren.
Wir werden noch im November im Deutschen Bun-destag eine deutliche Verschärfung der strafbefreiendenSelbstanzeige beschließen. Hier hat die Bundesregierungin Zusammenarbeit mit den Ländern einen hervorragen-den Gesetzentwurf vorgelegt. Es ist gerecht, Steuer-hinterziehung streng zu bestrafen, und so wird es fürSteuerhinterzieherinnen und -hinterzieher gerechter-weise immer teurer und schwieriger, einer Strafe zu ent-gehen.Wir sind sehr zufrieden, dass auf allen Ebenen deutli-che Fortschritte bei der Bekämpfung des Steuerbetrugserreicht werden konnten. Aber das reicht uns noch nicht.Deshalb werden wir diesen Weg konsequent weiterge-hen. Wir laden alle herzlich ein, uns auf diesem Weg zubegleiten.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Uwe Feiler, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Für eine Bundessteuerverwaltung – Gleiche
Grundsätze von Flensburg bis zum Bodensee“ – eine
plakative Überschrift für einen Antrag. Ich hoffe, dass
diese Grundsätze auch nördlich von Flensburg, zum Bei-
spiel auf der Insel Sylt, und im Landkreis Oberallgäu,
der südlich des Bodensees liegt, Anwendung finden sol-
len.
Plakative Überschriften und Anträge sind meist für
die Galerie gefertigt, ähnlich einem Torwart beim Fuß-
ball, der, obwohl der Ball direkt auf ihn zufliegt und er
ihn leicht fangen könnte, einen Schritt zur Seite geht und
zu einer Flugparade ansetzt, um damit zu glänzen. Das
Problem bei diesen Flugeinlagen ist, dass man sich den
Ball manchmal selbst ins Tor wirft.
Vielleicht lohnt es sich zu Beginn der Debatte, die wir
gemeinsam im Finanzausschuss sicherlich noch vertie-
fen werden, uns noch einmal vor Augen zu führen, dass
es durchaus gute Gründe gab, die Steuerverwaltung zwi-
schen Bund und Ländern aufzuteilen.
Auch dadurch sollte sichergestellt werden, dass der Zu-
griff auf die Steuereinnahmen in der gemeinsamen Ver-
antwortung von Bund und Ländern liegt, und verhindert
werden, dass eine staatliche Ebene zum Bittsteller degra-
diert wird.
Der Sozialdemokrat Walter Menzel, der eine Bundes-
steuerverwaltung befürwortete, verwies in den Beratungen
des Parlamentarischen Rats darauf, dass in der Weimarer
Republik der Bund des Öfteren von der Reichsfinanzver-
waltung dahin gehend Gebrauch machte, dass er misslie-
bigen Ländern den Geldhahn zudrehte. Auch wenn heut-
zutage diese Befürchtungen oder Wünsche, je nach
Sichtweise, überholt erscheinen, machen sie im Kern
aber noch einmal deutlich, dass die Länder eben nicht
nur bessere Regierungsbezirke des Bundes, sondern
Partner auf Augenhöhe sind.
Auch ich stehe einer Bundessteuerverwaltung positiv
gegenüber. Wir alle kennen aber auch das Ergebnis der
Föderalismuskommission II. Auf eine Bundessteuerver-
waltung konnte man sich damals leider nicht einigen. Ich
begrüße es ausdrücklich, dass der Bundesfinanzminister
hier erneut die Initiative ergriffen hat, dieses Thema
auch für die neuen Gespräche auf die Agenda zu setzen.
Bislang habe ich noch keinen Vorstoß des Landes Ba-
den-Württemberg vernommen – in dem Sie ja immerhin
den Ministerpräsidenten stellen –, das Grundgesetz und
das Finanzverwaltungsgesetz zu ändern, um die Landes-
finanzverwaltung in eine Bundessteuerverwaltung zu
überführen. Ganz im Gegenteil: Auch Baden-Württem-
berg und Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen immerhin
mitregieren, lehnen eine Bundessteuerverwaltung ent-
schieden ab und haben das auf der jüngsten Tagung der
Finanzminister noch einmal deutlich gemacht. Der ge-
rade erwähnte Ball, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Grünen, befindet sich somit in Ihrem Tor.
Die Vorbehalte gegen eine Zentralisierung werden Sie
auch nicht mit Geld und warmen Worten zerstreuen.
Beim Lesen des Antrages kann man den Eindruck ge-
winnen dass es nur darum ginge, den Ländern genügend
Geld für die Übernahme der Pensionslasten anzubieten;
dann würden diese auch zustimmen. So einfach ist es lei-
der nicht.
Wir müssen in der Diskussion aber auch die Themen
sauber trennen. Im Antrag sprechen Sie zum einen die
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, das
BEPS-Projekt der OECD-Staaten, Steuervermeidungs-
modelle von großen Kapitalgesellschaften und auch Fra-
gen der Effektivität der Steuerverwaltung an. Damit ver-
heben Sie sich.
Herr Feiler, mögen Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Schick zulassen?
Ja, natürlich.
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Bitte schön.
Herr Kollege, ich möchte nur die Frage stellen, wa-
rum Sie eigentlich den Bundesfinanzminister, der Ihrer
Partei angehört, im Regen stehen lassen, obwohl er den
Vorschlag gemacht hat, eine Bundessteuerverwaltung zu
errichten. Es wäre doch sinnvoll, dass der Bundestag ihn
an dieser Stelle unterstützt; schließlich sind wir uns in
der Sache an vielen Stellen einig. Warum unterstützen
Sie ihn nicht?
Sehr geehrter Herr Kollege, der Bundesfinanzminis-
ter, aber auch die Große Koalition sind in Verhandlungen
und debattieren darüber. Die Errichtung einer Bundes-
steuerverwaltung ist für mich persönlich nur gemeinsam
mit den Ländern durchzusetzen. Dies werden wir – das
haben wir jetzt erfahren müssen – nicht schaffen.
Deswegen ist der einzige und richtige Weg, das Bundes-
zentralamt für Steuern entsprechend zu stärken.
Ich fahre fort. Auch meine Fraktion beschäftigt sich
intensiv mit der Frage, wie die Aufgaben- und Finanz-
verantwortung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden
mit dem Auslaufen des Solidarpaktes II neu geordnet
werden kann. Das Gleiche gilt im Übrigen für die zuvor
genannten Projekte. Ich bezweifle aber sehr, dass Sie mit
dem Instrument der Bundessteuerverwaltung all diese
Aufgaben lösen, wie Sie es in Ihrem Antrag andeuten.
Jedes einzelne Projekt ist ein Kraftakt, sowohl in der
politischen Diskussion als auch in der Umsetzung.
Die deutsche Finanzverwaltung gehört trotz ihres fö-
deralen Aufbaus zu den effizientesten der Welt.
Ansonsten wäre Deutschland ja auch kaum angefragt
worden, südeuropäischen Ländern beim Aufbau einer gut
funktionierenden Steuerverwaltung zu helfen. Gleichwohl
weiß ich, dass nichts so gut ist, als dass es nicht noch
weitere Verbesserungspotenziale gibt. Um diese Poten-
ziale zu heben, wurden bereits Maßnahmen ergriffen, an
die ich an dieser Stelle noch einmal erinnern möchte. Als
Beispiel sei die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges
genannt: Das Bundeszentralamt für Steuern wurde ge-
stärkt und dort eine bundesweite Datenbank eingerichtet,
in der alle Fälle im Bereich des Umsatzsteuerbetrugs
bundesweit erfasst werden und auf die alle mit der Prü-
fung betrauten Beamten in den Ländern online zugreifen
können.
Zusätzlich wurde mit der „Zentralen Stelle zur Koor-
dinierung von Prüfungsmaßnahmen in länder- und staa-
tenübergreifenden Umsatzsteuer-Betrugsfällen“, die auf
den sinnlichen Namen KUSS hört, ein Informationsaus-
tausch zwischen den Finanzverwaltungen im In- und
Ausland eingerichtet.
Ferner unterstützt das Bundeszentralamt für Steuern
die Länder bei der Besteuerung von Umsätzen im elek-
tronischen Handel, indem im Internet nach Unternehmen
und Personen gesucht wird, die Waren oder Dienstleis-
tungen anbieten. So werden das Umsatzsteueraufkom-
men, aber auch die Wettbewerbsgerechtigkeit gesichert.
All das sind Ansätze, die auch als Vorbild für andere Be-
reiche dienen können, um die Kooperation von Bund
und Ländern zu verbessern.
Das Bundeszentralamt für Steuern könnte beispiels-
weise die Länder auch bei der Entwicklung und dem
Betrieb einer einheitlichen Software für die Finanz-
verwaltungen des Bundes und der Länder unterstützen.
Entwicklungskosten würden hierdurch sinken, die Fall-
bearbeitung würde vereinfacht, aber auch eine bundes-
einheitliche Auswertung würde ermöglicht. In diesem
Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, dass so
darüber hinaus sichergestellt werden könnte, dass der
Informationsaustausch sowohl zwischen den Länder-
behörden als auch zwischen Bund und Ländern entschei-
dend verbessert wird.
Weiter müssen wir uns darüber verständigen, welche
Anreize Ländern gegeben werden können, im eigenen
Interesse ihre Steuerverwaltung zu optimieren.
Ich bitte Sie daher, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, in den Ländern, in denen Sie Verant-
wortung tragen, für eine Kompetenzerweiterung des
Bundeszentralamts für Steuern zu werben. In Bayern ha-
ben wir ein Alleinstellungsmerkmal. Wir werden inner-
halb unserer Fraktion mit den Kolleginnen und Kollegen
der CSU intensiv über das Thema diskutieren.
Zum Schluss meiner Rede noch ein Satz: Bund und
Länder haben im Bereich von Haushalt und Finanzen
eine gemeinsame gesamtstaatliche Verantwortung, der
sie gerecht zu werden haben.
In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerk-
samkeit.
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
das Wort dem Abgeordneten Lothar Binding, SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Damen und Herren! Es ist schon verwun-derlich, dass wir uns mit einem Antrag so schwertun,dessen Inhalt irgendwie alle ein bisschen teilen. Lisa
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5596 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Lothar Binding
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Paus hat gesagt: Es liegt am System. – Das stimmt auchirgendwie. Aber wer ist eigentlich das System?
Das System sind irgendwie auch wir.
Das System sind Menschen. Das System ist vielleichtauch Ministerpräsident Kretschmann;
den fragen wir vorsichtshalber gar nicht. Das Systemsind auch die grün-rote Regierung in Baden-Württem-berg, die schwarz-grüne Regierung in Hessen, ein Fi-nanzminister Söder. Wenn wir uns die alle jetzt einmalvorstellen, dann merken wir schon, dass es in dieserkomplexen föderalen Lage mit so vielen unterschiedli-chen Interessen verständlich ist, wie alle reagieren.Wir fragen uns einfach, ob es klug ist, jetzt mit einemsolchen Antrag die Verhandlungsoptionen, die wir denanderen einräumen wollen und müssen, um zu einem gu-ten Ergebnis zu kommen, im Grunde zu beschränken.Wir wollen die Verhandlungsoptionen offenlassen.
– Ja, es gibt verschiedene Verhandlungsstile. Nachdemman 20 Jahre so irgendwie verhandelt hat, könnte mandarüber nachdenken, ob man den alten Stil beibehältoder einen neuen findet. – Wir wollen an dieser Stellenichts verschütten, um die Optionen offenzuhalten.Jetzt bitte ich Sie alle einmal, in die Rolle eines Lan-despolitikers zu schlüpfen – ein Soziodrama sozusagen –und sich eine Formulierung anzuhören, die im Antragenthalten ist: „Übertragung der Kompetenz der Steuer-verwaltung auf den Bund“. Welche Reflexe haben wirim Kopf? Das ist klar: Abwehrreflexe.
Das verschüttet Verhandlungsoptionen. Insofern ist derAntrag sogar kontraproduktiv, auch wenn wir im Grundegar nicht so weit auseinanderliegen. Wir wissen doch: InReinkultur werden wir unsere Ziele nicht erreichen.Deshalb müssen wir immer die Interessen der anderenmitdenken.Margaret Horb und Andreas Schwarz haben es schongesagt – Richard Pitterle hat es auch zitiert –: Wir sitzenin einem Boot. – Das stimmt. Die Abgabenordnung, an-dere Gesetze, das ist das große Boot. Da sitzen wir drin.Dieses Bild nehme ich auf: Wir haben aber 16 ver-schiedene Maschinenräume mit unterschiedlichen Dreh-zahlmomenten in den Motoren. Die werden anders ge-schmiert,
die werden anders gesteuert. Sie wissen, es ist ein großesProblem, die zu koordinieren. Gehen Sie mal runter inden Maschinenraum, und sagen Sie den Leuten, dass siealle das Gleiche machen sollen! Das wird richtig schwie-rig!
Insofern wäre der Antrag gut – er ist auch gut gemeint –,aber er ist für eine Welt, die wir nicht haben, und dasmacht es natürlich schwierig. Ich fände es wichtig, zuvoreinmal festzustellen, dass wir in ganz vielen Einrichtun-gen, auf ganz vielen Ebenen exzellente Kompetenzhaben.
Wir haben gute Fachleute im BMF, in den Länderfinanz-ministerien sowie im Bundeszentralamt für Steuern. Eswäre wichtig, das zu bündeln. Denn das – so muss mansagen – gelingt im Moment nicht hinreichend. Deshalbist der Vollzug unterschiedlich, und deshalb wird auchdie Steuererhebung nicht von allen als gerecht empfun-den. Die Wirkung der vorhandenen Kompetenz geht einStück weit durch innere Reibungskräfte verloren.Wir wissen – das ist kein Geheimnis –, dass dieBetriebsprüfungen unterschiedlich gehandhabt werden.Wenn man sich die personelle Ausstattung anschaut– ich will das nicht ausführen; Andreas Schwarz hat dashinreichend gemacht –, erkennt man, dass die Gleichheitder Besteuerung wohl nicht in allen Fällen sichergestelltwerden kann. Dabei geht es – einige Kollegen sindschon darauf eingegangen – ganz offensichtlich bei-spielsweise um die EDV. Der Wildwuchs in der EDV istein dickes Problem.Man könnte übrigens denken, dass das im privatenBereich besser läuft. Wer sich einmal in einem Großbe-trieb umguckt, wird bemerken, dass sich jede Abteilungam allerliebsten auf ihre eigene EDV beruft und umGottes willen nicht das machen will, was alle anderenmachen. Das ist eine durchaus sehr weit verbreiteteKrankheit. Dadurch wird aber eine Rationalisierung ver-hindert.Wir wissen, dass die EDV die Zukunft in der Steuer-erhebung ist. Speziell bei der Einkommensteuer werdenim Augenblick ein einheitlicher Vollzug bzw. automati-sierte Verfahren behindert. Das hängt sehr stark mit 16nicht gleichen Systemen zusammen.Deshalb ist das Anliegen des Antrags auch richtig,eine stärkere Rolle des Bundes zu erreichen, um einebessere Abstimmung hinzubekommen. Dem würden dieLänder noch nicht widersprechen; aber die Abgabe vonKompetenz ist ihnen unangenehm.In diesem Zusammenhang wird dann auch immer ge-sagt: Dann müsst ihr auch die Kosten übernehmen. – Dieallerdings sind im Antrag noch nicht so ganz sauber he-rausgearbeitet worden. Über die Pensionslasten und alldas, was an personellen bzw. finanziellen Aufgaben zuübernehmen wäre, wenn das Ganze sofort beim Bundgebündelt werden würde, wurde noch nicht hinreichendnachgedacht. Man muss sich das einmal abgezinst zumZeitpunkt null der Einrichtung dieser Verwaltung vor-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5597
Lothar Binding
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stellen. Ich schaue auf die Regierungsbank, um heraus-zufinden, wie hoch dieser Betrag ist. – Ich sehe, derKollege Kampeter denkt an einen zweistelligen Milliar-denbetrag. Das wäre natürlich relativ viel. Darübermüssten wir dann getrennt reden.Insofern glauben wir, dass es klug ist, über eine Bün-delung der Kompetenzen und auch über eine Zuordnungvon Kompetenzen im Bund nachzudenken und klug mitden Ländern zu verhandeln. Deshalb sollten wir im Mo-ment auf diesen Antrag verzichten und einmal schauen,wie die Länder auf unsere Toleranz bzw. unser Angeboteingehen.Schönen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2877 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Wirtschaftsplans
des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2015
Drucksache 18/2662
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/2903
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erster Rednerin in dieser Aussprache erteile ich
das Wort der Abgeordneten Gabriele Katzmarek, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bera-ten heute in zweiter und dritter Lesung kein inhaltlichneues Gesetz. Das ERP gibt es seit 60 Jahren. Es hat sichals Programm zur Entwicklung und Unterstützung derdeutschen Wirtschaft bewährt. Selbstverständlich hatsich in den letzten Jahren beim ERP einiges verändert,an Bedeutung aber hat es nicht verloren.Die Veränderungen der Ausrichtung liegen auf derHand. Wurden früher kleine Autowerkstätten von ne-benan gefördert, geht es heute um Unterstützung zumBeispiel bei der Gründung eines Biotechunternehmens.Waren es früher einzelne Industriezweige, die man stär-ken wollte, geht es heute um den technologischenMegatrend Industrie 4.0, auf den wir uns konzentrierenwollen. Dies ist ein Thema, dessen sich das Bundes-ministerium für Wirtschaft und Energie angenommenhat und das auch wir als SPD-Fraktion aufgegriffen ha-ben und über das wir diskutieren. Rechtzeitig Weichenstellen, begleiten und unterstützen: Das ist wichtig undrichtig. Das ist Wirtschaftspolitik.
Die aktuellen Korrekturen an den Konjunkturprogno-sen zeigen: Wir müssen weiterhin alle Möglichkeitennutzen, um unsere Wirtschaft zu unterstützen. Im Zen-trum stehen dabei kleine und mittelständische Unterneh-men. Diesen Unternehmen in ihrer Wachstumsphase undin ihrer Expansionsphase Geld in Form von Krediten zurVerfügung zu stellen, ist eine zentrale Herausforderung.Mit den Sicherheiten, die wir über das ERP bereitstellen,leisten wir einen Beitrag zur Finanzierungsgrundlage.Einen weiteren Schwerpunkt legt das Programm aufden Bereich des Gründens. Start-ups bei ihren erstenSchritten über günstige Kredite unter die Arme zu grei-fen, ist ein wichtiger Beitrag, manchmal sogar überle-bensnotwendig. Zahlreiche Start-ups aus der IT-Branche,insbesondere im Bereich der IT-Dienstleistungen, oderaus der Biotechnologiebranche brauchen verlässlichefinanzielle Rahmenbedingungen.
Forschende und innovative junge Unternehmen sor-gen mit dafür, dass die Wertschöpfung einen lokalenNiederschlag erfährt, dass mehr Innovationen ihren Wegzum Markt finden. Als Innovationsschmiede sind kleineund mittlere Unternehmen wesentlicher Bestandteil derWertschöpfungskette. Eine nachhaltige Unterstützungdieser Betriebe trägt dazu bei, dass Deutschland wettbe-werbsfähig bleibt und international konkurrenzfähig ist.Sehr geehrte Damen und Herren, wir begrüßen des-halb den Gesetzentwurf zur Feststellung des Wirt-schaftsplans des ERP-Sondervermögens für 2015. Ersetzt richtige Akzente und wird dazu beitragen, dassDeutschland auch in den kommenden Jahren gut aufge-stellt ist. Das hilft der deutschen Wirtschaft, das trägt zurSicherung und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei.Was, meine Damen und Herren, aber nicht hilft, ist Pes-simismus, vor allem, wenn er politisch instrumentalisiertund für ideologische Auseinandersetzungen genutztwird.
Mit Verwunderung haben viele meiner Kolleginnenund Kollegen und ich Aussagen zur Kenntnis genom-men, dass der Mindestlohn, die Frauenquote und dieRente mit 63 unsere heimische Wirtschaft gefährdenoder gar direkt für die um 0,6 Prozent reduzierte Wirt-schaftsprognose verantwortlich seien. Einmal abgesehenvon dem logischen Bruch, dass der Mindestlohn erst ineinigen Monaten wirkt, steht fest: Soziale Gerechtigkeit
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5598 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Gabriele Katzmarek
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und wirtschaftlicher Erfolg sind kein Widerspruch. ImGegenteil: Soziale Gerechtigkeit und sozialer Friedensind Standortvorteile in der Bundesrepublik Deutsch-land.
Mein persönliches Highlight – daran möchte ich Sieteilhaben lassen – bei den in den letzten Tagen gemach-ten Aussagen ist die Annahme, dass die Frauenquote ir-gendwie monetär, verwaltungstechnisch oder strukturelleinen negativen Effekt auf die Entwicklung der deut-schen Wirtschaft hat. Mit einer ernsthaften Diskussionhat das natürlich gar nichts zu tun.
– Ja. – Wer solche Aussagen trifft, der lebt, sage ich mal,in einer Welt, die wir schon lange überwunden haben.Dieses Weltbild passt nicht in das heutige Jahrhundert.Frauen sind kein Wirtschaftshemmnis, meine Damenund Herren. Frauen sind ein Erfolgsfaktor in modernenUnternehmen.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Veränderungender außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und diedadurch eingetrübten Konjunkturaussichten taugen nichtfür ideologische Auseinandersetzungen und auch nichtdafür, unsere werteorientierte Außenpolitik infrage zustellen. Ich kann nur davor warnen, negative Stimmungzu verbreiten und hier in diesem Parlament beschlosseneGesetze, noch bevor sie in Kraft treten, wieder infrage zustellen; denn das ist schädlich für die Wirtschaft. Dassollten wir nicht machen.Unser Ziel ist es, die Wirtschaft gezielt zu unterstüt-zen, und zwar genau dort, wo es notwendig ist. Den An-satz kann man gut im ERP-Wirtschaftsplangesetz able-sen. Es ist ein optimistischer, ein nach vorne gerichteterAnsatz. Durch eine intensive und nachhaltige Stärkungkleinerer und mittelständischer Unternehmen wird es ge-lingen, Deutschland und Europa wettbewerbsfähig zuhalten.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster für die Fraktion Die Linke
ist der Kollege Thomas Nord.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ichFrau Katzmarek für die Begründung des Gesetzentwur-fes und für viele ihrer Argumente danken. Ich will diesejetzt nicht wiederholen. Was das Gesetz betrifft, sind wiruns ja hier im Saal in der Sache durchaus einig. DieLinke wird diesem Gesetzentwurf zustimmen.Was bleibt, wenn man den Gesetzestext hier nichtweiter kommentieren will, zum Thema zu sagen, wasnoch nicht gesagt worden ist? Aus unserer Sicht ist zukritisieren, dass die Verteilung der Gelder aus dem ERP-Sondervermögen nicht besonders transparent erfolgt.Wir denken schon, dass daran in den kommenden Jahrennoch gearbeitet werden muss. Ansonsten kann man andieser Stelle vielleicht etwas zur Geschichte des Sonder-vermögens und zu dem, was wir aus ihr lernen können,sagen.Das Sondervermögen entstand nach 1948 im Zusam-menhang mit dem Marshallplan und wird heute durchdas Wirtschaftsministerium verwaltet. Im Dezember1949 wurde ein Abkommen über die wirtschaftliche Zu-sammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und den USA geschlossen. Dieses behandelte dieVerwaltung einer Summe von circa 6 Milliarden D-Mark, die kleinen und mittelständischen Unternehmenzum Aufbau der Wirtschaft, der Verkehrs- und Ener-gieinfrastruktur als revolvierende Kredite zur Verfügunggestellt wurden, eine nach dem verlorenen ZweitenWeltkrieg überlebenswichtige Hilfe für das zerstörteWestdeutschland. Die Tilgungsleistungen und Zinsensind in das Sondervermögen eingeflossen. In den erstenJahren wurde auf eine Tilgung zumeist verzichtet. Siekonnte aber freiwillig erfolgen. Nach dem Schuldener-lass vonseiten der USA 1953 musste Westdeutschlandnur einen geringen Teil des bewilligten Kredits zurück-zahlen. Ich will noch einmal die wichtigsten Fakten wie-derholen: Zinsen sind in das Sondervermögen eingeflos-sen, auf eine Tilgung wurde verzichtet. Auch der BegriffSchuldenerlass ist in diesem Zusammenhang, glaube ich,nicht ganz uninteressant.Bereits 1966 waren die Kredite zurückgezahlt. 1953wurde festgelegt, dass die Mittel ausschließlich demWiederaufbau und der Förderung der deutschen Wirt-schaft dienen sollten. Nach Beendigung der eigentlichenPhase des Wiederaufbaus wurden ERP-Kredite zur Un-terstützung der Exportwirtschaft und insbesondere zurFörderung kleinerer und mittlerer Unternehmen verwen-det. Seit den 1990er-Jahren werden die Mittel schwer-punktmäßig zur Förderung des ostdeutschen Mittel-stands verwendet, auch das eine durchaus positiveEntwicklung. Heute werden zum Beispiel Förderpro-gramme zur Verbesserung der Energieeffizienz in klei-nen und mittleren Betrieben sowie im privaten Haus-und Wohnungsbau aufgelegt. Die Linke befürwortetdiese spezielle Förderung des Mittelstandes, und sie be-fürwortet, dass ein erheblicher Teil des Vermögens derBewältigung der Energiewende dient. Dies entsprichtdem Gedanken der Nachhaltigkeit.Was also kann man aus dieser Geschichte lernen? An-gesichts der europäischen Austeritätsdebatte ist dasERP-Sondervermögen ein sehr gutes Beispiel dafür,welche alternativen Möglichkeiten bestehen, um mit derderzeitigen Lage in der Europäischen Union und insbe-sondere der Euro-Zone umzugehen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5599
Thomas Nord
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Statt den Mitgliedstaaten die Sparkrause anzulegen undbei sprudelnden Steuerquellen eine Nullrunde für den ei-genen Haushalt aufzulegen, stehen hier Wiederaufbau,wirtschaftlich sinnvolle Kredite und Schuldenerlass imMittelpunkt einer klugen Politik. Diese ist inzwischenein fast 70-jähriges Erfolgsmodell. Es wird aber offen-sichtlich heute nicht mehr verstanden; denn sonst gäbees ja andere Antworten auf die Staatskrisen unserer Zeitals die gegenwärtig von der Bundesregierung praktizier-ten.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Andreas
Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bera-ten den Gesetzentwurf über die Feststellung des Wirt-schaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr2015. Mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz werden indiesem Jahr Mittel aus dem ERP-Sondervermögen inHöhe von 807,9 Millionen Euro bereitgestellt. DieseMittel ermöglichen Ausleihungen an die verschiedenenKreditprogramme in Höhe von rund 6,3 Milliarden Euro.Die Gelder des ERP-Sondervermögens – ERP stehtfür European Recovery Program – haben, wie wir vorhinvon Herrn Nord gehört haben, ihren Ursprung im Mar-shallplan des damaligen US-Außenministers GeorgeMarshall. Man kann zu Recht sagen, dass es ein Glücks-fall war, dass Deutschland neben anderen europäischenLändern Hilfe über den Marshallplan zuteilwurde.Deutschland war es im Gegensatz zu anderen europäi-schen Ländern nicht erlaubt, die Gelder einfach konsum-tiv auszugeben; es war Auflage, den Kapitalstock zu er-halten. Wenn sich Gregor Gysi, wie heute Morgen,Gedanken über einen Marshallplan für europäische Kri-senländer macht,
muss er wissen, dass sich Deutschland durch den Mar-shallplan eben nicht zusätzlich verschuldet hat. Mit demlangfristig angelegten Einsatz der Gelder für Zinsverbil-ligungsdarlehen konnte ein Hebel gefunden werden, umdie ursprünglichen Hilfsgelder um ein Vielfaches zu er-höhen. Investitionen vor allem in Handwerk und Mittel-stand wurden so erfolgreich angereizt.Auch heute noch helfen die ERP-Förderungen zahl-reichen Existenzgründern und innovativen mittelständi-schen Unternehmen. Das Programm trägt zur Sicherungund Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze bei. Die ERP-Programme umfassen im Wesentlichen die regionaleWirtschaftsförderung, die Finanzierung von Existenz-gründungen, die Förderung von Innovationen und dasGebiet der Exportfinanzierungen.Das Regionalförderprogramm umfasst ein Kreditvo-lumen von 350 Millionen Euro, und es ist nach wie vorwichtig. Das Volumen der Gründerkredite beträgt rund3,7 Milliarden Euro. Hiermit werden Existenzgründun-gen, Unternehmensübernahmen und Wachstumsfinan-zierungen mittelständischer Unternehmen gefördert.Hierunter fällt auch der High-Tech-Gründerfonds, dereine Finanzierung technologieorientierter Neugründun-gen mit hohem Kapitalbedarf auf Basis von Beteili-gungskapital ermöglicht. Die Innovationsfinanzierungunterstützt die marktnahe Forschung und die Entwick-lung innovativer Produkte. Das ERP-Exportfinanzie-rungsprogramm ermöglicht eine Festzinsfinanzierungdeutscher Exportaufträge und umfasst rund 1 MilliardeEuro.Angesichts der aktuellen Niedrigzinsphase wird dieFrage laut, ob man Zinsverbilligungsmaßnahmen über-haupt noch braucht. Diese Frage ist sicherlich berechtigt.Jedoch werden bei Existenzgründungen von den Bankenimmer noch hohe Risikoaufschläge erhoben. Gerade inBereichen, in denen Banken bei der Kreditvergabe zu-rückhaltend sind oder ein geeignetes Angebot fehlt, kön-nen in vielen Fällen erst die Förderprogramme eine Fi-nanzierung ermöglichen.Die Bundesregierung hat die Wachstumsprognose indieser Woche, wie schon gehört – wir alle wissen es –,nach unten korrigiert. Die Herbstprognose geht von ei-nem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von1,2 Prozent aus, bisher waren 1,8 Prozent erwartet wor-den. 2015 wird der Zuwachs voraussichtlich 1,3 Prozentbetragen. Dies ist sicherlich auch und vor allem denzahlreichen Krisen auf der Welt geschuldet, die nun aufdie wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland durch-schlagen. Stabilisierend wirkt die gute Beschäftigungssi-tuation. Allein 2014 steigt die Zahl der Beschäftigtennoch einmal um 325 000 Personen an. Dadurch ist auchdie Inlandsnachfrage intakt und steigt dieses Jahr um1,4 Prozent.Wir müssen nun jedoch alles tun, um die Wettbe-werbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft dauerhaft zusichern. Das heißt, wir brauchen weiterhin einen flexi-blen und damit aufnahmefähigen Arbeitsmarkt und ei-nen stabilen wirtschaftspolitischen Rahmen, um lang-fristige Investitionen zu ermöglichen. Gerade bei derEnergiepolitik haben wir hier erste wichtige Weichen ge-stellt.
Wir brauchen natürlich mehr Investitionen. Die ERP-Programme helfen vor allem dem Mittelstand dabei,diese zu tätigen. Lediglich 8 Prozent der Investitionentätigen der Staat oder öffentliche Institutionen. Wir müs-sen es also schaffen, privates Kapital für Investitionen zumobilisieren; die Kanzlerin sprach diesen Punkt heuteVormittag bereits an. Dafür brauchen wir ein Klima fürInvestitionen und Innovationen, das es Gründern ermög-licht, ihre Ideen in Form von Produkten auch durch pri-vates Kapital zu verwirklichen.
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5600 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Andreas Lenz
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Wir geben in Deutschland mittlerweile viel Geld fürForschung und Entwicklung aus. Wir haben die Ziel-marke von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bereitsüberschritten. Damit nehmen wir weltweit eine Spitzen-position ein. Ja, wir sind ein Land der Ideen. Wir müssenjedoch verstärkt dafür sorgen, die Ideen auf die Straße zubringen. Es muss gelingen, dass aus Ideen Firmen undProdukte werden, die international konkurrenzfähigsind. Dazu bedarf es – da jede Schöpfung auch ein Wag-nis ist – Wagniskapitals.
Die KfW, die hauptsächlich für die ERP-Programmeverantwortlich ist, ist eine Bank und deshalb dem Ban-kenrecht, also dem KWG, unterworfen. Banken stellendie Risikobetrachtung in den Vordergrund. Gerade beiStart-ups brauchen wir jedoch eine Chancenbetrachtung.Wenn ich mit jungen Gründern spreche, dann sagenmir diese, dass wir in Deutschland gute Startprogrammehaben. Vor allem hervorzuheben ist der High-Tech-Gründerfonds mit einem Volumen von circa 300 Millio-nen Euro, der mit privatem Kapital kofinanziert wird.Hier werden jährlich circa 40 Unternehmen mit bis zu1 Million Euro gefördert. Rund 250 Unternehmen ausdem Hightechbereich wurden so innerhalb der letztensechs Jahre finanziert und ihre Produkte erfolgreich aufden Weg gebracht.Mit dem Förderprogramm EXIST, das Teil der High-tech-Strategie ist, werden innovative Unternehmensgrün-dungen unterstützt. Der Schwerpunkt liegt dabei darauf,die Zahl der Ausgründungen aus wissenschaftlichen Ein-richtungen zu erhöhen.Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen.Ein Studienfreund von mir gründete vor sechs Jahrenmithilfe des EXIST-Programms eine Firma. Im An-schluss wurde das Unternehmen vom High-Tech-Grün-derfonds erfolgreich weiterfinanziert. Im Rahmen desGerman Silicon Valley Accelerators, einem Programmdes Wirtschaftsministeriums, wurde das Start-up nachSilicon Valley eingeladen, um so den Eintritt in den US-amerikanischen Markt zu unterstützen. Mein Studien-freund lernte dort Venture-Capital-Geber kennen, die erin Deutschland vergebens suchte. Das ist grundsätzlichgut. Die Firma hat mittlerweile über 30 Mitarbeiter undsteht kurz vor dem Erreichen dauerhafter Gewinne. Abernoch besser wäre es doch, wenn dieses Kapital von pri-vaten Investoren aus Deutschland zur Verfügung gestelltworden wäre.
Wir brauchen auch in Deutschland die Möglichkeitender Wachstumsfinanzierung nach der Gründungsphase.Strukturell geht es darum, dass beispielsweise institutio-nelle Anleger mehr Spielraum für Anlageformen derWagnisfinanzierung erhalten. Die Tatsache, dass Eigen-kapital höher besteuert wird als Fremdkapital, ist dabeihäufig nicht förderlich. Darüber hinaus brauchen wir fürschnell wachsende Unternehmen langfristig die Mög-lichkeit der Kapitalmarktorientierung. Diese muss natür-lich seriös und transparent ausgestaltet sein. Nur so kannlangfristig genügend Eigenkapital zur Verfügung gestelltwerden.Existenzgründer von heute sind der Mittelstand vonmorgen. Die Innovationen von heute sind der Wohlstandvon morgen. Wir brauchen das ERP-Sondervermögenauch weiterhin für die Regionalförderung und für dieMittelstandsfinanzierung. Doch genauso wie in den50er-Jahren müssen wir uns die Frage stellen, wie wiraus den Mitteln des ERP-Sondervermögens den größt-möglichen Nutzen für unsere Volkswirtschaft, für Grün-dungen, Innovationen und Investitionen erzielen. Hierwurde bereits vieles erreicht, aber gemeinsam könnenwir noch mehr erreichen.Herzlichen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich stelle in der heuti-gen Debatte viel Einigkeit fest, von links bis zur CSU.Auch die Grünen – das wird Sie nicht verwundern – lo-ben das ERP-Programm. Allerdings stellen wir auch einStück weit infrage, inwiefern es zeitgemäß ist, ein sol-ches Programm zu haben.Aber wir haben es. Es ist gut für den Mittelstand. Esist auch gut, darauf hinzuweisen, dass wir zu Dank ver-pflichtet sind, nämlich seit 1948 den Vereinigten Staaten.Das Programm zahlt sich noch heute aus. Rund 800 Mil-lionen Euro beträgt der Umfang im nächsten Jahr. Dasist nicht schlecht.
Worauf sollten wir achten? Wir sollten natürlich aufdie Zielgenauigkeit des Programmes achten. In den letz-ten beiden Jahren sind jeweils nur zwei Drittel abgerufenworden. Da kann man sicherlich noch etwas machen.Ich möchte die Debatte nutzen, um auf ein paar Rah-menbedingungen hinzuweisen. Die Europäische Zentral-bank hat ihren Leitzins auf ein historisch niedriges Ni-veau gesenkt. Das heißt, wir bleiben mittelfristig aufniedrigem Niveau. Deswegen sind Fremdfinanzierun-gen, auch bei den jeweiligen Hausbanken, aktuell zuniedrigen Zinsen zu haben. Da ein Hauptinstrument derERP-Förderung Zinsvergünstigungen sind, kann es sein,dass die Attraktivität der ERP-Programme sinkt und wirüber Korrekturen nachdenken müssen. Das gilt für dieZukunft. Aktuell können wir mit den verschiedenenERP-Programmen sehr zufrieden sein. Diese Koalitionund auch frühere Koalitionen können sich den Erfolg derERP-Programme aber nicht ans Revers heften; denn esgeht hier um Gelder, die aufgrund historischer Entschei-dungen zur Verfügung stehen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5601
Dieter Janecek
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Wenn man sich aber die bisherige Wirtschaftspolitikder Großen Koalition ansieht, dann sieht man neben denbestehenden Programmen wie dem ERP, gerade was denMittelstand angeht, ein großes Nichts. Zugegeben, Siehaben sich an der Reform des EEG versucht; aber mehrals eine Fortführung der Politik für große, stromfres-sende Konzerne ist Ihnen dabei nicht gelungen. Diesbe-züglich stehen Sie ganz in der Tradition von Schwarz-Gelb. Herr Gabriel redet auch viel über die Förderungdes Mittelstands, über den Bürokratieabbau und die För-derung von Wagniskapital. Aber auch diesbezüglichwarte ich darauf, dass Taten den schönen Worten folgen.
Die steuerliche Freistellung des INVEST-Zuschusses,den die Bundesregierung mit dem sogenannten Zollko-dex-Gesetz plant, ist angesichts der veranschlagten Steu-erausfälle in Höhe von 10 Millionen Euro nur ein sehrkleiner Beitrag, der in seiner Wirkung zudem höchstfraglich ist.
– Da haben Sie recht. Es muss langsam losgehen. Im-merhin passiert etwas.Jetzt kommen wir einmal zu den eingetrübten Kon-junkturaussichten. Die Notwendigkeit einer klugen undvor allem wirksamen Wirtschaftspolitik haben hier meh-rere verdeutlicht. Dabei müssen wir das Rad aber nichtunbedingt neu erfinden, sondern wir sollten die Vor-schläge, die im Raum stehen, endlich einmal umsetzen:Ich denke an den Koalitionsvertrag, in dem die steuer-liche Forschungsförderung angedacht wurde. Jetzt ist esan der Zeit, dieses Vorhaben endlich in die Tat umzuset-zen.
Eine Begrenzung der steuerlichen Förderung auf kleineund mittlere Unternehmen würde die Kosten begrenzenund die Zielgenauigkeit der Innovationsförderung erhö-hen.Ich denke an eine Erhöhung der Abschreibungsgrenzefür geringwertige Wirtschaftsgüter.
– Applaus auch aus der Union. Das freut mich.Investitionsfördernd wäre auch die Einführung einerstärkeren Förderung der Gebäudesanierung.
– Auch dafür bekommen wir Applaus. Das ist schön.Dann können wir ja alle gemeinsam handeln.Außerdem – auch dafür bekomme ich möglicher-weise Applaus – würde eine konsistente und wirksameFörderung des Breitbandausbaus den Menschen und Un-ternehmen in der Bundesrepublik helfen.
Auch das würde Innovationskräfte freisetzen.Dies war eine sehr harmonische Rede, bis auf Weite-res wahrscheinlich die letzte dieser Art. Freuen wir unsdoch, dass diese Mittel da sind und wir sie einsetzenkönnen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver-mögens für das Jahr 2015. Der Ausschuss für Wirtschaftund Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/2903, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung auf Drucksache 18/2662 anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen allerFraktionen angenommen.
– Ja, das ist einen Applaus wert.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineZimmermann , Sigrid Hupach, KlausErnst, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEKurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zu-gang zur Arbeitslosenversicherung ermögli-chenDrucksache 18/2786Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und Medien
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5602 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Debatte. Erster Redner für die Frak-tion Die Linke ist Matthias W. Birkwald.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! In Deutschland arbeiten 43 Prozent aller abhän-
gig Beschäftigten in Minijobs, in Teilzeit oder als Leih-
arbeiter. Fast die Hälfte aller neuen Arbeitsverträge ist
befristet. Diese Menschen brauchen gute Arbeit, unbe-
fristet, gut bezahlt und zu guten Arbeitsbedingungen.
Darum will die Linke das Problem an der Wurzel packen
und prekäre Jobs wie Leiharbeit und Befristungen ein-
dämmen.
Heute geht es aber um Folgendes: Hundertausenden in
prekärer Beschäftigung fehlt der Zugang zum Arbeitslosen-
geld I. Die Beschäftigungsverhältnisse von 700 000 Leih-
arbeiterinnen, Lagerarbeitern, Kellnern, Filmtechnikern,
Schauspielerinnen, IT-Fachleuten und vielen anderen
dauern weniger als zehn Wochen. Das sind nur gut zwei
Monate.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte stellen Sie sich
das einmal vor: Zehn Wochen arbeiten, und dann stehen
Sie wieder ohne Perspektive auf der Straße. Überlegen
Sie einmal: Wenn Sie so leben müssten, was hieße das
für Ihre Familienplanung? Wenn Sie so leben müssten,
was hieße das für Ihre Urlaubsplanung? Wenn Sie so le-
ben müssten, was hieße das für Ihren Wunsch, einen
Kredit für den Kauf einer Wohnung oder eines Hauses
aufzunehmen? Das dürfte auch die Kollegen aus der
Union interessieren. Ja, richtig, die Antwort lautet drei-
mal: sehr schwierig bis unmöglich. Ich sage: Das ist ein
völlig unhaltbarer Zustand.
Das muss ganz dringend geändert werden. 700 000 kurz-
zeitig beschäftigte Menschen leben in dieser ständigen
Unsicherheit, und sie werden dann auch noch doppelt
und dreifach diskriminiert. Die meisten Kurzzeitbe-
schäftigten erhalten nämlich gar kein Arbeitslosengeld I.
Dabei haben sie sehr wohl Beiträge zur Arbeitslosenver-
sicherung bezahlt. Nein, viele fallen, wenn sie arbeitslos
werden, direkt in Hartz IV. Das ist ungerecht, und das
darf nicht so bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
SPD, Sie haben in Ihrem schwarz-roten Koalitionsver-
trag versprochen, dieses Problem dauerhaft zu lösen, und
zwar besonders für Kulturschaffende und Kreative. Dazu
wollen Sie die bis Dezember 2014 befristete Sonderrege-
lung für Kurzzeitjobs neu gestalten. Nach dieser Sonder-
regelung muss man innerhalb von zwei Jahren sechs
Monate gearbeitet haben, um einen Anspruch auf Ar-
beitslosengeld I zu bekommen. Diese Regelung hat aber
nur ganz wenigen geholfen. Im vergangenen Jahr haben
gerade einmal 222 Betroffene von dieser fast wirkungs-
losen Sonderregelung profitiert. Das ist nur ein Tropfen
auf den heißen Stein. Das reicht vorne und hinten nicht.
Die Bundesregierung hat nun gestern beschlossen,
diese befristete Sonderregelung einfach zu verlängern,
damit die Kurzzeitbeschäftigten ab 1. Januar nicht völlig
im Regen stehen.
Heute wird unser Antrag debattiert, Herr Schipanski. Da
wollten Sie, meine Damen und Herren von der Koali-
tion, natürlich nicht mit völlig leeren Händen dastehen.
Das kann ich gut verstehen. Man sieht also: Links wirkt.
Glaubwürdig sind Sie nicht, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und SPD; denn Sie haben in Ihrem
Koalitionsvertrag versprochen, die Rahmenfrist, in der
man Anwartschaften für das Arbeitslosengeld erwerben
kann, von zwei auf drei Jahre auszuweiten. Machen Sie
es einfach! Setzen Sie Ihr Versprechen um, und setzen
Sie unseren weitergehenden Antrag um. Die Kurzzeitbe-
schäftigten dürfen jedenfalls nicht länger durch den Rost
fallen.
Wir fordern: Verlängern Sie die Rahmenfrist von zwei
auf drei Jahre. Streichen Sie die Verdienstgrenze, an der
viele scheitern. Sorgen Sie dafür, dass alle Beschäftigten
nach einem halben Jahr Arbeit Anspruch auf drei Mo-
nate Arbeitslosengeld I haben, nach acht Monaten Arbeit
Anspruch auf vier Monate Arbeitslosengeld I, und nach
zehn Monaten Arbeit sollten die Menschen Anspruch
auf fünf Monate Arbeitslosengeld I erhalten. Das würde
vielen Künstlerinnen, Kellnern, Hilfsarbeitern und Se-
kretärinnen helfen, und es käme sehr vielen Migrantin-
nen und Migranten zugute.
Herr Kollege Birkwald.
Liebe Koalitionärinnen und Koalitionäre, handeln Sie
endlich, und zwar vor Weihnachten.
Herzlichen Dank.
Danke schön. – Nächster Redner ist der KollegeAlbert Weiler, CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5603
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist
immer wieder spannend, Herrn Birkwald zuzuhören,
wenn er Weihnachtsgeschenke verspricht. Nur, wo die
Kohle dafür herkommen soll, ist fraglich. Aber egal, das
ist Mode bei den Linken und wird so weitergehen; damit
habe ich mich schon abgefunden in der kurzen Zeit, in
der ich jetzt hier in Berlin bin.
Wenn ich mich mit Anträgen der Fraktion Die Linke
beschäftigen muss, stelle ich immer wieder fest, dass
diese Anträge leider wenig mit der realen Welt da drau-
ßen zu tun haben. Aber das überrascht nicht bei einer
Partei, die in ihrer sozialistischen – meines Erachtens:
kommunistischen – Scheinwelt lebt
und in Thüringen im Landtag – man höre und staune! –
als Landtagsabgeordnete sogar noch zwei Stasi-Spitzel
beheimatet.
Man muss sich einmal vorstellen, wie sich Zwangsinter-
nierte fühlen müssen, die lediglich in den Westen fliehen
wollten und durch solche skrupellosen Leute verraten
und dann eingesperrt und traktiert wurden. – Und diese
Stasi-Spione wollen jetzt in Thüringen auch noch an die
Macht kommen.
– Pfui, ja.
– Man darf das nicht unter den Teppich kehren. Ich
werde – wie jetzt – persönlich immer wieder daran erin-
nern; das sind wir den Opfern einfach schuldig.
Nicht nur, dass Sie in Ihrem Antrag mit veraltetem
Zahlenmaterial argumentieren, Sie suggerieren mit die-
sem Antrag mal wieder, dass halb Deutschland – wahr-
scheinlich sogar ganz Deutschland – davon betroffen sei.
Dem ist aber nicht so; damit müssen wir jetzt endlich
einmal aufräumen. Sie zitieren nur die Zahlen, die Ihnen
nützen. Das ist unlauter und unseriös. Richtig ist, dass
die Anzahl derjenigen, die im Fall von Erwerbslosigkeit
das Arbeitslosengeld I nach der Sonderregelung für
kurzzeitig Beschäftigte erhalten haben, in den zurücklie-
genden Jahren jährlich lediglich bei knapp 230 lag.
Sie vergessen aber, zu erwähnen, dass es im Berichts-
zeitraum insgesamt nur circa 310 Antragsteller gab. Das
heißt, wir hatten eine Bewilligungsquote von 70 Prozent,
meine Damen und Herren; das ist ein Haufen.
Sie müssen die Antworten der Bundesregierung auf Ihre
Anfragen richtig lesen – ich unterstelle Ihnen, dass Sie
das können –
und dürfen die Leute nicht durch Darstellung falscher
Tatsachen verschaukeln; aber das ist bei Ihnen historisch
bedingt.
Nichtsdestotrotz gibt es Handlungsbedarf vor allem im
Hinblick auf die Berufsgruppe der Künstler, aber auch in
anderen Branchen, die noch nicht erwähnt wurden: Lo-
gistik, Gastronomie, Tourismus, Landwirtschaft. Des-
halb haben wir auch diese Personengruppen im Rahmen
einer Sonderregelung für die Anwartszeiten begünstigt.
Gerade in der Branche der Künstler kommt es häufig zu
kurzen befristeten Beschäftigungsverhältnissen, sodass
die zwölf Monate Vorversicherungszeit in der Rahmen-
frist nicht erfüllt werden können.
Herr Kollege Weiler, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Birkwald?
Lassen Sie mich jetzt einmal weitermachen! Ich bingleich fertig.
– Dann macht der Herr Birkwald wieder eine Kurzinter-vention, und dann werde ich ihm ordentlich antworten.
Die letzte Große Koalition hatte daher eine befristeteSonderregelung eingeführt: Personen, deren Erwerbs-biografie wiederkehrend unterbrochen ist, müssen ledig-lich sechs statt zwölf Monate Vorversicherungszeiteninnerhalb der Rahmenfrist vorweisen. Diese Sonderrege-lung wurde in der letzten Legislaturperiode bis Ende die-ses Jahres verlängert.Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD siehtim Handlungsfeld „aktive Arbeitsmarktpolitik“ unter an-derem vor, dass die Koalition zu der befristeten Sonder-regelung Ende 2014 eine Anschlussregelung einführenwird. Meine Damen und Herren, das tun wir.
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5604 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Albert Weiler
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– Moment! – Das BMAS hat hierzu grundlegende Ände-rungen im SGB III vorgeschlagen, die wir jetzt intensivmiteinander diskutieren. Aber wir können hier und jetztkeine Schnellschüsse brauchen, sondern müssen eineausgewogene, allen Arbeitslosen gerecht werdende Lö-sung finden.
Ich halte die Privilegierung einer bestimmten Berufs-und Personengruppe sozialpolitisch für problematisch.Schon jetzt ist schwer vermittelbar, warum kurzbefristetBeschäftigte für einen Leistungsanspruch nur sechs Mo-nate Versicherungszeit benötigen, während der Normal-beschäftigte – eine Friseurin oder ein Gärtner –, der mitseinen Beiträgen dieses Privileg ja auch mitfinanziert,für diesen Anspruch selbst zwölf Monate arbeiten muss.Wir handeln nach dem Motto „klug bedacht ist gutgemacht“. Daher haben sich CDU/CSU und SPD nunauf eine Verlängerung bis Ende 2015 verständigt, um sogenügend Raum und Luft zu gewinnen, um in einemdurchdachten Schritt die Rahmenfristen so zu regeln,dass sie für alle Beschäftigten gerecht sind.Diesen Anspruch haben wir uns gegeben. Dafür brau-chen wir Zeit. Wir werden es gut machen. Klug bedachtist gut gemacht.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Brigitte
Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrter Herr Weiler, auch wenn ich nicht der Fraktion derLinken angehöre und auch nie angehören werde, somuss ich Ihnen doch sagen: Diese Rede war vollständigdaneben.
Sie mögen im Detail den Lösungsvorschlägen der Lin-ken nicht zustimmen, aber das Problem, das in dem An-trag aufgezeigt wird, ist real.
Lieber Herr Weiler, es zeugt einfach von Unkenntnis,wenn Sie sagen, dass kurzfristig Beschäftigte im We-sentlichen aus dem kulturschaffenden Bereich kommen,also Künstlerinnen und Künstler sind. Nein, das sind83 Prozent der Beschäftigten in der Wissenschaft; sie ha-ben Arbeitsverträge mit einer Dauer unterhalb eines Jah-res.
Die Projektarbeit nimmt zu, Leiharbeit nimmt zu.
Ich will hier gar nicht den Eindruck erwecken, als seidas alles prekäre Beschäftigung. Da gibt es durchausauch gut bezahlte Stellen. Aber viele dieser Beschäfti-gungsverhältnisse werden zu prekären Beschäftigungs-verhältnissen, weil die sozialen Sicherungssysteme die-sem neuen Flexibilitätsarrangement nicht angemessensind.
Es ist nicht hinzunehmen, dass all diese Menschenmit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungin die Arbeitslosenversicherung einzahlen, aber im Falleder Arbeitslosigkeit keinen Cent herausbekommen. Dasist eine Gerechtigkeitslücke.
Ich finde, bevor Sie den Mund so weit aufmachen,machen Sie erst einmal Ihre Hausaufgaben.
Diese Bundesregierung hat für diese Gruppe von Men-schen derzeit eine Regelung, die, um es Ihnen einmalklar zu sagen, 0,5 Prozent derjenigen trifft,
die Sie erreichen wollen.
Mann, wenn ich so eine Arbeit abgeliefert hätte, dannwäre ich hier ein bisschen vorsichtiger.
Auch Sie sehen das Problem. Deswegen haben Sie imKoalitionsvertrag vereinbart, dass es hier zu einer Neu-regelung kommen soll. Eigentlich sollte die Regelungbereits jetzt vorliegen. Jetzt haben Sie das um ein Jahrverschoben. Ich rede an dieser Stelle nicht von Arbeits-verweigerung. Ich will zu Ihren Gunsten unterstellen,dass Sie sich vielleicht in einer Lernkurve befinden unddamit noch nicht ganz fertig sind.
Die Lösung, die Sie angedacht haben, nämlich dieRahmenfristzeiten auf drei Jahre auszuweiten, wird nochweniger Menschen dazu bringen, dass sie die Möglich-keiten, die sie haben, tatsächlich – – Oh, jetzt bin ich einbisschen durcheinander.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5605
Brigitte Pothmer
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Ich beginne noch einmal von vorne. Die Ausweitung derRahmenfrist wird am Ende dazu führen, dass noch weni-ger Menschen davon profitieren als von Ihrer derzeitigenRegelung. Das könnten Sie wissen; das müssten Sie so-gar wissen.Ich kann mich nur wundern, Herr Birkwald, warumSie in Ihrem Antrag diesen Vorschlag aufgegriffen ha-ben. Bereits 2012 hat das IAB ein Gutachten erstellt undist darin zum Ergebnis gekommen, dass die Ausweitungder Rahmenfristen noch weniger Menschen privilegiert,als das derzeit der Fall ist.
Deswegen finde ich Ihren Antrag in diesem Punkt wirk-lich falsch.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Wir haben zuneh-mend Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Aber dieserFlexibilität müssen wir ein Mindestmaß an sozialer Si-cherung zur Seite stellen. Dabei müssen wir drei Punktebeachten: Erstens. Es darf keine Sonderregelung für be-stimmte Personengruppen geben, weil das das Systemzunehmend undurchsichtig macht. Zweitens. Leistungenmüssen Gegenleistungen folgen. Es kann nicht angehen,dass die Menschen einzahlen und nichts herausbekom-men.
Drittens. Die Regelung muss einfach und unbürokratischsein.
Unser Vorschlag lautet: Wer innerhalb einer Rahmen-frist vier Monate gearbeitet hat, bekommt zwei MonateArbeitslosengeld, bei sechs Monaten drei Monate, undso geht das weiter. Das ist ein durchschaubares klaresSystem. Von dem können alle kurzfristig Beschäftigtenprofitieren. Ich schlage vor, Herr Birkwald: Setzen Siesich damit einmal auseinander.
Sie werden begeistert sein.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Markus Paschke,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ichfreue mich, dass wir zu so später Stunde noch so vieleZuhörer haben, und werde jetzt versuchen, das wiederauf ein etwas ruhigeres Niveau zu bringen.
Gesetze müssen immer wieder den sich änderndenBedingungen und Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarktangepasst werden. Das ist eigentlich eine Selbstver-ständlichkeit. Deshalb finde ich Ihren Antrag im Kernauch richtig, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol-legen von der Linken.
Das ist auch wenig überraschend, weil er doch imWesentlichen aus dem Koalitionsvertrag abgeschriebenist.
Das Ziel der Koalition ist, den Zugang zur Arbeitslo-senversicherung besonders für kurzfristig Beschäftigtezu verbessern. Das ist dringend nötig. Ich will einmal einBeispiel bringen, um zu verdeutlichen, worum es geht:Helga ist 40 Jahre alt, sie schlägt sich seit Jahren aufBorkum mit Saisonarbeit durch. Ihre Anstellungen sindimmer wieder von mehr oder weniger langen Zeiten derErwerbslosigkeit, vor allem im Winter, unterbrochen.Hat sie eine Anstellung, dann zahlt sie vom ersten Tagan auch Beiträge in die Arbeitslosenversicherung ein.Aber im Gegensatz zu ihren Kolleginnen, die ganzjährigbeschäftigt sind, ist es für sie kaum möglich, innerhalbvon zwei Jahren überhaupt die erforderlichen zwölf Mo-nate Beitragszeiten zusammenzubekommen. Die bishe-rige Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte greiftfür sie auch nicht, weil sie in der Regel länger als zehnWochen am Stück arbeitet. Das bedeutet: Helga hat garkeine Wahl und muss sofort Arbeitslosengeld II beantra-gen.Das ist in meinen Augen eine Gerechtigkeitslücke.
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Betroffeneneine Absicherung durch die Arbeitslosenversicherungbekommen und nicht immer zum Jobcenter gehen müs-sen.
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5606 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
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Keine Frage: Da müssen wir ran, und da gehen wirran.
Die Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte läuftEnde des Jahres aus. Deswegen werden wir sie in einemersten Schritt, um Rechtssicherheit zu schaffen – das istder wesentliche Grund –, um ein Jahr bis Ende 2015 ver-längern. Das verschafft uns Zeit und Raum für einen an-gemessenen Diskussionsprozess; denn um es noch ein-mal klar zu sagen: Es geht nicht nur um eine schnelle,sondern vor allem um eine nachhaltige, gerechte undgute Lösung.
Das bedeutet, eine Regelung für alle Beschäftigten zufinden.
Eine generelle Verlängerung der Rahmenfrist von zweiauf drei Jahre ist sicherlich eine gute Idee.
Auch über die Veränderung der Sonderregelung fürkurzfristig Beschäftigte wird nachzudenken sein; dennes ist natürlich schwer vermittelbar, warum Beschäftigtewie Helga,
von denen wir viele in Ostfriesland haben, trotz Bei-tragszahlung keinen Leistungsanspruch erwerben.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, icherwähnte anfangs, dass ich Ihren Antrag im Kern fürrichtig halte,
aber ich bin auch der Meinung, dass er zu kurz greift.Denn wir sollten uns umfassend überlegen, wie wir denVersicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung ef-fektiv stärken können und welche Regelungslücken wirschließen wollen. Wir sollten zum Beispiel überlegen,wie wir mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern fürdie Zeit umgehen, in der sie Angehörige pflegen, und obwir sie für die Zeit in die Arbeitslosenversicherung ein-beziehen können. Wir sollten uns überlegen, wie wir fürEltern, die in flexibler Elternzeit sind, oder bei einer be-ruflichen Weiterbildung den Versicherungsschutz auf-rechterhalten können. Das waren nur drei Beispiele fürProbleme, über die wir nachdenken sollten; die mögli-chen Lösungen für diese Probleme wollen abgewogen,bewertet und bedacht werden – mit ausreichend Zeit.Diese Überlegungen finde ich leider so nicht in IhremAntrag.
Ich weiß, es fällt Ihnen schwer, aber glauben Sie mir:Wir werden im nächsten Jahr einen guten Gesetzentwurfvorlegen.
Ich denke, wir werden die Rahmenfrist verlängernund eine Lösung für alle kurzfristig Beschäftigten undNormalbeschäftigten finden. Wir werden die Arbeitslo-senversicherung stärken.
Herr Kollege.
Ich komme sofort zum Schluss.
Das wäre sehr nett, Herr Kollege Paschke.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Es macht
wenig Sinn, die Bundesregierung zu einem Handeln auf-
zufordern, das bereits im Koalitionsvertrag vereinbart
ist.
Wenn Sie unsere Ideen gut finden, dann schließen Sie
sich unseren Überlegungen und Gesetzentwürfen an! Ich
lade Sie herzlich ein, dabei zu sein und gemeinsam die
Arbeitslosenversicherung zu stärken.
Danke schön.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es gibt Branchen und Be-rufe, in denen man nicht auf eine lebenslange Positionhoffen kann, weil es sie schlichtweg nicht gibt. Es gibtnicht einmal mittelfristige Beschäftigungen. Das trifftvor allem die Kreativen und Künstler, seien es Schau-spieler, Maskenbildner, Kameraleute, ob sie Helga,Thomas oder auch anders heißen, ganz egal.Sie arbeiten in der Regel projektbezogen und eng be-fristet. Wenn die Filmrolle abgedreht ist, dann gibt esvielleicht für den Schauspieler oder die Schauspielerin
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5607
Dr. Astrid Freudenstein
(C)
(B)
schlicht und ergreifend keinen Bedarf mehr. Dann stehter oder sie wieder auf der Straße. Das hat nichts mitKönnen oder Qualität zu tun. Wir wissen sehr gut, dassauch richtige Filmstars gelegentlich auf der Straße ste-hen und nach neuen Engagements suchen.Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, eben-dieser spezifischen Situation von Kunstschaffenden ge-recht zu werden, weil es gerade bei ihnen oft brüchigeErwerbsbiografien gibt. Dem wollen wir begegnen. Wirhaben zum Beispiel noch vor der Sommerpause das Ge-setz zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzesbeschlossen, um die Beitragssätze stabil zu halten unddas System, das freischaffenden Künstlern Zugang zurgesetzlichen Renten-, Pflege- und Krankenversicherunggewährt, bezahlbar und stabil zu machen.Wir haben uns auch vorgenommen – auch das ist imKoalitionsvertrag nachzulesen, und hier setzt auch IhrAntrag an –, im Arbeitslosengeld-I-Bezug eine An-schlussregelung für überwiegend kurzfristig Beschäf-tigte einzuführen. Auch dabei geht es überwiegend umKünstler und Kreative.Konkret soll es eine von zwei auf drei Jahren verlän-gerte Rahmenfrist geben, innerhalb derer die Anwart-schaftszeit für den Bezug von ALG I erfüllt werdenmuss. Das wäre eine deutliche Verbesserung für die Be-troffenen, gezielt für all jene, die branchenbedingt brü-chige Erwerbsbiografien haben. Der Bundesverband derFilm- und Fernsehschauspieler hat im Übrigen ebendie-sen Passus im Koalitionsvertrag ausdrücklich gelobt.
Künstler und Kreative werden damit eine größereChance haben, die vom Gesetz geforderte Anwart-schaftszeit ansammeln zu können. Wir wollen alsodurchaus eine Lösung finden, die lebensnah ist. Wer indie Arbeitslosenversicherung einzahlt, darf nicht vonden Leistungen ausgeschlossen werden, nur weil es imeigenen Beruf strukturbedingt zu befristeten Arbeitsver-hältnissen kommt. Ich glaube, bis zu diesem Punkt sindwir uns auch völlig einig.
Das bedeutet aber nicht, dass wir grundsätzlich den Wegverlassen wollen, den wir beschritten haben. Darin sindwir uns wahrscheinlich nicht mehr einig, Herr Birkwald.Wir wollten eine Sonderregelung. Das war damals dieMotivation für diese Maßnahmen. Wir sind nach wie vordavon überzeugt, dass es richtig ist, Grenzen zu ziehenund spezifisch dort Ausnahmen vorzusehen, wo es struk-turelle Nachteile auszugleichen gilt.Was Sie in Ihrem Antrag fordern, geht darüber weithinaus und würde womöglich viele positive Entwicklun-gen, die die arbeitsmarktpolitischen Reformen der ver-gangenen Jahre gebracht haben, aufs Spiel setzen. Des-wegen werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.Ich schließe mich meinem Vorredner an: Wir werdeneinen guten Gesetzentwurf vorlegen
und darüber mit Sicherheit noch viel diskutieren dürfen.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Ralf Kapschack,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauer auf der Besuchertribüne! FrauFreudenstein hat es angesprochen: Wir haben im Sommereinstimmig das Gesetz zur Stabilisierung des Künstler-sozialabgabesatzes beschlossen. Das war gut und wich-tig für den Erhalt der sozialen Absicherung von Künst-lern und freien Publizisten. Aber in der Debatte ist auchdeutlich geworden: Das reicht nicht. Der Tenor war ein-deutig: Wir müssen etwas tun, um auch dieser Beschäfti-gungsgruppe, in der kurzfristige Beschäftigung beson-ders verbreitet ist, einen leichteren, einen besseren undeinen schnelleren Zugang zum Arbeitslosengeld zu ver-schaffen. Kurzfristige Beschäftigung ist nicht nur einProblem der Kultur- und Medienbranche. Aber sie isthier traditionell besonders stark verbreitet. Deshalbschauen die Beschäftigten dieser Branche sehr genau da-rauf, was wir nun tun.
Nehmen wir als Beispiel die Filmwirtschaft. 17 Pro-zent der abhängig Beschäftigten in der Filmwirtschaftwaren in den vergangenen zwei Jahren weniger als sechsMonate beschäftigt. 30 Prozent waren zwischen sechsund zwölf Monate beschäftigt. Das heißt, nicht einmaldie Hälfte der abhängig Beschäftigten in der Filmwirt-schaft erfüllt die Voraussetzungen für das Arbeitslosen-geld I. Insofern bin ich dankbar für den Antrag und dieMöglichkeit, über dieses Problem ausführlich zu disku-tieren. Die bisherige Regelung hat, wie bereits angespro-chen, gerade einmal 200 Menschen im Jahr geholfen.Das ist eindeutig zu wenig. Dass es nur so wenige sind,liegt an den Zugangsvoraussetzungen. Insofern ist esrichtig, über eine längere Rahmenfrist nachzudenken,also die Zeit, in der der Anspruch auf das Arbeitslosen-geld erfüllt werden muss. Darin sind wir uns mit Ihnenvöllig einig.
Wahrscheinlich ist es auch richtig, über eine einheitli-che Anwartschaftszeit nachzudenken und auf Sonderre-gelungen künftig zu verzichten; denn nach den bisheri-gen Erfahrungen erreichen Sonderregelungen viel zuwenige. Das hat mit den Zugangsvoraussetzungen zutun, die aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben sostrikt sein müssen. Wie die zukünftige Regelung ausse-hen soll, werden wir in Ruhe prüfen. Damit es keinen
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5608 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Ralf Kapschack
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rechtlosen Zustand und keine Verschlechterung gibt,werden wir die Geltungsdauer der bestehenden Rege-lung verlängern, um Zeit zu haben, eine vernünftigeNeuregelung auf den Weg zu bringen. Ob eine generelleVerkürzung der Anwartschaftszeit, wie Sie es in IhremAntrag fordern, vernünftig ist, werden wir uns in Ruheanschauen, und zwar sowohl unter arbeitsmarktpoliti-schen als auch unter finanziellen Gesichtspunkten; dennirgendjemand muss das bezahlen.
– Das werden wir uns in Ruhe anschauen. – Entscheidenwerden wir über die künftige Regelung im kommendenJahr. Die Kleine Anfrage der Linken gibt schon einigeHinweise auf die Dimension des Problems.Herr Birkwald, eine Bemerkung noch zum Schluss.Sie haben bemängelt, dass die Regelung noch nicht vor-liegt. Sie haben im Ausschuss gesagt, das Ministeriumfür Arbeit und Soziales sei das fleißigste in der Regie-rung.
Wer wäre ich, dem zu widersprechen?
Aber auch der Fleißige kann nur eines nach dem anderentun. Wir werden das tun. Wir werden eine vernünftigeRegelung vorlegen. Ich freue mich auf die Beratungenim Ausschuss.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Das war der letzte Redner in dieser
Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2786 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Thomas Feist, Uda Heller, Albert
Rupprecht, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-
neten Willi Brase, Rainer Spiering, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion SPD
Berufliche Bildung zukunftssicher gestal-
ten – Wettbewerbsfähigkeit und Beschäfti-
gung stärken
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Sabine
Zimmermann , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Das Recht auf Ausbildung umsetzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Brigitte Pothmer, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Berufliche Bildung sichern – Jungen Men-
schen Zukunftschancen bieten
Drucksachen 18/1451, 18/1454, 18/1456, 18/2856
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Erster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Thomas Feist, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir debattieren heute – wenn man auf dieUhr schaut – zur besten Sendezeit über berufliche Bil-dung. Genau dort gehört sie auch hin.
Ich möchte mich für die konstruktiven Beratungen imAusschuss bedanken; denn wir haben festgestellt: Wennwir etwas für berufliche Bildung tun, dann tun wir dasnicht zulasten der akademischen Bildung. Aber wofürwir uns einsetzen wollen und einsetzen müssen, ist: Wirmüssen verstärkt für die Gleichwertigkeit der akademi-schen und der beruflichen Bildung in unserem Land wer-ben.
Es haben sich verschiedene Punkte herauskristalli-siert, die für uns wichtig sind. Da ist zum einen – das istin dem Antrag beschrieben – die Berufsorientierung. Ichergänze das und sage: Berufs- und Studienorientierung;denn beides muss in Deutschland möglichst flächen-deckend durchgeführt werden, und zwar auf hohemNiveau.
Wir werden die Länder nicht aus ihrer Pflicht entlas-sen, ihren Beitrag zu leisten. Wir werden uns im Bunddafür einsetzen, dass wir solche Vorhaben über Kofinan-zierungsmodelle nach Möglichkeit und nach Kassenlageunterstützen. Aber die Länder, die ab dem nächsten Jahrvoll davon profitieren, dass der Bund die BAföG-Zahlung allein übernimmt, haben genug finanzielleSpielräume, und sie müssen an der schulischen Berufs-und Studienorientierung ansetzen.
Warum ist das so wichtig, Berufs- und Studienorien-tierung als Einheit zu sehen? Das ist deswegen beson-
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Dr. Thomas Feist
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ders wichtig, weil wir es uns nicht leisten können, wederim Sinne der jungen Menschen noch aus volkswirt-schaftlicher Sicht, junge Menschen erst einmal den Um-weg über ein nach zwei oder drei Semestern abgebroche-nes Studium in die berufliche Bildung gehen zu lassen.Wir müssen vielmehr sagen: Die berufliche Bildung isteine gute Grundlage. Sie ist keine Sackgasse, und siedarf auch nicht zur Resterampe der BildungsrepublikDeutschland werden.
Wir müssen vor allem die Jugendlichen in den Blicknehmen, die besonderen Förderbedarf haben. Wir wer-den uns in der nächsten Zeit mit den Modellen der assis-tierten Ausbildung auseinanderzusetzen haben, auch mitdem Übergangssystem. Hier müssen wir fragen: Wiekann das zeitgemäß gestaltet werden, wie können wirBetriebe, die schwächeren Jugendlichen eine Möglich-keit zur Ausbildung geben, gezielt unterstützen?Wir müssen auch etwas für die tun, die aus der beruf-lichen Bildung heraus weitergehen wollen. Ich denke daan die Meister. Wir haben eine tolle BAföG-Erhöhung.Die kann sich sehen lassen. Manche sagen, sie kommeetwas spät. Aber sie kommt nicht zu spät. Wir müssenauch im Bereich der Aufstiegsfortbildung, also beimMeister-BAföG, aufpassen, dass wir den Anschluss nichtverlieren.
Den Anschluss nicht zu verlieren, heißt auch, dass wiruns überlegen müssen, welche Berufsgruppen wir dorterreichen und ob es vielleicht auch Berufsgruppen gibt,die wir bisher mit unserem Modell nicht erreichen. Damüssen wir etwas tun. Wir müssen auch etwas dafür tun,die Familienfreundlichkeit als Komponente des Meister-BAföG herauszustellen. Natürlich – das ist ein Themafür uns alle – stellt sich uns auch die Frage der Inklusion:Was können wir tun, um auch Menschen mit Beeinträch-tigungen ein weiterführendes Studium im Beruf zu er-möglichen?
Wenn ich sage: „Berufliche Bildung ist keine Sack-gasse“, dann heißt das: Wir haben in Deutschlandhervorragende Möglichkeiten – ich denke da an das Wei-terbildungsstipendium oder auch das Aufstiegsstipen-dium –, junge Leute berufsbegleitend oder in Vollzeitweiterzubilden, sodass sie gute Abschlüsse erreichenkönnen. Ich weiß, dass die Zahl derjenigen, die ein sol-ches Stipendium in Anspruch nehmen wollen, höherliegt als die Zahl derer, die wir im Moment fördern kön-nen. Das sollte für uns ein Ansporn sein, in diesem Be-reich zu überlegen, wie wir vielleicht nicht mehr diesen,aber die nächsten Haushalte fröhlich und hoffnungsfrohfür die Berufsbildung gestalten können.
Wie wichtig die berufliche Bildung ist, zeigt sichauch daran, dass nun plötzlich neben der Bildungspolitikauch andere Politikbereiche erkannt haben, dass diesewichtig ist. Die Wirtschaftspolitiker sagen: Wir müssenetwas für die duale Ausbildung tun. Auch im BereichArbeit und Soziales ist das ein wichtiges Thema.Lassen Sie uns eins nicht vergessen: Wenn wir überberufliche Bildung, auch im europaweiten Vergleich, re-den, dann heißt das: Mobilität braucht Qualität. Dasheißt auch, dass wir für die Abschlüsse hier in Deutsch-land kämpfen müssen, damit sie auch im europäischenRahmen richtig bewertet werden. Nicht zuletzt – ichsehe, meine Zeit reicht für diesen letzten Punkt mit Er-laubnis der Präsidentin noch aus – heißt das auch, dasswir den Meisterbrief in Deutschland schützen müssen.Es ist Grundvoraussetzung, dass wir in Europa eine Mo-bilität haben, die Qualität zur Basis hat.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Rosemarie
Hein, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrter Herr Dr. Feist, ich finde es schon interessant,dass Sie diesmal eine sehr problemorientierte Rede ge-halten haben,
wenngleich ich vieles nicht so fröhlich und hoffnungs-froh sehe wie Sie und auch auf andere Probleme hinwei-sen möchte.
In der Tat bietet die duale Berufsausbildung in derRegel einen guten Start ins Berufsleben – da sind wir unseinig –, wenn man denn einen Ausbildungsplatz be-kommt. Eine Viertelmillion junger Menschen bekam imvergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz, sondernlandete im Übergangssystem. Darum sollten wir vor lau-ter Stolz auch nicht übersehen, dass es in unseremBerufsbildungssystem reichlich Defizite gibt, und dieseDefizite sind größer als das, was Dr. Feist eben ange-mahnt hat. Man kann nämlich einen Jugendlichen, dersich trotz Schulabschluss mehrfach vergeblich um einenAusbildungsplatz bemüht hat, nicht erklären, warumausgerechnet er von dem Erfolgsmodell duale Berufs-ausbildung nicht profitieren kann.
Die entscheidenden Fehlstellen können Sie mit denHinweisen und Angeboten, die Sie eben gemacht haben,wahrscheinlich nicht beseitigen, wiewohl ich schon an-nehme, dass manches von dem, was Sie eben vorge-schlagen haben, wichtig ist.
Ich will ein paar Fakten benennen:
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Dr. Rosemarie Hein
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Erstens. Über 10 Prozent der 18- bis 24-Jährigen hatheute weder eine Hochschulzugangsberechtigung nocheine Ausbildung und befindet sich auch nicht in Ausbil-dung. Das kann man nicht als Erfolg verkaufen.
Zweitens. Im Koalitionsvertrag steht geschrieben,dass in Deutschland eine Ausbildungsgarantie umgesetztwerden soll. Ich habe mich gefragt: Das klingt gut; aberwas soll das heißen? Wer garantiert jetzt wem was? Sol-len Jugendliche einen Rechtsanspruch auf einen Ausbil-dungsplatz erhalten? Nein, so ist das nicht gemeint; dennsonst hätten Sie ja unserem Antrag zustimmen können.
Sollen Unternehmen garantieren, dass sie ausbilden?Nein, auch das ist nicht gemeint. Denn derzeit bildet nureiner von fünf Betrieben aus, und es sieht nicht so aus,als ob irgendjemand daran etwas ändern möchte. Willder Staat jedem Jugendlichen eine Ausbildung garantie-ren? Nein, auch das ist nicht gemeint. Es geht vielmehrwieder einmal um Programme, um zusätzliche Vorha-ben, die man fördern kann.
Einige davon haben Sie ja genannt. Liebe Koalition, wersolche Begriffe in einen Koalitionsvertrag hineinschreibtund sie dann gar nicht umsetzen will, der begeht Ver-tragsbruch.
Drittens. Sie kommen ja nicht einmal weiter mit denGesprächen über eine Allianz für Aus- und Weiterbil-dung, an der nur neu ist, dass die Gewerkschaften mitam Tisch sitzen, was auch wichtig ist.
Wenn Sie mit diesem Instrument, der Allianz für Aus-und Weiterbildung, in dieser Legislatur noch irgendje-mandem irgendetwas garantieren wollen, dann müssenSie endlich zu Potte kommen;
sonst bleibt es nämlich bei den Warteschleifen, bei denProgrammen und Progrämmchen, über die Sie wohlschon selbst den Überblick verloren haben.
Viertens. Bitte, hören Sie auf, den Jugendlichen im-mer wieder einzureden, sie seien eigentlich selbst schulddaran, dass sie keinen Ausbildungsplatz finden;
denn weil sie ihre zweite Chance nutzen müssten, hättensie ihre erste vertan. Nein, wenn von den 250 000 jungenLeuten, die jetzt im Übergangssystem sind, drei Vierteleinen Schulabschluss besitzen, dann haben nicht sie ihreerste Chance vergeben, sondern wir, die Gesellschaft,haben ihnen keine Chance gegeben. Da Abhilfe zuschaffen, liegt auf unserem Tisch, hier bei allen im Haus.
Fünftens. Wer nur auf das duale System schielt, han-delt mindestens fahrlässig. Denn wenn ein Großteil deretwa 200 000 jungen Leute in Berufsfachschulen ihreAusbildung selber bezahlen muss, dann hat das bundes-deutsche Berufsbildungssystem versagt.Wenn angesichts zurückgehender Schülerzahlen ir-gendwann einmal die Physiotherapeuten knapp werden,dann werden wir das schmerzlich am Rücken spüren. Soweit, finden wir, darf es nicht kommen. Darum fordernwir Sie auf, die Selbstgerechtigkeit, mit der wir oft überdie berufliche Bildung in Deutschland reden, aufzuge-ben und die Dinge anzupacken, die wirklich angepacktwerden müssen. Vielleicht reden wir in einigen Mona-ten, wenn der nächste Berufsbildungsbericht da ist, wie-der über das Recht auf Ausbildung.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Rainer Spiering,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vor allen Dingen liebejunge Menschen dort oben! Ich wollte eigentlich einenanderen Auftakt wählen, wenn ich ehrlich sein soll, aberFrau Dr. Hein, ich habe schon beim letzten Mal relativwenig von dem verstanden, was Sie gesagt haben. Siemüssen in einem anderen Land leben als ich.
Ich bin wirklich von hoher Fassungslosigkeit geprägt.Wenn Sie sich schon auf Zahlen beziehen: Es gibt dieneue OECD-Studie. Die OECD, die der BundesrepublikDeutschland beim Bildungsreport ja nicht unbedingtwohlgesonnen gegenübersteht, bescheinigt der Bundes-republik Deutschland jetzt den höchsten Erfolg beimAbschluss Sek II. Schauen Sie einfach nach! Vor allenDingen bestätigt sie der Bundesrepublik Deutschland diehöchste Eingangsquote ins Berufsleben, in Arbeit undBrot, von allen Ländern der Welt, nämlich über unserduales Berufsausbildungssystem. Lesen Sie es einfachnach!
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Rainer Spiering
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Ich kann das, was Sie hier beitragen, ganz ehrlich ei-gentlich nur noch als eine verspätete verbale, ideolo-gisch orientierte Attacke auf ein System wahrnehmen,das Sie nicht wollen.
Eigentlich hatte ich die Rede auf die jungen Men-schen gemünzt, die dort oben sitzen. Es tut mir leid, dassich jetzt ein bisschen aus der Haut gefahren bin.
Deswegen werde ich die Rede substanziell ein bisschenändern.Ich glaube, wenn wir hier diskutieren, machen wir ei-nen großen Fehler. Thomas Feist hat recht gut beschrie-ben, wie unsere Ausgangssituation ist. Ich für meinenTeil habe den Eindruck, dass wir aus bestimmten Inte-ressen heraus häufig viel mehr über die jungen Men-schen sprechen als mit ihnen.
Wir reden über die Wertbeständigkeit unseres Schulsys-tems, darüber, welche Vorteile dieses Schulsystem hat.Wir prangern immer wieder an – das höre ich in vielenReden –: Die Einmündungsquote in das duale System istzu niedrig. – Das mag faktisch richtig sein, aber dannmuss man hinterfragen, warum sie zu niedrig ist.Ich habe mich in den letzten Wochen und Monatendamit beschäftigt, zu hinterfragen: Was wissen wir ei-gentlich valide? Welche Forschungsergebnisse habenwir zu der Frage, was junge Menschen bewegt, in einAusbildungssystem zu gehen? Was mir zugänglich ist,sind die Arbeiten des Bundesinstituts für Berufsbildung.Aber das Institut fragt auch nicht die Interessenlage derjungen Menschen ab; es argumentiert mit Zahlen. Ichweiß, dass es die Shell-Jugendstudie gibt, die sich überviele Jahre mit Interessen und Interessenbekundung jun-ger Menschen auseinandergesetzt hat, also eine nachhal-tige wissenschaftliche soziologische Studie ist. Aber ichhabe bis jetzt nirgendwo etwas zu der Frage finden kön-nen: Was ist eigentlich die Motivationslage der jungenMenschen, ihren Werdegang zu ändern, den Weg zuwählen, den sie wählen?Ich bin in letzter Zeit aus unterschiedlichen Gründenhäufiger im Ausland gewesen; ich weise auf die USAund die Ukraine hin. Dort gibt es eine unglaublich hoheJugendarbeitslosigkeit. Es besteht auch Perspektivlosig-keit in hohem Maß – übrigens mit all den politischenFolgerungen, die das auch hat. Deswegen wäre mireigentlich sehr daran gelegen, dass wir uns in dem Rah-men, in dem wir heute sind, mit validen Forschungs-ergebnissen an Universitäten zu der Frage auseinander-setzen: Warum bewegt die Jugend sich heute so, wie siesich bewegt? Warum wählt die Jugend häufig den akade-mischen Weg, was ich völlig richtig finde? Was ich nochrichtiger fände, wäre, wenn die Jugendlichen ein breitesSpektrum an Angeboten hätten, die sie überprüfen könn-ten. Haben sie die? Haben sie die Auswahlmöglichkeit?Haben wir die Möglichkeit, zu überprüfen, warum siewas tun? Meine Erkenntnis ist: Wir wissen es nicht.Mein deutlicher Appell: Lassen Sie uns universitäreForschung verstärken! Lassen Sie uns verstärkt endlichwieder zu einer starken Berufsschullehrerausbildung anunseren Universitäten kommen!
Thomas Feist hat die Frage der Berufsorientierungangesprochen. Ich möchte noch einen Aspekt dazufügen.Wir haben über das Erasmus-Programm eine sehr starkeMöglichkeit, Studentinnen und Studenten ins europäi-sche Ausland und auch über den großen Teich zu brin-gen. Unsere Möglichkeiten, jugendliche Auszubildendein europäische Nachbarstaaten zu bringen, sind dagegenausgesprochen gering. Wir haben ganz wenig Geld da-für. Das wird von den Handwerkskammern sowie Indus-trie- und Handelskammern über mobile Beratungsstellenvermittelt. Ich möchte Sie alle intensivst bitten, mit unsgemeinsam den Weg zu gehen, die Berufsorientierung zustärken und über mobile Beratungsstellen, die Handwerkund Industrie anbieten, den jungen Menschen eine Per-spektive im Ausland zu geben – mit all den Vorteilen,die das hat. Ich glaube, das ist ein ehrenwertes Ziel.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!Knapp fünf Monate ist es jetzt her, dass wir hier im Ple-num den Berufsbildungsbericht 2014 der Bundesregie-rung debattiert haben. Alle Fraktionen dieses Hauses ha-ben in der damaligen Aussprache ihre Konzepte,Vorschläge und Ziele im Bereich der beruflichen Bil-dung vorgestellt. Jetzt ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich – auch wennSie, Herr Spiering, mich jetzt wahrscheinlich in einemanderen Land wähnen – enttäuscht bin; denn wenig istseitdem gelungen. Schon Ihre damaligen Ausführungenzum Berufsbildungsbericht waren – verzeihen Sie! –eine Mischung aus Floskeln, Prüfaufträgen und Ankün-digungen. Schon damals haben Sie uns gesagt, dass Ih-nen das alles sehr wichtig sei und dass Sie jetzt loslegenwürden. Ich frage Sie heute: Wo ist denn nun die Allianzfür Aus- und Weiterbildung?
– Sie sind die Große Koalition, egal in welchem Ressort.Hallo?
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5612 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Beate Walter-Rosenheimer
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Wo ist Ihre so groß angekündigte Ausbildungsgaran-tie? Wo sind Ihre Initiativen, um den Übergangsbereichzu lichten?
Wo sind die Maßnahmen, um benachteiligten Jugendli-chen echte zielführende Perspektiven zu eröffnen? Wosind Ihre Programme, um den jungen Menschen so frühwie möglich eine fundierte Berufsorientierung zu er-möglichen? Ich sage Ihnen – ich finde es wirklich bedau-erlich –: Was Sie bisher vorgelegt haben, ist unbefriedi-gend.
Wir brauchen aber zufriedenstellende Antworten auf dieFrage, wie wir unser System der beruflichen Bildung fürdie Zukunft fit machen können. Wir waren uns in denDebatten zum Berufsbildungsbericht 2014 oft einig, dasses darum geht, wie wir den jungen Menschen die bestenChancen eröffnen und wie wir es schaffen, unsere Fach-kräfte für morgen auszubilden. Die Probleme stehenschwarz auf weiß dokumentiert im Berufsbildungsbe-richt. Wir kennen die entsprechenden Stichworte alle:Verstetigung eines oft nicht zielführenden Übergangsbe-reichs, regionale Disparitäten, offene Ausbildungsstellenund gleichzeitig eine hohe Zahl von Jugendlichen, diekeine Ausbildung finden. Das sind wahrlich keine klei-nen Probleme, liebe Große Koalition.
– Ja, kümmern Sie sich darum. Das ist gut. Fangen Siean. Die Zeit läuft. Unsere Vorschläge kennen Sie. Siekönnen gerne noch einmal unseren Bericht lesen.
– Ja, doch! – Kleine Schönheitskorrekturen werden hiernicht zu einem guten Ergebnis führen.
Die Probleme haben sich inzwischen manifestiert. Des-halb sind, nebenbei gesagt, auch die unsinnigen Sparan-sätze im Haushaltsentwurf der Regierung bei der berufli-chen Bildung höchst kontraproduktiv.Ein Aspekt, der mir oft zu kurz kommt, ist die Quali-tät der Ausbildung. Alle Bemühungen der Wirtschaft,die darauf abzielen, den Auszubildenden qualitativhochwertige Ausbildungsplätze anzubieten, begrüße ichausdrücklich; aber das ist keine Selbstverständlichkeitmehr in diesem Land. Sie alle kennen den im Septembervorgestellten Ausbildungsreport 2014. Ich bin der festenÜberzeugung, dass wir noch einmal genauer auf die dortvorgestellten Ergebnisse schauen müssen. Wenn dort of-fen artikuliert wird, dass gesetzliche Vorgaben zum Bei-spiel im Jugendarbeitsschutzgesetz unterlaufen werden,dann ist Handlungsbedarf gegeben.
Wenn dort weiter davon die Rede ist, dass einige Azubisoffensichtlich noch nicht einmal eine grundlegende Be-treuung erfahren, ist doch der gesamte Sinn eines Lern-verhältnisses infrage gestellt. Was fällt Ihnen in der Ko-alition denn zu diesem Thema ein?
– Galaxie! Anderes Land! Das haben wir heute schongehört.Meine Position ist klar: Wer Jugendliche in der Aus-bildung nicht ernst nimmt und denkt, an der Qualität derAusbildung sparen zu können, muss schleunigst zu ei-nem Umdenken veranlasst werden. Das ist im Übrigenfür mich schlicht das Gebot der Stunde, auch wenn Siedas in einem anderen Land wähnen. Auch die Arbeitge-berverbände wissen ganz genau, wie schwer es künftigsein wird, Nachwuchs zu sichern. Ich begrüße ausdrück-lich, wenn wir hier an einem Strang ziehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koali-tion, Sie merken, dass meine Bilanz für Sie nicht gutausfällt. Ich lege Ihnen noch einmal wärmstens ans Herz,sich unseren Antrag anzuschauen und unseren Konzep-ten und Ideen zu folgen. Ganz einfach Augen zu undsich wegducken gefährdet akut die Zukunft unseres Lan-des.Danke.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Uda Heller, CDU/
CSU-Fraktion.
Guten Abend, sehr geehrte Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Vor allen Dingen, liebe Jugendlichen aufden Tribünen, ich denke, wir behandeln heute ein sehrwichtiges Thema für Sie! Ich kann nur sagen: Berufspla-nung ist Lebenswegeplanung, individuelle Perspektiveund Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe.Die derzeitige Situation in Deutschland im europäi-schen und internationalen Vergleich ist eine gute. Mitdieser Feststellung möchte ich, verehrte Vorrednerin, aufIhre Ausführungen reagieren, weil Sie jeden Aspektschlechtgeredet haben. Das ist nicht Sinn einer solchenDebatte. Sie sollten uns auch mitteilen, welche Vorstel-lungen Sie haben.
Wir verzeichnen mit 7,9 Prozent die niedrigste Ju-gendarbeitslosigkeit in Europa.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5613
Uda Heller
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Deutschland ist das drittbeliebteste Land unter den Stu-denten.
Rund Dreiviertel aller Auszubildenden sind mit ihrerAusbildung zufrieden oder sogar sehr zufrieden.Mit dem Antrag der Koalition zeigen wir, dass wiruns nicht auf dem Erreichten ausruhen, sondern die an-stehenden Probleme erkannt haben und Lösungen auf-zeigen. Deutschland steht durch den demografischenWandel vor einem ernstzunehmenden Problem auf demAusbildungs- und Arbeitsmarkt.Entscheidend ist es, die Attraktivität der beruflichen Bil-dung zu steigern, um unsere Jugendlichen für eine dualeAusbildung zu gewinnen. Das gilt insbesondere für dieMädchen, da sie mit einem Anteil von 39 Prozent nochdeutlich unterrepräsentiert sind. Wir wollen durch eineindividuelle Ansprache jeden mitnehmen und da abho-len, wo er gerade ist, indem wir Barrieren ausräumenund Übergänge erleichtern. Jeder hat eine faire Chanceverdient, auch Menschen mit Behinderung.
Durch eine noch bessere Verzahnung zwischenSchule, Ausbildung, Beruf und Hochschule können brei-tere Beschäftigungsperspektiven und attraktive Karriere-möglichkeiten geschaffen werden. Wir wollen Unterneh-men für die betriebliche Ausbildung gewinnen, vor allenDingen kleine und mittelständische Unternehmen.Bei diesen Herausforderungen behalten wir die Ganz-heitlichkeit der beruflichen Bildung und die jungenMenschen als Zielgruppe im Blick. Für mich gibt eszwei zentrale Schwerpunkte.Erstens. Die Durchlässigkeit muss weiter optimiertwerden. Hier sind wir bereits auf einem guten Weg. DasProgramm „ANKOM“ ermöglicht die Anrechnung be-ruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge. DieInitiative „DECVET“ verbessert die Durchlässigkeitzwischen den Teilsystemen der beruflichen Bildung. Wirhaben den Hochschulzugang über eine berufliche Quali-fikation erleichtert und den Meister dem Bachelorgleichgesetzt. 2014 wurden insgesamt 187 MillionenEuro in das Meister-BAföG investiert.
Daraus lassen sich erste Erfolge durch den steigendenAnteil der Erwerbstätigen mit Meister- und Technikerab-schluss erkennen.Zweiter Schwerpunkt ist für mich die Berufsorientie-rung. Wir haben heute 329 anerkannte Ausbildungsbe-rufe und 7 500 Bachelorstudiengänge. Um hier denÜberblick zu gewährleisten, haben wir zahlreiche Pro-gramme aufgesetzt, die helfen, den Einstieg zu verbes-sern: zum Beispiel das Berufsorientierungsprogramm„BOP“, das Ausbildungsstrukturprogramm „Jobstarter“oder das Sonderprogramm „BerufseinstiegsbegleitungBildungsketten“.Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese kom-plexen Maßnahmen gilt es nun zu evaluieren, zielfüh-rend zusammenzufassen und flächendeckend zu versteti-gen. Darüber hinaus fordern wir in unserem Antrag einefrühe und praxisnahe Berufs- und Studienorientierung anallen allgemeinbildenden Schulen, aber auch an denGymnasien.
Denkbar ist zum Beispiel der Einsatz von Auszubilden-den als Berufsbotschafter an Schulen; denn so findet Be-rufsberatung auf Augenhöhe statt.Der Bund steht in der Berufsbildung nicht in alleini-ger Handlungsverantwortung. Auch die Länder habendie Priorität der Querschnittsaufgabe erkannt. MeineLandtagskollegen haben beispielsweise ein Strategiepa-pier zur beruflichen Bildung erarbeitet. Hier stehen wirim intensiven Gedankenaustausch zum Thema. Der kon-struktive Dialog zwischen Bund und Ländern in der dua-len Ausbildung ist notwendig und sicher auch noch aus-baufähig.Meine Damen und Herren der Opposition, ich würdemich sehr freuen, wenn wir heute nicht nur über dengrundsätzlichen Handlungsbedarf Einigkeit erzielen,sondern wir mit Ihnen tatkräftige Mitstreiter bei der Um-setzung dieser Maßnahmen haben.
Ich lade Sie alle herzlich ein, unseren Antrag zu unter-stützen und damit die Bildungspolitik in Deutschland zu-kunftssicher zu gestalten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Willi Brase, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Aufgabe derOpposition, darauf hinzuweisen, wo etwas möglicher-weise nicht richtig klappt. Wenn ich mir aber den Haus-halt des BMBF anschaue, in dem 65 Millionen Euro fürBerufsorientierung bereitstehen, und noch die BA-Mittelin Höhe von 50 Millionen Euro hinzurechne, dann mussman feststellen, dass wir allein 115 Millionen Euro dafürausgeben, dass Jugendliche eine vernünftige Orientie-rung erhalten. Da können Sie einmal schauen, was wirhier auf den Weg bringen, sehr geehrte Damen und Her-ren.
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5614 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Willi Brase
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Ich sage das deshalb, weil bei allen Debatten letztend-lich klar sein muss, dass die Gründe, aus denen jungeLeute eine duale Ausbildung beginnen oder auch nichtbeginnen, häufig sehr unterschiedlich sind und von Re-gion zu Region variieren. Ausbildungsmärkte sind regio-nale Märkte. Und weil sie regionale Märkte sind, werdenwir dafür sorgen, dass wir mit der Ausbildungsgarantie,mit der assistierten Ausbildung und mit einigen wenigenMaßnahmen endlich dazu kommen, dass möglichst allenJugendlichen ein vernünftiges und auch tatsächlichesAngebot in den Regionen gemacht werden kann.
Wir werden auch dafür sorgen, dass dieses regionalorganisiert wird. Regionales Ausbildungsmanagementist richtig. Dort sind alle beteiligt. Es gibt das sehr guteBeispiel der Jugendberufsagentur in Hamburg, einem so-zialdemokratisch regierten Bundesland. Dieses wollenwir bundesweit in den Ländern umsetzen.
– Ich habe noch ein bisschen Zeit, keine Sorge. – Daszur Genese und dazu, wo es hier langgehen muss.Wir werden aber ebenso über Folgendes zu diskutie-ren haben: Wenn das BAföG erhöht wird, dann wollenwir auch das Meister-BAföG erhöhen. Warum? Das du-ale Ausbildungssystem als Einstieg bietet mit einemAusbildungsabschluss jederzeit die Möglichkeit, weiternach oben zu kommen. Sie können in dieser Ausbil-dungsstruktur die Aufstiegsfortbildung machen, Sie kön-nen den Meister machen – deshalb brauchen wir auchdie entsprechenden Erhöhungen –, Sie können den Fach-wirt machen, Sie können danach zur Hochschule oderzur Fachhochschule gehen. Ich sage ganz bewusst heuteAbend hier auch: Dieser Zweig ist genauso viel wert wieder schulische oder hochschulische Weg. Dafür tretenwir ein, und dafür kämpfen wir.
Wir wissen aber – es ist gut, dass die Opposition da-rauf hinweist –: Ja, es gibt ein Übergangsproblem – ei-nen Übergangsbereich; kein Übergangssystem –, dassich entwickelt hat. In diesem Bereich – auch das sagenwir leider seit Jahren; da hat Frau Hein recht – muss end-lich positiv aufgeräumt werden. Welche Maßnahmenbrauchen wir, welche nicht? Wir sind sehr dafür, dasswir die Einstiegsqualifizierung nutzen. Warum sollenjunge Leute, die manchmal – der eine mehr, die andereweniger – Zeit für die Ausbildung brauchen, nicht bis zuvier Jahre lang eine Einstiegsqualifizierung machen?Wenn wir diesen jungen Menschen den direkten Einstiegin einen Betrieb ermöglichen, damit sie danach einedrei- oder dreieinhalbjährige Ausbildung beginnen kön-nen, dann ist das der richtige Weg. Dann können wir dieAusbildungsgarantie auch erfüllen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Wir kommen jetzt zur Abstimmungüber die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung aufDrucksache 18/2856.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Annahme des Antrags derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/1451 mit dem Titel „Berufliche Bildung zukunftssichergestalten – Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungstärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! – Wer enthält sich? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPDgegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 18/1454 mit dem Titel „Das Recht auf Ausbildungumsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU,SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmender Fraktion Die Linke angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 18/1456 mit dem Titel „Berufliche Bildung si-chern – Jungen Menschen Zukunftschancen bieten“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD undder Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von Bünd-nis 90/Die Grünen bei einigen Enthaltungen aus derFraktion Die Linke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenAgnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, DorisWagner, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMehr Gerechtigkeit bei der Entschädigungvon EinsatzunfällenDrucksache 18/2874Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Die Debatte wird von der Kollegin AgnieszkaBrugger, Bündnis 90/Die Grünen, eröffnet.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5615
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte meine Rede mit der Schilderung eines Schick-sals beginnen, das auf einem wahren Fall beruht, der Ge-schichte einer Soldatin, die in ihren Einsätzen im Ko-sovo Ende der 90er-Jahre und Anfang 2000Traumatisches erlebt hat und heute unter einer schwerenPosttraumatischen Belastungsstörung leidet. Der Einsatz-unfall hat sie völlig aus dem Leben gerissen, und auf ih-rem Leidensweg fühlt sie sich alleingelassen. Anders alsein Kamerad, der 2009 in Afghanistan Ähnliches durch-gemacht hat und unter den gleichen Symptomen leidet,bekommt sie keine einmalige Entschädigungszahlung,obwohl auch sie dauerhaft arbeitsunfähig ist. Denn mo-mentan bekommen nur Menschen, die nach dem Stich-tag im Jahre 2002 in einem oder durch einen Einsatz ver-sehrt wurden und dauerhaft zu über 50 Prozenterwerbsunfähig sind, eine einmalige Unfallentschädi-gung von 150 000 Euro; Witwen und Witwer oder Kin-der von getöteten Soldatinnen und Soldaten erhalten100 000 Euro.Die Bundeswehr ist seit Anfang der 90er-Jahre an in-ternationalen Missionen beteiligt. Doch aufgrund deswillkürlich festgelegten Stichtags im Jahr 2002 erhaltenSoldatinnen und Soldaten, die unter einer Einsatzschädi-gung aus den Einsätzen beispielsweise in Kambodschaoder im ehemaligen Jugoslawien leiden, nach der derzei-tigen Regelung keine finanzielle Entschädigung. DasGleiche gilt für die Beamtinnen und Beamten, die imAuslandseinsatz waren; ich will sie an dieser Stelle ex-plizit erwähnen, weil sie oft aus dem Fokus geraten.Meine Damen und Herren, wir sprechen hier von ei-nem Betrag, der für die Betroffenen immense Symbol-kraft hat und der auch dafür steht, ob sich der Staat, dersie in einen Auslandseinsatz geschickt hat, für ihr kör-perliches und seelisches Wohl verantwortlich fühlt.
Es geht ihnen oft in erster Linie nicht um die finanzielleLeistung, sondern vor allem um Wahrnehmung und An-erkennung. Die jetzige Stichtagsregelung ist daher einenicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung von Men-schen, die bei Einsätzen der Bundeswehr körperlich und/oder psychisch schwer versehrt wurden. Das, liebe Kol-leginnen und Kollegen auch von der Koalition, kannnicht in unser aller Sinne sein.
Das Verteidigungsministerium als Dienstherr und dasParlament haben an dieser Stelle eine besondere Verant-wortung und eine Fürsorgepflicht. Denn egal wie man zubestimmten Auslandseinsätzen steht oder ob man sie,wie die Linke, gar generell ablehnt, wir alle hier habeneine Verantwortung für die Menschen, die das Parlamentmit seiner Mehrheit in einen gefährlichen Einsatz ent-sendet und die im schlimmsten Fall geschädigt zurück-kehren.Seit 2004 gab es genau drei Anläufe, die gesetzlichenRegelungen zur Entschädigung von Einsatzunfällen zuändern. Gerade das Parlament hat insbesondere in derletzten Legislaturperiode über die Fraktionsgrenzen hin-weg viele Verbesserungen durchgesetzt. Das haben wirgemeinsam, also alle hier vertretenen Fraktionen, aufden Weg gebracht, an einigen Punkten auch gegen denWiderstand aus der Regierung. Das waren sehr wichtigeÄnderungen.Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warumMenschen, die bei einem Einsatz der Bundeswehr erheb-lich geschädigt wurden, nur deshalb keine Entschädi-gung erhalten sollen, weil die Schädigung vor irgendei-nem Stichtag erfolgt ist. Das Gleiche gilt für dieHinterbliebenen von im Einsatz gestorbenen Soldatinnenund Soldaten.Wir Grüne haben die willkürliche und ungerechteStichtagsregelung schon bei den Beratungen zum Ein-satzversorgungs-Verbesserungsgesetz im Jahr 2011 kriti-siert. Nun hat auch das Ministerium das endlich erkannt,und Frau Ministerin von der Leyen hat angekündigt,dass sie im Rahmen des Artikelgesetzes zur Steigerungder Attraktivität den Stichtag auf den 1. Juli 1992 zu-rückdatieren will. Das ist zwar ein Schritt in die richtigeRichtung, und der Kreis der Betroffenen wird dadurchauch vergrößert, aber nach wie vor ist es ein willkürlichgewählter Stichtag.
Wir fragen uns schon, wo dieses Gesetz eigentlichbleibt, das ursprünglich für September angekündigt war.
Wann ist der Leidensweg der Betroffenen endlich zuEnde, sodass sie nach vorne schauen können? Denn dieewige Warterei ist für die betroffenen Menschen eineZumutung.
Wir Grüne sind der Auffassung, dass jeder Mensch,der im Auftrag der Bundeswehr im Einsatz versehrtwurde, das Recht hat, eine angemessene Entschädigungzu erhalten, Stichtag hin oder her. Ebenso sollte es keineRolle spielen, ob die betroffenen Soldatinnen und Solda-ten aktiven Dienst leisten oder Reservistinnen und Re-servisten sind. Genau das fordern wir heute mit unseremAntrag: Die uneingeschränkte Fürsorgepflicht desDienstherrn, sie muss unabhängig von Stichtag und Sta-tus sein.
Frau Kollegin Brugger, denken Sie an die Zeit?
Ich komme gleich zum Schluss. – Das Leid des einensollte nicht mehr wiegen als das Leid der anderen. Des-halb hoffen wir, meine Damen und Herren von der Ko-alition, dass Sie diese Idee nicht einfach vom Tisch wi-schen, nur weil sie von der Opposition kommt. Wirladen Sie ein: Lassen Sie uns diese Ungerechtigkeit ge-meinsam beseitigen! Wir bieten Ihnen gerne an, aus un-
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5616 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Agnieszka Brugger
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serem Antrag eine interfraktionelle Initiative zu machen;denn das sind wir den Angehörigen der ParlamentsarmeeBundeswehr schuldig.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Robert
Hochbaum, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee,
und sie ist eine Parlamentsarmee im Einsatz. Das ist die
Realität, und dessen müssen wir uns als Parlamentarier
jeden Tag bewusst sein.
Jeden Tag, an dem wir hier in Deutschland aufstehen,
ist ein Soldat in Afghanistan, am Horn von Afrika oder
anderswo an Land, in der Luft oder auf See im Dienst
und dient unter erheblichem persönlichem Einsatz unse-
rem Land. Aktuell sind das fast 4 000 von ihnen, fernab
ihrer Heimat.
Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen unseren
tiefsten Respekt und ein Höchstmaß an Unterstützung.
Ihr Mut, ihr Einsatz und ihre Stärke können nicht hoch
genug bewertet werden. Darum möchte ich es nicht ver-
säumen – das kann von dieser Stelle aus gar nicht oft ge-
nug getan werden –, ihnen für ihren aufopferungsvollen
Einsatz für ihr Land zu danken.
Ein jeder von ihnen trägt seinen Teil dazu bei, die je-
weilige Mission zu erfüllen, eine Mission, in die wir sie
entsandt haben. Es ist daher unsere Pflicht und unsere
Verantwortung zugleich, unsere Soldatinnen und Solda-
ten unentwegt und nachdrücklich in ihren Aufgaben zu
unterstützen.
Wie viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
habe ich in den letzten Jahren im Rahmen von zahlrei-
chen Besuchen bei der Truppe in den Einsatzgebieten
sehr konkret die erheblichen Gefahren, denen unsere
Soldatinnen und Soldaten ausgesetzt sind, vor Augen ge-
führt bekommen. Fast jeder von Ihnen wird mir bei-
pflichten: Darunter waren unzählige Gespräche und Si-
tuationen, die man so schnell nicht vergessen wird.
Wir alle denken sicherlich noch an das Sprengstoffat-
tentat von Kabul im Juni 2013, bei dem durch einen Au-
tobombenanschlag auf einen ISAF-Bus vier Bundes-
wehrsoldaten getötet wurden. Ebenso erinnern Sie sich
sicherlich an den Hubschrauberabsturz in Kabul im De-
zember 2012, bei dem sieben Bundeswehrsoldaten und
viele afghanische Zivilisten ums Leben kamen. Natür-
lich denken wir auch an viele weitere schreckliche Vor-
kommnisse und deren Folgen.
Für mich erwächst daraus ein konkreter Auftrag für
uns alle, nämlich der Auftrag, sich auch mit den negati-
ven Folgen der Einsätze und der Hilfe für die Einsatzge-
schädigten der Bundeswehr auseinanderzusetzen. Dazu
gehört neben der entsprechenden Versorgung und der
Bereitstellung von Einsatzmaterial eben auch die Für-
sorge gegenüber denjenigen, die an Körper und Seele
verwundet aus dem Einsatz zurückkehren.
Aus diesem Grund haben wir uns als CDU/CSU mit
verschiedenen Koalitionspartnern dieser Thematik be-
reits sehr früh angenommen, vor allem, nachdem wir
festgestellt hatten – Frau Brugger, Sie haben das ange-
sprochen –, dass das auch von Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Grünen, im Jahr 2004 ins Leben geru-
fene Einsatzversorgungsgesetz bei weitem nicht aus-
reicht. Deshalb beschlossen wir im Jahr 2011 das Ein-
satzversorgungs-Verbesserungsgesetz und im Jahr 2012
das Bundeswehrreform-Begleitgesetz. Man sieht also:
Es wäre besser gewesen, wenn Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, sich schon damals mehr
Gedanken über die Gesetzgebung gemacht hätten. Dann
wären die von uns aufgelegten Verbesserungen und auch
die heutige Debatte nicht erforderlich gewesen.
Wenn man sich den heute vorliegenden Antrag genau
anschaut, meint man, Sie hätten in den letzten Tagen
sehr aufmerksam Zeitung gelesen – Sie haben das ange-
sprochen – und aus den Zeitungen bzw. bei uns abge-
schrieben. Natürlich haben auch Sie inzwischen mitbe-
kommen, dass unsere Ministerin mit einem neuen
Artikelgesetz – auch das wurde schon angesprochen –
demnächst weitere Verbesserungen plant.
Es scheint, Sie wollten wieder einmal auf den fahrenden
Zug aufspringen, wie so oft; doch Sie springen, wie so
oft, zu kurz. Die Regierung handelt bereits. Verbesserun-
gen sind auf dem Weg. Eines können Sie mir mit Sicher-
heit glauben: Die Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
wehr werden in der Zukunft ebenso wie in der
Vergangenheit bei der Großen Koalition in guten Hän-
den sein.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt Dr. Alexander Neu.
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte FrauPräsidentin! Die Regelung einer einmaligen Unfallent-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5617
Dr. Alexander S. Neu
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schädigung für Soldatinnen und Soldaten ist zu begrü-ßen. Das unterstützen auch die Linken.
Die Linke versteht und akzeptiert aber die Stichtagsrege-lung nicht. Als Stichtag ist der 30. November 2002 vor-gesehen. Es handelt sich hierbei um eine Zweiklassenre-gelung – Frau Brugger hat das gewissermaßen genausobewertet –, die für die Geschädigten, die vor dem30. November 2002 eine Verletzung erlitten haben, wieHohn klingen muss.
Sind Ihnen diese Menschen weniger wert? Ist Ihnen de-ren Leistung weniger wert als die Leistung derjenigen,die nach dem 30. November 2002 eine Verletzung erlit-ten haben? Diese Fragen müssen Sie sich gefallen las-sen. Die Stichtagsregelung zeugt von einem gewissenVerständnis der politischen Entscheider in Bezug aufMenschen, nämlich von einem instrumentellen Ver-ständnis, und das lehnen wir ab.
Wenn die Bundesregierung in ihren verschiedenenKonstellationen seit den 90er-Jahren meint, die Bundes-wehr in die Welt schicken zu müssen, um internationalVerantwortung zu übernehmen, dann muss sie auch dievolle Verantwortung für die Soldatinnen und Soldatenübernehmen und darf sich nicht mit einer selektiven Ver-antwortung in Form von Stichtagsregelungen begnügen.
Abgesehen davon werden wir nicht müde, festzustel-len, dass die Übernahme globaler Verantwortung nichtmit militärischen Mitteln zu realisieren ist.
Mit militärischen Mitteln kann man keine Konflikte lö-sen, sondern maximal einen Frozen Conflict erzeugen.Die Übernahme globaler Verantwortung mit zivilen Mit-teln ist kostengünstiger, die Übernahme globaler Verant-wortung mit zivilen Instrumenten ist effektiver, und dieÜbernahme globaler Verantwortung mit zivilen Instru-menten ist nachhaltiger, da ursachenorientiert.
Nun zu den Grünen. Der Antrag mag ja gut gemeintsein, Frau Brugger, aber er ist letztlich schwachbrüstigund schlapp. Etwas bellen, aber dann nicht beißen – dasist das, was ich daraus lese. Mit Ihrem Antrag springenSie in zweifacher Hinsicht zu kurz:Erstens. Sie fordern eine Prüfung. Die Linke fordertkeine Prüfung, sondern sie fordert ein klares Ende derStichtagsregelung.
Der zweite Punkt, den ich moniere: Es kann dochnicht nur darum gehen, Soldatinnen und Soldaten einzu-beziehen. Es muss auch um zivile Kräfte gehen, die inAuslandsmissionen, in UN-Missionen, OSZE-Missionenund EU-Missionen, eingesetzt werden. Auch hier müs-sen Momente der sozialen Absicherung bei Unfällen undFolgen von gewaltsamer Einwirkung gefunden werden.Im Mai dieses Jahres kam es bei einem Selbstmordat-tentat im ostafrikanischen Dschibuti zu Verletzungenvon drei deutschen Experten im Rahmen der MissionEUCAP Nestor. Das Auswärtige Amt, die EuropäischeUnion und EUCAP Nestor haben sich gewissermaßenspontan und ohne große Hürden auf eine Finanzierungfür die drei verletzten Deutschen geeinigt. Aber einekonkrete Regelung zur Absicherung fehlt immer noch.Sie muss her. Das wäre die sinnvolle Ergänzung zum mi-litärischen Bereich.
Mehr noch. Eine umfassende Regelung im Hinblickauf soziale Absicherung umfasst drei Aspekte: eine Ren-tenabsicherung, eine Absicherung bei Berufsunfähigkeitund eine Absicherung bei Arbeitslosigkeit nach Beendi-gung der Mission. Um eine effektive zivile Außenpolitikmit ausreichend qualifiziertem und schnell verfügbaremPersonal unterfüttern zu können, sind diese Schritte un-ausweichlich. Nur dann kommt die Bundesregierung ih-rer Fürsorgepflicht umfassend nach.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Karl-Heinz
Brunner, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnenund Kollegen! In diesen Tagen bereiten sich viele Frei-willige auf ihren Einsatz in Westafrika vor. Sie sind ei-nem Aufruf gefolgt, bei der Bewältigung der schlimms-ten Katastrophe, die die Menschen erreichen kann,nämlich der Ebolaepidemie, zu helfen, das zu tun, wasgetan werden muss, Erkrankte medizinisch zu versorgen,Aufklärung zu betreiben, Sterbende zu begleiten und Fa-milien und Angehörigen Beistand zu leisten. Dass sichüber 2 000 Soldatinnen und Soldaten gemeldet habenund helfen wollen, zeigt, was für eine Truppe wir haben.Darauf, so meine ich, können wir stolz sein, nein, dafürmüssen wir dankbar sein. Deshalb von mir und sicher-lich auch im Namen des gesamten Hauses unseren Re-spekt, unsere Anerkennung und unseren aufrichtigenDank für Ihr Engagement, liebe Soldatinnen und Solda-ten.
Mit Dank ist es aber nicht getan. Denn so, wie dieseFrauen und Männer unter Einsatz ihrer Gesundheit, ihresLebens für uns und für die Erkrankten ohne zu fragenVerantwortung übernehmen, so ist es unsere verdammte
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5618 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Karl-Heinz Brunner
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Pflicht, diese Verantwortung auch ihnen gegenüber zuübernehmen. Daher ist es gut, dass mit dem heutigenPrüf- und Berichtsauftrag der Grünen an die Bundesre-gierung zur Entschädigung der Soldatinnen und Soldaten,aber ebenso der Zivilbeschäftigten in der Bundeswehrdiese Verantwortung wieder in den Fokus genommenwird.Jedoch, so glaube ich, geht es eben nicht nur darum,Soldatinnen und Soldaten, Reservistinnen und Reservis-ten und Zivilbeschäftigte gleich zu behandeln und Ge-rechtigkeit herzustellen, wie es im Antrag steht. Nein, esgeht auch darum, ein Signal zu setzen, das Signal: Wirsind für euch und eure Familien da, genauso, im gleichenMaße, wie ihr für Deutschland da seid; nicht nur den Rü-cken freihalten, ganz einfach da sein.Genau deswegen haben wir das sogenannte Wehr-dienstbeschädigungsverfahren bei Einmalentschädigun-gen schon vereinfacht. Genau deswegen haben wir inden letzten Haushaltsberatungen eine neue Stichtagsre-gelung eingefordert, die vorsieht, dass auch Einsatzun-fälle von vor 2002, etwa bei den Einsätzen im ehemali-gen Jugoslawien, dazu zählen. Genau deshalb wird es alsAttraktivitätssteigerung der Bundeswehr in dem Artikel-gesetz stehen, das zur Vorlage kommen wird.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich spreche aus derErfahrung im Stiftungsrat der Härtefallstiftung. Haupthin-dernis für eine schnelle und gute Gewährung von Hilfeund Versorgungsleistungen für Menschen bei der Bun-deswehr ist fast nie der Unwille. Es ist auch selten diestrenge Auslegung der Gesetzeslage, und es ist seltenfehlendes Geld. Haupthindernisse sind fehlendes Perso-nal, die lange Bearbeitungsdauer und manchmal man-gelnde Sensibilität. Deswegen haben wir bei der Härte-fallstiftung übrigens auch zugehört und zusätzlicheStellen geschaffen.
Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich Ihnen sage: Es gehtnicht um die Höhe der Entschädigung, sondern es gehtdarum, ernst genommen zu werden und Anerkennung zuerhalten. Diese wollen, ja müssen wir den Soldatinnenund Soldaten geben. Verantwortung heißt mehr, als juris-tisch richtig zu liegen; Verantwortung heißt letztendlich,das Richtige zu tun. Konkret, meine Kolleginnen undKollegen, heißt dies, durch vernünftige Entschädigungs-regeln, unbürokratische Bearbeitung und vielleicht – un-sere Ebolahelfer hätten es verdient – eine eigens hierfürzu schaffende Auszeichnung unseren Respekt zu zeigen.
All dies gehört dazu, wenn wir die Attraktivität unse-rer Bundeswehr steigern wollen. Ich sage: Dies ist beider Ministerin, die wir Sozialdemokraten dabei gerneunterstützen, und bei uns, bei der SPD, gut aufgehoben.Wir tragen als Mitglieder des Bundestages und als Bür-ger unseres Landes eine große Verantwortung, nicht nurgegenüber der Welt, sondern auch zu Hause. Ich freuemich auf die Beratungen. Ich glaube, dass wir gemein-sam zu guten Ergebnissen kommen, dieser Verantwor-tung gerecht zu werden.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Julia Bartz,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am 24. September eröffnete unser Bundes-tagspräsident Norbert Lammert die Ausstellung „Opera-tion Heimkehr“. Im Paul-Löbe-Haus sind immer nochdie Fotoaufnahmen von Soldatinnen und Soldaten zu se-hen, die von Auslandseinsätzen zurückgekehrt sind. Hie-raus zitiere ich Hauptfeldwebel Holger Roßmeier, dertraumatisiert aus Afghanistan zurückkam:Früher war ich jemand, der immer alles hinbekom-men hat, einer, auf den man sich hundertprozentigverlassen konnte. Und plötzlich schaffte ich es nichteinmal mehr, morgens aufzustehen. Ich wollte abernicht als Weichei dastehen. Deshalb habe ich jedeTherapie zunächst abgelehnt.Wir alle wissen: Auslandseinsätze können trauma-tisch sein. Die Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrückehaben häufig langfristige Folgen, die teilweise erst spä-ter zutage treten. Es sind oft kurze Momente, die sichtief in die Seele einbrennen. Als Entscheider über Aus-landseinsätze hat der Deutsche Bundestag eine beson-dere Verantwortung gegenüber denjenigen Soldatinnenund Soldaten, die mit einer Einsatzschädigung nachHause zurückkehren.In Afghanistan haben wir schmerzhafte Erfahrungenmachen müssen, aus denen wir aber die richtigen Konse-quenzen gezogen haben: Posttraumatische Belastungs-störungen wurden als Einsatzschädigung anerkannt, unddie medizinische Behandlung wurde ausgebaut. Wir ha-ben aus den Einsatzerfahrungen am Hindukusch gelerntund die Versorgung unserer Soldatinnen und Soldatenentsprechend angepasst:2004 wurden mit dem Einsatzversorgungsgesetz dieVersorgungsleistungen für Soldaten im Auslandseinsatzverbessert. Damals wurde auch der Stichtag 1. Dezem-ber 2002 festgeschrieben.Mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz von 2007haben Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigte,die während eines Auslandseinsatzes schwer verwundetwurden, ein Anrecht auf Weiterbeschäftigung bekom-men.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5619
Julia Bartz
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Mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetzvon 2011 haben wir die Versorgung von Einsatzge-schädigten und Hinterbliebenen weiter verbessert. DieEntschädigungsleistung für Betroffene haben wir von80 000 Euro auf 150 000 Euro fast verdoppelt.
Auslandseinsätze der Bundeswehr sind mit einem Ri-siko für unsere Soldatinnen und Soldaten behaftet. Wirsichern ihnen deshalb die bestmögliche Ausstattung unddie bestmögliche Versorgung zu. Dies gilt erst recht fürVerwundete. Viel Positives wurde in den vergangenenJahren in diesem Bereich umgesetzt, und wir haben vielin die Sicherheit und Versorgung unserer Soldatinnenund Soldaten investiert.An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich auch dieArbeit der katholischen und evangelischen Militärseel-sorger hervorheben. Sie kümmern sich sowohl im Ein-satzgebiet als auch in den Heimatgebieten um unsereTruppe, die Rückkehrer und die Familien. Als morali-scher Anker für unsere Soldatinnen und Soldaten leistensie einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der Auslands-einsätze.
Auch die Psychosozialen Netzwerke und Familien-zentren sind eine wichtige Anlaufstelle für Einsatzrück-kehrer und deren Angehörige.
Frau Kollegin Bartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Brugger?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank, Frau
Kollegin Bartz. – Ich höre den Reden sehr aufmerksam
zu, Ihrer Rede, Frau Bartz, und auch der von Herrn
Hochbaum. Ich habe von der Union jetzt aber noch nicht
vernommen, ob Sie uns zustimmen und das Anliegen
unterstützen, den Stichtag einfach aufzuheben und damit
alle geschädigten Soldatinnen und Soldaten gleich zu be-
handeln. Oder finden Sie, dass mit der Rückdatierung
des Stichtages, der dann am Ende immer noch willkür-
lich gewählt ist, die Arbeit getan ist? Ich möchte wirk-
lich gerne hören, wie sich die Union zu diesem Vor-
schlag konkret positioniert.
Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment. Darauf
werde ich im weiteren Verlauf meiner Rede noch einge-
hen.
Wir setzen uns weiterhin für die Verbesserung der
Versorgung von Einsatzgeschädigten ein. Erst gestern
haben wir im Verteidigungsausschuss zwei entspre-
chende Anträge eingebracht. Wir wollen die Familien
von PTBS-Betroffenen bei der Betreuung und Therapie
noch stärker einbinden und die Lotsen besser ausstatten.
Auch Ihr Antrag, liebe Kollegin Brugger, spricht ein
wichtiges Anliegen an: die Entschädigung bei Einsatz-
unfällen. Nach der derzeitigen Rechtslage gelten die Re-
gelungen für einmalige Einsatzentschädigungen erst für
Unfälle ab dem 30. November 2002. Nun war bekannter-
maßen die Bundeswehr auch vor dem Afghanistan-Ein-
satz bereits an Auslandseinsätzen beteiligt. Wir wollen
diese Gerechtigkeitslücke jetzt schließen.
Wie Sie sicherlich wissen, haben wir das Problem be-
reits erkannt und werden es im Zuge des Bundeswehrat-
traktivitätsgesetzes lösen. Ihr Antrag ist somit eigentlich
hinfällig, da er bereits auf Regierungshandeln trifft.
Geplant sind die Einbringung des Gesetzes noch in die-
sem Jahr und eine zügige Umsetzung im ersten Quartal
2015.
Wir Parlamentarier – insbesondere spreche ich hier
für die CDU/CSU-Fraktion – stehen auch hier ganz klar
an der Seite unserer Bundeswehr. Wir lassen unseren
Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausrüstung
und größtmögliche Unterstützung zukommen. Wir sind
stolz auf unsere Soldatinnen und Soldaten und zutiefst
dankbar für ihren Einsatz.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/2874 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes zur Änderung des Bun-desfernstraßenmautgesetzesDrucksachen 18/2444, 18/2657Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr und digitale Infrastruk-tur
Drucksache 18/2857
Drucksache 18/2858
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5620 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur zu dem Antrag derAbgeordneten Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn
, Oliver Krischer, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENLkw-Maut nachhaltig und ökologisch aus-richtenDrucksachen 18/1620, 18/2857Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Sind Sie damiteinverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann istso beschlossen.Das Wort hat der Kollege Florian Oßner, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor allem liebe Kolleginnen der Grünen! Be-züglich Ihres Antrages: Sie werden einfach nicht müde,
die gleichen ideologischen und populistischen Phrasenimmer und immer wieder vorzutragen. Aber auch stän-dige Wiederholungen machen falsche Hypothesen nichtwahr.
Phasenweise sind auch eklatante Widersprüche in Ih-rem Antrag auszumachen. So wird zum Beispiel vor ei-ner Differenzierung bei den Mautgebühren zwischenAutobahnen und Bundesstraßen gewarnt; denn manwolle die ländlich geprägten Regionen nicht weiter be-lasten. Für mich als Bayer ist das von ganz besondererBedeutung. Das wäre definitiv ein richtiger Ansatz,wenn nicht zwei Sätze davor verlangt würde, dass derDruck zur Verlagerung auf Schiene und Schiff erhöhtwerden solle, sprich: Die Mautgebühren für Straßen sol-len signifikant angehoben werden.
Gerade das bedeutet eine Mehrbelastung des ländlichenRaums. Das ist aus meiner Sicht an Widersprüchlichkeitwirklich nicht zu überbieten. Das ist mit uns nicht zumachen.
Zudem ist es nicht zielführend, dass ständig Schieneund Straße gegeneinander ausgespielt werden nach demMotto: Die Schiene ist gut, und die Straße ist böse.
Derartiges Schubladendenken der Grünen hat in einervernünftigen und gesamtheitlichen Verkehrspolitik wirk-lich nichts zu suchen. Wir sagen deshalb: Die Schiene istgut, und die Straße ist gut.
Fakt ist auch, dass der Antrag der Grünen teilweisenur das wiederholt, was wir bereits umgesetzt habenoder was wir in Kürze umsetzen werden.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderungdes Bundesfernstraßenmautgesetzes entwickeln wir dieLkw-Maut zukunftsfest und vor allem ökologisch sowienachhaltig weiter. Wir reformieren die Lkw-Maut imEinklang mit dem europäischen Recht. Wir werden demSchwerlastverkehr die durch ihn verursachte Luftver-schmutzung anrechnen.
Zu einem späteren Zeitpunkt wird auch die Anrechnungder Lärmbelastung dazukommen. Hierfür müssen jedochnoch die Grundlagendaten neu erhoben werden.
Durch die Einführung einer eigenen, günstigen Maut-klasse – der Euro-6-Norm – schaffen wir Anreize, in ei-nen modernen, verbrauchs- und schadstoffarmen Fuhr-park zu investieren. Liebe Grüne, das ist bereitsnachhaltige und ökologische Verkehrspolitik,
und nicht nur das: Es ist auch verantwortungsvolleWirtschaftspolitik. Dafür stehen wir als CSU.
– Natürlich auch die CDU.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5621
Florian Oßner
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Zudem werden wir als Union da, wo es sinnvoll ist,die Verlagerung von Verkehr auf die Schiene fördern.Wir wissen, dass die Bahn eines der umweltfreundlichs-ten Verkehrsmittel ist.
– Nur die Ruhe! – Wir wissen aber auch – das darf manin dieser Diskussion nicht vergessen –, dass mit derSchiene nicht alle Probleme gelöst werden können. Sieergibt bei längeren Strecken und größeren GütermengenSinn. Es bringt somit nichts, den Lkw aus ideologischenGründen zu verteufeln.
Wir sind uns aber auch darüber im Klaren, dass der Lkwseinen Beitrag zur Nutzerfinanzierung leisten muss. DieEinnahmen der Lkw-Maut sind zweckgebunden für un-sere Verkehrswege.
Das neue Wegekostengutachten erzwingt Mindereinnah-men von 460 Millionen Euro von 2015 bis 2017. Wirpassen deshalb die Verkehrspolitik immer wieder anneue Gegebenheiten an. So wird zum 1. Juli 2015 dieLkw-Maut auf weitere rund 1 100 Kilometer vierspurigeBundesstraßen ausgeweitet. Des Weiteren werden wirdie Mautpflichtgrenze von 12 Tonnen auf 7,5 Tonnenabsenken. Damit wollen wir die Nutzerfinanzierung wei-ter ausbauen und stärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, esherrscht parteiübergreifend Konsens in diesem Haus,dass es eine der großen Aufgaben in dieser Legislatur-periode sein wird, eine leistungsfähige Infrastruktur inunserem Land sicherzustellen.
Wir als Verkehrspolitiker der CDU/CSU sind uns mitden Koalitionspartnern dieser besonderen Verantwor-tung auch in der Vergangenheit immer bewusst gewesen.
Deshalb haben wir bereits in der letzten Legislatur-periode mit unserem damaligen BundesverkehrsministerDr. Peter Ramsauer und jetzt mit unserem Bundesver-kehrsminister Alexander Dobrindt große Anstrengungenunternommen, um zusätzliche Mittel für eine moderne,sichere und leistungsstarke Verkehrsinfrastruktur zu ge-nerieren,
unter Anwendung des Prinzips des Finanzierungskreis-laufs. Auch die nachhaltige und ökologische Ausrich-tung der Lkw-Maut
haben wir dabei fest im Griff. Daher würde ich mir stattvermeintlich guter Ratschläge und populistischer An-schuldigungen der Grünen in dieser Thematik einfachein Stück weit mehr Pragmatismus statt Ideologie wün-schen.
Herr Kollege, Sie denken an die Zeit!
Ich bin beinah am Ende. – Aus den genannten Grün-
den werden wir daher dem Antrag der Grünen nicht zu-
stimmen. Ich werbe für den Antrag der Koalitionsfrak-
tionen.
Ein herzliches Vergelts Gott fürs Zuhören.
Vielen Dank, Herr Kollege Oßner. – Nächster Redner
ist der Kollege Thomas Lutze, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Da muss man ja schon fast ein schlechtes Gewissen ha-ben, wenn man jetzt nach dem Schluss Ihrer Rede hieram Pult steht.Aber zur Sache: Eine Lkw-Maut muss so angelegtsein, dass sie einen wirksamen Beitrag zur Finanzierungdes Straßenverkehrs leistet.
Deswegen war es richtig, dass sie 2005 eingeführtwurde. Richtig ist auch, dass nach zehn Jahren eine wei-tere Reform kommt. Aber die Vorlage der Regierung– es tut mir leid; auch Ihre Rede konnte mich insofernnicht überzeugen – ist völlig unzureichend und geht invielen Punkten am Thema vorbei.
Statt zum Beispiel weiter mit irgendwelchen dünnenPublic-Private-Partnership-Finanzierungen zu arbeiten,sollte in der Verkehrspolitik endlich ein echtes Verursa-cherprinzip Einzug halten. Wussten Sie eigentlich, dassdie Belastung durch einen beladenen 40-Tonner für Stra-
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5622 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Thomas Lutze
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ßen und Brücken rund 60 000 Mal höher ist als durch ei-nen 1 Tonne schweren Pkw? Im Schnitt kommen aufAutobahnen zurzeit rund 20 Pkw auf einen Lkw.Wie sieht die Realität aus? Trotz der Maut ist es fürviele große Spediteure offenbar billiger, mit Lkw vomMittelmeer über die Autobahn an die Nordsee zu fahren,statt die Bahn oder ein Schiff zu benutzen. Wir brauchenaber eine Maut, die sich an den tatsächlichen Kosten desFernverkehrs auf der Straße orientiert.
Eine neue Maut sollte für unsere Begriffe auch end-lich Anreize schaffen. Sie haben es angedeutet, aller-dings in die Zukunft verschoben. Aber für einen Spedi-teur muss es lohnenswert sein, wenn seine Lkw-Flotteweniger Abgase produziert. Es muss für einen Lkw-Spe-diteur lohnenswert sein, wenn seine Lkw weniger Lärmproduzieren. Dazu machen die Grünen vernünftige Vor-schläge, denen wir als Linke zustimmen.
Letztendlich muss eine Lkw-Maut so angelegt sein,dass der Gütertransport im Fernverkehr auf der Straßenicht die Regel ist, wie es derzeit der Fall ist, sonderneine Ausnahme darstellt.
Lösen Sie sich endlich von der einflussreichen Lobby ei-niger weniger Großkonzerne im Speditionsbereich!Wenn Sie Brücken und Straßen reparieren wollen, dannbrauchen Sie viel Geld.
Statt aufwendig zu überlegen, wie Sie mit einer Pkw-Maut Millionen Berufspendlerinnen und Berufspendlerabzocken können, müssen Sie verursachergerecht be-steuern. Dann haben vielleicht auch regionale Produktewieder eine Chance auf dem Markt.
Es kann doch nicht sein, dass nach wie vor Äpfel ausNordafrika billiger sind als Äpfel aus dem eigenen Bun-desland.Wir als Linke lehnen den Vorstoß der Regierung abund sagen Ja zu der Gesetzesinitiative der Grünen.Vielen Dank.
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Sebastian Hartmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kein Donnerstagabend ohne Lkw-Maut. Es ist wieder soweit, und auch das Stichwort Pkw-Maut darf nicht feh-len. Es wird ebenso wie die Frage der ausreichendenEinnahmen regelmäßig angesprochen.Aber was beraten wir heute tatsächlich? Wir wollenheute die Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzesbeschließen. Darauf möchte ich mich in meinen Ausfüh-rungen konzentrieren.
– Die CSU ist begeistert. Danke, Herr Kollege. Wir kön-nen uns auch an der Sachpolitik und an den Realitätenorientieren, statt allgemeine Ausführungen zu machen,die heute Abend gar nicht zur Diskussion stehen.Hinter uns liegen gute Beratungen. Wir haben einespannende Anhörung von Expertinnen und Expertendurchgeführt, und wir haben damit einen wichtigen Bei-trag zur Weiterentwicklung der Maut geleistet.Tatsächlich erhebt Deutschland einen Beitrag vonschweren Lkw. Dieser orientiert sich nicht an irgend-etwas, sondern an der Berechnung eines wissenschaftli-chen Wegekostengutachtens. Das wird nicht einfach imRaum stehen gelassen – das reicht nicht aus –, sondernwir werten es auch politisch. Damit kann sich das Ge-werbe auf eine verlässliche und berechenbare Umset-zung dieser entsprechenden Erkenntnisse verlassen. Da-rauf hat das Gewerbe einen Anspruch, und daraufmüssen wir im Interesse unseres Landes auch dringendachten.Daher fällt die Senkung der Mautsätze nicht vomHimmel, sondern sie ist das Ergebnis dieser Systematik.Wir orientieren uns an den tatsächlichen Wegekostenbzw. daran, was wissenschaftlich ermittelt worden ist,aber wir übernehmen es nicht unpolitisch. Denn wir ha-ben darauf geachtet, dass wir bei den Bundesstraßen undBundesautobahnen nicht willkürlich entscheiden, son-dern auch beachten, was das für Auswirkungen habenkann. Denn wir wollen nicht, dass entlegene Regioneneinfach abgehängt werden und damit Erreichbarkeitsde-fizite noch weiter verschärft werden. Darauf können sichalle verlassen.
Wir werden uns aber an einigen Stellen dem zugrundeliegenden EU-Richtlinienregime zuwenden müssen. Tat-sächlich ist es ein Problem, wenn wir uns aufgrund derniedrigen Kapitalverzinsung bzw. der niedrigen Zinsendaran orientieren müssen, das hier gebundene Kapitalabzubilden. Ironie der Geschichte ist, dass sich die Ver-kehrsmenge, die für die Einnahmen ursächlich seinmuss, nicht wesentlich verändert hat. Auch das Gegen-argument, dass wir niedrigere Baukosten bei der Wieder-herstellung verschlissener Straßen zu verzeichnen haben,reicht nicht aus, um die Abbildung dieses Effekts zurechtfertigen. Das ist einer der Punkte, an dem wir dieMaut zukünftig dringend weiterentwickeln müssen.Zunehmender Verkehr bedeutet zunehmenden Ver-schleiß. Doch das ist ein klassischer Zielkonflikt. Denn
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5623
Sebastian Hartmann
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jede Maut hat zwei Ziele: Auf der einen Seite wollen wirdauerhaft verlässliche Einnahmen erzielen, um unsereInfrastruktur auf gutem, europaweit hohem Niveau zuerhalten. Auf der anderen Seite entfaltet jede Maut eineökologische, ökonomische und möglicherweise aucheine soziale Lenkungswirkung. Das sind Zielkonflikte.Die Ziele stehen miteinander in Konkurrenz. Wenn wirzu erfolgreich sind, weil sich die ökologische Lenkungs-wirkung entfaltet, weil beispielsweise die Spediteureganz bewusst in umweltfreundlichere Lkw investieren,die weniger Luftbelastung und Lärmbelastung verursa-chen, und ihre Flotten so umstellen, dass Umwelt undAnwohner geschont werden, dann erzielen wir automa-tisch weniger Einnahmen. Wir sind dann Opfer des eige-nen Erfolgs und befinden uns in einem klassischen Ziel-konflikt, weil wir darauf angewiesen sind, dauerhafthohe Investitionen, zu denen die Einnahmen aus derLkw-Maut neben der Steuerfinanzierung zu einem Drit-tel beitragen, in die deutsche Infrastruktur zu tätigen.
– Der Donnerstagabend dient dazu, einiges aufzuklären,auch wenn es zuvor hoch herging. Da kann man sichdann in Nordrhein-Westfalen auf pragmatische Art demnähern, was der Kollege Oßner aus Bayern so schön ein-geleitet hat.
Tatsächlich verbleiben 460 Millionen Euro wenigeran Einnahmen. Das liegt aber nur daran, dass wir uns aufden Weg gemacht haben, die Maut entsprechend weiter-zuentwickeln. Bei uns ist das nicht nur Theorie. Wir las-ten die externen Kosten tatsächlich an. Wir kümmernuns um die Luftschadstoffbelastungen. Auch hier mussdie EU-Richtlinie dringend weiterentwickelt werden.Wir können bislang nur 13 Prozent anlasten. Wir werdenuns zukünftig auch um den Aspekt Lärm kümmern.Doch hier ist die EU-Richtlinie so kompliziert aufge-stellt, dass wir zuerst ein Lärmkataster erstellen müssen.Da das einen enormen Kostenaufwand erforderlichmacht, müssen wir uns fragen, ob das nicht einfacherund günstiger geht.Tatsächlich werden wir zwei wesentliche Schritte ge-hen, indem wir im nächsten Jahr die Maut vertiefen undverbreitern werden. Wir werden mehr Tonnage und vier-streifige Bundesstraßen in die Bemautung einbeziehen.Das wird im Gegensatz zu den Schritten, die wir nun ge-hen, eine wirkliche Ausweitung bedeuten. Auch hierwerden wir als Koalition nicht innehalten. Tatsächlichsind weitere 30 000 Kilometer Bundesstraße fest einge-plant. Wir werden das so ausgestalten, dass es rechts-sicher und verlässlich ist. Wir werden alles tun, um 2018wiederum einen höheren Beitrag zur Finanzierung derdeutschen Infrastruktur zu erreichen.
Das ist kein Selbstzweck. Wir brauchen dauerhaft hoheInvestitionen in unsere Infrastruktur. Wir werden das aufeinem Weg machen, der sich an den tatsächlichen Gege-benheiten orientiert und nicht nur an Theorie und gut-achterlichen Erkenntnissen, die in der EU-Richtlinienicht abgebildet sind. Das ist etwas, wozu ich ernsthafteinlade.Die Linke hat für heute Abend angekündigt – deshalbmusste dieser Punkt aufgerufen werden –, einen weite-ren wesentlichen Aspekt in die Debatte einzubringen.Sehr geehrter Kollege von der Linken, Ihre Rede istzwar beendet, aber diesen wesentlichen Aspekt habe ichnicht erkennen können.
– Dann sind wir schon mehrere. – Vielleicht liegt es da-ran, dass Sie keine Zeit hatten, diesen Aspekt einzubrin-gen. Wir laden Sie zu Folgendem ein: Wenn Sie denGrünen zustimmen und ihren Weg mitgehen, dann müs-sen Sie den Weg der Großen Koalition – sie ist auf einemsehr guten Weg, was die Fortentwicklung der Lkw-Mautangeht – auch mitgehen. Denn der umfasst einigePunkte, den die Grünen benannt haben. Daher gehe ichnach Ihrem Beitrag von Ihrer Zustimmung zur Änderungdes Bundesfernstraßenmautgesetzes aus.Vielen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Dr. Valerie Wilms.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Das war ein sehr engagierter Beitrag von Ihnen, KollegeOßner. Normalerweise bin ich ja für diese Einlagen beiunseren Donnerstagabendsitzungen immer zuständig.Aber es wäre auch noch ganz gut gewesen, wenn nichtnur so eine Klamauknummer dabei herausgekommenwäre, sondern wenn auch noch ein bisschen Inhalt ge-kommen wäre.
Aber jetzt zu dem Gesetzentwurf, über den wir heutereden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist wirklich einbesonderer Fall; denn hier gilt das Struck’sche Gesetznicht. Dieses Gesetz wird ohne jede Änderung verab-schiedet. Weder Bundesrat noch Bundestag haben etwasbeanstandet. Das kennen wir sonst überhaupt nicht. DasGesetz wird so durchgewunken, wie es von der Bundes-regierung geschrieben wurde. Als Begründung verste-cken sich die Befürworter nämlich hinter einer EU-Richtlinie.Gleichzeitig hadern wir aber alle mit dem Ergebnis,das dabei herauskommt; denn die Lkw-Maut wird sin-ken. Wir haben also weniger Einnahmen. Was passiertdraußen, in der Praxis? Die Infrastruktur bricht uns im-mer mehr zusammen, sie bröselt weg. Nicht einmalSpediteure können sich richtig freuen; denn die Preissen-kung werden sie zum größten Teil an ihre Kunden imHandel und produzierenden Gewerbe weitergeben müs-sen. Endverbraucher werden überhaupt nichts merken.Der Anteil der Mautkosten an einem Endpreis ist näm-lich viel zu gering. Das merkt niemand beim Einkauf.
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5624 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Valerie Wilms
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Fehlen wird aber am Ende mindestens eine halbe Mil-liarde Euro im Bundesetat. Die muss eingespart werden,oder sie wird unsere zukünftigen Schulden vergrößern.Man muss es sagen, wie es ist: Dieses Gesetz wird keinProblem lösen, sondern nur neue Probleme schaffen.
Herzlichen Glückwunsch an diese 80-Prozent-Koali-tion zu diesem Meisterwerk!
Es ist keinesfalls so, dass es keine Kritik gab. Wir ha-ben vor 14 Tagen eine umfangreiche Expertenanhörungim Verkehrsausschuss gehabt. Da ist deutlich geworden,dass es eine ganze Reihe von Kritikpunkten gibt. Geradedie EU-Kommission wollte in ihrer Richtlinie gernhöhere Mautsätze festlegen. Aber die Mitgliedstaatenhaben das einfach verhindert. Kollege Ferlemann, Siewissen das. Das fällt uns jetzt auf die Füße.Auch bei der Einbeziehung von Lärm- und Luftver-schmutzung wurden Fehler gemacht. Seit 2011 – dasliegt schon drei Jahre zurück – ist es europaweit erlaubt,diese Kosten bei der Mauthöhe zu berücksichtigen. Aberwir haben zwei Verkehrsminister von der CSU hinteruns, und nichts ist passiert. Schade!
Stattdessen fummelt dieses Ministerium unter CSU-Führung wieder an seinem Lieblingsthema herum, näm-lich an einer bürokratischen Pkw-Maut. Aber da ist dieMachtfrage von Herrn Seehofer sicherlich wichtiger alsein solides Verkehrsnetz. Sie können also von uns nichterwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf auch noch un-seren Segen erteilen. Wir werden ihn ablehnen.
Was können wir mit diesem Scherbenhaufen nunwirklich anfangen? Wir Grüne machen Ihnen konkreteVorschläge: Erstens brauchen wir eine Initiative auf eu-ropäischer Ebene zur Revision der Eurovignettenrichtli-nie. Herr Ferlemann, nicht nur lächeln, bitte machen inBrüssel!
Zweitens müssen wir schnellstens umfassende Möglich-keiten zur Einbeziehung externer Kosten schaffen. Lkwmachen nicht nur Straßen und Brücken kaputt, sondernsind auch für Umweltschäden in Höhe von etwa 88 Mil-liarden Euro im Jahr verantwortlich. Drittens muss derVerkehrsminister endlich für Klarheit bei Toll Collectsorgen. Viertens muss die Lkw-Maut auf allen Straßenfür Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen eingeführt werden.Das sind die Kernforderungen meiner Fraktion. Siekönnen noch einige mehr in unserem Antrag finden. Eswäre schön, wenn Sie sich dem anschließen könnten.
Aber wollen wir doch etwas herausarbeiten, was indieser Expertenanhörung ein ganz wichtiger Punkt war.Wir müssen uns grundlegende Gedanken darüber ma-chen, wie wir die organisierte Verantwortungslosigkeit,die wir derzeit in der Verkehrsinfrastruktur haben, end-lich beenden können. Der neue Bundesverkehrswege-plan wird wieder nicht funktionieren, wenn wir uns nuran den lokalen Wünschen vor Ort orientieren; aber ge-nau das machen Sie jetzt leider wieder. Umgekehrt wärees richtig: Der Bund muss zuerst definieren, welchesNetz nötig ist. Erst dann darf geprüft werden, was mitden lokalen Wünschen passiert; denn sonst landen wirwieder bei den sinnlosen Wünsch-dir-was-Listen.
Der zweite Punkt, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen, ist noch viel wichtiger. Heute haben wir ein ineffi-zientes System mit den Bundesunternehmen DEGESund VIFG, Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell-schaft. Dazu kommen 16 Länderverwaltungen, das Bun-desministerium und auch noch Toll Collect. Alle mi-schen in diesem Geschäft irgendwie mit. Kein Bürgerblickt mehr durch, wenn es zum Beispiel um eineOrtsumgehung geht.
Frau Kollegin Dr. Wilms, denken Sie an die verein-
barte Redezeit und die schon fortgeschrittene Tageszeit.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich bin in der Endphase
meiner Rede.
Ich will die lieben Kollegen noch einmal ein bisschen
aufmischen.
Ganz konkret wurde in der Anhörung eine Verkehrs-
infrastrukturmanagementgesellschaft vorgeschlagen. Bei
allen Differenzen, die wir heute zu diesem Gesetzent-
wurf haben: Lassen Sie uns diesen Vorschlag wirklich
einmal ernsthaft diskutieren, damit wir aus der Falle, in
der wir jetzt sind, herausfinden und damit es nicht erst
wieder irgendwo ein Unglück braucht, um tatsächlich ei-
nen Wandel in der Politik einzuleiten.
Herzlichen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-punkt ist der Kollege Thomas Jarzombek, CDU/CSU.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5625
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine
besondere Ehre, der letzte Redner des heutigen Plenarta-
ges zu sein und dann auch noch von der Vorrednerin der
Opposition so viel Lob für das eigene Tun zu bekom-
men, inklusive solch umfangreicher Ausführungen zu
Ortsdurchfahrungen, die zeigen, dass offensichtlich
nicht mehr viel Kritik an diesem Gesetzentwurf zu üben
ist.
Ich glaube, dass die Regierung in der Tat in einer
schwierigen Situation einen guten Job gemacht hat.
Denn durch die sinkenden Zinsen ist es ein Problem,
dass uns 460 Millionen Euro Mauteinnahmen fehlen.
Wir können keine Mauteinnahmen nach Willkür erheben
– das ist gut –; vielmehr müssen wir uns nach Gutach-
tern richten. Das gehört sich so in einem Rechtsstaat. Ich
finde, dass all die Möglichkeiten wirklich ausgenutzt
wurden, die man ausnutzen kann, um den sogenannten
Mautschaden zu begrenzen.
Wir haben nun die externen Kosten für den Lärm be-
rücksichtigt. 1 000 Kilometer weiteres Straßennetz wird
mit bemautet. Die Maut gilt künftig schon für die Lkw
ab 7,5 und nicht erst ab 12 Tonnen, und es gibt auch An-
reize, die Abgasnorm Euro 6 zu erfüllen. Ich glaube, das
ist ein gutes System. Man sollte berücksichtigen, dass
wir hier schon in der letzten Legislaturperiode einen ge-
schlossenen Kreislauf installiert haben. Insofern stehen
wir hier insgesamt gut da.
Ein Kompliment mache ich an dieser Stelle dem Bun-
desverkehrsminister, der es nämlich geschafft hat, den
Finanzminister dafür zu gewinnen, das, was an Lücken
noch bleibt, aus dem Gesamthaushalt zu decken,
sodass die Investitionslinien nicht gekürzt werden müs-
sen.
Ich glaube, das ist ein gutes Ergebnis.
Ich höre an dieser Stelle immer viele Debatten da-
rüber, wer in dieser Regierung was macht. Ich muss ein-
fach einmal sagen: Der Verkehrsminister liefert hier, und
zwar eine Lösung, die dermaßen gut ist, dass man sie
wie Sie, Frau Kollegin Wilms, als Meisterwerk bezeich-
nen kann. Dieses Kompliment nehmen wir einfach ein-
mal unwidersprochen an.
Frau Kollegin Wilms, Sie haben ein weiteres Wesens-
merkmal beschrieben: Dieser Gesetzentwurf ist so gut,
dass es an ihm keinerlei Änderungen gab, weder im
Bundestag noch im Bundesrat. Ich finde, ganz ehrlich,
bei dieser exzellenten Qualität der Gesetzgebung – Sie
wissen ja, in Nordrhein-Westfalen gibt es nicht nur Fans
der Pkw-Maut –
bekommt man schon Lust auf den Gesetzentwurf zur
Pkw-Maut.
Ich finde, die Latte liegt hoch. Ich bin davon überzeugt,
wenn das so weitergeht, werden wir das hinbekommen.
Wir werden sicher auch über die Zukunft der Lkw-
Maut reden. Hier sind einige Themen dazu schon ange-
sprochen worden. Wir können erst einmal sagen: Das,
was wir heute haben, ist ein gutes System.
Über Toll Collect wurde gesprochen. Ich möchte hier
ausdrücklich eine Lanze für Toll Collect brechen; ich
habe das schon einmal in einer anderen Debatte getan.
Ich finde, das ist ein tolles Unternehmen, das diesen Job
seit zehn Jahren wirklich einwandfrei macht. Es gab Pro-
bleme zu Beginn, ja; damit hatten wir aber nichts zu tun.
2005 sind die CDU und die CSU – um das deutlich zu
betonen – in die Bundesregierung eingetreten. Fortan
lief alles exzellent.
Dass Toll Collect Planungssicherheit bis 2018 be-
kommt, ist gut. Es ist wichtig, dass wir eine vernünftige
Folgeregelung finden. Mit dem, was da überlegt wird
– Sie kennen das alles –, sind wir auf dem richtigen
Weg. Ich glaube, dass das Vorbild für viele andere Dinge
sein kann. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, dass
gerade die Transitverkehre deutlich an den Kosten betei-
ligt werden, die wir in der Verkehrsinfrastruktur haben.
Ich glaube, dass wir in der Zukunft noch über Erwei-
terungen reden müssen, zum Beispiel was das Thema
Lang-Lkw betrifft. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Es
geht um Mengen, die da transportiert werden. Ich habe
meinen Wahlkreis in Düsseldorf und damit in einer Stadt
mit sehr vielen innerstädtischen Autobahnen. Wenn wir
die Anzahl der Lkw und gleichzeitig die Achslast redu-
zieren können, sodass die Straßen geschont werden,
dann kommt das den Menschen in diesem Land zugute.
Die möchten gern, dass man in der Stadt leisere Ver-
kehre, weniger Verkehre und straßenschonendere Ver-
kehre hat. Dafür werden sich in zukünftigen Novellen
dieses Gesetzes sicherlich Anreize schaffen lassen.
Ich glaube, dass Sie mit diesen Vorschlägen einver-
standen sind. Darüber freue ich mich.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Vielen Dank.
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5626 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Wir kommen in der Folge zu einer Reihe von Abstim-mungen.Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Geset-zes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes.Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/2857, den Gesetzentwurf der Bundes-regierung auf den Drucksachen 18/2444 und 18/2657 an-zunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Werstimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen derGroßen Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/DieGrünen bei Enthaltung der Linken in zweiter Beratungangenommen.Wir kommen jetzt zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte jetzt diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derGesetzentwurf mit den Stimmen der Großen Koalitiongegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der Linken angenommen.Wir setzen jetzt die Abstimmung zu den Beschluss-empfehlungen des Ausschusses für Verkehr und digitaleInfrastruktur auf Drucksache 18/2857 fort. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-empfehlung die Ablehnung des Antrags der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1620 mitdem Titel „Lkw-Maut nachhaltig und ökologisch aus-richten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Da-mit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen derGroßen Koalition gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken angenommen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Bundesdatenschutzgesetzes –Stärkung der Unabhängigkeit der Daten-schutzaufsicht im Bund durch Errichtung ei-ner obersten BundesbehördeDrucksache 18/2848Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss Digitale AgendaDie Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –Ich sehe, dass sich kein Widerspruch erhebt und Sie da-mit einverstanden sind.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/2848 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es1) Anlage 4dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 17:Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zum Erlass und zur Änderung vonVorschriften zur Durchführung unionsrecht-licher Vorschriften über Agrarzahlungen undderen Kontrollen in der Gemeinsamen Agrar-politikDrucksache 18/2708Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Ernährung und Landwirtschaft
Drucksache 18/2894Auch die Reden hierzu sollen zu Protokoll gegebenwerden. – Weil sich kein Widerspruch erhebt, gehe ichdavon aus, dass Sie alle damit einverstanden sind.
Manchmal ist ein sehr sperriger Titel durchaus Pro-gramm, so wie im Falle dieses Gesetzentwurfs: Mitdiesem Gesetz beschließen wir heute den letzten Bau-stein der nationalen gesetzlichen Umsetzung der Re-form der Europäischen Agrarpolitik. Und wir müssenheute insgesamt feststellen, dass die punktuellen Ver-besserungen für Landwirte, Umwelt und Verbrauchermit einem extrem erhöhten Ausmaß an Bürokratie be-zahlt werden müssen.Eine Folge dieser Bürokratiezunahme ist, dass dieLandwirte in diesem Jahr erst dann erfahren, was siezu welchen Bedingungen anbauen können, wenn diePlanung und Aussaat jahreszeitlich eigentlich schonerfolgt ist. Wir alle werden ja seit Monaten nach denDetails der Umsetzung gefragt, den Landwirten fehltebislang jede Planungssicherheit. Das Verfahren hatinsgesamt viel zu lange gedauert und muss in Zukunftbeschleunigt werden.Meine persönliche Erfahrung mit der GAP-Reformbegann als aktiver Landwirt, als ich noch gar nicht da-ran gedacht hatte, für den Deutschen Bundestag zukandidieren, mit einem Besuch von AgrarkommissarCiolos in meiner Heimat Baden-Württemberg. Damalssagte der Kommissar, es sei sein Ziel bei dieser ange-strebten Reform, dass es in ganz Europa so aussehensolle, wie in Baden-Württemberg: bäuerliche Land-wirtschaft, Natur- und Umweltschutz schon alleindurch zahlreiche natürliche Landschaftselemente wieGewässerränder, Hecken, Naturschutzgebiete undähnliches, die bei uns bereits weit mehr als die gefor-derten 5 Prozent beim Greening umfassen, nämlich19 Prozent. Er sagte sehr deutlich: In Baden-Württem-berg muss sich gar nichts ändern. Ich denke, jederwird mir zustimmen, wenn ich heute zu dem Schlusskomme, dass die Realität der GAP-Reform diesem An-fangsziel nicht entspricht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5627
Hermann Färber
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Wir haben mehr Bürokratie, die unternehmerischeFreiheit der Landwirte wird immer weiter einge-schränkt, ihre Fachexpertise wird von teils lebensfrem-den Entscheidungen am grünen Tisch ausgehebelt, und– das ist das Schlimmste – der Umwelt wird damit fak-tisch nicht gedient. Im Gegenteil ist jetzt schon abzuse-hen, dass die Reform zu vermehrtem Maisanbau undzu vermehrter Glyphosatanwendung führen wird. Wardas wirklich das Ziel?Ist es wirklich eine Maßnahme, die dem Natur- undUmweltschutz dient, wenn immer mehr landwirtschaft-liche Fläche aus der Produktion genommen wird? Vonder Widersprüchlichkeit, dass gleichzeitig der Flä-chenverbrauch für Photovoltaik deutlich zunehmensoll, will ich hier gar nicht reden.Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestaghat die Umsetzung der GAP-Reform in nationalesRecht konstruktiv mitgetragen. Wir haben uns zu Rechtund angemessen gegen weitere nationale Verschärfun-gen ausgesprochen und hier auch Erfolge für dieLandwirte und letztlich auch für Verbraucher und Um-welt erreicht. Trotzdem darf auch die EU-Rechtsset-zung nicht in Stein gemeißelt sein, sondern muss sichan ihrer Praxistauglichkeit und an ihren Auswirkun-gen messen lassen.Wir begrüßen deshalb außerordentlich die Ankündi-gung des designierten EU-Agrarkommissars PhilHogan bei der Anhörung im Europäischen Parlament,diese Reform bereits 2015 auf den Prüfstand zu stellen.Es geht uns hier nicht um ein Zurückdrehen von Fort-schritten, aber es gibt einfach in vielen Einzelheitenberechtigte Zweifel, ob diese Regelungen praxistaug-lich sind und ob sie wirklich geeignet sind, die gesteck-ten Ziele zu erreichen. Das muss deshalb geprüft wer-den. Wir unterstützen den neuen Kommissar darin,Lösungen mit den Landwirten zu erarbeiten und nichtgegen sie. Wir brauchen Lösungen statt Verbote. Dasist der Grundsatz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,wenn es um Agrarpolitik geht, und das sollte auch fürdie europäische Agrarpolitik gelten.
Mit dem nun vorliegenden Entwurf zur Durchfüh-
rung der Agrarzahlungen und deren Kontrolle in der
Gemeinsamen Agrarpolitik haben wir nach langen und
intensiven Gesprächen endlich eine Planungs- und
Rechtssicherheit für unsere Landwirtschaft erreicht.
Im Gesetzentwurf sollen die durch die GAP-Reform
geänderten EU-rechtlichen Vorgaben zu den Grund-
anforderungen an die Betriebsführung und zu den
Standards für den Erhalt von Flächen in gutem land-
wirtschaftlichen und ökologischen Zustand, den
Cross-Compliance-Auflagen, umgesetzt werden.
Im Einzelnen sollte dazu das bisherige Direkt-
zahlungen-Verpflichtungen-Gesetz als Agrarzahlun-
gen-Verpflichtungen-Gesetz neu gefasst werden. Mit
dieser Novellierung werden unionsrechtlich gebotene
Änderungen umgesetzt und datenschutzrechtliche Vor-
schriften konkretisiert. Denn, wie jeder weiß, leisten
die Direktzahlungen einen sehr wichtigen Beitrag zur
Einkommenssicherung und Risikoabsicherung unserer
landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland.
Im Zuge der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik
wurde mit dem Begriff Cross-Compliance die Bindung
von EU-Agrarzahlungen an Anforderungen geknüpft.
Dies bringt eine längst überfällige Klarheit bei wichti-
gen Details des Greening der EU-Direktzahlungen,
insbesondere zu den Zwischenfrüchten, den Legumino-
sen, den Kurzumtriebsplantagen und den Feld- und
Randstreifen als ökologische Vorrangflächen.
Dennoch war und ist uns beim Greening besonders
wichtig gewesen, den Artenreichtum des Grünlandes
zu erhalten, und deshalb ist es auch richtig, dass Grün-
land auch Grünland bleibt – wenngleich wir es so ge-
stalten wollen, dass unsere Landwirtschaft weiterhin
wirtschaften kann und Bauern auch Futterqualitäten
mit ihrem Grünland erreichen können.
Landwirtschaft ist Teil unseres Lebens. Vieles von
dem, was wir Tag für Tag konsumieren und nutzen,
kommt von unseren Bauernhöfen. Unsere Landwirtin-
nen und Landwirte produzieren qualitativ hochwer-
tige, sichere Lebensmittel. Zudem erwartet die Gesell-
schaft von ihnen, dass sie sich um die Kulturlandschaft
kümmern, den Kampf gegen den Klimawandel unter-
stützen und die Vielfalt erhalten.
Mit der Novellierung der GAP haben wir in der
Europäischen Gemeinschaft einen gemeinsamen und
verantwortungsvollen Rahmen gefunden, um die na-
türlichen Ressourcen sowie eine ausgeglichene Ent-
wicklung der ländlichen Räume zu schaffen. Damit ist
und bleibt die GAP unseren Bäuerinnen und Bauern
auch weiterhin ein verlässlicher Partner.
So fördern wir die kleinen und mittleren Betriebe
mit einem Zuschlag für die ersten Hektare. Darüber
hinaus werden wir für die Junglandwirteprämie eine
1-Prozent-Obergrenze verwenden und die Zahlung für
die maximale zulässige Obergrenze von 90 Hektar ge-
währen. An diesen Beispielen sehen Sie: Wer die Situa-
tion unserer Bäuerinnen und Bauern kennt, der redet
nicht lange über Zahlen, sondern der handelt, so wie
wir von der CDU/CSU es tun.
Die Gemeinsame Agrarpolitik hat auf die sich wan-
delnden gesellschaftlichen Anforderungen reagiert,
und die Koalition hat die Herausforderungen, wie man
an diesem Gesetzentwurf gut erkennen kann, sehr gut
gemeistert. Die Anforderungen der Landwirtschaft
nach Verlässlichkeit, Planbarkeit, aber auch Praktika-
bilität haben wir mit diesem Entwurf erreicht.
Mit dieser jetzt vorliegenden Planungs- und Rechts-
sicherheit kann nun noch pünktlich zum Spätsommer
die Herbstsaat ausgefahren werden.
Mit der Beschlussfassung über das Gesetz „zur Än-derung von Vorschriften zur Durchführung unions-Zu Protokoll gegebene Reden
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5628 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Wilhelm Priesmeier
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rechtlicher Vorschriften über Agrarzahlungen und de-ren Kontrollen in der Gemeinsamen Agrarpolitik“schließen wir heute einen Diskussionsprozess ab, derbereits 2008 mit dem sogenannten „Health Check“ be-gonnen hat. Damals wurde ein Teil der Direktzahlungender 1. Säule gekürzt und in den Bereich der ländlichenEntwicklung umgeschichtet. Die Gesamtausrichtung derGemeinsamen Agrarpolitik, GAP, blieb dabei grundsätz-lich erhalten.Erstmals wurden neue Herausforderungen alsSchwerpunkte der zukünftigen GAP formuliert. Dazuzählen der Klimawandel, das Wassermanagement, dieErhaltung der biologischen Vielfalt, der verstärkteEinsatz erneuerbarer Energien im Agrarsektor. DieseZiele sind richtig! Doch leider ist dieses Konzept inder Umsetzung gescheitert.Das Gesetz, was wir heute beschließen, schafft einenicht unerhebliche Mehrbelastung an Bürokratie fürunsere Betriebe. Gleichzeitig ist der tatsächliche Ef-fekt für Natur, Umwelt, Klima und Biodiversität sehrbegrenzt.Ich kann die Kritik der Landwirte am zeitlichen Ab-lauf dieses Gesetzesvorhabens gut verstehen. Die dele-gierte Rechtsakte der Europäischen und der Kompro-miss zur GAP kommen deutlich zu spät.Doch jetzt herrscht endlich Rechtsklarheit.Das Direktzahlungen-Verpflichtungsgesetz soll alsAgrarzahlungen-Verpflichtungsgesetz neu gefasst wer-den. So soll das bisherige System der Cross-Compli-ance-Vorschriften durch die notwendigen Ermächti-gungen zu Rechtsverordnungen angepasst werden.Die Vorschläge der Bundesländer dazu werden inwesentlichen Punkten aufgegriffen und umgesetzt.Aber bei aller Kritik haben wir als SPD erreicht, dasszukünftig der Erhalt von Dauergrünland eine Förder-voraussetzung im Rahmen des sogenannten „Gree-nings“ ist. Zukünftig ist die Umwandlung von Grün-land zu Ackerland ausgeschlossen. Diesen Erfolghaben wir im Rahmen des Gesetzes zur Durchführungder Direktzahlungen in den teils zähen Verhandlungenerzielt. In den vergangenen 20 Jahren ist der Grün-landanteil bundesweit um 650 000 Hektar zurück-gegangen, das entspricht in etwa der landwirtschaftli-chen Nutzfläche von Rheinland-Pfalz.Mit jedem Hektar Grünland, den wir umgebrochenhaben, verursachten wir bis zu 40 Tonnen CO2-Emis-sionen. Dies entspricht etwa 300 000 gefahrenen Auto-kilometern. Mit dem erzielten Erfolg leisten wir alsozukünftig einen wesentlichen Beitrag zum Umwelt- undKlimaschutz.In diesem Zusammenhang wurde auch erreicht,dass jährlich 4,5 Prozent der Direktzahlungen von2015 bis 2020 in die 2. Säule umgeschichtet werden.Die Richtung stimmt, aber der Anteil ist aus unsererSicht noch viel zu gering. Die SPD hatte eine Um-schichtung von 15 Prozent gefordert.Bei der Verwaltung und Kontrolle der Agrarzahlun-gen ist es erforderlich, personenbezogene Daten derLandwirte zu nutzen. Der Schutz dieser Daten solldurch den vorliegenden Entwurf gewährleistet werden.Ein wichtiger Erfolg ist die Aufnahme des Status dessogenannten „Ökolandwirts“ in die Anlage zum In-VeKos-Daten-Gesetz. Damit kann zumindest an dieserStelle Bürokratie eingespart werden. Nicht im Gesetz-entwurf enthalten ist hingegen, dass die InVeKos-Da-ten über Kontrollen im Bereich der Direktzahlungenhinausgehend genutzt werden können. Regelungen, dieeine Doppelförderung in diesem Bereich vermeiden,sind Sache der Länder. Maßnahmen, die in Bezug zumDüngemanagement und der Nutzung von InVeKos-Da-ten stehen, müssen an anderer Stelle geregelt werden.Aus Sicht der SPD sollen entsprechende Anpassun-gen bei der Novellierung des Düngegesetzes getroffenwerden, um hier einen wirksamen Vollzug zu vereinfa-chen und den Bundesländern entgegenzukommen.Die Zahlungen aus der GAP werden künftig dieAufgabe haben, einen Ausgleich zwischen den gesell-schaftlichen Anforderungen an eine nachhaltige Land-bewirtschaftung, der Erhaltung lebenswerter Kultur-landschaften, der Entwicklung ländlicher Räume undder Marktausrichtung landwirtschaftlicher Unterneh-men herzustellen.Aus diesem Grund drängt die SPD darauf, ab 2020gänzlich aus dem System der zwei Säulen der GAPauszusteigen. Das fordern wir seit Jahren. Die SPDwill weg vom Gießkannenprinzip der 1. Säule hin zueiner Politik, mit der ländliche Räume effektiv und ef-fizient gestaltet werden können. Öffentliche Gelderalso nur für öffentliche Leistungen! Die Direktzahlun-gen und das Zwei-Säulen-Modell der EuropäischenAgrarpolitik in der jetzigen Ausgestaltung haben füruns Sozialdemokraten keine Zukunft mehr.Wie sie den Äußerungen des neuen EU-Agrarkom-missars Hogan entnehmen können, hat dieser bereitseine Halbzeitbilanz für 2016 angekündigt. Wichtig ist,dass wir die Bilanz und die Auswirkungen einer grund-sätzlichen Reform nochmals auf wissenschaftlicherGrundlage bewerten, uns rechtzeitig positionieren unddie Beschlüsse von 2013 dann konsequent weiterentwi-ckeln.
Was für ein Wortungetüm: „Entwurf eines Gesetzeszum Erlass und zur Änderung von Vorschriften zurDurchführung unionsrechtlicher Vorschriften über Ag-rarzahlungen und deren Kontrollen in der Gemeinsa-men Agrarpolitik“. Hinter dieser Ansammlung anWörtern verbirgt sich abschließend der Beschluss zurReform der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik. Es wareine Debatte, die so lang, sperrig und zäh war wie derTitel des Gesetzes.Für die neue Förderperiode 2014 bis 2020 gab esviele neue Ideen. Ökologischer, gerechter und zu-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5629
Dr. Kirsten Tackmann
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kunftsfähiger sollte Agrarpolitik werden auch im Inte-resse der ländlichen Räume. Als Linksfraktion imDeutschen Bundestag haben wir bereits im Jahr 2010ein eigenes Konzept auf den Tisch gelegt und skizziert,wohin nach unserer Meinung die Reise gehen soll.Am Anfang dieser Debatten schien es tatsächlich so,als ob ein Paradigmenwechsel gelänge, nämlich eineFörderung nach dem Prinzip: öffentliches Geld für öf-fentliche Leistungen. Geld sollte der erhalten, dermehr Arbeitsplätze schafft, der besser Umwelt undKlima schont. Auch viele Umwelt-, Verbraucher- undkritische Bauernverbände hegten ähnliche Hoffnun-gen. Auch der EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos sahdas so.Was ist daraus geworden? Vom Greening, also derÖkologisierung der Direktzahlungen an die Bauern-höfe, ist nicht viel übrig geblieben. Einige nennen esnun verächtlich „Greenwashing“. Und die Berück-sichtigung sozialer Leistungen sucht Frau leider ver-gebens. Trotzdem! Ich würde eher sagen: „Das Glasist halb voll.“ Denn was wirklich neu ist: Die Direkt-zahlungen gibt es nicht mehr einfach so dafür, dassman landwirtschaftliche Nutzfläche besitzt und Ge-setze einhält. Sie sind nun an bestimmte ökologischeAnforderungen geknüpft. Das ist gut so. Und die 5 Pro-zent ökologische Vorrangflächen sind ein Anfang. Aufdiesen fünf Prozent der Betriebsfläche kann man vielGutes tun, was auch die Akzeptanz in der Gesellschafterhöht: zum Beispiel Hecken anlegen oder Pufferstrei-fen an Wäldern, Feldern und Gewässern wild-, bienen-und insektenfreundlich gestalten.Und es wäre mehr drin gewesen, was leider inDeutschland nicht genutzt wird: Nach den EU-Vorga-ben können die EU-Mitgliedstaaten Agrarbetriebe mitvielen Beschäftigten unterstützen; das war eine zen-trale Forderung der Linken. Es geht dabei nicht um einRundum-sorglos-Paket für ineffiziente Betriebe, son-dern darum, dass zum Beispiel Betriebe mit Tierhal-tung mehr Leute beschäftigen als reine Ackerbaube-triebe.Und damit all diese neuen Änderungen der GAPauch in Deutschland wirksam werden, mussten die ent-sprechenden Regelungen in nationales Recht umge-setzt werden. Vergangenen Freitag beschloss der Bun-desrat die Direktzahlungen-Durchführungsverordnungund gab der nationalen GAP-Umsetzung damit denletzten, inhaltlichen Feinschliff. Heute beschließen wirdie technische Umsetzung.Gut finden wir, dass die Anregungen des Bundesra-tes mehrheitlich aufgenommen wurden. Allerdings hät-ten wir uns gewünscht, dass die Bundesregierung auchden Hinweis zum Thema Düngerecht aus der Länder-kammer berücksichtigt hätte.Ich habe bei dem massiven Druck, den der Bauern-verband und die CDU/CSU auf das Agrarministeriumausüben, meine Zweifel, dass wir eine fortschrittlicheNovelle des Düngerechts bekommen, die uns sowohlvor Strafzahlungen wegen der Nichteinhaltung derEU-Nitratrichtlinie bewahrt als auch – noch viel wich-tiger – den Nährstoffüberschuss in den Gewässernwirksam reduziert. Dieser Debatte kann die Koalitiondieses Mal noch ausweichen, aber die Uhr tickt.
Als Anwälte bäuerlicher Interessen haben wirGrüne immer konstruktiv für die Entwicklung undUmsetzung einer sinnvollen modernen, zukunfts-weisenden bäuerlichen, sozialen und ökologischen ge-meinsamen Agrarpolitik gekämpft.Das Greening ist das Symbol für die aktuelle GAP-Reform. Das Greening soll die enormen vielfältigengesellschaftlichen Leistungen, welche die bäuerlicheLandwirtschaft jeden Tag erbringt, entlohnen. Nurdafür, sind wir Grünen überzeugt, werden EuropasBürgerinnen und Bürger bereit sein, die europäischeLandwirtschaft weiter mit 55 Milliarden Euro pro Jahrzu unterstützen.Leider stellen wir fest, dass vom hohen Anspruchder GAP-Reform nicht viel mehr als eine fast leereHülle übrig geblieben ist. Meine Herren und Damenvon der Union, Sie zusammen mit dem DeutschenBauernverband können sich stolz diese weitestgehendeVerhinderung der Reform auf ihre Fahne schreiben.Sie haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben, bei je-der Gelegenheit das Zukunftsprinzip „öffentlicheGelder für öffentliche Leistungen“ infrage zu stellen.Sie haben bis zuletzt versucht, diese Reform zu verzö-gern, zu verhindern und zu torpedieren. Selbst jetztlassen Sie in Brüssel noch Ihren Reformbestatter,Berichterstatter Albert Deß, gegen die letzten Restedes Greenings zu Felde ziehen, in der Hoffnung, dassmit dem neuen Kommissar Phil Hogan neue – alte –Zeiten anbrechen. Zu befürchten ist ein Rückfall inMarktradikalismus, Export und gnadenlose Liberali-sierung. Damit erweisen sie der bäuerlichen Landwirt-schaft einen Bärendienst. Die Leidtragenden sind amEnde die Bauern und Bäuerinnen, die Sie vorgeben zuvertreten.Fakt ist: 0,56 Prozent der Betriebe, das heißt diecirca 1 700 größten Betriebe in Deutschland, bekom-men 16,8 Prozent der Agrargelder. Das entspricht2014 circa 960 Millionen Euro! Über 550 000 Europro Großbetrieb! Was für ein Wahnsinn! WelcheVerschwendung öffentlicher Gelder! Welche gesell-schaftliche Ungerechtigkeit!Ihre Agrarpolitik orientiert sich am Leitspruch: DenGroßen wird gegeben – Der Teufel immer auf dengrößten Haufen!Was wir gebraucht hätten, wäre ein wirklicherAusgleich für Nachteile für kleine, strukturell benach-teiligte Betriebe – zum Beispiel auch in bayerischenBerggebieten, Herr Minister. Ihre Umverteilungsprä-mie verdient diesen Namen nicht. 30 Prozent der Mittelder ersten Säule wären möglich gewesen, um kleinenBetrieben gezielt zu helfen. Von diesen haben sie nurZu Protokoll gegebene Reden
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5630 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Friedrich Ostendorff
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6,8 Prozent genutzt. 15 Prozent der Mittel hätten Sie,Herr Minister, von der ersten in die zweite Säule um-schichten können. Diesen Spielraum haben Sie mit4,5 Prozent nur minimal genutzt.Das wären Mittel für die Förderung von struktur-politischen Programmen und Umweltförderungsmaß-nahmen gewesen, die der Landwirtschaft, dem länd-lichen Raum und der ganzen Gesellschaft nützen.Stattdessen wird das Geld nun weiter mit der Gieß-kanne über die Fläche verteilt. Damit düngen siejedoch nur den Anstieg der Boden- und Pachtpreise,beflügeln außerlandwirtschaftliche Kapitalinvestorenund beschleunigen damit den Strukturwandel, der zumimmer weiteren Verlust von bäuerlichen Existenzenführt. Das ist nicht akzeptabel.Von uns Grünen werden Sie deshalb zu dieser Poli-tik zum Nachteil der Landwirtschaft auch weiterhin einvehementes Nein hören. Wir Grüne werden weiter füreine Agrarpolitik streiten, die gleichermaßen die Leis-tungen der bäuerlichen Landwirtschaft für Umwelt,Tier und Menschen entlohnt und die große Vielfaltbäuerlicher Betriebe erhält.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/2894, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2708 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte jetzt dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dafür? –
Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Großen Koalition und der Linksfraktion bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? Der Gesetzent-
wurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.
Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 18:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Vertrag vom 14. April 2014 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen –
Körperschaft des öffentlichen Rechts
Drucksache 18/2587
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/2785
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen setztsich aus 229 reformierten, presbyterianischen undkongregationalistischen sowie unierten Kirchen in108 Staaten zusammen. Mit etwa 80 Millionen Mitglie-dern weltweit ist die Weltgemeinschaft die größte pro-testantische Weltorganisation.Bis Ende 2013 residierte die Weltgemeinschaft re-formierter Kirchen in Genf. Am 1. Januar 2014 nahmsie nun ihre Arbeit an ihrem neuen Amtssitz in Hanno-ver auf, nachdem sie die Bewerbungen der Städte Ut-recht und Johannesburg zurückgewiesen hatte. Genfwurde aus finanziellen Gründen verlassen, der neueSitz Hannover überzeugte mit seinem kirchlichen Um-feld. In der Landeshauptstadt befinden sich die beidenMitgliedskirchen, die Evangelisch-Reformierte Kircheund die Lippische Landeskirche.Die Ansiedelung der Weltgemeinschaft Reformier-ter Kirchen in Deutschland belegt das positive Verhält-nis von Staat und Kirchen in unserem Land. Die nie-dersächsische Landeshauptstadt entwickelt sich mitdem Umzug immer mehr zu einem protestantischenZentrum in Deutschland und Europa, in dem sich diegroße Vielfalt des Protestantismus zeigt.Bereits im Dezember 2012 wurden der Weltgemein-schaft Reformierter Kirchen von der niedersächsi-schen Landesregierung die Rechte einer Körperschaftdes öffentlichen Rechts verliehen. Dadurch wurde dieWeltgemeinschaft in die Lage versetzt, einen Vertragmit der Bundesregierung schließen zu können.Am 11. und 14. April 2014 unterzeichneten die Bun-desregierung und die Weltgemeinschaft ReformierterKirchen einen Vertrag mit dem Ziel, der Weltgemein-schaft und ihren Mitarbeitern die Wahrnehmung ihrerAufgaben in Deutschland zu erleichtern.Ein Vertragsschluss war notwendig, da es bislangkeine passenden allgemeinen gesetzlichen Regelungenfür einen solchen besonderen Fall der Ansiedelunggab. Die vereinbarten Regelungen umfassen eine er-leichterte Visaerteilung für die ausländischen Beschäf-tigten und Gäste der Weltgemeinschaft, die Befreiungvom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die auslän-dischen Beschäftigten und ihre unmittelbaren Angehö-rigen, den Zugang der unmittelbaren Angehörigen zumdeutschen Arbeitsmarkt sowie die von Zöllen und Steu-ern befreite Einfuhr von Möbeln und persönlicherHabe der Beschäftigten. Eine weitere Erleichterung istder Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung.Der Inhalt des Vertrages bezieht sich somit auf Ge-genstände, deren Regelung dem Deutschen Bundestagvorbehalten ist. Der vorliegende Gesetzentwurf derBundesregierung schafft die Voraussetzungen, um denvertraglich zugesagten Sonderrechten innerstaatlichzur Geltung zu verhelfen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5631
Helmut Brandt
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Mit der gemäß Artikel 8 des Vertrages notwendigenZustimmung des Bundestages wird die Arbeit der Mit-arbeiter der Weltgemeinschaft eine enorme Erleichte-rung erfahren. Dies ist vor allem in Hinblick auf diewertvolle Arbeit, die die Weltgemeinschaft für den öku-menischen und interreligiösen Dialog leistet, wün-schenswert.Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Wir beraten heute den Vertrag zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und der WeltgemeinschaftReformierter Kirchen. Die Weltgemeinschaft der Re-formierten Kirchen ist eine internationale Dachorga-nisation von zurzeit 229 reformierten, presbyteriani-schen und kongregationalistischen sowie uniertenKirchen in 108 Staaten, denen rund 80 MillionenChristen weltweit angehören.Das Exekutivkomitee der Weltgemeinschaft Refor-mierter Kirchen hat am 5. November 2012 entschie-den, seinen Sitz von Genf, Schweiz, wo die Weltgemein-schaft Reformierter Kirchen seit 1948 ansässig ist,nach Hannover zu verlegen. Hannover hat man ge-wählt, da die niedersächsische Landeshauptstadt inunmittelbarer Nähe zu den beiden Mitgliedskirchender Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, nämlichder Evangelisch-Reformierten Kirche und derLippischen Landeskirche, liegt. Außerdem haben derReformierte Bund, die Union Evangelischer Kirchenund die Evangelische Kirche in Deutschland, die mitder Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen zusam-menarbeiten, ihren Sitz in Hannover.Ebenso wie die Bundesregierung begrüßen wir dieAnsiedlung der Weltgemeinschaft Reformierter Kir-chen in Hannover. Der Vertrag zwischen der Weltge-meinschaft Reformierter Kirchen und der Bundesrepu-blik Deutschland dient nun dazu, diese Ansiedlungsowie ihre Tätigkeit in Deutschland zu erleichtern.Für mich als Angehörigem der Badischen Landes-kirche war die Beschäftigung mit dem Glaubensbe-kenntnis der evangelisch-reformierten Kirchen einespannende Erfahrung, die ich im Zusammenhang mitdiesem Vertrag erneuert habe. Gleichzeitig stellt sichmir auch wieder unmittelbar die Frage, warum sichbei so viel Gemeinsamem das Trennende doch immerin den Vordergrund schiebt. Und das eben nicht nurzwischen evangelisch und katholisch, sondern wie wirhier sehen eben auch innerevangelisch. Das Vermö-gen, stärker das Verbindende zu sehen, zu betonenoder auch einzuüben, wird eine immer wichtigere Auf-gabe in heterogenen, multikulturellen Gesellschaftenwerden. Unser Tagesordnungspunkt ist für mich aucheine Erinnerung daran. In diesem Zusammenhang willich auch etwas zu dem Begriff des „Sonderrechts“ sa-gen. Er wird in der Gesetzesbegründung verwendetund ist ja auch zutreffend. Unsere Gesellschaft ist nunaber so gestrickt, dass Sonderrechte gerne beäugt wer-den, nach dem Motto: „Da nimmt sich jemand etwasheraus.“ Nun ist es so, dass in einem Vertrag mit Pro-testanten natürlich nicht nur Rechte sondern auchPflichten festgeschrieben sind; das ist der eine Punkt;und der ist gut so. Der andere, ebenfalls weit über un-seren aktuellen Kontext hinausweisende Punkt ist:Auch Sonderrechte, vor allem solche, die anderennichts wegnehmen, gehören zu heterogener und multi-kultureller werdenden Gesellschaften. Sie sollen Zu-sammenleben ermöglichen, dass eigenen Traditionenentspricht, und dabei den gesellschaftlichen Zusam-menhalt insgesamt im Blick behält. Wie weit sie jeweilsgehen, muss immer ausbalanciert werden, aber dass esSonderrechte gibt und geben muss ist davon unbenom-men. Sie gehören in eine bunter werdende, pluralisti-sche Welt.Zurück zur Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen:Besonders beeindruckend ist für mich das Bekenntnisvon Accra aus dem Jahr 2004, das ebenfalls den Cha-rakter des unmittelbaren Handelns hat: Nach diesemBekenntnis sind Christinnen und Christen aufgrund bi-blischer Lehre angehalten, sich für soziale und wirt-schaftliche Gerechtigkeit einzusetzen. Die negativenökonomischen und ökologischen Auswirkungen desheute vorherrschenden Weltwirtschaftsmodells ver-pflichten die reformierte Kirchenfamilie, dieses Pro-blem als eine den Glauben an das Evangelium JesuChristi tangierende Frage anzusehen.In dem Bekenntnis von Accra heißt es – ich zitiere – :Die Politik ungehinderten Wachstums unter den In-dustrieländern und das Streben nach Gewinn multi-nationaler Unternehmen haben die Erde ausge-plündert und die Umwelt schwer geschädigt. …Diese Krise steht in direktem Verhältnis zur Ent-wicklung der neoliberalen wirtschaftlichen Globa-lisierung, die auf folgenden Überzeugungen beruht:ungehinderter Wettbewerb, schrankenloser Kon-sum, ungebremstes Wirtschaftswachstum und An-häufung von Reichtum sind das Beste für die ganzeWelt;Privatbesitz beinhaltet keine soziale Verpflichtung;Finanzspekulation, Liberalisierung und Deregulie-rung des Marktes, Privatisierung öffentlicher Ver-sorgungsbetriebe und nationaler Ressourcen, unge-hinderter Zugang für ausländische Investitionenund Importe, niedrigere Steuern und ungehinderterKapitalverkehr schaffen Wohlstand für alle;Soziale Verpflichtungen, der Schutz von Armen undSchwachen, Gewerkschaftsleben und zwischen-menschliche Beziehungen sind dem Wirtschafts-wachstum und der Kapitalakkumulation unterge-ordnet.Diese Ideologie, die von sich behauptet, es gäbe zuihr keine Alternative, verlangt den Armen und derSchöpfung unendliche Opfer ab und versprichtfälschlicherweise, die Welt durch die Schaffung vonReichtum und Wohlstand retten zu können. Sie trittmit dem Anspruch auf, alle Lebenssphären beherr-Zu Protokoll gegebene Reden
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5632 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Lars Castellucci
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schen zu wollen und verlangt absolute Gefolg-schaft, was einem Götzendienst gleichkommt.Das sind starke Worte, die aber in der Tradition vonZwingli und Calvin stehen und in der evangelisch-lu-therischen und katholischen Soziallehre durchaus Ent-sprechungen finden. Sie knüpfen eine Verbindung zwi-schen dem Glaubensbekenntnis und einer sozial-ethischen Verantwortung. Mit Franziskus hat ja auchdie katholische Kirche einen Erneuerer ähnlicher Aus-richtung.Zwingli selbst sagte einmal: „In einer Futterkrippewird er geboren, während wir in Daunenfedernschnarchen.“ Und für sein Christentum leitet er da-raus ab: „Ein Christ sein heißt nicht, von Christus zuschwätzen, sondern ein Leben zu führen, wie er es ge-führt hat.“In diesem Sinne freuen wir uns, dass die Weltge-meinschaft der Reformierten Kirchen ihren Sitz nunbei uns in Deutschland hat, und stimmen diesem Ver-trag gerne zu.
Wir verhandeln heute den Entwurf eines Gesetzes zudem Vertrag vom 14. April 2014 zwischen der Bundes-republik Deutschland und der Weltgemeinschaft Refor-mierter Kirchen – Körperschaft des öffentlichenRechts. Es handelt sich hierbei um das erforderlicheZustimmungsgesetz zum Vertrag zwischen der Bundes-republik Deutschland und der Weltgemeinschaft Refor-mierter Kirchen, WGRK.Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen setztsich aus 227 reformierten, presbyterianischen undkongregationalistischen sowie unierten Kirchen in108 Ländern zusammen. Zu der größten protestanti-schen Weltorganisation gehören 80 Millionen Chris-tinnen und Christen weltweit.Im Januar 2013 eröffnete die WGRK ihren Amtssitzin Hannover. Sie verlegte den Amtssitz samt der siebenMitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Genf nach Han-nover. Hintergrund war die finanzielle Lage desWGRK, aber auch die Tatsache, dass Hannover derSitz des Reformierten Bundes ist. Der ReformierteBund ist der Dachverband der 430 reformierten Ge-meinden, Synoden und Kirchen in Deutschland.Mit dem Vertrag hat die Bundesregierung derWGRK bestimmte Privilegien und Sonderrechte einge-räumt, wie die kostenlose und zügige Erteilung vonVisa für die ausländischen Beschäftigten und Gästeder Weltgemeinschaft, die Befreiung vom Erforderniseines Aufenthaltstitels für die ausländischen Beschäf-tigten und ihre unmittelbaren Angehörigen, den Zu-gang der unmittelbaren Angehörigen zum deutschenArbeitsmarkt, die von Zöllen und Steuern freie Einfuhrvon Möbeln und persönlicher Habe der Beschäftigten,die Erteilung von Sonderausweisen durch das Auswär-tige Amt und den Zugang zur gesetzlichen Krankenver-sicherung. Da sich der Vertrag auf Gegenstände be-zieht, deren Regelung dem Gesetzgeber vorbehaltenist, muss der Bundestag seine Zustimmung geben, da-mit der Vertrag in Kraft treten kann.Die Linke fordert, langfristig eine Debatte über dieSonderrechte von Religionsgemeinschaften aus Arti-kel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 137 ff.der Weimarer Reichsverfassung und deren Überprü-fung zu führen. Das betrifft auch Bereiche, die sichnachteilig auf die Rechte von Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern in kirchlichen Einrichtungen auswir-ken – Stichwort „Dritter Weg“ – oder die Staatsleis-tungen.Die Linke wird diesem Vertragsgesetz zustimmen.Wir unterstützen religiöse Vielfalt und Bemühungenzum interreligiösen Dialog. Wir wollen der Arbeit derWGRK keine Hindernisse in den Weg legen.Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Es kommt höchst selten vor, dass sich das Plenumdes Bundestages detailliert mit einer religiösen Tradi-tion beschäftigt. Die Bundesregierung gibt uns nun dieGelegenheit, die Weltgemeinschaft Reformierter Kir-chen kennenzulernen, mit der sie jüngst einen Staats-vertrag abgeschlossen hat, zu dem sie den Bundestagheute um Zustimmung ersucht.In Deutschland steht die reformierte Tradition desProtestantismus in der Regel im Schatten derjenigenim Gefolge Martin Luthers, ist aber zahlenmäßig nichtzu vernachlässigen. Der Reformierte Bund, der alsdeutscher Dachverband der reformierten Gemeindengilt und auch Mitglied der Weltgemeinschaft Refor-mierter Kirchen ist, spricht von etwa 2 Millionen refor-mierter Gemeindemitglieder in Deutschland, das sindcirca 9 Prozent aller Protestanten.Mit der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchenkommt nun das weltkirchliche Element des reformier-ten Protestantismus nach Deutschland. Dies freut unsaußerordentlich, denn bei vielen Debatten über dasVerhältnis von Religionsgemeinschaften und Staat, Re-ligion und Politik steht in der Regel das degressiveElement im Vordergrund: Religion als weniger bedeu-tender Teil der Gesellschaft oder sogar als deren Be-drohung. Insofern sind es die positiven Meldungen, diedie Zustimmung des Bundestages zu diesem Staatsver-trag begleiten, wert, angemessene Aufmerksamkeit zufinden. In diesem Sinne möchte ich zwei theologischeSpezifika des reformierten Christentums benennen, dieauch eine Bedeutung für die heutige Gesellschaft ha-ben können:Johannes Calvin, einer der Begründer der refor-mierten Tradition, ging davon aus, dass Christus dieKirche leite, sodass sie keiner Hierarchie bedürfe.Dies führte zur Ausbildung einer presbyterial-synoda-len Kirchenordnung, also in gewissem Sinne zu einerFrühform demokratischer Meinungs- und Willensbil-dung. Das ist nicht gering zu schätzen und kann in ei-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5633
Volker Beck
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ner Zeit, in der Verdruss an der Politik groß ist, viel-leicht neue Impulse setzen.Ebenso betonte Calvin die Freiheit des Gewissensvor menschlichen Gesetzen. Dies ist natürlich Ausflussder Verfolgungssituation, der viele reformierte Gläu-bige im 16. Jahrhundert ausgesetzt waren. Nicht um-sonst wird Calvins Reformation als „Reformation derFlüchtlinge“ bezeichnet. Wer davon ausgeht, dassstaatliche Gesetze und das eigene Gewissen in der Re-gel nicht zur Deckung zu bringen sind, bewahrt sicheine gesunde Skepsis gegenüber scheinbar selbstver-ständlichen oder traditionellen Regelungen des Zu-sammenlebens – eine Skepsis, die sich fruchtbar undgewinnbringend auf Debatten auswirken kann, wieund auf welche Weise wir angesichts zunehmender re-ligiöser Pluralität unser Religionsverfassungsrecht zu-kunftsfest machen können.Die Ansiedlung der Weltgemeinschaft ReformierterKirchen ist damit ein doppeltes Zeichen. Einerseits dieAnnahme eines Angebotes, das unsere Verfassung reli-giösen Gemeinschaften bietet: des Status einer Kör-perschaft öffentlichen Rechts. Und andererseits die– so hoffe ich – selbstbewusste Beteiligung an den hiergeführten Debatten um die Frage des richtigen Stellen-werts von Religion in der Gesellschaft – eine Beteili-gung, die sich aus den oben skizzierten Erfahrungenund Überzeugungen speist: der Staat als notwendigeirdische Ordnung, die nach Calvin dafür zu sorgen hat,dass die Kirche ihren Dienst in Freiheit ausüben kann.In diesem Sinne ist der Staatsvertrag auch Ausdruckder besonderen Stellung, die eine weltweite religiöseGemeinschaft in einem staatlichen Gemeinwesen hat:grenzüberschreitende, kulturübergreifende Begegnun-gen und Erlebnisse zu stiften und möglich zu machen.Dazu bedarf es ganz profaner Rechtspositionen, wiesie im Staatsvertrag zum Ausdruck kommen. Selbstver-ständlich brauchen die Mitarbeitenden in der Verwal-tung für die Dauer ihrer Arbeit in Deutschland einenAufenthaltstitel, sie benötigen Ausweise und sie müs-sen sich gesetzlich krankenversichern dürfen. Insofernkann man sogar davon sprechen, dass es sich gar nichtum einen religiösen Staatsvertrag im engeren Sinnhandelt, weil keine Vereinbarungen über religiöseRechte und Eigenschaften getroffen werden. Religions-politisch ist das, wie ich ausgeführt habe, aber trotz-dem bzw. gerade deswegen zu begrüßen.Deshalb ein herzliches Willkommen an die Weltge-meinschaft Reformierter Kirchen in Deutschland.D
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-rung zu dem Vertrag vom 14. April 2014 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Weltgemein-schaft Reformierter Kirchen wird dieser internationa-len Dachorganisation reformierter und unierter Kir-chen die erforderlichen rechtlichen Grundlagen für dieWahrnehmung ihrer Aufgaben in Deutschland ver-schaffen, wenn der Deutsche Bundestag heute zu-stimmt.Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen umfasstderzeit 229 nationale Kirchen in 108 Staaten mit rund80 Millionen Gläubigen weltweit. Allein in Deutsch-land zählen zu den Mitgliedern der Weltgemeinschaftdie Evangelisch-Reformierte Kirche mit Sitz in Leer,Ostfriesland, die Lippische Landeskirche mit Sitz inDetmold, die Evangelisch-Altreformierte Kirche inNiedersachsen mit Sitz in der Grafschaft Bentheimsowie der Reformierte Bund mit Sitz in Hannover. Indiesem Reformierten Bund wiederum sind zahlreichereformierte Gemeinden aus den großen unierten Lan-deskirchen der EKD Mitglied – so übrigens auchmeine eigene Kirchengemeinde Wickrathberg.Zu den Aufgaben des internationalen Verbandes ge-hören unter anderem die Pflege des ökumenischen undinterreligiösen Dialogs, die Erörterung theologischerFragen sowie Missionsarbeit weltweit, bei der diewirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und die Be-wahrung der Schöpfung im Mittelpunkt stehen.Das Exekutivkomitee der Weltgemeinschaft hat be-reits im November 2012 entschieden, seinen Sitz vonGenf nach Hannover zu verlegen. Die Evangelisch-Reformierte Kirche und der Reformierte Bund inDeutschland haben sich um diesen Sitz beworben. Dieniedersächsische Hauptstadt liegt in unmittelbarerNähe zur Evangelisch-Reformierten Kirche und zurLippischen Landeskirche, beides Mitgliedskirchen derWGRK. Außerdem haben der Reformierte Bund, dieUnion Evangelischer Kirchen und die EvangelischeKirche in Deutschland ihren Sitz in Hannover, sodassbereits heute von einem Zentrum des Protestantismusin Deutschland gesprochen werden kann.Die Bundesregierung begrüßt daher ausdrücklichdie Ansiedlung der Weltgemeinschaft ReformierterKirchen in Hannover. Die Entscheidung unterstreichtdas positive Verhältnis von Staat und Kirchen in derBundesrepublik Deutschland, das auch internationalAnerkennung findet. Die Bundesregierung würde auchandere kirchliche internationale Organisationen will-kommen heißen, die diesem Beispiel folgen wollen. Daes bisher noch keine gesetzliche Regelung über dieAnsiedlung von Nichtregierungsorganisationen inDeutschland gibt – ein Gaststaatgesetz ist noch nichtin Kraft –, war es erforderlich, mit der Weltgemein-schaft einen Vertrag zu schließen, der der Organisa-tion, ihren ausländischen Amtsträgern, Beschäftigtenund Gästen bestimmte Rechte einräumt.Die niedersächsische Landesregierung hat im Vor-feld der Vertragsverhandlungen der WeltgemeinschaftReformierter Kirchen als Religionsgemeinschaft aufihren Antrag hin den Status einer Körperschaft des öf-fentlichen Rechts gemäß Artikel 140 GG in Verbindungmit Artikel 137 Absatz 5 Satz 2 WRV verliehen. Beson-dere Privilegien, die normalerweise mit diesem Statusverbunden sind, zum Beispiel Steuern von ihren Mit-gliedern zu erheben, kommen bei der Weltgemein-Zu Protokoll gegebene Reden
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5634 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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schaft als internationaler Dachorganisation jedochnicht in Betracht.Daher waren bestimmte Erleichterungen für dieNiederlassung der Weltgemeinschaft und ihre auslän-dischen Beschäftigten und eingeladenen Gäste zwin-gend in einem Vertrag zu regeln. Dazu gehören diekostenlose und zügige Erteilung von Visa für die aus-ländischen Beschäftigten und Gäste, die Befreiungvom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die auslän-dischen Beschäftigten und ihre unmittelbaren Angehö-rigen, der Zugang der unmittelbaren Angehörigen zumdeutschen Arbeitsmarkt, die von Zöllen und Steuernfreie Einfuhr von Möbeln und persönlicher Habe derBeschäftigten, die Erteilung von Sonderausweisendurch das Auswärtige Amt und der Zugang zur gesetz-lichen Krankenversicherung.Der Vertrag, der sich damit auf Gegenstände be-zieht, deren Regelung dem Gesetzgeber vorbehaltensind, zum Beispiel beim Aufenthaltsgesetz und beimFünften Buch Sozialgesetzbuch, bedarf für sein In-krafttreten noch der Zustimmung des Deutschen Bun-destages in Form eines Gesetzes. Der Innenausschusshat in seiner Sitzung am 8. Oktober 2014 erfreulicher-weise einstimmig die Annahme des Gesetzentwurfs inunveränderter Form beschlossen. Ich bitte Sie daherum breite Zustimmung zu dem Gesetzentwurf der Bun-desregierung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/2785, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/2587 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Wer
enthält sich? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Damit ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen des ge-
samten Hauses angenommen.
Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 19:
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
22. Juni 2010 zur zweiten Änderung des Part-
nerschaftsabkommens zwischen den Mitglie-
dern der Gruppe der Staaten in Afrika, im
Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean
einerseits und der Europäischen Gemein-
schaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits
Drucksache 18/2591
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Internen Abkommen vom 24. Juni
2013 zwischen den im Rat vereinigten Vertre-
tern der Regierungen der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union über die Finanzierung
der im mehrjährigen Finanzrahmen für den
Zeitraum 2014 bis 2020 vorgesehenen Hilfe
der Europäischen Union im Rahmen des
AKP-EU-Partnerschaftsabkommens und über
die Bereitstellung von finanzieller Hilfe für
die überseeischen Länder und Gebiete, auf
die der vierte Teil des Vertrags über die Ar-
beitsweise der Europäischen Union Anwen-
dung findet
Drucksache 18/2588
– Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Drucksache 18/2840
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/2843
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden. – Ich sehe keinen Widerspruch. Sie sind also da-
mit einverstanden.
Verträge sind oft technisch und „trocken“, abereben auch die Grundlage für reale Projekte in der Ent-wicklungszusammenarbeit und damit für Veränderun-gen im Leben von vielen Millionen Menschen. Es istmir wichtig, ins Bewusstsein zu rufen, dass es bei allden technischen Details, die gleich kommen, tatsäch-lich um das Schicksal von Menschen geht.Die heute zur abschließenden Beratung und Abstim-mung vorliegenden Gesetzentwürfe der Bundesregie-rung sind eine Fortschreibung und Aktualisierung be-stehender Verträge zwischen der Europäischen Union,EU, und den Staaten Subsahara-Afrikas, der Karibikund des Pazifiks, kurz AKP-Staaten. Im Vertragstextdes am 23. Mai 2000 in Cotonou geschlossenenAKP-EG-Partnerschaftsabkommens, auch Cotonou-Abkommen, das die traditionell gute Partnerschaftzwischen der EU und den AKP-Staaten regelt, wurdenregelmäßige Revisionen vereinbart, damit das Ver-tragswerk aktuell bleibt und auf jüngere Entwicklun-gen in der Welt reagiert werden kann. Dem trägt derGesetzentwurf auf Drucksache 18/2591 als zweite Än-derung des Partnerschaftsabkommens zwischen denMitgliedern der Gruppe der AKP-Staaten einerseitsund der EU und ihren Mitgliedstaaten andererseitsRechnung.Das sogenannte Interne Abkommen auf Drucksache18/2588 dient der Einrichtung und Finanzausstattungdes 11. Europäischen Entwicklungsfonds, EEF. Sobalddas Interne Abkommen durch alle Mitgliedstaaten
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5635
Frank Heinrich
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ratifiziert ist, stehen für die Entwicklungszusammen-arbeit der EU mit den AKP-Staaten – basierend aufdem AKP-EG-Partnerschaftsabkommen – von 2014bis 2020 insgesamt 30,506 Milliarden Euro zur Verfü-gung. Die Bundesrepublik beteiligt sich mit6 278 073 788 Euro und ist damit größter Einzahler
tungsausschuss auch den größten Stimmanteil undkann die Mittelvergabe entsprechend beeinflussen.Die EU-Kommission ruft die Gelder gemäß ihrerProgrammierung bzw. Bedarfsanmeldungen sowieder darauf basierenden, mit qualifizierter Mehrheitangenommenen EU-Ratsbeschlüsse bei den Mitglied-staaten dreimal jährlich ab. Die Mittel werden als Zu-schüsse an die AKP-Staaten vergeben. Nach meinerEinschätzung belegt das Abkommen einmal mehr, wiewichtig der EU die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten ist, für mich als „Afrika-Politiker“ insbeson-dere mit Subsahara-Afrika.Des Weiteren werden durch das Interne AbkommenGelder für die Überseeischen Länder und Gebiete,ÜLG, für die Verwaltungskosten der EU-Kommissionsowie für die Europäische Investitionsbank, EIB, wieetwa für den Ausschuss für die Verwaltung der Mittelder AKP-Investitionsfazilität bei der EIB, zur Verfü-gung gestellt.Die Ratifizierung insbesondere des Internen Ab-kommens bis Ende des Jahres ist wichtig, damit der11. EEF vollumfänglich arbeitsfähig ist. Das von derEuropäischen Kommission bereits prognostizierte Zu-sagevolumen an die AKP-Staaten in 2015 hängt starkvom Zeitpunkt der Ratifizierung des Internen Abkom-mens des 11. EEF ab. Hier heißt es nun^, zügig zu sein.Eine Vielzahl von Projekten, die bereits ins Auge ge-fasst sind, können erst unter dem 11. EEF verbindlichzugesagt werden. Mit dem Gesetzentwurf auf Drucksa-che 18/2588 werden die von deutscher Seite erforderli-chen Voraussetzungen für das Inkrafttreten des Inter-nen Abkommens nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 desGrundgesetzes und für die Einrichtung des 11. EEFgeschaffen.Die Ressortabstimmung zu beiden Gesetzentwürfenverlief einvernehmlich. Sämtliche Ausschüsse, an diebeide Vertragsgesetzentwürfe überwiesen wurden,nahmen die Entwürfe an, bei Stimmenthaltung der Op-positionsfraktionen bzw. im Falle des Internen Abkom-mens auch mit Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es freut mich, dass die Notwendigkeit derGesetzentwürfe in diesem Maße anerkannt wird. Ichstimme den beiden Gesetzentwürfen gerne zu undmöchte abschließend noch einmal betonen, dass hinterdiesen Vertragstexten und Zahlen Menschen stehen,die von der Entwicklungszusammenarbeit der EU mitden AKP-Staaten profitieren werden.
Das Thema Handel ist derzeit in aller Munde. Seit vie-len Monaten debattieren wir über das geplante Handels-abkommen der EU mit den USA, TTIP, der Vertragstextfür das Handelsabkommen mit Kanada, CETA, liegt unsbereits vor. Ich begrüße sehr, dass durch die breite öffent-liche Debatte, die wir im Zuge dieser Abkommen führen,das Thema Handel eine derartige hohe Aufmerksamkeitgenießt, wie ich es in meiner nun mehr als zwölfjährigenTätigkeit als Berichterstatter für das Thema Welthandelim Entwicklungsausschuss noch nicht erleben durfte.Doch dürfen wir nicht zulassen, dass der Anschein ent-steht, dies seien die einzigen Freihandelsverträge,über die wir zu beraten haben. Wir dürfen die zahlrei-chen Abkommen, die die EU derzeit mit Entwicklungs-und Schwellenländern verhandelt bzw. plant zu ver-handeln, nicht übersehen. So steht beispielsweise dasAbkommen mit Vietnam kurz vor dem Abschluss.Auch heute haben wir über zwei Gesetzesentwürfeabzustimmen, die sich teilweise mit Freihandelsab-kommen befassen, nämlich den Partnerschaftsabkom-men zwischen der EU und den Mitgliedern der Gruppeder Regionen Afrika, Karibik und Pazifik, kurz AKP.Bereits im Jahr 2000 wurde das Cotonou-Abkom-men zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten vereinbart, um die politischen und wirtschaft-lichen Beziehungen durch eine entwicklungspolitischePartnerschaft auf eine neue Grundlage zu stellen. Da-bei wurde vereinbart, WTO-konforme Wirtschaftspart-nerschaftsabkommen, kurz EPAs, auszuhandeln. Füruns Sozialdemokraten muss das oberste Ziel von sol-chen Partnerschaftsabkommen sein, Entwicklungslän-der in die Lage zu versetzen, besser am Welthandelteilnehmen zu können. Dazu sollen der Süd-Süd-Han-del sowie die regionale und die interregionale Koope-ration gestärkt werden, zudem sollen die Kapazitätender AKP-Staaten bei internationalen Verhandlungenund bei Produktions- und Handelsfragen ausgebildetwerden.Den AKP-Staaten muss die Möglichkeit eingeräumtwerden, sensible Produkte von der Liberalisierungauszunehmen und dauerhaft zu schützen. Für alle an-deren Produktbereiche müssen die Vertragspartner dieMöglichkeit erhalten, längstmögliche Übergangsfris-ten zu vereinbaren. Nur so können sich die im Aufbaubefindlichen Industrie- und Dienstleistungssektoren inEntwicklungsländern wettbewerbsfähig entwickeln.Wir haben in unserem Koalitionsvertrag mit derUnionsfraktion eindeutig unseren Anspruch an Frei-handelsabkommen formuliert. Dort steht, dass wir unsfür verbindlich festgeschriebene, international aner-kannte menschenrechtliche, ökologische und sozialeMindeststandards wie die ILO-Kernarbeitsnormen alsfesten Bestandteil aller Handelsabkommen der EUeinsetzen.Dieses Ziel muss seine Umsetzung finden: In allenWirtschaftspartnerschaftsabkommen, die die Europäi-sche Union abschließt, müssen diese Mindeststan-dards verbindlich verankert sein – nur so ist ein fairerWelthandel möglich. Wir fordern daher auch von denPartnerländern eine Verpflichtung, dass sie die politi-Zu Protokoll gegebene Reden
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5636 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Dr. Sascha Raabe
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schen, kulturellen und sozialen Menschenrechte ach-ten und die Einhaltung und Umsetzung aller acht ILO-Kernarbeitsnormen verbindlich gewährleisten.Eine Chance, damit einen entscheidenden Schrittweiterzukommen, erhalten wir bereits im kommendenJahr. Der Vertragstext des Cotonou-Abkommens siehtvor, dass das Abkommen nach jeweils fünf Jahren er-neut überarbeitet werden muss, 2015 steht diese Über-arbeitung erneut an. Hier besteht die Chance, eine An-passung von Artikel 50, in dem die Arbeitsstandardsaufgeführt sind, durchzuführen und verbindliche Rege-lungen zu verankern. Gestrichen werden sollte vor al-lem der Absatz, wonach Arbeitsnormen nicht für pro-tektionistische Zwecke genutzt werden sollten. ImGegenteil sollten bei Verstößen gegen Arbeitnehmer-rechte Handelssanktionen folgen. Dies ist allerdingsnicht Inhalt des vorliegenden Gesetzentwurfes, der denArtikel 50 überhaupt nicht zum Gegenstand hat, so-dass die Formulierung aus dem Jahr 2000 weitergilt.In den vergangenen Monaten haben verschiedeneafrikanische Staaten ihre Interimsabkommen abge-schlossen, was vor allem auf den Druck, der durch dieFristsetzung der Europäischen Union auf den 1. Okto-ber 2014 entstanden ist, zurückzuführen ist. Für dieLänder, die, wie beispielsweise Kenia, noch kein Inte-rimsabkommen abgeschlossen haben, muss die Euro-päische Union unbedingt eine Fristverlängerung aus-sprechen, damit diese Staaten ihre Marktzugänge nichtverlieren. Ich sehe es als dringende Aufgabe der Euro-päischen Union, mit diesen Staaten nachzuverhandelnund die Abkommensentwürfe nachzubessern.Die heute vorliegenden Gesetzentwürfe beziehensich auf die Revision aus dem Jahr 2010 und sindkein Freibrief für Wirtschaftspartnerschaftsabkom-men. Diese müssen meiner Ansicht nach als gemischteAbkommen dem Deutschen Bundestag jeweils noch zurRatifizierung vorgelegt werden. Wir müssen uns dannhier im Parlament jedes einzelne Abkommen genauanschauen und auch den Mut haben, gegebenenfallsbereits EU-seitig beschlossene Abkommen aufzuhaltenund Nachbesserungen einzufordern. Wir wollen Fair-handels- und keine Freihandelsabkommen.
Zunächst möchte ich mein Befremden darüber aus-drücken, dass der Bundestag mit zwei derart weitrei-chenden Gesetzentwürfen nur ganz am Rande undauch reichlich spät befasst wird. Wir hatten leider aufBetreiben der Koalition keinerlei Debatte im federfüh-renden Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung über die beiden Vorlagen. Damithöhlen hier Parlamentarier und Parlamentarierinnenihre eigenen, wenigen Rechte auch noch weiter aus.Denn, sollen Vorgänge, die die internationalen Bezie-hungen der Europäischen Union zu immerhin fast80 Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks be-treffen und die die Umsetzung von über 30 MilliardenEuro im Rahmen dieser Beziehungen regeln, nur Ange-legenheit von EU-Bürokraten sein, und die Parlamentenicken nur noch ab? Mein Selbstverständnis als Parla-mentarierin ist ein anderes: Auch wenn es hier umzwischen vielen Akteuren ausgehandelte Verträgegeht, die schwerlich zu verändern sind, muss in denParlamenten zumindest die Gelegenheit bestehen, sichkritisch damit auseinanderzusetzen. Wir haben zu bei-den Gesetzentwürfen erhebliche Kritik. Wir werdenden Gesetzentwürfen deshalb nicht zustimmen.Worum geht es? Im Juni 2000 wurde in Cotonou,Benin, das AKP-EG-Partnerschaftsabkommen zwi-schen den damaligen EG-Mitgliedstaaten und 78 afri-kanischen, karibischen und pazifischen Staaten, AKP-Staaten, für den Zeitraum von 20 Jahren abgeschlos-sen. Das Abkommen löste das vorherige von Lomé,Togo, ab. Es wird alle fünf Jahre einer Revision unter-zogen. Die zweite Revision wurde 2010 mit dem Ände-rungsabkommen von Ouagadougou, Burkina Faso,vorgenommen. Dieses Änderungsabkommen liegt unsnun als Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ratifi-zierung vor.Das Änderungsabkommen soll der wachsenden Be-deutung neuer regionaler Akteure Rechnung tragen,insbesondere dem Bedeutungsgewinn der Afrikani-schen Union, AU. Als neue lokale Akteure sollen Par-lamente, kommunale Körperschaften, die Zivilgesell-schaften und die Privatwirtschaft stärker einbezogenwerden. Der Zusammenhang zwischen Sicherheit undEntwicklung wird nun stärker betont, im Hinblick auffragile Staaten wird auf eine Kombination von diplo-matischer, entwicklungspolitischer und sicherheits-politischer Zusammenarbeit gesetzt. Genau diese Aus-richtung auf Vernetzte Sicherheit und zivil-militärischeZusammenarbeit lehnen wir aber ab.Die Integration der AKP-Staaten in das Weltwirt-schaftssystem ist strategisches Ziel des Änderungs-abkommens und soll durch Handelshilfe unterstütztwerden. Wir kritisieren, dass die Finanzierung derHandelshilfe, wie sie das Abkommen vorsieht, zulastenanderer entwicklungspolitischer Aufgaben geht. Letzt-lich werden Entwicklungsgelder umgewidmet, um dieInteressen der europäischen Unternehmen zu bedie-nen. Im Abkommen ist viel von regionaler Integrationund von entwicklungspolitischer Kohärenz die Rede.Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die die EUsehr energisch und zuletzt leider erfolgreich vorange-trieben hat, sprechen aber eine ganz andere Sprache.Einige der neuen Festlegungen begrüßen wir, ins-besondere die Stärkung der Paritätischen Parlamenta-rischen Versammlung und der nationalen, regionalenund lokalen Parlamente. Diese Festlegung steht nunaber im krassen Widerspruch zum Verfahren, mit demdas Änderungsabkommen hier – vier Jahre nach Ab-schluss – behandelt wird.Dem Abkommen liegt ein Finanzprotokoll bei, dasdie finanzielle Zusammenarbeit zwischen EG, jetzt EU,und AKP regelt. Über die Bereitstellung der Finanzie-rung schließen die Mitgliedstaaten im Rat ein InternesAbkommen zur Einrichtung und Ausstattung des Euro-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014 5637
Heike Hänsel
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päischen Entwicklungsfonds, EEF. Auch dieses InterneAbkommen liegt hier als Gesetzentwurf der Bundes-regierung zur Ratifizierung vor. Darin wird die Lauf-zeit des aktuellen Europäischen Entwicklungsfonds– 11. EEF – mit der Laufzeit des Mehrjährigen Finanz-rahmens der EU synchronisiert. Hintergrund ist, dassder nächste EEF ab 2020 Teil des Europäischen Haus-halts werden soll. Bislang läuft der EEF außerhalb desHaushalts und kann daher auch nicht vom Europäi-schen Parlament kontrolliert werden.Die Fraktion Die Linke begrüßt es grundsätzlich,dass der EEF ab 2020 in den EU-Haushalt integriertwerden soll. Wir haben dies immer gefordert, um dieTransparenz zu erhöhen und die parlamentarischeKontrolle zu ermöglichen. Allerdings stellen sich auchFragen im Hinblick auf die Beteiligung der Partner-staaten an der Programmierung des EEF: Wie kannverhindert werden, dass eine Stärkung des EP dazuführt, dass wichtige Entscheidungen nur noch zwi-schen EP und Kommission verhandelt werden und diePartner im Süden vollkommen ausgeschlossen blei-ben? Wir sind der Meinung, dass eine echte Stärkungder Paritätischen Versammlung aus EU- und AKP-Parlamentariern eine gute Lösung wäre.Der 11. EEF soll mit insgesamt 30,5 MilliardenEuro ausgestattet werden. Deutschlands Anteil daranbeträgt 6,28 Milliarden Euro. Das Interne Abkommenlegt die politischen und strategischen Grundlagen undZiele der Entwicklungsfinanzierung dar: Beseitigungder Armut, nachhaltige Entwicklung und schrittweiseIntegration der AKP-Staaten in die Weltwirtschaft. Dasteht aber auch: Die Durchführung soll im Einklangmit der Organisation und Arbeitsweise des Europäi-schen Auswärtigen Dienstes stehen. Was heißt dasdenn? Die Linksfraktion stand der Einrichtung desEuropäischen Auswärtigen Dienstes skeptisch gegen-über. Insbesondere haben wir uns dagegen gewehrt,dass über den EAD geo- und sicherheitspolitischeErwägungen in die Programmierung der entwick-lungspolitischen Instrumente Eingang finden. Insofernhaben wir hier nach wie vor Klärungsbedarf, wasdiese Verquickung betrifft.Aus dem EEF werden derzeit immer noch Unterstüt-zungsleistungen für Militäreinsätze in Afrika finan-ziert. Was vor Jahren als „Übergangslösung“ bezeich-net worden war, findet nach wie vor statt. Soll das denganzen 11. EEF über, also bis 2020, so weiterlaufen?Die Finanzierung von Militärmissionen, Ausstattungder Soldaten etc. mit Entwicklungsgeldern ist nicht nurpolitisch inakzeptabel, sondern auch rechtlich frag-würdig. Die Linksfraktion will dieser Gelder umwid-men zugunsten eines friedenspolitischen Instrumentsim EEF, also eines Afrikanischen Zivilen Friedens-dienstes. Wir fordern die Bundesregierung auf, einesolche Initiative in Brüssel voranzutreiben.
Mit den beiden vorliegenden Gesetzesentwürfensollen die inhaltliche Revision des Cotonou-Abkom-mens und die Verabschiedung des Budgets für denEuropäischen Entwicklungsfonds, EEF, ratifiziert wer-den. Leider können wir beiden Entwürfen nicht zustim-men.Wir befürworten zwar die Aktualisierung politi-scher und entwicklungspolitischer Themen imCotonou-Abkommen, wie die Betonung regionalerIntegration und die Einführung der Bekämpfung desKlimawandels. Aber die Entwicklung des Abkommensim Bereich Handel läuft in die grundsätzlich falscheRichtung. Sie hat bisher eher zur Verschlechterung derBeziehungen zwischen Europa und Afrika beigetragen.Die im Entwurf festgehaltene „Bereinigung“ um das„gegenstandslos gewordene“ AKP-EG-Handels-regime, das nun durch die Wirtschaftspartnerschafts-abkommen, EPAs, ersetzt wird, kritisieren wir auf dasSchärfste. Die vorgesehene Handelshilfe, die vor allemauf eine Umsetzung der EPAs abzielt, können wir nichtdurch ein Ja zum Gesetzentwurf legitimeren.Erinnern wir uns: Das Cotonou-Abkommen umfasstdrei wesentliche Säulen: die Entwicklungszusammen-arbeit, Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und diepolitische Dimension. Es wurde beschlossen, umgemeinsam mit den afrikanischen Staaten Armut zubekämpfen, einhergehend mit einer schrittweisenEingliederung der AKP-Staaten in die Weltwirtschaft.Das Abkommen von 2000 hebt die Gleichheit der Part-ner und ihre Eigenverantwortung hervor.So wie jedoch die Handelssäule heute durch die mitenormem politischen Druck durchgesetzte Unterzeich-nung der EPAs ausgestaltet wurde, beinhaltet „Coto-nou“ einen eindeutigen Ziel- und Interessenskonfliktvon Armutsbekämpfung und Handelspolitik. Die nega-tiven Auswirkungen der EPAs auf die Zielerreichungder Armutsbekämpfung sind eindeutig. Sie drohen eineeigenständige und nachhaltige Entwicklung in denPartnerländern zu verhindern. Mit ihrem Abschlusssollen sich die AKP-Staaten unter anderem zum Abbauvon Importzöllen, zum Verbot von Exportsteuern undzur Liberalisierung ihrer öffentlichen Dienstleistungs-märkte verpflichten. Damit werden wichtige entwick-lungspolitische Steuerungsinstrumente der AKP-Re-gierungen zugunsten eines freien Marktzugangs füreuropäische Unternehmen preisgegeben.Die EU braucht eine grundsätzlich andere Handels-politik; die bisherige behindert und konterkariertunsere Bemühungen um eine nachhaltige und men-schenrechtsbasierte Entwicklung weltweit. Es stelltsich die grundsätzliche Frage, wie der Fokus aufArmutsbekämpfung im Rahmen des Cotonou-Abkom-mens wieder gestärkt werden kann, ohne durch diehandelspolitische Faktenschafferei torpediert zuwerden!Auch zur Verabschiedung des Budgets für den Euro-päischen Entwicklungsfonds, EEF, enthalten wir uns.Wir begrüßen zwar sehr die darin angelegte Verschie-bung des EEF in den regulären Haushalt der EU– endlich wird somit die parlamentarische KontrolleZu Protokoll gegebene Reden
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5638 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 60. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2014
Uwe Kekeritz
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über die Mittelverwendung sichergestellt –, derFinanzierung der African Peace Facility aus dem EEFstehen wir aber sehr skeptisch gegenüber. EEF-Aktivi-täten gelten als Entwicklungshilfeleistung, zertifiziertvom DAC in Paris, und dürfen daher nicht für Mili-tärausbildung ausgegeben werden. Die African PeaceFacility dient aber dem Aufbau der AfrikanischenFriedens- und Sicherheitsarchitektur, APSA, die nebeneiner zivilen Dimension eben auch die Stärkung dermilitärischen Schlagkraft umfasst. Letzteres darf nichtaus dem EEF finanziert werden – Maßnahmen im mili-tärischen Bereich dürfen nicht zulasten der Mittel ge-hen, die für die nachhaltige Bekämpfung von Hungerund Armut bereitgestellt werden.
Wir kommen zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem
Zweiten Änderungsabkommen zum AKP-EU-Partner-
schaftsabkommen. Der Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/2840, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/2591 anzunehmen. Das ist ein Ver-
tragsgesetz, und deshalb gibt es nur eine zweite Lesung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. Wer gegen diesen Gesetzent-
wurf stimmt, den bitte ich, sich jetzt zu erheben. – Wer
enthält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der
Linken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zu dem Internen Abkommen über die Finanzierung der
im mehrjährigen Finanzrahmen vorgesehenen Hilfe der
Europäischen Union im Rahmen des AKP-EU-Partner-
schaftsabkommens. Der Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/2840, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/2588 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei
Enthaltung von den Linken und Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser
Gesetzentwurf angenommen mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen und den Linken.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 17. Oktober 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
angenehmen Abend. Kommen Sie morgen gut erholt
und ausgeruht um 9 Uhr wieder hierher ins Plenum.