Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich. Ich möchte Sie zu Beginn un-serer Sitzung davon in Kenntnis setzen, dass in den ver-gangenen Tagen der Bundesminister Dr. Thomas deMaizière und die Kollegin Dr. Valerie Wilms ihren60. Geburtstag sowie der Kollege Tom Koenigs seinen70. Geburtstag gefeiert haben. Allen gelten unsere be-sonders guten Wünsche.
Die Kollegin Priska Hinz hat mit Wirkung vom24. Januar auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bun-destag verzichtet. Für sie ist der Kollege Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn nachgerückt, den ich herzlich hierbegrüße und dem ich gute Zusammenarbeit in einemHause wünsche, das ihm ja vertraut ist.
Gemäß § 93 b Abs. 8 unserer Geschäftsordnung sindauf Vorschlag der Fraktionen deutsche Mitglieder desEuropäischen Parlaments zu berufen, die an den Sit-zungen des Ausschusses für die Angelegenheiten derEuropäischen Union teilnehmen können. Anzahl undVerteilung sind nicht vorgeschrieben, sondern müssennach Wahlen zum Europaparlament oder zum DeutschenBundestag neu festgelegt werden. Die Fraktionen habensich auf insgesamt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglie-der des Europäischen Parlaments verständigt. Davonentfallen auf die CDU/CSU 7 Mitglieder, auf die SPD 4,auf Bündnis 90/Die Grünen 2 Mitglieder und auf dieLinke 1 Mitglied. Sind Sie damit einverstanden? – Dasist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung nochzwei Wahlen durchführen.Die SPD-Fraktion schlägt vor, als Vertreter der Bun-desrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates für den ausgeschiedenenKollegen Christoph Strässer als ordentliches Mitgliedden Kollegen Josip Juratovic und als dessen Nachfol-gerin als stellvertretendes Mitglied die KolleginMechthild Rawert zu wählen. Sind Sie auch damit ein-verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sinddie beiden genannten Kollegen als ordentliches Mitgliedund als stellvertretendes Mitglied der ParlamentarischenVersammlung gewählt.Des Weiteren schlägt wiederum die SPD-Fraktionvor, als Nachfolgerin für die Kollegin Caren Marks dieKollegin Elvira Drobinski-Weiß als stellvertretendesMitglied des Verwaltungsrates des Deutsch-Französi-schen Jugendwerks zu wählen. Darf ich auch hier IhrEinvernehmen damit feststellen? – Dann ist die Kolleginhiermit gewählt.Schließlich gibt es eine interfraktionelle Vereinba-rung, am morgigen Freitag als letzten Tagesordnungs-punkt, also nach Ende unserer Aussprache zur Regie-rungserklärung, eine Debatte zur aktuellen Situationin der Ukraine mit einer Debattendauer von 25 Minutenaufzurufen. – Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch.Dann ist das so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun wiederden Tagesordnungspunkt 1 auf:Regierungserklärung durch die Bundeskanz-lerin
Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutigeAussprache insgesamt 10 Stunden und 17 Minuten be-schlossen haben.Wir beginnen mit dem Bereich Wirtschaft undEnergie. Ich vermute einmal, dass die Aussprache vomMinister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, er-öffnet wird, dem ich hiermit das Wort erteile.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin derBundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie gestern die so-ziale Marktwirtschaft in den Mittelpunkt ihrer Regie-rungserklärung gestellt hat. Denn sie ist seit Jahrzehnten
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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das Erfolgsmodell für die wirtschaftliche Entwicklungunseres Landes. Immer nur dann, wenn unser Land die-ses Modell vernachlässigt hat, wenn wir dachten, wirmüssten eine angeblich neue soziale Marktwirtschaft er-finden, mit möglichst unregulierten Märkten, einseitigerOrientierung am Shareholder-Value und vollständigerPrivatisierung aller öffentlichen Güter und der Daseins-vorsorge, geriet das Land in die Schieflage.
Auch im Zeitalter der Globalisierung ist die Verbin-dung von nachhaltigem wirtschaftlichen Wachstum mitsozialem Aufstieg und sozialer Sicherheit und – ich fügehinzu – mit ökologischer Verantwortung das Erfolgsmo-dell für unser Land und auch für Europa. In diesem Sinnist das Wirtschaftsressort nicht für die bloße Durchlei-tung ökonomischer Interessen in die Bundesregierungzuständig. Vielmehr ist Wirtschaftspolitik im Sinne derMarktwirtschaft immer auch Gesellschaftspolitik. DasBundeswirtschaftsministerium versteht sich deshalbnicht nur als Interessenvertretung der deutschen Wirt-schaft, sondern auch und vor allem als Partner für alle,die sich an der Weiterentwicklung unserer sozialenMarktwirtschaft beteiligen: Arbeitgeber, die Gewerk-schaften, Wirtschafts- wie Umwelt- und Sozialverbände,Ökonomen wie Sozial- und Kulturwissenschaftler.Die Bundeskanzlerin hat gestern zu Recht auf diewirtschaftliche Stärke unseres Landes und darauf hinge-wiesen, dass vor allen Dingen flexible und innovativeUnternehmer und hochqualifizierte Beschäftigte immerwieder, jeden Tag von neuem, die Grundlage für diesenwirtschaftlichen Erfolg legen. Für diese Leistungsfähig-keit der Unternehmerinnen und Unternehmer zu sorgenund den Beschäftigten auch in Zukunft die richtigenRahmenbedingungen zu bieten, ist die vorrangige Auf-gabe der deutschen Wirtschaftspolitik.Wenn wir jetzt aus guten Gründen, nämlich um mehrFairness auf dem Arbeitsmarkt und bessere Teilhabe al-ler zu erreichen, Mindestlöhne durchsetzen, Leih- undZeitarbeit und Werksverträge regulieren, mehr Geld fürPflege und Rente zur Verfügung stellen, dann stärkt diesdas Soziale in unserer Marktwirtschaft. Die damit ver-bundenen Belastungen für die deutsche Wirtschaft hal-ten wir für angemessen und vertretbar. Aber trotzdemdarf man nicht verkennen, dass es sich um Belastungenhandelt. Umso wichtiger ist es, an anderer Stelle nachEntlastungen zu suchen, zum Beispiel beim DauerthemaEntbürokratisierung, und vor allem in der Energiepolitikfür Planbarkeit, Berechenbarkeit und Kostendämpfungzu sorgen.
Meine Damen und Herren, zugleich darf uns die gutewirtschaftliche Entwicklung nicht allzu sehr beruhigen.Die Herausforderungen der kommenden Jahre sind groß.Deutschland hat nach wie vor eine zu geringe Investi-tionsquote, und zwar bei privaten und öffentlichen In-vestitionen. Es ist gut, dass der Koalitionsvertrag vor-sieht, dass wir vor allem in die Verkehrsinfrastruktur, imRessort des Kollegen Dobrindt, 5 Milliarden Euro mehrinvestieren werden und übrigens auch die Städte und Ge-meinden finanziell entlasten, denn zwei Drittel der In-vestitionstätigkeit der öffentlichen Hand findet in denKommunen statt.
Aber klar ist auch: Wir werden weitere Instrumente, vorallem zur Erhöhung der privaten Investitionsquote in un-serem Land, entwickeln müssen.Der Fachkräftemangel fordert uns heraus. Vor allemkleine und mittlere Unternehmen geraten dadurch unterDruck.Industrie und verarbeitendes Gewerbe brauchen die In-vestitionssicherheit und die Rahmenbedingungen, diediese Wirtschaftszweige in Deutschland benötigen, aberselbst immer mehr vermissen. Waren es vor einigen Jah-ren noch Lohn- und Sozialkosten, die den internationalenWettbewerb bestimmt haben, so sind es heute Rohstoff-und Energiekosten und übrigens auch ein gesellschaftli-ches Klima, in dem industrielle Produktion als das be-griffen wird, was sie ist, nämlich die Grundlage für unse-ren Wohlstand und nicht ein lästiges Anhängsel einerDienstleistungsgesellschaft, das man möglichst schnellloswerden will.
Wir werden kein Land für Forschung und Entwicklungund auch kein Land für Dienstleistungen sein, wenn wirnicht allem voran ein erfolgreiches Industrieland blei-ben. Im Gegenteil: Wir müssen die Chance nutzen, dieErgebnisse von Forschung und Entwicklung wieder inder Produktion, im verarbeitenden Gewerbe und in derIndustrie in Deutschland umzusetzen.
Es gibt für die Herausforderungen ein schönes Bei-spiel: Im Bereich der Elektromobilität – ein großesThema in unserer Gesellschaft – dürfen wir nicht nur dasZiel haben, die Antriebstechnik bei uns zu entwickeln,sondern wir müssen auch versuchen, das zurückzuholen,was in Deutschland einmal eine Leitindustrie gewesenist: die Batterietechnik. Sie ist in den 70er-Jahren abge-wandert. Jetzt haben wir die Chance, sie auch in die Pro-duktion zurückzuholen. Das muss letztendlich auch einZiel unserer gemeinsamen Anstrengungen sein, liebeKolleginnen und Kollegen.
Natürlich geht das alles nur, wenn sich Europa wiederstabiler entwickelt; denn unser Hauptexportmarkt bleibtEuropa. Deshalb ist es richtig, wenn wir in die europäi-sche Zukunft investieren; denn wir investieren damit im-mer auch in unsere eigene Zukunft.Der Kollege Gysi ist nicht anwesend. Weil er michgestern direkt angesprochen hat, wollte ich ihm heuteantworten. Er hat sich gegen einen Vorwurf gegenüberder Europapolitik seiner Partei gewehrt. Vielleicht rich-tet es ihm jemand aus.
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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Ich will doch noch einmal begründen, warum ich das ge-macht habe. Hören Sie einmal genau zu.Wenn eine Ihrer Repräsentantinnen öffentlich erklärt:„… die EU ist auch ein Hebel zur Zerstörung von Demo-kratie“, dann allerdings muss ich sagen: Mit links hat dasnichts zu tun. Das ist rechts außen.
Für mich ist links immer Aufklärung, Frau Kollegin,nicht Demagogie.
Was Sie machen, ist nicht nur wirtschaftspolitisch falsch,sondern es ist vor allen Dingen politisch rechts außen.
Es ist kein Zufall, dass Sie der AfD vorwerfen, sie würdesich bei Ihrer Ideologie bedienen.
Dass das Frau Wagenknecht auch noch offen zugibt,zeigt, auf welchem Weg Sie europapolitisch sind.
Herr Minister, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Jan van Aken zu?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Selbstverständlich.
Schönen guten Morgen, Herr Gabriel!
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Guten Morgen!
Da Sie gerade das Wort „Aufklärung“ in den Mund
nehmen: Sie haben Ihren ersten Teil der Regierungs-
erklärung gestern dem Stern gegeben. Ich habe ihn mit
Interesse gelesen. Zum Thema „Aufklärung“ im Bereich
der Waffenexporte haben Sie gesagt, Sie selbst stehen
für sehr viel mehr Aufklärung, sehr viel mehr Transpa-
renz, keine Geheimhaltung. Ich finde das gut. Ich muss
nur feststellen, dass ich – ebenfalls gestern – aus Ihrem
Hause von Herrn Beckmeyer ein Schreiben bekommen
habe, wo mir Aufklärung und Transparenz bei den Waf-
fenexporten verweigert wurde. Er schreibt, Zahlen zu
den Rüstungsexporten im letzten Jahr bekomme ich
nicht. Ich möchte Sie daran erinnern: Die gleichen Zah-
len habe ich im letzten Jahr von einem Herrn Rösler
– Sie werden sich erinnern: FDP – bekommen. Das
heißt, unter einem Herrn Rösler gab es eine gewisse
Transparenz bei den Waffenexporten. Jetzt sind Sie im
Amt. Die erste Amtshandlung ist, dass ich diese Zahlen
nicht mehr bekomme. Ich gehe davon aus, Herr Gabriel,
dass Sie von dem Vorgang nichts wissen. Ich würde
schon gerne wissen: Wer ist der echte Herr Gabriel? Ist
es der, der mehr Transparenz bei Waffenexporten einfor-
dert, oder ist es der Gabriel, dessen Haus mir genau diese
Transparenz verweigert?
Die ganz konkrete Frage an Sie, weil Sie den Begriff
„Aufklärung“ in den Raum werfen: Sind Sie bereit, hier
für Aufklärung zu sorgen, das heißt, Ihr Haus noch heute
anzuweisen, diese Zahlen, die ganz einfach verfügbar
sind, zur Verfügung zu stellen? Ich habe mit dem Präsi-
denten des Bundesausfuhramtes gesprochen. Er sagt, im
Handumdrehen hat er die Zahlen bereit.
Ich glaube, die Frage ist jetzt hinreichend deutlich ge-
worden.
Sind Sie bereit, das Haus anzuweisen,
diese Zahlen zu veröffentlichen und sie heute noch zurVerfügung zu stellen? – Danke schön.Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Ich bin mir nicht sicher, was dies mit meinem bisheri-gen Redebeitrag zu tun hat, aber ich will Ihnen gerneantworten.
Erstens. Sie bekommen immer den Gabriel, der vorIhnen steht.
Zweitens. Ich kann Ihnen auch noch vorlesen, wasFrau Zimmer über die Unklarheit der Linkspartei erklärt.Sie ist Ihre Vorsitzende im Europaparlament.
– Die Frage war, ob man weiß, mit wem man es zu tunhat. Mit den Antworten ist es so wie mit den Fragen. Im-mer der, der gerade dran ist, ist verantwortlich für das,was er sagt.
Ich erspare Ihnen einmal, die Vorwürfe Ihrer eigenenVorsitzenden im Europäischen Parlament gegenüber derUnklarheit Ihrer Politik vorzulesen.
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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Die Antwort zur Frage der Waffenexporte ist ganzeinfach:Erstens. Ich bin für mehr Transparenz, als derzeitrechtlich möglich ist. Dafür hat die Koalition eine Ver-einbarung getroffen. Ich gehe davon aus, dass sie umge-setzt wird.Zweitens. Immer auf der geltenden Rechtslage be-kommen Sie die Auskünfte, die wir geben können. Ge-ben Sie mir nachher Ihre Frage. Ich kläre, ob Ihre Aussa-gen richtig sind. Ich gehe davon aus, dass dies so ist.Wenn das, was Sie sagen, stimmt, dann bekommen Siejede Information, die zu erteilen ich bei der geltendenRechtslage in der Lage bin. Ich hoffe auf schnelle Um-setzung der Vereinbarung der Koalition. Dann erhaltenSie die Information auf einer aktuelleren Rechtslage. Ichglaube, da werden wir uns schnell einig.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik derRegierung wird natürlich nicht nur in einem Ressort ge-macht. Wir werden auf eine politische Kultur des Zu-sammenspiels achten. Gute Rahmenbedingungen für diewirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zu schaffen,geht nicht allein in einem Ministerium. Es ist eine Ge-meinschaftsaufgabe. Wenn wir über den Fachkräfteman-gel, die Fachkräfteoffensive und den Pakt für Ausbil-dung reden, dann geht es um die Zusammenarbeit mitdem Arbeits- und dem Bildungsministerium sowie ver-mutlich auch mit anderen Häusern, die an dem ThemaInteresse haben.Das gilt für die digitale Agenda noch viel mehr. Siehat eine hohe Priorität bei der Bundesregierung. Dortmüssen Innen-, Infrastruktur- und Wirtschaftsministe-rium zusammenarbeiten. Deswegen bin ich froh, dassder Kollege Dobrindt die digitale Infrastruktur diesesLandes voranbringen will. Was immer wir tun können,um ihn dabei zu unterstützen, sollten wir miteinandertun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
– Ich weiß gar nicht, warum das so bemerkenswert seinsoll. Können Sie das verstehen?
Es geht uns darum, dass auch diese technologischeRevolution am Ende zu einem Mehr an Freiheit, an De-mokratie und auch zu einem Mehr an Solidarität führenkann und nicht, wie wir derzeit angesichts der Abhöraf-fären erleben, zum Gegenteil führt.Klar ist aber auch, dass ein Thema die Arbeit desBundesministeriums für Wirtschaft und Energie in be-sonderer Weise bestimmen wird: die Energiewende. DieReform des EEG, die Reform des Emissionshandels inEuropa und damit verbunden auch ein besserer Klima-schutz sowie im Übrigen eine Reduktion der hohenCO2-Emissionen in Deutschland aus den traditionellenKraftwerken, die Sicherung der Stromversorgung, dieKlärung der Rolle und Integration des konventionellenKraftwerkparks, die Organisation des Strukturwandels inden klassischen Energieversorgungsunternehmen, dieSicherung der Stadtwerkestruktur, die Anpassung desNetzausbaus: Das sind nur einige der wichtigsten Stich-worte, die den Aufgabenbestand der Energiewende be-schreiben.Was bei uns unter der Überschrift Energiewende de-battiert wird, hat nach wie vor das Potenzial zu einemgroßen wirtschaftlichen, ökologischen und auch sozialenErfolg. Aber es birgt eben auch das Risiko einer dramati-schen Deindustrialisierung, wenn wir die Kosten fürWirtschaft und Industrie nicht deutlich verändern.
– Wenn Sie glauben, dass das ein Pappkamerad ist, dannlade ich Sie persönlich zu einem Stahlwerksbesuch einoder zu einem Besuch in einem anderen Unternehmen.Da können Sie einmal mit den Verantwortlichen reden.Mein Vorschlag ist: Halten Sie einmal eine Rede auf ei-ner Betriebsversammlung.
– Ich wollte eigentlich etwas Freundliches über Bünd-nis 90/Die Grünen sagen. Machen Sie es mir nicht soschwer.
Ich kann nur jedem raten, sich keine Illusionen überdie Herausforderung zu machen, vor der wir stehen. DieEnergiewende wurde unter der Bundesregierung vonSPD und Grünen unter dem damaligen BundeskanzlerGerhard Schröder eingeleitet. Die Grünen haben sich da-bei um die ökologische Erneuerung der Industriegesell-schaft – und nicht um deren Abschaffung – große Ver-dienste erworben. Das steht außer Frage.
Es sind in unserem Land insgesamt 300 000 neueJobs entstanden. Darüber darf man auch öffentlich re-den. In der Kernenergie waren es übrigens zu Spitzen-zeiten ganze 30 000. Das Zehnfache haben wir inzwi-schen im Bereich der erneuerbaren Energien. Dieerneuerbaren Energien sind von einer Nischentechnolo-gie auf dem Weg zur bestimmenden Technologie. Nichtan ihrem Misserfolg, sondern an ihrem Erfolg könnte dieEnergiewende nun scheitern, wenn wir die Bedingungenzur Förderung einer Nischentechnologie einfach nur li-near fortschreiben in das Zeitalter, in dem sie bestim-mende Technologie wird.
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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Dass wir jetzt – das ist der Grund, warum ich sage,die ökonomische Belastung für die Wirtschaft habe ihreGrenzen erreicht – 22 bis 24 Milliarden Euro jedes JahrVerbrauchern und Wirtschaft entziehen zur Förderungeiner Technologie, ist richtig und notwendig, aber es istauch eine Belastung, die kein anderes Land in Europa zutragen bereit wäre. Eines unserer Ziele war, dass uns an-dere folgen. Wir werden dieses Ziel nicht erreichen,wenn wir die Kostendynamik nicht durchbrechen. Dannhätten wir, auf Deutsch gesagt, mit Zitronen gehandelt.Reden Sie heute einmal mit denen, die noch vor eini-gen Jahren mit auf unserer Seite waren, zum BeispielSüdeuropa. In Osteuropa war es immer schon schwierig,aber in Südeuropa finden Sie inzwischen fast niemandenmehr, der bereit ist, unserem Beispiel zu folgen. Wirmüssen zeigen, dass eine erfolgreiche Industriegesell-schaft mit der Energiewende vereinbar ist, sonst wirdniemand beim Klimaschutz auf diesem Weg mitmachen.
Auch im eigenen Land ist das Durchbrechen der Kos-tendynamik und übrigens auch die Sicherheit der Versor-gung die zentrale Aufgabe, um die Zustimmung zurEnergiewende zu behalten. Ein einziger Blackout da-durch, dass eine Strombrücke nicht existiert, wir aber einKernkraftwerk in Süddeutschland abschalten: Da brau-che ich keine Umfrage zu machen, um zu wissen, washinterher die Zustimmung zur Energiewende betrifft.Ich danke deswegen ausdrücklich den Kolleginnenund Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen aus Bund undLändern für ihre Kritik und ihre Anregungen. Ich weiß,manches geht Ihnen zu weit, manches geht Ihnen nichtweit genug. Aber ich empfinde die Kritik als konstruktiv,und ich will mich mit Ihren Vorschlägen ebenso konst-ruktiv auseinandersetzen.Wenn ich Ihre Papiere richtig lese, dann stelle ich fest,dass wir in vielem sogar übereinstimmen. In Ihrer „Ener-giewendeagenda 2020“ vom 17. Januar dieses Jahresfinden sich viele Elemente, die auch im Eckpunktepapierenthalten sind: Reform der besonderen Ausgleichsrege-lung, Beibehaltung des Einspeisevorrangs, Direktver-marktung, Ausbaukorridor, Begrenzung der Biomasse –um nur einiges zu nennen.Da steht zum Beispiel, dass Sie für eine Förderungvon Offshorewindenergie bis 2020 von 6 bis 8 Gigawattsind. Bei uns im Programm stehen 6,5 Gigawatt. Dascheinen wir uns ja einig zu sein; die Kolleginnen undKollegen der Linkspartei haben das gestern kritisiert. Sieschreiben in Ihrem Papier:Die einseitige Direktvermarktung an der Strom-börse soll künftig durch die Integration erneuerba-rer Energien auch in den Regelenergie- und End-kundenmarkt ergänzt werden.Nichts anderes schlagen wir vor.Ich glaube, das ist eine gute Basis für die Diskussion.Lassen Sie mich auf all diejenigen eingehen, die dasEnde der erneuerbaren Energien am Beispiel vonOnshorewindenergie an die Wand malen.
– Ja, ich rede auch über Kritik aus der SPD, na klar. Wis-sen Sie, ich finde, der Erfolg der Energiewende lässt sichauch daran messen, dass inzwischen in allen Teilen derGesellschaft Leute aufstehen und sagen: Daran dürft ihrnichts verändern. Sie machen das, weil sie nämlich mer-ken, wie wichtig die Energiewende für sie selbst gewor-den ist. Dass alle ihre Interessen verteidigen, ist normal.Aber ich wiederhole: Die Summe der Einzelinteressenist nicht das Gemeinwohlinteresse. Das ist der Unter-schied.
Korridore von 2,5 Gigawatt Onshorewindenergie fürdie nächsten Jahre heißt: Wir sind am oberen Rand des-sen, was wir in den letzten zehn Jahren überhaupt zurVerfügung hatten. In zehn Jahren lag der Ausbau derWindenergiegewinnung an Land nur ein einziges Maloberhalb von 2,5 Gigawatt, sonst immer darunter. Wiekann man eigentlich öffentlich erklären, wir würden dieOnshorewindenergie an die Wand fahren? Da endet danneine sachliche Debatte.
– Ich kann Ihnen aus jeder Partei einen benennen, derdas öffentlich erklärt. Das sind alles nette Leute, alleVerteidiger der Energiewende.
– Ja, glauben Sie doch nicht, dass es bei Ihnen keinegibt! Sie waren doch die Ersten. Wir hatten das Eck-punktepapier noch gar nicht vorgelegt, da haben Sie esschon kritisiert.
Von daher: Lassen Sie uns die Debatte so sachlich führenwie mit Ihren Länderenergieministern. Ich habe keineSorge, dass wir damit zum Erfolg kommen.
Von großer Bedeutung ist, dass wir unser Vorhabeneuroparechtskompatibel gestalten. Man kann lange da-rüber streiten, ob das, was die Europäische Union jetztmacht, eigentlich mit den Verträgen übereinstimmt. ImKern versucht sie, sich über das Wettbewerbsrecht einenZugang zur nationalen Energiepolitik zu verschaffen.Das kann man lange ausfechten, aber es nützt nichts: Wirmüssen uns einig werden, sonst sind wir im Herbst die-ses Jahres nicht in der Lage, ein notifizierungsfähigesEEG in Kraft zu setzen. Das würde übrigens auch bedeu-ten, dass die besondere Ausgleichsregelung für die Ent-lastung der deutschen Industrie nicht in Kraft gesetztwürde. Zum 1. Januar 2015 müsste sie die volle EEG-Umlage zahlen. Ich glaube, niemand von uns hat die Il-lusion, dass wir dann unsere Politik fortsetzen könnten.
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670 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
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Es ist gut, wenn wir mit der EU-Kommission den Ver-such unternehmen, sowohl bei der besonderen Aus-gleichsregelung als auch bei der Notifizierung des EEGSchritt für Schritt voranzukommen. Das muss dazu füh-ren, dass wir noch vor der Sommerpause in Deutschlandein neues EEG in Kraft setzen; denn sonst wird esschwierig.
Das heißt auch, dass wir mit den Bundesländern einengemeinsamen Weg finden müssen. Mein Interesse jeden-falls ist das. Ich glaube, wir haben eine Menge zu tun,um das zu schaffen.Klar ist auch, dass die Energiewende nicht zum Null-tarif zu haben ist. Ich kann und werde niemandem sin-kende Strompreise versprechen, aber wir können dieKostendynamik drastisch brechen. Das ist ein Ziel, daserreichbar ist.
Der Übergang von der Anschubfinanzierung derEnergiewende zu einer marktwirtschaftlich funktionie-renden Energieerzeugung bedeutet für viele, dass sie liebgewonnene Sicherheiten verlieren werden und ihr unter-nehmerisches Handeln verändern müssen. Das ist aberganz normal in einer Marktwirtschaft. Das wird die Bun-desregierung zum Maßstab ihrer Entscheidungen ma-chen. Das Gemeinwohl erfordert in diesem Fall auchschwierige Entscheidungen. Deshalb wiederhole ich:Wir werden allen zuhören, wir werden berechtigte Inte-ressen einarbeiten, und wir behaupten auch nicht, dasswir bereits jetzt alle Fragen geklärt haben; aber am Endedes Tages kann die Summe der Einzelinteressen nichtGegenstand der Politik dieser Bundesregierung sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsamversuchen, dieses für das Land so wichtige Projekt aufden Weg zu bringen – hier im Haus, in der gesellschaftli-chen Debatte, aber am Ende auch mit Entscheidungen,bei denen wir Mut haben müssen. Ich bin sicher, amEnde wird es ein Erfolg für die Menschen im Land unddamit auch für die Erneuerung der sozialen Marktwirt-schaft auf ökologischem Sektor.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Minister, ich bin ehrlich: Ich freue mich,
dass die FDP inzwischen nicht mehr den Wirtschafts-minister stellt. Ich teile diese Freude mit vielen Bürgernin unserem Lande. Inzwischen gibt es aber auch Besorg-nis und Irritation; denn wir erinnern uns, mit welchemWahlprogramm, mit welchen wirtschaftspolitischen For-derungen Sie gestartet sind, und wir wissen, was im Ko-alitionsvertrag davon übrig geblieben ist.
Ich möchte das an folgenden Punkten verdeutlichen:Die Kanzlerin hat gestern gesagt: Deutschland geht esgut, die Wirtschaft wächst. – Da dürfen Sie klatschen.Das hat sie gesagt. Dass Sie nicht klatschen, zeigt, dassoffensichtlich auch Sie der Meinung sind, dass esDeutschland nicht automatisch gut geht, wenn es derWirtschaft gut geht, wenn wir Wachstum haben. DieRealität sieht anders aus: Tatsächlich ist es so, dass dasBruttoinlandsprodukt von 2000 bis 2013 um knapp15 Prozent gewachsen ist. Toll! Im selben Zeitraum sinddie Löhne – das ist brutto wie netto annähernd gleich –um nur knapp 1 Prozent gewachsen. Das bedeutet: DieLöhne in unserem Land sind von der wirtschaftlichenEntwicklung völlig abgekoppelt worden. Jetzt frage ichSie, Herr Minister – auf diese Frage hätte ich mir eineAntwort gewünscht –, was Sie dagegen zu tun gedenken.Glauben Sie wirklich, dass Sie durch einen Mindestlohnvon 8,50 Euro das Wachstum so ankurbeln können, dassdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder amwirtschaftlichen Wachstum beteiligt sind?Schauen wir, wie es Deutschland wirklich geht.Schauen wir auf die Rentner: Die Renten der langjährigVersicherten sind von 2000 bis 2012 im Westen real um19 Prozent gesunken, im Osten um knapp 23 Prozent.Wir haben eine Situation, in der die Wirtschaft zwarwächst, die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger vondiesem Wachstum aber nicht profitiert. Das ist im Übri-gen nicht nur das Ergebnis der Politik der letzten Regie-rung, sondern auch der Politik der vorherigen Regierung.
Sie haben in Ihrem Wahlprogramm eine gerechte Steu-erpolitik versprochen. Doch weder in der Regierungs-erklärung der Kanzlerin gestern noch in Ihrer heutigenRede habe ich gehört, dass es dafür notwendig ist, überdie Steuern insbesondere bei denen hinzulangen, die inden letzten Jahren ganz besonders begünstigt wurden.Was ist mit einer Einführung einer Vermögensteuer?Was ist mit einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes?Dies hatten Sie vollmundig angekündigt. Nichts davonist übrig geblieben. Von der Entwicklung der Wirtschafthaben nur die wirklich profitiert – von 2000 bis 2012plus 32 Prozent –, die ihr Einkommen aus Unternehmer-tätigkeit und Vermögen beziehen. Der gesamte Zuwachsder Wirtschaft in den letzten zwölf Jahren kam eindeutignur dieser Gruppe zugute. Das haben Sie noch vor derWahl kritisiert. Aber bei dem, was die Regierung zu tungedenkt, findet sich nichts mehr dazu. Das ist eigentlichEtikettenschwindel, meine Damen und Herren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 671
Klaus Ernst
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Gestern hat Frau Merkel gesagt – ich möchte sie zitie-ren –: „Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass“.Sie, Herr Minister, haben sich ebenfalls positiv daraufbezogen. Sie hat des Weiteren gesagt: „Die sozialeMarktwirtschaft ist unser Kompass, weil ihre Prinzipienzeitlos gültig sind“.Jetzt möchte ich einmal zitieren, was einer der Väterder sozialen Marktwirtschaft, nämlich Ludwig Erhard,zu solch einer Entwicklung geschrieben hat:Zu wiederholten Malen habe ich darum erklärt, daßder so oft geübte grundsätzliche Widerstand derArbeitgeber gegenüber Lohnerhöhungen, die dankeiner gesteigerten Ergiebigkeit unserer Volkswirt-schaft nicht nur möglich, sondern für die Stabilitätunserer Währung sogar notwendig und sinnvollsein können, nicht in das System der Marktwirt-schaft paßt.Was bedeutet das? Das, was bei uns geschieht, die vonder Entwicklung abgekoppelten Löhne bzw. abgekop-pelten Einkommen der Massen, passt nicht in die sozialeMarktwirtschaft.
Ich vermisse jede Initiative dieser Regierung, das grund-sätzlich zu ändern.
Was wäre wichtig? Die Löhne müssten erhöht werdenund die Binnennachfrage müsste gesteigert werden. DerMindestlohn, so wie er jetzt ausgestaltet werden soll,reicht hinten und vorne nicht. Die Lohnbremsen müsstenaus dem entsprechenden Gesetz.Meine Damen und Herren, ja, das ist auch wichtig fürdie Stabilität Europas. Sie haben uns ja gerade noch ein-mal Europafeindlichkeit vorgeworfen. Glauben Sieetwa, Herr Minister, dass die deutschen Überschüssebeim Außenhandel von 2000 bis 2013 in Höhe von1,6 Billionen Euro ein Beitrag zur Stabilität Europassind? Glauben Sie etwa, dass die Überschüsse gegenüberder EU in Höhe von 1,16 Billionen Euro ein Beitrag zurStabilität in der Welt sind? Wie wollen Sie das bitteschön ändern?Ich möchte Sie an das Stabilitätsgesetz erinnern. Dortheißt es in § 1:Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- undfinanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernissedes gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu be-achten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass– das ist ein Punkt unter anderen – ein außenwirtschaftli-ches Gleichgewicht hergestellt wird. Von einem außen-wirtschaftlichen Gleichgewicht sind wir himmelweitentfernt. Europafeindlich sind die, Herr Minister, dienicht für ausgeglichene Handelsbilanzen sorgen, sonderndiese durch Lohndumping in der BundesrepublikDeutschland verhindern; denn so kann Europa nicht zu-sammenwachsen, vielmehr wird ein gemeinsames Eu-ropa so zerstört. Ich sage mit aller Klarheit, Herr Minis-ter, dass diejenigen europafeindlich sind, die hier nichtfür Änderungen sorgen.
Gegenwärtig finden Verhandlungen statt – das wissenwir – über eine Neuregelung der Handelsbeziehungen zuden Vereinigten Staaten. Herr Minister, Sie haben geradegesagt, dass Sie für mehr Transparenz sorgen wollen.Diese Verhandlungen finden im Geheimen statt. Dortsteht vieles auf dem Spiel, was auch für die Bundesrepu-blik Deutschland von Bedeutung ist. Es geht letztendlichsogar darum, im Bereich des Investitionsschutzes eineGerichtsbarkeit einzuführen, die unabhängig von den na-tionalen Gesetzen dafür sorgt, dass sich die Gewinninte-ressen der Unternehmen durchsetzen können. Das allesfindet hinter verschlossenen Türen statt. Nichts legen Sieoffen. Herr Minister, wenn Sie hier von Transparenz re-den, dann wäre der erste Akt, dass Sie sagen, was dorteigentlich passiert, und dass Sie bereit sind, die deut-schen Bürgerinnen und Bürger, auch dieses Parlament,davon in Kenntnis zu setzen, was genau dort eigentlichverhandelt wird. Herr Gabriel, das wäre dringend not-wendig.
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Herr Minis-ter, ich hoffe, dass sich die Enttäuschung über Ihr Regie-rungsprogramm vor dem Hintergrund Ihres Wahlpro-grammes ein wenig dadurch in Grenzen halten wird,dass Sie zumindest an den Punkten deutlich nachbes-sern, die in die richtige Richtung gehen. Bisher bleibenSie dort deutlich hinter den Anforderungen zurück. Dasbetrifft die Themen Mindestlohn, Leiharbeit und befris-tete Beschäftigung sowie die Entwicklung der Renten.Beim Rentenniveau nehmen Sie nichts in Angriff; esmüsste aber deutlich erhöht werden. Herr Minister,nichts, aber auch gar nichts habe ich eben darüber ge-hört.
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Fuchs für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! An allerersterStelle sollte man einmal sagen, dass es Deutschland gut-geht. Wenn man den europäischen Kontext betrachtet,dann ist eine solche Aussage absolut berechtigt. Gesternhabe ich in einer Statistik gelesen, dass die Jugendar-beitslosigkeitsquote bei uns noch nicht einmal ein Drittelder unseres direkten Nachbarn Frankreichs beträgt. Beiuns sind weniger als 8 Prozent der Jugendlichen arbeits-los. Das sind immer noch 8 Prozent zu viel. Wir werdenuns dafür einsetzen, diese Zahl noch zu senken. Aber im-merhin: noch nicht einmal ein Drittel der französischenJugendarbeitslosigkeitsquote! Von Griechenland, Spa-nien und Italien will ich jetzt gar nicht reden. Das zeigt,
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672 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Dr. Michael Fuchs
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dass wir auf dem richtigen Weg sind, dass die alteschwarz-gelbe Regierung auf dem richtigen Weg war.Wir werden in der neuen Regierung diesen Weg konse-quent fortsetzen. Dafür setzen wir uns ein.Unsere Aufgabe ist es – die Kanzlerin hat das gesternin ihrer Rede sehr deutlich gemacht –, die soziale Markt-wirtschaft so zu gestalten, dass die Wirtschaft die sozialeMarktwirtschaft auch finanzieren kann. Das funktioniertnicht so, wie mein Vorredner das gerade beschrieben hat.
Wir haben keine Zeit, uns auf unseren Lorbeeren aus-zuruhen. Es ist erfreulich, dass wir mehr als 42 Millio-nen Erwerbstätige haben. Das ist, nebenbei gesagt, einAllzeithoch, das es in Deutschland vorher nie gegebenhat. Wir haben trotzdem noch 3 Millionen Arbeitsu-chende, allerdings auch 1,3 Millionen Menschen, die so-fort einen Job haben könnten, weil es in Deutschland1,3 Millionen offene Stellen gibt. Wir müssen darübernoch mit der Arbeitsagentur sprechen – das wird eineAufgabe der Arbeitsministerin sein –, warum es dortsolch einen Mismatch gibt. Das dürfte eigentlich nichtder Fall sein. Wir müssten es besser schaffen, dieseLeute möglichst schnell in die freien Stellen auf dem Ar-beitsmarkt zu integrieren.Meine Damen und Herren, wir haben auch eine Reihevon dicken Problemen vor uns. Das fängt beim Fach-kräftemangel an und geht mit der Überalterung der Be-völkerung weiter. Es wird zunehmender Wettbewerbdurch Länder auf uns zukommen, mit denen wir bis jetztnoch nicht so intensiv im Wettbewerb stehen. Das wirdaber passieren. Es gibt auch eine Reihe von Punkten, beidenen uns die Weltwirtschaft in der nächsten Zeit erheb-liche Probleme macht. Das fängt in den USA an. DieAmerikaner haben Schiefergas- und Schieferölvorkom-men als Wettbewerbsinstrument entdeckt, um ihr Landzu reindustrialisieren. Der Minister hat eben vollkom-men zu Recht davon gesprochen, dass es nicht sein kann,dass wir unser Land aufgrund zu hoher Energiepreise de-industrialisieren. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.
Lieber Herr Gabriel, ich hätte ja nicht gedacht, dassich einmal hier stehe und Sie verteidige.
Das war für mich nicht wirklich vorstellbar. Aber gut, soändern sich die Zeiten, so ändert sich das Leben.
Ich helfe jetzt mit. Ich verteidige Sie selbstverständlichauch gegen die Angriffe Ihrer Ministerpräsidenten in denLändern.
Ich kann den Kollegen Albig nicht wirklich verste-hen. Schleswig-Holstein verfügt mittlerweile über eineinstallierte Leistung von 12 Gigawatt Windenergie. DasLand selbst verbraucht nicht einmal 3 Gigawatt. Das istdie Spitzenlast in diesem Land.
Das ist ein Unverhältnis. Es muss eine Struktur geschaf-fen werden, um diese zusätzlichen 9 Gigawatt irgendwoanders hinleiten zu können. Hier gibt es ein großes Pro-blem, weil der Netzausbau mit der Geschwindigkeit, mitder die Windenergie in den nördlichen Bundesländernausgebaut wird, nicht Schritt halten kann. Insofern habenSie vollkommen recht mit den Maßnahmen, die Sie er-griffen haben. Ich werde das auch in Rheinland-Pfalzverteidigen; denn in Rheinland-Pfalz haben wir ja aucheine Ministerpräsidentin Ihrer Couleur, die Sie ebenfallsin der gleichen Weise angegriffen hat. Ich halte das nichtfür richtig.
– Lieber Kollege Heil, ich bin selbstverständlich auch dabeim Herrn Minister und werde meinen bayerischenFreunden sagen, dass die Maßnahme, den Ausbau derBiomasseproduktion jährlich nur noch um 100 Mega-watt zu steigern, schon die richtige ist.
Es muss Schluss sein mit der Übermaisung unseres Lan-des. Die einzigen, die daran Spaß haben, sind die Wild-schweine, weil die sich in diesen riesigen Maisanlagenwunderbar wohlfühlen.
Aber es ist, glaube ich, nicht die Aufgabe des DeutschenBundestages, dafür zu sorgen.
Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklichdie Vorschläge des Ministers und der Bundesregierungzur Dämpfung der EEG-Kosten. Sie knüpfen an Maß-nahmen an, die Peter Altmaier im letzten Jahr eingeleitethat, aber leider nicht umsetzen konnte, weil der eine oderandere damals gedanklich noch nicht so weit war wieheute. Ich bin Peter Altmaier in diesem Zusammenhangnach wie vor dankbar.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir geben in die-sem Jahr nur für das EEG 24 Milliarden Euro aus. Dasist ein gewaltiger Kaufkraftverlust, zum Beispiel für Fa-milien.
Auf eine vierköpfige Familie beispielsweise kommendurch das EEG in diesem Jahr Kosten von 500 Euro zu.Herr Krischer, rechnen Sie das mal durch! Das stört Sie
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 673
Dr. Michael Fuchs
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nicht, aber die Familien stört es ganz gewaltig; sie wer-den es Ihnen nicht danken. Im nächsten Jahr wird dasGanze noch einmal 1,5 bis 2 Milliarden Euro teurer,
weil wieder heftig gebaut wurde, allein im letzten Jahr3,3 Gigawatt Photovoltaik und rund 2,5 Gigawatt Wind-energie.Wenn wir die 26 Milliarden Euro, die im nächstenJahr für das EEG ausgegeben werden, einmal mit ande-ren Etats vergleichen, stellen wir fest: Das ist fast so vielwie der Etat von Verkehrsminister Dobrindt. EineSumme fast in Höhe des Verkehrsetats wird nur für dasEEG ausgegeben. Das zeigt doch ganz deutlich, dass wirjetzt langsam, aber sicher einen Strich ziehen müssen. Sokönnen wir nicht weitermachen. Deswegen sind dieMaßnahmen, die wir ergriffen haben, richtig, und deswe-gen wird die Bundesregierung das auch – dafür bin ichausgesprochen dankbar – sehr konsequent fortsetzen.Man muss sogar darüber nachdenken, ob die 3,3 Gi-gawatt Photovoltaik bzw. die 2,5 Gigawatt Windenergienicht eventuell zu viel sind auf dem Ausbaupfad, gemäßdem wir bis 2025 einen Anteil zwischen 40 und 45 Pro-zent für die erneuerbaren Energien erreichen wollen. Eskann durchaus sein, dass der Ausbau viel schneller vor-angeht, als wir es erwartet haben; es gab nämlich eine er-hebliche Kostendegression bei den Anlagen, sowohl aufder Seite von Photovoltaikanlagen als auch auf der Seiteder Windanlagen. Deswegen werden wir das sehr genaubeobachten und vergleichen müssen.In einem Punkt bin ich mit Ihnen nicht einer Mei-nung. Im Koalitionsvertrag steht klar, dass Vertrauens-schutz gilt. Vertrauensschutz muss in meinen Augenaber nicht nur für Photovoltaik und Windenergie, son-dern bitte auch für alle KWK-Anlagen und Eigenstrom-erzeugungsanlagen der Industrie gelten.
Da muss der gleiche Vertrauensschutz gelten. Wir habendie Industrie ja bewusst in die Richtung getrieben, de-zentral Eigenstrom zu erzeugen. Dafür darf man sie jetztnicht nachträglich bestrafen. Wenn wir etwas ändern,dann müssen alle gleich behandelt werden,
dann muss das auch die Photovoltaik und die Windener-gie treffen.
– Die haben keinerlei EEG-Maßnahmen ergriffen, diesind ja nicht berechtigt; das wissen Sie doch selber.
Vertrauensschutz muss für alle gelten; das müssen wirdurch entsprechende Maßnahmen sicherstellen. Ichhoffe, dass wir bei den Verhandlungen über das EEGeine vernünftige gemeinsame Lösung finden. Ich bin daganz optimistisch.Meine Damen und Herren, eines macht mir massiveSorgen: Das ist das Verfahren, das die EU wegen derBeihilfen eröffnet hat. Das ist höchst gefährlich. Machenwir uns bitte nichts vor: Die Befreiung, die wir den ener-gieintensiven Unternehmen bis jetzt eingeräumt haben,macht 1,35 Cent pro Kilowattstunde aus. Das heißt, dieEEG-Umlage fiele, wenn es keine Befreiungstatbeständegäbe, 1,35 Cent niedriger aus. Wir haben aber energie-intensive Unternehmen in Deutschland, die enorm vielStrom brauchen, um produzieren zu können. Man kannKupfer nicht ohne Strom herstellen; dazu braucht mannun einmal ein Paar Elektroden. Dieser Prozess lässtsich technisch nicht verändern, weil er auf physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten beruht.Wenn es uns nicht gelingt, diese besondere Aus-gleichsregelung in Brüssel zu retten – die, nebenbei ge-sagt, von Rot-Grün eingeführt wurde –,
dann werden wir wesentliche Industriezweige verlieren.Wenn Wertschöpfungsketten einmal unterbrochen sind,dann kommen sie nie mehr wieder. Meine Damen undHerren, es muss Ziel dieser Bundesregierung sein – undes ist Ziel dieser Bundesregierung –, den Industriestand-ort Deutschland zu stärken und gemeinsam dafür zu sor-gen, dass industrielle Arbeitsplätze als Kern unsererWirtschaft in Deutschland bestehen bleiben.
Deswegen müssen wir alles daransetzen, dass EU-Kom-missar Almunia möglichst schnell mit uns zu einer Re-gelung kommt; denn ich sehe eine weitere Gefahr: Wennuns das nicht kurzfristig gelingt, werden die Unterneh-men von den Wirtschaftsprüfern gezwungen werden, inihrer Bilanz Drohverlustrückstellungen vorzusehen. Wasdas für das eine oder andere Unternehmen bedeutet, daskann sich jeder vorstellen. Man darf das hier nicht zulaut sagen, weil es schon fast in Richtung einer Gewinn-warnung geht, die man damit ausspricht.Wenn das passiert, dann wird das Folgewirkungen ha-ben, die ganz schnell zu einer Deindustrialisierung füh-ren. Ich will dazu nur eine Zahl nennen. Der VDMA hatin Zusammenarbeit mit dem DIW eine Statistik aufge-stellt, die aufzeigt, dass die großen energieintensivenUnternehmen in Deutschland in den letzten acht Jahrennur noch in einer Größenordnung von 86 Prozent ihrerAbschreibungen reinvestiert haben. Was bedeutet das? –Ganz einfach: Die Unternehmen haben sich nicht ausdem Markt verabschiedet, sondern haben dort, wo güns-tigere Energiebedingungen waren, investiert.
Dass sie Investitionen woanders tätigen, melden sienicht. Die Industrieunternehmen melden sich nicht beimEinwohnermeldeamt ab, sie gehen einfach woandershin;stillschweigend sind sie weg. Wenn die Arbeitsplätze
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Dr. Michael Fuchs
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einmal weg sind, dann kommen sie nicht wieder. Ichmöchte keine Situation wie in England, dass wir alsoanalog zur City of London 27 Prozent unseres Bruttoso-zialproduktes in der City of Frankfurt erwirtschaftenmüssten. Das ist nicht mein Ziel. Das darf nicht sein.Dass das nicht passiert, daran werden wir arbeiten.Lassen Sie mich zum Schluss – –
Lieber Kollege Fuchs, darf denn kurz vor Schluss die
Kollegin Bulling-Schröter noch eine Zwischenfrage stel-
len?
Selbstverständlich. Das gibt mir mehr Zeit.
Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Fuchs, Sie haben da-
von gesprochen, dass Industrieunternehmen ins Ausland
verlagert werden, weil dort die Energiepreise wesentlich
niedriger seien als bei uns. Mir ist allerdings bekannt,
dass zum Beispiel in Holland gerade ein Alu-Werk
schließt, weil in Deutschland die Strompreise für die In-
dustrie so billig sind. Mich würde interessieren: In wel-
ches Land könnte denn verlagert werden? Wo sind denn
die Energiepreise ganz konkret wesentlich niedriger als
in Deutschland?
Dieses Beispiel ist schlichtweg falsch. Die Hinter-
gründe, warum dieses Aluminiumwerk geschlossen hat,
sind ganz andere gewesen.
Die Energiepreise für die Industrie liegen in Deutschland
am höchsten in Europa. Es gibt nur ein einziges Land,
das noch ein bisschen teurer ist, nämlich Dänemark.
Aber dort gibt es keine Industrie, insofern ist das für Dä-
nemark nicht wesentlich. Prüfen Sie einmal nach,
was in den USA, beispielsweise in North Dakota, Ener-
gie bei den Gaskraftwerken kostet. Eine Kilowattstunde
kostet dort 2 US-Cent. Das ist ein Fünftel dessen, was
energieintensive Unternehmen in Deutschland bezahlen
müssen.
Das zeigt sehr gut auf, dass die Situation für die deutsche
Wirtschaft dramatisch und gefährlich ist. Das müssen
wir berücksichtigen. Ich bin dankbar, dass der Bundes-
minister das vorhat.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss einen Satz zum Transatlantischen Freihandels-
abkommen sagen, weil auch Herr Ernst auf dieses
Thema eingegangen ist. Die größten Profiteure eines sol-
chen Freihandelsabkommens sind wir. Wir haben die ex-
portstärkste Industrie in Europa. Dieses Abkommen
wird ganz Europa helfen, aber an allererster Stelle natür-
lich uns. Deswegen werden wir alles daransetzen, dass
die Verhandlungen zu diesem Freihandelsabkommen so
schnell wie möglich vorankommen. Ich bin dem Bun-
deswirtschaftsminister dafür dankbar, dass er entspre-
chende Maßnahmen in Brüssel ergriffen hat. Das ist der
richtige Weg. Den müssen wir gemeinsam gehen. Das
wird Europa stärken. Das wird in Europa für mehr Wett-
bewerb sorgen, gleichzeitig aber auch für bessere Ex-
portbedingungen für alle in Europa. Dadurch wird das
europäische, aber auch das deutsche Bruttoinlandspro-
dukt gesteigert. Dafür zu sorgen ist unsere Aufgabe als
Politiker. Das werden wir machen.
Danke.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Oliver Krischer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Sigmar Gabriel, wenn Sie hier das höchste Lobvon Michael Fuchs bekommen, dem letzten Freund derAtomkraft in Deutschland, sollten Sie sich schon fragen,ob Sie sich mit Ihrer eigenen Politik noch in den richti-gen Koordinaten bewegen.
Hier ist ja schon viel über Ministerpräsidenten gespro-chen worden, die Sie kritisieren; aber schauen Sie sicheinmal an – das habe ich im Lande draußen wahrgenom-men –, wer Sie gelobt hat: Das war Günther Oettinger,und das war Peter Terium, und das ist jetzt MichaelFuchs. Wer solche Freunde hat, Herr Gabriel, der solltesich einmal überlegen, ob sein Kurs noch stimmt.
Nachdem ich mir das, was Sie in Ihrer Rede vorgetra-gen haben, angehört habe,
komme ich zu der Vermutung, dass Sie einem funda-mentalen Irrtum unterliegen. Die Deckelung der erneu-erbaren Energien und die Ausbaubremse könnte manhier so vorschlagen und vortragen, wenn der Anteil dererneuerbaren Energien bei 75 bis 80 Prozent liegenwürde. Er liegt aber erst bei 25 Prozent. Das ist zwar eintoller Erfolg,
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Oliver Krischer
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aber es fehlt noch viel bis 75 Prozent, weshalb es eingroßer Fehler ist, die Erneuerbaren zu deckeln.
Meine Damen und Herren, all das hat auch nichts mitKosteneffizienz zu tun. Ich empfehle hier einmal einenBlick in das Papier, das Sie selber geschrieben haben.Darin steht völlig richtig: Die Windenergie an Land istdie kosteneffizienteste Form, Strom zu erzeugen, näm-lich günstiger und preiswerter als Strom aus neuenKohle- und Gaskraftwerken. – Diese erneuerbare Ener-gieform zu deckeln, hat nichts mit Kosteneffizienz zutun, sondern das treibt den Strompreis in der Zukunft.
Sie haben dann auch viel über die Ausnahmen unddas Beihilfeverfahren geredet, das uns hier droht. Ja, dasist völlig richtig. Dieses Thema diskutieren wir hier seitzwei Jahren rauf und runter und beschäftigen uns mitmöglichen Vorschlägen dazu, was man gegen die ab-surde Ausweitung der Ausnahmen für die Industrie tunkann. Wir haben den konkreten Vorschlag gemacht, unsauf die Strompreiskompensationsliste der EU-Kommis-sion zu beziehen. Ich habe von Ihnen jetzt aber schonwieder nichts dazu gehört, wie Sie diese Ausnahmen be-schränken wollen. Zu Bereichen, in denen es wirklichum Kosteneffizienz geht und in denen Kostengerechtig-keit hergestellt werden muss, kommt von Ihnen garnichts; da verstecken Sie sich hinter taktischen Spielchennach dem Motto, man dürfe nicht verraten, was manwill. Das ist doch absurd. Legen Sie endlich einmal aufden Tisch, was Sie hier vorhaben!
Eines kann ich Ihnen sagen: Die angeblich zu hohenIndustriestrompreise sind ein Ammenmärchen. Herr Fuchshat das gerade ja auch wieder erzählt. Der Verband derIndustriellen Energie- und Kraftwirtschaft – das ist derLobbyverband der stromintensiven Industrie – schreibtauf seiner Internetseite, dass wir in Deutschland dieniedrigsten Industriestrompreise seit zehn Jahren haben.Wenn es in Stahlunternehmen oder sonst wo Pro-bleme gibt, wie beispielsweise bei ThyssenKrupp, dannhat das nichts mit hohen Strompreisen zu tun, sondernmit Managementfehlern, weil man zum Beispiel in Bra-silien in absurde Abenteuer investiert hat. Das und nichtdie hohen Industriestrompreise sind die Probleme, diedie energie- und stromintensive Industrie in Deutschlandhat.
Ihre Pläne führen dazu – das tun Sie hier ein wenig alsden regionalen Protest aus den Ländern ab –, dass Anla-gen für die günstige Form der Erneuerbaren, das, waswir in Zukunft als Hauptlastträger brauchen, nämlich fürdie Windenergie, nur noch an günstigen Standorten ge-baut werden können. Es geht hier nicht nur um einenKorridor, sondern eine ganze Reihe von Maßnahmenführt dazu, dass Planungen für Windenergieanlagen ge-stoppt werden und dass das alles nicht vorangeht. Damitsorgen Sie hier für einen Fadenriss. So kann man keineEnergiewende machen. Damit erreichen wir nicht dasZiel, in den nächsten Jahrzehnten zu 100 Prozent erneu-erbare Energien zu kommen. Das wird am Ende nichtfunktionieren.Sie tun auch noch etwas anderes. Hier darf ich einmalHerrn Homann, den Präsidenten der Bundesnetzagenturzitieren. Er sagt, dass Sie durch die Deckelung der er-neuerbaren Energien, den reduzierten Ausbau bzw. dieHalbierung des Ausbautempos das infrage stellen, waswir in der letzten Legislaturperiode mühevoll im Kon-sens geschaffen haben, nämlich die Netzausbauplanung.Damit zerstören Sie das, was Sie eben selber geforderthaben: die Akzeptanz für den Netzausbau. Das ist diefalsche Politik. Das darf am Ende nicht passieren.
Ich sage Ihnen noch etwas: Ihre Planungen werdendazu führen, dass die erneuerbaren Energien nicht ein-mal den wegfallenden Atomstrom werden ersetzen kön-nen. Das heißt am Ende, Sie wollen den Atomstromdurch Braunkohle ersetzen. Das scheint ja offensichtlichdie Planung der Politik zu sein. Wenn Sie sich damitdurchsetzen, dann machen Sie aus der Energiewendeeine Braunkohlewende, und das werden wir Ihnen nichtdurchgehen lassen.
Sigmar Gabriel zeigt damit aber eine gewisse Konsis-tenz in seiner Politik. Damals, als er noch Bundesumwelt-minister war, hat er einmal sogar 30 neue Kohlekraftwerkegefordert, zeitweise sogar 50 neue Kohlekraftwerke.
Da kann man ja froh sein, dass es dazu nicht gekommenist. Es sind weniger als zehn gebaut worden. Wenn Sieheute mit denen reden, die diese Kraftwerke auf dieEmpfehlung von Sigmar Gabriel gebaut haben,
dann sagen Ihnen alle unisono, dass das ein Fehler war;denn alle diese Kraftwerke schreiben inzwischen roteZahlen und sind nur Verlustbringer. Das zeigt: Kohle-kraft ist nicht nur ein Schaden fürs Klima, sondern auchein Schaden für Stadtwerke und für diejenigen, diefälschlicherweise in solche Kraftwerke investiert haben.
Meine Damen und Herren, wir haben eben gehört, derEmissionshandel solle repariert werden. Ich staune überdiese Aussage, weil im Koalitionsvertrag etwas anderessteht. Es ist aber richtig: Wir brauchen einen funktio-nierenden Emissionshandel, damit die Betreiber vonBraunkohlekraftwerken für die dadurch entstehendenUmweltschäden tatsächlich zahlen müssen und so Gas-kraftwerke, die bisher aus Kostengründen stillstehen,eine Chance am Markt haben. Aber im Koalitionsvertragsteht dazu etwas völlig anderes.
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Herr Kollege Krischer, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Gerne.
Bitte schön, Herr Kollege.
Sie haben erwähnt, dass in den letzten sieben Jahren
neue Braunkohlekraftwerke entstanden sind, und zwar
weniger als zehn. Können Sie diese bitte einmal benen-
nen? Das ist mir neu.
Ich habe erwähnt, dass in Deutschland weniger als
zehn neue Kohlekraftwerke gebaut worden sind. Das
sind so schöne Projekte wie das Kraftwerk Walsum, das
Kraftwerk Neurath, das Kraftwerk Karlsruhe, das Kraft-
werk Lünen usw. Ich kann Ihnen die Projekte alle auf-
zählen: Es sind am Ende weniger als zehn. Aber fragen
Sie einmal bei den kommunalen Betreibern, den Stadt-
werken, zum Beispiel in Ulm oder Aachen, nach, die in
diese Projekte investiert haben. Alle sagen Ihnen – und
da danke ich Ihnen für die Frage, weil ich das so ausfüh-
ren kann –: Um Gottes willen, hätten wir das bloß nie
gemacht! – Diese Kraftwerke sind nämlich ein Verlust-
bringer; die Investoren haben die Entwicklung der Er-
neuerbaren unterschätzt. Von daher hat eben die Kohle-
kraft keine Zukunft.
Das waren Fehlinvestitionen, ausgelöst von der ersten
Großen Koalition. Diese hat überhaupt nichts zur Ener-
giewende beigetragen, sondern ganz im Gegenteil dafür
gesorgt, dass heute kommunale Unternehmen bzw.
Stadtwerke große Probleme haben und sagen: Hätten wir
doch bloß stärker in Erneuerbare investiert, statt uns auf
diese Versprechen im Hinblick auf Kohlekraftwerke zu
verlassen.
Ich sage Ihnen: Bei Ihnen kommt auch der Klima-
schutz unter die Räder. Er ist inzwischen zu einem blo-
ßen Randthema verkommen. Der Klimaschutz kommt
zwar noch irgendwie beim Thema erneuerbare Energien
und Energiewende vor, aber tatsächlich ist es – darum
geht es doch – das Hauptargument für die Erneuerbaren,
dass so unsere Lebensgrundlagen erhalten werden kön-
nen. Das kommt bei Ihnen aber gar nicht vor.
Ein weiterer Punkt kommt bei Ihnen gar nicht vor:
Diejenigen, die die Energiewende in der Vergangenheit
vorangebracht haben, waren Privatpersonen und Bürger-
energiegenossenschaften. Es handelte sich um eine Bür-
gerenergiewende. Dieser Punkt taucht in Ihren Papieren
überhaupt nicht auf. Die Frau Kanzlerin hat gestern ge-
sagt, die Menschen sollen im Mittelpunkt der Energie-
wende stehen. – Damit können angesichts Ihrer Politik
ganz offensichtlich nicht die Menschen gemeint sein, die
diese Energiewende unterstützt haben, nämlich Privat-
personen und Bürgergenossenschaften und eben keine
Energiekonzerne. Es darf nicht sein, dass Sie dieses En-
gagement kaputtmachen.
Eines muss man noch sagen: All das, was Sie jetzt
vorgelegt haben, betrifft nur das EEG. Zu den ganzen an-
deren Fragen wie Energieeffizienz, bei der wir unbedingt
vorankommen müssen und die selbst in Ihrem Koali-
tionsvertrag als zweite Säule der Energiewende bezeich-
net wird, haben wir noch gar nichts gehört. Gleiches gilt
für die Frage des Strommarktdesigns. Wir haben nichts
dazu gehört, was diese Koalition, was der Minister an
dieser Stelle will. Zu all dem liegt nichts vor. Das alles
sind aber sehr entscheidende Fragen. Sie konzentrieren
sich allein auf ein Ausbremsen der Windenergie
onshore. Das ist der falsche Weg.
Ja, wir haben Ihnen – Sie haben eben darauf hinge-
wiesen – einen Konsens angeboten. Wir haben einen
Vorschlag gemacht, und es gibt, wie ich sehe, in der Tat
Punkte, in denen wir eine gemeinsame Auffassung ver-
treten. Aber es kann nicht angehen, dass Sie die kosten-
günstigste Form der erneuerbaren Energien, die kosten-
günstigste Form der Stromerzeugung jetzt mit einem
ganzen Bündel von Maßnahmen deckeln und infolgedes-
sen die entsprechenden Projekte landauf, landab ge-
stoppt werden. Das darf an der Stelle nicht passieren.
Dann kann es nur noch darum gehen – ich fürchte, das
wird leider die Debatte der Zukunft sein –, dass es nicht
mehr um Konsens geht, sondern nur noch darum, das
Schlimmste zu verhindern. Aber die Hoffnung stirbt bei
uns zuletzt.
Unser Angebot haben Sie, dass wir an der Stelle einen
gemeinsamen Weg gehen. Aber dazu wird sich an Ihren
Vorschlägen einiges ändern müssen.
Ich danke Ihnen.
Zu einer direkten Erwiderung erhält der Bundeswirt-
schaftsminister das Wort.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Herr Kollege, ich habe die Hoffnung, dass wir eine
redliche Debatte führen. Deswegen: Bitte überprüfen Sie
Ihre Behauptung, ich sei als Umweltminister jemals für
30 Kohlekraftwerke eingetreten. Das ist schlicht die Un-
wahrheit.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Hubertus Heilfür die SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 677
Präsident Dr. Norbert Lammert
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– Wenn er das gleich klarstellen möchte, kann er dasgerne tun. – Bitte schön.
Herr Gabriel, Herr Minister, diese Quelle können Sie
sich gerne ansehen.
Aber ich kann mich gut an eine Veranstaltung in Krefeld
erinnern. Dort sind Sie aufgetreten, weil die örtliche
SPD das geplante Kohlekraftwerk abgelehnt hat. Dann
haben Sie dafür gesorgt, dass die Sozialdemokraten sich
gedreht haben. Derzeit wird dort übrigens ein Gaskraft-
werk geplant. Sie sind als Minister aufgetreten und ha-
ben an allen Stellen Kohlekraftwerke gefordert.
– Gut, ich liefere Ihnen die Quelle nach. Dann werden
wir das an der Stelle klären. Aber Sie werden doch wohl
nicht behaupten wollen, dass Sie sich als Minister – als
Umweltminister, der eigentlich für Klimaschutz zustän-
dig ist – nicht auf allen Ebenen massiv dafür eingesetzt
haben, dass landauf, landab Kohlekraftwerke gebaut
werden. Das eine Beispiel aus Krefeld ist ganz konkret.
Das ist vielen Menschen in Erinnerung.
Herr Minister, ich finde es zwar schön, dass wir sol-
che Sachen direkt bilateral austragen. Ich muss Sie nur
darauf aufmerksam machen: Zwischenrufe sind vonsei-
ten der Regierungsbank nicht erlaubt, Stellungnahmen
gerne jederzeit, wie gerade vorgeführt.
Jetzt hat der Kollege Heil das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Weil wir gerade über Redlichkeit gesprochen haben,habe ich noch einen Nachtrag zum Kollegen van Aken,der bedauernswerterweise dem Minister Zwischenfragengestellt und sich dann aus der Debatte entfernt hat.
Aber vielleicht richten Sie ihm das aus.Was er vorhin bei seiner Zwischenfrage gemacht hat,nämlich den Eindruck zu erwecken, dass er als Abgeord-neter dem Minister bzw. Vertretern des MinisteriumsFragen zum Thema Rüstungsexporte gestellt hätte, diediese nicht beantworten wollten, ist nach meinen Re-cherchen – ich habe gerade im Bundesministerium nach-gefragt – nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit ist: Er hat eine Anfrage gestellt und dieAntwort bekommen, dass die Zahlen für 2013 geradeaufgearbeitet und im Frühsommer veröffentlicht werden.Dem Kollegen Rösler hat er dieselbe Frage gestellt,allerdings im Mai; da konnte er sie beantworten. Werhier den Eindruck erweckt, dass das Ministerium, dasbeim Thema Rüstungsexportkontrolle einen neuen Kurseinschlägt, nämlich mehr Transparenz herzustellen, wis-sentlich Abgeordneten vorliegende Zahlen verschweigt,der sagt die Unwahrheit, und dem geht es offensichtlichnicht um das Thema, sondern um billige Linksparteipro-filierung in diesem Land.
Das ist umso bedauerlicher, als ich Herrn Kollegen vanAken zumindest in seiner Einschätzung europäischerThemen leider für eine Minderheit in Ihrer Fraktion halte
nach dem, was Frau Wagenknecht macht, aber das ist einanderes Thema.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Sozial-demokraten unterstreichen den Satz von Herrn KollegenFuchs, dass es Deutschland gut geht. Aber es gilt auchder Satz: Wer morgen sicher leben will, der muss heutefür Reformen sorgen.Wir haben große Aufgaben vor uns. Wir müssen dafürsorgen, dass in diesem Land die Investitionsquote steigt.Darauf hat der Bundesminister hingewiesen. Herr Ernst,an dieser Stelle sind wir nicht diejenigen – im Gegensatzzu Ihnen –, die bemängeln, dass wir exportstark sind.Dieses Land ist exportstark. Es soll wettbewerbsfähigbleiben. Aber gleichzeitig müssen wir die Binnennach-frage in diesem Land stärken. Das tun wir mit einerneuen Ordnung am Arbeitsmarkt und damit auch für dieKaufkraft.Wir müssen auch für Investitionen – öffentliche undprivate – in Deutschland sorgen. Deshalb wird dieseneue Bundesregierung 23 Milliarden Euro mehr in Ver-kehrsinfrastruktur, aber vor allem in Bildung und For-schung investieren: 9 Milliarden Euro allein in diesemBereich. Das macht unser Land zukunftsfähig. Wir müs-sen exportfähig bleiben. Aber wir brauchen auch starkeHeimspiele auf dem Binnenmarkt. Das ist die Balance,auf die der neue Wirtschaftsminister Wert legt. Wir tundas ebenfalls.
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Herr Kollege Heil, der Kollege Ernst würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Heil, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass ich nicht die Exporte der Bundesrepublik
Deutschland kritisiert habe, sondern den Überschuss?
Das ist etwas anderes. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass 1,1 Billionen Euro an Überschüssen ge-
genüber der Europäischen Union den Zusammenhalt Eu-
ropas gefährden, weil diese Überschüsse permanent De-
fizite in anderen europäischen Ländern erzeugen? Sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich meine Kri-
tik an dem, was Herr Gabriel vorgetragen hat, darauf be-
zog, dass ich in seinen Erklärungen nichts erkennen
konnte, was darauf zielte, diese Exportüberschüsse
durch gesteigerte Importe, also durch eine vernünftige
binnenmarktwirtschaftliche Entwicklung, zu verringern?
Und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir,
wenn wir es nicht schaffen, diese deutsche Politik ent-
sprechend zu verändern, das Problem in Europa sind und
nicht nur die anderen?
Herr Kollege Ernst, sind Sie vielleicht bereit, zurKenntnis zu nehmen, dass monokausale Argumenta-tionsketten die Probleme, die wir in Europa haben, nichtabbilden?
Es ist schlimm, wenn man jemandem antworten muss,der zum Teil recht hat, aber das gesamte Bild ver-schweigt. Richtig ist: Handelsbilanzunterschiede stellenein ökonomisches Problem dar. Deshalb habe ich gesagt– vielleicht haben Sie das zur Kenntnis genommen –:Wir arbeiten daran, wettbewerbsfähig zu bleiben. Um esin der Fußballsprache zu sagen: Man kann nur erfolg-reich sein und Meister werden, wenn man stark in Aus-wärtsspielen, also in diesem Fall im Export, ist. Aberman muss auch starke Heimspiele haben. Das heißt, wirbrauchen einen stärkeren Binnenmarkt. Das ist ein öko-nomisches Problem. Aber in Ihrer Argumentation tunSie gerade so, als wäre der Exporterfolg der Bundesre-publik Deutschland schuld an der gesamten Krise in Eu-ropa. Das hat mit der Wahrheit nichts zu tun.
Dafür gibt es durchaus andere Gründe. Es gibt struktu-relle Probleme und Verwerfungen auf den Finanzmärk-ten. Das dürfen Sie nicht ausblenden.Herr Ernst, im Gegensatz zu Ihren Parolen tun wir alsRegierung etwas, um die Binnennachfrage in diesemLand tatsächlich zu stärken. Wir sorgen für eine Neuord-nung auf dem Arbeitsmarkt.
Das stärkt die Kaufkraft. Dazu gehören der gesetzlicheMindestlohn und Regeln gegen den Missbrauch vonZeitarbeit. Davon quatschen Sie nur. Aber wir tun es.Das ist der Unterschied, Herr Ernst.
Herr Ernst, wir sorgen dafür, dass mehr investiertwird, und zwar sowohl privat als auch öffentlich. Beiden privaten Investitionen müssen wir mehr für Pla-nungs- und Investitionssicherheit tun. Hier steht dasThema Energiewende ganz oben auf der Agenda. Aberdie öffentlichen Investitionen von Bund, Ländern undKommunen in Bildung, Forschung und Infrastruktursind ein Markenzeichen dieser Regierung. Daran kannman uns auch messen.
Ich will zum Thema Energie sprechen, weil das diegrößte Baustelle ist, vor der der Bundesminister, die Re-gierung und das Parlament, aber auch Deutschland ins-gesamt stehen. Herr Kollege Krischer, wir sind uns inder Analyse wahrscheinlich in vielem einig. Der Anteilder erneuerbaren Energien liegt bei 25 Prozent. DasEEG war als Markteinführungsinstrument vernünftig.Sonst hätten wir nicht 25 Prozent erreicht. Aber nun gehtes nicht mehr um Markteinführung, sondern um Markt-durchdringung. Deshalb kann man das bisherige Förder-system nicht perpetuieren. Wer die Energiewende zumErfolg führen will, der muss jetzt für eine grundlegendeReform sorgen, Herr Krischer; das ist der entscheidendePunkt. Nachdem Sie zuerst alles in Grund und Boden ge-redet haben, haben Sie am Ende ein Verhandlungsange-bot gemacht. Meine Bitte ist, dass Sie im Sinne einer ge-lingenden Energiewende konstruktiv mitwirken.Der deutschen Öffentlichkeit und vielleicht auch vie-len in diesem Hause ist offensichtlich noch nicht ganzklar, in welcher dramatischen Situation wir uns aufgrundmehrerer Entwicklungen, die zusammenkommen, befin-den. Klar ist: Wir müssen das EEG ohnehin reformieren,um die Kostendynamik beim Zubau tatsächlich in denGriff zu bekommen. Wir wollen übrigens weiterhin aus-bauen. Sie tun dagegen so, als würden die Erneuerbarenüberhaupt nicht mehr gefördert. Das ist nicht der Fall.Wir fördern bislang mit 24 Milliarden Euro jährlich. Wirwerden weiter fördern. Wir haben sehr ambitionierteAusbauziele. Wir sind jetzt bei 25 Prozent. Wir werdenden Weg hin zu den erneuerbaren Energien weiterhinkonsequent gehen. Dafür brauchen wir übrigens auchPlanungs- und Investitionssicherheit. Wenn wir abernicht zu einer grundlegenden Reform kommen, dann– das dürfen Sie der Öffentlichkeit nicht verschweigen –wird es zwei parallele europäische Entwicklungen ge-ben, die uns wirtschaftlich schaden können. Das eine istdas Beihilfeverfahren in Bezug auf die Ausnahmetatbe-stände für energieintensive Betriebe. Wenn wir nicht zueiner grundlegenden Reform auch bei den Ausnahmetat-beständen kommen – ich komme gleich dazu; hierbeimüssen wir übrigens eine Verständigung mit Brüsselherbeiführen; es darf nicht zu einer Eskalation kom-
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Hubertus Heil
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men –, dann haben die Grundstoffindustrien in Deutsch-land ab dem 1. Januar 2015 ein Riesenproblem. Fürchemische Unternehmen, Stahlunternehmen, Alumini-umunternehmen, für die Unternehmen, die bei ihren Pro-zessen alles tun, um energieeffizient zu sein, aber einenhohen Energieaufwand haben, und die miteinander imWettbewerb stehen, wird das ein wirkliches Problem.Das Elektrostahlwerk in meiner Heimatstadt beispiels-weise wäre dann weg. Das will keiner. Deshalb müssenwir diese Ausnahmeregelungen reformieren.Aber es geht noch weiter. Es gibt ja noch einen ande-ren Prozess, der mit Herrn Almunia zu tun hat und der inBrüssel stattfindet: Das ist die Reform der Umwelt- undEnergiebeihilfen. Herr Kollege Krischer, wenn Sie dasnicht im Blick haben, dann riskieren Sie nicht nur, dassdie Ausnahmetatbestände abhandenkommen, sondernauch, dass die Förderung erneuerbarer Energien, dasEEG insgesamt, zum Kippen kommt.
Ich sagen Ihnen: Deshalb machen wir uns auf denWeg grundlegender Reformen. Wer erneuerbare Ener-gien will, der muss heute für Reformen sorgen,
der darf an dieser Stelle nicht nur zugucken, und der darfsich auch nicht zum Anwalt von Partikularinteressenmachen. Das finde ich wirklich schwierig. Ich kann ver-stehen, dass Ministerpräsidenten die Interessen ihresLandes vertreten und Wertschöpfungsanteile im Rahmender Energiewende für sich beanspruchen. Das ist auchderen Job. Aber es ist nicht die Summe dieser Einzelin-teressen, die zu einem Gesamtbild führt.Ich kann nicht verstehen, dass sich Ministerpräsiden-ten, die sehr unterschiedliche Interessen haben, verbün-den, um sie jeweils einzeln durchzusetzen. Ich meineganz konkret Herrn Kretschmann in Baden-Württem-berg und Herrn Seehofer in Bayern. Der eine will inBayern offensichtlich die Biomasse schützen, und derandere hat ein Interesse daran – das kann man diskutie-ren –, die Onshorewindenergie in Baden-Württembergauszubauen. Das sind aber sehr gegensätzliche Interes-sen. Denn Herr Seehofer in Bayern ist ja ein Gegner vonOnshorewindenergie; und Herr Kretschmann sieht mitSicherheit das Thema Biomasse kritischer als HerrSeehofer. Und jetzt treffen sich beide und tun so, alshätten sie die gleichen Interessen. Das geht nicht! Wirbrauchen Vernunft und nicht eine Koalition von Tep-pichhändlern; denn wir müssen dafür sorgen, dass dieEnergiewende tatsächlich zu einem Erfolg wird.
Ich sage Ihnen: Wir haben an dieser Stelle eine Rie-senchance. Die Energiewende ist eine Chance für unserLand. Dabei bleibe ich. Wir können in einer Welt mitwachsendem Energiehunger und einer wachsenden Be-völkerung Ausrüster für moderne Technologien im Ener-giebereich sein. Wir sind in vielen Bereichen führend.Aber dafür brauchen wir die Referenz, dass wir dieEnergiewende im eigenen Land hinbekommen. Wir wer-den hart dafür arbeiten, eine sichere, eine saubere, einebezahlbare Energieversorgung zu gewährleisten. Dazuwerden wir auch alle Interessen anhören.Aber ich sage auch: Wir dürfen nicht zu kurz sprin-gen! Wir müssen bis Mitte des Jahres eine grundlegendeEEG-Reform auf den Weg bringen. Das ist noch nichtdas Ende der Energiepolitik – gar keine Frage. Wir müs-sen auch für Energieeffizienz in diesem Land sorgen.Wir müssen für ein neues Strommarktdesign und für ge-sicherte Kapazitäten sorgen. Das alles sind große Aufga-ben, die vor uns liegen.Aber meine ganz herzliche Bitte an alle, die sich einbisschen damit auskennen, ist: Wirken Sie mit! GehenSie nicht in die Schützengräben! Mauern Sie nicht! Esgeht tatsächlich darum, die Energiewende zum Erfolg zuführen, aber vor allen Dingen auch darum, dadurch einenBeitrag dazu zu leisten, dass Deutschland wirtschaftlicherfolgreich bleibt. Es geht um Wohlstand, Arbeitsplätze,Lebensqualität in diesem Land. Auch den Weg zu mehrKlimaschutz werden wir mit einem neuen Bundeswirt-schaftsminister gehen, der die Durchschlagskraft hat, dieseinem Vorgänger gefehlt hat.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Eva Bulling-
Schröter für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe jetzt wirklich Angst, Herr Gabriel, dass Sie Ihr Ge-sellenstück vermasselt haben. Mir kommt es jedenfallsso vor.
Ob die Strompreise durch Ihre Reform wirklich stabilbleiben oder ob sie steigen, das wissen Sie nicht. Ichhabe Ihr Interview dazu gesehen. Der Grund dafür ist na-türlich auch, dass die Privilegien der Industrie wohlweitgehend unangetastet bleiben; jedenfalls liegt da allesnoch im Nebel. Wir ahnen, wie das weitergeht. Ich kannnur sagen: Tun Sie etwas! Wir wollen nicht, dass überdie EU das EEG plattgemacht wird; denn wir brauchendas EEG auch weiterhin.Jetzt wird aber die Energiewende abgebremst. Da istder rigide Ausbaukorridor von jährlich insgesamt 5 Gi-gawatt für Wind und Sonne. Zur Erklärung: Das Tempodes Ausbaus von Ökostromanlagen wird damit um circaein Drittel, also 33 Prozent, verringert, insbesondere beider Photovoltaik.Wir haben es schon gehört: Das geschieht ausgerech-net jetzt, da diese weitgehend konfliktfreie Technologieimmer preiswerter wird. Ohnehin sind die EEG-Kosten
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Eva Bulling-Schröter
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zum überwiegenden Teil Kosten, die aus Entscheidun-gen in der Vergangenheit resultieren. Mit der Ausbau-bremse werden wir nicht viel bewirken; denn die Kostenfallen nach wie vor an. Die Tarife für Altanlagen wurdenschließlich für 20 Jahre garantiert. Diese garantierten Ta-rife waren und sind im Sinne der Markteinführung rich-tig. Schließlich müssen Sonnen- und Windenergie gegenSubventionen in Millionenhöhe für die fossil-atomareWirtschaft ankämpfen; denn Atomstrom wird noch indi-rekt subventioniert.Herr Fuchs spricht vom Kaufkraftverlust, der durchdas EEG hervorgerufen werde, aber er spricht nicht vondem Kaufkraftverlust, der aufgrund der Kosten derAtomenergie entsteht, denn der fossil-atomaren Energie-erzeugung fließen erhebliche Mittel zu.
Im Prinzip sind die EEG-Kosten Technologieentwick-lungskosten. So sehen wir das und viele andere auch.Darum können wir uns auch vorstellen, dass ein Teil die-ser Rechnung in der Zukunft beglichen wird. Schließlichprofitieren die künftigen Generationen von der Energie-wende, und wir wollen, dass die Energiepreise nichtmehr so stark steigen. Wir sagen: Ilse Aigner hat an die-ser Stelle ausnahmsweise recht.Herr Minister, ich kann mich noch gut an die Klima-konferenz in Poznan erinnern. Sie sind da aufgetreten,haben viel Erfolg gehabt und haben die Leute begeisternkönnen. Ich frage mich: Was ist jetzt? Es ist wirklichschade; denn das war ein guter Auftritt. Die Drosselungdes Ökostromausbaus bringt die deutschen Klimaschutz-ziele, die wir bis 2020 erreichen wollen, in Gefahr.Schauen Sie sich die Zahlen an. Wir sind noch weit wegvon unserem Ziel. Wir müssen aber dorthin. Das ist drin-gend notwendig. Die Lücke, die noch klafft, beträgt ei-nige Prozent, und sie wird weiter wachsen. Sie wird auchdeshalb wachsen, weil die Kohleverstromung jedes Jahrneue Rekordwerte erreicht. Ich sehe in dem Regierungs-konzept überhaupt keine Ansätze, wie dieser Trend ge-stoppt werden soll. Wir fluten Europa mit dreckigemStrom, und die Bundesregierung schaut zu. Und Siewundern sich noch, wenn Osteuropa von unserer Politiknicht begeistert ist. Ich kann die Reaktion wirklich ver-stehen.
In die gleiche Richtung wie die Deckelung des Aus-baus wirken die Kürzungen der Vergütungen für denÖkostrom. Das neue Vergütungsmodell könnte das Ausfür die Windkraft im Süden Deutschlands bedeuten. Da-mit nehmen Sie ausgerechnet der preiswertesten Art,Ökostrom zu erzeugen, den Wind aus den Segeln, zu-mindest regional.Bei Offshoreanlagen, einer Großtechnologie, an derenFinanzierung Bürgergenossenschaften scheitern, sindSie deutlich vorsichtiger. Da fragen wir uns natürlich,warum. Ich denke, wenn wir auf die Windkraft im Südenverzichten, dann verzichten wir nicht nur auf Ökostrom,sondern sorgen auch dafür, dass sich die Windkraftanla-gen im Norden konzentrieren. Wie lange aber werdendie Bürgerinnen und Bürger sich das gefallen lassen?Sind die Landschaften in Bayern oder Baden-Württem-berg mehr wert als die in Niedersachsen oder Mecklen-burg-Vorpommern? Ich will hier nicht den Windkraft-gegnern das Wort reden, im Gegenteil. Aber der besteWeg, Akzeptanz zu verspielen, ist der, den Sie, HerrGabriel, hier beschreiten. In Bayern stocken schon dieWindkraftprojekte, und die Leute sind sehr verunsichert.Sie wollen die schwankende Einspeisung von Son-nen- und Windenergie an die Börse zwingen. Wir sagen:Das ist der falsche Weg.
Die Makler am Spotmarkt werden am Wetter nichts än-dern. Die angeblichen Vorteile der Direktvermarktunglösen sich in nichts auf; das zeigt sich, wenn man es ge-nauer betrachtet.Der Vorschlag verkehrt außerdem die vernünftigeHierarchie der Energiewende ins Gegenteil. Künftig sol-len sich im Falle negativer Börsenpreise regenerativeAnlagen an die konventionelle Erzeugung anpassen undnicht umgekehrt. Das ist für uns „Energiewende absurd“.Das dient eben nicht der Bürgerenergie, wie wir uns dasalle wünschen, sondern es dient ganz anderen Zielen.Die Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerenergie wer-den sich wehren, genauso wie auch wir uns gegen dieseVorschläge wehren werden.
Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat – es istangesprochen worden –, Deutschland steht heute gut da.Der Laden läuft. Der Wirtschaftsmotor brummt. Vorzehn Jahren war es ganz anders: Da war Deutschlandmehr oder weniger im Mehltau erstarrt, reformunfähig.In Hiobsbotschaften wurden wir mit Blick auf die Ar-beitslosigkeit als kranker Mann Europas dargestellt.Seit mittlerweile acht Jahren führt die Union die Bun-desregierung unter Angela Merkel, und seither geht esaufwärts, zunächst mit der SPD 2005 bis 2009 in derGroßen Koalition – da sind vernünftige Beschlüsse zu-stande gekommen –, dann 2009 bis 2013 mit der FDP –
auch da ging es vernünftig aufwärts –, jetzt, 2013 bis2017, wieder mit der SPD. Auch da wird es weiter auf-wärtsgehen. Wir laden Sie ein, uns auf diesem Weg zubegleiten.
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Dr. Joachim Pfeiffer
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Die Union wird dafür sorgen, dass das Ganze mitMaß und Mitte ohne zu viel Ideologie von links und vonrechts vorangeht. Herr Gabriel, ich sage ganz deutlichund klar an dieser Stelle: Wir haben ein Interesse daran,dass wir in den nächsten vier Jahren gemeinsam erfolg-reich sind.
Wir haben große Herausforderungen und große Projektevor uns. Wir werden Sie bei allem unterstützen, was indie richtige Richtung geht, damit wir in vier Jahren ge-meinsam besser dastehen, als es heute der Fall ist.Ich möchte ein paar Punkte ansprechen. Der zentralePunkt heute ist die Energie. Wir sind bei der Energie-wende zum Erfolg verdammt. Wir haben uns gemeinsamdie nach meiner Kenntnis weltweit ambitioniertestenZiele gesetzt, was CO2-Reduktion, den Ausbau Erneuer-barer, die Energieeffizienz und anderes mehr anbelangt.Viele Ziele sind bereits erreicht oder auch übertroffen,etwa beim Strom. Wir haben bei der Stromproduktionbisher alle gesetzten Ziele nicht etwa unterschritten, son-dern immer übertroffen. Das ist leider vielleicht sogarein Problem, weil wir durch dieses Übertreffen die Kos-ten etwas aus dem Auge verloren haben. Es kam zuschnell zu hohen Kosten, beispielsweise weil in die Pho-tovoltaik von 2008 bis 2011/2012 zu viel investiertwurde. Außerdem haben wir zum Beispiel den Netzaus-bau nicht mit dem Ausbau der Stromproduktion syn-chronisiert.Vor allem gibt der Markt heute nicht mehr die Signalean der Börse, die er eigentlich geben muss. Gerade wardavon die Rede, man wolle erzwingen, dass die Energie-preise an der Börse ermittelt werden. Genau das ist dasProblem. Die Börse ist heute eine Restgröße. Der Marktkann nicht mehr die Knappheitssignale liefern, wie wirsie uns erhofft haben. Ein solches Signal wäre beispiels-weise, dass durch Merit-Order-Effekte auch unter Ge-sichtspunkten der CO2-Reduzierung die richtigen An-reize gesetzt werden, sodass Energie verstärkt aus Gasstatt aus Kohle gewonnen wird. Das ist ein Problem derPlanwirtschaft. Wir haben zu viele Fixpreise im Bereichder Erneuerbaren. Das ist leider auch wahr.Es war kein Problem, als der Anteil der Erneuerbarenbei 5 Prozent lag. Mittlerweile kommen aber 25 Prozentdes Stroms aus Erneuerbaren, und wir wollen dies inRichtung 35 bis 40 Prozent ausbauen. Insofern ist esrichtig, Herr Minister, was Sie vorschlagen: dass wir beiden neuen Anlagen in die Direktvermarktung gehen, da-mit sie in den Markt integriert werden, sodass der Marktdann endlich wieder funktioniert. Der Markt ist hiernämlich die Lösung und nicht das Problem des Ganzen.
Die Energiewende muss in der Tat europakonformausgestaltet werden. Die EU wird im April – wenn sieihre Zusage einhält; davon gehe ich aus – ihre Umwelt-und Beihilfeleitlinien vorlegen, sodass wir das EEGrechtsfest und europakonform ausgestalten können,damit in den nächsten Jahren für alle Investoren, die indiesem Bereich unterwegs sind, Planungssicherheitherrscht.Jetzt möchte ich doch einmal das Thema ansprechen,das mir wirklich langsam etwas auf den Zeiger geht.
Bevor Sie zu diesem möglicherweise besonders sen-
siblen Teil Ihrer Rede kommen:
Lassen Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der Grü-
nen zu?
Ja. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Kol-
lege. – Ich habe ein bisschen gewartet, nachdem Sie das
Thema Markt angesprochen und zu Recht beklagt haben,
dass wir in einer Planwirtschaft zu enden drohen; „De-
ckelung“ und ähnliche Dinge höre ich.
Was ich in den bisherigen Reden vermisse, sowohl
vom Herrn Minister als auch gerade von dem für die
Marktwirtschaft in Worten immer so vehement eintre-
tenden Kollegen Fuchs, ist eine Antwort auf die Frage,
wie Sie den Markt wirklich gestalten wollen in einer
Zeit, wo Sonne und Wind keine Rechnungen schreiben,
also ein Paradigmenwechsel wichtig wäre, nämlich weg
von der bezahlten Kilowattstunde – fragen Sie einmal
die Stadtwerke! – und hin zu einer Flatrate – so sagen die
Stadtwerke; sie wollen die Leistung bezahlen – oder ei-
ner Flexibilitätsprämie. Wie wollen Sie – dazu erwarte
ich von Ihnen Ausführungen – den Markt wirklich ge-
stalten in einer Zeit, wo dieser Paradigmenwechsel
– Stichwort „Kapazitätsmärkte“, Stichwort „Flexibili-
tätsmärkte“ – wichtig wäre? Ich würde erwarten, dass
gerade von Ihrer Seite – Herr Gabriel hat heute ja im
Wesentlichen mit den Grünen gesprochen – Vorschläge
dazu kommen.
Danke. Das erläutere ich gern.Zunächst ist festzustellen, dass für Strom aus den Er-neuerbaren im Jahr 2013 über das EEG ungefähr 23 Mil-liarden Euro ausgegeben wurden; es waren, glaube ich,sogar 23,5 Milliarden Euro. Der Börsenwert diesesStroms betrug aber gerade einmal 10 Prozent davon,2,5 Milliarden Euro. In der Tat Planwirtschaft, wie Siesie beschreiben!Das führt natürlich dazu, dass an der Börse, wo dieserStrom dann zu Marktpreisen verramscht wird, auch nocheuropaweit verramscht wird, der Markt nicht mehr funk-tionieren kann. Sie wissen das. Sie sind ja einer der we-nigen Unternehmer bei den Grünen, gehören also zu de-
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Dr. Joachim Pfeiffer
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nen, die ein Unternehmen auch schon einmal von innengesehen haben.
Insofern können Sie, glaube ich, auch nachvollziehen,dass es nicht funktionieren kann, wenn das immer nochweiter ausgeweitet wird.Wir haben im Moment die Frage des Marktdesigns,die Sie ja auch ansprechen. Wir haben im Moment, Gottsei Dank, noch kein Kapazitätsproblem, aber ein Rendi-teproblem. Es sind im Moment genug Stromerzeugungs-kapazitäten vorhanden. Deshalb arbeiten wir bei derBundesnetzagentur, wie Sie wissen, mit der Winter-reserve im Moment auf Sicht. Für den Winter 2013/14und für den Winter 2014/15 ist die Leistung, die wir inden Höchstlastzeiten brauchen, schon komplett unterVertrag. Für den Winter 2015/16 fehlen noch ungefähr1 000 Megawatt; die gilt es noch zu kontrahieren.Wir wollen aber nicht, wie manche vorschlagen, jetztauch dort Planwirtschaft einführen in der Weise, dass eszu Ausgleichszahlungen kommt und wieder zu Subven-tionierungen, sei es für Kohle oder für Gas oder für an-dere Energieträger. Wir müssen jetzt vielmehr in einemersten Schritt mit neuen Regelungen im EEG dafür sor-gen, dass die Erneuerbaren zukünftig in den Markt inte-griert werden, dass sie nicht einfach nur Strom produzie-ren, wenn der Wind gerade weht oder die Sonne geradescheint. Vielmehr muss es Anreize dafür geben, denStrom zu speichern, Anreize dafür, den Strom dann zurVerfügung zu stellen, wenn das System ihn braucht,wenn er nachgefragt wird. Da haben wir doch bisher einProblem.Wenn wir das EEG in dieser Richtung umgestaltet ha-ben, dann kommt der zweite Schritt – das hat der HerrMinister ja vorhin angesprochen –; es gilt nämlich, dasMarktdesign so zu gestalten, dass es funktioniert. – Ichbin immer noch bei der Beantwortung der Frage desKollegen, Herr Präsident; es ist halt kompliziert.
Ja. Aber, Herr Kollege Pfeiffer, Sie werden völlig zu
Recht vermuten, dass ich nicht die Absicht habe, Ihre
Redezeit auf diese Weise zu verdoppeln.
Sagen Sie jetzt noch einen schönen Schlusssatz zu der
Frage des Kollegen Gambke. Dann läuft die Uhr wieder.
Okay. – Ich kann da nur vor etwas warnen; HerrGambke, ich glaube, da sind wir der gleichen Meinung.Wir müssen aufpassen, dass wir das nicht allein inDeutschland machen. Wir dürfen zu den 28 unterschied-lichen Regimes, die wir in Europa bei den erneuerbarenEnergien haben, jetzt nicht noch 28 unterschiedlicheMarktdesigns realisieren. Wir wollen einen gemeinsa-men europäischen Binnenmarkt für Energie und fürStrom verwirklichen. Das wird die Aufgabe sein. Siesind herzlich eingeladen, mit Ihrer Expertise daran mit-zuwirken.Jetzt komme ich zu einem in der Tat sensiblen Thema,wie der Präsident schon zu Recht vermutet hat. Was hiervon grüner und linker Seite ständig behauptet wird, istaus meiner Sicht wirklich unseriös und unverantwort-lich. Es wird hier der Eindruck erweckt, als sei für denStrompreisanstieg die energieintensive Industrie inDeutschland verantwortlich. Es wird behauptet, sie seischuld, dass die EEG-Umlage so hoch ist. Das Gegenteilist der Fall. Die energieintensive Industrie ist nicht Täter,sondern Opfer der Entwicklung.
Herr Krischer, Sie haben sich die Zahlen, die Sie zi-tiert haben, entweder falsch aufgeschrieben oder be-wusst falsch wiedergegeben. Sie haben vorhin den VIK-Index für den Strompreis genannt. Es wurde die Alumi-niumhütte in den Niederlanden angesprochen. Der VIK-Index weist aber für die Niederlande einen im Vergleichzu Deutschland über 2 Cent günstigeren Strom aus. Dasheißt, am Strom aus Deutschland lag es sicher nicht. Fürdie Schwierigkeiten gab es vielleicht andere Gründe. ImÜbrigen war der Eigentümer der Hütte in den Niederlan-den auch Eigentümer der Hütte in Neuss. Er hat beidegegen die Wand gefahren; das wissen Sie, Herr Krischer.Das, was Sie behaupten, ist also unseriös.
Deutschland hat nach wie vor mit die höchsten Indus-triestrompreise in Europa. Das gilt für dieses Jahr undfür das letzte Jahr. Wir befinden uns in der Spitzen-gruppe, zusammen mit Zypern und Italien.Wir dürfen nicht nur Europa im Blick haben, sondernwir müssen auch weltweit wettbewerbsfähig sein. Ichkomme an dieser Stelle erneut auf den VIK-Index zusprechen, den Sie leider nicht ganz richtig wiedergege-ben haben. In Frankreich als Beispiel für ein europäi-sches Land hat dieser Index für die besonders energie-intensiven Betriebe – ich setze den Industriestrompreis inDeutschland gleich 100 – den Wert 80. Wenn man sichdie großen Wettbewerber außerhalb Europas anschaut– Michael Fuchs hat das Beispiel USA angesprochen –,dann sieht man, dass er dort niedriger ist. In den USAbeträgt der Index 48, in Südkorea 61, in Brasilien 69 undin China 75. Das heißt, in den Ländern, die unsereHauptwettbewerber sind, ist der Industriestrompreisdeutlich günstiger, als es bei uns der Fall ist.
Es ergibt sich dann das Problem, dass Investitionennicht mehr in Deutschland erfolgen.
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Dr. Joachim Pfeiffer
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Es ist auch keine Drohung, sondern das passiert schon.Wenn man sich die Statistiken anschaut, die zeigen, inwelchem Maße von 2004 bis 2010 reinvestiert wurde,dann sieht man, dass nicht einmal mehr 80 Prozent derabgeschriebenen Anlagen in Deutschland im energiein-tensiven Bereich ersetzt wurden. Was heißt es, wenn An-lagen nicht mehr ersetzt werden? Das bedeutet Deindus-triealisierung.Nehmen Sie als Beispiel für ZukunftstechnologienSGL Carbon. Jeder will die Produkte dieses Unterneh-mens für die Elektromobilität sowohl mit Blick auf Flug-zeuge als auch auf Autos nutzen. Die erste Fabrik – da-mit verbunden sind auch Wertschöpfungsstufen wieTätigkeiten im Forschungsbereich und Produkte von Zu-lieferern – wird in Washington State gebaut und nicht inDeutschland oder in Europa. Das ist leider die Wahrheit.Deshalb ist das, was Sie sagen, unseriös und unverant-wortlich.Selbst wenn man alle Ausnahmen, die Sie angespro-chen haben, streichen würde – das würde allerdings be-wirken, dass die energieintensiven Industrien inDeutschland nicht mehr existent wären –, dann wäre dieEEG-Umlage gerade einmal 1 Cent niedriger. Sie würdestatt 6,3 dann 5,3 Cent betragen. Daran wird deutlich,dass das, was Sie behaupten, unverantwortlich ist unddem Industriestandort schadet. Wenn es bei uns keineenergieintensive Industrie mehr geben würde, dannmüssten spätestens in zwei Jahren die Verbraucher wie-derum für die Restkosten aufkommen. Insofern ist auchdas eine Milchmädchenrechnung.
Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich sagen: Un-sere Ziele beim Thema Energie betreffen nicht nur denStrom; wir sprechen heute aber nur über Strom. Wir wer-den unsere ambitionierten Ziele nicht erreichen, wennwir im Gebäudebestand nicht das Engagement zeigen,das eigentlich notwendig wäre. Es ist aber leider das Ge-genteil der Fall. Die Sanierungsquoten stagnieren bei1 Prozent. Wir haben es einmal von 2005 bis 2009 mitdem CO2-Gebäudesanierungsprogramm und mit anderenProgrammen geschafft, kurzfristig auf eine Quote von2 Prozent oder noch darüber zu kommen.Die unnötige Diskussion aller Beteiligten – im Bun-destag gab es eine Entscheidung; aber mit den Länderngibt es noch Gespräche – über die steuerliche Förderungder energetischen Sanierung hat dazu geführt, dass zweiJahre lang zu wenig passiert ist. Anstatt Anreize zu set-zen, wird jetzt in Erwägung gezogen, mit dem Knüppelzu kommen. Davor kann ich nur warnen.Wir haben in der letzten Koalition mit der SPD, inden Jahren 2005 bis 2009, in diesem Hause auch überdieses Thema diskutiert und sind damals wohlweislichnicht zu dem Ergebnis gekommen, technische Vorgabenfür die energetische Sanierung zu machen. Damals hat-ten Sie zwar eine andere Funktion, Herr Gabriel; aberSie erinnern sich sicherlich. Ich glaube, dies war gut.In Baden-Württemberg hat man ein solches Gesetztechnologieoffen eingeführt und hat gesagt: 10 Prozenterneuerbare Energien können ersetzt werden durch Bio-heizöl oder Ersatzmaßnahmen. Das war aus meiner Sichttechnologieoffen. Dies hat damals die CDU zusammenmit der FDP eingeführt. Leider ist aber das Ergebnis– die Zahlen sprechen eine andere Sprache –, dass auchin Baden-Württemberg die Sanierungsquote und Sanie-rungsgeschwindigkeit zurückgegangen sind, weil dieLeute dann eher gar nichts machen. Jetzt kommt diegrün-rote Landesregierung und sagt: Die Leute haben esnicht verstanden. Wir erhöhen jetzt die Quote auf 15oder gar 20 Prozent.Ich glaube, das ist der falsche Weg. Wir müssen ge-meinsam bessere Wege finden. Wenn wir im Bereich derGebäudesanierung nicht mehr erreichen, dann wird derUmbau der Energieversorgung gegen die Wand fahren.Dann werden wir nämlich nicht die Effizienzziele undCO2-Reduktionsziele erreichen, die wir uns gemeinsamvorgenommen haben.
Jetzt bleibt mir leider nicht mehr allzu viel Zeit, an-dere wichtige Punkte anzusprechen.Europa. In dieser Legislatur muss in Europa vom Kri-senmodus auf einen Wachstumsmodus umgeschaltetwerden. Hier gibt es neue Felder.Verteidigung und Sicherheit. Hierauf kann ich leidernicht eingehen. Vielleicht habe ich bei anderer Gelegen-heit die Chance dazu.Ich möchte aber noch einen Punkt ansprechen, näm-lich die Transatlantische Handels- und Investitionspart-nerschaft. Sie bietet die einzigartige Chance, in dieserLegislatur eine Freihandelszone für 800 Millionen Men-schen, Wachstumsimpulse von 120 Milliarden Euro inEuropa – in den USA von 100 Milliarden Euro – und400 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es gibt vieleChancen und nicht immer nur Gefahren. Lassen Sie unsüber die Chancen reden! Michael Fuchs hat einigePunkte angesprochen – –
Das wird jetzt aber nicht mehr gehen, Herr Kollege
Pfeiffer.
Vielleicht gibt es noch eine Zwischenfrage zu den
Chlorhühnchen?
Nein, nein, nein.
Dann könnte ich dazu noch etwas sagen. Dieses Bei-spiel spricht Frau Künast immer so gerne an. – Dannmuss ich dies leider an anderer Stelle erläutern. Dennauch im Hinblick auf das Problem der Chlorhühnchen istdie TTIP eine Chance bzw. eine Lösung und keine Ge-fahr. Es wird, bezogen auf die aktuelle Situation im Rah-
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men der WTO, zu anderen Lösungen kommen. Wennwir dort Standards vereinbaren können, dann haben wirdie Chance zur Umsetzung besserer Bedingungen auchin diesem Bereich. Aber die Darstellung weiterer Detailsmuss wohl einer Rede zu einer anderen Zeit und an an-derer Stelle vorbehalten bleiben.
Sehr wohl.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Nur für die neuen Kolleginnen und Kollegen zur Er-
läuterung der Geschäftsordnungslage und unserer ständi-
gen Praxis: Ich lasse selbstverständlich gerne Zwischen-
fragen oder Zwischenbemerkungen zu, aber natürlich
nicht, nachdem die Redezeit des jeweils gemeldeten
Redners bereits überschritten ist. Jeder kann sich mühe-
los vorstellen, zu welcher Atomisierung aller vereinbar-
ten Debattenzeiten eine solche Praxis führen würde.
Nun erhält als Nächster das Wort der Kollege Dieter
Janecek für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrterDr. Pfeiffer, gerade kam die Meldung, dass der schles-wig-holsteinische Ministerpräsident Albig Ihre Pläne zurEnergiewende – auch die von Ihnen, Herr Gabriel – alsSozialismus und Planwirtschaft bezeichnet. Ich hätte mirnicht träumen lassen, dass ich der Union einmal Plan-wirtschaft und Sozialismus vorwerfen darf; aber das tueich hiermit sehr gerne.
Ich erkenne in Ihren Reden ein Grundproblem: WennSie von der Energiewende sprechen, dann sprechen Siezuerst über Kosten und Risiken. Aber wir Grüne spre-chen von Chancen und Zukunft. Wir sprechen nämlichvon der Chance, mit klugen Investitionen das zukunfts-fähigste, unabhängigste, modernste, sauberste und bür-gerfreundlichste Energiesystem der Welt zu schaffen.Darum geht es.
Wir sind die viertgrößte Industrienation der Welt und,nebenbei bemerkt, Hoffnungsträger für den Klimaschutzmit einem Weltmarktanteil von 15 Prozent bei den Um-weltschutzgütern. Wir geben täglich in ganz Europa1 Milliarde Euro für den Import von fossilen Energieträ-gern aus. Das ist eine Menge, da müssen wir raus. Durchdas EEG – das war eine industriepolitische Leistung –sind die Produktionskosten für Wind- und Photovoltaik-anlagen drastisch in den Keller gegangen. Dies ermög-licht heute, insbesondere Wind onshore, die günstigsteStromproduktion, die wir haben können. Deswegen istdas Gerede von der Deindustrialierung eine reine Panik-mache Ihrer Seite.
Die jüngste Fraunhofer-Studie formuliert es doch tref-fend – das ist nämlich der Weg –: Erneuerbare beruhenauf „kapitalkostenintensiven Technologien“ – ja, dasstimmt –, aber die Betriebskosten sind am Ende null. –Warum sollten wir nicht mit aller Kraft danach streben?Das ist doch unser Auftrag.
Das ist auch die Botschaft, die ich von einem deut-schen Wirtschaftsminister erwarte. Ihre Aufgabe in derGroßen Koalition ist es, die Erfolgsgeschichte der erneu-erbaren Energien zusammen mit den Ländern fortzu-schreiben. Und wenn sich mein bayerischer Ministerprä-sident Horst Seehofer von Winfried KretschmannNachhilfe geben lässt, dann kann ich das nur begrüßen –Hauptsache, es geht voran!
Wir reden heute beim Wirtschaftsplan aber nicht nurüber die Energiewende; wir haben eine Aussprache zumgesamten Plan. Es geht zum Beispiel auch um Industrie-politik. Sie setzen auf Bestandsschutz für die alten Dino-saurier. Das sieht man bei der Energiewende, die, so wieSie es jetzt planen, de facto auch einen Bestandsschutzfür die Kohleenergie beinhalten wird. Sie fangen auchbei der Automobilindustrie nicht damit an, darüber zureden, ob es immer schneller, höher, weiter gehen soll.Und Sie verlieren kein Wort zu unserem Steuersystem.Dieses Steuersystem bestraft nachhaltiges Verhalten undbelohnt es nicht. Auch da müssen wir ran.
Was wir wirklich brauchen, ist ein konsequenter Wandelder Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit und Ressour-ceneffizienz. Und wir brauchen eine Politik, die diesenWandel befördert und nicht bestraft.Gestern habe ich in der Regierungserklärung derKanzlerin einiges Interessantes vernommen, zum Bei-spiel die Rede von dem „guten Leben“. Das kam mir erstein bisschen esoterisch vor, aber dann habe ich darübernachgedacht. Dazu gab es in der letzten Legislatur mitder Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Le-bensqualität“ einen Vorlauf. Wir haben darüber disku-tiert: Ist es eigentlich unsere Vorstellung von Wirtschaft,nur auf blindes Wachstum, auf „schneller, höher, weiter“zu setzen, oder geht es auch um Lebensqualität undWohlstand? Sie führen jetzt einen Dialog über das guteLeben. Das finde ich gut. Ich hoffe nur, dass das wirklichüber Selbstbeschäftigung hinausgeht. Denn es lohnt sichwirklich, sich darüber Gedanken zu machen.
– Da sehen Sie mal.Es gibt auch Licht im Koalitionsvertrag. Immerhin: Esgibt einen eigenen Abschnitt zur Rohstoffsicherung. Das
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Dieter Janecek
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finde ich sehr gut. Denn für die Wettbewerbsfähigkeit derIndustrie wird die Frage der Verfügbarkeit von SeltenenErden, nachwachsenden Rohstoffen, Einfuhr von Minera-lien und Metallen immer bedeutsamer. Die warnendenStimmen aus den Unternehmen häufen sich, wie jüngsteine Studie aus der bayerischen Wirtschaft gezeigt hat.Wir Grüne wollen die Ressourcenwende. Wir wollendie Rohstoffabhängigkeit der deutschen Industrie sen-ken, dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaftstärken und Umwelt und Klima schonen. Wer wirklichglaubt, dass wir bei Erdöl, bei Seltenen Erden, ja per-spektivisch auch bei Gas dauerhaft auf der sicheren Seitesind, der glaubt auch an den Mann im Mond. Das Endedes Frackinghypes in den USA sollte uns da endgültigeines Besseren belehren.
Ein Thema kam heute wirklich viel zu kurz: die digi-tale Revolution. Wir reden ja nicht nur über die Energie-wende und die Industrie, sondern auch über das Poten-zial, das wir in der Digitalwirtschaft haben. Wissen Sie,wie viele Unternehmen aus Deutschland unter den 64größten Internetunternehmen weltweit sind? Kein einzi-ges. Deswegen ist es gut, dass wir jetzt einen entspre-chenden Ausschuss einrichten. Leider droht er an denverschiedenen Kompetenzen der Ministerien zu erstickenund nur eine beratende Funktion zu erhalten. Aber auchdas Thema Digitalwirtschaft gehört auf die Agenda; dasmüssen wir intensiv bearbeiten.
Jetzt ist mir noch ein Punkt wichtig. Sie, Herr Minis-ter, treten hier mit vollen Kassen an. Manche Ihrer Vor-gänger hatten es wirklich schwerer. Und was tun Sie?Sie stecken 10 Milliarden Euro in die – das nenne ichjetzt so – Finanzierung von Rentenleistungen und schaf-fen damit nicht einmal, etwas gegen Altersarmut zu tun.Aber bei öffentlichen Zukunftsinvestitionen bleibt dage-gen einiges auf der Strecke. In Ihren Ursprungsüberle-gungen war die steuerliche Förderung von Forschung,Entwicklung und Gebäudesanierung angedacht, vor al-lem auch – das sage ich in Richtung SPD; denn das warIhr Wunschprojekt – ein umfangreiches Förderpro-gramm für Breitband. All das ist weg; das gibt es nichtmehr. Das geht zulasten der kommenden Generationenund der Zukunftsfähigkeit.
Kommen wir zum Freihandelsabkommen. Wir Grünesagen Ja zum Freihandel. Wir sagen auch Ja zu echtemWettbewerb. Wir sagen vor allem Ja zu starken ökologi-schen und sozialen Standards. Aber dann schaffen wirdoch mal gemeinsam die Zölle für Umweltschutzgüteroder die milliardenschweren Subventionen für Erdöl,Kohle und Atom hier und jenseits des Atlantiks ab! Dazuhöre ich von dieser Regierung kein Wort. Stattdessenlaufen die Verhandlungen in eine ganz andere Richtung.Eines muss doch klar sein: Ein Freihandelsabkommen,bei dem multinationale Konzerne in die Souveränitäts-rechte von Staaten eingreifen können, ist nicht zustim-mungsfähig.
Wir sagen Nein zu einem Freihandelsabkommen, das so-ziale und ökologische Standards schleift. Hier erwartenwir ganz klare Worte von der Regierung, auch was denInvestitionsschutz angeht. Es kann nicht sein, dass unsmultinationale Konzerne hier verklagen können und wirdann die Leidtragenden sind.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir stehenimmer noch am Anfang dieser Legislatur. Die Weichenfür die Zukunft werden jetzt gestellt, doch bei Ihnenstimmt die Richtung nicht.Wir bieten Ihnen die Zusammenarbeit an, wenn es da-rum geht, die Energiewende kraftvoll umzusetzen. Siekönnen auf uns setzen, wenn es darum geht, Lösungenfür ressourcenschonendes Wirtschaften zu finden. Aberwas wir wirklich brauchen, ist eine Steigerung des In-vestitionstempos und der Innovationsansätze.Wir brauchen Forschung über vernetzte Mobilität,postfossile, sich selbst versorgende Städte, ökologischeArchitektur mitsamt Gebäuden, die künftig mehr Ener-gie produzieren, als sie verbrauchen, über die Chancender Sharing Economy, den Schutz der Gemeingüter, diePotenziale der Biotechnologie und künstlichen Foto-synthese und über die Nutzbarmachung der digitalen Re-volution für eine nachhaltige Ökonomie.In der chemischen Industrie steht die Substitution vonÖl und Gas durch nachwachsende Rohstoffe an. Die Auto-mobilindustrie muss den Weg hin zu Leichtbau, Hybridenund Elektromobilität beschreiten. Eine Zero-Waste-Öko-nomie braucht ein flächendeckendes Recyclingsystem.Vor allem brauchen wir eines: Preise müssen endlichdie ökologische Wahrheit sagen.
Deshalb müssen wir über eine Stärkung des Emissions-zertifikatehandels und die Weiterführung einer ökologi-schen Finanzreform reden. Nur dann herrscht echterWettbewerb. Nur dann gelingt der Wandel hin zu einergrünen Ökonomie.Die Große Koalition steht für die Bewahrung derStrukturen von gestern. Wir Grüne hingegen stehen fürInnovation, frei nach Edmund Stoiber: Grün ist, was Ar-beit schafft.Ich danke Ihnen.
Lieber Kollege Janecek, ich gratuliere Ihnen zu Ihrerersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche IhnenFreude und Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit.
Wolfgang Tiefensee ist der nächste Redner für dieSPD-Fraktion.
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686 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Große
Koalition hat vier Jahre vor sich, und wir wollen diese
vier Jahre nutzen, um für gesundes und nachhaltiges
Wachstum in Deutschland zu sorgen. Wir wollen für
mehr Arbeitsplätze, für gute Arbeit sorgen. Schließlich
geht es darum, die Lebensqualität aller in Deutschland
lebenden Menschen zu verbessern, egal wo sie herkom-
men, wie gebildet sie sind und was sie verdienen.
Diese Ziele sind für uns handlungsleitend, und wir
wollen sie in den nächsten vier Jahren umsetzen.
Dabei setzen wir auf die Unternehmen. Ebenso wie wir
auf die Belegschaft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, setzen, setzen wir auf die Unternehmer. Wir
werden ganz dicht an ihnen dran sein. Die Türen stehen
offen, und ich lade alle draußen im Lande ein, mit uns
gemeinsam dafür zu sorgen, dass Deutschland voran-
kommt.
Wenn ich mit Unternehmern und Belegschaften rede,
dann tauchen immer wieder sechs wichtige Problem-
kreise auf, die wir in Zukunft im Blick behalten müssen.
Als Erstes wird genannt: Sorgt dafür, dass wir in Europa
verlässliche und stabile Bedingungen haben. Das Zweite
ist: Löst das Problem der Demografie, des Fachkräftebe-
darfs und der Nachfolge in den Unternehmen. Das
Dritte: Kümmert euch um die Energie, um die Stabilität
der Preise. Als Viertes wird oft genannt: Wir brauchen
eine bessere Infrastruktur – Herr Janecek hat es ange-
sprochen –, womit nicht nur die Infrastruktur in Bezug
auf Straßen, Abwasser und Wasser gemeint ist, sondern
auch die digitale Infrastruktur. Als fünftes Thema wird
genannt: Wir brauchen mehr Innovationsschub. Wir
brauchen eine neue Gründerzeit. Schließlich: Wir haben
immer noch eine überbordende Bürokratie, das Steuer-
system ist undurchschaubar. – Diese sechs Punkte wer-
den wir in den nächsten Jahren gleichermaßen im Blick
behalten, auch wenn momentan die Energiewende im
Vordergrund steht. Wir wollen auf allen diesen Sektoren
erfolgreich sein.
Ein überwölbendes Thema spielt oft eine Rolle, wes-
halb ich es unbedingt ansprechen möchte: Wir brauchen
in Deutschland eine neue Haltung gegenüber Unterneh-
men, Unternehmern, und wir brauchen eine neue Hal-
tung von Unternehmern gegenüber den Zulieferern aus
aller Welt.
Zum Ersten. Es ist ganz schön, wenn man während
seiner Schulzeit so nebenbei das Tanzen lernt oder, wie
ich, das Cellospielen – das macht Spaß –, aber wir brau-
chen auch Education for Enterprise. Wir brauchen eine
Erziehung zum Unternehmertum, die es ermöglicht, dass
wir tatsächlich einen Schub bei den Unternehmensgrün-
dungen bekommen: Wertschöpfung, neue Produkte,
neue Märkte. Das wollen wir in der Zukunft angehen,
nicht zuletzt durch unseren High-Tech Gründerfonds,
den wir üppig ausgestattet haben. Wir werden noch viele
weitere Maßnahmen einleiten.
Das Zweite ist aber mindestens genauso wichtig
– Herr Fuchs, aufgrund der Koalitionsgespräche darf ich
Sie direkt ansprechen –: Wir müssen in Bezug auf Cor-
porate Social Responsibility, auf die Verantwortung in
den Wertschöpfungsketten, dafür sorgen, dass Deutsch-
land nicht nur auf die eigenen Schuhspitzen schaut. Wir
müssen uns dafür interessieren, wo die Produkte her-
kommen und ob sie tatsächlich auf Basis der ILO-Nor-
men, aber auch der OECD-Standards zu Werke gebracht
wurden. Wir werden uns für mehr Verbindlichkeit ein-
setzen müssen. Es muss uns interessieren, wie es dem
Arbeitnehmer geht, und zwar nicht nur in Deutschland.
Herr Janecek, Sie haben gesagt, dass wir unzulässi-
gerweise von einer Deindustrialisierung sprechen. Wir
stehen – das ist meine erste Bemerkung dazu – mit Blick
auf Europa vor enormen Herausforderungen. Ich weiß
nicht, ob Ihnen bewusst ist, dass der Anteil Europas an
der Industrieproduktion in der Welt in den letzten
13 Jahren von 27 auf 25 bzw. aktuell 23 Prozent gesun-
ken ist, während der gesamte asiatische Raum – dazu
zählen insbesondere Indien und China – um 18 Prozent
auf 27 Prozent zugelegt hat.
Wir brauchen industrielle Stärke, und zwar nicht nur
Deutschland, sondern in ganz Europa. Deutschland hat
einen Anteil von 15,3 Prozent an der industriellen Wert-
schöpfung in Europa, bezogen auf das BIP. Das ist zu
wenig. Da müssen wir mehr tun, auch mit Blick auf Ost-,
Südost- und Südeuropa.
Dazu bedarf es großer Anstrengungen, auch aus
Deutschland heraus.
Herr Kollege Tiefensee, darf die Kollegin Hajduk Ih-
nen eine Zwischenfrage stellen?
Ja. – Sehr gerne, Frau Hajduk.
Sehr geehrter Herr Kollege Tiefensee, Sie haben überdie Notwendigkeit und die Entwicklung der Industriali-sierung in Europa im Verhältnis zur globalen Wirtschaftgesprochen. Ist Ihnen bewusst – davon ausgehend, dassdie Zahlen so sind, wie Sie sie vorgetragen haben –, dassder industrielle Sektor in Europa, insbesondere bezogenauf die deutsche Wirtschaft, einen enormen Zuwachsdurch das Potenzial der Energiewende verzeichnenkonnte? Darauf ist der Kollege Janecek eingegangen. IstIhnen die Bedeutung der Energiewende für den indus-triellen Fortschritt im Sinne einer nachhaltigen Wirt-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 687
Anja Hajduk
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schaft bewusst? Würden Sie zustimmen, dass das des-wegen die richtige Richtung für die deutscheIndustriepolitik ist?
Frau Hajduk, zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass
ich mich auf die Zahlen des Instituts der deutschen Wirt-
schaft beziehe. Das ist ein sehr arbeitgebernahes Institut.
Sie können diese Zahlen sicherlich nachlesen.
Zum Zweiten. Ich stimme Ihnen zu, dass wir auf ganz
unterschiedlichen Feldern dafür sorgen müssen, dass
Deutschland seinen industriellen Sektor ausbaut, zumin-
dest erhält; das Stichwort „energieintensive Unterneh-
men“ ist genannt worden. Wir dürfen den Fokus aber
nicht allein auf diese Unternehmen richten, sondern wir
müssen zum Beispiel auch die Rohstoffsituation im Fo-
kus haben.
Mein Petitum ist, dass wir stärker auf Europa
schauen. Deutschland hat einen Anteil von ungefähr 23,
24 Prozent – dieser Anteil ist stabil – an der industriellen
Wertschöpfung, bezogen auf das Gesamt-BIP, während
der Anteil Großbritanniens auf 12 Prozent und der An-
teil Frankreichs auf 11 Prozent gesunken ist. Wir könn-
ten uns stolz zurücklehnen und sagen: Das reicht, unser
industrielles Rückgrat ist gut. Ich werbe dafür, dass wir
den europäischen Raum in Relation zu Asien und den
USA im Blick behalten. In unseren Schulstuben hängen
Landkarten, auf denen Europa in der Mitte zu sehen ist.
So betrachtet sind Asien und die USA ein Appendix. Ich
plädiere dafür, dass wir diese Karten wegräumen und
vielleicht einmal Asien in den Mittelpunkt stellen. Dann
ist Europa ein Appendix. Wir können auch die USA in
den Mittelpunkt stellen.
Eine Möglichkeit, die Industrie zu unterstützen, eine
Möglichkeit, neue Technologien, neue Produkte und da-
mit neue Märkte und Arbeitsplätze zu gewinnen, ist, die
Energiewende zum Erfolg zu führen. Da kann Deutsch-
land Vorreiter sein. Aber es wird nicht reichen, wenn nur
Deutschland es tut. Wir müssen mit unseren Nachbarn
darüber reden, wie sie die Energiewende gestalten und
gleichzeitig die Industrieproduktion aufrechterhalten
können. Das ist die riesige Herausforderung. Wenn
Deutschland hier Vorreiter ist und Europa mitnimmt,
wenn Deutschland nicht auf Europa herabblickt, nicht
den Faden abreißen lässt, wenn wir die anderen europäi-
schen Länder weiter im Blick behalten, dann sollte es
gelingen, dass wir die industrielle Wertschöpfung in Eu-
ropa insgesamt heben. Da sind wir einer Meinung.
Jetzt läuft meine Redezeit schon wieder? Das ist ge-
mein. – Ich wollte noch ganz kurz ansprechen, dass wir
uns um die Fachkräfte kümmern müssen. In diesem Zu-
sammenhang geht es um fünf Sektoren: Erstens müssen
wir den Bereich „Familie und Frauen“ im Auge haben.
Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass mehr Jugendli-
che einen Schulabschluss erreichen. Drittens müssen wir
die Arbeitslosen wieder in Arbeit bringen. Viertens brau-
chen wir diejenigen, die älter sind, länger am Arbeitsmarkt.
Fünftens brauchen wir eine gezielte Zuwanderung. Die
Bluecard ist ein Flop: 17 000 wurden angemeldet, 7 000
wurden ausgereicht, führten also tatsächlich zu Arbeitsplät-
zen, davon 4 000 an Menschen, die ohnehin schon in
Deutschland waren. Eine Diskussion, die die Zuwande-
rung diskreditiert, mit der man auf dem Rücken von Ru-
mänen, Bulgaren und anderen Politik machen will, ist
zurückzuweisen. Wir brauchen diese Fachkräfte, damit
es in Deutschland vorangeht.
Ich lade die Unternehmerinnen und Unternehmer so-
wie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein, mit
uns gemeinsam für mehr Wachstum, Arbeitsplätze und
damit für mehr Lebensqualität in Deutschland, in Europa
und auch darüber hinaus zu sorgen.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Schlecht für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Ich hatte er-wartet, dass Sie heute in Ihrer Rede etwas zu Ihrer wirt-schaftspolitischen Konzeption sagen. Dazu habe ich al-lerdings sehr, sehr wenig gehört.
Sie haben sich – anscheinend ist das ein Thema, das Siesehr stark in Anspruch nimmt – im Grunde genommennur auf die Energiewende konzentriert.Wenn Sie zu Ihrer wirtschaftspolitischen Konzeptionetwas gesagt hätten, hätte ich erwartet, dass Sie sich zumBeispiel zu dem Tatbestand äußern, dass die wirtschafts-politische Lage in Deutschland ganz stark von einemsehr hohen Exportanteil – er beträgt über 50 Prozent –abhängig ist und dass wir eine viel zu schwache binnen-wirtschaftliche Entwicklung haben. Ich hätte mir auchgewünscht, dass Sie Ausführungen dazu machen, wieman die binnenwirtschaftliche Entwicklung wieder deut-lich stärken kann, wie man damit vor allen Dingen dieUnsicherheitsfaktoren für die deutsche Wirtschaftsent-wicklung, für die Arbeitsplätze in Deutschland, die beieiner 50-prozentigen Abhängigkeit von Exporten natür-lich gegeben sind, beseitigen kann und wie man dafürsorgen kann, dass eine größere Stabilität in diesemLande Einzug hält.Der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang wäregewesen, sich mit dem dramatischen Lohndumping aus-einanderzusetzen. Klaus Ernst hat ja bereits ausgeführt,dass seit 2000 praktisch eine Stagnation der Reallöhnebesteht. In den Jahren 2011 und 2012 hatten wir eineleichte Steigerung der Reallöhne zu verzeichnen. Im
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688 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Michael Schlecht
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letzten Jahr sind sie wieder gesunken; es gab Einbrüche.Das heißt, wir brauchen in Deutschland endlich einePolitik, die dafür sorgt, dass die Löhne in Deutschland,insbesondere die Tariflöhne, wieder deutlich ansteigen.
Die von Ihnen angedachten Maßnahmen zu Verände-rungen am Arbeitsmarkt, durch die die Durchsetzungsfä-higkeit der Gewerkschaften möglicherweise wieder ge-stärkt wird – das betrifft die Leiharbeit und einige andereDinge; ich habe zu wenig Redezeit, um darauf einzuge-hen –, sind außerordentlich unzureichend. Auch derMindestlohn von 8,50 Euro wird diesen Anforderungenin keiner Weise gerecht werden, obwohl er für sich ge-nommen für viele Menschen sicherlich eine Verbesse-rung darstellt.Ich würde Ihnen in diesem Zusammenhang auch ra-ten, sich zu überlegen, ob Sie in der Tarifrunde des öf-fentlichen Dienstes, die jetzt im März ansteht – da habenSie als Arbeitgeber das Heft in der Hand –, einen Beitragdazu leisten, indem Sie auf die Forderungen von Verdieingehen und sie am besten komplett erfüllen. Dortkönnte endlich ein deutlicher Beitrag geleistet werden,um die Lohnentwicklung in Deutschland zu stabilisie-ren, nach vorne zu bringen. Gerade bei den Löhnen imöffentlichen Dienst ist gegenüber der Industrie in denletzten 10, 12, 13 Jahren eine Lücke von über 10 Prozententstanden. Diese müsste schon allein aus Gerechtig-keitsgründen ausgeglichen werden. Aber aus wirt-schaftspolitischen Gründen wäre es umso wichtiger, eineganz andere Lohnentwicklung in Deutschland zu initiie-ren. Dazu hat die Politik das Heft in der Hand. Dazu ha-ben Sie sich aber überhaupt nicht verhalten. Das wäreaus meiner Sicht bei diesem ganz zentralen Punkt abernotwendig, um unser Land voranzubringen.
Über die weiteren wirtschaftspolitischen Risiken, dieuns gerade von der Seite der Exporte her drohen, habeich bisher nichts gehört, auch von anderen – etwa dassdie Euro-Krise weiter vor sich hinwabert oder dass esdurch die Euro-Krise zu weiteren Einbrüchen kommenwird – nichts.Es wird beschworen, dass die Absatzmärkte der deut-schen Wirtschaft gerade in Europa sind. Im Handel mitSüdeuropa haben wir aber in den letzten Jahren Export-einbrüche in Höhe von 15 Milliarden Euro zu verzeich-nen. Dass dies nicht schon längst zu einer massivenKrise hier in Deutschland geführt hat, ist einzig und al-lein dem Umstand zu verdanken, dass die Exporte nachChina um exakt den gleichen Betrag angestiegen sind.Aber auch die weitere Entwicklung in China ist mit sehrvielen Fragezeichen versehen. Da gibt es erhebliche Un-sicherheitspotenziale. Deshalb ist es aus unserer Sichtdringend angeraten, die binnenwirtschaftliche Entwick-lung zu stärken, vor allen Dingen die Löhne zu erhöhen.Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir herausstellenwollen.Danke schön.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Andreas Lenz
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschen inDeutschland vertrauen auf eine gute Zukunft. 57 Prozentder Deutschen blicken laut Allensbach-Institut hoff-nungsvoll, ja hoffnungsfroh in die Zukunft. Das sind soviele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Sie können optimis-tisch in die Zukunft blicken; denn die deutsche Wirt-schaft steht in einem schwierigen europäischen und glo-balen Umfeld blendend da.Ich brauche nicht zu betonen, dass die bayerischeWirtschaft noch blendender dasteht und im Rahmen desWirtschaftswachstums, das seit 2009 – also nach derKrise – insgesamt 8 Prozent beträgt, die Wachstumslo-komotive innerhalb Deutschlands ist und war.Basis und Stütze dieser Entwicklung ist eine gute Si-tuation auf dem Arbeitsmarkt. Seit 2009 wurden rund1,5 Millionen neue, vor allem sozialversicherungspflich-tige Arbeitsplätze geschaffen. Die Zahl der Erwerbstäti-gen befindet sich auf einem Rekordniveau. Es ist zu er-warten, dass die Erwerbstätigkeit weiter zunehmen unddie Zahl der Arbeitslosen im laufenden Jahr wieder unter2,9 Millionen Menschen sinken wird. Die Jugendarbeits-losigkeit ist so niedrig wie sonst nirgendwo in der Euro-päischen Union. Die gute Lage auf dem Arbeitsmarktund höhere verfügbare Einkommen sorgen für eine stei-gende Binnennachfrage, die sich immer mehr zumTräger eines anhaltenden Wirtschaftswachstums entwi-ckelt. All dies ist Ergebnis des Fleißes der Beschäftigten,der Unternehmer und des leistungsfähigen Mittelstan-des.
Nicht zuletzt hat auch die wachstumsorientierte Kon-solidierungspolitik der unionsgeführten Bundesregie-rung in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dassDeutschland mittlerweile Wachstumsmotor und, wie dieBundeskanzlerin gestern sagte, ein Anker der Stabilitätin Europa ist. Klar muss sein, dass die Wirtschaft letzt-lich immer den Menschen zu dienen hat, nicht umge-kehrt. Aber klar muss auch sein, dass nur eine starkeWirtschaft einen sozialen Ausgleich überhaupt ermög-licht. Das ist ein wesentlicher Wert der sozialen Markt-wirtschaft, den es immer wieder zu betonen gilt.
Einer der Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft,Walter Eucken, meinte: Die soziale Marktwirtschaft hilftzur größtmöglichen Verwirklichung von Gerechtigkeit, Si-cherheit und Freiheit im menschlichen Zusammenleben. –Um diese Ziele zu erreichen, muss das Haftungsprinzipals wesentliches Prinzip der sozialen Marktwirtschaft be-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 689
Dr. Andreas Lenz
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herzigt werden. Um einmal mehr Walter Eucken zu be-mühen: Wer den Nutzen hat, muss den Schaden tragen. –Hierfür wurde bereits vieles erreicht.
Die soziale Marktwirtschaft schafft die Innovationen,die uns im internationalen Wettbewerb so stark machen.So ist der Export eine wesentliche Komponente des wirt-schaftlichen Erfolges unseres Landes. Deutsche Unter-nehmen liefern weltweit in allen Bereichen Spitzenpro-dukte. Die Pläne der Europäischen Kommission, dieExportüberschüsse in der deutschen Handelsbilanz zuprüfen und möglicherweise mit Strafzahlungen zu bele-gen, sind deshalb weiterhin strikt abzulehnen. Manmacht, gerade in diesem Fall, die Schwachen nicht stär-ker, indem man die Starken schwächt.
Vielmehr muss es unser Anliegen sein, dass die wirt-schaftlich schwachen Länder stärker werden. Das funk-tioniert langfristig nur durch Strukturreformen.
Wir müssen auch aufpassen, dass das Ziel, den Außen-handelsüberschuss abzubauen, nicht sozusagen durch dieHintertür erreicht wird: durch Wettbewerbsauflagen derEuropäischen Kommission hinsichtlich der Befreiungder stromintensiven, im internationalen Wettbewerb ste-henden Unternehmen in Deutschland von der EEG-Um-lage. Auch um dies zu verhindern, müssen wir handeln.
Deutschland muss Industrieland bleiben, Deutschlandmuss Industrieland bleiben können. Mit den Exportüber-schüssen gehen riesige Kapitalströme einher. Wir habenes vorhin schon gehört: Ziel muss auch sein, die Investi-tionstätigkeit in Deutschland zu stärken. Genau das ha-ben wir im Koalitionsvertrag vereinbart: Wir schaffenbessere Rahmenbedingungen für private Investitionenund sorgen für mehr öffentliche Investitionen, vor allemin den Bereichen Infrastruktur, Bildung und Forschung,aber auch durch die Entlastung der Kommunen.
Deutschland braucht einen Investitionsschub. Es gehtdarum, langfristig eine Investitionsquote zu erreichen,die oberhalb des OECD-Durchschnitts liegt.Für uns sind solide Staatsfinanzen dabei eine entschei-dende vertrauensbildende Maßnahme. Hier sind wir aufdem richtigen Weg. Bereits ab diesem Jahr wollen wir ei-nen strukturell ausgeglichenen Haushalt erreichen, ab2015 sogar einen Haushalt ohne Nettoneuverschuldung.Daran, meine Damen und Herren, müssen wir uns auchmessen lassen.
Wenn sich der Kollege Tiefensee dafür ausspricht, dieBesteuerung in Deutschland in den nächsten vier Jahrenzu vereinfachen, dann werden wir sicherlich die Letztensein, die nicht darüber diskutieren wollen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, geht manvom Reichstag unterirdisch ins Paul-Löbe-Haus, so siehtman in einem Kellerabteil einen Wegweiser, auf demsteht: Zur Energiezentrale. – Ich bin ja neu gewählt, dafällt mir so etwas noch auf. Vielleicht achten Sie beimnächsten Mal auch darauf. Auf der politischen Agendasteht die Energiepolitik seit vielen Jahren nicht mehr un-ten, sondern ganz oben. Es ist deswegen richtig undwichtig, die Energiepolitik bundespolitisch an hoherStelle anzusiedeln, es ist gut, dass wir jetzt einen Ener-gieminister haben.
Die Novelle des EEG wird eines der großen Themendieser Legislaturperiode sein. Um das Vertrauen in eineverlässliche Wirtschaftspolitik zu stärken, müssen wirauch im Energiebereich für verlässliche Rahmenbedin-gungen sorgen. Wir werden am großen Rad drehen müs-sen, wir werden aber auch an den kleineren StellschraubenJustierungen vornehmen müssen. Das Eckpunktepapiervon Bundesminister Gabriel beinhaltet vernünftige Vor-schläge für diese ersten Schritte. Diese Eckpunkte stel-len eine gute Grundlage dar, auch wenn im Gesetzge-bungsverfahren sicherlich noch an der einen oderanderen Stellschraube zu drehen sein wird. Die CDU/CSU-Fraktion wird diesen Prozess im Sinne der Men-schen in unserem Land begleiten.
Die Bürger und die Unternehmen sollen sich auf diein den nächsten Monaten zu treffenden Entscheidungenlangfristig verlassen können. Im Hinblick auf getätigteund sich in der Realisierung befindende Investitionenmuss Vertrauensschutz gewährt werden. Wir werden da-rauf achten, dass der Ausbau der erneuerbaren Energiendynamisch weitergeht; gleichzeitig müssen wir die Ener-giewende so steuern, dass sie ökonomischen wie ökolo-gischen Interessen Rechnung trägt. Wir brauchen dierichtigen Marktanreize. Dabei bedarf es im Endergebnisauch einer engen europäischen Koordination. Ebensomuss der Netz- und Speicherausbau besser koordiniertund entsprechend gefördert werden. Es bedarf also einesganzheitlichen Konzeptes im Rahmen des Energiewirt-schaftsgesetzes.Wir wollen, dass Energie für die Menschen und dieUnternehmen in unserem Land bezahlbar bleibt. Gleich-zeitig muss die Energieversorgung in diesem Land si-cher bleiben. Die Verbraucher zahlen mittlerweile überdie Stromrechnung pro Jahr rund 24 Milliarden EuroEEG-Umlage; das ist ungefähr so viel wie das Bruttoin-landsprodukt von Lettland. Hier müssen wir die Kostenbegrenzen. Die Belastung darf für den Verbraucher nichtso hoch sein, dass er die Verantwortung für die Energie-wende nicht mehr tragen kann und auch nicht mehr tra-gen möchte. Dazu brauchen wir eine markt- und kosten-orientierte Reform des EEG.
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690 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Dr. Andreas Lenz
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Wir brauchen eine bessere Integration von dezentralerStromproduktion aus regenerativen Energien innerhalbeiner modernen Stromversorgung. Der Ausgleich derschwankenden Stromerzeugung aus regenerativen Ener-gien muss durch den Bau hocheffizienter Kraftwerkeund Speicher gewährleistet werden. Im Rahmen einesStrommarktdesigns – das ist ein schönes Wort – gilt esdie Bereitstellung gesicherter Leistung zusätzlich zu denErlösen aus dem Stromverkauf zu honorieren.Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland tragenbereits jetzt vor Ort zum Erfolg der erneuerbaren Ener-gien bei. Beispielsweise gibt es mittlerweile in ganzDeutschland über 650 Energiegenossenschaften. Ich sagehier ganz klar: Die Wertschöpfung soll in der Region blei-ben, trotzdem müssen sich natürlich auch Energiegenos-senschaften dem Wettbewerb stellen.Es ist auch zu betonen, dass wir uns nicht nur überden Preis einer Form der erneuerbaren Energien unter-halten dürfen und müssen, sondern dass wir auch derenWert ins Blickfeld ziehen sollten. Darüber wird ganz un-aufgeregt zu diskutieren sein. Das gilt im Besonderen fürdie grundlastfähige Energie aus Biomasse, die gerade imBereich der Energiegewinnung aus Reststoffen kosten-effizient weiter erschlossen werden muss.
Ein gerechter Wettbewerb kann helfen, die Energie-kosten im Gleichgewicht zu halten. Ich bin davonüberzeugt, dass sich unsere innovativen Mittelständlerim Bereich der erneuerbaren Energien einem gerechtenWettbewerb stellen können, werden und letztlich auchwollen.Hinsichtlich der Ausschreibungen gilt es, wenn maneine gesetzliche Regelung treffen will, die Erfahrungenaus dem Ausland entsprechend zu berücksichtigen.Auch eine faire Bepreisung des CO2-Ausstoßes kannhelfen, Marktungleichgewichte abzubauen.
Ich bin von den Chancen der Energiewende über-zeugt. Um dauerhaft Akzeptanz und Vertrauen zu schaf-fen, bedarf es einer Novellierung des EEGs sowie einesganzheitlichen Energiekonzeptes, das auch Maßnahmenzur Energiespeicherung und Energieeffizienz beinhaltet.Es gilt also, jetzt das als richtig Erkannte bzw. das alsrichtig zu Erkennende umzusetzen und dabei das Warumund das Wozu zu erklären. Es geht um eine gute Zu-kunft. Es gilt, für Deutschland eine sichere, saubere undbezahlbare Energiewende zu verwirklichen.Herzlichen Dank.
Kollege Lenz, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und wün-
sche Ihnen viel Erfolg für die Zukunft.
Ich gratuliere Ihnen im Übrigen aus doppeltem
Grunde: Zum einen ist eine solche Premiere immer aufre-
gend. Zum anderen ist Ihnen gelungen, was den wenigs-
ten Rednern gelingt, wenn sie das erste Mal hier spre-
chen, nämlich die Redezeit nicht nur einzuhalten,
sondern sogar darunter zu bleiben.
Das Wort hat die Kollegin Sabine Poschmann für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte den Fokus nun auf ein Thema richten, welchesnicht ständig in den Medien präsent ist. Es gibt zumGlück wenig schlechte Nachrichten darüber, da er in derRegel krisenfest ist. Sie werden vielleicht darauf kom-men: Ich spreche vom deutschen Mittelstand,
der unter all den anderen Themen, die uns auf den Nä-geln brennen, immer einen hohen Stellenwert hat undunsere Aufmerksamkeit verdient. Wir sollten den Mittel-stand nicht nur wertschätzen, sondern sollten die Schaf-fung der ihm zugesagten optimalen Rahmenbedingun-gen, von denen wir immer sprechen, nun endlich in dieTat umsetzen.
Der Mittelstand ist bisher ein Wachstumsmotor. Ge-nau das braucht Deutschland, um die Stürme, die imeuropäischen, aber auch im internationalen Wirtschafts-raum eventuell noch auf uns zukommen, zu überstehen.Dafür brauchen wir das Rad nicht neu zu erfinden,aber es kann nicht gewollt sein, dass Unternehmen Bera-ter einstellen müssen, um an Fördermittel zu kommen.Dies können sich Großunternehmen finanziell leisten,kleine und mittlere Betriebe werden damit jedoch Pro-bleme haben.
Es kann auch nur eine Hilfskrücke sein, dass wir inStädten Dienstleistungszentren gründen, die mittelstän-dische Unternehmen durch unseren Auftragsdschungellotsen. Hier müssen wir überschüssiges Fett abbauen. Dader Sommer kommt, fangen wir am besten gleich mit derEntschlackungskur an.Am Montag meldete das Handelsblatt, dass der Mit-telstand ein finanzielles Rekordpolster hat. Trotz der sta-bilen Lage investieren unsere deutschen mittelständi-schen und kleinen Unternehmen aber nur wenig. Hiermüssen wir wieder zu mehr Investitionen animieren, vorallem in Innovationen; denn innovative Unternehmen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 691
Sabine Poschmann
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wachsen schneller, und sie schaffen die für uns so wert-vollen Arbeitsplätze.Beim Thema Innovation übernimmt das Handwerkals Initiator und Impulsgeber, aber auch als Ausbildereine hohe Verantwortung.
Der im letzten Jahr ausgeschiedene Präsident des Zent-ralverbandes des Deutschen Handwerks erklärte einmal:„Das Handwerk ist die Wirtschaftsmacht von nebenan.“Die Qualität seiner Leistung ist über Deutschland hi-naus bekannt. Das gilt auch für seine Flexibilität; dennes stellt sich schnell auf neue Rahmenbedingungen ein,die häufig von uns geschaffen werden, sei es in Bezugauf die Haussanierung, die Barrierefreiheit oder die Ins-tallation von Anlagen zur Stromgewinnung aus regene-rativen Energien. Wir sollten uns deshalb gemeinsam da-für einsetzen, dass deutsche Standards gewahrt werden.Der Meisterbrief darf auf europäischer Ebene nicht anWert verlieren.
Um für die Zukunft gewappnet zu sein, müssen wiruns nachdrücklich dem Thema Fachkräftemangel wid-men. Dieser trifft vor allem den Mittelstand und hier ins-besondere die kleineren Unternehmen; denn sie könnenes sich nicht, wie Großunternehmen, leisten, Bewerbermit besonderen Anreizen zu locken oder duale Stu-diengänge zu finanzieren. Hier müssen wir unsereQualifizierungsreserven im Land besser nutzen, stär-ker in Bildung investieren und Weiterbildungsmöglich-keiten weiter ausbauen.
Auf die Energiewende sind meine Kollegen schonhinreichend eingegangen. Trotzdem möchte auch ichhier noch einmal auf die Bedeutung gerade für den Mit-telstand hinweisen. Die Energiewende muss planbar undbezahlbar sein, damit der Mittelstand wettbewerbsfähigbleibt.Zum Schluss möchte ich auf die Unternehmensgrün-dungen zu sprechen kommen, die von wesentlicher Be-deutung für das Wirtschaftswachstum sind. Bedauerli-cherweise sinkt die Quote der Unternehmensgründungenin Deutschland laut Statistik immer stärker, obwohl wirin den Städten Gründercoachings, sogenannte Inkubato-ren, und Gründerfonds eingerichtet haben. Auch hierwerden von den Unternehmen Bürokratie und Finanzie-rungsschwierigkeiten als größte Hürden genannt. Hiermüssen wir folglich korrigieren, um Genehmigungsver-fahren zu vereinfachen und steuerliche Rahmenbedin-gungen für Wagniskapital zu verbessern.Bei all den von mir angesprochenen Punkten solltenwir die erwähnten Marktakteure intensiv in unsere Über-legungen einbeziehen. Nur so besteht die Chance, eineeffektive und langfristige Stärkung des Mittelstands zuerreichen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Kollegin Poschmann, auch für Sie war das heute die
erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen
dazu und wünsche Ihnen im Namen des gesamten Hau-
ses viel Erfolg in Ihrer weiteren Tätigkeit.
Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinister Gabriel, ich muss Sie wohl daran erinnern: InIhre Zuständigkeit als Minister im Bundeskabinett fälltauch Ostdeutschland.
Zur besonderen wirtschaftspolitischen Verantwortung inund für Ostdeutschland haben Sie hier jedoch nicht einWort gesagt. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen,Herr Minister.
Stattdessen haben Sie einen Großteil Ihrer Redezeit aufden Versuch verwendet, die Linke zu belehren. Ichglaube, da haben Sie schlicht und einfach etwas ver-wechselt. Das hier ist der Deutsche Bundestag und nichtder Parteitag der SPD, Herr Minister.
Deutschland ist wirtschaftlich noch immer gespalten:Es gibt keine einzige Firmenzentrale eines Großunter-nehmens im Osten. Die Leistungskraft der 100 größtenostdeutschen Unternehmen zusammengerechnet er-reicht noch nicht einmal die Hälfte der Leistungskraftvon Daimler. Da gilt es als verantwortlicher Minister an-zupacken und nicht schönzureden.
Wir haben die Situation, dass es im Osten doppelt soviele Niedriglohnbezieher gibt wie im Bundesdurch-schnitt. Nun erleben wir, dass bei der Einführung desMindestlohns insbesondere vonseiten der CSU schonwieder Ausnahmeregelungen gefordert werden. Im Os-ten beginnen junge Leute ihr Berufsleben vielfach mitbefristeten Arbeitsverträgen. Wir brauchen vernünftigeAusstiegsszenarien aus diesem Lohndumping.
Der Osten ist Vorreiter bei erneuerbaren Energien. Esist wahr: Die Leistung der Erneuerbaren ist in den letzten
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692 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Roland Claus
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Jahren um das Fünfzehnfache gestiegen, besonders imOsten. Nun droht aber durch das, was Sie hier wirt-schafts- und energiepolitisch vorhaben, eine, wie es dieWirtschaftswissenschaftler nennen, zweite Deindustria-lisierung des Ostens; die erste hat bekanntlich die Treu-hand in Gang gesetzt.
Deshalb sagen wir Ihnen: Das, was Sie auf den Tisch le-gen, ist keine Reform des Erneuerbare-Energien-Geset-zes, sondern Sie machen hier eine Rolle rückwärts.
Die Linke wird sich dafür einsetzen, dass wir auch imRahmen der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserungder regionalen Wirtschaftsstruktur keine Absenkung derMittel, sondern eine Stabilisierung erreichen. Wir wollenauch einen Solidarpakt III für den Osten, aber auch füralle anderen strukturschwachen Regionen in der Repu-blik – als Beitrag für einen Solidarstaat.
Die Dominanz der Finanzmärkte über die reale Wirt-schaft hat auch dazu geführt, dass mehr und mehr einePolitik zur Stärkung von Metropolen und zur Schwä-chung von ländlichen Räumen betrieben wird. VielenLandkreisen in Ostdeutschland droht in den nächstenzehn Jahren ein Bevölkerungsrückgang um 20 Prozent.Das hat erhebliche Auswirkungen auf den Mittelstand.Wir fordern Sie auf, Herr Minister, als Interessenver-treter des Mittelstandes tätig zu werden; denn die größ-ten Feinde der Mittelständler sind im Moment die Schat-tenbanken mit ihrem riesigen Geschäftsvolumen und mitihrer Philosophie, nicht wertzuschöpfen, sondern umzu-verteilen. Diese kann man nicht regulieren, sondern siegehören abgeschafft; das wäre Ihre Pflicht.
Es gibt aber inzwischen so etwas wie einen ostdeut-schen Erfahrungsvorsprung in Sachen Unternehmens-kultur, einen Erfahrungsvorsprung im Umgang mitschwierigen Transformationen. Ich meine die Fähigkeit,mit wenig Eigenkapital Beiträge zum sozial-ökologi-schen Umbau zu leisten. Es ist eben so, dass wirtschaftli-che Notlagen zum einen erbitterte Konkurrenz auslösenkönnen, aber zum anderen auch Ansätze einer Solidar-wirtschaft hervorbringen.Sie merken: Es gibt Alternativen zum wirtschaftspoli-tischen Weiter-so. Deshalb sollten Sie den Osten nichtlänger ignorieren, sondern als Chance begreifen, alsChance für die ganze Republik.
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Riesenhuber
für die Unionsfraktion.
Vielen Dank für die Ratschläge. – Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Kollegen! Der Kollege Lenz hatdarauf hingewiesen, dass der Wirtschaftsminister jetztauch Energieminister ist. Das ist gut. Damit bündeln wirdie Kompetenzen in einer Hand. Damit können wir in ei-nem schwierigen Feld schnell entscheiden. Er ist abergleichzeitig das, was der Wirtschaftsminister auch in derletzten Legislaturperiode war: Er ist der Minister fürTechnologie und Innovation.
Wenn uns das gelingen soll, was wir jetzt angedachthaben – Wolfgang Tiefensee hat darauf hingewiesen –,dann brauchen wir eine starke und dynamische Wirt-schaft, die sich auch in den nächsten Jahren mit Wachs-tum, Beständigkeit und Innovationskraft in den Märktenso positioniert, dass wir darüber das verdienen, was wirbrauchen, um die notwendigen Investitionen im Bereichder Energiewende und die großen Leistungen im Sozial-system tätigen zu können, die wir uns vorgenommen ha-ben. Wir brauchen eine starke und schwungvolle Wirt-schaft.
Hubertus Heil hat darauf hingewiesen: Wer morgensicher leben will, muss heute vorsorgen. Wir haben fürdie Forschung auch im Haushalt des Wirtschaftsminis-ters – der Haushalt des Wirtschaftsministers erhält dengrößten Brocken vom gesamten Forschungsetat direktnach dem Bildungs- und Forschungsminister – beachtli-che Wachstumsraten vorgesehen. Wir haben im Gesamt-konzept vorgesehen, dass wir 3 Prozent des Bruttoin-landsprodukts für Forschung ausgeben wollen. Prima!Wir haben in den letzten beiden Wahlperioden dieMittel für Forschung und Entwicklung um jeweils 6 Mil-liarden Euro erhöht. So war es angekündigt. In Wirklich-keit war es jeweils mehr, und zwar erheblich mehr.Ich bin zuversichtlich, dass wir das auch in dieserWahlperiode hinbekommen. Geld ist nicht alles, aberohne Geld wird es schwierig. Wenn es darum geht, wiewir das machen, sind wir natürlich in der Hand des Fi-nanzministers, gell?
Der Finanzminister ist nie so reich wie dann, wenn er inForschung investiert. Wir tun das alles nur, damit der Fi-nanzminister glücklich ist.
Wenn er in seiner Weisheit mit dem Augenmaß und Ziel-bewusstsein, das ihm eigen ist, in der Gestaltung derHaushalte dieser Wahlperiode die Ziele so setzt, dass wir
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Dr. Heinz Riesenhuber
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mit mehr Geld und guten Taten tatsächlich noch mehrfür ihn tun können, dann ist das etwas, worüber wirglücklich sind.
Das eine ist das Geld. Das andere ist, was man damitmacht, gell?
Hier haben wir – das ist erfreulich – über die vergange-nen Wahlperioden einen Konsens der Fraktionen undeine Stetigkeit der Arbeit entwickelt, die bei allem, wor-über wir uns streiten, bewunderungswürdig und eineherausragende Voraussetzung dafür ist, dass die Unter-nehmen und die Wissenschaft verlässliche, dauerhafteRahmenbedingungen haben. Das brauchen sie auch.Was wir angeregt haben, ist – Frau KolleginPoschmann, Sie sprachen vom Mittelstand; er ist in derTat die Säule –, dass unser Mittelstand dies trägt.Was wir für die Wahlperiode vorgesehen haben, ziehtsich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag:Forschung, Technologie und Innovation. Es gibt dazunicht ein einzelnes abgeschlossenes Kapitel, sondern daskommt an vielen Stellen vor. Es durchdringt immer mehrdas gesamte Denken der Regierung.
Im Koalitionsvertrag gibt es an verschiedenen StellenHinweise darauf: Die Innovationscluster werden wirweiterentwickeln und wachsen lassen. Wir werden dieZusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaftstärken. Wir wollen unser Zentrales Innovationspro-gramm Mittelstand auf hohem Niveau fortführen.
Das ist schnelles und unbürokratisches Fördern.Das heißt, wir haben in unterschiedlichen Bereichenjenseits der Spezialprogramme zur Spitzenforschung– etwa zur Umwelttechnik, Biotechnologie und Informa-tions- und Kommunikationstechnologie – eine Fülle vonAngeboten, in denen wir nicht etwa die Zukunft vor-schreiben. Der Staat kann die Zukunft nicht erfinden.Wenn er gut ist, kennt er die Vergangenheit.
Aber der Staat muss die Möglichkeit schaffen, dass derEinzelne Freude daran hat, Neues zu erfinden und sichauszuprobieren, und dabei helfen wir ihm. Deshalb brau-chen wir auch die Kultur der zweiten Chance für Grün-der, die gescheitert sind, damit sie den Schwung aufbrin-gen, wieder neu einzusteigen und ihre Erfahrung erneuteinzubringen.Dem Mittelstand helfen wir mit Förderprogrammen.Aber Technologiepolitik ist – die Weisheit des Koali-tionsvertrags beschreibt das – viel mehr. Wenn wir zumBeispiel das Europäische Gemeinschaftspatent haben,wird das Leben leichter, gell? Vor 50 Jahren habe icheinmal ein paar Patente in Europa angemeldet. Es warherzbrechend schwierig, allein den Franzosen klarzuma-chen, wie das aussehen soll. Intellektuelle Probleme sindmeistens vorrangig vor den politischen.
Technologiepolitik ist auch eine Frage der Normenund Standards, und zwar nicht deshalb, weil wir leiden-schaftlich normieren wollen. Es geht nicht um diekrumme Banane, sondern darum, dass wir hier in Europagleichen Zugang zu den Märkten haben, sodass sichnicht irgendwelche Normhoheiten, sondern die Fähig-keiten der Unternehmen auf den Märkten durchsetzen.Ich finde es auch wichtig, dass wir das Kompetenz-zentrum für öffentliche Beschaffung beim Wirtschafts-minister fortführen. Innovative öffentliche Beschaffungwird ein interessantes Thema sein. Dass ein Kämmererdies nur mit Mühe angeht, weil Innovation nicht seinFachgebiet ist, ist nachvollziehbar.
Ihm zu helfen, hier etwas Sinnvolles zu tun, und ihm dieChance zu geben, seine Verwaltung bzw. seine Beschaf-fung auf den letzten Stand der Technik zu bringen undgleichzeitig einen erheblichen Nachfrageschub für neueTechnologien hervorzurufen, ist eine beglückende Sa-che. Technologiepolitik geht aber noch weiter. Technolo-giepolitik verlangt – ich glaube, das hat Hubertus Heilbereits angesprochen – auch den Abbau der Bürokratie;das ist schon von einer gewissen Bedeutung. Bürokratiebedeutet für ein großes Unternehmen Kosten, die inRechnung gestellt werden. Das ist unangenehm, aber esist nun einmal so. Aber für einen Mittelständler bedeutetBürokratie nicht nur Kosten. Sie bindet auch einen Teilseiner geistigen Kapazitäten. Wenn man aber den Mittel-ständler von seiner eigentlichen Aufgabe, den Kundenzu betören und sich etwas Neues einfallen zu lassen, ab-zieht, dann beeinträchtigt das seine Lebensfreude.
Das Glück der Menschen ist ein hohes Ziel. Das stehtnicht nur in der amerikanischen Verfassung, sondern istauch unser gemeinsames Ziel.In unserem vorzüglichen Koalitionsvertrag steht inmajestätischer Sprache auch geschrieben, dass wir eineneue Gründerzeit einläuten wollen, gell? Ich finde dieseFormulierung gut. Genau das haben wir vor.
Da gibt es interessante Punkte. Eine Reihe der Fragenfallen in den Zuständigkeitsbereich des Finanzministers.Ich hoffe zuversichtlich, dass der Wirtschaftsministerdem Finanzminister den brüderlichen Rat nicht vorent-hält, dass man gemeinsam günstige Bedingungen schaf-fen muss.
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Dr. Heinz Riesenhuber
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Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass wir ein Ven-ture-Capital-Gesetz machen. Prima! Wenn wir ein Ven-ture-Capital-Gesetz machen, kann es sich nicht um Re-gulatorik handeln; denn die wird in Europa gemacht.Schauen wir einmal, was wir stattdessen im Umgang mitVerlustvorträgen, der Umsatzsteuerfreiheit für Manage-ment-Fees und der steuerlichen Transparenz hinbekom-men. Daran zu arbeiten, ist eine Voraussetzung, dasswieder eine Gründerzeit mit fröhlichem Unterneh-mungsgeist startet. Bei uns sind die Zahlen bei den inno-vativen Gründungen noch nicht so gut. Das Schöne ist,dass wir hier enorm viel Luft nach oben haben, gell? Wirmüssen die Menschen nur dafür gewinnen.Das alles fließt in wesentlichen Bereichen in derHightech-Strategie zusammen, die sich in den vergange-nen Jahren, Periode für Periode, entwickelt und entfaltethat und zu beständiger neuer Schönheit und Kraft er-blüht ist. Das erfasst zunehmend alle Ressorts, und dasist gut. Hier hat Europa unsere Strukturen übernommen,und das ist sehr gut. Das ist deshalb gut, weil damit einegemeinsame europäische Innovationsstrategie entsteht,die dafür sorgt, dass wir alle zusammenarbeiten, von-einander lernen und die Regeln so entwickeln, dass diebesten Erfahrungen der Besten einbezogen werden.Wir haben – Herr Janecek hat darauf hingewiesen –nicht alles so erreicht, wie wir es uns gewünscht haben.Herr Janecek – ich bin ja nun auch schon ein bisschen imBundestag, gell? –, Sie werden erfahren, dass hier nichtimmer alles erreicht wird, was man sich wünscht.
Aber man kann hier beharrlich sein. Ich sehe zum Bei-spiel unverändert die Notwendigkeit, bei der steuerli-chen Forschungsförderung, die Sie angesprochen haben,eine Augenhöhe mit anderen Ländern zu erreichen –nicht um Unternehmen zu beglücken, sondern um denFinanzminister reich zu machen; ich kann es nur wieder-holen.Das heißt also, hieran weiter zu arbeiten, das wirdeine interessante Sache sein. Bei den Koalitionsverhand-lungen, lieber Kollege Fuchs, waren sich die Arbeits-gruppen für Wirtschaft und für Forschung bei diesenThemen einig.
Die Finanzer müssen noch daran arbeiten; die müssendas noch mehr verinnerlichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebeFreunde, wir haben hier ein Riesenfeld vor uns. Es gibtauch weitere Themen, die im Koalitionsvertrag gar nichtangesprochen worden sind, obwohl sie wichtig sind.
Das Thema Weltraum zum Beispiel muss vernünftig ge-staltet werden. Die starke Struktur unserer EuropäischenWeltraumagentur muss erhalten bleiben, während dieEuropäische Union eine überwölbende Strategie für denWeltraum entwickelt, die die Nutzer, die Anwender, diekünftigen Märkte mit einbezieht. Das ist sehr wichtig.Aber hier sind wir uns einig – wie in vielem.
Kollege Riesenhuber, ich bin fest davon überzeugt,
dass das gesamte Haus auch noch den Weltraum mit Ih-
nen gemeinsam behandeln wollen würde,
allerdings müssen wir das auf die nächste Rede verschie-
ben. Ich habe schon die Zeit, die der Kollege Lenz Ihnen
überlassen hat, mit eingerechnet. Aber Sie müssen jetzt
bitte zum Schluss kommen.
Deshalb habe ich ihn auch gleich eingangs mit Dank-
barkeit gelobt.
Ich bedanke mich nochmals ausdrücklich. Frau Präsi-
dentin, ich bedanke mich auch für Ihre Nachsicht.
Und so starten wir gemeinsam, in verschiedenen Rol-
len, in eine interessante Zeit. Wir werden uns streiten;
das ist der Sinn der Sache. Aber wenn wir dann im Er-
gebnis alle dafür einstehen, dass Deutschland erfolgreich
ist, und schauen, wie wir den besten Weg finden, um das
zu erreichen, wenn wir hier in ganz unterschiedlichen
Aufgaben und Rollen dazu beitragen, dass in Deutsch-
land der frohgemute Mut zur Zukunft weiter wächst,
dann haben wir etwas geschafft. Auf gute Zeit!
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hubertus
Heil das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Riesenhuber, ich habemich zu Wort gemeldet, weil ich eine Scharte auswetzenmuss, die aus dem Jahre 2005 stammt. Sie waren damalsVorsitzender des Wirtschaftsausschusses des DeutschenBundestages. Ich war damals das jüngste Mitglied diesesAusschusses. Am Ende der Legislaturperiode 2005 mel-dete ich mich in der letzten Sitzung zu Wort, dankte Ih-nen ganz herzlich für Ihre faire Sitzungsführung, für dieunterhaltsame Art und Weise, mit der Sie die Sitzungengestaltet haben, und wünschte Ihnen für die Zeit nachdem Parlament alles Gute.
Sie hörten sich die warmen Worte, die man da so sagt,ganz fröhlich an, um hinterher zu sagen: Herr Heil, dasist Ihr Wunschdenken, gell?
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Hubertus Heil
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Ich wollte nur sagen, Herr Riesenhuber: Ihre heutigeRede beweist, dass es wichtig ist, dass Sie als Altersprä-sident in dieser Legislaturperiode bei guter Gesundheitbleiben. Da wir beide immer für die steuerliche For-schungsförderung gekämpft haben, sie aber auch in die-sem Koalitionsvertrag nicht durchgesetzt haben, sodasssie mutmaßlich auch in dieser Legislaturperiode nichtkommt, würde ich anregen, dass Sie sich überlegen,auch für die nächste zu kandidieren. Alles Gute!
Kollege Riesenhuber, wünschen Sie zu erwidern?
Ich bedanke mich und wünsche eine gute Zeit!
Gut. Die Folgen dieser Verabredung überdenken wir
dann an anderer Stelle.
Nun hat der Kollege Peter Stein das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich weiß gar nicht, ob es eine undankbare Aufgabe ist,nach Herrn Professor Riesenhuber hier stehen zu müs-sen. Humoristisch kann ich mit ihm sicherlich nicht mit-halten.Ich möchte Sie alle in unsere Kindheit und Schulzeitentführen. Vielleicht können sich alle daran erinnern,dass uns ungefähr in der 5. Klasse etwas übergebenwurde, das uns meistens bis zum Abitur nicht mehr ge-nommen wurde. Das war der Schulweltatlas. Ich kannmich daran erinnern, dass etwa in der 8. oder 9. Klassedas Thema Ruhrgebiet für mich ein sehr spannendesThema war. Das Ruhrgebiet war dargestellt als rotbrau-ner Klumpen, umgeben von etwas Grün. Auf der Kartewaren Piktogramme zur Energiewirtschaft, Industrie,Braunkohle, Steinkohle, Stahl, Maschinenbau usw.Ich wohnte etwas weiter südlich im ländlichen Raum,im Bergischen Land. Das war grün bis dunkelgrün dar-gestellt, was signalisierte, dass dort überwiegend Forst-und Landwirtschaft vorhanden war. Das war deutlich,und wir haben das alles verstanden. Eines wurde auchdeutlich: Die Energieerzeugung und die Industrie sowieauch das Vorkommen vieler Rohstoffe waren von dergeografischen Lage her deckungsgleich. Das prägte dieIndustriegeschichte Deutschlands.Als ich dann mein Studium in Dortmund begann,habe ich zum ersten Mal gesehen, wie eine Stadt undihre Menschen offensichtlich für den deutschen Aufbauden Buckel hingehalten haben. Es waren dreckige Städteim Ruhrgebiet mit Menschen, die hart gearbeitet haben.Mitte der 80er-Jahre machte das Wort „Pseudokrupp“die Runde. Ich habe erlebt, wie im Ruhrgebiet ein Struk-turwandel einsetzte, den ich – glücklicherweise schonwährend des Studiums – begleiten konnte.Ich will als Beispiel die nationale Kohlereserve nen-nen, die LEP-VI-Fläche in Dortmund. Diese Kohlere-serve wurde aufgegeben, und Dortmund wollte einenTechnologiepark entwickeln, angegliedert an die Univer-sität. Den Menschen war schwer zu vermitteln, dass dieKohlehalde weg sollte und stattdessen Golfplätze entste-hen sollten, um Manager aus der ganzen Welt überzeu-gen zu können, sich im Technologiepark anzusiedeln.Vornehmlich Japaner wurden gesucht, und die wolltennun einmal Golf spielen. Das war für mich der Einstiegin die Beschäftigung mit dem Strukturwandel. DieserStrukturwandel ist heute noch nicht abgeschlossen.Nach der deutschen Wiedervereinigung hatte ich dasGlück, in die östlichen Bundesländer gehen zu dürfen,wo ich heute noch lebe. Ich lebe heute in Rostock, waraber unter anderem auch in Bitterfeld-Wolfen. Auch dorthabe ich Menschen, Städte und Landschaften gesehen,die ihren Buckel für das hingehalten haben, was in derDDR wirtschaftlicher Wohlstand bedeutet hat.Wenn ich heute den Blick in den Schulatlas meinerKinder werfe, dann sehe ich, dass sich einiges veränderthat. Es sind Piktogramme, die ich noch kannte, ver-schwunden, und es sind andere hinzugekommen, auchan anderen Standorten.Ich nenne beispielsweise alles, was mit IT zu tun hat.Das gab es in den 70er- und 80er-Jahren so noch nicht.Ich nenne die Standorte zur Erzeugung erneuerbarerEnergien, die neu hinzugekommen sind, und natürlichdie Trassen, die damit verbunden sind. Das zeigt deut-lich den Wandel, den wir auf gesamtdeutscher Ebene zubewältigen haben, und die neu verteilten Rollen. Dabeisollen und müssen natürlich die bestehenden industriel-len Standorte, die Kerne, die wir haben, bestehen blei-ben. Es dürfen auch gerne neue hinzukommen.In Zeiten der Krise, die wir hoffentlich langsam über-wunden haben, reden auch andere davon, dass wir einneues deutsches Wirtschaftswunder hätten. Dafür sind– das ist schon gesagt worden – vor allen Dingen derdeutsche Mittelstand und unsere Wirtschaftsstrukturmaßgeblich verantwortlich. Die Standorte, auf die ichbereits eingegangen bin und die sich im Wandel befin-den, sind bei uns in Mecklenburg-Vorpommern und imNorden generell Standorte für On- und Offshorewind-parks. Im Wandel befinden sich aber auch unsere Häfen;denn Kohle und andere Rohstoffe werden vornehmlichüber unsere Häfen zu unseren Industriestandorten gelie-fert. Auch dadurch verändert sich im Laufe der Zeit diewirtschaftliche Struktur unseres Landes. Dafür, dass dieVerteilung der Lasten, die mit der Entwicklung einherge-hen, auf die Schultern, die diesen wirtschaftlichen Fort-schritt zu tragen haben, auch fair erfolgt, sind wir hierverantwortlich. Das ist eine Herausforderung.
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696 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Peter Stein
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Die begonnene Energiewende ist gesellschaftlicherKonsens. Sie ist richtig, notwendig und gut. Deutschlandist mit seiner Energiepolitik sicherlich so etwas wie einVorreiter.Hier ist aber nicht nur Symbolpolitik zu betreiben;vielmehr muss sich das Ganze auch rechnen. Irgend-wann wird es sich auch rechnen, nämlich spätestensdann, wenn die restliche Welt auf diesen Weg ein-schwenken muss. Bis dahin haben wir eine Aufgabe– davon bin ich überzeugt –: Wir haben für uns dasKnow-how zu entwickeln. Wir müssen die Technologie-führerschaft innehaben und verstetigen. Vor allem habenwir diese Technologien im eigenen Land völlig unideo-logisch anzuwenden.Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ichstimme an diesem Punkt vielem zu, was der KollegeHubertus Heil schon vorgetragen hat. Der bisherige Wegin diese Energiewende war richtig. Das alte EEG, wennich es so bezeichnen darf – wir wollen ja eine Novellie-rung zustande bringen –, begreift man vielleicht am bes-ten als Kickstart für die Technologien, um die es heuteim Wesentlichen geht.Wo wir stehen, das wissen wir, glaube ich, noch garnicht: Haben wir schon die Hälfte der Strecke zurückge-legt? An welchem Punkt sind wir angekommen? Es istnur eines sicher: Zurück können und wollen und dürfenwir nicht gehen. Wir müssen diesen Weg weitergehen.
Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat gesternfestgestellt, dass der Anteil der erneuerbaren Energienmittlerweile bei nahezu 25 Prozent liegt. Insofern fristendie erneuerbaren Energien kein Nischendasein mehr.Auch da knüpfe ich an etwas an, was bereits gesagt wor-den ist: Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die erneuer-baren Energien in absehbarer Zeit am freien Markt be-stehen können.
Nur so ist die Energiewende eine echte, vernünftige undnachhaltige Wende. Der Begriff „nachhaltig“ ist nichtvon mir erfunden worden. Er ist mir mittlerweile schonfast über, aber in diesen Zusammenhang passt er einfachhinein. Auch deshalb verwende ich ihn gern. Der Minis-ter Sigmar Gabriel hat im Ausschuss die EEG-Novelle,die er maßgeblich anschieben muss und will, einen„Zwischenschritt“ genannt. Er liegt damit sicherlichnicht verkehrt, wenn wir den Prozess betrachten, der ins-gesamt noch vor uns liegt.Wir haben uns im Koalitionsvertrag zur Energie-wende bekannt und werden diesen Weg erfolgreich ge-hen müssen, wenn wir die nötige Akzeptanz dafür erhal-ten wollen. Die Bundeskanzlerin und übrigens auchunser Fraktionsvorsitzender haben zuletzt gestern in derAussprache zu Recht deutlich gemacht: Das machen wiralle gemeinsam. – „Gemeinsam“ heißt nicht nur hier imHohen Haus, die Regierung und die Koalition, sondernauch Einbeziehung des Bundesrates. Ich verweise auchauf die Planungsregionen in den Ländern, die dafür Ver-antwortung tragen.Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, dervor uns liegende Vorschlag zur EEG-Novellierung gehtdabei sicherlich in die richtige Richtung. Der Ausbau er-neuerbarer Energien wird auf die kostengünstigsten undeffizientesten Technologien zurechtgeschnitten. Die Ver-sorgungssicherheit spielt eine ganz herausragende undwichtige Rolle bei der Novellierung.Überförderungen sollen wegfallen; das ist heuteschon mehrfach von allen Seiten vorgetragen und be-grüßt worden. Onshorewindkraft, Photovoltaik und auchOffshorewinderzeugung sind die Energien für die Zu-kunft, was wir übrigens schon heute erleben. Wir wissen,wie das System funktioniert und was auf uns zukommt.Wir können da schon eine gewisse Substanz feststellen.Das ist ein großer Vorteil gegenüber vielen anderen Staa-ten und Nationen auf der Welt.In allen drei Bereichen rechnet sich das für uns auf je-den Fall doppelt: zum einen für uns als Stromerzeugervor Ort, zum anderen als technologisches Exportgut, alsProdukt, als Know-how für die Zukunft. Wir müssen un-sere Technologieführerschaft im eigenen Lande wirklichunideologisch zulassen und auch fördern.Lassen Sie mich an dieser Stelle die immense Bedeu-tung unserer Hochschulen herausstreichen, die einen we-sentlichen Beitrag zu Forschung und Entwicklung leis-ten. Überhaupt sind Forschung und Entwicklung amStandort Deutschland wesentliche Gründe für den ErfolgDeutschlands. Unsere Hochschulen sind dabei ein wich-tiger Bestandteil, und dies in enger Zusammenarbeit mitder Wirtschaft. Die meisten Technologien in diesem Be-reich werden privatwirtschaftlich finanziert und entwi-ckelt. Die Unternehmen, die das tragen, die das finanzie-ren, die das wollen, brauchen eine Sache viel mehr alsSubventionen, nämlich Planungssicherheit. Bürokratie-aufwuchs ist zu verhindern, damit Planungssicherheit imHinblick auf unsere neuen, zukünftigen Energieformenund unser Wirtschaften generell gewährleistet wird.Die entscheidenden Punkte dabei sind – auch dieKanzlerin hat das in ihrer Rede gestern betont – die vor-gesehenen Ausbaukorridore und das Marktdesign. Auchdazu ist heute schon einiges gesagt worden. Deshalbkann ich mich hier kurzfassen. Auf diese Art und Weisewird Planungssicherheit erzielt; das System wird bere-chenbar – und das nicht nur für die Investitionen in er-neuerbare Energien, sondern auch für die in den Ausbauder Netze.Lassen Sie mich zum Beginn meiner Rede zurück-kommen. Der wirtschaftliche Wohlstand muss alle in derGesellschaft erreichen, und die Belastungen sollten idea-lerweise von allen geschultert werden. Aber wie bei-spielsweise das Ruhrgebiet und seine Menschen, über-haupt die Montanregionen in früheren Zeiten ihrenBeitrag leisteten, so werden heute einzelne andere Re-gionen und Menschen die Belastungen schultern müs-sen. Das müssen wir ihnen erklären. Wir müssen sie ineinem Dialog mitnehmen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 697
Peter Stein
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Ich sehe, meine Redezeit geht dem Ende entgegen.Deshalb will ich auch zum Schluss kommen. Sehr ge-ehrte Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt noch alsAbgeordneter des Landes Mecklenburg-Vorpommern et-was dazu sagen.Wir sind wie viele andere norddeutsche Regionen mitOnshore- und Offshoregebieten gesegnet – mit allenVorteilen und Problemen, die das mit sich bringt. Wirsind bereit und willens, uns für die Energiewende insZeug zu legen. Wir haben Häfen, wir haben die Wind-industrie, wir haben speziell in Greifswald – mein Kol-lege Lietz kennt das ganz genau – den ITER, den For-schungsreaktor, und nicht zuletzt haben wir dort mit denEnergiewerken Nord auch ein Unternehmen, das in die-ser Republik sicherlich die höchste Expertise im Rück-bau von atomaren Anlagen hat. Mecklenburg-Vorpom-mern kann und wird also seinen Beitrag leisten. MeineKollegin Karin Strenz und meine Kollegen stehen mitmir dazu.Ich bedanke mich zum Schluss dafür, dass Sie mir sofair zugehört haben. Überhaupt hat mich in diesem Ho-hen Hause in den paar Wochen, die ich jetzt hier bin, derfaire und professionelle Umgang miteinander sehr beein-druckt. Wie gesagt: Ganz herzlichen Dank dafür!
Kollege Stein, das war Ihre erste Rede im DeutschenBundestag. Auch Ihnen wünschen wir alles Gute für IhreArbeit hier im Hohen Hause.Ihre letzte Bemerkung veranlasst mich dazu, mir zuwünschen, dass wir hier die gesamte Legislaturperiodein einem solchen Klima, wie Sie es gerade beschriebenhaben, miteinander umgehen, sicherlich hart in der Sa-che debattieren, aber fair miteinander umgehen.Dazu gehört auch der Hinweis: Es ist ein verbreiteterIrrtum, Kollege Stein, dem auch langjährige Kollegenaufsitzen, dass auf der Anzeige das Minuszeichen vorder Redezeit die noch verbleibende Redezeit anzeigt. Esmacht aber ganz deutlich, wie weit Sie Ihre Redezeitschon überschritten haben.
– Wenn das heute auch langjährigen Kollegen klar ge-worden ist, haben wir vielleicht noch einen Beitrag dazugeleistet, dass unsere Debatten in der vereinbarten Zeitgeführt werden.Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereichliegen mir nicht vor.Wir kommen nun zum Themenbereich Finanzen undHaushalt. Das Wort hat der Bundesminister der Finan-zen, Dr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Bundeskanzlerin hat gestern in der Regie-rungserklärung die großen Herausforderungen beschrie-ben, vor denen Deutschland und Europa stehen. Das istdie demografische Herausforderung. Das ist, Herr Kol-lege Riesenhuber, eine geringere Freudigkeit in unsererGesellschaft bei der Einführung und Anwendung neuerTechnologien. Deswegen brauchen wir, wenn wir for-schungs- und innovationsfreundlich bleiben wollen,viele solcher mutmachenden Reden. Deswegen stimmeich Herrn Kollegen Heil ausdrücklich zu. Wir müssenuns über die effizienteste Form der Verwendung be-grenzter Mittel dann gelegentlich noch verständigen.
Darüber hinaus gilt – auch das muss man einfach se-hen; man muss es sich gelegentlich ins Gedächtnis rufen,gerade am Beginn einer Legislaturperiode –: Im Ver-gleich zu anderen großen Industrieregionen der Weltverwenden die europäischen Länder im Durchschnittdoppelt so viel von ihrem Bruttoinlandsprodukt für so-ziale Leistungen. Zusammen mit einer gewissen Risiko-scheu und der demografischen Entwicklung beschreibtdies die Herausforderungen für die Leistungsfähigkeitunserer Wirtschaft.Wir sind in einer guten Situation, aber wir müssen unsdarüber im Klaren sein: Wir müssen Kurs halten, undwir müssen uns weiter mit allen Kräften anstrengen.Ich will noch folgende Bemerkung machen: Am Endehängt die wirtschaftliche Entwicklung immer ganz ent-scheidend davon ab, wie die Menschen die Zukunft ein-schätzen. Schon Ludwig Erhard hat gesagt, dass mindes-tens die Hälfte Psychologie ist. Wir sind in denvergangenen Jahren aus der schwersten wirtschaftlichenKrise der Nachkriegszeit besser als andere herausge-kommen, weil es uns gelungen ist, das Vertrauen derMenschen in die Nachhaltigkeit unserer Systeme, insbe-sondere in unsere öffentlichen Haushalte, zurückzuge-winnen. Deswegen hat eine nachhaltige und konse-quente Finanzpolitik einen entscheidenden Beitrag fürdie Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft zu leisten.
Am Anfang der letzten Legislaturperiode sind Wettenabgeschlossen worden, dass wir die Schuldenbremseniemals einhalten können. Das ist aber überhaupt keinThema mehr. Wir haben in den Koalitionsverhandlungenzu Recht miteinander verabredet, dass wir angesichts derdemografischen Entwicklung den Spielraum der Schul-denbremse des Grundgesetzes in dieser gegebenen Si-tuation nicht ausschöpfen wollen, sondern dass wir in die-sem Jahr ohne eine strukturelle Neuverschuldung und abdem kommenden Jahr ohne neue Schulden auskommenwollen. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber es ist der richtigeWeg, um die Tragfähigkeit unserer wirtschaftlichen Ent-wicklung auch mittelfristig abzustützen. Deswegen wer-den wir diesen Punkt Schritt für Schritt umsetzen.
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698 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Auch wenn wir gesamtstaatlich gesehen im letztenJahr mit 0,1 Prozent fast kein Defizit hatten – im Vorjahrhatten wir sogar einen leichten Überschuss –, haben wirnoch immer eine Gesamtverschuldung unserer öffentli-chen Haushalte in Höhe von rund 80 Prozent unserergesamtwirtschaftlichen Leistung. Wir sind verpflichtet– wir haben uns vorgenommen, diese Verpflichtung zuerfüllen –, diese Verschuldung innerhalb von zehn Jah-ren auf 60 Prozent, was gesamtwirtschaftlich tragfähigist, zurückzuführen. Die Planungen für diese Legislatur-periode gehen davon aus, dass wir bis zum Ende der Le-gislaturperiode in die Nähe von 70 Prozent Gesamtver-schuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsproduktkommen können, wenn wir den vereinbarten Weg durch-setzen. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Deswegenwerbe ich schon heute dafür, dass wir ihn auch in denkommenden Jahren bei den Haushaltsberatungen ge-meinsam gehen.Wir haben uns vorgenommen, den Entwurf des Bun-deshaushalts 2014 im März zu verabschieden, gleichzei-tig auch die Verhandlungen über die mittelfristige Fi-nanzplanung zu beginnen und zugleich im bewährtenTop-down-Verfahren die Eckwerte für den Haushalt2015 festzulegen. Wir werden dann gemäß der Vereinba-rung im Koalitionsvertrag aufzeigen, wie wir die Spiel-räume, die wir durch die Finanzpolitik gewonnen haben,zu verstärkten Investitionen in die Infrastruktur unseresLandes, in Forschung und Familie nutzen können, wiewir das miteinander verabredet haben. Dies dient derlangfristigen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseresLandes.
Die Tatsache, dass wir einen annähernd ausgegliche-nen Gesamthaushalt von Bund, Ländern und Kommunenhaben, ist im Übrigen der beste Beweis dafür, dass wirkeine Steuererhöhungen benötigen, sondern dass wir mitden gegebenen Steuergesetzen die öffentlichen Aufga-ben nachhaltig und angemessen finanzieren können. ImÜbrigen ist unser System der Unternehmensbesteuerunginternational wettbewerbsfähig, sonst hätten wir nichtdiese gute wirtschaftliche Entwicklung, die wir im Au-genblick haben. Auch das muss man klar sagen.
In den nächsten Jahren wird es vor allen Dingen da-rum gehen, dass wir die bestehenden Steueransprüchenoch konsequenter durchsetzen.
– Ja, das ist leichter gesagt als getan, Herr Kollege, weildie Möglichkeiten der Steuervermeidung, die die Globa-lisierung mit sich bringt, es den Finanzmärkten unglaub-lich leicht machen, die unterschiedlichen steuerlichenRegelungen, die es überall auf der Welt gibt, im Hinblickauf die Steuerbelastung optimal zu nutzen. Jedes Unter-nehmen, das weltweit tätig ist, muss dies aus Gründender Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen auch somachen. Daher ist es wichtig, dass wir die Initiative ge-startet haben, uns weltweit über Regeln zu verständigen,mit denen die Anzahl der Möglichkeiten der Steuerver-meidung reduziert werden kann. Aber das ist ein weiterWeg. Wir werden auf globaler Ebene – in der OECD undin den G 20 – konsequent daran arbeiten, im europäi-schen Rahmen ohnehin, wo wir auch ein Stück weit Vor-reiter und Vorbild sein müssen. Aber auch da bleibt inEuropa viel zu tun. Auf der anderen Seite werden wiruns vor illusionären Erwartungen, die wir nicht erfüllenkönnen, hüten müssen; denn natürlich ist die Kreativität,dem auszuweichen, immer groß. Wir haben große Fort-schritte in den letzten Jahren gemacht – und das wirdsich in den nächsten Jahren sehr schnell fortsetzen –,durch den Informationsaustausch der Steuerverwaltun-gen die Möglichkeiten der Steuerhinterziehung zu ver-ringern. Der automatische Informationsaustausch ist inEuropa auf der Tagesordnung. Ich bin zuversichtlich,dass wir ihn im Laufe dieser Legislaturperiode in euro-päisches Recht umsetzen können. In der OECD und aufder Ebene der G 20 sind wir gut vorangekommen, weilalle begreifen: Die Akzeptanz unserer demokratischenSysteme hängt am Ende davon ab, dass die bestehendenSteueransprüche auch durchgesetzt werden. Darum gehtes.
Ich will ein paar Bemerkungen zu den aktuellen Pro-blemen bei der Stabilisierung unserer gemeinsamen eu-ropäischen Währung machen; auch die Bundesbank hatdazu in diesen Tagen eine Bemerkung gemacht. Im Zugefortschreitender europäischer Integration werden wir unsauch mit der Frage beschäftigen müssen, dass wir dierichtige Balance finden zwischen der Freiheit jedes ein-zelnen Mitgliedstaates, durch die Gestaltung seiner Steu-ersätze Wettbewerb zwischen den Standorten zu betrei-ben, und der europäischen Solidarität, die im Interesseunserer gemeinsamen Währung von allen gefordertwird. Hier haben wir noch nicht das richtige Gleich-gewicht, wie wir aus einigen Diskussionen der letztenJahre wissen. Auch daran müssen wir arbeiten. Das gehtauch nicht leicht, weil in Europa die Verträge nur ein-stimmig geändert werden können. Aber trotzdem mussman das Ziel und die Notwendigkeit beschreiben.Mit der Verteidigung unserer gemeinsamen europäi-schen Währung und mit der Herausführung dieser Wäh-rung aus der Vertrauenskrise – in die sie übrigens alsFolge der Finanz- und Bankenkrise geraten ist, die garnicht in Europa ihren Ursprung und ihre Ursache hatte;daran muss man gelegentlich erinnern –, in der Rückge-winnung des Vertrauens in die europäische Währungsind wir viel erfolgreicher gewesen, als die meisten nochvor drei Jahren für möglich gehalten haben. Die Hilfs-programme für Irland und Spanien sind erfolgreich ab-geschlossen. Portugal wird Mitte dieses Jahres so weitsein. Griechenland – bei allen verbleibenden Problemen,die man, was die politische Stabilität und die Maßnah-men, die der Bevölkerung zugemutet werden, nicht un-terschätzen darf – hat erhebliche Fortschritte gemacht.Die Euro-Zone insgesamt ist aus der Rezession heraus-gekommen, auch dank der starken LeistungskraftDeutschlands. Der Euro als solcher ist aus der Aufmerk-samkeit der Finanzmärkte als eine Quelle der Beunruhi-gung entschwunden. Dies kann man sehen, wenn man
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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sich die Sätze für die Staatsanleihen aller Mitgliedstaa-ten der Euro-Zone ansieht. Das ist wirklich eine Erfolgs-geschichte. Darauf dürfen wir uns nicht ausruhen. Aberaus der Erfahrung können wir die Sicherheit gewinnen,dass der eingeschlagene Weg – Solidarität bei der Be-kämpfung der Ursachen, also Hilfe, wenn notwendig,aber unter Auflagen, um die Ursachen der Probleme zubeseitigen – richtig war. Wir werden ihn auch in denkommenden Jahren im Interesse Europas und der Stabi-lität unserer Währung fortsetzen.
Ich will im Übrigen hinzufügen: Jedermann inDeutschland muss wissen, dass aus der gemeinsameneuropäischen Währung natürlich nicht zuletzt Deutsch-land mit seiner leistungsstarken Wirtschaft Vorteile hat.Wir hätten also mehr zu verlieren. Wenn wir die europäi-sche Währung verteidigen, handeln wir nicht in falschverstandener Generosität, was manche Demagogen denMenschen einreden wollen, sondern wir verhalten unsrichtig in der Wahrnehmung unserer eigenen Interessenund unserer eigenen Verantwortung gegenüber unsererZukunft.
Wir sind bei der europäischen Bankenunion weit vo-rangekommen. Wir haben einheitliche Regeln für die Sa-nierung und Abwicklung von Banken vereinbart, wo-nach überall in Europa klargestellt ist, dass in Zukunft inerster Linie die Eigentümer und die Gläubiger bei Ban-ken für etwaige Verluste haften und nicht mehr der Steu-erzahler. Chancen und Risiken gehören zusammen: Esmüssen die, die Gewinne machen, auch die Verluste tra-gen. Und genau diesen Weg verfolgt die europäische Sa-nierungs- und Abwicklungsrichtlinie. Hier haben wir imDezember eine Einigung mit dem Europäischen Parla-ment erzielt.Die europäische Bankenaufsicht wird als Kapazitätbei der EZB aufgebaut. Wir sind jetzt in den Endver-handlungen mit dem Europäischen Parlament. Es sindim Detail noch schwierige Verhandlungen, aber wir wer-den sie erfolgreich abschließen, sodass wir einen einheit-lichen Abwicklungsmechanismus haben.All dies muss – das muss man auch den Kollegen inBrüssel sagen – auf einwandfreier rechtlicher Grundlagegeschehen. Die europäischen Verträge sind nicht perfekt,die Regelungen manchmal kompliziert; aber wir dürfennicht riskieren, dass wir Vereinbarungen treffen, dienachher einer rechtlichen Überprüfung nicht standhal-ten. Das haben wir bisher so gehalten; das werden wirauch in der Zukunft um der Stabilität dieser europäi-schen Währung willen so halten müssen.Im Übrigen: Wenn wir eine europäische Bankenab-gabe nur so bekommen können, dass wir nationale Ban-kenabgaben einführen, weil es keine Rechtsgrundlagefür eine europäische gibt, dann ist auch klar – das hörennicht alle gern –: Die Verantwortung dafür, dass die Ban-kenabgabe gezahlt wird, muss bei den Mitgliedstaatenverbleiben, weil nur sie sie beschließen und durchsetzenkönnen. Deswegen können wir die Haftung für einenicht eingezahlte Bankenabgabe nicht vergemeinschaf-ten. Erst muss sie eingezahlt sein, dann kann man verge-meinschaften.
Das ist der Sinn dieser komplizierten Regelung; wennman sich den Gehalt anschaut, ist das eindeutig.Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen. Dannwerden wir mit einer stabileren europäischen Banken-landschaft zugleich einen wichtigen Beitrag dazu leisten,dass wir weiterhin die Lehren aus der Finanz- und Ban-kenkrise der Jahre 2007 und 2008 ziehen. Wir sind in derFinanzmarktregulierung weit vorangekommen. Wir ha-ben strengere Vorschriften für das Eigenkapital der Ban-ken, sodass die Risikomaximierung bei den Bankennicht mehr wie bisher vorangeht. Das ist mit Basel IIIgut umgesetzt.Wir haben, übrigens weltweit, Regelungen zur Be-grenzung der Managervergütungen vereinbart. Das istdringend notwendig, weil sich ganz falsche Verhaltens-weisen ein Stück weit eingeschlichen haben.Wir schaffen eine europäische Bankenaufsicht, weilman grenzüberschreitend tätige Banken nicht mehr na-tional beaufsichtigen kann. Wir werden uns jetzt ver-stärkt dem Thema Schattenbanken widmen müssen; dasist von den G 20 vereinbart worden. Es ist ein schwieri-ges Feld; aber das muss energisch vorangetrieben wer-den. Wir haben gestern die Vorschläge der EuropäischenKommission zur Umsetzung des Liikanen-Berichts be-kommen. Sie sind ein ganzes Stück weit auf der Linieunserer nationalen Gesetzgebung, die wir, auch um Er-fahrungen zu sammeln, in Abstimmung mit und parallelzu Frankreich, unserem wichtigsten und engsten Partner,schon im Vorgriff national umgesetzt haben. Wir werdendie Vorschläge noch im Einzelnen genau prüfen müssen.Ich habe ein bisschen Bedenken, dass die Vorschläge derKommission, gerade, was die Abschottung von hochris-kanten Geschäften bei den Hedgefonds anbetrifft, weni-ger weit gehen als unsere deutsche Regelung. Ich glaube,dass das ein Punkt ist, den wir dann überprüfen müssen.Denn wir müssen sehr genau hinschauen, damit wir un-mäßige Risiken im Bankensektor im Sinne der Stabilitätfür die Zukunft möglichst unwahrscheinlich machen.
Wir haben jetzt übrigens mit der Finanzmarktrichtli-nie – um auch das zu sagen – eine europäische und nichtmehr nur eine nationale Regelung für den Hochfre-quenzhandel. Sie schließt ihn nicht aus, schränkt aberMissbrauchsmöglichkeiten oder Übertreibungen ein.Wir haben vor allen Dingen auch bestimmte Begrenzun-gen der Spekulation mit Rohstoffen beschlossen. Auchdas ist ein dringender, wichtiger Punkt. Ich bin froh, dassuns dies gelungen ist. Meine Damen und Herren, wirwerden diese Bemühungen in den kommenden JahrenSchritt für Schritt und konsequent fortsetzen.Ich will eine letzte Bemerkung machen. Ich redeschnell, weil die Hauptthemen der Finanzpolitik in derKürze der Zeit kaum darzustellen sind. Ich habe gelesen,
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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in den nächsten Jahren werde der Finanzminister Lange-weile haben. Diese Sorge habe ich im Moment nicht.
Wir müssen die Finanzbeziehungen zwischen Bund,Ländern und Kommunen ein Stück weit mit mehr ge-meinsamer Verantwortung bedenken. Wir haben im Ko-alitionsvertrag wieder zusätzliche Leistungen für dieKommunen vereinbart. Ich will daran erinnern, dass wirin der letzten Legislaturperiode mehr Leistungen für dieKommunen erbracht haben, als die Kommunen selbst er-wartet haben. Seit dem 1. Januar haben wir die Kostender Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderungvollständig durch den Bundeshaushalt übernommen– das sind noch einmal zusätzlich 1,1 Milliarden Euro –und damit die Gemeinden entlastet.
Ab dem kommenden Jahr werden wir im Vorgriff aufein Gesetz über die Eingliederungshilfe – das ist nochmal eine Riesenaufgabe –
jedes Jahr 1 Milliarde Euro vorab für die Gemeinden zurEntlastung bei der Eingliederungshilfe vorsehen. Wir ha-ben im Koalitionsvertrag 1 Milliarde Euro für Kinderta-gesstätten reserviert. Das alles sind Leistungen zur Ent-lastung der Kommunen.Für die Länder haben wir darüber hinaus vereinbart,die Mittel, Herr Kollege Riesenhuber, nicht nur für dieaußeruniversitäre Forschung um weitere 3 Milliarden,sondern auch für die Hochschulen um bis zu 5 Milliar-den Euro aufzustocken. All dies dient der Entlastung derLänder.
Deswegen nutze ich die Gelegenheit am Ende meinerersten Rede in dieser Legislaturperiode, um an alle inunserem Bundesstaat zu appellieren: Lassen Sie uns ge-meinsam auf allen Ebenen zusammenwirken. Nehmenwir in einer Zeit großer Herausforderungen, aber auchgroßer Chancen unsere Verantwortung wahr, um das,was in Jahrzehnten glücklichster Entwicklung in unsererGeschichte erreicht worden ist, für das 21. Jahrhundertzukunftsfest zu machen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Schäuble, ich kann Ihnen zusichern: Wirwerden dieser Verantwortung gerecht werden, aber dasheißt natürlich nicht, dass wir das, was Sie hier als Kursvorgeben, unkritisch zur Kenntnis nehmen.Sie haben als Koalition in den ersten vier Monaten ei-nen schwungvollen Start hingelegt. Es gab ein relativgroßes Chaos. Ich hoffe, dass das Kennenlernprogrammjetzt zu Ende ist.Aber was Sie in der kurzen Zeit geschafft haben, ist,erst einmal die Entscheidung zu treffen, 35 neue Stelleneinzurichten, darunter auch die von Staatssekretären, dieenorm teuer sind. Ich frage mich, wie Sie den Kommu-nen und den Ländern erklären wollen, dass Sie hier Per-sonal aufbauen und in den Ländern, egal ob von CDU,SPD oder Linken regiert, Personal abgebaut werdenmuss. Das passt nicht zusammen. Es ist auch nicht inOrdnung: Hier auf Bundesebene Stellen aufzubauen,geht so nicht.
Lassen Sie mich als Beispiel das BMZ nennen. Dort istHerr Fuchtel offensichtlich gleich in Kompaniestärkeeingezogen.
Da kann ich nur sagen: Das ist ein Weg, den wir so nichtmitgehen werden.
Sie wollen Deutschlands Zukunft gestalten. Das hörtsich gut an. Sie wollen die großen Themen und die gro-ßen Probleme angehen. Das ist völlig in Ordnung, damitsind wir einverstanden. Aber wenn ich mir anschaue,welche finanz- und haushaltspolitischen Schritte gegan-gen werden, dann stelle ich fest: Was Sie machen, ist imKern ein Weiter-so.Ich will einen Satz aus der Präambel Ihres Koalitions-vertrages zitieren. Dort heißt es immerhin:Nicht alle Menschen haben jedoch an dieser positi-ven Entwicklung teilhaben können.Wen meinen Sie damit eigentlich? Die 12 MillionenBundesbürger, die laut Statistischem Bundesamt an derArmutsgrenze leben? Die 2,5 Millionen junger Men-schen, die unter Einkommensarmut leiden? Die465 000 Rentner, die von Sozialleistungen leben müs-sen? Die alle kamen weder bei der Kanzlerin noch beiIhnen heute in irgendeiner Weise vor. Das kann ich inso-weit verstehen, als Sie über diejenigen, die von IhrerPolitik profitieren, auch nicht reden.Ich will Ihnen eines sagen: Zu den großen Herausfor-derungen der Politik gehört auch, die ungerechte Vermö-gens- und Einkommensverteilung in Deutschland anzu-gehen. Die Probleme müssen angepackt werden; denndie Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiterauseinander.
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Dr. Dietmar Bartsch
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Ich will Ihnen zwei Zahlen nennen. Auf der einenSeite steigt die Zahl der Vermögensmillionäre inDeutschland jedes Jahr. Wir sind inzwischen bei über1 015 000 Vermögensmillionären, und das wird mannicht mit eigener Hände Arbeit. Auf der anderen Seiteleben inzwischen 20 Prozent der Kinder in Armut. Bei-des sind keine Zahlen der Linken. Das zeigt: Auch daspasst nicht zusammen. Das ist eine Politik, die nicht so-zial und die nicht christlich ist.
Deswegen müssen wir bei dieser Entwicklung gegen-steuern. Wir können nicht sagen: Alles bleibt beim Al-ten.Ihre Finanzpolitik kann man am Beispiel Rente sehrgut deutlich machen. Ich will nicht zur Sache reden – da-mit werden sich die Fachpolitiker auseinandersetzen –,aber die Frage ist: Was machen Sie finanzpolitisch? Ers-tens. Sie verbraten alle vorhandenen Reserven. Zwei-tens: Für die Finanzierung der Mütterrente erhöhen Sienicht etwa die Beiträge, sondern Sie greifen in die Ta-schen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Undzum Schluss sagen Sie noch: Irgendwann 2019 werdenwir den Steuerzuschuss erhöhen. – Das ist eine unsolideFinanzpolitik.
Das ist Politik zulasten zukünftiger Generationen, unddas darf nicht sein.
Nun zum Thema Haushalt. Herr Schäuble, Sie sagen:Keine neuen Bundesschulden. – Das ist völlig in Ord-nung; damit sind wir einverstanden. Das habe ich aberauch schon von Ihren Vorgängern gehört. Ich will an ei-nes erinnern: In der letzten Legislaturperiode hat IhreKoalition 100 Milliarden Euro neue Schulden gemacht.Die Bundesschuld liegt bei 1,1 Billionen Euro. Ich höresehr wohl, dass Sie das auf 70 Prozent reduzierenwollen – allein, mir fehlt der Glaube.Es gibt andere Beispiele: Im rot-rot regierten Bran-denburg werden seit drei Jahren Überschüsse produziert,und wir haben mit der Schuldentilgung begonnen. Das,was auf Bundesebene nicht gemacht wird, geht offen-sichtlich.
Auch Sie können mit einer noch so großen Mehrheitim Parlament die Regeln der Mathematik nicht außerKraft setzen; die können Sie nicht wegbeschließen. Des-wegen werden wir über Einnahmeerhöhungen nachden-ken müssen. Das heißt eben nicht pauschal Steuererhö-hungen. Vielmehr müssen wir genau schauen, wer vonder Krise profitiert, wo große Vermögen und Einkom-men vorhanden sind.Ich kann es meinen lieben Kolleginnen und Kollegender SPD nicht ersparen: In Ihrem Regierungsprogrammstand vieles, das sich sehr gut lesen ließ. Was ist abernun mit der Erhöhung der Einkommen- und Abgeltung-steuer? Fehlanzeige. Was ist damit, dass die Vermögen-steuer wieder erhoben werden sollte? Fehlanzeige. Wasist denn mit der Korrektur bei der Erbschaftsteuer? Fehl-anzeige. Was ist mit einem europäischen Erblastentil-gungsfonds? Fehlanzeige. Was ist mit der Streichungvon Subventionen für unökologische Tatbestände? Fehl-anzeige. Das alles findet sich nicht wieder. Was ist dennvom Regierungsprogramm übrig geblieben? DasSchlimme ist, dass sich der vernünftigste Vorschlag derCDU, der Abbau der kalten Progression, auch nicht wie-derfindet. Sie haben sich also auf dem schlechtesten Le-vel geeinigt. Das kann finanzpolitisch nicht sein. Wirsollten den Mittelstandsbauch endlich abbauen; denn wirmüssen die Menschen entlasten, die viel in unserer Ge-sellschaft tun, und starke Schultern müssen mehr tragen.
Auf dem Gebiet der Haushalts- und Finanzpolitik gibtes im Kern ein Weiter-so der Politik von Schwarz-Gelb,liebe Kolleginnen und Kollegen gerade auch der Sozial-demokratie. Wir brauchen etwas anderes. Wir brauchennicht das Gerede über die Regulierung der Finanz-märkte, sondern das muss endlich geschehen.
Wir müssen endlich Millionäre, Milliardäre und Super-reiche zur Kasse bitten. Wir dürfen sie nicht länger he-rausnehmen bei der Finanzierung des Gemeinwesens.Wir müssen Steuerentlastungen für die Geringverdiene-rinnen und Geringverdiener durchsetzen, um die Nach-frage zu erhöhen. Millionärssteuer ist angesagt. Es gibtnoch viele weitere Vorschläge.Herr Schäuble, Sie haben uns an Ihrer Seite, wenn SieSteuerhinterziehung stärker bekämpfen wollen, wennSie bei denjenigen etwas abholen wollen, die bewusstdem Gemeinwohl schaden. Da sind wir dabei. Aber auchhier frage ich: Wer ist denn seit vielen Jahren Finanz-minister und hätte schon einiges tun können?
Ich sage Ihnen ganz klar und eindeutig: Wir werden Sienicht an Ihren, wie Herr Riesenhuber es ausdrückte, ma-jestätischen Worten messen, sondern an Ihren Taten. Ichsage Ihnen voraus: Mit der Politik werden Sie das ambi-tionierte Ziel, 2015 einen ausgeglichenen Haushalt vor-zulegen, nicht erreichen; denn Sie können mit einer nochso großen Koalition die Mathematik nicht wegbeschlie-ßen.Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe keine Sorge, dass die Finanzpolitik in dennächsten vier Jahren langweilig wird. Es gibt nicht nurdie Debatten mit der Opposition in diesem Haus, dieHerr Bartsch gerade angesprochen hat – darauf werdeich noch zu sprechen kommen –, sondern es gibt aucheine ganze Reihe von Herausforderungen, die in dennächsten vier Jahren zu meistern sind.Das Erste und Wichtigste ist, dass wir als Koalitionvon CDU, CSU und SPD uns ganz klar für solide undgerechte Finanzen einsetzen.
– Ich bin auf die Vorschläge gespannt. – Wir haben 2009unter Federführung des damaligen Bundesfinanzminis-ters Peer Steinbrück die Schuldenbremse ins Grundge-setz geschrieben. Die gilt.
Wir werden dafür sorgen – auch das ist im Koalitions-vertrag vereinbart –, dass Einnahmen und Ausgaben soin Einklang gebracht werden, dass wir die Mittel für öf-fentliche Investitionen erhöhen und die Neuverschul-dung, die es in den vergangenen über 40 Jahren gegebenhat, so deutlich reduzieren können, dass sie im Jahr 2015null beträgt. Das ist ein Paradigmenwechsel, für den dieSPD steht und bei dem wir den Bundesfinanzministerauch unterstützen werden.
Wenn Sie sich die Ausgabenseite ansehen, alsoschauen, wofür der Staat das Geld investiert, dann sehenSie, dass in den letzten vier Jahren insbesondere bei derSozialpolitik, bei der Arbeitsmarktpolitik, bei denSchwächsten der Gesellschaft die Mittel gekürzt wur-den. Wir machen das rückgängig. Die Mittel für die ak-tive Arbeitsmarktpolitik werden wieder erhöht. Denjeni-gen, die die schwierigsten Ausgangssituationen haben,um Arbeit zu finden, anzunehmen und von ihrer eigenenHände Arbeit zu leben, werden wir helfen.
Sie werden für ihre Arbeit künftig auch angemessen ent-lohnt werden, ein Lohn, von dem man anständig lebenkann. Das bedeutet, dass wir einen Mindestlohn einfüh-ren werden, der dafür sorgen wird, dass Millionen Men-schen mehr Geld in der Tasche haben, der ihnen Würdewiedergibt und der auch den sozialen Ausgleich wieder-herstellt.
Das Ganze ist auch haushaltswirksam, weil wir Min-derausgaben haben werden: Das Lohndumping, das esim vergangenen Jahrzehnt gegeben hat, wird unterbun-den. Den Arbeitgebern, die mit geringsten Löhnen kal-kuliert und in Kauf genommen haben, dass der Staatdann aufstockt, machen wir einen Strich durch die Rech-nung. Ich bin froh, dass die Union uns bei diesem Punktjetzt auch folgen wird.
Trotzdem ist auch klar, dass die Zukunftsinvestitionenin Deutschland zu gering sind, nicht nur im öffentlichenSektor, sondern auch im privaten. Ja, wir haben – vergli-chen mit anderen Ländern – eine ganz gute wirtschaftli-che Ausgangslage.
Das hängt stark mit den Krisenbekämpfungsmaßnah-men, die wir 2009 auf den Weg gebracht haben, undauch mit den Arbeitsmarktreformen zusammen. Aberwir brauchen jetzt eine Zukunftsgewandtheit. HerrRiesenhuber hat vorhin darauf hingewiesen, dass wirauch den Forschungsbereich stärken müssen.
Ich sehe mit Sorge, dass die privaten Investitionen rück-läufig sind. Das ist nicht gut. Wir brauchen deutlichmehr Investitionen in Forschung und Entwicklung, indie öffentliche Infrastruktur, aber auch in den privatenSektor. Wir werden alles tun, um das zu unterstützen.
Hinsichtlich der öffentlichen Investitionen möchte ichIhnen kurz eine Zahl nennen. Das öffentliche Vermögenist in den vergangenen 20 Jahren um 800 MilliardenEuro zurückgegangen, teilweise aufgrund von Desinves-tition, aber vor allen Dingen aufgrund der hohen Ver-schuldung, die zusätzliche Investitionen nicht zuließ.Wir mussten diese Schulden aufnehmen, um die Finanz-krise zu meistern. Auf der anderen Seite ist die Zahl derVermögenden explodiert. Der Umfang der privaten Ver-mögen ist von 4,6 auf rund 10 Billionen Euro gestiegen.Ich bin sehr froh, dass die Bundesbank für die euro-päischen Länder klar gesagt hat – ich hätte mir ge-wünscht, sie hätte auch etwas zu Deutschland gesagt –,dass bei zukünftigen Rettungsmaßnahmen – ich hoffe, eswird keine mehr geben; aber ich will das nicht ausschlie-ßen – die Forderung der SPD, die wir immer erhoben ha-ben, umgesetzt wird, dass erst einmal diejenigen, dieüber viel Geld verfügen, ihrem Land helfen sollen.Wir nehmen das als Handlungsauftrag, und wir gebendie Punkte Subventionsabbau und stärkere Besteuerung
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nicht auf. Es ist richtig, dass sie im Koalitionsvertragnicht vereinbart sind. Andererseits gibt es auch keineSteuersenkungen auf Pump, sondern eine solide Finanz-politik. Wir als SPD werden klar für einen Abbau vonsteuerlichen Subventionen werben. Ich finde nicht, dassman das alles vier Jahre lang so liegen lassen kann.
Ein weiterer Punkt ist die Finanzmarktregulierung.Herr Minister, Sie haben eben den Vorschlag von HerrnBarnier vom gestrigen Tag zitiert. Er hat vorgeschlagen,Banken in Teile mit riskantem Geschäft und Teile mitweniger riskantem Geschäft aufzuspalten. Dieser Vor-schlag fußt auf einem Expertenbericht von Herrn Liikanenund anderen. Viele Länder sind in diesem Bereich schonweiter: die USA mit dem Dodd-Frank Act, aber auchGroßbritannien. Das Trennbankengesetz hier inDeutschland ist eher eine Light-Version. Ich habe nacherster Sichtung der Vorschläge, die von Herrn Barniervorgelegt wurden, die Sorge, dass sich die Lobby dortsehr stark durchgesetzt hat.Deswegen will ich klar sagen: Wir als Sozialdemo-kraten stehen für ein Trennbankengesetz, das keineLight-Version ist, für ein Gesetz, das sehr strikt ist. Die-jenigen, die Einlagen auf einem Girokonto oder Spar-buch in einer Bank haben, müssen sicher sein, dass dieBanken mit diesem Geld nicht zocken. Wir möchten,dass dies umgesetzt wird.
Ich hoffe sehr darauf, dass das Europäische Parlamenthier noch für Verbesserungen sorgen wird, und ich hoffeauf Sie Herr Minister. Wir haben im Koalitionsvertragfest vereinbart, den Liikanen-Bericht umzusetzen unddiese Verbesserungen gegenüber dem Kommissionsent-wurf durchsetzen zu wollen.Der dritte Punkt: Europa. Wir haben ja in den letztenvier Jahren viele Debatten über einzelne Länder geführt.
Ja, es gibt Licht am Horizont. Ich sage nicht, dass diesschon das Ende der Krise ist, wie Herr Barroso das for-muliert hat. So weit würde ich nicht gehen. Zur Beruhi-gung der Finanzmärkte hat nur zu einem kleinen Teil diePolitik beigetragen. Es waren die EZB und Herr Draghi,die mit der Ankündigung, alles zu tun, um den Euro zustützen, die Finanzmärkte beruhigt haben. Das ist vonkurzfristiger Wirkung.Langfristig wird es darauf ankommen, das Währungs-gebiet des Euro auch mit einer politischen Union zu ver-knüpfen, das heißt, dieses bisher unvollständige Werk,das wir haben, zu vervollständigen. Wir sehen uns da aufeiner Linie. Ich glaube, dass es schwieriger ist, mit ande-ren Ländern in Europa über die Frage der Abtretung vonnationalen Souveränitätsrechten zu reden. Wir hier imDeutschen Bundestag sind in dieser Frage weiter.Der entscheidende Punkt des nächsten halben Jahreswird die Bankenunion sein. Ich bin mit dem jetzigenEntwurf, wie er im Dezember von den Finanzministernverabredet wurde, nicht gänzlich einverstanden; ich willdas klar sagen. Das Europäische Parlament hat hier einstarkes Stoppschild gesetzt und gesagt: Wir erwarten, alsEuropäisches Parlament auch tatsächlich Mitsprache-möglichkeiten zu haben.Nun will ich nicht im Einzelnen auf die rechtlichenBedenken eingehen. Aber der Kernpunkt ist: Wenn dieEuropäische Zentralbank die Bankenaufsicht überneh-men soll, dann ist sie auch verantwortlich und geht dasgroße Risiko ein, dass sie in ihrer Glaubwürdigkeit hin-sichtlich der Geldpolitik beeinträchtigt sein könnte.Wenn die Bankenaufsicht funktionieren soll, dann musses auch einen glaubwürdigen Abwicklungsmechanismusgeben. Das ist ganz entscheidend, um Recht und Ord-nung wiederherzustellen und um sicherzustellen, dassderjenige, der Gewinne macht, auch die Verluste trägt.Das sind die Aktionäre, das sind die Gläubiger der Ban-ken. Das geht nur, wenn wir auch ein europäisches Ab-wicklungsrecht haben.Ich glaube, dass der jetzige Kompromiss – das ist dieAuffassung der SPD –, erst im Jahre 2026, also in zwölfJahren, über einen einheitlichen Abwicklungsfonds, dendie Banken speisen sollen, zu verfügen, nicht weitrei-chend genug ist. Wenn die EZB 2014, also in diesemJahr, die Bankenaufsicht übernimmt und einen Stresstestdurchführen wird, laufen wir Gefahr, dass sie im Zweifelnicht hart genug prüft, weil kein Abwicklungsmechanis-mus vorhanden ist. Wenn dieser nicht da ist, laufen wirGefahr, in japanische Verhältnisse zu geraten. Dauerhaftmarode Banken, sogenannte Zombiebanken, verfügenüber keine Kreditvergabemöglichkeiten mehr und sindschlecht für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Des-wegen empfehle ich, in drei Punkten auf das Europäi-sche Parlament zuzugehen.Der erste Punkt ist: Eine Entscheidung über eine Ab-wicklung muss schnell getroffen werden können, imZweifel auch über ein Wochenende. Das muss zügig ge-hen. Der jetzige Vorschlag ist zu komplex.Der zweite Punkt ist: Erstens. Zum einen darf einesolche Entscheidung nicht von politischen Geschäftenim Finanzministerrat abhängig sein, sondern es musseine sachgerechte Entscheidung sein. Zum Zweitenmuss der Fonds, der dazu dienen soll, Verluste von Ban-ken aufzufangen, schneller gefüllt werden; denn nur,wenn er schneller gefüllt ist, besteht die Chance, dieseBanken tatsächlich abwickeln zu können und für mehrStabilität zu sorgen.
Der dritte Punkt betrifft die Frage der harten Gläubi-gerbeteiligung. Die Gläubigerbeteiligung ist durch denEintritt der SPD in diese Regierung ganz zentral gewor-den. Mit dem Eintritt der SPD in diese Bundesregierunggilt auf europäischer Ebene ein anderer „Turn“. Das be-deutet: Bei Verlusten von Banken zahlen Eigentümer,Anleihegläubiger und diejenigen, die den Banken Geld
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704 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Carsten Schneider
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gegeben haben, und erst ganz zum Schluss – am bestengar nicht – der Steuerzahler. Das ist unsere Position.
Ich bin froh, dass die Union uns an dieser Stelle ent-gegengekommen ist, und hoffe, dass wir nicht nur in die-ser Frage Einigkeit erzielen, sondern dass es uns auchgelingt, auf europäischer Ebene – dazu haben Sie unserevolle Unterstützung, Herr Minister – die Finanztransak-tionsteuer einzuführen.Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es liegt viel voruns. Wir haben für die erste Wegstrecke Einigkeit erzielt.Es wird interessant bleiben.Bleiben Sie uns gewogen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Kerstin Andreae.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Koalitionsvertrag zeigt vor allem eines: Große Ko-alitionen
sind teure Koalitionen.
Die Mehrausgaben belaufen sich auf 23 Milliarden Euro.Wenn man danach fragt, wie das eigentlich finanziertwerden soll, werden die Antworten dünn. In der ur-sprünglichen Finanzplanung waren 14 Milliarden Eurofür die Schuldentilgung eingeplant. Diese 14 MilliardenEuro sollen jetzt ausgegeben werden.
Dennoch bleibt eine Finanzierungslücke von 9 Milliar-den Euro. Sie haben keine Idee, wo man sparen könnte,
etwa durch den Abbau von Steuersubventionen oder an-deren Subventionen. Ausgaben einsparen? Fehlanzeige.Das ist eine Politik, die die Zukunft teurer macht. Siehaben mit dem Koalitionsvertrag Mehrausgaben von23 Milliarden Euro beschlossen, ohne dass Sie uns ver-raten könnten, wie Sie das finanzieren wollen.
– Zu Baden-Württemberg komme ich noch.Die Kanzlerin hat gestern gesagt, „dass wir uns un-vermindert anstrengen müssen“, um in die Zukunft zuinvestieren.
Fangen Sie damit an! Ich sage Ihnen: Sie investieren zuwenig in die Bereiche Schule, Bildung, Hochschule,Krippe, Kita.
Stattdessen schnüren Sie ein Rentenpaket, das jedes Jahr10 Milliarden Euro kosten wird. Zum Vergleich: FürZukunftsinvestitionen geben Sie jährlich 2,4 MilliardenEuro aus. Ich sage Ihnen: Das ist die falsche Prioritäten-setzung.
Im Wahlkampf war der Investitionsstau in den Kom-munen für Sie ein großes Thema.
Dass der Bund die Grundsicherung im Alter übernimmt,dafür können Sie sich nicht feiern lassen; das haben diegrün-roten Länder im Bundesrat ausgehandelt.
Dass das Bundesteilhabegesetz Entlastung bringen wird,ist richtig; diese Entlastung kommt aber leider erst 2018.Uns interessiert nicht, was die nächste Koalition macht,uns interessiert, was diese Koalition macht, um dieKommunen zu entlasten.
Noch einmal zur Rente. Sie plündern die Renten-kasse. Innerhalb von drei Jahren wird die Nachhaltig-keitsrücklage von ungefähr 30 Milliarden Euro aufge-braucht sein; jeder von Ihnen weiß das. Wenn Sie jetztdie Mütterrente beschließen und sie, statt über Steuer-mittel, über die Beitragskasse finanzieren, dann müsstesich die SPD doch eigentlich Gedanken über die Situa-tion in drei Jahren machen. Soll man die Beitragssätzeerhöhen? Das würde die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer treffen. Soll man Steuern erhöhen? Damit würdedie Union ihr Wahlversprechen brechen. Wie Sie dieMütterrente finanzieren wollen, ist also eine indiskuta-ble, unseriöse Politik.
Bei den Ausgaben bestimmt der größte gemeinsameNenner. Bei der Steuerpolitik ist es genau umgekehrt:Hier ist die SPD von ihren Wahlankündigungen kom-plett abgerückt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 705
Kerstin Andreae
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Es war interessant, Herr Schneider, zu hören, wie einTeil der Koalition auf die Ankündigung reagiert hat, dasses auch um den Abbau von Steuersubventionen gehe. Dakamen Sprüche wie: Das steht gar nicht im Koalitions-vertrag, machen wir nicht. – Steuersubventionen einmalanzugehen, das ist für die CDU/CSU kein Thema. WirGrüne würden dabei mitmachen.
Es wundert uns nicht, dass im Jahr 2014 in der Bundes-republik Hotelbetten weiter steuerlich subventioniertwerden, für die steuerliche Forschungsförderung abernach wie vor kein Geld da ist.
Das Minimalprogramm gegen Steuerhinterziehungund Steuervermeidung durch international aufgestellteUnternehmen steht in keinem Verhältnis dazu, was fürein großes Thema Sie im Bundestagswahlkampf darausgemacht haben. Dabei ist es ein Hammer, wie internatio-nal agierende Unternehmen ihre Steuerlast senken. An-statt hier mutig voranzugehen, wollen Sie jetzt denOECD-Bericht 2015 abwarten. Wir wollen nicht abwar-ten. Wir wollen, dass gegen Steuerhinterziehung undSteuergestaltung engagiert vorgegangen wird.
Ein sterbendes Projekt ist die Finanztransaktionsteuer.Sie planen gar nicht mehr mit zusätzlichen Einnahmendurch die Finanztransaktionsteuer. Die 2 MilliardenEuro, die ursprünglich eingeplant waren, sind in IhrerFinanzplanung nicht mehr enthalten.
Dass die Union die Finanztransaktionsteuer immer mitspitzen Fingern angefasst hat, ist klar; sie hat diese niegewollt. Aber für euch ist das ein starkes Stück.Michael Roth und Hubertus Heil, wir saßen zusam-men in den Verhandlungen zum Fiskalpakt. Die Finanz-transaktionsteuer war für euch doch der entscheidendePunkt, dem Fiskalpakt zuzustimmen. Jetzt habt ihr euchvon dieser Steuer verabschiedet;
sie ist in der Finanzplanung nicht mehr enthalten.
Dabei brauchen wir diese Steuer, und zwar nicht nur we-gen der Einnahmen, sondern vor allem, um die Spekula-tionen an den Märkten einzudämmen. Hier brauchen wirmehr Mut.
Jetzt zu Baden-Württemberg, Herr Kauder.
Die Ratingagentur Standard & Poor’s bewertet auch dieBundesländer.
Standard & Poor’s hatte dem Land Baden-Württembergein Triple-A-Rating gegeben. Dieses Triple-A-Rating istunter der CDU-Regierung verloren gegangen. Wegender Konsolidierungspolitik dieser grün-roten Landes-regierung liegt es wieder bei Triple A.
– Sie können lachen, so viel Sie wollen. Da nützt Lachengar nichts.Fazit dieser schwarz-roten Finanzpolitik: Erstens. DasSchmiermittel dieser Großen Koalition ist das Geldaus-geben.
Zweitens. Die Koalition setzt falsche Prioritäten. Drit-tens. Sie plündern die Sozialkassen.
Viertens. Ein Schub für mehr Investitionen bleibt aus,gerade bei Innovationen, gerade für den innovativenMittelstand, gerade bei der Forschungsförderung.Ich sage Ihnen: Wir schauen Ihnen ganz genau auf dieFinger. Das, was Sie machen, ist eine Politik zulastenvon Investitionen und zulasten der Zukunft. Das werdenwir und im Übrigen auch die Mehrheit der Bevölkerungdieses Landes nicht zulassen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istverrückt in diesem Deutschen Bundestag: Die Grünennehmen eine verhasste amerikanische Ratingagentur alsKronzeugen ihrer Politik; die Linken beschäftigen sichmit steuerlichen Entlastungen für den Mittelstand.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns über unserenKoalitionsvertrag sprechen. Dabei wird uns wirklich
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706 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Ralph Brinkhaus
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nicht langweilig, schließlich haben wir uns ein sehr am-bitioniertes Programm vorgenommen.Das Erste, was wir uns vorgenommen haben, ist, dieNettokreditaufnahme nachhaltig auf Null zu setzen unddie Schuldenstandsquote substanziell zu senken. Das al-les wollen wir erreichen, ohne die Steuern zu erhöhenoder neue Steuern zu schaffen.
Wir werden den Bund-Länder-Finanzausgleich neu ge-stalten und dabei ganz besonders auf die Kommunenachten; denn wir als Union sind die Partei der Kommu-nen. Das lassen wir uns nicht nehmen.
Wir werden darüber hinaus mit vielen kleinen und einfa-chen Maßnahmen das Steuerrecht handhabbarer undalltagstauglicher machen; denn das bedeutet Bürokratie-abbau für den Mittelstand.Wir werden unsere Politik aus der letzten Legislatur-periode fortsetzen und dafür sorgen, dass die Menschenund die Unternehmen, die in Deutschland ihr Geld ver-dienen, dieses Geld auch in Deutschland versteuern. Wirwerden die im Übrigen schon im Jahr 2008 begonneneNeuordnung der Finanzmärkte, die mittlerweile mitmehr als 30 Einzelmaßnahmen unterlegt worden ist,fortführen. Wir werden außerdem beim Verbraucher-schutz darauf achten, dass Verbraucherinnen undVerbraucher die Chancen und Risiken der Produkte, diesie kaufen, besser verstehen und damit die Verbraucher-schutzpolitik der vergangenen Wahlperiode fortsetzen.
Wir wissen, dass das alles nur Makulatur sein wird,wenn uns eine Krise in der Euro-Zone, im europäischenRaum ereilt. Wir werden deswegen im Bewusstsein,dass wir als stärkste Volkswirtschaft in Europa eine be-sondere Verantwortung tragen, darauf achten, dass es inEuropa und insbesondere in der Euro-Zone gut läuft.Wir werden auch unsere Arbeit hier im DeutschenBundestag verändern müssen, weil wir in der vergange-nen Legislaturperiode gesehen haben, dass wir mit natio-naler Gesetzgebung an Grenzen stoßen. Wir haben dasim Bereich des Finanzmarktes gesehen, und wir sehendas derzeit auch im Bereich der internationalen Steuer-vermeidung und Steuerhinterziehung. Deswegen wirddie Gesetzgebung, wird der Erlass von Regelungenzukünftig in größerem Maße auf europäischer Ebene er-folgen. Das entbindet uns als Deutschen Bundestag abernicht davon, uns um diese Themen zu kümmern. Nein,im Gegenteil: Wir müssen unser Verhalten dahin gehendändern, dass wir uns bei europäischen Initiativen stärker,mit mehr Energie und vor allen Dingen frühzeitiger ein-bringen; denn wenn wir das nicht tun, werden bestimmtePolitikfelder hier in diesem Haus nicht mehr Themasein.
All das, was wir uns vorgenommen haben, ist mitmehr als 60 Einzelprojekten unterlegt, die wir in dennächsten dreieinhalb Jahren abarbeiten müssen. Das istwahrlich ein ambitioniertes Programm.Schauen wir einmal hinter diese Einzelprojekte. Wasist für uns als Union handlungsleitend? Was treibt uns indiesem Koalitionsvertrag an? Hier sind mir fünf Bei-spiele besonders wichtig:Erstens. Wir wollen die Haushalte konsolidieren unddie Schuldenstandsquote abbauen. Das ist kein Selbst-zweck; es ist unser tiefes Selbstverständnis, dass wir hierund heute nicht auf Kosten kommender Generationenleben dürfen.Frau Andreae hat die Rentenkasse angesprochen. Ja,in einem von vier Sozialversicherungssystemen habenwir der zukünftigen Generation den Rucksack etwas vol-ler gepackt, in drei anderen aber nicht.
Es ist unser fester Wille, dass wir die Belastungen für zu-künftige Generationen in allen Haushalten – aufBundesebene, auf Länderebene und vor allen Dingen aufEbene der Kommunen – reduzieren. Ich würde mirwünschen, dass Sie uns mit dem gleichen Engagement,mit dem Sie sich an dieser Stelle eingesetzt haben, fol-gen werden, wenn es darum geht, Ausgaben an andererStelle zu reduzieren, um zukünftige Generationen zuentlasten.
Die Wahrheit ist: Sie müssen sich an dem messen las-sen, was Sie tun, wenn Sie in der Verantwortung sind.Der baden-württembergische Doppelhaushalt, der jetzteingebracht wird, zeichnet sich durch eines besondersaus, nämlich dadurch, dass er nicht darauf setzt, Ausga-ben zu reduzieren, sondern darauf, mehr Einnahmen zuerzielen,
indem beim Bund-Länder-Finanzausgleich mehr für dasLand herauskommt. Insofern ist es schlichtweg falsch,wenn Sie Ihre Politik in Baden-Württemberg loben.
Deswegen brauchen wir in Sachen Generationengerech-tigkeit keine Belehrungen von Ihnen.Zweitens. Wir haben gesagt, dass wir das alles errei-chen wollen, ohne Steuern zu erhöhen. Deswegen stehtin unserem Koalitionsvertrag, dass alle zusätzlichenMaßnahmen und Projekte – bis auf die prioritären Maß-nahmen – intern gegenfinanziert werden müssen. Dasheißt am Ende des Tages: Es ist kein Geld da für mehrStaat. Das ist uns auch wichtig. Aus gutem Grund habenwir in den letzten Jahren im Rahmen der Konjunktur-pakete mehr Geld ausgegeben; wir wollten einen ord-nungspolitischen Rahmen setzen und Infrastruktur auf-
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bauen. Aber ganz ehrlich: Wir geraten langsam auf eineschiefe Ebene. Wir sagen nämlich nicht nur, dass wir alsStaat für die Ordnungspolitik zuständig sind, sondernwir suggerieren den Menschen auch, dass wir als Staatdafür da sind, alle Probleme zu lösen. Das entsprichtaber nicht unserem Menschenbild. Unser Menschenbildist auf Eigenverantwortung angelegt. Dass wir diese Ent-wicklung mit diesem Koalitionsvertrag gestoppt haben,ist ein großes Verdienst derjenigen, die ihn verhandelthaben.
Drittens. Wir sagen weiterhin, dass wir das Steuersys-tem mit vielen kleinen Einzelmaßnahmen handhabbarerund einfacher machen werden. Als Steuerberater bin ichein großer Fan von grandiosen Steuerreformen vonKirchhof, Merz und der Stiftung Marktwirtschaft, auchvon dem Vorschlag der Steuererklärung auf dem Bierde-ckel.
Aber ganz ehrlich: Was haben wir im Hinblick darauf inden letzten Jahren erreicht? Ich glaube, es ist wichtig,dass wir die Wirklichkeit nicht aus den Augen verlierenund das Machbare tun. Machbar für uns ist, insbesonderefür unsere Mittelständler die Bürokratie im Steuer-verfahren zu senken und an sehr vielen kleinen Stell-schrauben zu drehen. Ich glaube, uns als Union zeichnetaus, dass wir den Blick für das Machbare haben.
Viertens. Wir haben auch gesagt, dass wir die Neu-ordnung der Finanzmärkte fortsetzen werden. Das heißtnicht, dass wir die Märkte abschaffen werden. Im Ge-genteil: Wir wollen die Märkte schützen. Es war in denletzten Jahren sehr unpopulär, vom Markt zu reden.Jeder, der das Wort in den Mund genommen hat, hat sichbeeilt, im gleichen Atemzug auch noch vom Ordnungs-rahmen und vom starken Staat zu reden. Auch hier kom-men wir auf eine schiefe Ebene. Der Markt ist in unsererWirtschaftsordnung noch immer am demokratischsten.Der Wettbewerb auf dem Markt ist ein Entdeckungsver-fahren, das Innovationen und Dynamik ermöglicht. ImÜbrigen ist es so – das gilt auch gesellschaftspolitisch –:Ohne Markt ist keine offene Gesellschaft möglich, undohne Markt und Wettbewerb ist auch keine Demokratiemöglich. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns auch indieser Legislaturperiode ein bisschen stärker bemühen,wieder Freude am Markt zu wecken.
Fünftens. Zum Bereich Verbraucherschutz habe ichganz bewusst gesagt: Wir wollen, dass die Verbraucherdie Finanzprodukte besser verstehen. Ich habe nicht ge-sagt, dass wir etwas verbieten wollen. Das hat mit Frei-heit zu tun. Wenn Menschen Produkte verstehen, könnensie ihre eigene Entscheidung treffen. Die Freiheit derEntscheidung ist ein hohes Gut, das wir auch in dieserLegislaturperiode hochhalten werden. Deswegen teileich hier nicht die Meinung von Herrn Gysi. Herr Gysihat gestern gesagt – Sie haben das heute wiederholt, HerrBartsch –: In unserer Wirtschaftsordnung ist es skandalös,dass wenige ganz viel besitzen und viele ganz wenig.
Darüber kann man reden. Aber wissen Sie, was ich nochskandalöser finde? Eine Wirtschaftsordnung, in der we-nige darüber entscheiden, wie viele zu leben haben. Da-von haben wir die Nase voll. Wir werden dafür sorgen,dass das in diesem Lande nicht passiert.
Ich schließe meine Ausführungen. Sicherlich sind wiruns bei der einen oder anderen Stelle im Koalitionsver-trag nicht einig; Carsten Schneider hat dies eben ausge-führt. Sie sind mehr fürs Geldausgeben zuständig; wirsorgen dafür, das Geld zusammenzuhalten. Darüber wer-den wir sportlich diskutieren. Aber ich glaube, wir wer-den uns in der Sache gut verstehen. Wir werden diese60 Projekte abarbeiten. Wir werden dafür sorgen, dassdieses Land nach den vier Jahren, in denen wir gut zu-sammengearbeitet haben werden, zukunftsfester ist, alses dies früher war. Darauf freue ich mich.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! DerKoalitionsvertrag zwischen Union und SPD hat einengravierenden Konstruktionsfehler: Die Steuereinnahmenreichen nicht für die Ausgaben. Zur Erinnerung: Vor derWahl wusste die SPD noch, dass sie Steuergerechtigkeitwollte. Sie wollte zum Beispiel die Stromsteuer senkenund den ausufernden Reichtum begrenzen. Nach derWahl hat sich dieses Wissen irgendwie in Luft aufgelöst.Ich nenne das ganz schlicht Wahlbetrug.
Deutschland hat nach Analysen des InternationalenWährungsfonds als eines der wenigen Länder in Europaseine Spielräume für zusätzliche Staatseinnahmen nichtausgenutzt. Diese machen nach Aussagen des IWF– nicht der Linken – immerhin rund 80 Milliarden Europro Jahr aus. Man muss sich das einmal vorstellen: Mit80 Milliarden Euro könnte man locker eine gerechteRentenreform erreichen und müsste nicht die Sozialkas-sen plündern.
Aber nein, diese Große Koalition will diese Spielräume,diese Potenziale nicht nutzen. Ich finde das verantwor-
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Dr. Gesine Lötzsch
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tungslos und sozial ungerecht. Diese Politik darf nichtfortgeführt werden.
Jeden Tag macht ein anderes Regierungsmitgliedneue kostspielige Vorschläge. Nicht alle diese Vor-schläge sind falsch. Doch ohne solide Einnahmen wirddas gute Leben, von dem gestern und heute wieder so oftdie Rede war, nicht zu finanzieren sein. Angefangen hatdiese Regierung mit neuen Posten; Kollege Bartsch istdarauf schon eingegangen. Man muss hinzufügen, dassdie Große Koalition allein durch die Schaffung zusätzli-cher Regierungsstellen in den nächsten vier Jahren weitüber 6 Millionen Euro mehr ausgibt als die schwarz-gelbe Vorgängerregierung, und die war schon nicht spar-sam. Ein schlechter Anfang, wie ich finde.Frau von der Leyen will nun noch mehr Kriegsein-sätze für die Bundeswehr. Geld scheint dabei überhauptkeine Rolle zu spielen. Herr Schäuble, Frau von derLeyen hat einmal in einem Interview erklärt, Sie seienfür sie so etwas wie ein Mentor in der Regierung. Ichfinde, dann sollten Sie ihr einmal den Vorschlag unter-breiten, eine Eröffnungsbilanz ihres Ministeriums vorzu-legen und nicht schon wieder ans Geldausgeben zu den-ken.
Wissen Sie eigentlich, wie viel Geld der Steuerzahlerbisher für Auslandseinsätze ausgegeben hat? Über dieseArt der Ausgaben ist in dieser Haushalts- und Finanz-debatte komischerweise bisher überhaupt nicht gespro-chen worden. Allein in den Jahren von 2000 bis 2012kosteten die Auslandseinsätze über 15 Milliarden Euro.Das sind zusätzliche Kosten. Gehälter und andere lau-fende Kosten der Bundeswehr kommen extra hinzu. Siegeben also jetzt schon 1 Milliarde Euro pro Jahr für Aus-landseinsätze aus. Bereits auf der Kabinettsklausur 2010wurde damals unter Kanzlerin Merkel beschlossen, dassdie Bundeswehr 4,3 Milliarden Euro einsparen solle.Diese Auflagen wurden nie erfüllt. Im Gegenteil: DieBundeswehr hat noch mehr Geld ausgegeben, als in derFinanzplanung vorgesehen war. Offenbar soll das soweitergehen. Ich finde, das ist absolut der falsche Weg,meine Damen und Herren.
Ihre Bilanz als Finanzminister, Herr Schäuble, wurdenur durch die niedrigen Zinsen gerettet. Dafür musstenSie nichts tun. Das ist Ihnen leistungslos in den Schoßgefallen. Nun, Herr Schäuble, versuchen Sie, die Ausga-benwünsche Ihrer Kollegen vom Bundeshaushalt auf dieSozialsysteme umzulenken. Das ist ein Trick, der sichbitter rächen wird.Bei der Rente ab 63 will sich die Bundesregierung ausdem Topf der Rentenversicherung bedienen. Die Ren-tenversicherung soll quasi wie eine Zitrone ausgepresstwerden, damit der Zuschuss aus dem Bundeshaushaltnicht explodiert. Auch der Zuschuss zum Gesundheits-fonds soll um 3,5 Milliarden Euro gesenkt werden. Ichfinde diesen Griff in die Sozialkassen mehr als riskant.Ein ausgeglichener Haushalt auf Kosten der Sozialkas-sen wäre nicht nur ein Pyrrhussieg, sondern auch äußerstwacklig. Denn jede Konjunkturabschwächung, jede pro-blematische außenwirtschaftliche Situation, jede neueBankenkrise würde den Bundestag zwingen, die Zu-schüsse an die Sozialkassen wieder zu erhöhen. Dannhat die ganze Trickserei nichts gebracht. Mein Vorschlagist: Machen Sie doch gleich einen ehrlichen Haushalt,statt es mit diesen Tricks zu versuchen!
Wir werden bei den anstehenden Haushaltsberatun-gen sehr genau hinschauen, wie diese Regierung ihreVersprechen finanzieren will. Ich warne Sie schon jetztdavor, die fehlenden Steuermilliarden den Bürgerinnenund Bürgern über höhere Sozialbeiträge aus den Taschenzu ziehen. Ein Steuerrechtler hat sehr genau berechnet,dass höhere Beiträge das Monatseinkommen von Ge-ringverdienern wesentlich stärker belasten als das vonSpitzenverdienern. Damit würde die neue Bundesregie-rung, wie mein Kollege Gysi gestern schon gesagt hat,den Kurs der abgelösten FDP-CDU/CSU-Regierung, dieUmverteilung von unten nach oben, fortsetzen. Das wer-den wir als Linke niemals akzeptieren.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Johannes Kahrs für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Enak Ferlemann freute sich, als ich nachvorne ging: Er ahnt, dass er heute nicht dran ist, weil ichnicht mehr für Verkehr zuständig bin. Aber es sei dir ge-gönnt.
Wenn man die Debatte verfolgt hat, dann hat man dasGefühl, dass der Koalitionsvertrag, also das, was die neueKoalition in den nächsten Jahren umsetzen will, heuteThema ist. Ich habe verfolgt, was Herr Schäuble gesagthat, der zu Beginn Teile des Koalitionsvertrages vorgetra-gen und festgestellt hat, dass wir eine gute wirtschaftli-che Entwicklung haben. Darin gebe ich Ihnen recht, HerrSchäuble. Daran haben in den letzten Jahren viele Koali-tionen gearbeitet. Man kann Gerhard Schröder und derrot-grünen Koalition noch einmal dafür danken, dieGrundlagen geschaffen zu haben, dass es uns heute gutgeht und dass die wirtschaftliche Entwicklung in diesemLande solide und vernünftig verläuft.
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Johannes Kahrs
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Wir machen das schrittweise. Wir haben dann in derGroßen Koalition entsprechend daran weitergearbeitet.Über die letzten vier Jahre wollen wir nicht reden; siewaren eher tragisch.Wenn der Bundesfinanzminister sagt, dass wir keineSteuererhöhungen benötigen, dann ist das die Meinungder CDU/CSU. Wir sind in einer Koalition. Wir habeneinen Koalitionsvertrag vereinbart. Koalitionsverträgebestehen daraus, dass man Kompromisse schließt. JedeSeite setzt etwas durch. Das ist richtig. Der KollegeBrinkhaus hat gerade gesagt, wir Sozialdemokratenseien fürs Geldausgeben zuständig. Das sind Plattitüden,die gerne gebracht werden. Dazu haben wir nicht ge-klatscht. Das mögen Sie uns verzeihen. Aber der Um-gang in der Koalition übt sich noch ein; da bin ich ganzzuversichtlich. Der Kollege Kauder hat das bereits vor-bildlich gemacht. Er hat teilweise ganz alleine ge-klatscht, während seine Fraktion geschwiegen hat. HerrKauder ist sehr koalitionstreu. Ich werde mich bemühen,ihm nachzueifern.
Dann haben wir den Kollegen Bartsch reden gehört.Er hat genauso wie die Kollegin Lötzsch die SPD kriti-siert, weil sie ihr Wahlprogramm nicht umgesetzt hat;das ist nun einmal so.
Ehrlicherweise muss man zugeben: Man kann in einerKoalition nicht alles durchsetzen; das weiß jeder. Wirhaben uns in vielen Punkten durchgesetzt, die richtig,wichtig und gut sind. Über den Mindestlohn werden wirnicht einmal mehr streiten. Unser Problem war, dass unszu einer Koalition mit der Union die Alternativen fehl-ten.
– Herr Bartsch, das liegt einfach daran, dass die Linkeweder koalitionsfähig noch regierungsfähig noch in derLage ist, eine Politik auf Bundesebene zu machen, fürdie sich eine Mehrheit in diesem Hohen Hause findenlässt.
Solange Sie Ihren eigenen Laden nicht in den Griff krie-gen, können Sie natürlich ewig Oppositionsplattitüdenvon sich geben. Aber das alles klingt billig und hohl.
Dann hat uns Kollegin Andreae kritisiert. Das findeich sehr tapfer. In einigen Punkten kann ich ihr sogarrecht geben. Wir hätten sicherlich an der einen oder an-deren Stelle gerne Steuererhöhungen durchgesetzt; darinstimme ich Ihnen vollkommen zu. Die Verbesserungender Leistungen der Rentenversicherung, die wir im Ko-alitionsvertrag vereinbart haben, hätten wir lieber überSteuern finanziert. Das ist sozialdemokratische Politik;das hatten wir angekündigt. Das ist uns leider nicht ge-glückt.
Aber es hat einen Hauch von Unredlichkeit, dass Sie vonden Grünen sich hier aufplustern. Sie hätten schließlichmit der Union koalieren und dann all das durchsetzenkönnen, was Sie nun ansprechen. Sie haben aber geknif-fen.
Sie haben sich in die Büsche geschlagen. Sie haben alldas, was Sie hätten tun können, nicht gemacht. Sie tunnun so, als wären Sie die große Opposition, die allesMögliche aufzeigen kann. Ich sage Ihnen: Sie hatteneine reale Regierungsoption. Sie wollten sie aber nichtnutzen. Was dabei herauskommt, wenn Sie regieren,sieht man zurzeit in Hessen. Wenn man sich den hessi-schen Koalitionsvertrag anschaut, dann weiß man, wiegünstig Grüne zu haben sind.
Kollege Kahrs, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Ernst?
Vom Kollegen Ernst immer gerne. – Früher haben wir
das auf unseren Parteitagen gemacht.
Herr Kollege Kahrs, Sie haben sich nun kräftig übermögliche Koalitionen ausgelassen. Da Sie Haushältersind, müssen Sie einigermaßen rechnen können. Dannmussten Sie schon vor der Wahl gewusst haben, dasseine Koalition mit den Grünen für eine Mehrheit zuguns-ten der SPD nicht ausreicht. Trotzdem haben Sie einWahlprogramm aufgestellt, das den Eindruck erweckthat, als würden Sie zum Beispiel die von meinem Kolle-gen Bartsch angesprochenen Steuererhöhungen wollen.Obwohl Sie rechnen können, sagen Sie gleichzeitig, dassdie Partei, die ein ähnliches Programm hat und mit derSie das, was Sie wollen, durchsetzen könnten, nichtkoalitionsfähig ist. Finden Sie es unter dieser Vorausset-zung nicht richtig, Herr Kollege Kahrs, dass meine Kol-legen Bartsch und Lötzsch darauf hinweisen, dass das,was Sie gemacht haben, eigentlich vorprogrammierterBetrug am Wähler war? Sie haben ein Wahlprogrammaufgestellt, obwohl Sie wussten, dass Sie das meistedavon mit dem Koalitionspartner CDU/CSU nicht um-setzen können. Das hätten Sie auch lassen können. Siehätten auch darauf verzichten können, einen Kanzler-
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Klaus Ernst
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kandidaten aufzustellen. Ein Vizekanzlerkandidat hättegereicht, Kollege Kahrs.
Herr Ernst, zum einen bedanke ich mich, dass Siemeine Redezeit verlängern.
Zum anderen verstehe ich jetzt, warum der Verlust derbayerischen SPD nicht wirklich gefühlt wird.
Wenn wir uns das genauer anschauen, dann stellenwir fest: Wir als SPD haben ein Angebot gemacht undein Regierungsprogramm aufgestellt, aus dem hervor-geht, wie wir uns eine Regierung in Deutschland vorstel-len. Wir haben aufgeschrieben, was wir richtig, wichtigund notwendig finden, und haben versucht, dafür eineMehrheit zu finden. Im Gegensatz zu Ihnen glauben wirnoch daran, dass man Menschen überzeugen kann.Das ist uns nicht in dem Maße gelungen, in dem wires wollten. Aber natürlich muss man als Volkspartei mitdem Anspruch antreten, zu regieren. Und Umfrageergeb-nisse verändern sich. Deswegen, Herr Ernst, glaube ich,dass Ihre Frage gerade erstens einen Hauch billig ist,zweitens mit der Sache nicht zu tun hat und drittens vonder blamablen Präsentation Ihrer eigenen Partei ablen-ken soll. Deshalb wiederum verspüren wir in dieser Gro-ßen Koalition auch eine gewisse Freude darüber, dasswir nicht mit Ihnen koalieren müssen.Vielen Dank, Sie können sich setzen.
Wir als SPD und CDU/CSU – und jetzt wende ichmich gerne einmal dem Koalitionsvertrag zu –
haben uns also gemeinsam hierhingestellt und wollteneine Regierung bilden. Dabei haben wir uns von demGedanken der soliden Staatsfinanzen leiten lassen. DerBundesfinanzminister Schäuble hat – genauso wieCarsten Schneider und Kollege Brinkhaus – schon vieldazu gesagt. Ich glaube, dass es wichtig ist, in dennächsten Jahren die Finanzen in Ordnung zu bringen undgleichzeitig alles zu tun, um in den nächsten Jahren wei-terhin eine funktionierende Wirtschaft und einen prospe-rierenden Mittelstand zu haben, damit wir diese starkeRolle in Europa auch in Zukunft weiterhin einnehmenkönnen.Wir haben gleichzeitig gesagt, dass wir Maßnahmenumsetzen müssen, um in den nächsten Jahren richtig in-vestieren zu können. Deshalb gibt es prioritäre Maß-nahmen, die nicht unter einem Finanzierungsvorbehaltstehen. Die Partei, die im Wahlkampf gesagt hat, dassLänder und Kommunen entlastet werden sollen, war dieSPD.
Die SPD hat versprochen; die SPD hat geliefert. Dennunter den prioritären Maßnahmen befinden sind schwer-punktmäßig Maßnahmen, die für Länder und Kommu-nen wichtig sind.
Ich glaube, dass man das gar nicht häufig genug sagenkann. Denn wenn man keine Maßnahmen ergreift, dannwird der Investitionsstau vor Ort, in den Ländern undKommunen, nicht aufgelöst. Da können wir auf Bundes-ebene machen, was wir wollen – wenn in die Kommu-nen und Länder nicht investiert wird, haben wir Pro-bleme.
– Eine einsame Stimme von den Grünen sagt: Ihr machtja nichts! – Ich empfehle die Lektüre des Koalitionsver-trages.
Dort steht, dass Gemeinden, Städte und Landkreise entlas-tet werden. Die letzte Stufe der Übernahme der Grund-sicherung im Alter umfasst 1,1 Milliarden Euro. Des Weite-ren sollen die Kommunen im Rahmen der Verabschiedungdes Bundesteilhabegesetzes im Umfang von 5 Milliar-den Euro jährlich von der Eingliederungshilfe entlastetwerden.
– Ganz entspannt bleiben!
Bereits vor der Verabschiedung des Bundesteilhabe-gesetzes beginnen wir mit einer jährlichen Entlastungder Kommunen in Höhe von 1 Milliarde Euro und wer-den uns dann an die 5 Milliarden annähern – damit Sienicht immer sagen können, dass gar nichts passiert.Die Länder und Gemeinden werden bei der Finanzie-rung von Kinderkrippen, Kitas, Schulen und Hochschu-len in der laufenden Legislaturperiode mit 6 MilliardenEuro entlastet. Und ein wichtiger Punkt steht noch dabei– das vergessen manchmal die Kolleginnen und Kolle-gen von der CDU/CSU –:Sollten die veranschlagten Mittel für die Kinderbe-treuung für den Aufwuchs nicht ausreichen, werdensie entsprechend des erkennbaren Bedarfes aufge-stockt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 711
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Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Wirhaben im Wahlkampf ganz klar und deutlich gesagt, dasses für uns wichtig ist, dass die Kinderbetreuung vernünf-tig organisiert und sauber finanziert wird. Und dabeiwollen und werden wir den Ländern und Kommunenentsprechend helfen.
Für die dringend notwendigen Investitionen in dieVerkehrsinfrastruktur werden 5 Milliarden Euro zusätz-lich mobilisiert. Wir als SPD hätten uns deutlich mehrvorstellen können. Ich erinnere mich noch an die langenVorträge, die wir zum Thema Nord-Ostsee-Kanal usw.gehalten haben – Enak Ferlemann freut sich, dass er jetztdoch wieder dran ist.Wir hoffen also, dass in diesem Bereich weiterhin et-was passiert, obwohl das Haus nicht sozialdemokratischgeführt wird, und zwar nicht nur beim Nord-Ostsee-Ka-nal, sondern auch bei der A 20 und anderen wichtigenProjekten hier in Deutschland. Unser Vertrauen ist auchso groß, dass wir bereit sind, das mit der CDU/CSU ge-meinsam anzugehen.Wir stellen bei der Städtebauförderung und im Rah-men der ODA-Quote viel Geld zur Verfügung, und wirleisten einen Bundeszuschuss zur Rentenversicherung.
Wir als Sozialdemokraten haben gesagt: Die Maßnah-men bei der Rente, mit denen wir angetreten sind, haltenwir in der Sache für richtig. Das ist so. Wir haben für dieRente mit 67 gekämpft. Wir glauben aber auch, dass die-jenigen, die sehr früh angefangen haben, zu arbeiten, diein der Regel gewerblich arbeiten und körperlich stark be-lastet sind, die Möglichkeit haben müssen, eher in Rentezu gehen, ohne Abschläge hinzunehmen. Das haben sichdiese Menschen verdient. Diese Möglichkeit muss es ge-ben. Das ist die richtige Ergänzung zur Rente mit 67.Deswegen wird das jetzt auch kommen.
Um das zu finanzieren, haben wir 2 Milliarden Euro zu-sätzlich in dieser Legislaturperiode für die Rentenversi-cherung bereitgestellt. Wir hätten uns gewünscht, dass eskomplett aus dem Haushalt finanziert worden wäre.Abschließend sei noch eine Bemerkung erlaubt. Michhat gefreut, dass der Kollege Kauder so häufig bei mirgeklatscht hat wie noch nie. Ich hoffe, dass wir das beiDebatten zur Gleichstellung von Lesben und Schwulenauch noch erleben werden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Sven-Christian Kindler fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es war schon lustig, mit anzuhören, welchePirouetten der Kollege Kahrs jetzt in der neuen Koalitiondreht. Ich hätte mir mehr Reden zur Sache gewünscht.
Ich möchte auf Ihre Bemerkung zum Koalitionsver-trag eingehen. Natürlich ist es richtig, dass man in Koali-tionsverträgen Kompromisse machen muss. Das wissenauch wir Grüne. Aber das Problem der SPD ist doch,dass sie in den Bereichen Finanzen, Europa und Haus-halt keine Kompromisse gemacht hat, weil sie nichts hatdurchsetzen können; das war eine komplette Niederlagefür die SPD.
Jetzt zu Ihnen, Herr Schäuble, und Ihrer zukunftsver-gessenen Haushaltspolitik. Schauen wir uns einmal an,wie es mit den Investitionen aussieht. Dieser Staat lebtseit Jahren von der Substanz. Die Investitionsquote desStaates ist negativ. Daran muss sich dringend etwas än-dern. Wir brauchen mehr Zukunftsinvestitionen.Wenn man sich jetzt den Koalitionsvertrag anschaut,kann man sehen, was die finanziellen Prioritäten sind. Dassind keine Zukunftsinvestitionen. Es wird sehr viel Geldfür die Rente ausgegeben, sehr wenig Geld für Bildungund Betreuung. Es wird gar nichts gegen Kinderarmut un-ternommen. Durch Einschnitte bei den Bürgerinnen undBürgern und durch Maßnahmen im Bundeshaushalt wol-len Sie die Energiewende abwürgen. Klimaschutzkommt im Haushalt nicht vor. Das ist das Gegenteil ei-ner Politik, die für Zukunftsinvestitionen steht. Bei derGroKo kommt das nicht vor. Das meinen wir Grüne mit„zukunftsvergessen“. Das ist ganz klar gegen die Gene-rationengerechtigkeit.
Natürlich muss man, um Geld für Zukunftsinvestitio-nen bereitzustellen, auch Entscheidungen treffen. Haus-halt heißt, Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu tref-fen, sich festzulegen. Aber was machen Sie im Haushalt,welche Pläne finden sich im Koalitionsvertrag? Sie strei-chen keine Ausgaben, zum Beispiel beim Betreuungs-geld oder bei Rüstungsprojekten. Sie gehen nicht an dieklimaschädlichen Subventionen in Milliardenhöhe he-ran. Fehlanzeige. Anpacken einer gerechten Steuerpoli-tik? Erneut Fehlanzeige. Null Veränderungen planen Sieim Haushalt. Das ist das Gegenteil einer Gestaltung vonHaushaltspolitik. Sie haben den Anspruch, den Haushaltzu gestalten, komplett aufgegeben.
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Sven-Christian Kindler
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Übrigens haben sich die SPD, aber auch die CDU fürMaßnahmen gefeiert, die sie im Koalitionsvertrag ver-sprechen und die nicht unter einem Finanzierungsvorbe-halt stehen, zum Beispiel die Leistungen für Kommunen.Wenn man sich diese einmal genau anschaut, dann stelltman fest, dass es sich um 23 Milliarden Euro handelt, dieim Koalitionsvertrag nicht unter Finanzierungsvorbehaltstehen. Ihre sogenannte Gegenfinanzierung besteht aberdarin, 14 Milliarden Euro weniger für den Schuldenab-bau vorzusehen. 23 Milliarden Euro minus 14 Milliar-den Euro ist aber 9 Milliarden Euro. Es klafft also eineLücke von 9 Milliarden Euro. Entweder können Sienicht rechnen – das wäre schlimm –, oder Sie täuschenganz bewusst die Öffentlichkeit – das wäre noch schlim-mer. Auf jeden Fall stehen alle Maßnahmen, gerade auchdie Leistungen für die Kommunen, im Koalitionsvertragunter einem Finanzierungsvorbehalt.
– Natürlich stimmt das; denn Sie haben es nicht richtiggegengerechnet.Auch zur Rentenfinanzierung wurde schon viel ge-sagt. Ich finde es wichtig, zu sagen, dass auch wir GrüneVerbesserungen bei der Rente wollen. Wir haben aberandere Prioritäten. Das Hauptproblem bei der Rente istdie Altersarmut, die vor allen Dingen Frauen betrifft.Mit dem vielen Geld – 160 Milliarden Euro bis 2030 –machen Sie aber nichts gegen Altersarmut, und das ge-nau ist das große Gerechtigkeitsversagen der GroßenKoalition bei der Rente.
Was gar nicht geht, ist Ihre Finanzierung. Die ist un-solide hoch zehn und zudem ungerecht. Wer zahlt denneigentlich für das Rentenpaket? 25 Prozent des Renten-pakets, so sagt die Deutsche Rentenversicherung, zahlendie bisherigen Rentnerinnen und Rentner, weil ihreRente wegen der Finanzierung sinken wird. 60 Prozentwerden aus der Rentenkasse kommen, obwohl klar ist,dass die Anerkennung von Kindererziehungszeiten wich-tig ist und somit die Finanzierung der Mütterrente einegesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die zu Recht ausSteuermitteln hätte finanziert werden müssen.
Aber an die Steuern trauen Sie sich nicht heran, dazuhaben Sie keinen Mumm, obwohl man gerade in derSteuerpolitik solidarisch dafür sorgen könnte, dass starkeSchultern mehr tragen als schwache Schultern. Wen be-lasten Sie stattdessen bei der Rente? Es sind vor allenDingen die Leute, die Rentenbeiträge zahlen. Es sindnormale Menschen mit normalem Einkommen, die Siebelasten. Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdienerwerden nur wenig beitragen. Wir Abgeordnete werdenkeinen Cent dazu beitragen. Kapital- und Vermögensein-kommen werden nicht dazu beitragen. Das nenne icheine feige und ungerechte Finanzierungspolitik.
Das Problem ist: 2018/2019 kommt die böse Überra-schung. Die notwendigen Steuererhöhungen und die not-wendigen Beitragserhöhungen zur Finanzierung kippenSie der nächsten Regierung und der nächsten Generationvor die Füße. Aber das ist ja auch nichts Neues bei derGroßen Koalition. Das Verschieben von Risiken gehörtbei ihr zum Programm. Was zum Beispiel die Finanzpla-nung angeht: Im Koalitionsvertrag äußern Sie die Hoff-nung auf ewiges Wachstum von 1,5 Prozent. Was ma-chen Sie eigentlich, wenn es wieder einmal schlechtereJahre gibt, die Steuereinnahmen nicht so sprudeln unddie Beiträge nachher wieder steigen müssen? Was ma-chen Sie eigentlich, wenn die historisch niedrigen Zin-sen wieder auf Normalmaß steigen? Darauf haben Siekeine Antwort. Daher wird Ihr Haushalt zusammenfallenwie ein Kartenhaus.
Wir sind auf die kommenden Haushaltsberatungengespannt. Wir werden Ihnen als Grüne konkrete Ange-bote für eine nachhaltige, gerechte Haushaltspolitik vor-legen. Ich hoffe, dass Sie dann Ihren zukunftsvergesse-nen Irrweg korrigieren werden.Ich möchte mit einem Zitat von Gustav Heinemannschließen:Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren,was er bewahren möchte.Ich hoffe, das nehmen Sie sich zu Herzen.Vielen Dank.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kol-lege Kindler, Ihre Rede erinnert mich an die ersten Re-den aus der Opposition heraus vor vier Jahren. Da wurdeuns genauso vorgehalten, wir planten nicht, wir könntennicht rechnen, alles funktioniere nicht. Lesen Sie dieseReden einmal nach! Man kann sie alle in die Tonne tre-ten; denn gekommen ist es ganz anders, nämlich vielbesser.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich zu Beginn wiederholen, was hier vor einigen Mi-nuten der Kollege Riesenhuber gesagt hat:Der Staat kann die Zukunft nicht erfinden. Wenn ergut ist, kennt er die Vergangenheit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 713
Norbert Barthle
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Ich finde dieses Zitat schön. Warum? Weil es so wun-derbar in die Generalaussprache in dieser Woche passt, inder sich die Koalitionsfraktionen vergewissern wollen,was sie in den kommenden vier Jahren erreichen wollen.Wenn man sich vergewissern will, wohin man will, mussman zuerst einmal wissen, woher man kommt. LassenSie mich deshalb zwei Blicke zurück auf die vergange-nen vier Jahre werfen.Stichwort „Schuldenbremse“: Die Schuldenbremseschreibt uns vor, dass wir 2016 strukturell nur noch0,35 Prozent Verschuldung haben dürfen. 2012 haben wirdas bereits erreicht; da waren wir nämlich bei 0,34 Pro-zent struktureller Verschuldung, 2013 bei 0,23 Prozent.Dieses Jahr werden wir einen strukturell ausgeglichenenHaushalt vorlegen. Das ist nicht nur unser Ziel, sondernwir machen das auch.
Zweiter Blick zurück: Wie hat sich die Nettokredit-aufnahme entwickelt? Noch vor vier Jahren standen wirhier und mussten 80 Milliarden Euro neue Schulden pla-nen. Geworden sind es am Ende des Jahres 44 Milliar-den Euro. Im Jahre 2011 haben wir 48 Milliarden Euroneue Schulden geplant. Geworden sind es 17,3 Milliar-den Euro. Im Jahre 2012 haben wir 28 Milliarden Euroneue Schulden geplant, geworden sind es 22,5 Milliar-den Euro. Im Jahre 2013 haben wir 25,1 Milliarden Euroneue Schulden geplant, geworden sind es 22,1 Milliar-den Euro. Jedes Jahr haben wir besser abgeschnitten alsgeplant.
Wenn ich jetzt noch die Sondereffekte herausrechne– Befüllung des ESM-Kapitalstocks, Europäische Inves-titionsbank, Fluthilfe –, dann stelle ich fest, dass wirschon bei einem nahezu ausgeglichenen Haushalt sind.Auch dieses Ziel steht klipp und klar im Koalitionsver-trag: ab 2015 keine neuen Schulden mehr.
Das ist, fiskalpolitisch betrachtet, eine Erfolgsbilanz,wie es sie in diesem Lande noch nie gab.
Das muss man immer wieder betonen.Im Koalitionsvertrag ist aber nicht nur festgehalten,dass wir hinter das bei der Schuldengrenze Erreichtenicht mehr zurückfallen wollen, sondern auch – das stehtebenfalls darin –, dass diese Strategie mit bestimmtenMaßnahmen eingehalten wird.Darin steht zum Beispiel auch, dass, falls es konjunk-turelle Schwankungen geben sollte, was man nie aus-schließen kann, der Anstieg der Ausgaben nie höher seindarf als der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts. Das isteine ganz wichtige Regelung zur Begrenzung der Ausga-ben.An die Adresse all jener aus der SPD-Fraktion gerich-tet, die immer noch auf Steuererhöhungen spekulieren– dass es solche gibt, konnte ich den Reden entnehmen,lieber Johannes Kahrs, lieber Carsten Schneider –: Darinsteht klipp und klar, was wir an prioritären Maßnahmenfinanzieren. Maßnahmen zur Verbesserung von Bildungund Forschung, für die Kommunen, für die Infrastruktur,für die ODA-Quote werden finanziert. Für alles anderegilt nicht nur ein strenger Finanzierungsvorbehalt.
Darin steht nämlich auch: Alles Übrige muss unmittel-bar, dauerhaft und – wie heißt die dritte Formel? ich lesenach – vollständig gegenfinanziert werden, und zwar imgleichen Politikbereich. Jeder Haushälter, der lesenkann, weiß, dass damit Steuererhöhungen zur Verbesse-rung der Ausgabemöglichkeiten ausgeschlossen sind;denn das fließt in den Einzelplan 60. Finanzierung vonzusätzlichen Ausgaben oder Ausgleich von Minderein-nahmen über den allgemeinen Haushalt, das geht nicht;es muss im jeweiligen Politikbereich vollständig, unmit-telbar und dauerhaft gegenfinanziert werden. Das solltenauch die Ministerinnen und Minister unseres Koalitions-partners einmal genau nachlesen.
– Aber ja, das mache ich schon. Ich sage es ja auch hierin aller Deutlichkeit.An dieser Stelle muss ich auf die Grünen zurückkom-men. Im Koalitionsvertrag steht auch, dass wir die Kom-munen – der Finanzminister hat es vorgetragen – bei derEingliederungshilfe für Behinderte entlasten:
5 Milliarden Euro pro Jahr ab 2018, zuvor jeweils 1 Mil-liarde Euro pro Jahr Vorabhilfe an die Kommunen.Liebe Frau Andreae, was macht Ihr MinisterpräsidentWinfried Kretschmann?
Er schreibt in seinen Haushalt 400 Millionen Euro Mehr-einnahmen hinein, die er sich aus Steuererhöhungen er-hofft hat. Da wir Steuererhöhungen aber nicht machen,fehlen ihm 400 Millionen Euro. Was macht er? Er gibt ineinem Zeitungsinterview bekannt, der Bund übernehmeja jetzt die Eingliederungshilfe; da könne er sich die400 Millionen Euro holen. Das nenne ich unseriöseHaushaltspolitik in einem Maße, wie ich es noch nichterlebt habe. Deshalb kann Standard & Poor’s mit seinemAAA-Rating nur die baden-württembergischen Unter-nehmerinnen und Unternehmer, die fleißigen und sparsa-men Menschen gemeint haben, aber nicht die grün-roteLandesregierung.
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714 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Norbert Barthle
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Meine Damen und Herren, was steht noch im Koali-tionsvertrag? Darin steht, dass wir uns intensiv mit denFinanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kom-munen beschäftigen wollen. Da soll eine Kommissioneingerichtet werden. Sie hat sich sehr viel vorgenom-men. Da geht es nämlich um die Einhaltung des europäi-schen Fiskalvertrags, der auch die Länder betrifft. Dageht es um die Schuldenbremse für die Länder, die ab2020 greift. Da geht es um die Verteilung von Einnah-men und Aufgaben auf allen föderalen Ebenen. Da gehtes um den Länderfinanzausgleich. Da geht es um dieFrage der Altschulden. Es geht um die Zukunft des Soli.Es geht also um sehr viel. Unter dem Strich, wie Profes-sor Henneke dieser Tage in der FAZ so schön geschrie-ben hat: Es geht um die Umverteilung von 640 Milliar-den Euro gesamtstaatlicher Steuereinnahmen.Das wird eine Mammutaufgabe der kommenden Wo-chen und Monate werden. Bis Mitte der Legislatur-periode müsste das abgeschlossen sein. Da werden wirnoch viel zu beraten haben. Darauf können sich dieKommunen und die Länder verlassen. Der Bund ist bis-lang Vorreiter, was die Konsolidierung anbelangt. EinigeLänder machen mir Sorge, insbesondere Baden-Würt-temberg und Nordrhein-Westfalen – um nur einige we-nige zu nennen. Aber wir stehen solidarisch zueinander,genauso wie wir das auf europäischer Ebene tun, aberimmer unter der Maßgabe: Hilfe zur Selbsthilfe.
Das gilt auch auf europäischer Ebene. Darüber wer-den wir im Zusammenhang mit der Bankenunion nochintensiv zu sprechen haben.Ich darf abschließend – –
Herr Kollege.
Ich bin schon beim Schlusssatz.
Herr Kollege, ich wollte Sie fragen, damit die Grünen
ihre Chancen wahrnehmen können, ob Sie vor Ihrem
Schlusssatz noch eine Zwischenfrage zulassen.
Ja, gerne.
Frau Hajduk, bitte.
Sehr geehrter Kollege Barthle, Sie haben gerade von
der Mammutaufgabe der Neuordnung der Bund-Länder-
Finanzbeziehungen gesprochen, haben auch die Summe
in den Raum gestellt und gesagt, wie viel hundert Mil-
liarden es sind, um die es da letztendlich geht. Können
Sie uns als Mitglied dieses Hohen Hauses hier schon ein-
mal deutlich machen, dass die Koalition auch sicher-
stellt, dass der Haushaltsgesetzgeber, der Deutsche Bun-
destag, bei der Erarbeitung dieser Vorschläge von
Anfang an mit eingebunden ist? Das wird im Koalitions-
vertrag nicht so richtig deutlich.
Da die Einsetzung dieser Kommission im Koalitions-
vertrag von CDU, CSU und SPD und nicht in einer Re-
gierungsvorlage angekündigt wird, gehe ich davon aus,
dass das Parlament auch entsprechend eingebunden sein
wird, wenn es darum geht, die Finanzbeziehungen zwi-
schen Bund und Ländern neu auszutarieren, und zwar
unter Einbeziehung der Kommunen. – So lautet die For-
mulierung.
Kollegin Hajduk, Sie können davon ausgehen, dass wir
das nicht einfach an uns vorüberziehen lassen.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zum Thema Ban-
kenunion. Darüber muss in den kommenden Monaten
noch verhandelt werden. Wir sind an den Verhandlungen
beteiligt. Ich darf Ihnen versichern, dass wir Haushälter
streng darauf achten werden, dass die Haftungskaskade,
die der Kollege Carsten Schneider angesprochen hat,
eingehalten wird. Wir werden ebenfalls sehr darauf ach-
ten, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus künf-
tig die Aufgaben erfüllen kann, die er zu erfüllen hat,
nämlich in Schwierigkeiten geratenen Staaten zu helfen,
und nicht dazu benutzt wird, eine grenzenlose Rekapita-
lisierung von Banken zu betreiben.
In diesem Sinne freue ich mich auf eine gedeihliche
Zusammenarbeit mit unseren neuen Freunden auf der
linken Seite des Hauses, auf eine erfolgreiche Fortset-
zung der Konsolidierungspolitik, die wir bisher betrie-
ben haben, und damit auf eine gute Zukunft für den
Haushalt dieses Landes.
Danke.
Zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile
ich nun unserer Kollegin Cansel Kiziltepe von der SPD-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Es soll laut Ko-alitionsvertrag um die Gestaltung von Deutschlands Zu-kunft gehen. Dazu kann die Finanzpolitik einen wichti-gen Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang sind zweiPunkte besonders wichtig: zum einen die Erzielung vonmehr Steuergerechtigkeit und zum anderen die Finanz-marktregulierung. Damit soll ein solidarischer, gerechterLastenausgleich erreicht werden. In Deutschland sindwir davon allerdings noch weit entfernt.Zum ersten Punkt. Zukunftsfähigkeit bedeutet grö-ßere Handlungsfähigkeit des Staates durch mehr Steuer-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 715
Cansel Kiziltepe
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gerechtigkeit. An Instrumenten für eine gerechte, nach-haltige Finanzpolitik wäre eigentlich kein Mangel. Wirals SPD stehen auch weiterhin für eine Vermögensbe-steuerung und für die Erhöhung des Spitzensteuersatzes,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken.
Damit es in unserem Land gerechter zugeht, ist einegrößere Steuergerechtigkeit unabdingbar. Wir werdeneine stärkere und intensivere Verfolgung von Steuerhin-terziehern auf den Weg bringen; denn Deutschland ver-liert durch Steuerbetrug und die sogenannte Steueropti-mierung jedes Jahr Milliarden von Euro. Es geht hier freinach der KB-Methode – kaltblütiger Betrug – um dieBereicherung Einzelner auf Kosten der Allgemeinheit.Dieses Verstecken vor der gesellschaftlichen Solidaritätmuss ein Ende haben.
Daher bin ich froh darüber, dass im Bundesrat Ende2012 das Steuerabkommen mit der Schweiz verhindertwerden konnte. Wenn man sich die Anzahl der Selbstan-zeigen im letzten Jahr im Vergleich zu 2012 ansieht,kann man einen wahren „Hoeneß-Boom“ erkennen. Wirvon der SPD wollen zusammen mit der Union, wenn ichHerrn Schäuble richtig verstanden habe, kein Spekulie-ren auf Hoeneß-Effekte, sondern wir wollen die Steuer-hinterziehung ausmerzen.
Daher ist es jetzt unsere Aufgabe, die Regelung zurstrafbefreienden Selbstanzeige so zu entwickeln, dassder milde Umgang mit Steuerverbrechern ein Ende hat.Wichtig ist uns dabei, dass es nicht nur darum geht, die-jenigen konsequent zu verfolgen, die sich auf ihrem per-sönlichen Egotrip befinden, sondern dass es hier um dieHandlungs- und Investitionsfähigkeit unseres Landesund seiner Institutionen geht.Der zweite wichtige Punkt im Bereich der Finanzpoli-tik ist die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Wiewir alle feststellen mussten, führt ein intensiver Um-schlag von Wertpapieren nicht, wie das Marktradikalestets behaupten, zu besseren, sondern zu schlechterenPreisen an den Finanzmärkten. Da sind wir uns im Deut-schen Bundestag einig.
Dies hat massive negative gesamtwirtschaftliche Folgen.Das muss unterbunden werden, liebe Kolleginnen undKollegen.
Herr Brinkhaus, wir wollen keine Märkte schützen,sondern wir wollen Finanzmärkte regulieren.
Eine Finanztransaktionsteuer führt dazu, dass auf diesenMärkten weniger, dafür aber bewusster gehandelt wird,weil Spekulieren teurer wird. Die Europäische Kommis-sion hat einen Vorschlag zur Einführung vorgelegt. Die-ser umfasst die Besteuerung des Handels mit Aktien,Anleihen und Derivaten. Das ist gut so. Die Einführungsoll uns in Europa jährlich 60 Milliarden Euro bringen.Ob das gerecht ist und ausreicht, ist diskussionswürdig,aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Im Moment besteht jedoch die Gefahr, dass der Vor-schlag der Kommission verwässert wird. Bei vielenpotenziellen Teilnehmern ist lediglich eine Besteuerungder Aktien im Gespräch oder bereits im eigenen Landdurchgesetzt. Wenn es dabei bliebe, wäre es ein handfes-ter Skandal; denn lässt man neben dem Devisenhandelauch noch den Derivatehandel weg, bleiben europaweitnur noch Einnahmen von etwa 20 Milliarden Euro. Dannkann von einer gerechten Beteiligung der Krisenverursa-cher keine Rede mehr sein.
Es wird also unsere Aufgabe sein, gemeinsam mit un-serem Koalitionspartner in dieser Sache in Europa klarFarbe zu bekennen. Wir brauchen für Europa eine Finanz-transaktionsteuer mit einer maximalen Bemessungs-grundlage. Dafür werde ich mich gemeinsam mit meinerFraktion einsetzen. Die Behauptung der Finanzlobby,dass kapitalgedeckte Rentenversicherungen dadurch ne-gativ belastet würden, ist völlig falsch. Wenn Sie sichüberlegen, dass heute ein Riester-Sparer für 100 Euro15 bis 20 Prozent Verwaltungskosten bezahlen muss– das sind 20 Euro – und bei einer Finanztransaktionsbe-lastung von 0,1 Prozent nur 10 Cent bezahlen müsste,dann zeigt das, dass die Belastung sehr gering ist.Wir sind uns mit unserem Koalitionspartner einig,dass wir handeln müssen. Das ist moralisch und politischrichtig und ökonomisch vernünftig. Es ist wichtig, dassSteuerhinterziehung endlich konsequent verfolgt wird.Über das Aufkommen können wir nur spekulieren. Aufsolche Schätzungen können wir uns nicht verlassen.
Frau Kollegin, es wäre total lieb, wenn Sie ab und zu
einen Blick auf die Uhr werfen würden. Das Präsidium
hat nämlich schon 2 Minuten Erstredezuschlag gewährt,
ohne dazwischenzufunken.
Sehr gut. Ich komme zum Ende. Danke, Herr Präsi-dent.
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716 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Cansel Kiziltepe
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Wir dürfen uns nicht auf die Hoeneß-Spekulation verlas-sen. Vorhin haben wir gehört, dass es eine Rieseninvestiti-onslücke in Deutschland gibt. Im Koalitionsvertrag habenwir vereinbart, dass wir den Kommunen dort Hilfestellungleisten und sie entlasten werden. Ich nehme auch dieBundeskanzlerin beim Wort. Gestern hat sie in ihrerRede gesagt: Kein Finanzmarkt, kein Finanzakteur, keinFinanzprodukt soll unreguliert bleiben. Diese Einschät-zung teile ich.Vielen Dank.
Wir gratulieren der Kollegin Kiziltepe zu ihrer ersten
Rede.
Die Zustimmung im Haus wird noch wachsen, wenn
Sie bei zukünftigen Reden ab und zu einen liebevollen
Blick auf die Uhr werfen. Das dient dem solidarischen
Stimmenausgleich und verhindert die Besorgnis des
Herrn Kollegen Bartsch, dass es zwischen Regierung
und Opposition möglicherweise zu zeitmäßigen Imba-
lancen kommt.
Jetzt rufe ich als nächste Rednerin die Kollegin Antje
Tillmann von der CDU/CSU-Fraktion auf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt gute Nachrich-ten über Deutschland. Die Opposition mag es nichthören, aber über Deutschland wird gut berichtet. DieSteuereinnahmen sind auf einem Rekordhoch. Ich nutzeheute sehr gerne die Gelegenheit, all denjenigen Unter-nehmerinnen und Unternehmern, Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern dafür zu danken, dass sie morgensaufstehen und dass sie einen Teil ihres Verdienstes alsSteuern für diesen Staat abführen, um den Sozialstaataufrechtzuerhalten. Kurzfassung: Ihnen, liebe Steuerzah-lerinnen und liebe Steuerzahler, danke ich für Ihr Enga-gement und Ihr Mitwirken in diesem Staat.
Ich gebe das Protokoll dieser Debatte gerne jedem,der gesagt hat: Na ja, all das, was die Parteien im Wahl-kampf in Bezug auf Steuererhöhungen behauptet haben,wird ja so nicht kommen. – Die heutige Debatte hat wie-der ganz klar gezeigt: Es gibt ein Rekordhoch bei denSteuereinnahmen, aber die anderen Fraktionen könnenimmer noch nicht genug kriegen. Wir sind die Einzigen,die den Bürgern sagen: Mit dem, was wir Ihnen, denSteuerzahlern, abnehmen, müssen wir auskommen.Darauf können Sie sich verlassen. – Wir werden dankdieser Steuereinnahmen zusätzlich die Schuldenbremseeinhalten, Investitionen in Bildung und Forschungtätigen und ab 2015 keine neuen Schulden mehr aufneh-men.
Was die Opposition noch sehr viel mehr ärgert als dieharten Fakten, dass wir hohe Steuereinnahmen habenund den Haushalt konsolidieren, ist, dass immer mehrMenschen in Deutschland optimistisch in die Zukunftschauen. Es scheint sie so richtig zu ärgern, dass Men-schen sagen: Mit Deutschland geht es gut voran; wir sindauf dem richtigen Weg. – Wir, die Koalition, insbeson-dere die CDU/CSU-Fraktion, werden in den nächstenvier Jahren dafür sorgen, dass es so bleibt und die Men-schen im Nachhinein sagen: Das war ein guter Weg; wirsind ein Stück weitergekommen.Ich will Ihnen im Folgenden einen kurzen Überblickdarüber geben, wie wir das tun wollen. Wir bleiben, wieauch schon in den letzten vier Jahren, bei einer stabilen,verlässlichen Steuerpolitik. Ein kurzer Rückblick: Wirhaben den Grundfreibetrag erhöht und die Menschenhierdurch um 2,6 Milliarden Euro entlastet. Wir habendie Wirtschaft um Bürokratie entlastet, indem wir eineelektronische Rechnungsstellung bei der Umsatzsteuermöglich gemacht und das Reisekostenrecht vereinfachthaben. Wir haben mehrfach das Kindergeld und denKinderfreibetrag erhöht und damit Familien in Deutsch-land unterstützt. Die weitere Erhöhung des Kindergeldesund des Kinderfreibetrags steht auf der Tagesordnung.Auch da werden wir die Familien in Deutschland imAuge haben; sie können sich auf uns verlassen.Auch in dieser Legislaturperiode werden wir dasSteuerrecht fortentwickeln. Und nein, es wird keineSteuererklärung geben, die auf einen Bierdeckel passt,weil einfach auch Lebenssachverhalte nicht auf einenBierdeckel passen.
Aber wir werden das Steuerrecht noch gerechter ma-chen.Wir haben in den letzten vier Jahren viele Steuer-gestaltungsmöglichkeiten in Deutschland eingeschränkt.Ich erinnere an die „Goldfinger“-Debatte. Das, was wirin Deutschland verhindern konnten, haben wir verhin-dert. In den nächsten vier Jahren setzen wir unsere Be-mühungen fort, auch international zu Verbesserungen zukommen. Steuervermeidungen – sie tragen den tollenNamen BEPS – werden wir international einschränken.Wir werden sicherstellen, dass auch im Internet und inder digitalen Wirtschaft Steuern gezahlt werden. Wirwerden verhindern, dass Menschen keine Steuernzahlen, weil sie in unangemessener Weise Vorteile ausDoppelbesteuerungsabkommen, DBA, in Anspruch neh-men. Wir werden Steuerverkürzungen international da-durch verhindern, dass ein Informationsaustausch durch-geführt wird. Ich bin sehr froh, dass wir auch in dieserLegislaturperiode diese Politik zusammen mit unseremFinanzminister gestalten, denn er ist hier seit Jahren Vor-reiter auf internationaler Ebene.
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Antje Tillmann
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Wir werden auch die Finanzmärkte regulieren. DieBürgerinnen und Bürger rechnen zu Recht damit, dasswir verhindern, dass Steuerzahler Banken retten müssen.Lieber Kollege Schneider, es ist schön, dass wir unsheute einig sind. Aber dass für die Haftungskaskade gilt,dass der Bürger zuletzt haftet, kann nicht direkt auf Siezurückgehen; denn es gab sie schon, bevor Sie in dieRegierung eingetreten sind.
Auch da geht ein herzliches Dankeschön an unserenFinanzminister, der das auf europäischer Ebene durchge-setzt hat.
Frau Kollegin Tillmann, es gibt eine Zwischenfrage
aus der Fraktion der Grünen. Gestatten Sie diese?
Gerne.
Bitte, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank, Frau Kol-
legin, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. – Frau
Tillmann, Sie haben von mehr Steuergerechtigkeit ge-
sprochen. Ich habe absichtlich gewartet, bis Sie zum
nächsten Thema kamen. Sie haben ein Thema ausgelas-
sen, das die schwarz-gelbe Koalition anpacken wollte,
aber nicht angepackt hat – das haben wir und gerade
auch die Kollegen von der SPD oft beklagt –, nämlich
das Thema Mehrwertsteuer.
Finden Sie es gerecht, dass Sie bei einem Bratwurst-
bräter unabhängig davon, ob Sie die Bratwurst mitneh-
men oder dort verzehren, den gleichen Preis bezahlen,
aber in dem einen Fall der verminderte Mehrwertsteuer-
satz und in dem anderen Fall der volle Mehrwertsteuer-
satz berechnet wird?
Um es in unserer Sprache zu sagen: Für Außer-Haus-
Umsätze gilt der verminderte Mehrwertsteuersatz. – Ich
könnte jetzt die ganzen weiteren Beispiele aufzählen, die
Sie genauso gut kennen wie ich.
Wir waren uns mit den Kollegen von der SPD einig,
dass wir das Thema angehen müssen. Wir waren uns mit
der CDU, allerdings nicht mit der CSU, beim Thema
Hotelsteuer einig. Können Sie mir bitte sagen, warum
Sie nicht den Mut haben, dieses zentrale Projekt zur
Schaffung von Steuergerechtigkeit – auch wenn Herr
Schäuble sagt, dass 60 Prozent der Bevölkerung dagegen
sind, was sicher richtig ist – endlich anzugehen?
Lieber Herr Kollege Gambke, ich beschäftige michmit dem Thema Mehrwertsteuer wahrscheinlich schonlänger, als Sie im Deutschen Bundestag sind. Ich gebeIhnen recht: Es gibt in diesem Bereich Verwerfungen.Das Beispiel Babywindeln haben Sie jetzt nicht genannt,auch das ist ein uraltes Thema. Ein Teil der Problematikist im Zuge der europäischen Umsatzsteuerrichtlinie ent-standen; dadurch ist es innerhalb Deutschlands nichtohne Weiteres möglich, die bestehende Regelung zu än-dern.Ich bin gerne bereit, mit Ihnen in den nächsten vierJahren an Lösungen zu arbeiten. Das Thema ist nichtBestandteil des Koalitionsvertrags, dafür haben wir61 andere Projekte, die jetzt anstehen. Wir werden dasThema Mehrwertsteuer aber immer wieder auf dieTagesordnung setzen, zum Beispiel, wenn die Umsatz-steuer-Systemrichtlinie neu gefasst wird. Das bietet dieGelegenheit, das Thema intensiv zu diskutieren. Ichfreue mich sehr, wenn Sie dabei sind.
Neben der Regulierung der Banken, insbesondereauch der Schattenbanken – Dr. Schäuble hat heute Mor-gen schon darauf hingewiesen –, werden wir uns inten-siv mit dem Verbraucherschutz auf dem Finanzmarkt be-schäftigen. Was für die Banken im Großen gilt, gilt fürdie Anleger im Kleinen: Wer ein Risiko eingeht, dermuss auch den Schaden tragen. Aber natürlich fühlenwir uns bei Kleinanlegern aufgrund unserer Fürsorge-pflicht mehr gefordert. Bereits in der Vergangenheitwurden Regulierungen in diesem Bereich vorgenom-men. Für Anlageberater gelten strengere Informations-und Beratungspflichten. Es gibt sogar Sanktionsverfah-ren und Bußgelder. Es gibt sogenannte Kundeninforma-tionsblätter für die Anleger und Anlegerinnen, was zueiner größeren Transparenz geführt hat, als es in der Ver-gangenheit der Fall war.Trotzdem gilt natürlich nach wie vor der Leitspruch:hohe Zinsen, hohes Risiko – niedrige Zinsen, niedrigesRisiko. Ich kann von dieser Stelle aus an die Verbrauche-rinnen und Verbraucher, die sogenannten Kleinanleger,nur appellieren, dass sie die entsprechenden Informatio-nen zur Kenntnis nehmen. Bei einem Zinssatz von 8 Pro-zent lohnt es sich, eine Stunde lang Informationsblätterzu lesen oder sich Rat einzuholen. 8 Prozent Zinsenbedeuten ein hohes Risiko. Wir können den Verbrauchernicht in jedem Einzelfall davor schützen, dass er Fehlerbei der Anlage seines Geldes macht.
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718 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Antje Tillmann
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Das nächste große Thema, insbesondere für dieneuen, aber auch für die alten Bundesländer, ist die Neu-regelung des Länderfinanzausgleichs. Eben wurde vondem Kollegen der Grünen gefragt, ob wir uns als Bun-destag da einschalten. Nun muss man zunächst festhal-ten, dass die Neuregelung des Länderfinanzausgleichsnatürlich Sache der Länder ist. Wenn sich die Länder ei-nigen würden, ohne auf den Bund zurückzugreifen, dannhätten wir wenig Probleme, die Vorschläge der Ländernachzuvollziehen. Ich befürchte, das wird so nichtkommen. Also werden wir uns selbstverständlich indiese Verhandlungen einbringen.Wir werden einen gerechten Ausgleich zwischenLeistungsanreizen und Solidarität finden. Es muss dabeiinsbesondere unser Interesse sein, sicherzustellen, dassdie Schuldenbremse nicht nur einmalig eingehalten wird– der Bund und einige Länder sind hier vorbildlich –,sondern dass das Thema Schuldenbegrenzung geradevor dem Hintergrund der Generationengerechtigkeit inDeutschland in Bund, Ländern und Kommunen dauer-haft aktuell bleibt.
Damit die Kommunen das tun können, haben wir dasgrößte Entlastungsprogramm für die Kommunen in derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland verabredet.Frau Andreae ist gerade leider nicht da. Dass sie sichhinstellt und sich traut, zu behaupten, die rot-grünenLandesregierungen hätten das in den Koalitionsvertragund in den Vermittlungsausschuss hineinberaten,
ist sehr tapfer. Dabei hat doch gerade Rot-Grün denKommunen mit den Kosten für die Unterkunft dasgrößte Sozialprogramm aufgedrückt, sie dann aber hin-sichtlich der Finanzierung im Regen stehen gelassen. Ichglaube daher, dass ein bisschen Demut schon angemes-sen wäre.
Ich wundere mich immer wieder, dass ausgerechnetdie, die nicht im Vermittlungsausschuss sind, genau wis-sen, was dort passiert ist. Es war unser Finanzminister,der in der kommunalen Finanzkommission das 10-Mil-liarden-Euro-Entlastungsprogramm ins Gespräch ge-bracht hat. Rot-Grün ist dann auf diesen Zug aufge-sprungen, was im Sinne der Kommunen ist. Abertatsächlich lag die Initiative ganz klar bei uns.
Die Kommunen werden sich auch weiterhin auf unsverlassen können. Das Programm zum Ausbau der Kin-derbetreuung ist gut angelaufen. Wir wissen sehr wohl,dass auch in dieser Legislaturperiode zusätzlicheKindergartenplätze nötig sind. Lieber Herr Kahrs, auchhier war es wieder unsere Familienministerin, die dieBundesmittel ausgereicht hat, bevor manche SPD-re-gierten Länder überhaupt auf die Idee gekommen sind,dass Kindergärten zu bezahlen sind.
– Nein, das will ich nicht. Aber die Retourkutsche dafür,dass Sie gesagt haben, die CDU müsste überzeugt wer-den, müssen Sie jetzt schon hinnehmen.
Ich bin sicher, dass die Koalition auch in diesen Punk-ten zu guten Ergebnissen kommt. Wenn wir in vierJahren die Menschen noch einmal befragen, werden siesagen: Das waren vier gute, optimistische Jahre.Wir haben uns auf den Weg gemacht. Wir freuen uns,wenn Sie mitmachen.Herzlichen Dank.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Lothar Binding, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Bemerkungeneiner Kollegin und eines Kollegen der Linken habenmich mehr erschreckt als geärgert: Gesine Lötzsch hatvon Wahlbetrug, Kollege Ernst von Lüge gesprochen.Ich glaube, wenn wir auf dem Niveau des betrunkenenStammtischbesuchers angekommen sind, gemäß demalle Politiker Lügner sind, dann haben wir etwas falschgemacht.
Sie müssen uns nicht erklären, wie ein Kompromissfunktioniert. Ein Wahlversprechen ist immer so gemeint,dass es das enthält, was man tun will, wenn man alleinregiert. Wenn man nicht allein regiert, dann kann mannicht alles einhalten, was man versprochen hat. Das giltfür die einen, für uns, wie für die anderen, die CDU/CSU-Fraktion.
Das hätte auch gegolten, wenn die Linke mit der CDU/CSU koaliert hätte. Auch dann hätte das gegolten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 719
Lothar Binding
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Um das zu verstehen, bedarf es allerdings der Bereit-schaft, mehr Verantwortung für das Ganze wahrzuneh-men, als Sie bisher an den Tag gelegt haben.
Dietmar Bartsch hat das geschickter gemacht. Er hatgesagt, was ihn an unserem Verhandlungsergebnis stört:Wir haben keine Einkommensteuererhöhung, keine hö-here Abgeltungsteuer, keine Vermögensteuer. Das willich gar nicht bestreiten; das stimmt. Die andere Hälftehaben Sie aber vergessen zu erwähnen: Wir haben denMindestlohn, wir haben verbesserte Arbeitnehmerrechte,wir haben Beschäftigungsförderung, die Leih- und Zeit-arbeit wollen wir verbessern, wir wollen die Rente unddie Pflege verbessern. Das ist die andere Hälfte.
Ein Kollege von der CDU/CSU könnte das ganz ähnlichvortragen.Kerstin Andreae hat sich in ihrer Rede implizit wider-sprochen; dieser Widerspruch war ein wenig versteckt.Sie hat gesagt: Ihr wollt 23 Milliarden Euro mehr ausge-ben; das ist richtig schlimm.
Dann hat sie gesagt: Bei den Kommunen und in den Be-reichen Verkehr, Schule, Kita, Forschung usw. fehltGeld. Genau dafür wollen wir die 23 Milliarden Euroaber ausgeben. Und dann sagt sie noch: Das ist zu we-nig.
Das ist irgendwie unlogisch. Das ist ein Widerspruch.
– Ja, das ist ein versteckter Widerspruch. Ich verstehedas sehr gut. Sie können das rechtfertigen. Aber dieErklärung ist falsch.
Insofern ist das eine komplizierte Angelegenheit.
Ich will eine kleine Zäsur machen. Kollege Schäublehat gesagt, dass in Europa viel zu tun bleibt. Ich will da-ran einen Gedanken anknüpfen: Ich glaube, wir müsseninterkulturelle Kompetenz als Stärke akzeptieren undweiterentwickeln. Das muss unsere Basis sein. Von die-sem Grundverständnis sind wir aber noch ein ganzesStück weg. Heute betrachten sich die Länder gegenseitignoch so, als würden sie sich gar nicht kennen. MeinLieblingsbeispiel dafür lautet: Wenn ich morgenMinister werde und meinen Bruder einstelle, sagt hier je-der: Günstlingswirtschaft! Sauerei! Der Binding mussgehen! – Wenn ich in Griechenland meinen Bruder nichteinstelle, sagen alle: In der Familie stimmt etwas nicht.Der muss gehen!
Genau diese Diskrepanz zu verstehen, ist aber eine kul-turelle Stärke. Ich will das nicht nach moralischen Maß-stäben beurteilen; denn das steht uns gar nicht zu. Dies-bezüglich machen wir es uns immer viel zu einfach. Ichglaube, diese Dimension müssen wir noch erschließen.
Ich denke, wir dürfen es uns vielleicht auch nicht soeinfach machen, wie es sich Herr Brinkhaus und HerrBarthle gemacht haben. Wir haben offensichtlicheProbleme – das ist klar –, aber wir haben auch ein paarProbleme, die man nicht sofort bemerkt. Schuldenabbau –prima, das machen wir. Keine Steuererhöhungen – da-rauf haben wir uns jetzt eingelassen; dazu ist schon vielgesagt worden. Mehr Ausgaben – das machen wir allegerne. Wir haben Wachstumsannahmen. Wenn sie stim-men, ist es gut, wenn sie nicht stimmen, wird es schwie-rig. Auch das Zinsniveau und die niedrige Inflationsratesind dabei sehr hilfreich. Man muss aber genau hin-schauen: Was passiert mit den Sozialabgaben? Was istmit dem Substanzverzehr? Das ist etwas, was keinermerkt, es sei denn, er gerät während einer Zugfahrt ineine Langsamfahrstelle, von denen wir einige Hunderthaben, oder er fährt in ein Schlagloch. Da denkt mandann: Vielleicht wäre es doch gut, da etwas mehr Steuer-gelder zu investieren. Wir haben auch die Lage derKommunen in den Blick zu nehmen.Wenn wir all diese versteckten Themen hinzunehmen,dann wird deutlich, dass sich vielleicht eine größere Vor-sicht im Umgang mit dem Finanzierungsvorbehalt an-bietet. Vielleicht verbreitet sich diese Erkenntnis ja inden nächsten drei, vier Jahren. Dann haben wir bessereChancen, die Einnahmeseite zu verstärken, um die ge-wünschten Dinge tun zu können.Ich will noch ein paar ganz konkrete Punkte anspre-chen, sonst sagen Sie noch: Der ist zwar Finanzer, redetaber so wenig über Finanzen. Ich nenne das StichwortBEPS, Base Erosion and Profit Shifting. Dabei geht esdarum, die Basis der Steuereinnahmen durch Gewinn-verlagerung zu zerstören. Auf diesem Gebiet haben wirsehr viel vor. Wir wollen Zinstricks abschaffen. Wirwollen gegen Lizenzboxen vorgehen. Wir wollen dieHinzurechnungsbesteuerung überdenken. Wir wollen diehybriden Strukturen angehen, mit denen doppelte Nicht-besteuerung erreicht werden soll. Wir wollen Amazon,Google und Ikea motivieren, ihre Steuern in Deutsch-land fair zu zahlen.
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720 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Lothar Binding
(C)
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Mit diesem Programm haben wir eine Chance, auch un-sere Einnahmeseite so zu verstärken, dass daraus einSchuh wird. Ich glaube, in dreieinhalb Jahren könnenwir dann zufrieden sein.
– Hans Michelbach stimmt mir gerade zu. Vielen Dank.Indem ich dieser Hoffnung Ausdruck verleihe, wün-sche ich Ihnen alles Gute.
Als letztem Redner zu diesem Themenbereich erteile
ich nun dem Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirnähern uns einer namentlichen Abstimmung. Dann wirdes hier im Saal immer etwas unruhiger und lebhafter.Trotzdem will ich darauf verweisen, dass der Haushalts-abschluss für 2013, den wir vor wenigen Wochen vonIhnen, Herr Minister, erhalten haben, wiederum ein Be-weis für absolut solides Wirtschaften war. Das fünfteJahr in Folge ist der Haushaltsabschluss besser ausgefal-len, als es die Ansätze vorgesehen hatten. Wir sind alsoauf dem richtigen Weg der Haushaltskonsolidierung.Wir haben es in der Koalitionsvereinbarung ja ent-sprechend festgelegt: Wir wollen keine neuen Schulden.Wir wollen keine Steuererhöhungen. Aber wir habenviel zu leisten. Natürlich – das ist auch in der Debattemehrfach angeklungen – gibt es darüber hinausgehendeWünsche. Ich sage aber: Wenn wir es in dieser Legis-laturperiode schaffen, keine Steuern zu erhöhen, einenabsolut ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, keineneuen Schulden zu machen, mehr Investitionen in Ver-kehrsinfrastruktur und Bildung zu tätigen, die Kommu-nen auch im Bereich der Behinderteneingliederung zuentlasten, wenn wir all dies schaffen, dann haben wir,glaube ich, viel erreicht. Wenn ich das den Menschen inmeinem Wahlkreis erkläre, dann sagen sie zwar, dass sienoch den einen oder anderen Wunsch im Hinblick aufSteuersenkungen, Steuerveränderungen usw. haben, aberdas Wichtigste ist, dass wir solide wirtschaften und dieZukunft gestalten.
Solide Finanzen sind nun einmal die Grundlage fürWirtschaftswachstum und damit auch für die sozialeStärke, die dieses Land auszeichnet. Deswegen wollenwir, wie ich schon gesagt habe, die Investitionen in Bil-dung und Verkehrsinfrastruktur, in Städtebau usw. ver-stärken.Frau Kollegin Lötzsch hat vorhin gesagt, es wäre sozu-sagen ein leistungsloser Zugewinn gewesen, der demFinanzminister mit den niedrigeren Zinsausgaben zugute-gekommen ist. Nein, eben nicht! Dass wir günstige Zins-ausgaben für unsere Bundesanleihen haben, hat auch da-mit zu tun, dass wir solide arbeiten, solide wirtschaften,dass unsere Volkswirtschaft eine enorme Leistungsfähig-keit ausweist.
Das ist der eigentliche Grund für das Vertrauen, das dieMärkte in Deutschland setzen. Deswegen wollen wirdiesen Weg konsequent fortsetzen.Ich muss noch ein Wort zu Frau Andreae sagen.
Ich bin sehr dafür, dass wir uns über jeden Punkt, denwir hier zu behandeln haben, Gedanken machen undkontrovers darüber diskutieren, auch beim Thema Rentein Bezug auf Mütterrente, abschlagsfreie Rente usw.Mich hat der Ton gestört, den Sie an den Tag gelegt ha-ben.
Durch den Ton wurde die ganze Herzlosigkeit, der ganzeEgoismus deutlich. So etwas können Sie offenbar an denTag legen, weil Ihre Wählerklientel wohl eher in denwohlhabenden Schichten zu Hause ist
als in den Schichten der Bevölkerung, die wir als Volks-parteien vertreten.
Vorhin wurde schon davon gesprochen, dass die Fi-nanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu ge-ordnet werden müssen. Wir müssen darauf achten, dassdas Leistungsprinzip und das Solidaritätsprinzip wiederins Gleichgewicht gebracht werden, dass die Fehlanreizeim jetzigen System des Länderfinanzausgleichs entferntwerden. Es kann nicht richtig sein, dass ein einzigesBundesland – ich meine Bayern – allein mehr als dieHälfte des Ausgleichsvolumens tragen muss.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brau-chen natürlich auch die Maßnahmen im Bankensektor– ich kann das nur noch kurz am Rande ansprechen –,die von meinen Vorrednern angesprochen worden sind.
Die Schwachstellen bei Bankenunion bzw. europäischerBankenaufsicht – all das ist hier schon gesagt worden –müssen beseitigt werden.Notwendig ist es auch – Kollege Binding hat ja daraufhingewiesen –, im internationalen Steuersektor etwas zutun, damit Gewinnreduzierungen und Gewinnverlage-rungen vermieden werden. Da müssen wir auf europäi-
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Bartholomäus Kalb
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scher Ebene vorangehen. Unser Bundesfinanzministerhat das ja auch auf internationaler Ebene ganz oben aufdie Tagesordnung gesetzt, sogar im Kreise der G 20; daswill ich hier noch einmal unterstreichen.
Genauso will ich kurz darauf eingehen, was der Kol-lege Carsten Schneider zur sogenannten Haftungskas-kade, also wenn Banken in Europa in Schwierigkeitenkommen, gesagt hat. Es ist ja alles richtig. Aber es wäregut, zu akzeptieren, dass da das Urheberrecht nicht alleinbei Carsten Schneider bzw. bei der SPD liegt. LieberCarsten Schneider, es ist gut, dass eine Bundestagsredekeine Doktorarbeit ist und man sie nicht dementspre-chend überprüfen muss.
Ich glaube schon, dass wir das gemeinsam in der Formanerkennen sollten.Wir freuen uns über die Unterstützung aus den Krei-sen der SPD, des neuen Koalitionspartners, unsererneuen Freunde. Wir freuen uns, dass der Finanzministerauf der europäischen und internationalen Bühne tatkräf-tigst in dem Bemühen unterstützt wird, dass zuerst dieHauptverantwortlichen in die Verantwortung genommenwerden, also die Eigentümer und die Anleger, und dasserst ganz zum Schluss auf Instrumente wie den europäi-schen Ausgleichsfonds oder den Bankenabwicklungs-fonds usw., die zum Teil noch geschaffen werden sollen,zurückgegriffen wird. Damit ist sichergestellt, dass nichtder Steuerzahler wieder zuerst zur Kasse gebeten wird,sondern zunächst einmal andere Instrumente zu greifenhaben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider istmeine Redezeit abgelaufen. Ich würde gerne noch sehrviel länger zu diesen schönen Themen sprechen. Aberwir haben ja bei der ersten Lesung des Bundeshaushaltes2014 Gelegenheit, all das zu sagen, was wir heute nichtmehr sagen konnten.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu dem Themenbereich lie-gen nicht vor.Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 5:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2014
Drucksache 18/273Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie FinanzausschussAusschuss für TourismusHaushaltsauschussEs handelt sich um eine Überweisung im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Gibt es Ge-genstimmen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 6 a:Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Gewährung einer
Drucksache 18/282Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Ernährung und Landwirtschaft
Drucksache 18/390Berichterstattung:Abgeordnete Hermann FärberDr. Wilhelm PriesmeierDr. Kirsten TackmannFriedrich OstendorffDer Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaftempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/390, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/282 anzunehmen.Bevor wir in die Abstimmung eintreten, weise ich da-rauf hin, dass eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31der Geschäftsordnung der Kollegin Dr. KirstenTackmann vorliegt, die dann im Protokoll entsprechendaufgenommen wird.1)Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiterBeratung mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD undder Grünen bei Gegenstimmen und einigen Enthaltungenaus der Fraktion Die Linke angenommen worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist derGesetzentwurf in dritter Beratung unter Zustimmung al-ler Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke an-genommen worden.
1) Anlage 2
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722 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Vizepräsident Peter Hintze
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Tagesordnungspunkt 6 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung und Land-wirtschaft zu dem Antrag derAbgeordneten Harald Ebner, Bärbel Höhn,Renate Künast, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-tes über das Inverkehrbringen eines genetischveränderten, gegen bestimmte Lepidopteren
2001/18/EG des Europäischen Parlamentsund des RatesKOM(2013) 758 endg.; Ratsdok. 16120/13hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesKeine Zulassung der gentechnisch veränder-ten Maislinie 1507 für den Anbau in der EUDrucksachen 18/180, 18/397Berichterstattung:Abgeordnete Kees de VriesElvira Drobinski-WeißDr. Kirsten TackmannHarald EbnerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/397, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/180 abzuleh-nen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat namentli-che Abstimmung verlangt.Ich möchte schon jetzt darauf hinweisen, dass wir imAnschluss an die namentliche Abstimmung eine Reihevon Gremien wählen werden. Die geheime Wahl derMitglieder des Sondergremiums wird mit Stimmkartenund Wahlausweis erfolgen.Bevor wir in die Abstimmung eintreten, weise ichauch hier darauf hin, dass zur Abstimmung mehrere Er-klärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegen,die Sie dann dem Protokoll entnehmen können.1)Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze für die namentliche Abstim-mung einzunehmen.Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist derFall. Ich eröffne damit die Abstimmung über die Be-schlussempfehlung.Gibt es noch jemanden im Saal, der seine Stimmenicht abgegeben hat? – Dann bitte ich, das zu tun.Hat jemand seine Stimme noch nicht abgegeben? –Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstim-mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)1) Anlagen 3 bis 112) Ergebnis Seite 724 CWir kommen nun zu einer ganzen Reihe von Wahlenzu Gremien. Die Wahlen lassen wir per Handzeichen er-folgen, die letzte Wahl erfolgt dann geheim. Damit dasPräsidium den Überblick behalten kann, bitte ich alleKolleginnen und Kollegen darum, Platz zu nehmen.
Ich bitte auch die Kollegen an den Urnen, die Gesprächeentweder nach draußen zu verlegen oder sie einzustellenund Platz zu nehmen. Das wäre hilfreich, würde denÜberblick vereinfachen und die Geschäfte beschleuni-gen; denn wir müssen nun eine ganze Reihe von Wahlendurchführen.
– Der Fraktionsvorsitzende der Union freut sich, dass erden Glockenklang gehört hat.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 e bis 4 k auf.Tagesordnungspunkt 4 e:Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen Aus-schusses gemäß Artikel 53a des Grundgeset-zesDrucksache 18/370Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen derCDU/CSU, der Fraktion der SPD, der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/370 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Wer stimmt gegen diese Wahlvorschläge? –Ich sehe niemanden. Wer enthält sich? – Ich sehe keineEnthaltungen. Dann sind die Wahlvorschläge einstimmigmit der Zustimmung aller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 4 f:Wahl vom Deutschen Bundestag zu entsen-dender Mitglieder des Ausschusses nach Arti-
Drucksache 18/371Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen aufDrucksache 18/371 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Wer stimmt gegen diese Wahlvorschläge? –Niemand. Wer enthält sich? – Auch niemand. Dann sinddie Wahlvorschläge einstimmig so beschlossen.Tagesordnungspunkt 4 g:Wahl der Mitglieder des Wahlprüfungsaus-schusses gemäß § 3 Absatz 2 des Wahlprü-fungsgesetzesDrucksache 18/372Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen aufDrucksache 18/372 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Wer stimmt dagegen? – Keiner. Wer enthältsich? – Auch keiner. Dann sind die Wahlvorschläge ein-stimmig mit der Zustimmung aller Fraktionen so be-schlossen.
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Vizepräsident Peter Hintze
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Tagesordnungspunkt 4 h:Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäߧ 23c Absatz 8 des Zollfahndungsdienstgeset-zesDrucksache 18/373Wahlvorschläge aller vier Fraktionen liegen aufDrucksache 18/373 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer ent-hält sich? – Auch niemand. Dann sind die Wahlvor-schläge einstimmig mit der Zustimmung aller Fraktionenso beschlossen.Tagesordnungspunkt 4 i:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENEinsetzung eines Gremiums gemäß Artikel 13Absatz 6 des GrundgesetzesDrucksache 18/374Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäßArtikel 13 Absatz 6 des GrundgesetzesDrucksache 18/375Wir kommen zunächst zu dem gemeinsamen Antragaller Fraktionen auf Einsetzung des Gremiums aufDrucksache 18/374. Wer stimmt für diesen Antrag? –Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Keine. Dannist das einstimmig so beschlossen, das Gremium nachArt. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes eingesetzt und dieZahl der Mitglieder für dieses Gremium auf neun festge-legt.Zu dem eben eingesetzten Gremium liegen Wahlvor-schläge aller vier Fraktionen auf Drucksache 18/375 vor.Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? – Gegenstim-men? – Keine. Enthaltungen? – Auch keine. Dann istdieses Gremium einstimmig mit Zustimmung aller Frak-tionen so bestimmt.Tagesordnungspunkt 4 j:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENEinsetzung eines Gremiums gemäß § 10a desFinanzmarktstabilisierungsfondsgesetzesDrucksache 18/376Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäߧ 10a des Finanzmarktstabilisierungsfondsge-setzes sowie gemäß § 16 des Restrukturie-rungsfondsgesetzesDrucksache 18/377Wir kommen zuerst zu dem gemeinsamen Antrag al-ler Fraktionen auf Einsetzung des Gremiums auf Druck-sache 18/376. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Niemand. Wer enthält sich? – Niemand. Dann istdas einstimmig so beschlossen und das Gremium gemäߧ 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes ein-gesetzt.Wir kommen nun zur Wahl der Mitglieder. Werstimmt für die gemeinsamen Wahlvorschläge auf Druck-sache 18/377? – Wer stimmt dagegen? – Niemand. Werenthält sich? – Auch niemand. Die Wahlvorschläge sindeinstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 4 k:Wahl der Mitglieder des Sondergremiums ge-mäß § 3 des Stabilisierungsmechanismusge-setzesDrucksache 18/378Bei dieser Wahl handelt es sich um eine geheimeWahl. Hierzu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen aufDrucksache 18/378 vor.Ich bitte noch kurz um Aufmerksamkeit für einige er-forderliche Hinweise zum Wahlverfahren:Wir wählen jetzt gleich sieben ordentliche Mitgliedersowie sieben Stellvertreter. Gewählt ist, wer die Stim-men der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält.Für diese Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlaus-weis, den Sie bitte, soweit noch nicht geschehen, denStimmkartenfächern in der Lobby entnehmen. Weiterhinbenötigen Sie zwei unterschiedlich farbige Stimmkartensowie einen Wahlumschlag.Diese Unterlagen erhalten Sie von den Schriftführe-rinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen vorden Wahlkabinen. Zeigen Sie dort bitte Ihren Wahlaus-weis vor. Die blaue Stimmkarte ist für die Wahl der sie-ben ordentlichen Mitglieder, die rosafarbene Stimmkarteist für die Wahl der sieben stellvertretenden Mitglieder.Auf jeder der beiden Stimmkarten können Sie jeweilssieben Kreuze machen. Sie können bei jedem Kandida-ten „Ja“, „Nein“ oder „Enthalte mich“ ankreuzen. WennSie bei einem Namen mehr als ein Kreuz oder gar keinKreuz machen oder andere Namen als die der vorge-schlagenen Kandidaten oder Zusätze eintragen, ist dieseStimme ungültig.Die Wahl ist geheim, das heißt, Sie dürfen Ihre beidenStimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und müs-sen beide Stimmkarten ebenfalls noch in der Wahlkabinein den Umschlag stecken. Anderenfalls wäre die Stimm-abgabe ungültig. Die Wahl kann in diesem Fall vor-schriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführerinnenund Schriftführer werden darauf achten.Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen,müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne Ihrenblauen Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahl-ausweises dient als Nachweis für die Beteiligung an derWahl. Kontrollieren Sie bitte, ob der Wahlausweis tat-sächlich Ihren Namen trägt.Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist der Fall.Ich eröffne hiermit die Wahl.
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724 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Vizepräsident Peter Hintze
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage, ob alle Mit-glieder des Hauses, auch die Schriftführerinnen undSchriftführer, ihre Stimmkarten abgegeben haben. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das offensichtlich derFall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. DasErgebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1)Ich komme nun zur Bekanntgabe des von den Schrift-führerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnissesder namentlichen Abstimmung über die Beschluss-1) Ergebnis Seite 749 Aempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Land-wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten HaraldEbner, Bärbel Höhn, Renate Künast, Nicole Maisch undweiterer Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen mit dem Titel „Keine Zulassung der gentechnisch ver-änderten Maislinie 1507 für den Anbau in der EU – hier:Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäßArtikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes“, Drucksa-chen 18/180 und 18/397: abgegebene Stimmen 591. Fürdie Beschlussempfehlung des Ausschusses haben ge-stimmt 452, mit Nein haben gestimmt 121, enthalten ha-ben sich 18 Kolleginnen und Kollegen. Die Beschluss-empfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 590;davonja: 451nein: 121enthalten: 18JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. Andre BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannFritz GüntzlerDr. Herlind GundelachOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilMark HelfrichJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesAnette HübingerErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr. Franz Josef JungXaver JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerSilke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelUlrich PetzoldDr. Martin PätzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas Rachel
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Vizepräsident Peter Hintze
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Kerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeitePetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerDr. Ute Finckh-KrämerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseWolfgang GunkelMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Dr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenMahmut Özdemir
Aydan ÖzoguzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Bernd RützelAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothDr. Nina ScheerMarianne Schieder
Udo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsWolfgang TiefenseeCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte Zypries
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726 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Vizepräsident Peter Hintze
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NeinCDU/CSUJosef GöppelHubert HüppeMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzMartin PatzeltDIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DagdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. Andre HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatDr. Alexander S. NeuPetra PauRichard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerChristian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselDr. Julia VerlindenDoris WagnerDr. Valerie WilmsEnthaltenCDU/CSUFrank Heinrich
Charles M. HuberJohannes SelleSPDMarco BülowElvira Drobinski-WeißMichael GroßUli GrötschBettina HagedornGustav HerzogThomas HitschlerSteffen-Claudio LemmeKlaus MindrupDetlev PilgerStefan RebmannSusann RüthrichUrsula SchulteSonja SteffenWaltraud Wolff
Für die neuen Kollegen sei der informelle Hinweisgestattet, dass der Antrag damit abgelehnt ist. Wir habendie Besonderheit, dass wir bei Gesetzentwürfen immermit Ja, Nein oder Enthaltung über den jeweiligen Ge-setzentwurf abstimmen. Bei Anträgen stimmen wir aller-dings über die jeweilige Beschlussempfehlung ab. Indiesem Fall ist also die Beschlussempfehlung angenom-men und der Antrag damit abgelehnt. – So viel zur ge-meinsamen Information.Wir fahren fort mit Tagesordnungspunkt 1:Regierungserklärung durch die Bundeskanz-lerin
Wir kommen damit zum Themenbereich Arbeit undSoziales.Das Wort hat als Erste Frau Bundesministerin AndreaNahles.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Gleich zu Beginn des Jahres haben wir im Be-reich Arbeit und Soziales mit dem ersten Gesetzesvorha-ben der Bundesregierung deutlich gemacht, worum esuns in den nächsten vier Jahren geht: Deutschland ge-rechter zu machen. Im Rentenpaket ist unsere Grundbot-schaft beispielhaft angelegt: Wir wollen die Lebensleis-tung von Menschen besser anerkennen.
Diejenigen, die sich anstrengen, diejenigen, die hartarbeiten, diejenigen, die Kinder erzogen haben, sollenwissen: Ihr Einsatz lohnt sich. Er wird wertgeschätzt.Dafür unseren Respekt.
Wir halten Wort. Wir geben damit auch ein Signal desVertrauens und der Verlässlichkeit. Wir stehen zu dem,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 727
Bundesministerin Andrea Nahles
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was wir vor der Wahl gesagt haben, was die Menschenauch gewählt haben. Das setzen wir jetzt um,
und zwar eins zu eins.Ich habe mich in den letzten Tagen etwas darüber ge-wundert, wie überrascht einige – auch in den Medien –gewirkt haben, dass wir jetzt so schnell an die Umsetzungunserer Wahlversprechen herangehen. Ich beobachte aber,dass die Bürgerinnen und Bürger, die anrufen, die schrei-ben, die E-Mails schicken, das ganz anders sehen. Sieklopfen auf den Tisch und sagen: Jetzt macht aber auchdas, was ihr versprochen habt! – Ich kann diesen Bürge-rinnen und Bürgern einen ganz einfachen Satz sagen:Darauf können Sie sich verlassen!
Als ich vor einigen Tagen in meinem Dorf die Straßehochging, lief mir eine ältere Nachbarin noch ein Stückweit nach, fasste mich am Ellenbogen und sagte: Ichmöchte, Andrea, dass du das mit der Mütterrente auchwirklich durchkriegst. Das wäre was für Frauen wiemich. Das wäre wirklich ein Stück Anerkennung. – Wasmeinte meine Nachbarin mit „Frauen wie mich“? Sie hatihr ganzes Leben gearbeitet, Kinder großgezogen, aberArbeit im Beruf war nicht drin. Das ist eine sehr typischeBiografie vieler Frauen, gerade in Westdeutschland.Trotzdem hat sie natürlich ihr Soll geleistet. Und ihreKinder finanzieren heute unsere Rente. Entsprechendklein ist aber ihre eigene Rente ausgefallen. Deswegenwartet sie jetzt auf die Mütterrente im Rentenpaket. Diewird bei ihr auch ankommen und bei 9,5 Millionen ande-ren Müttern und einigen Vätern ebenfalls.
Frau Bundesministerin, es gibt den Wunsch des Kol-
legen Wunderlich von der Fraktion Die Linke nach einer
Zwischenfrage. Mögen Sie die zulassen?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Bitte, von mir aus!
Ist das jetzt ein Zulassen?
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Ministerin und Herr Präsident. –
Sie sprachen gerade von der alten Dame, die Sie auf der
Dorfstraße am Ellenbogen gefasst und sich quasi mit
Tränen in den Augen –
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:
So habe ich es nicht gesagt.
– für die Mütterrente bedankt hat, weil sie eine sehrgeringe Rente bezieht und sich jetzt auf die erhöhteRente freut. Es betrifft ja all die Frauen, die am 1. Julibereits in Rente sind. Sie sollen diesen Rentenpunktohne Prüfung erhalten. Bei allen anderen sollen erwor-bene Leistungen angerechnet werden, sodass unter demStrich bei manchen Müttern gar nichts ankommt.Was die Rentnerinnen mit einer geringen Rente an-geht, von denen Sie gerade gesprochen haben, ist es jaso, dass die ärmsten Rentnerinnen – zum Beispiel inNRW hat eine Rentnerin im Schnitt 480 Euro – sowiesoHilfe zum Lebensunterhalt bekommen. Das heißt, beimSockelbetrag plus Wohngeld oder Kosten der Unterkunftwird die Rente als Einkommen abgezogen. Das heißt imKlartext: Die geplante Aufstockung – pro Kind im Wes-ten 28 Euro, im Osten 26 Euro, round about – wird vonden Sozialleistungen abgezogen. Unter dem Strich sindProfiteure dieser Rente also letztlich die Finanzministe-rien, die nämlich die Kosten der Unterkunft sparen. Wassagen Sie denn dazu? So ist es auch in allen gängigenArtikeln in der Presse bundesweit zu lesen.Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Das ist im System unserer Rentenversicherung auchlogisch, weil Sozialhilfe oder Grundsicherung nachran-gig sind. Ich will Ihnen ehrlich sagen, dass wir hier nichteine Reform am System machen und dieses grundsätz-lich ändern, sondern eine Reform im System. 2,5 Pro-zent der Menschen in Deutschland, die über 65 Jahre altsind, sind in der Grundsicherung. Bei dieser begrenztenGruppe wird die Mütterrente mit dem, was diese Men-schen sonst an Hilfen des Staates bekommen, verrech-net. Das ist aus meiner Sicht richtig. Daran werden wirnichts ändern, auch nicht in diesem Gesetz.
Mit der Rente mit 63 in unserem Rentenpaket packenwir noch eine andere Gerechtigkeitslücke an: Anstren-gungen, langjährige Versicherungszeiten werden ausrei-chend wertgeschätzt. Es sind die Krankenschwestern– es geht also durchaus auch um Frauen –, die Fliesenle-ger, die ganz normalen Arbeitnehmer, die jahrzehntelangunser Rentensystem getragen haben. In Zeiten also, indenen der Arbeitsschutz noch in den Kinderschuhensteckte. Hier sage ich sehr klar: Die, die hart gearbeitethaben, bekommen jetzt die Chance, nach 45 Beitragsjah-ren ohne Abschläge in Rente zu gehen. Das ist nicht ge-schenkt, das ist verdient; davon bin ich fest überzeugt.
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Bundesministerin Andrea Nahles
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Wir haben an dieser Stelle auch sehr klar gesagt:Nicht immer verlaufen Erwerbsbiografien ohne Brüche.Die Zeiten des Bezuges von Schlechtwettergeld, Kurzar-beitergeld und Insolvenzgeld, das bei dramatischen Si-tuationen in Unternehmen gezahlt wird, sowie die Zeitenvon Kindererziehung, Pflege und kurzzeitiger Arbeitslo-sigkeit werden ebenfalls berücksichtigt.Die Punkte, die ich gerade aufgezählt habe, sind Be-standteil von ganz konkreten Erwerbsbiografien vielerMenschen in unserem Land. Dabei handelt es sich umMenschen, die zum Beispiel von den Strukturumbrüchenin Nordrhein-Westfalen betroffen waren. In vielen Re-gionen konnten sich die Menschen dem Strukturwandelnicht entziehen und haben ein oder zwei Jahre ge-braucht, um wieder in Arbeit zu kommen. Auch nach derWende hat es viele Menschen gegeben – sie stellen imÜbrigen die größte Gruppe dar –, die umschulen muss-ten, die einige Zeit brauchten, wieder Tritt zu fassen, unddeshalb wenige Jahre der Arbeitslosigkeit vorzuweisenhaben.Als weiteres Beispiel will ich ältere Arbeitnehmernennen – wer von uns kennt sie nicht aus den Bürger-sprechstunden? –, die mit 58 Jahren aus ihrem Betriebgedrängt wurden und dann, weil sie weiter arbeiten woll-ten, Hausmeister oder Pförtner geworden sind und dienun bis zum 63. Lebensjahr in diesem neuen Tätigkeits-feld arbeiten. All diese Menschen erfassen wir hier. Dasist gerechtfertigt. Ich bin froh, dass wir mit diesem Ge-setzentwurf die Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld Iund von Schlechtwettergeld sowie die anderen Zeiten,die ich vorhin genannt habe, berücksichtigen. Ich sageIhnen im Übrigen: Die überwiegende Anzahl derjenigen,die während ihres Arbeitslebens einmal von Arbeitslo-sigkeit betroffen waren, hat weniger als zwei Jahre Zei-ten der Arbeitslosigkeit vorzuweisen. Deswegen berück-sichtigen wir sie mit bei unserer Neuregelung.
Wir haben mit dem Rentenpaket einen guten Auf-schlag gemacht, das ist bei weitem noch nicht alles, waswir uns vorgenommen haben. Es stehen noch viel mehrPunkte auf der Liste. Deswegen werden wir schon in dennächsten Wochen ein weiteres Paket schnüren, nämlichdas Tarifpaket. Dieses Paket zielt auf die Lebens- undArbeitswirklichkeit von Millionen Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern ab. Zielgruppe sind diejenigen, dieeiner Arbeit nachgehen, die nicht mehr unter dem Dachvon Tarifverträgen geregelt ist. Manchmal kann man esdem Monatslohn nicht ansehen, dass jemand nicht mehrin einem tariflich abgesicherten Bereich arbeitet. Mansieht es aber an anderen relevanten Punkten wie Ur-laubsgeld, Weihnachtsgeld, Urlaubszeiten sowie sozia-len Leistungen.Mir hat vor wenigen Tagen ein Handwerker aus mei-nem Wahlkreis gesagt, dass die Konkurrenten ihn beiAufträgen regelmäßig unterbieten können, weil sie nichtmehr tariflich entlohnen. Auch das ist ungerecht, weildieser Umstand einen unfairen Wettbewerb für diejeni-gen Arbeitgeber darstellt, die ihre Leute noch anständigtariflich bezahlen. Auch deswegen müssen wir aus mei-ner Sicht für mehr Tarifsicherheit sorgen.
Wir haben im Koalitionsvertrag sehr klar gesagt: Wirwollen die Sozialpartnerschaft und die Tarifbindungstärken. Das werden wir tun, indem wir die Allgemein-verbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verbessernund erleichtern.
Dabei soll das öffentliche Interesse im Mittelpunkt ste-hen. Was bedeutet es, wenn wir dieses Ziel am Endedurchsetzen? Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer werden dann wieder unter dem Dach von Tarifver-trägen arbeiten können. Viele Unternehmer werden in ei-nem faireren Wettbewerb stehen, und vieles, was sonstder Staat regeln müsste, können die Tarifpartner wiederselbst aushandeln. Auch das ist ein Ziel, welches ich fürrichtig erachte.Die Kultur der Partnerschaft, die Kultur der Verabre-dungen hat sich bei uns gerade in der Krise bewährt.Dies ist das eigentliche Geheimnis unseres Erfolges.Viele Länder schauen auf Deutschland und fragen sich,warum wir es geschafft haben, besser durch die Krise zukommen als andere. Deswegen sagen wir klipp und klar:Diese Stärke wollen wir mit diesem Tarifpaket in dennächsten Wochen und Monaten weiter ausbauen.
Dazu zählt im Übrigen die Erweiterung des Arbeit-nehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen. Das giltdann sowohl für inländische als auch für ausländischeArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Hier sollen Min-destlöhne verbindlich festgeschrieben werden. Wir wer-den mit der Fleischbranche vorangehen, in der jetzt einAbschluss erreicht wurde, den wir gerne flankieren wol-len.Natürlich ist in diesem Paket auch der Mindestlohnenthalten. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von8,50 Euro für alle Arbeitnehmer in Ost wie in West, inallen Branchen ohne Ausnahme, schafft eine wirksameBarriere gegen Lohndumping. Davon bin ich fest über-zeugt.
Auch das Prinzip der Tarifeinheit wollen wir noch indiesem Jahr gesetzlich absichern. Das Gesamtpaketwird, wie gesagt, noch vor der Sommerpause die parla-mentarische Beratung erreichen.Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ist ein anderer Punkt,den wir uns vorgenommen haben. Dabei geht es uns umdie Bekämpfung von Missbrauch, insbesondere beiWerkverträgen. Im Gegensatz zu dem, was ich gesternvon der Opposition gehört habe, glaube ich sehr wohl,dass eine gute Kombination aus Informationspflicht, we-sentlich besserer Kontrolle und präziserer Unterschei-
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dung, was Werkverträge und was Scheinwerkverträgesind, was Scheinselbstständigkeit und was Selbststän-digkeit ist, wirksam ist und dem Unwesen, das es imWerksvertragsbereich gibt, einen Riegel vorschiebenwird.
Wir werden in diesem Zusammenhang auch die Frageder Leiharbeit regeln.Eines der größeren Gesetzespakete dieser Legislatur-periode betrifft das Thema Inklusion. Zum ersten Malüberhaupt habe ich grade eine junge Frau mit Behinde-rung als Behindertenbeauftragte der Bundesregierungberufen: Verena Bentele.
Das ist eine klare Ansage von mir: Wir wollen nichtmehr nur über Inklusion reden, sondern Inklusion kon-kret machen. Das ist der entscheidende Punkt.
Wir wollen in dieser Legislaturperiode gemeinsameine Menge bewegen. Mit dem Teilhabegesetz wird eszum ersten Mal in einem Bundesgesetz konkret auch fi-nanzielle Regelungen geben. Ein so grundlegend neuesGesetz macht man als Arbeitsministerin übrigens nichtalle Tage. Hier empfehle ich uns allen: Gründlichkeitgeht vor Schnelligkeit. Ich weiß, dass ganz viele Behin-dertenverbände mit großer Spannung und Freude daraufwarten. Wir werden in diesem Jahr mit der Arbeit an die-sem Gesetz beginnen, alle anhören und Beteiligung or-ganisieren. Aber die Umsetzung braucht eine Weile,wenn sie gut sein soll, damit es für die behinderten Men-schen in unserem Land ein Erfolg wird.
Unsere Wirtschaft braucht die Fähigkeit aller. Ange-sichts der zunehmenden Unsicherheit in Bezug auf Fach-kräfte – Fachkräftemangel ist in der Region, aus der ichkomme, längst angekommen; mit Arbeitslosenzahlenvon 4 bis 5 Prozent in meiner Region ist dies faktisch einständiges Thema, wenn ich mit Unternehmern rede –soll dies ein Schwerpunktthema für die gesamten vierJahre sein. Das ist eine Aufgabe, die auch über diese Le-gislaturperiode hinaus bestehen bleiben wird.In dieser Legislaturperiode wollen wir uns ganz be-sonders bemühen, den Gesundheits- und Arbeitsschutzim Betrieb voranzutreiben. Die Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf ist ein wichtiges Thema. Dazu gehört auchdie Frage, wie Frauen aus der Teilzeitfalle herauskom-men. Vor allem wird es aber auch um das Problem derLangzeitarbeitslosigkeit gehen. Hier haben wir, mit Ver-laub, vieles versucht. Es sind auch viele gute Ansätzevorhanden. Aber den Stein der Weisen haben wir wahr-scheinlich immer noch nicht gefunden. Deswegen binich sehr froh, dass wir über ESF-Mittel wieder die Mög-lichkeit haben, gute Programme aufzulegen und Wege zusuchen, wie wir diesem Problem nachhaltig entgegentre-ten können.Lassen Sie mich zum Schluss auch die jungen Men-schen erwähnen. Ich bin sehr beeindruckt von neuen An-sätzen, wie beispielsweise der Jugendberufsagentur inHamburg. Das halte ich für vorbildlich. Das würde ichgerne an anderen Stellen überall in Deutschland auch se-hen. Ich möchte, dass wir mehr investieren als bisher ineine zweite Chance – gerade für junge Leute –, wenn esum das Nachholen von Schulabschlüssen und Berufsab-schlüssen geht. Meine Kollegin Frau Wanka und ich sinduns darin einig. Das werden wir gemeinsam anpacken.Natürlich sollen auch Menschen mit Migrationshinter-grund dabei nicht aus den Augen verloren werden.
Zum Abschluss. Nur wenn wir es schaffen, der ArbeitWert und Würde zurückzugeben, werden wir eine starkeund erfolgreiche Wirtschaftsnation bleiben. Davon binich fest überzeugt. Tarifpartnerschaft, gute Arbeit, ge-rechte Löhne, mehr Chancen und soziale Sicherheit, dasist die Grundbotschaft dieser Bundesregierung für dienächsten vier Jahre. Wir stehen bei den Menschen imWort – das Wort wollen wir halten –, dass es in Deutsch-land gerechter zugeht.Vielen Dank.
Als Nächste hat das Wort unsere Kollegin Katja
Kipping, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach ei-nem langen Arbeitsleben muss es tatsächlich die Mög-lichkeit geben, ohne Abschläge früher in Rente zu ge-hen. Diese Forderung der Gewerkschaften unterstütztauch die Linke mit aller Energie.
Für das, was gegenwärtig von der Bundesregierung un-ter dem Stichwort „Rente ab 63“ verhandelt wird, be-kommt die Bundesregierung aber zu Recht den Preis fürden besten Etikettenschwindel des Jahres.
Denn nur ein Geburtsjahrgang kommt tatsächlich in denGenuss, nach 45 Arbeitsjahren mit 63 Jahren und 0 Mo-naten abschlagsfrei in Rente gehen zu können. Die nach-folgenden Jahrgänge müssen länger arbeiten – je spätersie geboren wurden, desto länger.All diejenigen, die nach 1964 geboren wurden, alsofaktisch alle unter 50-Jährigen in diesem Land, sinddurch die jetzigen Regelungen gleich dreimal gekniffen:Erstens. Laut den Plänen aus dem Hause Nahles giltdie Möglichkeit, nach 45 Jahren abschlagsfrei in Rentezu gehen, nur für die Jahrgänge, die vor 1964 geboren
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Katja Kipping
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wurden. Das heißt, in diesen Sondergenuss kommen dieunter 50-Jährigen nicht.Zweitens. Die unter 50-Jährigen werden voraussicht-lich nach dem Jahr 2030 in Rente gehen. Genau ab demJahr 2030 greift aber die Rente erst ab 67 in vollem Um-fang. Das heißt, die unter 50-Jährigen in diesem Landmüssen deutlich länger arbeiten, mindestens bis 67.
Drittens. Laut geltendem Rentenrecht kann das Ren-tenniveau bis zum Jahr 2030 auf bis zu 43 Prozent sin-ken. Das heißt, die unter 50-Jährigen in diesem Landmüssen damit rechnen, dass ihre Rente irgendwo in derNähe von 43 Prozent landet.Wissen Sie, ich bin sehr zurückhaltend und skeptisch,wenn bei rentenpolitischen Maßnahmen immer gleichder Vorwurf kommt, das sei nicht generationengerecht.Aber hier muss man schon mal unter dem Strich festhal-ten: Der jetzige Gesetzentwurf spielt Alte gegen Jungeaus. Die unter 50-Jährigen müssen länger arbeiten, er-warten eine niedrigere Rente und müssen für die Älterenauch noch mit ihren jetzigen Rentenbeiträgen bezahlen.Ich finde, das ist weder sozial noch generationengerecht.Deswegen sage ich: Wir brauchen hier ganz klar eineRentengarantie, die das heilen kann, eine Rentengaran-tie, die absichert, dass das Rentenniveau nicht unter dasjetzige Niveau sinkt. Das wäre ein Weg, den früherenRenteneinstieg generationengerecht zu gestalten. Davonprofitieren dann Jung und Alt in diesem Land.
Wer sich von dieser Regierung Verbesserungen imBereich Hartz IV erhofft hat, wurde enttäuscht. Das zeigtein Blick in den Koalitionsvertrag. Dort gibt es stattdes-sen einen Verweis auf eine Bund-Länder-Arbeitsgemein-schaft. Das klingt erst mal ganz harmlos. Es wird umVerwaltungsverbesserungen gehen. In der Tat werden indieser Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft ein paar ver-fahrenstechnische Verbesserungen diskutiert. Aber vorallen Dingen gibt es dort eine Giftliste von Vorschlägen.Ich möchte nur drei Beispiele von vielen wiedergeben:Erstens wird dort unter anderem vorgeschlagen, eineStrafgebühr von 20 Euro für Leute einzuführen, die ein-fach nur einen Widerspruch einreichen wollen.Zweitens wird dort vorgeschlagen, dass Selbststän-dige, die auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen ange-wiesen sind, die Aufstockungsleistungen nur noch zweiJahre lang bekommen sollen.Die Krönung ist aber, wie ich finde, der folgende Vor-schlag. Heute gibt es die Regelung: Alleinerziehendenwird ein Mehrbedarf zugestanden – aus gutem Grund;denn Ein-Eltern-Familien stehen in diesem Land vor be-sonderen Herausforderungen. Nun wird dort vorgeschla-gen – zugegebenermaßen gibt es noch keinen Konsens –,genau diesen Mehrbedarf zu streichen, wenn keine Er-werbstätigkeit vorliegt. Dazu sage ich: Versetzen Siesich mal in die Situation eines alleinerziehenden Vaters,einer alleinerziehenden Mutter. Dies würde sie sehr tref-fen: Je nach Alter der Kinder würde dies 140 bis230 Euro weniger bedeuten. Und wir reden hier vonMenschen, die ohnehin wenig haben.Deswegen, Frau Nahles, fordere ich Sie auf: SorgenSie dafür, dass keiner dieser Vorschläge umgesetzt wird!Kassieren Sie diese sozialpolitische Giftliste, und sorgenSie dafür, dass Ein-Eltern-Familien nicht zur Melkkuheiner verfehlten Steuerpolitik werden.
Vor dem Hintergrund der Vorschläge dieser Arbeits-gemeinschaft finde ich den Erfolg der Massenpetitionder mutigen Hartz-IV-Rebellin Inge Hannemann gegenHartz-IV-Sanktionen besonders wichtig. Die Linke wirddiese Forderung aufgreifen. Wir werden uns dafür ein-setzen, dass Sanktionen gegen Hartz-IV-Missbrauchwieder abgeschafft werden; denn wir meinen: Grund-rechte gehören nicht gekürzt.
Abschließend möchte ich in aller Kürze noch auf einsehr brisantes Thema eingehen. Die Bundeskanzlerin hatgestern vor der – ich zitiere – „faktischen Einwanderungin die Sozialsysteme“ gewarnt. Sie sagte: Wir dürfen dieAugen nicht vor einem möglichen Missbrauch der Freizü-gigkeit verschließen. – Ich würde sagen, das ist die etwasvornehmere Variante der CSU-Hetze: „Wer betrügt, derfliegt.“Das Empörende an den Äußerungen von Frau Merkelist, dass es gerade der Kurs der Austerität, also der Kursdes Kürzungsdiktates ist, der das Elend, die Not und dieArmut in anderen Ländern vorangetrieben hat. DieserKurs wurde in Europa durch die Troika und durchMerkel vorangebracht.Es gibt ein vernünftiges Mittel dagegen, dass Men-schen aus lauter Not und Armut ihre Heimat verlassen:Man müsste innerhalb der Europäischen Union durchset-zen, dass es in jedem Land das Recht auf ein Min-desteinkommen, auf eine Mindestrente und einen Min-destlohn gibt. Dann müsste niemand mehr sein Land auslauter Armut verlassen.Wenn man es ernst meint, dann findet man auch eineMöglichkeit, sich europaweit für die genannten Lö-sungen einzusetzen. Ich fordere Frau Merkel auf: WennSie wirklich keine Armutsmigration in der EU wollen,dann setzen Sie sich ein für eine Europäische Union dersozialen Rechte und machen Sie Schluss mit dem Kursder Sozialkürzung und Schluss mit dem Kurs des Kür-zungsdiktats.
Das Wort hat jetzt der Kollege Schiewerling von derCSU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Deutschlands Zukunft gestalten“ – das ist der Titel des
Koalitionsvertrags. Er zeigt, dass sich die Koalition ge-
rade der großen Herausforderungen im Bereich der Ar-
beitsmarkt- und Sozialpolitik verantwortungsvoll an-
nimmt.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns auf gemeinsame
Ziele und Projekte geeinigt, die nun angepackt und um-
gesetzt werden: für mehr Arbeit, für mehr sichere Arbeit,
für mehr Wohlstand, für mehr gesellschaftliche Teilhabe
und Zusammenhalt. Das, was wir an Gerechtigkeit in un-
serem Land haben, wollen wir weiter sichern, weiterent-
wickeln und weiter stärken. Das sind die großen Ziele
der Großen Koalition. Das ist der Aufgabenkatalog für
die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Die Ausgangslage ist denkbar gut. Die Zahl der so-
zialversicherungspflichtig Beschäftigten ist hoch. Vor
zehn Jahren wurde hier im Hohen Haus über mehr als
5 Millionen Arbeitslose ohne jegliche Perspektive, wie
es weitergehen könnte, diskutiert. Heute diskutieren wir
über Fachkräftemangel. Ich sage Ihnen: Ich diskutiere
lieber über Fachkräftemangel als über Arbeitslosigkeit.
Wir haben hohe Rücklagen im System der sozialen Si-
cherung.
Wichtig ist auch: Wir haben eine hohe wirtschaftliche
Prosperität, ohne die wir keine erfolgreiche Sozial- und
Arbeitsmarktpolitik betreiben könnten.
Der erfolgreiche Weg der letzten Jahre unter Führung
von Angela Merkel wird jetzt fortgesetzt. Die gute Aus-
gangslage, die wir jetzt haben, darf nicht aufs Spiel ge-
setzt werden. Die Lebensverhältnisse der Menschen, der
Familien in Deutschland, müssen weiter verbessert wer-
den, indem wir uns an ihren Situationen und Bedürfnis-
sen orientieren. Menschen, Familien brauchen Sicher-
heit, einen sicheren Arbeitsplatz sowie feste Zeiten und
Räume für sich.
Wir können die Ziele „mehr gute Arbeit, Wohlstand
und Zusammenarbeit“ erreichen. Die Union orientiert
sich dabei an den Prinzipien der christlichen Soziallehre:
Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltig-
keit. Diese Prinzipien sind übrigens unserer Verfassung
zugrunde gelegt und sichern die Entfaltung von Eigen-
verantwortung und Freiheit. Das Basieren auf diesen
Grundprinzipien macht sich gerade im Sozialrecht deut-
lich bemerkbar.
Wir diskutieren über das Rentenpaket, das die Bun-
desarbeitsministerin in einem, wie ich finde, beachtli-
chen Tempo auf den Weg gebracht hat.
Wir diskutieren dabei über die Frage der Solidarität. Wir
führen eine kontroverse Debatte über die Mütterrente
und die Rente mit 63. Ich kann nur sagen, dass auch ich
mich in der Tat sehr über die Diskussionen gewundert
habe, die wir zurzeit in Deutschland erleben. Ich habe
mich gewundert, mit welcher Weltuntergangsstimmung
das Ende der Marktwirtschaft und das Ende der Prospe-
rität vorhergesagt werden. Ich kann mich darüber nur
wundern. In dem Wahlprogramm von CDU und CSU
steht seit einem Dreivierteljahr, dass wir die Mütterrente
haben wollen, dass sie 6,5 Milliarden Euro kostet, dass
wir sie anfangs aus den Rücklagen finanzieren wollen, in
die über 10 Milliarden Euro Steuermittel geflossen sind.
Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir wollen, dass
der Steuerzuschuss zur Rentenversicherung weiter auf-
wächst, damit wir die Mütterrente eines Tages gänzlich
aus Steuern finanzieren können. Wir haben gesagt, dass
wir das machen wollen, weil es um Gerechtigkeit geht,
und zwar um Gerechtigkeit zwischen den Müttern, die
vor 1992 Kinder geboren und dafür 1 Rentenpunkt be-
kommen haben, und den Müttern, die ab 1992 Kinder
geboren und dafür 3 Rentenpunkte bekommen haben. Es
geht noch um eine andere Gerechtigkeitsfrage: Dass es
uns heute in Deutschland wirtschaftlich gut geht, ver-
danken wir dieser Generation von Frauen und Männern,
die Kinder geboren und so erzogen haben, dass sie zu le-
benstüchtigen Menschen wurden. Ohnedem hätten wir
heute den Wohlstand nicht.
Das bringt mich zu einer Grundsatzdebatte. Renten-
politik bezieht sich in erster Linie auf die Rentenversi-
cherung. In die Rentenversicherung zahle ich ein und er-
werbe Ansprüche. Gut, Sie werden sagen: Das habe ich
im Bereich der Lebensversicherung auch. – Ja, aber die
Rentenversicherung ist eine Solidarversicherung, weil
darüber auch andere Fährnisse des Lebens abgesichert
werden. Zum Beispiel werden Rehabilitationsleistungen
bezahlt, und es wird anerkannt, dass Frauen, die zur Er-
ziehung von Kindern zu Hause geblieben sind, nicht faul
waren, sondern ihren Auftrag wahrgenommen haben.
Deswegen erhalten sie möglicherweise am Ende der Zeit
eine abgeleitete Witwenrente. Die Kindererziehungs-
zeiten werden berücksichtigt, weil wir wissen, dass die
Rentenversicherung ohne Kinder keine Perspektive hat.
Herr Kollege?
Nein. – Um dieses System zu sichern, brauchen wirKinder. Sonst gibt es nicht nur keine Zukunft für die So-zialversicherung, sondern auch keine Zukunft für unserLand.
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Karl Schiewerling
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Deswegen wollen wir diesen Bereich fördern und unter-stützen.Die Rente mit 67 ist auf Grundlage derselben Prinzi-pien des Sozialversicherungssystems eingeführt worden.Die Menschen, die 1961 in Rente gegangen sind, hattengerade noch sechs oder sieben Jahre zu leben. Men-schen, die heute in Rente gehen, haben eine Perspektivevon 18 bis 19 Jahren, weil sie entsprechend länger leben.Deswegen ist die Rente mit 67 eingeführt worden. Dashat etwas mit Solidarität und mit Anerkennung der Rea-lität eines Sozialversicherungssystems zu tun.
Deswegen wollen wir die Rente mit 67 erhalten.Wir begrüßen in diesem Zusammenhang ausdrück-lich, dass wir in dem damaligen Gesetz festgelegt haben,dass man nach 45 Beitragsjahren mit 65 Jahren in Rentegehen kann. Das wird nun für einen bestimmten Zeit-raum vorgezogen auf 45 Beitragsjahre und 63 Jahre. DieBundesarbeitsministerin hat das, wie ich finde, nachvoll-ziehbar damit begründet, dass es nach der Wende insbe-sondere in den neuen Ländern bei vielen Menschen zuBrüchen in der Erwerbsbiografie gekommen ist und wirin der Krise erlebt haben, dass viele Menschen unver-schuldet arbeitslos geworden sind. Dies wird jetzt für ei-nen befristeten Zeitraum berücksichtigt. Die langfristigePerspektive ist aber die Rente mit 65 Jahren und 45 Bei-tragsjahren. Wir wollen sie erhalten, um auf dieserGrundlage in Zukunft Politik gestalten zu können.Ich sage Ihnen genauso deutlich Folgendes: Ein gro-ßes Problem in Deutschland ist, dass die Sozialversiche-rungssysteme zunehmend mit dem System der Sozialhilfedurcheinandergeworfen werden. Die Bundesarbeitsministe-rin hat recht, wenn sie sagt, dass die Anerkennung von Kin-dererziehungszeiten verdient ist. Ich kann nur davor war-nen, diese Systeme miteinander zu vermischen.Sozialhilfe zahlen wir denjenigen, die keine eigenen An-sprüche erworben haben, aber in ihrer jeweiligen Not-lage ein Recht auf Unterstützung haben. Diese beidenSysteme müssen wir auseinanderhalten. Je mehr wir siemiteinander vermischen, umso weniger wird den Men-schen klar, dass dieser Sozialstaat nur auf der Basis vonEigenverantwortung und Eigeninitiative der Menschenfunktionieren kann. Der Sozialstaat kann nur funktionie-ren, wenn man selbst seinen Beitrag für die Gesellschaftleistet, in die Sozialversicherung einzahlt, wenn man dastut, was man kann. Dann hat man auch ein Anrecht da-rauf, von unserer Gesellschaft unterstützt zu werden.
Nach diesem Prinzip der Solidarität und der Subsidia-rität organisieren wir die Dinge, die wir uns jetzt ge-meinsam vorgenommen haben. Hinsichtlich des Min-destlohns teile ich ausdrücklich die Auffassung, dass esauch um Fairness am Arbeitsmarkt geht. Es ist okay,dass wir ihn einführen. Wir haben jetzt vereinbart, dasswir am 1. Januar 2015 mit 8,50 Euro einsteigen. Wirwerden miteinander noch weiter bereden, wie die Dingeim Detail zu organisieren sind. Dabei geht es beim Min-destlohn – so habe ich immer alle Beteiligten verstanden –darum, dass man von seinem Lohn leben können muss;dies müssen wir entsprechend organisieren.Wir haben auch vereinbart, dass es Aufgabe der Tarif-partner sein wird, festzulegen, wie sich das Ganze in Zu-kunft entwickelt. Denn nicht der Staat kennt sich in die-sen Fragen aus, sondern die Tarifpartner. Das hat mitSubsidiarität in unserem Land zu tun.
Das hat auch zutiefst mit den Grundzügen unserer christ-lichen Gesellschaftslehre zu tun. Ich bin der Arbeitsmi-nisterin ausdrücklich dankbar, dass sie auf diese Zusam-menhänge der Tarifpartnerschaft und der Tarifautonomienoch einmal nachdrücklich hingewiesen hat.Auch der Union ist völlig klar, dass der Markt keinSelbstzweck ist. Die Wirtschaft hat vielmehr den Men-schen zu dienen. Das sagen nicht wir, das ist grundgelegtim christlichen Menschenbild. Aber auch die Rahmen-bedingungen, die wirtschaftlichen Bedingungen müssenso gestaltet sein, dass man dann von seiner Arbeit lebenkann. Deswegen geht es auch immer um Interessenaus-gleich.Ich glaube, dass wir mit diesem Koalitionsvertrag undmit dem, was wir uns vorgenommen haben, in dennächsten vier Jahren die Weichen für eine gute Entwick-lung stellen können und stellen werden und dass es denMenschen in vier Jahren in diesem Land besser gehenwird als jetzt, und zwar allen. Das ist unser erklärtesZiel. Dafür treten wir an. Deswegen werden wir als Ko-alition in diesem Bereich intensiv, gut und sicherlichauch erfolgreich zusammenarbeiten.
Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt die Kollegin Kipping.
Herr Schiewerling, Sie haben ja mit sehr viel Leiden-schaft für die Gleichstellung der Menschen geworben,die vor 1992 Kinder geboren und großgezogen haben.Dieses Ziel teile nicht nur ich, sondern meine gesamtePartei. Sie erinnern sich sicherlich, dass wir schon voreinigen Jahren dementsprechende Anträge gestellt ha-ben. Leider wurden diese damals von allen MitgliedernIhrer Fraktion abgelehnt. Aber ich freue mich sehr überIhren Sinneswandel bei diesem Thema.Ich habe nun aber auch eine Frage. Leider ist es ja im-mer noch so, dass Frauen, die Kinder vor 1992 geborenhaben, nur 2 Entgeltpunkte angerechnet bekommen sol-len, währenddessen Frauen, die nach 1992 Kinder gebo-ren haben, 3 Entgeltpunkte angerechnet bekommen.
2 ist nicht dasselbe wie 3. Deswegen frage ich, wie Siesich diesen Unterschied erklären. Gehen Sie etwa davon
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Katja Kipping
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aus, dass es vor 1992 leichter war, Kinder großzuziehen,als es heute der Fall ist?
Herr Kollege Schiewerling.
Frau Kollegin Kipping, wir haben Ihre Anträge da-
mals abgelehnt, weil sie mit der gleichen geistigen Inten-
tion gestellt waren wie die Frage, die Sie gerade an mich
gerichtet haben.
Es ging Ihnen nicht um die Sache. Sie wissen genau, un-
ter welchen Bedingungen, auch unter welchen finanziel-
len Bedingungen wir Rentenpolitik zu gestalten haben.
Wir haben Ihre Anträge damals auch deswegen abge-
lehnt, weil unsere Fraktion längst auf dem Weg war,
diese Dinge selbst nach vorne zu bringen.
Wir können aus rein finanziellen Gründen zunächst
nur einen weiteren Rentenpunkt anrechnen.
Ich habe allen Müttern, allen Frauen, die uns bzw. mir
geschrieben haben, geantwortet: Ich bin dafür, dass wir
die Mütterrente einführen und einen Entgeltpunkt mehr
anrechnen, aber diese Rente muss bezahlt werden von
der Generation der Kinder und der Enkelkinder,
die von euch geboren und erzogen worden sind. – Da ich
innerfamiliären Ausgleich sehr gut kenne, weiß ich, dass
das Geld ihnen am Ende der Tage wieder zugutekommt.
Aber der entscheidende Punkt ist, dass wir hier den Ein-
stieg vollzogen haben.
Ich sage aber auch allen Beteiligten in aller Klarheit:
Wer mehr verspricht, lügt den Menschen etwas vor. Wir
werden es in den nächsten Jahren nicht finanzieren kön-
nen,
und wir müssen dies in aller Klarheit und aller Deutlich-
keit sagen. Deswegen spreche ich auch nicht davon, dass
wir die Gerechtigkeitslücke schließen, sondern dass wir
sie verkleinern. Ich sage allerdings zu, dass wir versu-
chen werden, diese Frage auf Dauer zu klären, nur ver-
sprechen können wir im Gegensatz zu den Linken
nichts.
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der
Kollege Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Große Koalition verlegt sich in der Rentende-batte jetzt zunehmend auf das Moralisieren statt aufsArgumentieren. Sigmar Gabriel spricht davon, die Ein-führung der Rente mit 63 und der Mütterrente sei eineFrage des Anstands.
Im Umkehrschluss unterstellen Sie dann natürlich denKritikern des Rentenpakets, sie seien unanständig. Ichwill hier für alle Mitglieder meiner Fraktion einmal einesklarstellen: Wir haben den allergrößten Respekt vor den-jenigen, die 45 Jahre lang harte Arbeit geleistet haben.
Ich habe den größten Respekt vor Menschen, die hart ar-beiten. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Ich habemir mein Studium durch Arbeit in der häuslichen Alten-pflege und im Altersheim weitgehend selbst finanziert.Gerade weil ich das kenne, muss ich die Rente mit 63 alseher unanständig kritisieren. Denn die dort beschäftigtenFrauen – in der Pflege arbeiten überwiegend Frauen –kommen überhaupt nicht auf 45 Beitragsjahre, genausowenig wie der Bauarbeiter, der mit Ende 50 aus gesund-heitlichen Grünen aus dem Arbeitsleben ausscheidenund Erwerbsminderungsrente beantragen muss. Auchder prekär beschäftigte Lagerarbeiter, der, statt eine so-zialversicherungspflichtige Beschäftigung auszuüben,unfreiwillig in Scheinwerkverträge gedrängt wird,kommt nicht auf 45 Beitragsjahre, auch nicht die Nach-wuchsjournalistin, die nur auf Honorarbasis arbeitenkann.Leisten all diese arbeitenden Menschen keine harteArbeit? Muss man vor deren Leistung nicht auch Res-pekt haben? Sie werden aber nichts von der Rente mit 63haben. Im Gegenteil: Sie werden diese über ihre Bei-träge mitfinanzieren und später ein zweites Mal über dasniedrigere Rentenniveau. Ist das anständig?
Wir halten es für anständig, Rentenabschläge für die-jenigen aufzuheben, die aus gesundheitlichen Gründenfrüher in den Ruhestand gehen müssen. Die sogenanntenErwerbsminderungsrentner – das ist inzwischen jederZweite, der vorzeitig in Rente geht – haben sich den vor-zeitigen Renteneintritt nicht aussuchen können. Nachunserem Verständnis von Sozialpolitik gilt es, dort ein-zugreifen, wo der größte Handlungsbedarf besteht. Inden Haushalten von Erwerbsminderungsrentnerinnenund -rentnern liegt die Armutsquote bei 37 Prozent. Dasmüssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Nach unseremVerständnis von Sozialpolitik kann es auch nicht darumgehen, eine einzelne Gruppe zu begünstigen oder besser-zustellen, sondern es muss darum gehen, tragfähige Lö-sungen für alle zu erarbeiten.
Wer erreichen will, dass die Rente mit 67 keine ver-kappte Rentenkürzung darstellt, muss flexible Über-
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Markus Kurth
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gänge in die Rente für alle ermöglichen, die darauf ange-wiesen sind, egal ob sie 35, 40 oder 45 Jahre gearbeitethaben.
Der Bezug einer Teilrente bei reduzierter Arbeitszeitwäre zum Beispiel eine solche Möglichkeit, die wir wei-terverfolgen werden. Zur Flankierung der Rente mit 67braucht es nämlich mehr altersgerechte Arbeitsplätze,bessere betriebliche Gesundheitsförderung und eine Hu-manisierung der Arbeitswelt – zum Beispiel über eineAntistressverordnung, Frau Nahles.
Zurück zum Anstand. Es ist aus unserer Sicht voll-kommen nachvollziehbar, die unbezahlte Erziehungsar-beit unserer Großmütter und Mütter finanziell anzuer-kennen und ihnen zumindest symbolisch über eineRentenerhöhung – einen zusätzlichen Entgeltpunkt – et-was von dem wiederzugeben, was sie in all den Jahrengeleistet haben.Wir sagen – auch in unserem Wahlprogramm –: Das– die unterschiedliche Bewertung der Kindererziehungs-zeiten – ist ungerecht. Auch wenn dieses Thema für unsnicht die oberste Priorität gehabt hätte, können wir nach-vollziehen, dass man hier etwas machen will. Aber nichtalle Kinder dieser Mütter, Herr Schiewerling, zahlenheute Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherungein. Viele von ihnen sind über Versorgungswerke abgesi-chert – Ärzte, Apotheker, Architekten, Rechtsanwälte –,andere sind Beamte, Richter, einige auch Bundestagsab-geordnete. Meine Mutter wird von der Mütterrente profi-tieren, und ich würde gerne über einen höheren Einkom-mensteuersatz mein Scherflein dazu beitragen.
Zahlen wird die Mütterrente für meine Mutter aber dieVerkäuferin, die 1 500 Euro brutto bekommt.
Ist das anständig? Nein. Diese Große Koalition geht mitihren Rentenplänen an den wirklich wichtigen Fragender Alterssicherung vorbei: wenig zu altersgerechten Ar-beitsbedingungen, kein Programm gegen Altersarmutund keine gerechte und solide Finanzierung, stattdessenteure Symbolpolitik.Vielen Dank.
Nächste Rednerin in der Debatte ist Carola Reimann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir habenuns für die kommenden Wochen und Monate viel vorge-nommen. Starten werden wir mit dem erst gestern imKabinett beschlossenen Rentenpaket. Da wir jetzt schonin so kurzer Zeit Arbeits- und Betriebstemperatur er-reicht haben, werden wir noch in diesem Jahr weiterewichtige Projekte, gerade im Bereich Arbeit, auf denWeg bringen. Zentrale Beschlüsse aus dem Koalitions-vertrag werden wir konsequent Schritt für Schritt umset-zen.Unser Ziel ist dabei klar: Wir wollen einen Arbeits-markt, auf dem der Wert der Arbeit geschätzt wird, derAufstiegsmöglichkeiten bietet und bei dem die Men-schen Leben und Arbeit gut miteinander vereinbarenkönnen. Wir wollen, dass all diejenigen, die nicht mehrim Erwerbsleben stehen können – aus Krankheits- oderAltersgründen –, sich auf unsere bewährten Sicherungs-systeme verlassen können.
Damit unsere Sicherungssysteme diese Funktion auchweiterhin erfüllen können, bringen wir als erste Maß-nahme in dieser Wahlperiode das Rentenpaket auf denWeg, ein Paket, das sich sehen lassen kann, weil es ganzkonkrete Verbesserungen bringen wird. Wir werden trotzdes ambitionierten Zeitplans ausreichend Gelegenheithaben, dieses große Paket mit den vielen Verbesserun-gen, die es bringt, hier im Parlament umfassend zu bera-ten, auch die Punkte, die in den vergangenen Tagen inder öffentlichen Diskussion eine Rolle gespielt haben,zum Beispiel die Frühverrentung. Niemand von uns willeine Frühverrentungswelle befördern. Sollte es Hand-lungsbedarf geben, dann werden wir geeignete Gegen-maßnahmen ergreifen.
Wir nehmen unsere Verantwortung an dieser Stelle wahr.Ich erwarte aber auch von den Unternehmen, dass siesich ihrer eigenen Verantwortung bewusst sind; dennauch sie haben es in der Hand, ob es zu einer Zunahmevon Frühverrentungen kommt oder nicht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe anfangs er-wähnt, dass man sich auch bei Krankheit auf die Siche-rungssysteme verlassen können muss. In der öffentlichenWahrnehmung kommen zwei ganz wichtige Punkte un-seres Rentenpakets meiner Meinung nach immer etwaszu kurz: Ich meine die Verbesserungen bei der Erwerbs-minderungsrente und bei der Reha. Es ist wichtig, dasswir den Fokus in der Rentenversicherung künftig stärkerauf die Gesundheit richten.
Unser Anspruch war immer: Reha vor Rente. Wir wer-den dieses Prinzip mit dem Rentenpaket stärken. Vordem Hintergrund, dass die Generation der Babyboomerälter wird, ist abzusehen, dass der Bedarf an Rehabilita-tion steigen wird. Es ist wichtig, dass es uns gelingt,dazu beizutragen, dass möglichst viele möglichst langeaktiv und gesund am Arbeitsleben teilhaben können.Deshalb ist es notwendig, mehr Mittel für Rehabilitation
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Dr. Carola Reimann
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zur Verfügung zu stellen. Das ist eine Forderung, die wirin diesem Haus schon seit vielen Jahren immer wiedervorgebracht haben. Ich bin froh, dass wir hier einenwichtigen Schritt vorangekommen sind.
Die Stärkung der Reha ist ein zentraler Punkt, ge-nauso die Stärkung der Prävention. Ebenso wichtig wieUnterstützung im Krankheitsfall ist, dass schon vorherdafür gesorgt wird, dass Arbeit nicht krankmacht. Ichspreche nicht allein von harter körperlicher Arbeit;Druck, Stress und verdichtete Arbeitsabläufe führen zu-nehmend auch zu psychischen Belastungen am Arbeits-platz. Der Schutz der Beschäftigten vor diesen Gefahrenist eine der zentralen Aufgaben. Deshalb bin ich froh,dass wir den Gesundheitsschutz so klar im Koalitions-vertrag verankert haben, lieber Kollege Kurth. Auch diediese Woche veröffentlichten Zahlen der Bundespsycho-therapeutenkammer zur Frühverrentung wegen psychi-scher Erkrankungen sprechen eine deutliche Sprache:Hier muss mehr getan werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehenalso: Wir betreiben eine vorsorgende Politik, die die Zu-kunft im Blick hat, indem Prävention und Reha gestärktwerden. Dieses Prinzip setzt sich auch bei unseren Plä-nen zum Arbeitsrecht und bei der Arbeitsmarktpolitikfort. All den Kritikern, die bereits auf den Cent genauvon uns ausgerechnet haben wollen, welche Generationvon unserer Politik profitiert und welche Generation an-geblich verliert, empfehle ich, sich unser arbeitsmarkt-und sozialpolitisches Programm in Gänze vorzunehmenund sich dann ein Urteil zu bilden.
Wir werden für die Gruppe derer, die unterbrocheneErwerbsbiografien haben, die unserer Unterstützung be-dürfen, die solidarische Lebensleistungsrente einführen.Wir wissen aber auch, dass man künftiger Altersarmutvor allem mit einer effektiven Bekämpfung der Erwerbs-armut begegnen muss.
Dazu gehört in erster Linie, dass wir Beschäftigung inprekären Arbeitsverhältnissen endlich Einhalt gebieten,unter anderem mit einem flächendeckenden gesetzlichenMindestlohn.
Auch diesen werden wir noch in diesem Jahr verabschie-den, und zwar so, wie er im Koalitionsvertrag steht.Damit erübrigen sich auch die Debatten über Ausnah-men. Das ist nichts anderes als der leicht zu durchschau-ende Versuch, den Mindestlohn systematisch zu unter-laufen.
Mal ganz abgesehen von den verfassungsrechtlichenProblemen, die ja bereits festgestellt wurden, sind Aus-nahmen allein schon wegen der zu erwartenden Steue-rungseffekte widersinnig. Mein Rat an alle: Lasst unsdas einfach so machen wie besprochen und beschlossen,nämlich 8,50 Euro flächendeckend für alle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für manche mag esvielleicht schwer vorstellbar sein, aber es gibt auch nochein Leben neben der Arbeit. Die Vereinbarkeit von Berufund Familie oder – sagen wir – von Beruf und Leben istden Menschen immer wichtiger. Das zeigt nicht nur dieaktuelle Beschäftigtenbefragung der IG Metall, das er-fahre ich auch immer wieder in persönlichen Gesprä-chen. Erst am vergangenen Montag hatte ich Mitgliederder Braunschweiger Feuerwehr hier zu Gast, Männerzwischen 20 und 50 Jahren. Wer jetzt glaubt, wir hättenvor allem über technische Ausstattung und Arbeitssi-cherheit gesprochen, der täuscht sich gewaltig. Ammeisten bewegte sie die Frage, wie wir es schaffen, Ar-beitszeiten bzw. Dienstzeiten flexibler und familien-freundlicher zu gestalten. Ganz offensichtlich sprechenwir also nicht nur von persönlichen Debattenbeiträgen,sondern von einem von weiten Teilen der Gesellschaftgetragenen Wunsch nach flexiblen Arbeitszeiten,
sei es wegen der Kinder, sei es wegen der pflegebedürfti-gen Eltern oder weil die Lebensumstände es schlicht undeinfach so erfordern.Ich bin froh, dass die Debatte jetzt angestoßen wurde,auch durch die Beiträge von Andrea Nahles undManuela Schwesig. Dieses Thema brennt den Leuten aufden Nägeln. Es ist unsere Aufgabe, dieses Thema ge-meinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern voran-zubringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir ha-ben viel vor in den nächsten vier Jahren. Ich freue mich,dass wir mit dem Rentenpaket ein sehr großes, ein sehrwichtiges Paket mit konkreten Verbesserungen gleich zuBeginn in den ersten Wochen der Legislaturperiode aufden Weg gebracht haben. Das ist auch ein Zeichen fürdie Verlässlichkeit dieser Regierung: Wir setzen um, waswir uns vorgenommen haben.Danke.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Stellen Sie sich bitte für einen Moment Fol-gendes vor: Sie sind 55 Jahre alt und seit 15 Jahren ar-beitslos. Sie haben 20 Jahre lang in der Textilindustrie
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Sabine Zimmermann
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hart gearbeitet und waren gut qualifiziert. In den 15 Jah-ren Arbeitslosigkeit hatten Sie eine ABM, einen 1-Euro-Job, eine Bürgerarbeit und einen sechswöchigen Crash-kurs Bewerbertraining. Was Sie in dieser Situation anRente erwarten dürfen oder auch nicht zu erwarten ha-ben, brauche ich Ihnen, glaube ich, nicht zu erklären.Von dieser Rente kann man hier nicht leben.Das sind keine Einzelfälle; das ist bittere Realität –und nicht nur bei uns im Osten und auch nicht nur inmeinem Wahlkreis.Ich frage Sie: Welche Perspektive haben Sie denn mit55 Jahren? Für Qualifizierung und für Arbeit sind sie zualt und für die Rente zu jung. Es bleibt Ihnen nur nochHartz IV übrig. Damit müssen Sie sich dann bis zu IhrerRente, die überhaupt nicht üppig sein wird, durch-wurschteln. So kann es hier einfach nicht weitergehen.
Seit Jahren wird der Begriff des „robusten deutschenArbeitsmarktes“ gebetsmühlenartig wiederholt. Das Ein-zige, was in den letzten Jahren wirklich robust und an-haltend schlecht gewesen ist, waren aber die Jobchancender Menschen mit dem größten Problem am Arbeits-markt. Damit meine ich die Langzeiterwerbslosen – vondiesen haben Sie, Frau Ministerin Nahles, nämlich fastgar nicht gesprochen –, die Menschen mit Behinderungund die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer;denn die Jobchancen für diese Menschen werden immerschlechter, und deren Zahl erhöht sich immer mehr.Schon jetzt sind über 1 Million Menschen langzeitarbeits-los. Auch die Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosenstieg auf 186 000 weiter an. Einen deutlichen Anstieg auf619 000 gibt es aber gerade bei den über 55-Jährigen.Hier zeigen sich natürlich auch die ersten Auswirkun-gen der Erhöhung des Renteneintrittsalters. HerrSchiewerling, ich sage Ihnen: Das hat nichts mit Solida-rität zu tun, sondern das ist einfach nur ein Rentenkür-zungsprogramm. Das können wir so nicht hinnehmen.
Selbstverständlich sorgt die Rente erst ab 67 nicht da-für, dass mehr ältere Arbeitslose einen Job bekommen.Diese vergessenen Menschen erwarten Antworten vonder Bundesregierung darauf, wie auch sie wieder am Ar-beitsmarkt teilhaben können. Oder sollen die Jobcenternur noch Statistikverwahrstationen sein? Ich frage Sie,ob das so weitergehen soll.Fast die Hälfte der arbeitslosen Menschen verfügtmittlerweile über keine abgeschlossene Berufsausbil-dung mehr. Gleichzeitig wird Abertausenden Betroffe-nen der Zugang zur Weiterbildung verwehrt. Diese Ar-beitsmarktpolitik ist eine Geisterfahrt sondergleichenund muss endlich gestoppt werden.
Dazu gehört die Einführung eines Rechtsanspruchsauf Weiterbildung. Wir brauchen einen Rechtsanspruchauf Weiterbildung. Das ist notwendig, und deswegenbrauchen wir einen Kurswechsel in der Arbeitsmarkt-politik.
Dazu gehört auch ein öffentlich geförderter Beschäfti-gungssektor, der anständig entlohnt und Perspektiven fürdie Betroffenen bietet. Im Wahlprogramm, Frau Ministe-rin Nahles, war der soziale Arbeitsmarkt noch eine For-derung von Ihnen. Leider ist er irgendwo verschüttge-gangen. Sich nur auf leicht vermittelbare Erwerbslose zukonzentrieren und den Rest seinem Schicksal zu überlas-sen, ist aus unserer Sicht gleichermaßen unchristlich wieunsozial.Liebe Frau Nahles, tun Sie mir einen Gefallen: TretenSie nicht in die Fußstapfen der ehemaligen Arbeitsminis-terin von der Leyen. Lassen Sie die Chance, es besser zumachen, nicht verstreichen.Danke schön.
Vielen Dank. – Ich darf die nachfolgenden Rednerin-
nen und Redner noch einmal daran erinnern, bitte die
vorgegebene Redezeit einzuhalten. – Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin Sabine Weiss.
Schönen Dank, Frau Präsidentin, ich werde mich anIhre Worte halten. – Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat unsgestern daran erinnert: Deutschland hat eines der bestenSozialversicherungssysteme der Welt.Als Entwicklungspolitikerin kenne ich viele Länder,in denen die Menschen froh wären, solche Bedingungenwie wir hier zu haben. Diese Länder sind wirklich weitdavon entfernt, auch nur im Entferntesten eine solchgute soziale Absicherung für ihre Menschen wie wir zuhaben. Wir sollten manchmal auch über den Tellerrandschauen, bevor wir immer alles negativ reden.
Wir müssen natürlich immer wieder um den Erhalt unddie Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme ringen.Das werden wir in den nächsten vier Jahren mit Vehe-menz tun. Die Pläne hierzu liegen seit langer Zeit offenauf dem Tisch.Wir sind mit einem guten Ergebnis aus der Wahl her-vorgegangen und haben in intensiven Verhandlungen– Frau Griese, Sie haben mir gestern gesagt, dass wir inunserer Arbeitsgruppe über 100 Stunden verhandelt ha-ben – mit unserem politischen Partner einen guten Koali-tionsvertrag ausgehandelt. Jetzt geht es endlich ans Um-setzen.Lassen Sie mich ein paar Worte zur aktuellen Situa-tion sagen. Wir, die Union, sind im Wahlkampf angetre-ten, um zum Beispiel die Mütterrente, Verbesserungenbei der Erwerbsminderungsrente und Verbesserungen imZusammenhang mit dem Rehadeckel einzuführen. Ge-meinsam mit der SPD haben wir dann vor Wochen die
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Sabine Weiss
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Rente mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren im Koali-tionsvertrag vereinbart.Vier Freunde von mir, alle im Rentenalter, fragtenmich am letzten Wochenende: Was macht ihr denn jetztin Berlin?
Ihr habt doch im Wahlkampf und im Koalitionsvertrageine Rentenreform versprochen. Jetzt liest man jedenTag in der Zeitung neue Kritik daran: Die Pläne seiennicht bezahlbar, die Rentenkasse würde geplündert, Altund Jung würden gegeneinander ausgespielt usw.
Ich habe Ihnen gesagt – hören Sie zu – und sage dasauch hier und jetzt: Lasst euch doch nicht verrückt ma-chen. Tatsache ist: Die Parteien, die jetzt die Regierungs-koalition bilden, haben im Wahlkampf Versprechen zurVerbesserung von Rentenleistungen abgegeben. Jetztwerden diese Versprechen, die in den KoalitionsvertragEingang gefunden haben, umgesetzt. Das sind wir unse-ren Wählern schlicht schuldig.
Jetzt, nach kurzer Zeit – das ist schon gesagt worden,vielen Dank, Frau Ministerin –, haben wir für die parla-mentarische Beratung bereits den Gesetzentwurf zumRentenpaket vorliegen. Für viele – auch das möchte ichnoch einmal betonen – scheint das geradezu ein Aha-Er-lebnis zu sein, obwohl alle darin aufgeführten Punkteschon seit langer Zeit in Wahlprogrammen und letztlichim Koalitionsvertrag festgeschrieben waren.Wir haben Leistungsverbesserungen für die Men-schen vorgesehen. Folgendes soll umgesetzt werden:Erstens. Für Menschen mit verminderter Erwerbsfä-higkeit werden künftig die Grundlagen für die Rentenbe-rechnung verbessert. Das führt zu einer merklich höhe-ren Erwerbsminderungsrente.Zweitens. Für Mütter und Väter, die vor 1992 gebo-rene Kinder erzogen haben, verbessert sich die Anrech-nung der Kindererziehung von 12 auf 24 Monate odereben um 1 Rentenpunkt. Der Unterschied bei der Be-rücksichtigung von Erziehungsleistungen bei Kindern,die vor und nach 1992 geboren wurden, verringert sich,wird aber nicht vollständig abgeschafft.Drittens. Es soll eine abschlagsfreie Rente mit 63 Jah-ren nach 45 Beitragsjahren ermöglicht werden. Hiermüssen im Laufe der parlamentarischen Debatte natür-lich noch wesentliche Details geklärt werden. Die Bun-desministerin hat uns hierfür die Tür weit geöffnet. ZumThema Missbrauch bei der Frühverrentung könnte ichmir bzw. könnten wir uns – Karl Schiewerling hat dasheute mit uns einmal besprochen – durchaus vorstellen,über eine Stichtagsregelung nachzudenken,
um hier vielleicht eine solide, sichere, gerechte, aberauch verfassungskonforme Lösung zu finden.Dank der guten Lage in der Wirtschaft und auf demArbeitsmarkt – auch das kann man nicht kaputtreden;denn es ist so – haben sich die Zuflüsse in die Renten-kasse erhöht und sogar zu einer guten Rücklage geführt.
Diese Rücklage besteht etwa zu einem Drittel aus Bun-desmitteln; denn Rentenpolitik ist immer auch Gesell-schaftspolitik. Daher zahlt auch der Bund neben denBeitragszahlern in das Rentenversicherungssystem ein,um eben dessen Stabilität zu gewährleisten.Den Behauptungen, die immer wieder herumgeistern– Herr Kurth, jetzt spreche ich einmal Ihre Sprache –,wie „Griff in die Rentenkasse“, „Finanzierung vonWahlgeschenken auf Kosten der Jungen“ und „übermä-ßige Belastung der Beitragszahler“, kann ich daher andieser Stelle nur widersprechen. Denn die jetzt vorge-schlagenen Leistungsverbesserungen
werden – das haben wir auch nie verhehlt, weder imWahlprogramm noch im Koalitionsvertrag – zum großenTeil aus den Bundeszuschüssen bezahlt. Weil wir die de-mografische Entwicklung im Blick behalten müssen, hatdie Bundesministerin – sie hat das auch so gesehen – inihrem Entwurf steigende Zuschüsse des Bundes ab 2018zur Finanzierung dieser Leistungszulagen vorgesehen.
Meine Damen und Herren der Opposition, ich möchtedazu noch etwas Persönliches sagen. Meine Mutter freutsich wie Zigtausende andere Mütter und einige Vätersehr über die Mütterrente.
Dabei geht es ihr nicht nur um das Geld, sondern insbe-sondere um die Anerkennung und die Würdigung ihrerErziehungsleistungen. Das ist auch ein gesellschaftspoli-tisches Thema.
Meine Mutter hat drei Kinder geboren und diese dann alsjunge Witwe unter großen Anstrengungen zu, wieFreunde von mir jetzt sagen würden, prima Menschengemacht.Ja, wir wollen, dass sich Lebensleistung in der Renteauszahlt. Etwa 9 Millionen Frauen und einige Männerhaben vor vielen Jahren mit ihrer Erziehungsleistungentsprechend dem damals üblichen Lebensentwurf– auch das muss man sich vergegenwärtigen – auf ihre
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Sabine Weiss
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Art und Weise zum Generationenvertrag beigetragen.Sie sollen dafür auch einen höheren Zuschlag zur Renteerhalten.
Der Wahlkampf ist vorbei. Die Wähler haben ent-schieden.
Wir lösen unsere Versprechen ein und werden die Auf-gaben, die vor uns liegen, positiv angehen und in sachge-rechten, durchaus heftigen Debatten nach den besten undgerechtesten Lösungen suchen.Ja, es gibt viel zu tun. Aber wir packen es an.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. Sie haben Ihr Versprechen wunderbar
eingehalten, Frau Kollegin Weiss. – Nächste Rednerin in
der Debatte ist jetzt Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich willjetzt einen kleinen Themenwechsel vornehmen. Ich binerstaunt darüber, dass in dieser Debatte das Thema Min-destlohn bisher kaum eine Rolle gespielt hat.
– Frau Nahles hat es angesprochen – das ist richtig –,aber die Debattenrednerinnen und -redner kaum. Viel-leicht hat das auch etwas damit zu tun, dass es in dieserFrage nicht gerade Einigkeit in der Koalition gibt.Als ich die Debatte in den letzten Wochen verfolgthabe, hatte ich eher den Eindruck, dass Union und SPDganz unterschiedliche Koalitionsverträge unterschriebenhaben. Frau Nahles hat heute noch einmal gesagt: DieSPD steht für einen gesetzlichen Mindestlohn und willeine verlässliche Lohnuntergrenze schaffen.Die CDU und vor allem die CSU fordern eine Aus-nahme nach der anderen: kein Mindestlohn für Schülerund Studenten, kein Mindestlohn für Rentner, kein Min-destlohn für Langzeitarbeitslose, kein Mindestlohn fürSaisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter, kein Mindest-lohn für Zeitungsausträger, kein Mindestlohn für Taxi-fahrer usw. usf.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wersoll nach Ihren Vorstellungen eigentlich einen Mindest-lohn kriegen?
Genauso wenig, wie Sie nur aus Löchern einen Käse ma-chen können, können Sie aus massenhaften Ausnahmeneinen Mindestlohn machen.
Das sage ich ausdrücklich, obwohl auch ich der Auffas-sung bin, dass die Einführung eines Mindestlohnes sen-sibel angegangen werden muss.
Aber es geht Ihnen überhaupt nicht um sinnvolle undnotwendige Ausnahmen, zum Beispiel für Auszubil-dende oder für Praktikantinnen und Praktikanten wäh-rend der Ausbildung und des Studiums. Ich persönlichbin im Übrigen der Auffassung, dass wir keine Anreizedafür setzen dürfen, dass junge Menschen keine Ausbil-dung machen.Aber Sie wollen etwas ganz anderes: Sie wollen einenNiedriglohnsektor unterhalb des Mindestlohns schaffen.Das machen wir nicht mit.
Mit dieser Politik werden Sie dafür sorgen, dass Niedrig-löhner Mindestlöhner vom Arbeitsmarkt verdrängen.Wenn das Sinn Ihrer Politik ist, stoßen Sie bei uns auf er-bitterten Widerstand.
Richtig hanebüchen finde ich den Vorschlag von HerrnSeehofer. Herr Seehofer möchte den Mindestlohn an densozialen Status knüpfen. Wenn jemand noch andere Ein-künfte hat wie Rentnerinnen und Rentner oder Studie-rende, dann soll er keinen Mindestlohn bekommen. Sollendann – das fragen Sie bitte einmal Herrn Seehofer in mei-nem Auftrag – Ehefrauen von gutverdienenden Ehemän-nern auch keinen Mindestlohn bekommen? Da gibt esdoch auch noch ein anderes Einkommen. Wollen wirMenschen, die in Wohngemeinschaften leben, überprüfen,ob sie noch andere Einkommen haben? Sind Einnahmenaus Mieten und Pachten oder das Erben Gründe für denAusschluss vom Mindestlohn? Nein, Herr Seehofer hathier etwas grundfalsch verstanden.
Der Mindestlohn ist keine bedarfsgeprüfte Sozialleis-tung. Der Mindestlohn ist eine Lohnuntergrenze, die vorLohndumping schützen soll.
Ich bin froh, dass nicht das Bayerische Landrecht, son-dern die Verfassung in der gesamten Bundesrepublikgilt. Die Verfassung ist hier sehr eindeutig. Sie lässt eineUngleichbehandlung dieser Art nicht zu.
Meine Redezeit ist ungerechtfertigterweise inzwi-schen abgelaufen.
Aber lassen Sie mich bitte noch eine Bemerkung an dieAdresse von Frau Nahles machen. Liebe Frau Nahles,ich bin in tiefer Sorge um die Arbeitslosen und insbeson-dere um die Langzeitarbeitslosen. Wir waren in der letz-ten Legislaturperiode schon weiter. Seit an Seit habe ich
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Brigitte Pothmer
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mit meinen sozialdemokratischen Freunden für einensozialen Arbeitsmarkt gekämpft, weil wir längst verstan-den hatten, dass die Konzepte, die wir bisher für Lang-zeitarbeitslose hatten, nicht mehr ausreichen. Wo ist IhrEngagement geblieben? Ich sage Ihnen eindeutig: Sieunterschätzen das Problem der Spaltung auf dem Ar-beitsmarkt. Ich unterschätze es nicht. Ich biete Ihnen un-sere Unterstützung dabei an. Machen Sie etwas daraus!
Frau Kollegin Pothmer, Sie waren sehr großzügig mit
der Redezeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Mast, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Diese Koalition hat viele Verbesserungen
gerade in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im Koali-
tionsvertrag festgeschrieben. Das wirklich Neue an die-
ser Koalition ist, dass wir diese auch umsetzen.
Ich kann nur sagen: In der Arbeitsmarkt- und Sozial-
politik geht es vorwärts. Wir werden in vier Jahren einen
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn gleicher-
maßen in Ost und West umsetzen
– gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Schritt für Schritt für
Frauen und Männer –, Leiharbeit und Werkverträge re-
gulieren, die Mitbestimmung erhöhen, die Eingliede-
rungshilfe reformieren, eine Kultur der zweiten Chance
in der Ausbildung schaffen, eine Jugendberufsagentur
durchsetzen, eine assistierte Ausbildung einführen, um
nur einige wenige Punkte zu nennen. Hier in der Arbeits-
markt- und Arbeitnehmerpolitik ist unser Leitbild, eine
gerechte und neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu
schaffen sowie den Fachkräftebedarf der Zukunft zu
decken.
Unser erstes Gesetzesvorhaben, über das heute schon
hinreichend diskutiert wurde, ist das Rentenpaket von
unserer Bundesarbeits- und -sozialministerin Andrea
Nahles. Es beinhaltet vier wichtige Punkte. Ich will die
beiden als Erstes nennen, über die am wenigsten disku-
tiert wird: die massive Verbesserung der Erwerbsminde-
rungsrente – in diesem Punkt haben wir übrigens frak-
tionsübergreifend einen Konsens –
und die Anhebung des Rehadeckels; Carola Reimann hat
dazu Hinreichendes gesagt. Die weiteren beiden Punkte
sind die Mütterrente und – für uns Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten ein Herzensanliegen – die ab-
schlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren.
Es ist ein Trugschluss – das wird hier ja die ganze Zeit
behauptet –, zu glauben, das alles werde nur aus Bei-
tragsmitteln finanziert;
denn ein Drittel der Rücklagen in der Rentenversiche-
rung sind Steuermittel, Kolleginnen und Kollegen.
Es muss klar sein, dass bei der abschlagsfreien Rente
nach 45 Versicherungsjahren eine Verschlechterung für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der SPD
nicht toleriert werden würde. Vielmehr sind die Arbeit-
geber dafür verantwortlich, dass es keine Frühverren-
tungsprogramme gibt.
Die Arbeitgeber sind diejenigen, die die Verträge am
Ende des Tages unterschreiben. Deshalb liegt die Verant-
wortung für dieses Thema genau dort.
Wir wollen mit dem Rentenpaket Lebensleistungen an-
erkennen und soziale Sicherheit verbessern.
Ich will nun, weil ich finde, dass die Menschen in
unseren Diskussionen immer etwas zu kurz kommen,
einmal einen Streifzug quer durch Deutschland machen,
um zu zeigen, was sich durch unsere Politik in den
nächsten vier Jahren verbessern wird.
Da sind Sonja und ihr Onkel Christian aus Saar-
brücken, die beide künftig durch den flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn mehr in der Tasche haben –
übrigens wie ihre Verwandten in Altenburg auch.
Da sind Eva und ihr Freund Markus aus Tuttlingen,
die nun eine feste Planungsgrundlage für ihr Leben ha-
ben, weil ihr Leiharbeitsvertrag in einen Vertrag über
eine Festanstellung umgewandelt wird.
Da sind der Gewerkschafter Hendrik und sein Bruder
Helge – Helge ist Unternehmer in Leipzig –, die sich
darüber freuen, dass künftig Tarifverträge einfacher für
allgemeinverbindlich erklärt werden können.
Frau Kollegin Mast, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Zimmermann?
Ich würde gerne meine Ausführungen zu diesemPunkt noch beenden, ich bin gerade mittendrin. Das istein bisschen schwierig.
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740 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Katja Mast
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Aber Sie dürfen dann direkt, wenn ich mit Hendrik undHelge fertig bin, die Zwischenfrage stellen, okay?
– Ich beeile mich, so lange dauert es nicht.Also noch einmal: Der Gewerkschafter Hendrik undsein Bruder Helge, der Unternehmer aus Leipzig, freuensich, weil Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlicherklärt werden können. Da fragt man sich ja zunächsteinmal: Wieso freuen sich ein Unternehmer und ein Ge-werkschafter über das Gleiche? Die freuen sich deshalbüber das Gleiche, weil künftig bei Ausschreibungennämlich nicht mehr der gewinnt, der Dumpinglöhnezahlt. Deshalb ist das für beide gut.
Jetzt, Frau Kollegin Zimmermann, können Sie gerneIhre Zwischenfrage stellen – unter der Voraussetzung,dass die Präsidentin es zulässt.
Ich lasse das zu. – Frau Kollegin Zimmermann.
Danke schön, liebe Kollegin Mast. – Sie reden hier so
inbrünstig über die Umsetzung des Mindestlohns für
alle, deshalb habe ich eine Frage. Im Koalitionsvertrag
steht, dass die Umsetzung erst 2017 erfolgt. Habe ich das
richtig verstanden? Denn dann stellt sich ja die Frage:
Schaffen Sie das bis zum Ende dieser Legislaturperiode,
oder wird das nur für die nächste vorbereitet werden?
Liebe Frau Kollegin Zimmermann, wie das immer so
ist: Es ist schlecht, wenn man nur die Hälfte eines Koali-
tionsvertrages zitiert. Sie wissen sehr genau, dass der
flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro 2015 in Ost und West kommt. Nur dort, wo
Tarifverträge etwas anderes regeln, tritt diese Regelung
zwei Jahre später in Kraft. Wir sind stolz darauf, dass
wir das erreicht haben. Wir haben dafür acht Jahre lang
gekämpft und setzen das jetzt in dieser Koalition um.
Ich will zu dem vierten Beispiel bei meinem Streifzug
quer durch Deutschland kommen: Die beiden Schwes-
tern Mia und Svenja aus Flensburg freuen sich nämlich
darüber, dass sie von unserem Entgeltgleichheitsgesetz
profitieren und Männer und Frauen Schritt für Schritt
gleiches Geld für gleiche Arbeit bekommen.
Und Opa Günter aus Bremen sagt: Es ist toll, dass
meine Lebensleistung endlich anerkannt wird und ich
demnächst, nach 45 Jahren Arbeitsleben und Renten-
versicherungsbeitragszahlungen, abschlagsfrei in Rente
gehen kann.
Ich will auch eine Frau aus meinem Wahlkreis erwäh-
nen: Christine Glauner aus meinem Wahlkreis Pforz-
heim/Enzkreis – sie lebt in Birkenfeld – hat mir auf ei-
nem Neujahrsempfang gesagt, dass sie es echt klasse
findet, dass die Erziehungsleistung von Müttern künftig
besser angerechnet wird – Stichwort „Mütterrente“. Sie
hat vor 1992 drei Kinder auf die Welt gebracht: Sabine,
Regina und Susanne. Sie wird künftig 84,42 Euro mehr
Rente bekommen. Auch das wird ihre Situation verbes-
sern.
Frau Kollegin Mast, gestatten Sie noch eine Zwi-
schenfrage?
Mein Vorschlag ist: Lassen Sie mich meinen Streifzugfertig machen. Die Kollegin kann dann nach dem Endemeiner Rede eine Kurzintervention machen.Kurt aus Hannover –
– wir können auch gerne den Kollegen Klaus aus Bayernnehmen, aber ich hätte an der Stelle Kurt aus Hannoveranzubieten –
– wird künftig eher der Rehaantrag genehmigt, weil wirnämlich die Deckelung bei den Rehaleistungen gelockerthaben.Der Fliesenleger Jupp aus Köln,
der Erwerbsminderungsrente beantragt, weil er einenKnieschaden hat, wird künftig im Schnitt ungefähr35 Euro mehr als heute im Monat bekommen.Die alleinerziehende Ulrike aus Kassel bekommt mit30 Jahren endlich eine zweite Chance auf Ausbildung,nachdem sie ihre erste Ausbildung abgebrochen hatte,als sie Mutter wurde. Jetzt wird ihr eine zweite Ausbil-dung finanziert.Monika aus Hof freut sich darüber, dass sie, nachdemsie ihren Vater Otto zwei Jahre gepflegt hat, ihre befris-tete Teilzeitstelle wieder in eine Vollzeitstelle umwan-deln kann.
Das alles wird sich durch unsere Politik verändern.Das alles sind Schicksale von Menschen, die ganzkonkret von unserer Politik profitieren. Dafür lohnt essich, vier Jahre gemeinsam Politik in dieser Koalition zumachen. Dazu sage ich: Vorwärts in der Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik in Deutschland.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 741
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Danke schön, Frau Kollegin Mast. – Das Wort zu ei-
ner Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin
Vogler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin
Mast, ich bedanke mich für diese umfangreiche Aufzäh-
lung all derjenigen, die profitieren. Ich möchte an der
Stelle dieser Aufzählung gerne noch jemanden hinzufü-
gen. Ich kenne Edelgard aus Emsdetten – ich weiß gar
nicht, ob sie Edelgard heißt –, die kürzlich in mein Wahl-
kreisbüro kam, sich fürchterlich aufregte und sagte, ihr
Sohn habe zu ihr gesagt: Mensch, das ist jetzt toll mit der
Großen Koalition. Du bekommst ja demnächst richtig
viel Geld durch diese sogenannte Mütterrente.
Darauf hat sie ihm gesagt: Bist du eigentlich be-
kloppt? Ich habe fünf Kinder großgezogen. Ich habe
mein Leben lang bis zur Rente in der Textilindustrie ge-
arbeitet, und zwar für 6 D-Mark die Stunde; das war
nicht so viel. Was bekomme ich? Okay, ich habe jetzt
höhere Rentenansprüche von 100 oder 120 Euro, aber
das wird mir sofort von der Grundsicherung abgezogen,
weil meine Rentenansprüche insgesamt nicht so hoch
sind, dass ich das Geld behalten darf.
Das ist das Problem. Es gibt eine große Gruppe von
Leuten, die auch Lebensleistungen erbracht haben und
nicht profitieren. Die Frau, die ihr Leben lang gearbeitet
hat und fünf Kinder großgezogen hat, hat überhaupt
nichts von Ihren Plänen. Das entwertet nicht die Sachen,
die gut sind, aber ich finde, man sollte schon die ganze
Wahrheit vortragen.
Vielen Dank. – Frau Kollegin Mast, möchten Sie ant-
worten?
Frau Kollegin, Sie haben natürlich damit recht, dass
in unserem Sozialstaat der Grundsatz gilt, dass steuer-
finanzierte Grundsicherungsleistungen der letzte Anker
sind, um Menschen, die um ihre Existenz bangen müs-
sen, zu unterstützen. Deshalb haben wir das Prinzip in
unserem Sozialstaat, dass man sich zuerst selbst helfen
muss, bevor die Solidargemeinschaft mit Steuermitteln
eingreift. Dass das zu Härten führt, ähnlich wie die, die
Sie gerade am Beispiel der Mutter von fünf Kindern ge-
schildert haben, weiß ich. Ich habe selbst einmal von So-
zialhilfe gelebt und weiß, in welchen Existenzängsten
und Sorgen die Menschen sind, die Sozialhilfe beziehen.
Aber es ist dennoch ein gutes Prinzip unseres Sozialstaa-
tes, zu sagen: Hilf dir zuerst selbst, dann helfen dir auch
alle anderen. – Das ist auch deshalb so wichtig, weil wir
nur damit die Akzeptanz für diese Leistungen in unserer
Gesellschaft schaffen.
Vielen Dank. – In der Hoffnung, dass wir jetzt die
Lust auf Zwischenfragen vielleicht etwas eindämmen,
erteile ich dem Kollegen Ernst von der Fraktion Die
Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es liegt mir ja fern, die Regierung zu verteidi-gen, wie Sie wissen. Aber ich finde, es gibt ein Argu-ment, das Sie, Herr Kurth, überdenken sollten: Sie soll-ten einmal darüber nachdenken, dass Menschen mit45 Versicherungsjahren in der Regel natürlich auch45 Jahre in das System eingezahlt haben. Dann ist esdurchaus adäquat, dass man genau diese Menschen frü-her in Rente gehen lässt. Sie zahlen im Übrigen längerein als jemand, der mit 30 nach dem Studium in diesesSystem hineinkommt. – Ich glaube, diese Überlegung istnicht ganz falsch. Wie Sie es umsetzen, ist etwas ande-res.Ich möchte vor allen Dingen über die Regulierungvon Arbeit reden, die die Regierung in ihr Programmaufgenommen hat. Ich stelle fest, Frau Nahles: kleineSchritte in die richtige Richtung; der große Wurf gelingtnicht; die eigentlichen Probleme werden nicht angegan-gen.
Ich sage Ihnen, an welchen Punkten das zutrifft. Ichnehme einmal den Mindestlohn. Da hat KolleginPothmer richtigerweise das gesagt, was zu den Ausnah-meregelungen zu sagen ist. Bei einem Punkt bin ich mirnicht ganz sicher, Frau Pothmer: Was wollen Sie mit de-nen machen, die jung sind, aber keine Ausbildung ha-ben? Wollen Sie ihnen den Mindestlohn verweigern, da-mit man keine falschen Anreize setzt? Sie sind ja dannmöglicherweise Aufstocker. Das verstehe ich noch nichtganz.Ich bin dafür, möglichst keine Ausnahmen beim Min-destlohn zuzulassen. Ich möchte Frau Nahles den Tippgeben: Lassen Sie sich da nicht von all denen beirren,die hinsichtlich der Ausnahmen herumstänkern. DieseLeute wollen den Mindestlohn eigentlich überhauptnicht.
Abgesehen davon, dass es natürlich positiv ist, dass esden Mindestlohn überhaupt gibt: Warum ändert sich vor2015 überhaupt nichts? Das ist die erste Frage. Warumwird der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn füralle erst am 1. Januar 2017 Realität? Schließlich sind javorher diejenigen mit Tarifverträgen die Gekniffenen,wenn sie schlechtere Tarife haben. Diese Personen blei-ben ja bei niedrigeren Löhnen.Der flächendeckende Mindestlohn erfährt nach demKoalitionsvertrag seine erste Erhöhung am 1. Januar
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742 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Klaus Ernst
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2018. Ja, bitte schön, warum? Wissen Sie, was? Im Jahre2018 wird das, was heute bzw. 2010, als der DGB dieseForderung erhoben hat, noch 8,50 Euro sind oder waren– ich habe es mir ausgerechnet –, 7,23 Euro sein. WasSie im Koalitionsvertrag vereinbart haben, ist eine syste-matische Entwertung des Mindestlohns. Dazu muss ichsagen: Da muss bei der Gesetzgebung deutlich nachge-bessert werden. So können wir dies nicht akzeptieren,meine Damen und Herren.
Nun zur Leiharbeit. Auch das ist ein Punkt, der vonbesonderer Bedeutung ist. Sie haben ja gesagt: Wir wol-len die Würde von Menschen wiederherstellen. – Wirwissen: Leiharbeit entwürdigt Menschen sehr häufig. Ja,Sie regulieren ein wenig. Sie sagen: Ab dem neuntenMonat in einem Arbeitsverhältnis bekommen Leiharbei-ter gleichen Lohn für gleiche Arbeit. – Das ist löblich.Aber Sie wissen doch genau, dass 50 Prozent der inLeiharbeit Beschäftigten in dem Unternehmen, an dassie ausgeliehen sind, nur drei Monate sind; dann sind siewieder weg. Die geplante Regelung geht zumindest andenen, die als Leiharbeiter nur drei Monate in einem Un-ternehmen arbeiten, vollkommen vorbei. Personen, dieneun Monate und länger Leiharbeit in demselben Unter-nehmen verrichten, gibt es natürlich noch weniger. Diemeisten Leiharbeiter haben von dieser Regelungschlichtweg nichts.Außerdem wollen Sie die Leiharbeit auf 18 Monatebefristen. Die wenigsten, die in Leiharbeit in einem Be-trieb tätig sind, tun dies 18 Monate lang. Die meistenLeiharbeiter sind dort schon früh wieder heraus. Das be-deutet, Sie schaffen ein reines Placebo. In der Realitätkommt bei den Beschäftigten nichts an. Sie regulieren indieser Frage so gut wie nicht.Werkverträge, Frau Nahles: Die Betriebsräte habennicht wirklich das Recht, an ihnen etwas zu ändern. DasInformationsrecht reicht dazu nicht aus. Man informiertdie Betriebsräte, dass man etwas Bestimmtes tut, undmacht genauso weiter wie vorher. Sie haben an diesemPunkt nichts geändert.Bei der Befristung kann ich im Koalitionsvertragüberhaupt keine Neuregelung erkennen. Wir wissen,dass insbesondere Jugendliche nur noch befristet einge-stellt werden. Das zu ändern, haben wir überhaupt keineRegelung. Sie haben mit dem, was Sie im Koalitionsver-trag festgehalten haben, eins überhaupt nicht erreicht:dass Sie Arbeit wieder in vernünftiger Weise regulieren.Das geht an der Realität vollkommen vorbei.Deshalb sage ich Ihnen: Ich hoffe, dass Sie an dieserStelle deutlich nachbessern. Das, was ich gesagt habe– kleine Schritte –, reicht zur Bekämpfung der Problemeam Arbeitsmarkt überhaupt nicht aus, wenn Sie das Ziel,das zu erreichen Sie sich vorgenommen haben, auch tat-sächlich erreichen wollen, nämlich die Würde der Men-schen am Arbeitsmarkt wiederherzustellen.
Da springen Sie mit Ihrem Koalitionsvertrag vollkom-men zu kurz.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Stracke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Deutschland geht es gut. Wie kaum einanderes Land sind wir in solch einer Stärke aus der Fi-nanz- und Wirtschaftskrise herausgegangen. Die Wirt-schaft erlebt einen nach wie vor andauernden Auf-schwung. Die Beschäftigungszahlen liegen aufRekordniveau. Die Sozialkassen sind prall gefüllt. Dasist der Erfolg unserer Arbeitnehmer und der deutschenWirtschaft, und das ist der Erfolg der unionsgeführtenRegierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Wirtschaftliches Wachstum ist Grundlage für Arbeit,Wohlstand und soziale Sicherheit. Wo nichts erwirt-schaftet wird, da gibt es auch nichts zu verteilen. Diedeutsche Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren her-vorragend entwickelt und bleibt weiterhin auf Wachs-tumskurs. Das Ifo-Institut hat beispielsweise festgestellt,dass wir im letzten Jahr den weltweit größten Export-überschuss erzielt haben. Wenn man ins Inland blickt:Die Kauflaune ist prima. Alles das lässt uns zuversicht-lich in die Zukunft schauen.Das gilt gleichermaßen für den deutschen Arbeits-markt. Die Beschäftigtenzahlen – wir haben jetzt auchdie aktuellen Zahlen für den Januar 2014 auf dem Tisch –haben mit mehr als 40 Millionen einen Höchststand er-reicht. Davon sind mehr als 29 Millionen Erwerbstätigein sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen.Wenn wir einmal in unsere Nachbarländer wie Italien,Frankreich oder Spanien blicken, so dürfen wir uns indiesem Land über eine sehr geringe Jugendarbeitslosig-keit von 7,5 Prozent freuen. Das ermutigt uns, in diesemBereich so weiterzugehen. Wir wollen, dass Jugendar-beitslosigkeit endlich der Vergangenheit angehört.
Wir haben in den letzten Jahren hierzu die richtigen Wei-chenstellungen vorgenommen.Das zeigt: Die Erfolge sind uns alles andere als in denSchoß gefallen. Die Erfolge sind das Ergebnis von ver-antwortungsvoller Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Jetztgilt es, darauf nicht auszuruhen, sondern dem Grundsatzzu folgen: Derjenige, der stehen bleibt, fällt zurück. –Deswegen gehen wir mit diesen Reformen weiter.Die robuste Lage auf dem Arbeitsmarkt mit steigen-der Tendenz bei den Löhnen und Beschäftigtenzahlenhat den Sozialkassen auch steigende Einnahmen be-schert. Der Rekordüberschuss im Jahr 2012 von15,8 Milliarden Euro wurde zu einem Großteil direkt andie Beitragszahler und Leistungsempfänger zurückgege-ben. Damit sind wir erstmals seit über 17 Jahren wieder
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Stephan Stracke
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deutlich unter der 19-Prozent-Grenze angekommen. DerGesamtsozialversicherungsbeitrag liegt unter 40 Pro-zent. Das bedeutet: Beitragszahler und Rentner profitie-ren gleichermaßen. Das ist verantwortungsvolle Sozial-und Arbeitsmarktpolitik, so wie wir sie verstehen.
Für die neue, nun anstehende 18. Legislaturperiodegilt: Deutschland soll es am Ende dieser Wahlperiodebesser gehen als heute. Wir werden alles daransetzen,dass die Menschen in unserem Land eine aussichtsreicheZukunftsperspektive haben. Deshalb gilt für uns: keineSteuererhöhung und keine neuen Schulden. Wir werdendie Wettbewerbsfähigkeit stärken und die Investitionenerhöhen; denn wir setzen auf die Leistungsträger in die-sem Land und unterstützen auch weiterhin diejenigenMenschen, die der Solidarität der Gemeinschaft bedür-fen. Deutschland hat einen starken Sozialstaat. Die So-zialleistungen liegen insgesamt bei 760 Milliarden Europro Jahr. Wir bekennen uns ausdrücklich zu diesen Leis-tungen; denn sie nutzen den Menschen.Das Bundeskabinett hat nun ein Rentenpaket auf denWeg gebracht. Ich möchte hier einen Punkt herausstel-len, der der CSU besonders wichtig ist und für uns denvorrangigsten rentenpolitischen Fortschritt darstellt: dieMütterrente. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,wir wollen starke, vitale Familien. Die Familien bildendas Rückgrat unserer Gesellschaft. Familien gewährenGeborgenheit und Freiheit. Sie schaffen den Raum, dassgerade junge Menschen ihre Fähigkeiten entdecken undentfalten können und starke, selbstbewusste Persönlich-keiten werden, die sich aktiv in unsere Gesellschaft ein-bringen. Geht es unseren Familien gut, geht es unserergesamten Gesellschaft gut. Unsere Politik ist es deshalb,die Familien in Deutschland zu unterstützen und zu stär-ken.Deshalb streichen wir keine einzige Familienleistung.Im Gegenteil: Wir werden sie ausbauen. Wir setzen aufKrippenausbau und Betreuungsgeld, und wir sorgen fürLeistungsgerechtigkeit. Kindererziehung ist Persönlich-keits- und Herzensbildung. Kindererziehung geht nichteinfach so nebenbei, sondern ist harte, echte Arbeit, unddie Mütterrente ist eine ganz klare Anerkennung dieserErziehungsleistung, ist Lohn für Arbeit.
Sie schließt zugleich zu einem guten Stück die bestehen-den Gerechtigkeitslücken bei der Bewertung von Erzie-hungszeiten älterer und jüngerer Frauen mit Kindern. Esist ein großer Erfolg, dass wir die Mütterrente durchge-setzt haben.Wir stehen auch hinter der abschlagsfreien Rentenach 45 Beitragsjahren. Wer sein Erwerbsleben lang so-lidarisch in die Rentenkasse eingezahlt hat, darf auch imAlter Solidarität erwarten. Die CSU hat sich schon im-mer für die Menschen starkgemacht, die besonders langeund körperlich hart gearbeitet haben. Bei der Rente mit63 gilt es, darauf zu achten, dass sie auf diejenigen kon-zentriert bleibt, die besonders lange rentenversiche-rungspflichtig beschäftigt waren. Indem wir auf die be-sondere Bindung zur Rentenkasse achten, sollen dieTüchtigen und Fleißigen belohnt werden. Darum wollenwir bei der konkreten Ausgestaltung die Gespräche indiese Richtung lenken.Wir dürfen vor allem – das hat die Bundesregierunganerkannt – keine neuen Frühverrentungsanreize setzen.Deswegen werden wir auch hier die Vorschläge, die aufdem Tisch liegen, prüfen und dann zu einem Ergebniskommen, das der Solidarität zwischen den GenerationenRechnung trägt.
Das gilt auch für das Thema Mindestlohn. Wir habenimmer gesagt: Wer Vollzeit arbeitet, soll davon auch an-gemessen leben können. – Ein zentraler Baustein dafürist Bildung und Ausbildung. Sie entscheiden maßgeblichüber die Zukunft eines jeden Einzelnen. Wir fördern des-halb alle Talente und lassen niemanden auf der Wegstre-cke zurück.Das gilt im Übrigen auch für die Menschen mit Be-hinderung. Wir werden in den nächsten Jahren ein Bun-desleistungsgesetz auf den Weg bringen, das zum einenEntlastungen für die Kommunen und zum anderen auchkonkrete Verbesserungen für die Menschen mit Behinde-rung enthalten wird. Für uns ist die Teilhabe an der Ge-sellschaft und am Arbeitsleben entscheidend. Das wol-len wir weiter ausbauen.
Aufgabe der Sozialpartner wird es auch sein, weiter-hin für einen gerechten Lohn zu sorgen; das ist das Prin-zip der Tarifautonomie. Es hat sich in der Vergangenheitbewährt und muss auch in der Zukunft so bleiben. Des-wegen werden wir im Dialog mit Arbeitgebern und Ar-beitnehmern aller Branchen, in denen der Mindestlohnwirksam werden wird, diese Themen beraten und dabeiauch über Ausnahmen diskutieren. Genauso haben wires im Koalitionsvertrag niedergelegt. Er ist ein guter An-knüpfungspunkt für alle anstehenden Gespräche in die-sem Bereich. Wir wollen uns an der Lebenswirklichkeitorientieren, und an nichts anderem.Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende zu guten Er-gebnissen kommen werden. Der Start der Koalitionstimmt mich hier optimistisch. Wir haben mit dem Ren-tenpaket ein wichtiges Gesetzesvorhaben auf den Weggebracht, und zwar in Rekordzeit. Das zeigt: Die Koali-tion funktioniert. Daran werden wir bei der künftigenZusammenarbeit anknüpfen, zum Wohle der Menschenin diesem Land.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen spricht jetzt die Kollegin Corinna Rüffer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Lassen Sie auch mich jetzt noch einmal von Löhnensprechen. Wer im Arbeitsbereich einer Werkstatt für
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744 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Corinna Rüffer
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Menschen mit Behinderung arbeitet, verdiente im Jahr2011 im Durchschnitt 180 Euro monatlich. Das ist voneinem Mindestlohn kilometerweit entfernt. Die Zahl derWerkstattplätze ist in den letzten Jahren immer weitergewachsen.Wie sieht es für Menschen mit einer Beeinträchtigungauf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus? In meinemWahlkreis arbeitet eine Richterin, die vermutlich niemehr als 2 600 Euro auf dem Konto haben wird, egalwie gut ihr Gehalt ausfällt. Denn wer einen etwas um-fangreicheren Unterstützungsbedarf hat – diesen habenMenschen mit Behinderung – und diesen aus Sozialhil-feleistungen decken muss, kann sich qualifizieren undGeld verdienen, so viel er will: Einkommen und Vermö-gen werden angerechnet.Niemand darf wegen seiner Behinderung benach-teiligt werden.Art. 3 unseres Grundgesetzes ist nicht missverständlichformuliert. Das bedeutet, es muss angemessene Unter-stützungsleistungen dort geben, wo sie nötig sind.
Menschenrechte gelten für Menschen mit und ohne Be-hinderungen. Wir müssen garantieren, dass sie auchwahrgenommen werden können. Dieses Ziel haben wirin Deutschland nicht erreicht. So wie es aussieht, wird esnoch lange dauern.Die neue Bundesregierung ist erst kurz im Amt, undich schicke eines vorweg: Ich hoffe aufrichtig, dass siehier ernsthaft voranschreiten wird. Mit Blick auf denKoalitionsvertrag habe ich allerdings Zweifel. Was ichdort finde, sind unseriöse Finanzierungszusagen. Sieversprechen als prioritäre Maßnahme, die Kommunenjährlich in Höhe von 1 Milliarde Euro von den Kostender Eingliederungshilfe zu entlasten, nach Verabschie-dung eines weiterentwickelten Leistungsrechts sogar um5 Milliarden Euro. Wenn man jetzt zusammenrechnet,wie viel Sie insgesamt ausgeben möchten und wie vielGeld Sie zur Verfügung haben, wird deutlich: Diese Mil-liarden werden so bald nicht fließen. Woher soll dasGeld auch kommen? Die Steuern werden Sie nicht erhö-hen; das haben wir gerade noch einmal gehört. In derRentenpolitik werfen Sie mit Geld um sich, als gäbe eskein Morgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Ländern undden Kommunen, diese 5 Milliarden Euro bekommen Sieso schnell nicht zu Gesicht. Ob diese Koalition das Leis-tungsrecht inhaltlich fundiert weiterentwickeln wird,steht in den Sternen. Konkrete Zusagen, mit denen manrechnen kann, finden sich im Koalitionsvertrag jeden-falls nicht. Sie möchten ein modernes Teilhaberecht ent-wickeln und Menschen mit Behinderungen „aus dembisherigen ‚Fürsorgesystem‘ herausführen“. Bedeutetdas, Menschen mit Behinderungen müssen in Zukunftnicht mehr ihr Einkommen und Vermögen einsetzen, umgleiche Chancen zu haben wie nicht behinderte Men-schen? Versprechen möchten Sie das ganz offensichtlichnicht. Und ob Sie echte Alternativen zu Werkstattarbeits-plätzen anzubieten haben, bleibt nebulös. Sie möchtenden Übergang erleichtern und dazu Erfahrungen mit demBudget für Arbeit einbeziehen. Damit bleiben Sie hinterden Forderungen Ihrer eigenen Landesregierungen zu-rück.
Die machen sich nämlich deutlich für einen dauerhaftenLohnkostenzuschuss als Nachteilsausgleich stark.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war zuletzt dierot-grüne Bundesregierung, die das Leistungsrecht fürMenschen mit Behinderungen systematisch weiterentwi-ckelt hat. In der Zwischenzeit haben wir eine Behinder-tenrechtskonvention ratifiziert, die es nun umzusetzengilt. Die letzte Bundesregierung hat hier nicht viel er-reicht, die neue bleibt inhaltlich vage, und sie weckt beiden Kommunen Erwartungen, die sie so nicht erfüllenwird. Aber bitte, überraschen Sie mich.
Vielen Dank, Frau Kollegin Rüffer. – Das war Ihre
erste Rede, und ich gratuliere Ihnen im Namen des ge-
samten Hauses.
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Unsere Bundes-kanzlerin Angela Merkel hat in ihrer gestrigen Regie-rungserklärung für die kommenden vier Jahre dieserLegislaturperiode ein sehr klares und eindeutiges Zielvorgegeben: Es soll den Menschen in unserem Land invier Jahren besser gehen als heute.
Das soll vor allen Dingen für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in unserem Land gelten. Wir starten mitguten Voraussetzungen: mit einem Höchststand der Be-schäftigung in Deutschland und der Perspektive, dasswir das in den kommenden Jahren fortsetzen. Erst ges-tern hat der Sparkassen- und Giroverband mitgeteilt,dass er davon ausgeht, dass das Wirtschaftswachstum indiesem Jahr besser ausfällt, als es ursprünglich prognos-tiziert war.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich finde,dass das, was in unserem Land gut läuft, bei allem Be-mühen der Opposition, etwas Kritisches zu finden, nichtschlechtgeredet werden sollte; denn es ist der Erfolg derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Unter-
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Peter Weiß
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nehmen in unserem Land, dass wir auf einen so gutenStand gekommen sind.
Das heißt aber: Wer gut ist, muss auch den Ehrgeizhaben, besser zu werden. Diesen Ehrgeiz haben wir vonder Großen Koalition. Das heißt für uns vor allen Din-gen, dass wir Arbeit, die die materielle Grundlage unse-res Lebens und den Zusammenhalt sichert, zum zentra-len Thema unserer Koalitionsvereinbarung gemachthaben. Das heißt, dass wir eben nicht nur eine Regelungzu einem Mindestlohn verabredet haben, sondern insge-samt für gute und bessere Entlohnung in Deutschlandsorgen wollen, dass wir zum Beispiel dafür sorgen wol-len, die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Ta-rifverträgen zu erleichtern.Die Sozialpartnerschaft, die Vereinbarungen zwi-schen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihrenGewerkschaften und Arbeitgebern und ihren Verbänden,war die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs inDeutschland und soll es auch in Zukunft sein. Wir wol-len die Sozialpartnerschaft und die Tarifautonomie stär-ken, damit gut bezahlte Arbeit in Zukunft eine erfolgrei-che Entwicklung in Deutschland möglich macht und wirmehr Steuern einnehmen, um das bezahlen zu können,was wir im Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben,vor allen Dingen auch, um unsere sozialen Sicherungs-systeme zu stärken. Das ist für uns zentral: Arbeit, bes-sere Arbeit, gut bezahlte Arbeit. Es ist das zentrale An-liegen unserer Koalition.
Das heißt auch, dass wir uns um die Qualität der Ar-beit kümmern. Meine sehr geehrten Damen und Herren,wenn die Zahl psychischer Erkrankungen im Arbeitsum-feld immer deutlicher zunimmt, dann zeigt sich: Arbeits-schutz kann nicht nur technischer Arbeitsschutz sein; esmuss auch ein Arbeitsschutz sein, der die psychischeGesundheit unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer umfasst. Deswegen haben wir verabredet: Wir wol-len gemeinsam mit den Gewerkschaften, den Arbeitge-berverbänden und den Sozialversicherungen diePrävention stärken und dazu beitragen, dass Menschengesund durch das Arbeitsleben und bis zur Rente kom-men. Wir wollen das betriebliche Gesundheitsmanage-ment stärken und damit einen wesentlichen Beitrag dazuleisten, dass Menschen in ihrem Arbeitsleben gesundbleiben und gesund in Rente gehen können.
Das ist auch eine Zielsetzung unserer Rentenreform.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn in diesemZusammenhang mangelnde Generationengerechtigkeitbeklagt wird, verstehe ich das nicht ganz. Wenn wir sa-gen, dass wir den Schutz für Menschen mit Erwerbsmin-derung, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehrVollzeit arbeiten können, verbessern wollen, dann ist dasauch eine Zusage an die Jungen. Denn sie wissen: Wennes darauf ankommt, leistet die Rentenversicherung etwasfür mich. Wenn wir die Rehaleistungen der Rentenver-sicherung verbessern, dann ist das auch eine Zusage andie Jungen, die wissen sollen, dass sie in einem Arbeits-leben, in dem sie länger arbeiten sollen als die heutigenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, darauf zählenkönnen: Wenn es gesundheitliche Probleme gibt, dannist die Rentenversicherung leistungsfähig und finanzierteine Rehamaßnahme.
Ich finde, das ist ein Aspekt, der wesentlich zur Genera-tionengerechtigkeit der Rente beiträgt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist in der De-batte schon vieles zum Thema Mütterrente, die meinesErachtens ein Stück weit für Gerechtigkeit sorgt – siesorgt auch für Generationengerechtigkeit –, und zur ab-schlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren mit 63 ge-sagt worden. Was mich an der öffentlichen Debatte undauch an der Kritik der Opposition wundert: Alle Maß-nahmen dieses Rentenpakets standen genau so im Wahl-programm der Union
und im Wahlprogramm der SPD.
Was haben die Bürgerinnen und Bürger, die uns gewählthaben, für eine Erwartung? Dass wir das, was im Wahl-programm steht, auch umsetzen.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Kollege Ernst.
Herr Kollege Weiß, recht herzlichen Dank. – Sie ha-
ben gerade gesagt: Die Mütterrente steht so im Wahlpro-
gramm.
Dann würde ich gerne wissen, wo in Ihrem Wahlpro-
gramm steht, dass Sie diese Mütterrente nicht aus Steu-
ermitteln finanzieren wollen.
Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, die deutsche Ren-tenversicherung erhält zur Zeit aus dem Bundeshaushalt
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Peter Weiß
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jährlich einen Steuerzuschuss in Höhe von knapp12 Milliarden Euro für Kindererziehungszeiten.
– Ich beantworte Ihnen Ihre Frage zur Finanzierung. –Davon wird aktuell nur ein Teilbetrag für die Finanzie-rung der Kindererziehungszeiten ausgegeben. Deswegensagen wir: Wir wollen den Beitrag des Bundes künftigzu 100 Prozent in Anspruch nehmen. Ab dem Jahr 2019werden wir zusätzliche 2 Milliarden Euro Bundeszu-schuss dazugeben;
denn richtig ist: Die Anerkennung von Kindererzie-hungszeiten ist nicht nur eine Sache der Beitragszahle-rinnen und Beitragszahler, sie ist eine Sache der Allge-meinheit. Deswegen sollen auch alle Steuerzahlerinnenund Steuerzahler zur Finanzierung der Mütterrente bei-tragen.
Zu einer Gesellschaft, die zusammenhält, gehörtauch, dass Menschen mit Behinderungen mitten unteruns leben, gleichberechtigt und gleich anerkannt sind. Esist großartig, dass sich diese Große Koalition nach vielenDiskussionen und auch gescheiterten Anläufen vorge-nommen hat, die Eingliederungshilfe für Menschen mitBehinderung zu reformieren. Dabei werden auch nochdie Kommunen entlastet. Auch das ist richtig. Die groß-artige Zusage an die Menschen mit Behinderung in unse-rem Land ist: Ja, mit uns kommt die Reform der Einglie-derungshilfe.
Es ist ein gutes Zeichen, Frau BundesministerinNahles, dass Sie Frau Bentele, die selbst mit einer Be-hinderung lebt, zur neuen Beauftragten der Bundesregie-rung für die Belange behinderter Menschen gemacht ha-ben. Ich möchte an dieser Stelle unserem KollegenHubert Hüppe, der in den letzten vier Jahren in der Bun-desregierung für diese Aufgabe verantwortlich war, einherzliches Dankeschön für sein großartiges Engagementaussprechen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will zumSchluss feststellen: Ja, wir stehen zu dem, was in unse-rem Wahlprogramm stand und was wir, die Große Koali-tion, im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Deswegengilt in den kommenden vier Jahren für uns klar und ein-deutig bei Arbeit, Sozialem und Rente: Wir halten Wort.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Jana Schimke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Heute veröffentlichte die Bundesagentur für Ar-beit die aktuellen Arbeitsmarktzahlen. Demnach ent-wickelt sich der Arbeitsmarkt trotz saisonaler Effekteweiter positiv.
Wir starten mit guten Voraussetzungen in diese Legis-latur. Noch nie seit der Wiedervereinigung waren soviele Menschen in sozialversicherungspflichtiger Be-schäftigung wie heute: 30 Millionen. Noch nie zuvorwaren so viele Menschen sozial abgesichert wie heute.Die Welt schaut auf uns – dank Rekordbeschäftigungund der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa.Wir sind Vorbild, sowohl in der Ausbildungspolitik alsauch in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik.Bisher haben wir zugunsten von Wohlstand und Wirt-schaftlichkeit die richtigen Entscheidungen getroffen,
oft gegen Widerstände; denn dieser Erfolg wurde durchgrundlegende strukturelle Reformen hart erarbeitet.
Politik, Sozialpartner und Beschäftigte haben ihren Bei-trag geleistet. Wir sind das Zugpferd in Europa, und daswollen wir auch bleiben.
Die neue Bundesregierung ist mit dem Ziel angetre-ten, diesen erfolgreichen Kurs weiter fortzuführen.Gleichwohl liegen eine Reihe von Problemen vor uns:Der demografische Wandel wird unsere sozialen Siche-rungssysteme künftig aufs Ärgste fordern. Generationen-gerechtigkeit ist daher keine Floskel oder irgendetwas,was uns nicht betrifft, sondern sie ist gelebte Verantwor-tung und das Mindeste, was wir heute für morgen tunkönnen.
Am Arbeitsmarkt werden unsere Betriebe mit demFachkräftemangel konfrontiert. Unsere Betriebe müssenihre Personalarbeit also künftig völlig neu definieren.Dennoch gehen viele der Unternehmen bei der Suchenach Fachkräften leer aus. Erst vor kurzem musste dieBundesagentur für Arbeit die Liste der sogenanntenMangelberufe erweitern. In 2020 werden 1,7 MillionenFachkräfte am Arbeitsmarkt fehlen. Diese Lücke wirdsich bis 2035 mehr als verdoppeln. Inzwischen konkur-rieren nicht mehr nur Regionen und Branchen um ausrei-
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Jana Schimke
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chendes Personal; auch der kleine Mittelständler musssich in Konkurrenz zu großen Unternehmen am Arbeits-markt bewähren.Wir haben uns für diese Wahlperiode viel vorgenom-men. Dass zuallererst Vorhaben im Bereich der Arbeits-markt- und Sozialpolitik zur Entscheidung anstehen,spricht für sich. Eines muss klar sein: Das richtige Maßbei unseren Entscheidungen wird am Ende darüber ent-scheiden, wie sich die Lage am Arbeitsmarkt und in un-seren sozialen Sicherungssystemen weiterentwickelt.Das sage ich Ihnen als Abgeordnete, die nicht nur relativjung ist, sondern auch in den neuen Ländern zu Hauseist. Wir wissen schon jetzt, dass eine Lohnuntergrenze,ein Mindestlohn ohne Einschränkung, in den neuen Län-dern Arbeitsplätze kosten wird. Auch das gehört zurWahrheit.
Es ist gut, dass der Koalitionsvertrag die Möglichkeitzur Rücksichtnahme auf mögliche Probleme einräumt.Ich denke ganz persönlich zum Beispiel an das Kinderfe-rienlager, das Langzeitarbeitslosen in den Sommermona-ten Beschäftigung gibt. Ich denke an so manchen Schü-ler, dem sich im jugendlichen Leichtsinn nicht auf denersten Blick der Vorteil einer dreijährigen Berufsausbil-dung gegenüber einer ungelernten Tätigkeit mit kurzfris-tig höherem Einkommen erschließt. Ich denke auch andie kleinen familiengeführten Hotelbetriebe, die in einerstrukturschwachen, aber landschaftlich reizvollen Re-gion Menschen Arbeit geben. Was hier ausgegeben wird,muss auch eingenommen werden. Gerade in solchenkleinen Unternehmen lautet die Frage am Ende immer,was der Kunde bereit ist zu zahlen. Es gibt politischeStimmen, was mich persönlich immer sehr erschreckt,die solch einem Unternehmen die Existenzberechtigungam Markt absprechen. Doch darüber hat Politik nicht zuentscheiden. Im Gegenteil: Arbeit ist immer besser alsArbeitslosigkeit. Das gilt gerade auch für Menschen, diesonst, zum Beispiel wegen einer fehlenden Ausbildung,vollständig von der Solidargemeinschaft getragen wer-den müssten. Erst Arbeit ermöglicht ihnen ein finanziellselbstbestimmtes Leben, den Weg zum beruflichen Auf-stieg und vor allem auch, selbst für das Alter vorzusor-gen.
Wir müssen eine Debatte darüber führen, wie wir dieVereinbarungen des Koalitionsvertrags umsetzen kön-nen, ohne den Menschen den Weg in Beschäftigung zuversperren. Das ist kein „Schweizer Käse“, wie neulicheine große überregionale Zeitung titelte, sondern einWeg, der die Vielfalt unserer Arbeitslandschaft abbildet.Hier gibt es nicht nur Schwarz und Weiß. Politik hat dieAufgabe, diese Vielfalt anzuerkennen. Deshalb ist einegute Arbeitsmarktpolitik, die Beschäftigung fördert undnicht abwürgt, immer auch eine gute Sozialpolitik.
Doch nicht alles, was sozial wünschenswert ist, istauch zu leisten. Wir haben uns entschlossen, die renten-politischen Entscheidungen der letzten Jahre anzugehenund sie ein Stück weit aufzuschnüren. Ich will hierdurchaus auch Selbstkritik üben. Das ist eine teilweiseAbkehr von richtigen und wichtigen Entscheidungen dervergangenen Jahre. Das ist auch eine Abkehr von einemmühsam erarbeiteten gesellschaftlichen Konsens. Des-halb finde ich es sehr beruhigend, zu wissen, dass eineZunahme der Frühverrentungen auch nicht im Interesseunserer Bundesarbeitsministerin ist. Ich bin sehr zuver-sichtlich, dass wir dies im weiteren Gesetzgebungsver-fahren regeln werden.Lassen Sie mich abschließend darauf hinweisen, dasswir die Betriebe seit Jahren für die Beschäftigung ältererArbeitnehmer sensibilisiert haben: Kongresse wurdenveranstaltet, Programme gestartet, Studien erstellt undLeitfäden entwickelt. Produzierende Unternehmen inDeutschland haben Investitionen in altersgerechte Ar-beitsplätze und ein betriebliches Gesundheitsmanage-ment getätigt, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeitermöglichst lange im Unternehmen zu halten. Jetzt wirdein anderes politisches Signal ausgestrahlt, das seineWirkung nicht verfehlt. Sie wissen aus Gesprächen vorOrt ebenso wie wir, dass eine gewisse Vorfreude auf ei-nen frühzeitigen Renteneintritt vorhanden ist. DiesesVorgehen birgt in der Konsequenz aber die Gefahr, dassder Fachkräftemangel in unseren Unternehmen weiterverschärft wird.Das zeigt aber auch, dass die Vernunft bei wichtigenEntscheidungen, auch wenn sie unbequem sind, nur vondiesem Hause ausgehen kann. Diese Verantwortung tra-gen wir heute gegenüber all jenen, die künftig einmalVerantwortung tragen werden. Deshalb hoffe ich, dasswir in den kommenden Monaten eine konstruktive De-batte im Sinne der Menschen für die Zukunft und für dieGenerationengerechtigkeit in unserem Land führen wer-den.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Schimke. Das war Ihre
erste Rede. Ich darf Ihnen im Namen des gesamten Hau-
ses dazu gratulieren.
Letzter Redner in der Debatte ist jetzt der Kollege
Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! FrauSchimke, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede.Ich möchte daran anknüpfen und auch etwas zum ThemaBeschäftigung sagen. Wir haben jetzt viel über Sozial-politik gesprochen. Ich bin der Überzeugung, dass dieBeschäftigungspolitik dieses Landes, die Arbeitsmarkt-politik der letzten zehn Jahre erfolgreich war. Die Be-schäftigungsschwelle, der entscheidende Indikator fürgute Beschäftigungspolitik, ist von 2 Prozent auf 1 Pro-
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Dr. Carsten Linnemann
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zent gesunken. Früher brauchte man 2 Prozent Wachs-tum, um Beschäftigung zu erzielen, heute nur noch1 Prozent. Das ist das Ergebnis der Politik der Arbeits-minister und -ministerin der letzten zehn Jahre. Daraufsollte man an dieser Stelle hinweisen. Diese Politik wargut und richtig. Wir sollten die Arbeit so fortführen.Frau Schimke, Sie haben tolle Zahlen genannt. Ichmöchte diese ergänzen. Vor neun Jahren – ich glaube,die Zahlen wurden sogar auf den Tag genau vor neunJahren genannt – gab es in Deutschland Rekordarbeitslo-sigkeit. Mehr als 5 Millionen Menschen hatten keine Ar-beit. Exakt neun Jahre später gibt es Rekordbeschäfti-gung. Ähnlich sieht es bei der Langzeitarbeitslosigkeitaus. 2005 verharrten 2,4 Millionen Menschen in derLangzeitarbeitslosigkeit. Jetzt sind es 1,2 MillionenMenschen.Frau Nahles, das Thema Langzeitarbeitslosigkeit wird– ich beziehe mich hier auch auf die Rede von FrauPothmer – ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. Dassollte man mehr hervorheben. Im Koalitionsvertrag stehtexplizit, dass wir dieses Thema in den nächsten vier Jah-ren angehen werden.
Das finde ich richtig, und das sollten wir auch tun.
Ein weiterer wichtiger Indikator ist die Höhe der So-zialversicherungsbeiträge. Diese sind von 42 ProzentAnfang der 2000er-Jahre auf jetzt unter 40 Prozent ge-sunken. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung istvon 6,5 Prozent auf jetzt 3 Prozent gesunken. Gleichzei-tig hatten wir mehr Steuereinnahmen und haben dieNeuverschuldung zurückgefahren. Diesen erfolgreichenWeg sollten wir weitergehen. Wir erkennen, dass die Si-tuation in Deutschland insgesamt unmittelbar mit derBeschäftigung zusammenhängt. Deswegen sollte unserFokus ganz klar bei der Beschäftigungspolitik liegen.Sie muss im Sinne der Arbeitnehmer und Arbeitgeberdieses Landes erfolgreich sein.
Um das zu schaffen, müssen wir mehrere Schwer-punkte legen; einige wurden schon angesprochen. EinSchwerpunkt ist natürlich das Thema Mittelstand. Diemeiste Beschäftigung in Deutschland wird im Mittel-stand geschaffen. Rund 70 Prozent der sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigten und 80 Prozent der Auszu-bildenden sind im Mittelstand. Wir in Deutschlandhaben am industriellen Mittelstand festgehalten, wäh-rend viele Länder sich davon verabschiedet haben. Dasmuss auch Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein.Damit sind wir beim Thema Fachkräftemangel. Erstvor wenigen Minuten hat der Deutsche Industrie- undHandelskammertag das Ergebnis der aktuellen Umfrage2014 veröffentlicht. Dies zeigt, dass das Thema Fach-kräfte für jedes dritte Unternehmen essenziell für die Zu-kunft ist. Deswegen freue ich mich, dass auch beimThema Fachkräftemangel ein Schwerpunkt gesetzt wird.Dieser ist ebenso wichtig wie die Bekämpfung der Lang-zeitarbeitslosigkeit.
Wir müssen auch das inländische Potenzial – damitbin ich beim Thema Meisterbrief – stärken. Es reichtnicht, nur die Akademikerquote zu erhöhen, sondern wirmüssen auch das duale Ausbildungssystem stärken.Denn wir wissen, dass in Zukunft nicht nur im indus-triellen Mittelstand, sondern auch im Handwerk jungeLeute fehlen. Deswegen ist es gut, dass der Meisterbriefexplizit im Koalitionsvertrag verankert ist. Daran haltenwir fest; denn es ist richtig. Er garantiert nicht nur dieQualität in den Betrieben, sondern bietet auch eine Kar-rieremöglichkeit für junge Leute. Er gibt ihnen den An-reiz, den Weg der dualen Ausbildung zu gehen.
Zu guter Letzt – Frau Schimke, da haben Sie völligrecht –: Die Maßnahmen, die wir hier beschließen, müs-sen immer unter der Prämisse ablaufen: Schadet odernutzt es der Beschäftigung? Der Koalitionsvertrag liegtvor; daran werden wir uns halten. Aber der Koalitions-vertrag lässt natürlich insoweit Spielräume zu, als esauch Diskussionen und harte Debatten über das Thema„Nutzt oder schadet es der Beschäftigung?“ geben wird.Insofern finde ich es gut, dass wir bei der Frage derHöchstüberlassungsdauer beim Thema Zeitarbeit eineÖffnungsklausel haben und beim Thema Werkverträgedie Informationsrechte. Niemand hat auch ein Interessedaran, dass der Mindestlohn zu einer Schwächung derdualen Ausbildung führt. Niemand will, dass die jungenLeute keinen Anreiz mehr haben, in die duale Ausbil-dung zu gehen. Über all das müssen wir diskutieren, ge-nauso wie über das Thema „Rente mit 63“. Ich bedankemich bei dem Kollegen Karl Schiewerling, der auf dieIdee gekommen ist, eine Stichtagsregelung einzuführen,um das Thema Frühverrentung nicht auf den Plan zu ru-fen. Das sollten wir seriös prüfen; denn wir alle habenkein Interesse an Frühverrentungen, genauso wenig da-ran, bei der Rente mit 63 unbegrenzt Zeiten der Arbeits-losigkeit zuzulassen. Wir haben vielmehr ein Interessedaran, uns hier an die vereinbarte Deckelung zu halten.
In diesem Sinne werden wir eine harte Debatte führen.Das gehört dazu, weil wir alle ein Ziel haben, nämlichdie Beschäftigung in Deutschland nicht nur stabil zu hal-ten,
sondern in den nächsten vier Jahren noch auszubauen.Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Damit sind wir am Schluss dieses
Themenbereichs.
Ich darf Ihnen nun die von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahl der or-
dentlichen Mitglieder und der Stellvertreter des Sondergre-
miums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismus-
gesetzes bekannt geben: abgegebene Stimmkarten 586,
keine ungültigen Stimmen. Alle Bewerberinnen und Be-
werber erhielten die erforderliche Stimmenzahl. Gewählt
sind als ordentliche Mitglieder Norbert Barthle, Axel
Fischer, Bartholomäus Kalb, Petra Hinz, Ewald Schurer,
Dr. Dietmar Bartsch und Sven-Christian Kindler. Als
Stellvertreter wurden gewählt Klaus-Peter Flosbach,
Alois Karl, Michael Stübgen, Johannes Kahrs, Dr. Hans-
Ulrich Krüger, Roland Claus und Manuel Sarrazin. Die
genauen Stimmergebnisse können Sie dem Protokoll
entnehmen.1)
Ich rufe jetzt den Themenbereich Gesundheit auf.
Als erster Redner in dieser Debatte spricht der Bundes-
minister Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Zum Sozialstaat der Bundes-republik Deutschland gehört es ganz wesentlich, dasssich alle Menschen in diesem Land darauf verlassenkönnen, dass sie im Falle der Krankheit, der Pflegebe-dürftigkeit oder eines Unfalls menschliche Zuwendungund qualifizierte Hilfe erfahren. In diesem Zusammen-hang möchte ich unterstreichen, was BundeskanzlerinAngela Merkel in der gestrigen Regierungserklärungformuliert hat: Die Menschlichkeit unserer Gesellschaftmuss sich gerade darin erweisen, wie wir mit schwachenund hilfsbedürftigen Menschen umgehen.Die Bundesrepublik Deutschland verfügt insgesamtüber ein leistungsfähiges Gesundheitswesen, das vielenin der Welt als Vorbild dient. Die Politik hat dafür wich-tige Rahmenbedingungen geschaffen. Den Rahmen mitLeben füllen aber diejenigen, die in den unterschied-lichsten Berufen im Gesundheitswesen dafür Sorge tra-gen, dass Kranke und Pflegebedürftige angemesseneUnterstützung erfahren: unsere gut ausgebildeten Ärztin-nen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, die Hebammenund Therapeuten, die Apothekerinnen und Apotheker,diejenigen, die in Industrie und Handwerk oder der For-schung dazu beitragen, dass unsere Gesundheitsversor-gung immer besser wird. Auch die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter der Krankenversicherungen möchte ich nichtvergessen. Schließlich möchte ich – das in ganz beson-derer Weise – aber auch diejenigen erwähnen, die als Eh-renamtliche, beispielsweise bei Besuchsdiensten fürKranke oder Pflegebedürftige oder in der Hospizarbeit,Eindrucksvolles leisten, um die menschliche Qualitätunseres Gesundheitswesens zu sichern.1) Anlage 12
Wir schulden all diesen Menschen großen Dank. Wirschulden ihnen für ihren täglichen Einsatz aber auchgute Arbeitsbedingungen.
Sie sind in Ausbildung und Beruf unerlässlich, auch umzukünftig über genügend Fachkräfte – das Thema Fach-kräftemangel klang in dieser Debatte schon an – imGesundheitswesen zu verfügen. Hier wird einer derSchwerpunkte meiner künftigen Arbeit liegen: Wir wol-len Menschen für einen Gesundheitsberuf gewinnen, jabegeistern. Unsere Pläne dafür reichen von einer umfas-senden Reform der Ausbildung der Pflegekräfte überMaßnahmen der Berufs- und Weiterqualifizierung bishin zum „Masterplan Medizinstudium 2020“.Meine Damen und Herren, unser Gesundheitswesenist von hoher Qualität. Doch erstens kann auch Gutesnoch besser werden – nicht zuletzt dank des medizini-schen Fortschritts –, und zweitens wird es angesichts derdemografischen Entwicklung und des Bevölkerungs-rückgangs großer Anstrengungen bedürfen, das hohe Ni-veau der Versorgung in unserem Land aufrechtzuerhal-ten, nicht zuletzt in ländlichen Teilen unseres Landes.Dies aber ist das zentrale Anliegen unserer Gesundheits-politik: Wir wollen, dass alle Menschen in unserem Landauch zukünftig Zugang zu einer Versorgung von hoherQualität haben, und zwar unabhängig von ihrem Wohn-ort und ihrem Geldbeutel.
Das gilt für die Arztpraxis genauso wie für das Kranken-haus; beide sind wesentliche Elemente der Daseinsvor-sorge.Dauerhafte Qualitätssicherung ist ein weitererSchwerpunkt unserer Politik. Wir können dabei an dashohe Verantwortungsbewusstsein und fachliche Könnenderjenigen anknüpfen, die in unserem Gesundheitswesentätig sind. Wir wollen dieses Qualitätsbewusstsein för-dern und die Qualität zum Wohle der Patienten und Pfle-gebedürftigen noch transparenter machen. Wir müssenuns dazu auf taugliche Maßstäbe für die ambulante unddie stationäre Versorgung verständigen, auch angesichtsdes nicht enden wollenden Gelehrtenstreits, der nahezujedem veröffentlichten Ranking folgt. Zu diesem Zweckwerden wir ein neues Qualitätsinstitut schaffen. Es solldem Gemeinsamen Bundesausschuss Empfehlungen fürMaßnahmen zur Qualitätssicherung geben.Auch die Qualitätsberichte der Krankenhäuser müs-sen verständlicher werden. Wichtig ist, dass sie auch dieErgebnisse von Patientenbefragungen einbeziehen. Wirwerden den Gemeinsamen Bundesausschuss damit be-auftragen, entsprechende Vorgaben zu machen.Nicht nur bei der Behandlung, sondern auch bei derVermeidung von Krankheiten kommt es auf die Qualitätder Maßnahmen an. Bei dem geplanten Präventionsge-
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Bundesminister Hermann Gröhe
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setz geht es darum, die Förderung des gesundheitsbe-wussten Verhaltens eines jeden Einzelnen dadurch zuverbessern, dass entsprechende Maßnahmen in allen Le-bensbereichen – von der Kita über die Schule und denArbeitsplatz bis hinein in die Altenpflege – erstens ver-stärkt, zweitens besser miteinander verzahnt undschließlich in hoher Qualität erbracht werden.Zur Qualität im Gesundheitswesen gehört auch– diese Frage wird in diesen Tagen wieder einmal öffent-lich diskutiert –, dass die Menschen in angemessenerZeit einen Termin beim Facharzt bekommen. Das gilt fürprivat wie auch für gesetzlich Versicherte. Zumeist be-kommt man einen Termin; überlange Wartezeiten sindaber kein Einzelfall. Daher wollen wir, dass künftig Ter-minservicestellen bei den Kassenärztlichen Vereinigun-gen helfen, zügig einen Facharzttermin zu erhalten, oder,falls dies nicht möglich ist, eine ambulante Behandlungim Krankenhaus ermöglichen.
Die Ärzteschaft hat auf diesen Vorschlag mit kriti-schen Einwänden, aber auch mit eigenen Vorschlägen– etwa im Hinblick auf eine differenzierte Überwei-sungspraxis – reagiert. Ich begrüße, dass damit Hand-lungsbedarf eingeräumt wird. Ich möchte es einmal sosagen: Wenn die vorgeschlagene differenzierte Überwei-sungspraxis, die ja im Rahmen der Selbstverwaltungmöglich ist, gut funktioniert,
dann werden die Terminservicestellen wenig zu tun be-kommen. Insofern bin ich gespannt, wie wir da zueinan-derfinden.
Ein Thema, das mir persönlich ganz besonders amHerzen liegt, sind die geplanten Verbesserungen im Be-reich der Pflege. Gerade bei der Kranken- und Alten-pflege leisten die Pflegekräfte nicht selten unter schwie-rigen Bedingungen Eindrucksvolles zum Wohle derihnen anvertrauten Menschen.
Oft gehen sie dabei bis an die Grenzen der eigenen Leis-tungsfähigkeit, ja sogar darüber hinaus. Ich selbst habedies als Vorsitzender der Diakonie in meiner HeimatstadtNeuss über sieben Jahre intensiv miterlebt und dabeiprägende Einsichten gewonnen. Ich freue mich daher,dass die Verbesserungen im Pflegebereich erklärterma-ßen einen wichtigen Schwerpunkt im Handeln dieserBundesregierung bilden.Nach der Erhöhung der Leistungen für Demente undVerbesserungen im Hinblick auf die Vereinbarkeit vonPflege und Beruf in der vergangenen Legislaturperiodewollen wir nun die Leistungen für alle Pflegebedürfti-gen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte in zwei gro-ßen Schritten deutlich verbessern. Hier ist ein echterKraftakt notwendig und von uns auch in Angriff genom-men worden.
In einem ersten Schritt wollen wir die Dynamisierungvon Leistungen angehen und mit der Flexibilisierung derLeistungen und einer besseren Personalausstattung dazubeitragen, dass der individuellen Situation eines Pflege-bedürftigen besser Rechnung getragen werden kann.Gute Pflege braucht mehr Zeit. Diese berechtigte Forde-rung der Pflegekräfte wollen wir umsetzen.
Dafür werden wir die Beitragssätze zum 1. Januar 2015um 0,2 Prozentpunkte erhöhen und damit das Leistungs-volumen um 2,4 Milliarden Euro mehren. Eine weitereBeitragserhöhung um 0,1 Prozentpunkte soll für einenPflegevorsorgefonds genutzt werden, um dann, wenn diegeburtenstarken Jahrgänge ins Pflegealter kommen, eineBeitragssteigerung abzumildern.In einem zweiten Schritt wollen wir mit einer Bei-tragssteigerung von noch einmal 0,2 Prozentpunkten un-ter anderem die erforderliche Umsetzung des neuen Pfle-gebedürftigkeitsbegriffs einleiten. Danach werden proJahr 5 Milliarden Euro mehr für Leistungen in der Pfle-geversicherung zur Verfügung stehen. Dies bedeutet eineSteigerung des Leistungsvolumens um 20 Prozent. Dasist ein echter Kraftakt.
Wenn wir uns ansehen, dass die Zahl der Pflegebe-dürftigen in den nächsten 15 Jahren von 2,5 Millionenauf 3,5 Millionen steigen wird, dann wird völlig klar,dass wir uns sehr anstrengen müssen, ausreichend Fach-kräfte für den Pflegeberuf zu gewinnen. Wir wollen miteiner umfassenden Reform der Pflegeausbildung, einereinheitlichen Grundausbildung mit einer anschließendenSpezialisierung in den Bereichen Alten-, Kranken- oderKinderkrankenpflege, die Möglichkeiten des Berufs-wechsels im Pflegebereich und die Aufstiegschancenverbessern und so eine Grundlage für ein attraktivesAusbildungsangebot legen, zu dem übrigens auch gehö-ren muss, dass Schulgeld im Bereich der Altenpflegeendlich der Vergangenheit angehört.
Meine Damen, meine Herren, ein solidarisches Ge-sundheitswesen braucht eine verlässliche finanzielleGrundlage. Wir werden deshalb unsere Vorstellungenüber die Weiterentwicklung der GKV-Finanzierung, dieim Koalitionsvertrag niedergelegt sind, bis Sommer die-ses Jahres hier im Parlament beschließen, damit sie zum1. Januar des nächsten Jahres in Kraft treten können. Wirsichern damit erstens, dass Arbeitsplätze nicht durchsteigende Lohnzusatzkosten gefährdet werden – gute Ar-beitsplätze sind Grundlage eines solidarischen Gesund-heitswesens –, und zweitens schaffen wir damit die Vo-raussetzungen dafür, dass zwischen den Kassen nebendem Wettbewerb über unterschiedliche Beitragssätzeauch ein Wettbewerb über eine möglichst effiziente Ver-sorgung der Versicherten entsteht. Auch das sichert Qua-lität.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 751
Bundesminister Hermann Gröhe
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Dies gemeinsam mit allen Mitgliedern des Gesund-heitsausschusses des Bundestages und des Parlamentsinsgesamt sowie den Bundesländern anzupacken, isteine Aufgabe, auf die ich mich sehr freue.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Ich darf alle Rednerinnen und Redner
noch einmal an die vereinbarte Redezeit erinnern.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Apotheken Umschau hat Anfang dieses
Jahres eine repräsentative Umfrage über die wichtigsten
Lebenswünsche der Menschen in unserer Republik ver-
öffentlicht.
Der erste Wunsch, der von mehr als zwei Dritteln geäu-
ßert wurde, war, dass sie gesund bis ins hohe Alter kom-
men und geistig sowie körperlich fit bleiben. Ich finde
das gut und wünsche allen eine gute Gesundheit.
Jeder Mensch kann aber in die Situation kommen,
schwer zu erkranken. Wenn Sie Glück haben, sind Sie
privat versichert. Wer privat versichert ist, der braucht
sich keine Sorgen zu machen: Er bekommt schnell einen
Termin, er bekommt die besten Medikamente, und das
Einzelzimmer im Krankenhaus ist auch schon reserviert.
Aber für die Masse der Menschen gilt das eben nicht.
70 Millionen Menschen sind gesetzlich versichert und
9 Millionen privat. In der Gesundheitspolitik muss das
Prinzip gelten: Eine gute Versorgung darf nicht vom
Geldbeutel abhängen. Dafür stehen wir als Linke.
Doch die neue Bundesregierung hat sich vorgenom-
men, diese Zweiklassenmedizin in Deutschland auf-
rechtzuerhalten. Die privaten Krankenkassen werden
nicht angetastet. Die SPD hat vor der Wahl eine Bürger-
versicherung gefordert, in die alle einzahlen: vom Me-
tallbauer über die Verkäuferin bis hin zum Rechtsanwalt
und zum Abgeordneten. Aber davon ist nichts übrig ge-
blieben. Wer krank wird, wird weiter spüren, wie teuer
das werden kann. Für fast alle Gesundheitsleistungen
sind weiter Zuzahlungen fällig, egal ob für Arzneimittel,
Krankenhausaufenthalte oder Heil- und Hilfsmittel. Wer
einen Zahn verliert oder eine Brille braucht, muss wei-
terhin tief in die Tasche greifen.
Die Große Koalition macht auch damit weiter, die Ar-
beitgeber bei der Finanzierung des Gesundheitssystems
aus der Verantwortung zu entlassen. Deren Kostenanteil
wird eingefroren; die Zusatzkosten sollen einseitig wie-
der einmal die Versicherten tragen. Das ist ungerecht. Da
sagen wir als Linke: So kann es nicht weitergehen.
Den Sozialausgleich für Geringverdienende streicht
die Koalition ersatzlos. Meine Damen und Herren der
Großen Koalition, Ihre Gesundheitspolitik ist sozial zu-
tiefst ungerecht und gehört aus unserer Sicht beendet.
Ich sage Ihnen auch, was sozial ist, damit Sie vielleicht
etwas lernen, lieber Kollege. Sozial gerecht wäre es, zu
einer solidarischen und paritätischen Finanzierung der
Krankenversicherung zurückzukehren.
Aber davon wollen Sie in der Koalition gar nichts wis-
sen.
Herr Minister Gröhe, ich muss Ihnen sagen: Sie blei-
ben auch eine Antwort darauf schuldig, wie eine gute
und nachhaltige Finanzierung der Gesundheitsversor-
gung aussehen kann. Union und SPD setzen weiter auf
Kostendruck, Wettbewerb und pauschale Vergütung. Da-
bei führt diese Fehlentwicklung, die schon in den letzten
Jahren zu erkennen war, zu einer dramatischen Situation.
In den vergangenen Jahren hat die Zahl bestimmter Ope-
rationen zugenommen, nur weil sie finanziell lukrativ
sind; davon haben Sie sicherlich gehört. Medizinisch ist
das oft fragwürdig.
Auf der Strecke bleiben auch die Beschäftigten im
Gesundheitssektor, vor allem in den Pflegeberufen; Sie
haben das angesprochen, Herr Minister Gröhe. Für gute
Löhne und eine ausreichende Personaldecke steht zu we-
nig Geld zur Verfügung. Die Arbeitsverdichtung hat zu-
genommen. Es sind vor allem Frauen, die diese oft le-
bensnotwendigen Tätigkeiten verrichten. Das, Herr
Minister Gröhe, sind die Arbeitsbedingungen in diesen
Berufen.
Ein weiterer zentraler Punkt taucht bei Union und
SPD gar nicht erst auf: Wer eine gute Gesundheit will,
muss auch dafür sorgen, dass Arbeit nicht krank macht.
Deswegen wäre es wichtig gewesen, den Vorschlag der
Gewerkschaften für eine Antistressverordnung mit auf
die Tagesordnung zu setzen. Aber Fehlanzeige!
Hier haben die Wirtschaftslobbyisten in der Union einen
verlässlichen Partner und in der SPD einen schwachen
Gegner gefunden.
Ich komme zum Schluss. Die Linke sagt klar: Die Pa-
tientinnen und Patienten müssen wieder in den Mittel-
punkt des Gesundheitswesens gestellt werden. Eine ge-
rechte Finanzierung ist notwendig, damit die Gesundheit
nicht vom individuellen Geldbeutel abhängt. Dafür wer-
den wir als Linke weiter streiten.
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte istDr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
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752 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
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Danke schön. – Fürs Protokoll: Applaus von derCDU/CSU!
Frau Präsidentin! Herr Minister! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Wir lernen in diesen Tagen, auchfür die Bundeskanzlerin zu klatschen, was dem einenleichter und dem anderen schwerer fällt. Sie hat gesternetwas Wichtiges gesagt, nämlich dass wir auf unsere so-ziale Marktwirtschaft stolz sein können.Unser Gesundheitssystem ist immer ein sehr wichti-ger Bestandteil in dem Gebäude der sozialen Marktwirt-schaft. Aber wenn man von einer schweren Krankheitbetroffen ist, dann ist es der mit Abstand wichtigste Be-standteil. Dann ist alles andere weniger bedeutsam.Ich werde jeden Tag mit Menschen konfrontiert, dieeine schwere Erkrankung befürchten oder tatsächlich da-von erfasst werden. Ich persönlich bekomme sehr vieledieser Einzelschicksale in der Verzweiflung unmittelbarmitgeteilt, ob unklarer Befund oder klarer Befund. Danngeht es um die Frage: Wie geht es jetzt weiter?Das erlebe ich jeden Tag. Ich helfe gerne, wo ichkann. Aber daher ist mir die Debatte, die wir führen,wichtig. Die Qualität unseres Gesundheitssystems, diedazu führt, menschliches Leid zu vermeiden und den Fa-milien Sorgen zu nehmen, entscheidet in der Tat, genauwie der Minister gesagt hat, über die Qualität unseresSozialstaates. Das darf man nicht verhetzen oder kleinre-den. Das ist für den Einzelnen im Falle der Betroffenheitder wichtigste Bestandteil des Sozialstaats. Wir sind inder Pflicht, diesen Teil des Sozialstaats handwerklich gutauszubauen, in der Qualität zu verbessern und bezahlbarzu halten.
Die Qualität der Versorgung – darauf komme ichgleich zu sprechen – wird in dieser Legislaturperiodewichtige Initiativen erfahren. Ich gehe aber erst einmalauf einen Teil ein, der die Wirtschaftlichkeit betrifft. Wirwerden in dieser Legislaturperiode die kleinen Kopfpau-schalen, die Gesundheitsprämie, abschaffen. Es wird im-mer relativiert: Das ist kein großer Schritt; das ist nichtso wichtig; der Solidarausgleich fällt weg, usw., usf. Ichdarf daran erinnern: Wir haben gemeinsam zehn Jahredafür gekämpft, liebe Kolleginnen und Kollegen vonden Grünen und auch von der Linkspartei, dass dieKopfpauschalen fallen. Uns ist das jetzt gelungen. Dawäre ein kleines Maß an Anerkennung angemessen ge-wesen.
Diese Kopfpauschalen wären eine Bedrohung für dasSolidarsystem gewesen. Das darf man nicht kleinreden.Es wäre doch so gewesen: Die Kassen, die viele Gering-verdiener versichern, wären von den Kopfpauschalenbesonders betroffen gewesen und hätten Leistungenkürzen müssen. Das wissen Sie doch. Sie wären von denKopfpauschalen bedroht gewesen und hätten Mitglieder-verluste befürchtet, und sie hätten daher wichtigeLeistungen, insbesondere in der vorbeugenden Medizin,gestrichen. Hätten wir das gewollt? Das wäre eine Kata-strophe gewesen.Wir haben dagegen gekämpft, und wir haben das er-reicht. Dabei hat übrigens auch die gemeinsame Opposi-tionsarbeit in der letzten Legislaturperiode eine wichtigeRolle gespielt, für die ich mich bei dieser Gelegenheitnoch einmal bedanken möchte. Aber bitte vergesst dasnicht. Das war ein gemeinsames Ziel, und das haben wirumsetzen können. Es ist auch der Union dafür zu dan-ken, dass sie diesen Weg mit uns gemeinsam mutig ge-gangen ist.
Was die Pflegereform angeht, haben wir es in derPflege mit doppelter Armut zu tun. Dort ist die Situationso: Diejenigen, die in der Pflege arbeiten, können oft vonder Arbeit, die sie leisten, nicht leben. Bei denjenigen,die in der Pflege versorgt werden, sind oft nicht nur diezu Pflegenden arm, sondern die ganze Familie kann da-rüber arm werden.Wenn wir jetzt insgesamt 5 Milliarden Euro mehr indie Pflege bringen, dann ist das prozentual die größteErweiterung eines solidarischen Systems, unseresSozialstaates, die wir je beschlossen haben. Das ist eineErweiterung um fast 25 Prozent. Wer hier im Haus hatdie Ausdehnung eines System um 25 Prozent in einemSchritt, also in einer Legislaturperiode, in Erinnerung?Das ist eine sehr wichtige Initiative.Die Kollegin von der Linken hat die Arbeitgeber an-gesprochen. Die Erweiterung wird zur Hälfte von denArbeitgebern bezahlt. Es kann nicht die Rede davonsein, dass die Arbeitgeber hier geschont werden. Wir ge-hen vielmehr gemeinsam diesen Weg: Arbeitgeber undArbeitnehmer verbessern die Pflege in Deutschland, ent-bürokratisieren sie und werden sie finanziell auf eineviel bessere Säule setzen. Darauf können wir stolz sein.
Mir läuft die Zeit davon. Ich will es kurz machen undkomme zur Qualität zurück, weil sie mir ein besonderesAnliegen ist. Ich erlebe es selbst jeden Tag, dass dieQualität der Versorgung das Wichtigste überhaupt ist,wenn der Einzelne betroffen ist. Dann fragt man nichtmehr nach dem Kassenbeitrag. Dann fragt man auchnicht mehr, ob gesetzlich oder privat. Dann fragt man:Ist das, was jetzt gemacht wird, tatsächlich medizinischsinnvoll? Entspricht das dem wissenschaftlich gesicher-ten Stand? Komme ich an die Versorgung heran, die ichbenötige? Lassen Sie uns hier im Hohen Haus ehrlichsein: Das ist in vielen Fällen nicht der Fall, auch beiPrivatversicherten nicht. Das hängt damit zusammen,dass wir nach wie vor Defizite in der Fortbildung haben.Viele Bereiche sind nicht gut untersucht. Vieles ist auchnicht so gut organisiert, wie es eigentlich unserem Landanstünde. Daher ist die Qualitätsinitiative – 300 Millio-nen Euro durch einen Innovationsfonds in Verbindungmit einem neuen Qualitätsinstitut und Datentransparenz,sodass wir eine neue Ära der Versorgungsforschung star-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 753
Dr. Karl Lauterbach
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ten können – ganz wichtig; das darf man nicht unter-schätzen.Uns wird es in dieser Legislaturperiode gelingen, dasSystem effizienter und gerechter zu machen. Ich ladealle ein – auch die Kolleginnen von der Opposition –,uns im Ausschuss konstruktiv zu begleiten, sodass wirauf gute handwerkliche Weise unser Solidarsystem undsomit auch die soziale Marktwirtschaft weiter nachvorne bringen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Lauterbach. – Jetzt hat das Wort
Elisabeth Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Herr Gesundheitsminister, Sie machen seit eini-
gen Tagen ganz große pflegepolitische Ankündigungen.
Darin stehen Sie, ehrlich gesagt, Ihrem Vorgänger in
nichts nach. Das kennen wir aus den vergangenen Jahren
schon zur Genüge. Erwarten Sie bitte dafür von uns zu-
mindest zum jetzigen Zeitpunkt kein Lob.
Sie sind uns erst einmal Antworten und Lösungen schul-
dig. Wie werden Sie das alles machen? Wie werden Sie
denn die Bürokratie eindämmen? Wie werden Sie mehr
Geld für die Pflegekräfte bereitstellen? Wie werden Sie
mehr Auszubildende gewinnen, und wie werden Sie
– das ist ganz besonders wichtig – die Minutenpflege ab-
schaffen? Dazu, Herr Gröhe, sagen Sie nichts. Statt-
dessen liest man gleichzeitig in der Presse, dass Sie die
Reform des Pflegebegriffs doch eher für eine „akademi-
sche Diskussion“ halten. An dieser Äußerung erkennt
man bei allem Respekt, Herr Minister: Sie haben einfach
keine Ahnung.
Sonst wüssten Sie, dass ein neuer Pflegebegriff ein Ende
der Minutenpflege und übermäßiger Bürokratie ermögli-
chen kann. Der neue Pflegebegriff kann die Ungleich-
behandlung Demenzkranker beenden und Teilhabe an
der Gesellschaft ermöglichen. Er kann, wenn man es
wirklich will. Aber diesen Willen sehe ich bei Ihnen zum
jetzigen Zeitpunkt nicht.
Herr Gröhe, wir werden den Verdacht nicht los, dass
Sie sich von der Reform des Pflegebegriffs freikaufen
wollen. Ihre Umschreibung, dass Sie den Pflegebegriff
einleiten wollen, ist weit entfernt von einer Umsetzung;
das macht es noch deutlicher. Sie wollen den Menschen
ab dem nächsten Jahr ein paar kleine Leistungsverbesse-
rungen zukommen lassen und sie damit ruhigstellen.
Natürlich wird das einigen Menschen helfen. Aber ge-
rade die demenziell Erkrankten erhalten dadurch immer
noch keinen klaren Anspruch auf Leistungen der Pflege-
versicherung. Das geht nur mit dem neuen Pflegebegriff.
Herr Gröhe, Sie gehen den bequemen, aber falschen
Weg Ihres Vorgängers Daniel Bahr weiter. Das ist fach-
lich falsch, und es ist auch feige. So erreichen wir keine
Trendwende.
Dann zur Finanzierung. Es ist gut, dass die Große
Koalition mehr Geld für die Pflege in die Hand nehmen
will. Aber es muss nachhaltig und gerecht zugehen.
Auch davon sind Sie sehr weit entfernt. Die Privatversi-
cherten werden sich weiterhin dem Solidarsystem ent-
ziehen. Die Einnahmebasis wird nicht verbreitert. Der
unsinnige Pflege-Bahr bleibt. Stattdessen kommen Sie
uns mit einem Pflegevorsorgefonds. Wenn Sie uns schon
nicht glauben, dann glauben Sie doch wenigstens nam-
haften Ökonomen oder auch der Bundesbank: Dieser
Fonds funktioniert nicht.
Herr Minister, seit vielen Jahren bestimmt die Pflege-
versicherung über Wohl und Wehe von pflegebedürfti-
gen Menschen. Sie sollten genauso wie wir die Probleme
im System kennen. Es gibt keine ordentlich funktionie-
rende Selbstverwaltung, keine wirkliche Transparenz,
keine wirklich neutrale Beratung, keine existierende
Gerechtigkeit, keine Teilhabemöglichkeit, keine
Wunsch- und Wahlmöglichkeit sowie keine wirkliche
Entlastung für die pflegenden Angehörigen. Die Pflege-
kräfte gehen an ihre Grenzen und darüber hinaus. Und
Sie schauen weiterhin weg.
Warum wollen Sie wieder im Klein-Klein arbeiten,
wenn wir doch wissen, dass die Baustelle so groß ist?
Sie rücken mit Hammer und Meißel im Gepäck an, und
das, wo wir doch eine so große Baustelle zu bedienen
haben und die Werkzeuge wirklich größer sein müssten.
Nun noch zu Ihnen, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen aus der SPD: Wir waren uns doch weitgehend
einig darüber, was in Zukunft bei der Pflege passieren
muss. Warum haut denn jetzt keiner von euch auf den
Tisch und sagt, dass wir diese Reform brauchen und
nicht ständig nur an den kleinen Rädchen drehen dürfen.
Was wir nicht brauchen, ist wieder eine Leistungsverbes-
serung hier und eine Leistungsverbesserung dort. Das ist
konzeptionslos, und das macht eine wirkliche Trend-
wende in der Pflege am Ende des Tages viel schwerer.
Frau Kollegin, Sie denken an Ihre Redezeit?
Ich komme gleich zum Ende. – Noch dazu kostet dasstrategielose Gewurstel mindestens genauso viel wieeine große Reform. Und das tragen Sie auch noch aufdem Rücken der Jungen aus.
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754 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Elisabeth Scharfenberg
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Herr Minister, Generationengerechtigkeit heißt nichtnur, für die Älteren zu sorgen, sondern auch die Jungenund deren Belastung im Auge zu behalten. Eine Pfle-geoffensive sieht ganz anders aus. Und eine Mehrheitvon 80 Prozent im Parlament könnte offensiver und mu-tiger sein. Herr Minister, prägende Einsichten bei derDiakonie reichen nicht aus.
Aber Ihre Zeit reicht jetzt auch nicht mehr aus.
Handeln Sie, aber richtig!
Vielen Dank.
Vielen Dank. Es tut mir zwar leid, aber wir haben ja
eine Redezeit vereinbart.
Jetzt freue ich mich ganz besonders – Sie alle werden
es nicht verstehen, aber das ist auch egal –: Dr. Georg
Nüßlein aus Krumbach in Schwaben.
– Wir waren auf der gleichen Schule.
Aber ich bin ein bisschen älter. – Das wirkt sich natür-
lich nicht auf seine Redezeit aus. – Bitte, Herr
Dr. Nüßlein.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Ichfreue mich auch.Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass ausmeiner Sicht dieser Koalitionsvertrag drei wichtigeSchwerpunkte hat, die die Legislaturperiode mit prägenwerden. Das sind zum einen Maßnahmen zur Verbesse-rung der ambulanten ärztlichen Versorgung und zurAbwendung eines Ärztemangels im ländlichen Raum.Das ist zweitens die zukunftsfeste Sicherung der finan-ziellen Grundlagen der Krankenhausfinanzierung unddrittens die Reform der Pflegeversicherung, wie sie hierbereits verschiedentlich angesprochen wurde.Nun habe ich die Vorurteile gehört, liebe KolleginScharfenberg, die Sie hier formuliert haben. Ich kann Ih-nen nur zurufen: Abwarten statt Abbruchbirne an dieserStelle! Einfach mal abwarten, ich glaube, dass wir hiermehr schaffen, als Sie sich vielleicht vorstellen.
Ich will aber zu Beginn – nicht nur meiner Rede, son-dern auch unserer Arbeit hier – eine ganz große Klam-mer zitieren, die uns gestern die Bundeskanzlerin insStammbuch geschrieben hat: Eine Politik, die nicht denStaat, nicht die Verbände, nicht Partikularinteressen,sondern den Menschen in den Mittelpunkt ihres Han-delns stellt, kann die Grundlage für ein gutes Leben inDeutschland sein.
Meine Damen und Herren, es gibt wenige Politikfel-der, die genau dieses Motto so notwendig und so sinn-voll erscheinen lassen wie die Gesundheitspolitik. ImMittelpunkt dessen, was wir vorhaben, steht der Patient,mithin der Mensch, und stehen die Menschen darumherum, die für sein Wohl sorgen: die Ärzte und natürlichdas medizinische Personal. Sie sind hoch qualifiziert;das ist in Deutschland Standard, und das soll, meineDamen und Herren, so bleiben.Was die ärztliche Versorgung angeht, so ist diese inder Tat inzwischen regional unterschiedlich. Wir habenin den Städten hier und da bereits ein Überangebot, wäh-rend wir im ländlichen Raum einen sich allmählich an-bahnenden Mangel erleben. Da müssen wir tätig werden,insbesondere deshalb, weil die demografische Schereauseinandergeht, weil der Anspruch an ärztliche Versor-gung demografisch bedingt größer wird und auf der an-deren Seite die Ärzte tendenziell immer älter werden.Das heißt für uns: Wir brauchen mehr qualifiziertenNachwuchs im ärztlichen Bereich. Und wie sieht dieRealität aus? Großes Interesse am Arztberuf, genügendStudienanfänger, aber dann viele Abbrecher und zu vieleAbsolventen, die nach ihrem Abschluss nicht in den prä-ventiven oder kurativen Bereich gehen. Der Schluss da-raus ist klar. Der Numerus clausus schließt vermutlichim Wortsinne die Falschen an dieser Stelle aus.
Deshalb müssen wir uns überlegen, wie wir damitumgehen. Da sind zunächst die Universitäten gefordert,die den Spielraum hätten, selber Absolventen auszuwäh-len, die aber das Problem haben, dass sie das nichtrechtssicher tun können, und sich aufgrund der Operatio-nalität am Schluss wieder an der Abiturnote festhalten,was ich bedauerlich finde. Wir werden in dieser Legisla-tur sicher überlegen müssen, welchen Beitrag der Bunddazu leisten soll.Wir sollten im Übrigen auch Gehirnschmalz daraufverwenden, wie man junge Mediziner für bestimmte Be-reiche motiviert, in denen Unterversorgung herrscht.Medizinstudenten, die sich bereits während der Ausbil-dung für eine spätere Tätigkeit als Allgemeinmedizinerin einer unterversorgten Region entscheiden, müssen ausmeiner Sicht besonders gefördert werden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 755
Dr. Georg Nüßlein
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– Mir ist die Umsetzungsproblematik klar, Herr Kollege.Darum habe ich auch gesagt, wir sollten Gehirnschmalzdarauf verwenden und nicht gleich hasenfüßig sagen:Das geht nicht.
Natürlich ist in dem Zusammenhang auch hilfreich,die Attraktivität des Arztberufs insgesamt zu steigernund Freiräume für die sprechende Medizin zu schaffen.Das Thema „weniger Bürokratie“ wurde angesprochen.Ich habe nun zehn Jahre hier Wirtschaftspolitik gemachtund weiß, wie wenig bei dem Versprechen, Bürokratieabzubauen, am Schluss herausgekommen ist. Deshalbmuss das trotzdem ein Anliegen für uns alle sein.Mehr Assistenz durch nichtärztliches Personal istwichtig. Das sind im Übrigen Berufe, die wir auch auf-werten und fördern müssen. Auch die familienfreundli-che Gestaltung des Berufsalltags ist ein wichtiger Punkt.Was bei Soldatinnen und Soldaten gelten und möglichsein soll, muss auch im medizinischen Bereich gelten.
Ich sage aber auch – ich hoffe, das ist mir gestattet –den Berufsträgern selber: Wer seinen Beruf ständig sel-ber infrage stellt, ihn abwertet und klagt, wie furchtbardie Arbeitsbedingungen sind, der leistet auch einen Bei-trag dazu, dass wir wenig Interessenten haben und wenigNachwuchs bekommen. Der darf sich dann auch nichtwundern, wenn er am Schluss seine Praxis nicht verkau-fen kann. Auch das muss man einmal in dieser Klarheitformulieren.
Nun wissen wir alle, dass die Hausärzte eine zentraleSäule der ärztlichen Versorgung sind und dass wir sie füreine vielfach notwendige wohnortnahe oder, wenn mandas so formulieren will, zumindest erreichbare Versor-gung brauchen. Wenn ich mir die neuesten Zahlen derKassenärztlichen Vereinigung Bayerns anschaue, dannstelle ich fest, dass aktuell in Bayern etwa 25 Prozent al-ler Hausärzte 60 Jahre und älter sind, jeder Vierte. Die,die nachkommen, sind aufgrund falscher Einstellungenvielfach nicht bereit, auf das Land zu gehen.Deshalb wollen wir über die Hausarztverträge wiederein geeignetes und sinnvolles Instrument schaffen, umdie Hausarztversorgung auch künftig flächendeckend zuerhalten, dadurch ein verbessertes Versorgungsniveauschaffen und die Steuerung der Inanspruchnahme ärztli-cher Leistungen nach Wirtschaftlichkeitserwägungenwieder in das Gesetz bringen. Ich glaube, dass das sehrviel dazu beitragen wird, dass die hausärztliche Versor-gung auf dem Land besser wird.
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zur Kranken-hausversorgung sagen. Die ist mit mehr als 62 MilliardenEuro Kosten der größte Brocken im GKV-Bereich. Dasist ein Bereich, den wir in den letzten Jahren mit immermehr Geld ausgestattet haben. Das geschah zu Recht,weil wir auf der einen Seite wissen, wie wichtig dieseVersorgung ist, aber auch, weil wir auf der anderen Seitegesehen haben, wie stark der Druck ist; denn wir könnennur mit gutem Personal, das entsprechende Kosten ver-ursacht, hohe Qualität garantieren.Trotzdem wird der Bundesgesetzgeber das Problemnicht allein lösen können. Bei der Investitionskosten-finanzierung sind natürlich auch die Länder gefordert.Aber auch die alleine werden es nicht schaffen. SchauenSie sich an, wie in manchen Landkreisen auf alten Struk-turen beharrt wird. Wir sind noch nicht so weit, zu sehen,dass wir uns eine Überzahl von Krankenhäusern einfachnicht mehr leisten können, egal wie viel Geld der Bun-desgesetzgeber gibt. Wir müssen der Kommunalpolitikdeutlich sagen, dass auch in diesem Bereich die Haus-aufgaben zu machen sind.
Was die Pflege angeht, haben Herr Minister Gröheund Herr Lauterbach das Richtungweisende und Not-wendige gesagt.Erstens. Ich bin, anders als die KolleginScharfenberg, der Meinung, dass der Pflegevorsorge-fonds durchaus bewirken kann, künftige Beitragssteige-rungen zumindest abzumildern. Es ist jedenfalls einSchritt in die richtige Richtung.
Zweitens. Ich glaube, dass wir auch ein Auge daraufhaben müssen, dass Pflegeleistungen durch die Kosten-entwicklung künftig eben nicht schleichend inflatorischentwertet werden. Wir müssen also regelmäßig Anpas-sungen vornehmen.Drittens. Ich glaube, dass die Grundsätze „ambulantvor stationär“ und „Reha vor Pflege“ nachvollziehbareAnliegen der Betroffenen sind, die wir schon aus huma-nitären Erwägungen werden entsprechend berücksichti-gen müssen. Das ist die Pflicht der Politik.
Viertens. Ich glaube auch, dass der Begriff der Pflege-bedürftigkeit der tatsächlichen Situation der Menschenmit eingeschränkter Alltagskompetenz und ihrer Ange-hörigen nur unzureichend Rechnung trägt und dass esdeshalb notwendig und richtig ist, hier nach entspre-chender Begutachtung etwas zu ändern.
Fünftens – –
„Fünftens“ aber ganz schnell, bitte, weil Sie Ihre Re-dezeit schon überschritten haben.
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756 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
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Last, not least: Es kommt auf das pflegende Personal
an. Diese Leute leisten Großartiges. Sie brauchen Aner-
kennung, aber nicht nur immaterielle, sondern auch ma-
terielle. Es ist wichtig und richtig, auch das zu sagen.
Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Dr. Nüßlein. – Die nächste Redne-
rin ist Pia Zimmermann von der Linksfraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Herr Gesundheitsminister Gröhe,
2,5 Millionen Pflegebedürftige, deren Angehörige und
das Pflegepersonal warten auf ganz konkrete Hilfe. Seit
zehn Jahren werden Pflegereformen entwickelt und ge-
prüft, weiterentwickelt und weitergeprüft. Zum großen
Wurf ausgeholt haben schon einige; aber geschehen ist
nicht viel.
Realer Alltag ist: unwürdige Pflegebedingungen,
strukturelle Engpässe an vielen Stellen und miserable
Arbeitsbedingungen. Hier macht auch Ihr Koalitionsver-
trag nur minimale Schritte, um eine riesige Lücke zu
schließen. Herr Minister Gröhe, Ihre Rede kürzlich auf
dem Deutschen Pflegetag war nicht von konkreten
Schritten gekennzeichnet. Aber immerhin haben Sie
festgestellt, dass man die Verbesserung der Pflege zum
„Schwerpunkt der Arbeit dieser Bundesregierung“ ma-
chen werde. Das begrüßen wir als Fraktion Die Linke
sehr, und wir schlagen Ihnen dazu Folgendes vor:
Stoppen Sie die Privatisierung der Pflegevorsorge und
die Ungerechtigkeit zwischen privater und sozialer Pfle-
geversicherung.
Schaffen Sie den Pflege-Bahr ab. Setzen Sie endlich auf
die Umwandlung der Pflegeversicherung von einer Teil-
kaskoversicherung in eine Vollversicherung, in die alle
einzahlen. So würden Sie den Menschen in diesem Land
wirklich helfen.
Ihre Minibeitragserhöhungen reichen nicht aus, um
die Leistungen grundsätzlich zu verbessern. Genau da-
rum sollten Sie die Finanzierung auf eine gerechte
Grundlage stellen. Nehmen Sie die solidarische Bürge-
rinnen- und Bürgerversicherung endlich in Angriff.
Damit könnte der Beitrag zur Versicherung nachweislich
langfristig unter 2 Prozent bleiben, und es gäbe den fi-
nanziellen Spielraum für eine echte Reform und für bes-
sere Löhne für die Beschäftigten in der Pflege.
Wir sind uns einig, dass der Fachkräftemangel beho-
ben werden muss. Gute Pflege setzt qualifiziertes und
motiviertes Personal voraus. Dazu gehört auch die Re-
form der Ausbildung in den Pflegeberufen. Ich habe
selbst 15 Jahre im Pflegebereich gearbeitet und weiß,
Pflege ist eine schwere und anspruchsvolle Arbeit, die
anerkannt und entsprechend bezahlt werden muss.
Deutlich höhere Löhne sind unerlässlich ebenso wie
eine verbindliche, bundesweit einheitliche Personalbe-
messung. Die Verankerung des Pflegebegriffs ist längst
überfällig. Das entspricht im Übrigen den Erwartungen
aller Beteiligten im Pflegebereich. Dann würden endlich
auch die Demenzerkrankten wissen, woran sie sind.
Sie streuen den Menschen Sand in die Augen, wenn
Sie ankündigen, den Pflegebegriff noch in dieser Legis-
laturperiode einzuführen.
Aber gleichzeitig, Herr Gröhe, wieder einen neuen Gut-
achterausschuss einzurichten, das halte ich dann tatsäch-
lich für eine Farce. Lesen Sie doch einfach in den Be-
richten von 2009 und 2013! Dort ist alles erörtert und
definiert. Die Sozialverbände, die Gewerkschaften und
alle Betroffenen wollen keine weiteren Warteschleifen,
sondern entschiedenes Regierungshandeln.
Ich fasse zusammen: Beenden Sie die Privatisierung
des Pflegerisikos, und schaffen Sie den Pflege-Bahr ab!
Bringen Sie die solidarische Bürgerinnen- und Bürger-
versicherung auf den Weg, die eine finanzielle Grund-
lage für alle notwendigen Verbesserungen schafft! Der
Fachkräftemangel muss durch attraktivere Arbeitsbedin-
gungen behoben werden; die Pflegeausbildung gehört
reformiert. Vergessen Sie nicht eine verbindliche Perso-
nalbemessung! Bringen Sie den bereits neu definierten
Pflegebegriff sogleich auf den Weg! Lassen Sie Worten
Taten folgen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe,
dass es nicht wieder vier verlorene Jahre für die Pflege
werden, und ich kann Ihnen eines schon heute verspre-
chen: Wir, die Linke, werden eine entschlossene Opposi-
tionspolitik gestalten, und wir werden immer wieder da-
rauf hinweisen: Gute Pflege ist ein Menschenrecht.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich bin ganz sicher,dass das Parlament, und zwar das ganze Parlament, Ih-nen zu Ihrer ersten Rede im Bundestag gratuliert.
Wir wünschen Ihnen viel Kraft und viel Erfolg bei IhrerArbeit als Abgeordnete.Das Wort als nächste Rednerin hat Kollegin HildeMattheis von der SPD.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 757
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Papier ist geduldig; das wissen wir alle.
Aber wenn Sie den Koalitionsvertrag der Koalitionspart-ner aus der letzten Legislatur mit dem Koalitionsvertragvon uns vergleichen, wissen Sie: Unser Koalitionsver-trag hat konkrete Projekte, konkrete Ziele, oft hinterlegtmit einer klaren Zeitschiene.
Wenn Sie das vergleichen, lieber Kollege von der Lin-ken, werden Sie feststellen, dass Sie das Wort „Daseins-vorsorge“ im Koalitionsvertrag für die letzte Legislaturnicht nachlesen können. Es steht bei uns aber drin.Uns ist klar: Es geht um Patientinnen und Patienten.Es geht um ihre Versorgung, um ihre Rechte. Es geht umQualität und natürlich auch um die Finanzierbarkeit.
Um alles das geht es. Da, glaube ich, sind wir ein gehöri-ges Stück – ein gehöriges Stück! – weitergekommen.Jetzt können wir alle miteinander definieren: Ist das Glashalb voll oder halb leer? Ich rate in diesem Fall, weil esdarum geht, die ambulante und stationäre Versorgung zuverbessern, in der Pflege viel hinzubekommen, dazu, zusagen, dass das Glas halb voll ist – mindestens.
Ich möchte, was die Qualität und die Patientenrechteanbelangt, gerne auf den stationären Bereich zu sprechenkommen. Wir wollen, dass sich die Krankenhausversor-gung an der Erreichbarkeit orientiert.
Was bedeutet das für den ländlichen Raum? Es ist ganzwichtig, dass die Versorgung im ländlichen Raum ge-nauso gut ist wie im städtischen Raum, wie in den Bal-lungsgebieten. Das muss für alle erreichbar sein. KeineBarrieren!
Wir wollen die Qualität mit Finanzierungselementenkoppeln. Vor allen Dingen wollen wir im Krankenhaus-bereich eine bessere personelle Ausstattung. Wer sichschon einmal genauer damit befasst hat – das unterstelleich hier im Hohen Hause; alle, die im Gesundheitsaus-schuss sind, kennen sich aus und wissen, was in Kran-kenhäusern zum Teil los ist –,
weiß: Es bedarf einer besseren Personalausstattung. Diewollen wir erreichen und das finanziell nachprüfbar un-terlegen.
Ich finde, das ist ein wichtiger Punkt. Uns geht es nichtnur in Sonntagsreden um die Aufwertung des Pflegebe-rufs; nein, das muss sich für die Menschen spürbar aus-wirken.Damit bin ich bei der Pflege. Liebe KolleginElisabeth Scharfenberg, wir sitzen fast wöchentlich zu-sammen auf Pflegepodien. Wir in diesem Raum, egal zuwelcher Fraktion wir gehören, unterscheiden uns in demZiel, für Pflegebedürftige, für pflegende Angehörige, fürFachkräfte gute Bedingungen zu erreichen, nur minimal.Im Bereich Finanzierung allerdings – das sage ich andieser Stelle ganz deutlich – unterscheiden wir uns, wasdas langfristige Ziel anbelangt, von unserem jetzigenKoalitionspartner. Wir haben unsere Idee von der Bür-gerversicherung nämlich nicht aufgegeben. Warumauch?
– Nein, wir haben diese Idee nicht aufgegeben.Wir verwirklichen in dieser Legislaturperiode das,was wir für die Menschen erreichen können. Da solltensich die Oppositionsfraktionen – ich gebe zu, dies isteine freundliche Bitte – mit uns gemeinsam auf den Wegmachen. Im Koalitionsvertrag steht ja drin, dass wir soschnell wie möglich den Pflegebedürftigkeitsbegriff re-formieren wollen, und zwar – das ist der Zusatz – „indieser Legislaturperiode“.
Wer nun aus dem Ausdruck „in dieser Legislaturperiodeso schnell wie möglich“ eine Definitionsbandbreite ab-leitet, den verstehe ich nicht. Das ist doch eine eindeu-tige Definition.Ich finde es sensationell, dass wir es im Interesse derPflegeversicherung geschafft haben, uns gemeinsam aufeine Beitragssatzerhöhung um insgesamt 0,9 Prozent-punkte zu verständigen. Da müssten Sie von den Oppo-sitionsfraktionen uns doch positiv begleiten. Was könnenwir mit den zusätzlichen Einnahmen alles machen?
Wir wollen, dass die Leistungen teilhabeorientiert beiden Menschen ankommen. Wir wollen, dass die Pflege-fachkräfte eine gute Ausbildung bekommen, Perspekti-ven haben und eine gute Bezahlung erhalten. Darin sindwir uns doch einig, Herr Gröhe. – Er nickt.
Wir wollen dieses gemeinsame Ziel nicht nur fest-schreiben, sondern auch miteinander erreichen. Wir alle
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758 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Hilde Mattheis
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wissen – wir sind ja nicht blauäugig –, dass es an der ei-nen oder anderen Stelle knirschen wird, wenn es an diepolitische Umsetzung und um die Ausgestaltung geht.Herr Spahn und ich liegen nicht immer auf der gleichenWellenlänge.
Aber er nähert sich an.
– Nein, nein! Dazu kann er sich gleich selber äußern.Wenn wir die Mehreinnahmen, die sich aus der Erhö-hung um 0,9 Prozentpunkte ergeben, für Wohnumfeld-verbesserung, für technische Assistenzsysteme und fürMaßnahmen, die sich aus der Einführung des neuenPflegebedürftigkeitsbegriffs ergeben, verwenden, dannist die Vereinbarung das Papier wert, auf dem sie steht.Ich kann allen versichern, dass die Geduld der SPD,was Verbesserungen im Pflegebereich, im ambulantenBereich und im Krankenhausbereich angeht, erschöpftist. Wir wollen Taten sehen. Mit uns gibt es Taten.Danke.
Danke, Frau Kollegin. – Bevor sich Kollege Spahn
Ihnen annähert, gebe ich das Wort an Maria Klein-
Schmeink vom Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Minister! Es war jetzt gerade sehr viel von
Patientenorientierung und von der Bedeutung des Ge-
sundheitswesens für die Daseinsvorsorge die Rede. Ich
bin erst einmal froh, dass hier im Saal Einigkeit darüber
besteht, dass das so ist. Jetzt ist aber die Frage, ob sich
dies auch in entsprechenden Resultaten und Gesetzen
niederschlagen wird.
Da muss man als Erstes einmal sagen, lieber Karl
Lauterbach: Qualität reduziert sich nicht auf Effizienz
und auf Pay-for-Performance-Systeme. Qualität heißt
vielmehr, dass ich mir die Bedarfe der einzelnen Patien-
ten tatsächlich anschaue. Wir müssen uns daher mit der
Frage auseinandersetzen, wie die Bedarfe von Patienten
im hohen Alter in unserem Gesundheitssystem berück-
sichtigt werden können.
Zu dieser Frage steht unglaublich wenig in dem an-
sonsten sehr umfangreichen Gesundheitsteil des Koali-
tionsvertrages. Gleichzeitig muss man sagen: Sie lassen
jede Vision vermissen; es fehlt ein konsistentes Hand-
lungskonzept. Wir sehen zwar viele Detailregelungen,
die durchaus in die richtige Richtung gehen mögen.
Aber man muss erst einmal festhalten: Zu einer Vision,
wohin wir mit unserer Gesundheitsvorsorge und unserer
Gesundheitsversorgung wollen, finde ich ausgesprochen
wenig in diesem Programm.
Das umfangreiche Arbeitsprogramm, Herr Minister
Gröhe, das nun auf Sie zukommt und von den Chefver-
handlern wie ein Drehbuch festgehalten worden ist,
macht gleichzeitig deutlich, wie groß der Reformstau der
schwarz-gelben Regierung eigentlich ist. Die Situation
in den Krankenhäusern wurde schon erwähnt. Es wurde
der Fachkräftemangel erwähnt. Es wurde die Situation in
der Ausbildung erwähnt. Es wurde die insgesamt
schlechte Verzahnung der ambulanten und stationären
Versorgung erwähnt. Heute nicht erwähnt wurde, welch
große Belastung des Gesundheitssystems im Bereich
seelischer Gesundheit besteht und dass wir kein konsis-
tentes Gesamtkonzept für die Versorgung und für die
Unterstützung der Gruppe der davon Betroffenen haben.
Das zeigt insgesamt: Die letzten vier Jahre gelang nicht
der große Sprung. Im Gegenteil, es war eine Zeit, in der
Reformstau produziert worden ist.
Deshalb, Herr Minister, werden Sie nicht viel Schon-
frist haben. Sie werden ganz konkrete Strukturverbesse-
rungen angehen müssen. Und Sie können sich und uns
nicht mit Scheinlösungen zufriedenstellen. So eine
Scheinlösung findet sich zum Beispiel bei der Wartezei-
tenregelung im Koalitionsvertrag. Das ist keine struktu-
relle Lösung für ein Problem, was ursächlich mit unse-
rem zweigeteilten Versicherungsmarkt – mit der privaten
und der gesetzlichen Krankenversicherung – zu tun hat.
So wird es nicht gehen.
Dann haben Sie, Herr Minister, als Ihre Aufgaben
– allerdings nur sehr kurz – erwähnt: die Krankenhaus-
finanzierung und das Präventionsgesetz. Beide sind
große Vorhaben. Beide Vorhaben liegen seit zehn Jahren
in den Schubladen. Für beide gilt: Sie werden tragfähige
Lösungen nur gemeinsam mit den Ländern hingekom-
men. Da – das muss ich sagen – sehe ich allerdings noch
wenige Ansätze dazu, dass Sie tatsächlich bereit sind,
gemeinsam mit ihnen Lösungen zu finden und auch die
entsprechende Finanzierung zu mobilisieren. Ich habe
bisher nur Äußerungen gelesen, die darauf schließen las-
sen, dass das ewige und altbekannte Schwarze-Peter-
Spiel „Wer bezahlt?“ weitergehen wird und dass wir
wieder nicht zu strukturellen und nachhaltigen Lösungen
kommen werden. So, glaube ich, kann man diese Aufga-
ben nicht angehen.
Frau Kollegin, ich darf Sie an die Redezeit erin-nern.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 759
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Gerne.
Ich wollte eigentlich Herrn Lauterbach noch einmalklarmachen, dass er im Grunde den Teufel mit demBeelzebub ausgetrieben hat. Der pauschale Zusatzbei-trag ist zwar gefallen, aber wir werden es mit einem un-gedeckelten neuen Zusatzbeitrag zu tun bekommen. DieFinanzierung des Gesundheitswesens wird unsozialer alsbisher, weil diese Koalition allein den Beitragszahlerndie Lasten, die zukünftigen Kostensteigerungen im Ge-sundheitswesen, aufbürdet. Das ist zutiefst ungerecht,und das werden wir in Kürze bei der Gesetzeseinbrin-gung deutlich kritisieren.
Danke, Frau Kollegin. – Jetzt Jens Spahn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Mattheis, ob wir uns annähern, weiß ichnicht, aber dass wir uns in den letzten Wochen so nahegekommen sind wie selten, weiß ich auf jeden Fall.
Das ist vielleicht auch eine Basis für die Arbeit in dennächsten Jahren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben über daswichtige Thema Pflege gesprochen. Hinter der Diskus-sion über den Begriff der Pflegebedürftigkeit verbirgtsich ja eigentlich die Frage: Ist Zeit da, ist Betreuung da,ist Unterstützung da, insbesondere für Menschen mitDemenz und für Menschen, die im Alter jenseits körper-licher Unzulänglichkeiten, des körperlichen Unvermö-gens, dass man sich nicht bewegen kann, Unterstützungbrauchen? Wir sind uns doch einig, dass wir das umset-zen wollen.Sie wissen aber genauso gut wie wir, dass eine Um-setzung dessen, was bisher vorgelegt worden ist, von ei-nem Tag auf den anderen schlicht und ergreifend nichtmöglich ist.
Das sagen selbst alle Sachverständigen. Wir würden denMenschen einen Tort antun, wenn wir etwas, das bishernur in der Theorie, in dicken Gutachten, aufgeschriebenworden ist, von einem Tag auf den anderen in die Reali-tät umsetzen würden,
ohne zu wissen, was es für Folgen hat, wer möglicher-weise schlechtergestellt wird, wer anschließend wenigerUnterstützung bekommt, und ob es wirklich gelingenkann, dass die Unterstützung dort ankommt, wo sie an-kommen soll. Das wäre fatal. Deswegen braucht es eineErprobung in der Praxis. Eine solche Erprobung habenwir miteinander vereinbart; wir werden sie jetzt zeitnahangehen.
Und Sie wissen eigentlich, dass es eine Erprobungbraucht, bevor man es umsetzen kann.Dann sagen Sie, wir würden erst einmal mit kleinenDingen anfangen. Wissen Sie, für die Pflegebedürftigen,die darauf angewiesen sind, dass jemand für sie Zeit zumGespräch, zum Essen oder zum Spazierengehen hat, istdas, was wir in den letzten Jahren eingeführt haben,nämlich einen Anspruch auf entsprechende Betreuung– wir haben ja klar geregelt, dass es in den stationärenEinrichtungen auch sogenannte Betreuungskräfte gibt,also Menschen, die genau dabei Unterstützung leisten –,eine enorme Hilfe. Das Gleiche gilt für den von uns ver-einbarten Ausbau dieser Leistungen zum 1. Januar 2015,wo insbesondere zusätzliche Zeit für Betreuung vorgese-hen wird. Den betroffenen Menschen muss es doch wieHohn vorkommen, wenn Sie sich hier hinstellen und sa-gen, dass die 2 Milliarden Euro, die wir schon gleich imnächsten Jahr zusätzlich dafür ausgeben wollen, denMenschen nichts bringen. Das bringt ihnen eine ganzeMenge, nämlich jeden Tag mehr Unterstützung undmehr Zeit der Betreuung im Alltag. Deswegen wollenund werden wir das umsetzen, und ich glaube, die Men-schen wissen bzw. werden schnell merken, dass es ihnenhilft.
Wenn Sie etwas zur Frage der Personalsituation unddes Fachkräftebedarfs sagen, klingt das erst einmal gut.Aber ich muss Ihnen sagen: Mich nervt es langsamschon. Ich habe auch gelesen, was Ihre Parteikollegin,Frau Ministerin Steffens, gefordert hat, nämlich dass wirbestimmte Personalschlüssel für Krankenhäuser undPflegeeinrichtungen festlegen sollen. Wir alle, die wirhier sitzen, wissen, dass der Bund aus verfassungsrecht-lichen Gründen keine Personalschlüssel festlegen kann.Für Krankenhäuser wie für Pflegeeinrichtungen könnennur die Länder verbindliche Personalvorgaben machen.Es geht nicht, dass sich die Landesminister alle paar Wo-chen hinstellen und uns auffordern, da etwas zu regeln,obwohl sie eigentlich ihre Hausaufgaben machen müss-ten. Machen Sie in Nordrhein-Westfalen mit Frau Minis-terin Steffens die Hausaufgaben, anstatt sich so wohlfeilhier hinzustellen, wie Sie es gerade gemacht haben.
Das gilt im Übrigen auch für Schulgeld. Die Regelun-gen zum Schulgeld finden sich vor allem im Landes-recht. Sie stellen sich hier hin und klatschen mit uns,
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760 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Jens Spahn
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wenn wir uns dafür aussprechen, das Schuldgeld abzu-schaffen. Das werden wir auch tun. Ich wäre sogar be-reit, jenseits ordnungspolitischer Vorstellungen unter-stützend mehr Kassenmittel dafür einzusetzen, um diePflegeausbildung in die richtige Richtung zu bringen.Aber während Sie hier so reden und klatschen, machtFrau Ministerin Steffens in Nordrhein-Westfalen Folgen-des: Sie sorgt dafür, dass für die Ausbildung zur pharma-zeutisch-technischen Angestellten und in anderen Beru-fen überhaupt erst Schulgeld gezahlt werden muss. Hierüber Fachkräftemangel jammern und in den Ländern et-was anderes tun – das passt nicht zusammen. Da mussman als Opposition hier im Bundestag am Ende konsis-tent bleiben und berücksichtigen, was man woanders tut.
Herr Kollege Spahn, erlauben Sie eine Zwischenbe-
merkung oder Zwischenfrage der Kollegin Klein-
Schmeink?
Jederzeit.
Gut.
Lieber Jens Spahn, ist Ihnen bekannt, dass Frau
Steffens in Nordrhein-Westfalen durch die Neuregelung
der Ausbildungsumlage 45 Prozent mehr Ausbildungs-
willige erreichen konnte und für sie Ausbildungsplätze
geschaffen hat? Das ist ein Beispiel dafür, wie man in
der Pflege vorgehen könnte. Es gibt andere, CDU- bzw.
CSU-geführte Bundesländer, in denen es in der Tat noch
Schulgeld gibt.
Wir haben in anderen medizinischen Berufen inNordrhein-Westfalen die Situation, wie ich sie geradedargestellt habe. Es geht jetzt auch nicht darum, das voneinem Land auf das andere zu schieben.
– Bleiben Sie doch mal ganz ruhig. Sie wissen doch garnicht, was ich jetzt sagen will. – Ich stimme Ihnen zu,dass das Modell, das Nordrhein-Westfalen umsetzt, gutist
und es auch ein mögliches Modell – –
– Aber ich erzähle nicht zunächst das eine, so wie Sie esgetan haben, um anschließend, was etwa das Schulgeldfür angehende PTA in Nordrhein-Westfalen anbelangt,etwas anderes zu tun. Ich sage doch nur: Wir wollen indem Bereich etwas tun. Aber es geht eben nicht, immerwohlfeil etwas zu fordern, ohne anschließend bei derkonkreten Umsetzung – da, wo man Verantwortung hat –auch Entsprechendes zu tun.Wie gesagt: Im Bereich Pflege ist das in Nordrhein-Westfalen gut gelungen. Das ist sicherlich ein Modell,das man weiterentwickeln kann. Wir wären froh, wenndas auch in anderen Pflegeberufen umgesetzt werdenkönnte. Das geht aber nicht ohne die Länder. So brau-chen wir Ihre Hilfe; denn ohne entsprechende Mehrhei-ten geht es nicht.Zur Frage der gesetzlichen Krankenversicherung. DieFinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung– darauf hat Herr Kollege Lauterbach bereits hingewie-sen – beschäftigt uns seit gut zehn Jahren; es gab sehrunterschiedliche Konzepte. Das hat vor allem dazu ge-führt, dass bei Diskussionen zur Gesundheitspolitik imMittelpunkt immer Finanzdebatten standen.
Das hat oft von den Themen abgelenkt, die die Men-schen eigentlich bewegen. Es ist uns in den Koalitions-verhandlungen gelungen, zu einem, wie ich finde, trag-fähigen Kompromiss in Bezug auf die Finanzierung zukommen. Einerseits wird nun sichergestellt, dass dieLohnnebenkosten nicht steigen, sodass steigende Ge-sundheitskosten die Arbeit in Deutschland nicht teurermachen. Andererseits wird sichergestellt, dass die Kran-kenkassen miteinander im Service-, Qualitäts- und Preis-wettbewerb stehen.
Am Ende haben wir natürlich auch ein Finanzierungs-modell gewählt, das alle drei Koalitionsparteien mittra-gen können.Wir sind nun in der Situation, dass wir die Fragen, diedie Menschen wirklich bewegen, zum Beispiel die Ver-sorgung, in den Mittelpunkt unserer Debatten stellenkönnen. Wir haben heute schon begonnen, über dieseThemen zu sprechen. Es geht um Fragen wie: Habe icheigentlich noch einen Hausarzt vor Ort, insbesondere aufdem Land? Wie lange muss ich auf einen Facharztterminwarten? Wie ist es eigentlich, wenn ich am Freitagnach-mittag aus dem Krankenhaus entlassen werde? Dabeigeht es um die ganz praktische Frage, ob sich jemand da-rum gekümmert hat, wie es weitergeht, etwa wennPflege oder weitere Medikation nötig sind? Es geht aberauch um die Frage der Regresse. Viele haben die Be-fürchtung, dass ihnen ihr Arzt nicht wirklich das ver-schreibt, was nötig ist, weil er ansonsten möglicherweiseselbst dafür haften muss. Das sind die konkreten The-men, die die Menschen im Alltag bewegen.Die christlich-liberale Koalition hat mit dem Versor-gungsgesetz angefangen, an wichtigen Stellschrauben zu
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drehen und hier etwas zu ändern. Wir werden in der Gro-ßen Koalition genau diesen Kurs fortsetzen. Wir been-den nach vielen Jahren den Finanzierungsstreit und le-gen alle Kraft in eine gute, vor allem auch im Alltagspürbare Versorgung der Menschen. Genau das wollenwir in den nächsten vier Jahren angehen, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Zu Ihrem Argument, die Abschaffung der privatenKrankenversicherung löse alle Probleme der gesetzli-chen Krankenversicherung: Als ob der Umstand, dassauch Privatversicherte in Zukunft länger auf einen Ter-min warten müssten, für die gesetzlich Versicherten ir-gendetwas besser machen würde! Ich verstehe die Logiknicht, die dahinter stecken soll. Es geht doch darum: Wiekönnen wir dafür sorgen, dass gesetzlich Versicherteschneller einen Facharzttermin bekommen?
Herr Spahn, erlauben Sie eine weitere Zwischen-
bemerkung oder Zwischenfrage der Kollegin Klein-
Schmeink?
Da ich gerade „jederzeit“ gesagt habe – –
Wir müssen nur insgesamt an die Dauer der Debatten
denken.
Sie heben gerade darauf ab, dass keine Probleme ge-
löst wären, wenn man die private Krankenversicherung
abschaffen würde. Stimmen Sie nicht mit mir, der Oppo-
sition und eigentlich auch der SPD überein, dass wir
durch das Nebeneinander, durch die Konkurrenz zwi-
schen PKV und GKV viele Entwicklungen haben, die
die Versorgung verschlechtern und nicht verbessern,
dass es zum Beispiel Fehlanreize in Bezug auf die An-
siedlung von Ärzten vor allem in Regionen, wo vermut-
lich viele Privatversicherte leben, gibt?
Stimmen Sie uns zu, dass durch die immer älter wer-
dende Gesellschaft auch große Probleme auf die PKV
zukommen? Stimmen Sie mit uns überein, dass hierfür
Lösungen gefunden werden müssen, da sehr viele Pri-
vatversicherte durch die hohen Beiträge extrem überfor-
dert sind? Sind das nicht auch Baustellen, die auch Sie
angehen müssten?
Ja, die Probleme innerhalb der privaten Krankenver-
sicherung gibt es, sie wurden auch schon vielfach adres-
siert. Sie haben aber wenig mit Ihrer Ausgangsthese zu
tun.
Ich bin der festen Überzeugung, dass auch der Sys-
temwettbewerb zwischen privater und gesetzlicher
Krankenversicherung in der Vergangenheit dazu geführt
hat, dass beide Systeme besser geworden sind, zum Bei-
spiel, was das Leistungsangebot betrifft. Das wäre nicht
der Fall, wenn wir nur ein System hätten.
Ich bin auch der festen Überzeugung – die Zahlen zei-
gen es –, dass die Leistungen, die die PKV erbringt, auch
die Infrastruktur bei den Ärzten unterstützt, die auch ge-
setzlich Versicherte behandeln,
und dass so die Versorgung aller, privat wie gesetzlich
Versicherter, gewährleistet wird.
Die Frage, wie schnell ich einen Facharzttermin be-
komme – um diese geht es ja eigentlich – hat mit dem
Facharztangebot in der Region zu tun. Das hängt wiede-
rum davon ab, wie attraktiv es ist, sich in einer bestimm-
ten Region niederzulassen. Das hat nun vor allem mit
den Vergütungsregelungen im gesetzlichen Bereich zu
tun, aber auch mit den Rahmenbedingungen, den Ar-
beitsbedingungen vor Ort. Schließlich hat das auch et-
was mit dem Medizinstudium zu tun. Der Minister hat
darauf hingewiesen. Genau an diesen Stellschrauben ha-
ben wir zu drehen begonnen, und wir wollen weiter da-
ran drehen. Sie lösen das Problem der langen Wartezei-
ten für gesetzlich Versicherte aber nicht, indem Sie die
Privatversicherung abschaffen. Diese Logik ist, mit Ver-
laub, Humbug, Frau Kollegin Klein-Schmeink.
Abschließend will ich kurz das aufgreifen, was Sie,
Frau Zimmermann, zu den Zuzahlungen, prozentual be-
zogen auf das jeweilige Einkommen, gesagt haben. Ich
weiß, es fällt Ihnen schwer, sich dem Gedanken zu nä-
hern, aber wenn jemand im Rahmen seiner Möglichkei-
ten einen angemessenen Beitrag zu den Kosten leistet,
sehe ich darin eine Form der Solidarität in einem Ge-
sundheitswesen, in dem ich mich darauf verlassen kann,
dass mir die Solidargemeinschaft hilft, egal wie krank
ich bin, egal wie hoch die Kosten sind, egal wie teuer
und aufwendig die Behandlung wird. Angesichts dessen
sind prozentual auf die Leistungsfähigkeit des Einzelnen
bezogene Zuzahlungen eine Form gegenseitiger Solida-
rität. Darüber mögen wir unterschiedlich denken. Des-
wegen sind wir ja auch in unterschiedlichen Parteien. Da
an dieser Stelle der Unterschied zwischen den verschie-
denen politischen Richtungen deutlich wird, wäre es der
Mühe wert, das weiter auszuführen. Doch ich kann jetzt
leider nicht darauf eingehen, da die Frau Präsidentin
mich schon auf das Ende meiner Redezeit hinweist.
Einen Unterschied mache ich nicht bei der Redezeit.
Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Abschließend sage ich daher Folgendes: Sie denken– das hat Ihre Forderung nach einer Anti-Stress-Verord-nung gezeigt –, man könne die Dinge nur durch Regeln,
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Jens Spahn
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Verordnungen, durch den Staat lösen. Am Ende hilft eineVerordnung aber niemandem.
Es geht darum, die Realität zu ändern und die Lebens-wirklichkeit in den Blick zu nehmen. Hier geht es umEntschleunigung. Es ist zu fragen, welche Präventions-maßnahmen die Menschen in der jeweiligen Situationbrauchen. Genau damit wollen wir uns in den nächstenvier Jahren beschäftigen.Wir wollen nicht mehr Bürokratie. Wir wollen nichtmehr Regeln, sondern wir wollen den Menschen undseine alltäglichen Erlebnisse im Bereich des Gesund-heitswesens in den Mittelpunkt stellen. So kann dieseGroße Koalition für Gesundheit und Pflege tatsächlichGroßes leisten.
Danke, Herr Spahn. – Die letzte Rednerin in dieser
Debatte ist Sabine Dittmar für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist heute schon sehr viel Richtiges undWichtiges zu den geplanten Vorhaben und Reformen ge-sagt worden. Als letzte Rednerin in dieser Debattemöchte ich auf einen Aspekt eingehen, der mir persön-lich sehr am Herzen liegt.Es ist unser erklärtes Ziel, echte Verbesserungen hin-sichtlich der Versorgungsstruktur und der Versorgungs-qualität herbeizuführen. Wir werden Maßnahmen her-beiführen, die Millionen von Patientinnen und Patientenunmittelbar zugutekommen. Dazu werden wir die Ver-sorgung strukturell und qualitativ verbessern, angefan-gen bei der primärärztlichen Versorgung über die fach-ärztliche und psychotherapeutische Versorgung bis hinzu den Krankenhäusern.Wenn ich mich heute schwerpunktmäßig mit derhausärztlichen, mit der primärärztlichen Versorgung aus-einandersetze, dann ist das ganz sicher keine qualitativeWertung, sondern schlicht und ergreifend der begrenztenRedezeit geschuldet.Kolleginnen und Kollegen, wir alle kennen aus unse-ren Wahlkreisen die Sorge um die zukünftige hausärztli-che Versorgung. Das beschäftigt die Bürgerinnen undBürger landauf, landab und, wie ich meine, zu Recht. Inallen Teilen Deutschlands erleben wir, dass keine Nach-folger für Praxen gefunden werden. Deshalb bin ich sehrfroh, dass wir uns im Koalitionsvertrag auf Maßnahmenverständigt haben, wodurch wir auch in ländlichen, instrukturschwachen Regionen, aber auch in Stadtteilenmit sozialen Brennpunkten die ärztliche Versorgung wie-der verbessern können.
Wir korrigieren damit – das sage ich in aller Deutlich-keit – einen Teil der Versäumnisse des Versorgungs-strukturgesetzes.
So werden wir beispielsweise den Betrieb arztgruppen-und fachgruppengleicher MVZ ermöglichen. Wir wer-den die Praxisnetze weiter ausbauen und vor allem ihreFörderung auf verbindliche Füße stellen
und die integrierte Versorgung stärken.
Das immer wieder angeführte Niederlassungshemm-nis Regress werden wir weiter entschärfen und in dieHände der Selbstverwaltung legen. Die hausärztlicheVersorgung werden wir – das ist aus meiner Sicht einganz wesentlicher Punkt – dadurch stärken, dass wir den§ 73 b SGB V, die Hausarztverträge, wieder in die alteRechtsform zurückführen.
Ich denke, mit diesen Maßnahmen geben wir jungen nie-derlassungswilligen Medizinerinnen und Medizinernechte Planungssicherheit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Patient, die Pa-tientin müssen sich aber auch auf die Qualität der Ver-sorgung verlassen können. Deshalb sind evidenzbasierte,leitliniengerechte Behandlung, Qualitätssicherung undEvaluation ganz wesentliche Bausteine in der Versor-gung. Ich begrüße es daher wirklich außerordentlich undausdrücklich, dass zu den bestehenden Disease-Manage-ment-Programmen zwei neue Behandlungsprogrammedazukommen: Rückenschmerzen und Depressionen.
Ich selbst habe die Einführung des ersten DMP zuDiabetes als Hausärztin miterlebt. Glauben Sie mir, daswar wirklich ein holpriger Start. Die Ärzteschaft hat sichvehement gewehrt, und die Patienten mussten mit Prä-mien von der Kasse zur Einschreibung ermuntertwerden. Ich bin froh, dass wir zwischenzeitlich zu derErkenntnis gelangt sind, dass strukturierte Behandlungs-programme die Versorgung von chronisch kranken Pa-tienten bei uns deutlich verbessern. Wir schreiben damiteine echte Erfolgsgeschichte.
Das Gleiche erhoffe ich mir auch von den beidenneuen Programmen. Erkrankungen im muskuloskeletta-len Bereich führen die Hitliste der Krankschreibungenan. Auch müssen wir ganz klar feststellen, dass Depres-sionen oftmals zu spät oder gar nicht diagnostiziert wer-den und deswegen auch nicht ausreichend therapiertwerden. Deshalb muss es unser Ziel sein, den Zugang zupsychotherapeutischer Versorgung zu verbessern.
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Sabine Dittmar
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Betroffene müssen zeitnah einen Termin bekommen undauch ein Angebot zur Kurzzeittherapie erhalten.Wir werden die Wartezeiten bei den Fachärzten aufvier Wochen verkürzen. Darauf sind die Vorredner schoneingegangen.Mir ist noch ein anderer Aspekt wichtig. Wenn wirvon Versorgungsstrukturen sprechen, sollten wir nichtnur die Unterversorgung im Blick haben, sondern wirsollten auch einmal klar zur Kenntnis nehmen, dass esRegionen und Fachgebiete gibt, die deutlich überver-sorgt sind.
Ich bin dankbar, dass wir die gesetzlichen Vorgaben zumAbbau der Überversorgung durch den Aufkauf von Arzt-sitzen von einer Kann- in eine Sollregelung überführen.Zur Aus- und Weiterbildung hat Kollege Nüßlein eineganze Menge gesagt. Ich meine, dass es wirklich not-wendig ist, frühzeitig das Interesse an der Allgemein-medizin zu wecken und die Auswahlkriterien so zu ge-stalten, dass auch berufliche und soziale Kompetenzenberücksichtigt werden und eben nicht nur die Abiturnoteüber hopp oder top beim Studienplatz entscheidet.
Auch die Studieninhalte müssen wir versorgungsorien-tierter gestalten.Meine Damen und Herren, wir haben uns eine Mengevorgenommen. Ich bin davon überzeugt, der Koalitions-vertrag setzt die richtigen Akzente. Wir geben einen gu-ten Rahmen vor. Zur Umsetzung der Vorhaben brauchenwir natürlich auch die Partner der Selbstverwaltung, diedas Ihre tun müssen, und die Bundesländer und Kommu-nen. Ohne deren Beitrag geht es nicht.Ich danke für die Aufmerksamkeit und freue mich aufdie zukünftige Zusammenarbeit hier im Parlament undim Gesundheitsausschuss.
Danke, Frau Kollegin. Das ganze Haus gratuliert Ih-nen zu Ihrer engagierten ersten Rede.
Wir wünschen Ihnen viel Kraft und Durchsetzungsver-mögen und gute Maßnahmen gegen Rückenschmerzen.
– Ja, ich weiß, wovon ich rede.Es liegen keine weiteren Wortmeldungen zu diesemThemenbereich vor.Jetzt machen wir schnell einen fliegenden Wechsel,auch wenn sich Gesundheitspolitiker eigentlich auch fürErnährung interessieren dürften. – Ich bitte Sie, Platz zunehmen.Wir kommen jetzt zum Themenbereich Ernährungund Landwirtschaft.Die Debatte eröffnet der Bundesminister für Ernäh-rung und Landwirtschaft, Dr. Hans-Peter Friedrich.
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister für Er-nährung und Landwirtschaft:Sehr verehrte Frau Präsidentin! Es ist mir eine großeFreude. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Bun-deskanzlerin hat gestern eine Regierungserklärung abge-geben, in der sie gesagt hat: Der Mensch steht im Mittel-punkt unserer Politik. Sie hat einen Auftrag an das ganzeParlament, an die ganze Regierung erteilt, indem sie ge-sagt hat: Wir müssen Antworten geben auf die Frage,wie man in unserem Land gut leben kann. Das ist ange-sichts der Herausforderungen der Zukunft, angesichtsder Globalisierung, aber auch angesichts der Sehnsuchtder Menschen nach kleineren Einheiten, nach Über-schaubarkeit, nach Heimat und angesichts des demogra-fischen Wandels eine wichtige Fragestellung.Ich denke, eine der Antworten, die wir gemeinsamgeben müssen, ist die Stärkung des ländlichen Raums,dort, wo Millionen von Menschen Heimat haben, dort,wo Millionen von Menschen in gefestigten gesellschaft-lichen Strukturen und in geordneten ökonomischen Ver-hältnissen leben. Insofern ist die Stärkung des ländlichenRaums eine zentrale Antwort auf die Zukunftsherausfor-derungen in unserem Land.
In diesem ländlichen Raum spielen die Landwirt-schaft, die Ernährungswirtschaft, die Forstwirtschaft unddas Ernährungshandwerk eine zentrale ökonomischeRolle. Sie sind Arbeitgeber. Sie sind ökonomischer Fak-tor im ländlichen Raum. Sie bewirtschaften die Flächenund produzieren Lebensmittel. Das muss man der Bevöl-kerung im ganzen Land, auch in den Städten, klarma-chen. Wenn die Menschen an den Ladentheken, egal woim Land, stehen und sich für Qualität entscheiden, dannentscheiden sie sich zumeist für deutsche Produkte. Ichdenke, es wird Zeit, dass wir uns alle gemeinsam wiederbewusst machen, dass auf den Flächen unseres LandesQualitätsprodukte produziert werden, und dass wir da-rauf auch wieder stolz sind. Das ist eine wichtige Auf-gabe der Koalition.
Die deutsche Landwirtschaft ist führend. Die deut-sche Ernährungswirtschaft ist führend. Warum sind sieführend? Weil wir gute Böden, ein gutes Klima und ge-nügend Wasserreserven haben, aber auch weil unsereLandwirte, unsere mittelständischen Familienunterneh-men Unternehmer sind, unternehmerisch handeln, unter-nehmerisch denken, weil ihnen Wettbewerbsfähigkeitund Innovation wichtig sind. Es ist unsere politischeAufgabe, dafür zu sorgen, dass diese unternehmerischeGestaltungs- und Handlungsfreiheit ihnen auch in der
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Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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Zukunft erhalten bleibt, damit sie so gut bleiben können,wie sie jetzt sind.
Wir sind dabei, die Gemeinsame Agrarpolitik auf eu-ropäischer Ebene umzusetzen. Ich bedanke mich bei denAgrarministern der Länder, die mit 16:0 schon im No-vember bei einer Sonderkonferenz einen gemeinsamenKompromiss verabschiedet haben. Es gilt jetzt, dafür zusorgen, dass die ökonomische Basis unserer Bauern inder nächsten Förderperiode klar und verlässlich ist. Esgeht um Direktzahlungen dafür, dass die Landwirte un-sere Kulturlandschaft pflegen und unserer Heimat, unse-rem Land ein Gesicht geben. Dafür haben sie es ver-dient, Direktzahlungen zu bekommen. Denn wir alsAbgeordnete, als Politiker machen den Landwirten allemöglichen Auflagen in Form von Verordnungen und Ge-setzen, die in ihre Eigentumsrechte und Bewirtschaf-tungsmöglichkeiten eingreifen. Deswegen haben sie esim Gegenzug auch verdient, dass wir ihnen stabile Di-rektzahlungen über direkte Einkommensbeihilfen zu-kommen lassen.
Unsere Bauern sind Leistungsträger im ländlichenRaum, weil sie Verantwortung für Mensch, Tier undUmwelt übernehmen. Das Tierwohl ist etwas, was denVerbrauchern beim täglichen Einkauf immer wichtigerwird; das sagen alle Umfragen. Immer mehr Menschensagen: Ich will nicht nur wissen, was ich kaufe, sondernauch, wie es produziert worden ist,
wie die Tiere gehalten worden sind und wie mit der Um-welt umgegangen worden ist. – Insofern ist das ein wich-tiges Kriterium. Deswegen haben wir auch im Koali-tionsvertrag festgelegt, dass die Tierwohl-Offensive einwichtiges Ziel sein soll. Ich möchte gerne im Dialogzwischen Verbrauchern, Verbänden, den Tierhaltern undder Landwirtschaft dafür sorgen, dass wir noch mehr fürdas Tierwohl und den Tierschutz in unserem Land tunkönnen.
Das Ziel muss sein, dass Lebensmittel made in Ger-many als Markenzeichen gleichzeitig Nachhaltigkeit undTierschutz in sich tragen, damit jeder weiß: Wenn ichLebensmittel made in Germany kaufe, dann habe ich et-was für Umwelt, Tierschutz und Nachhaltigkeit getan.Wir haben mit dem Deutschen Tierschutzbund einTierlabel auf den Weg gebracht, das für Transparenz aufden Märkten sorgt, ein Regionalfenster, das dem Ver-braucher sagt, woher die Lebensmittel, die er kaufenwill, stammen. Wir brauchen keine Volksbevormun-dung, unser Leitbild muss der mündige Verbrauchersein, der auf transparenten Märkten entscheiden kann,was er kaufen möchte.
Wir sind stolz auf das Label „Made in Germany“– Autos made in Germany, Maschinen made inGermany –, wenn wir Produkte aus unserer industriellenFertigung verkaufen. Wir sollten auch stolz sein, dasshervorragende landwirtschaftliche Produkte und Lebens-mittel made in Germany bei unseren europäischen Nach-barn und auf den aufnahmefähigen Märkten der aufstre-benden Länder in Asien und woanders gefragt sind.Auch die ökonomische Basis der Landwirtschaft hängtmit dem Export zusammen. Wir sollten stolz sein, dasswir Produkte made in Germany exportieren können – in-nerhalb Europas und darüber hinaus.
Neben dem ökonomischen Aspekt spielt der Gesund-heitsschutz eine große Rolle. Wir haben in den letztenJahren Erfahrungen mit Krisen machen müssen. In Re-aktion darauf haben wir die Reaktionssysteme schnellgemacht und perfektioniert. Wir müssen aber auch prä-ventiv noch mehr tun als bisher. Das ist deswegen nichtganz einfach, weil aufgrund unserer föderalistischenStrukturen Bund und Länder zusammenarbeiten müssen.Wir werden mit den Ländern darüber diskutieren, wiewir ein Frühwarnsystem zur besseren Kontrolle auch impräventiven Bereich schaffen können, vor allem wie wirLebensmittelbetrug, wie wir ihn ja in der Vergangenheitkennengelernt haben, bekämpfen können. Auch dafürwerden wir zusammen mit den Ländern Vorschläge erar-beiten.Gesunde Ernährung ist ein zentrales Thema. Sie istauch ein volkswirtschaftlicher Faktor: Gesunde Ernäh-rung trägt dazu bei, dass – der Gesundheitsminister istnicht mehr anwesend – die Krankenkassen entlastet wer-den. Gesunde Menschen fühlen sich auch wohler; Ge-sundheit trägt zur Lebensqualität bei. Ich bin sehr stolzund glücklich, dass es entsprechende Initiativen gibt,zum Beispiel den Ernährungsführerschein des Deut-schen LandFrauenverbandes, bei dem Kinder schon infrühester Kindheit lernen, was gesunde und gute Ernäh-rung ist. Ich glaube, das ist der richtige Weg, wie wir dieMenschen zu mündigen Verbrauchern machen.
Ländlicher Raum, Halt, gesellschaftliche Stabilität,Heimat, dafür stehen nicht nur Landwirtschaft und Er-nährungswirtschaft, dazu gehören auch Handwerk, mit-telständische Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe,freiberufliche Strukturen. Wenn wir die Attraktivität desländlichen Raums, der für unser Land große Bedeutunghat, in der Zukunft stärken wollen, müssen wir beachten,dass der ländliche Raum in ökonomischer, gesellschaftli-cher und politischer Hinsicht eine Gesamtheit bildet.Auch dem wollen wir uns gemeinsam widmen.
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Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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Schließlich, meine sehr verehrten Damen und Herren,haben wir nicht nur Verantwortung für unser Land undfür Europa, sondern auch darüber hinaus: Im Jahr 2050werden auf der Erde 9 Milliarden Menschen leben. DieWissenschaftler rechnen uns vor, dass wir, allein umdiese 9 Milliarden zu ernähren, die Produktion der Land-wirtschaft weltweit um 70 Prozent steigern müssen.Meine Damen und Herren, die Lösung der Ernährungs-probleme der Weltbevölkerung findet zuallererst auf denÄckern, auf den Feldern statt. Dort müssen die Erträgeerwirtschaftet werden, dort muss das produziert werden,was die Milliarden von Menschen in der Zukunft ernäh-ren soll. Deswegen hat die Agrarpolitik auch eine inter-nationale Verantwortung: die Verantwortung für die Er-nährung der Weltbevölkerung. Auch diesem Kapitelwollen wir uns in besonderer Weise widmen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutsch-land ist deswegen so stark, weil es starke ländlicheRäume hat. Wir wollen gemeinsam daran arbeiten, dassdas so bleibt. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.Alles Gute.
Vielen Dank, Herr Minister Friedrich. – Das Wort hat
Karin Binder für die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Antworten brauchen wir noch einige, Herr Minister
Friedrich. Sie haben jetzt zwar einige Themen aufge-
zählt, aber viele Antworten habe ich leider nicht erken-
nen können.
Ich beginne jetzt einfach einmal mit Ihrem Schluss,
den Ernährungsproblemen der Weltbevölkerung. Ich
glaube nicht, dass Ertragssteigerungen die Lösung des
Problems sind. Wir müssen dafür sorgen, dass die vielen
Menschen in den Ländern dieser Welt, in denen Armut
und Hunger vorherrschen, in die Lage versetzt werden,
sich selbst zu versorgen.
Dazu gehört aber, dass wir deren Ackerflächen nicht
dazu benutzen, Tierfutter für unsere Tiere anzubauen.
Millionen Tonnen werden jährlich zu uns geliefert, da-
mit wir einen Fleischkonsum praktizieren können, der
dazu führt, dass wir dicke Kinder, fehlernährte Erwach-
sene
und gesundheitliche Probleme – angefangen bei Herz-
Kreislauf-Erkrankungen über Gelenkerkrankungen bis
hin zu Gicht usw. – haben. Das alles hängt zusammen.
Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft
über Verbraucherverhalten und Konsum nachdenkt.
Weniger ist mehr: mehr Qualität.
Damit bin ich beim Thema „Industrielle Lebensmit-
telherstellung“. Wir haben das Problem, dass viele Men-
schen heute nicht mehr wissen, was in ihren Lebensmit-
teln ist. Die Kennzeichnungspflicht ist völlig
unzulänglich. Eigentlich kann jeder Betrieb machen, was
er will, Hauptsache, das steht in einer Schriftgröße von
1,2 Millimetern irgendwo im Kleingedruckten hinten-
drauf. Das ist absolut unzulänglich. Wir brauchen klare
Kennzeichnungen bezüglich der Dickmacher – Fett, Zu-
cker, Salz – und der Zusatzstoffe: Geschmacksverstär-
ker, Farbstoffe und andere, die zum Beispiel der Konser-
vierung dienen.
Wir alle wissen mittlerweile, welche gesundheitlichen
Folgen das nach sich zieht, insbesondere wenn Kinder
damit konfrontiert sind. Kinder reagieren darauf mit Un-
verträglichkeiten und Allergien und haben als Erwach-
sene extreme Probleme, sich vernünftig zu ernähren.
Das sind unsere Probleme. Diese sind im Zusammen-
hang mit einer Überflussgesellschaft entstanden und
werden weiter befördert. Hier müssen wir ansetzen. Des-
halb ist die Linke auch in der letzten Legislaturperiode
vehement für eine gesunde, qualitativ hochwertige und
kostenfreie Schulverpflegung eingetreten. Das werden
wir auch in dieser Legislaturperiode wieder aufgreifen.
Hier müssen wir ansetzen. Die Kinder müssen in der
Schule in Theorie und Praxis lernen können, wie ver-
nünftige Ernährung aussieht. Der Ernährungsführer-
schein ist wunderbar; das ist ein schönes Beispiel. Damit
erreichen Sie aber nur einen kleinen Bruchteil der Kin-
der. Wir wollen aber alle Kinder erreichen, insbesondere
auch die aus armen Elternhäusern, die keine 3,50 Euro
für das Schulessen bezahlen können. Wir wollen, dass
all diese Kinder gut versorgt sind,
sodass sich die Eltern, wenn sie nach der Arbeit heim-
kommen, keine Sorgen machen und fragen müssen, wie
das Kind den Tag überstanden hat und ob es die Fertig-
pizza in die Mikrowelle geschoben hat.
All diese Fehler, die durch den Arbeitsalltag und die
Dominanz der Wirtschaft und der Betriebe entstehen,
muss diese Gesellschaft ausgleichen. Wenn wir das nicht
tun, werden wir leider auch weiterhin zugucken müssen,
wie die Menschen auf der einen Seite der Welt dick wer-
den und auf der anderen Seite der Welt millionenfach
verhungern; denn alle zehn Sekunden stirbt auf dieser
Welt ein Kind an Unterernährung, weil die vorhandenen
Lebensmittel nicht richtig verteilt werden.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
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766 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
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Jawohl. – Auch hier spielt die Verteilungsfrage leider
eine wichtige Rolle.
Deshalb kann ich nur sagen: Wir haben in dieser Le-
gislaturperiode noch viel zu tun. Herr Minister Friedrich,
ich hoffe, Sie packen hier mit an.
Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Schwäbin
hat Ute Vogt für die SPD das Wort.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Herr Minister!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit IhrerErlaubnis, Frau Präsidentin, mit einem Zitat beginnen:„Wir brauchen ein neues Denken und Handeln in derAgrarpolitik.“ So hat es der Präsident des DeutschenTierschutzbundes, Thomas Schröder, anlässlich der De-monstration am 18. Januar 2014 in Berlin gefordert.An diesem Tag, einem Samstagvormittag mit kaltemWetter, haben sich immerhin über 30 000 Menschen ver-sammelt, die dafür demonstriert haben, dass wir hier inder Agrarpolitik einen Wechsel herbeiführen.
Es ist gut, wenn die Agrarpolitik öffentliche Aufmerk-samkeit bekommt. Ich denke, dass wir im Koalitionsver-trag zwar keine Revolution beschlossen, aber immerhindeutliche Wegmarken gesetzt haben, auch für Neues.Ich will das am Beispiel von Tierhaltung und Tier-wohl erläutern – ich habe mich gefreut, Herr Minister,dass auch Sie das in Ihrer Rede herausgestellt haben –:Es ist unser Ziel, dass die Tierhaltung an die Bedürfnisseder Tiere angepasst wird und nicht umgekehrt. Das istfür unser Politikverständnis ein wichtiger Punkt.
Es geht darum, die Tierhaltung an die Größe der Flä-chen zu binden und Prüf- und Zulassungsverfahren imZusammenhang mit Haltesystemen einzuführen. Dassind sehr konkrete Forderungen, auf die wir uns verstän-digt haben und die wir in Kürze umsetzen wollen.Es ist ebenfalls erfreulich, dass sich auch der Bauern-verband diesem Thema widmet. Aber ich will hier auchdeutlich sagen: Es reicht nicht aus, nur einige Vorzeige-betriebe zu haben. Notwendig sind tatsächliche Verände-rungen in Form von höheren Standards und mehr Trans-parenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher, diewissen wollen, unter welchen Bedingungen ihre Lebens-mittel entstanden sind.
Ein weiterer Schwerpunkt, Herr Minister Friedrich– ich habe mich gefreut, dazu etwas von Ihnen auf derGrünen Woche zu hören –, kam von Ihnen anlässlich desTages des Ökologischen Landbaus – ich darf erneut zi-tieren, Frau Präsidentin –:Der ökologische Landbau setzt Maßstäbe: Erschont die Ressourcen, wirtschaftet besonders um-weltverträglich und orientiert sich noch stärker amPrinzip der Nachhaltigkeit.Sehr geehrter Herr Minister, liebe Kolleginnen undKollegen, ich glaube, wenn Sie diese Aussagen zumMaßstab unserer gemeinsamen Politik machen, dannwerden Sie hier nicht nur die Große Koalition, sonderneine weit darüber hinausgehende Mehrheit hinter sichhaben, nicht nur in diesem Hause, sondern auch in derBevölkerung.
Nachhaltig heißt auch, dass wir Gefährdungen fürkommende Generationen ausschließen. In Deutschlandhat die große Mehrheit der Bevölkerung große Vorbe-halte gegen den Einsatz von Gentechnik in der Landwirt-schaft. Auch im Kabinett gibt es mit Blick auf die Res-sorts eine Mehrheit dafür, keine weiteren gentechnischveränderten Produkte – ich beziehe mich auf die GrüneGentechnik – in Deutschland zuzulassen. Das betrifftnicht allein die SPD-geführten Ressorts, sondern ichdenke, dass wir auch das Landwirtschaftsministerium anunserer Seite finden, wenn es um eine aktuelle Fragegeht, nämlich die Zulassung der Maislinie 1507 auf eu-ropäischer Ebene. Wir wollen nicht, dass sie zugelassenwird.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt,dass wir die Vorbehalte der Bevölkerung ernst nehmen. Wirfordern von der Bundesregierung und in diesem Fall vor al-lem auch vom Bundesforschungsministerium, dass siesich an die dazu im Koalitionsvertrag getroffenen Rege-lungen halten.Ich füge hinzu: Jenseits des Grundsatzstreites mitdem Forschungsministerium an dieser Stelle geht es imkonkreten Fall um eine Maislinie, die uns weder wirt-schaftlich etwas bringt, noch für die es eine Nachfrage inDeutschland gibt. Es gibt in Deutschland auch keinerleiForschungsinteresse, was diese Maislinie angeht. Des-halb spricht im konkreten Fall – nicht im Grundsätzli-chen, aber in diesem konkreten Fall – überhaupt nichtsdafür, diese Maislinie zuzulassen. Ich erwarte von unse-rer Bundesregierung, dass wir mit einem klaren Nein zudiesem Thema nach Brüssel fahren.
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Wir werden uns bemühen, das durchzusetzen. Wir ha-ben noch Zeit, weil die Entscheidung der EuropäischenUnion noch etwas aussteht. Ich freue mich über jedenund jede, die das unterstützen, natürlich auch vonseitendes Koalitionspartners.Ich denke, wie gesagt, wir haben einen guten Vertrag,der gute Ansätze bietet. Aber es kommt auch darauf an,dass wir das, was wir gemeinsam niedergeschrieben undzum Teil auch gemeinsam errungen haben, durchausernst nehmen und jetzt umsetzen. Ich freue mich darauf.
Danke, Frau Kollegin. – Der nächste Redner istFriedrich Ostendorff für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinister Friedrich, eines muss man Ihnen lassen: Sie ha-ben Ihre erste Grüne Woche mit Geschick gemeistert.
Sie haben nicht, wie manche Ihrer Parteikollegen, re-flexartig in das Horn des Bauernverbands geblasen.Mir ist durchaus bewusst, dass schon die positive Er-wähnung der „Wir haben es satt!“-Demo vom vorletztenSamstag und Ihr Gesprächsangebot an die 30 000 De-monstranten in Ihrer Fraktion einer kleinen Revolutiongleichkommt. Angesichts der Bauernverbandsfunktio-näre in Ihren Reihen werden Sie viel Rückgrat brauchen,um Ihre anfängliche Politik des Dialogs durchzuhalten.Selbstkritik, Offenheit, Dialog und Transparenz sind jabisher nicht die Sache der CDU/CSU und des DeutschenBauernverbands.
Stattdessen geht es hier zu wie beim ADAC:
Es wird beschönigt und verharmlost. Kritiker werden be-schimpft, ausgegrenzt und zu Nestbeschmutzern undAntidemokraten erklärt, mit denen man besser nichtspricht.So empfiehlt der Bauernverband seinen Mitgliederndas Schönreden als Reaktion auf die wachsende Kritikan der Massentierhaltung. Man soll nicht mehr wissen-schaftlich korrekt von Schnabelkürzen reden, sondernSchnabelbehandlung sagen. Man soll den Begriff „Anti-biotika“ unbedingt vermeiden und bloß nicht von Mas-sentierhaltung, sondern von moderner Tierhaltung reden.Präsident Rukwied spricht sogar von Wellness- und Re-laxzonen in deutschen Schweineställen.
Pünktlich zur Grünen Woche findet der arglose Fahr-gast im Zug ein Hochglanzmagazin namens Meat-Maga-zin vor, das die Vorzüge zügellosen Fleischkonsums an-preist und eine heile Welt der Tierhaltung vorgaukelt.Herausgeber: der Deutsche Bauernverband.Herr Minister, der Markt verlangt Wahrheit und Klar-heit mit sauberer Herkunftskennzeichnung. Das ist dasGebot der Stunde.
Begleitet wird die Schönfärberei durch eine wilde Pu-blikumsbeschimpfung durch Herrn Rukwied, der mitseiner wüsten Gummistiefelrhetorik alle Kritiker alsLügner und Verleumder verunglimpft, die „Gülle überredliche Bauernfamilien ausschütten“.Die CDU/CSU sekundiert diese Strategie mit politi-scher Dauerblockade, egal ob es um die EU-Agrarre-form, das Tierschutzgesetz, die Massentierhaltung, dieGentechnikfreiheit oder die Förderung des Ökolandbausgeht. Keine Spur von Einsicht, dass MassentierhaltungQuälerei ist, dass das Amputieren der Schnäbel bei denHühnern eine Verstümmelung ist, dass es beim Antibio-tikamissbrauch nicht um eine Bagatelle, sondern umeine Gefährdung der menschlichen Gesundheit geht unddass Strukturwandel eine unerträgliche Verharmlosungdes Verlustes Tausender bäuerlicher Existenzen jedesJahr ist. Bei keinem einzigen dieser Probleme haben Sie,meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in denletzten vier Jahren etwas zustande gebracht.
Nein, wir müssen die Missstände in der Landwirt-schaft schon beim Namen nennen: 65 Prozent der Stick-stoffemissionen stammen in Deutschland aus der Tier-haltung. 94 Prozent der Ammoniakemissionen werdendurch die Landwirtschaft verursacht. Ein Drittel derGrundwassermessstellen in den viehdichten nordrhein-westfälischen und niedersächsischen Kreisen weisenGrenzwertüberschreitungen bei Nitrat von mehr als50 Milligramm pro Liter auf, Tendenz stark ansteigend.1 619 Tonnen Antibiotika wurden 2012 in der Tierhal-tung verwendet, davon rund 800 Tonnen in den nieder-sächsischen und westfälischen Hochburgen der Massen-tierhaltung. Gewinnen tun dabei nicht die von Ihnenbeschworenen Familienbetriebe, meine Damen und Her-ren; Gewinner ist die von Ihnen vertretene Agrarindust-rie.Die UN hat das Jahr 2014 zum Jahr der bäuerlichen Fa-milienbetriebe ausgerufen. Heute ist zu lesen – Zitat –:Die bäuerliche Landwirtschaft bildet das Rückgratder weltweiten Nahrungsmittelversorgung.So sagte der UN-Sonderbotschafter, der frühere Präsi-dent des DBV, Gerd Sonnleitner. Wie wahr!Nur, die Zahl der Familienarbeitskräfte in der Land-wirtschaft ist von 80 Prozent 1990 auf heute 50 Prozentgesunken. Von 1999 bis 2000 haben 45 Prozent derMilchvieh-, 50 Prozent der Schweine- und 75 Prozent
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768 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Friedrich Ostendorff
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der Geflügelbetriebe trotz zum Teil stark steigender Ge-samttierzahlen zugemacht. Diese Entwicklung ist nichtdie Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaft, sondern ihrEnde.
Die Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaft liegt imSchulterschluss mit der Gesellschaft. Sie liegt in demVersuch, gemeinsam mit der Gesellschaft eine nachhal-tige, ökologische und soziale Landwirtschaft aufzu-bauen. Für diese Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaftwaren am 18. Januar über 30 000 Menschen auf derStraße.
Herr Minister Friedrich, es ist gut, dass Sie modera-tere Töne anschlagen und den konstruktiven Dialogscheinbar suchen. Sie haben in den letzten Tagen vieleErwartungen geweckt. Nun ist es Zeit, Taten folgen zulassen und endlich etwas für die bäuerliche Landwirt-schaft zu tun.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste hat
Marlene Mortler das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Begriff des Nestbeschmutzers hat einenNamen: Friedrich Ostendorff.
Ich finde es unsäglich, wie er hier unsere Landwirtschaftin Europa und in Deutschland in Bausch und Bogen ver-urteilt hat.
So geht es nicht. Wir stehen dafür, dass Missstände auf-gedeckt werden. Wir stehen dafür, dass schwarze Schafean den Pranger gestellt und bestraft werden.
Aber wir stehen auch zu unseren Landwirten, die nachbestem Wissen und Gewissen ihren Beruf ausüben.
Damit zu unserem Minister. Ich finde es klasse, wie erin den letzten Wochen das Thema Landwirtschaft an sichgerissen hat; das haben wir gerade wieder live erlebt. Fürmich war das eine Liebeserklärung an den ländlichenRaum und an die Landwirte im ländlichen Raum.
Gerade die Grüne Woche hat deutlich gemacht, dassdas Interesse an weltweiter Agrarpolitik und Welternäh-rung immer größer wird. Diese Messe weist eine Re-kordbilanz auf. 410 000 Messegäste aus über 70 Ländernund 1 650 Aussteller haben darüber diskutiert und debat-tiert, wie wir die Zukunft der Welternährung sichernkönnen. Es war nicht nur ein agrarpolitisches Treffenvon weltweitem Rang. Es war auch ein Großereignis, umVerbrauchern Produktion, Qualität und Sicherheit vonNahrungsmitteln transparent und anschaulich vor Augenzu führen, ein Aspekt, der – das gebe ich gerne zu – im-mer wichtiger wird. Unsere gut 280 000 landwirtschaft-lichen Betriebe – in der Mehrzahl bäuerliche Familien-betriebe – produzieren höchste Qualität. Ich zitiere hiergerne das Bundesinstitut für Risikobewertung, das ge-sagt hat: Nie waren unsere hiesigen Lebensmittel siche-rer als heute.
Wir beobachten jedoch eine zunehmende Entfrem-dung zwischen landwirtschaftlicher Produktion und Tei-len der Gesellschaft. Transparenz in der Herstellungs-kette vom Saatgut bis zum Teller – wie auf der GrünenWoche erlebbar – ist wichtiger denn je, um Verständnisfür moderne Produktion und moderne Verarbeitung vonNahrungsmitteln zu schaffen. Gleiches gilt selbstver-ständlich auch für Fragen des Tierwohls. Denn – wieeine Studie von TNS Infratest vom Mai 2013 besagt –im Bereich Sicherheit von Lebensmitteln hängt viel vomInformationsstand des einzelnen Verbrauchers ab. Je we-niger er informiert ist, umso unsicherer ist er. Je mehr erweiß, umso sicherer bewertet er die Lebensmittel.
Damit bin ich bei der Kollegin der Linken. Ich be-haupte: Hier hat keine aufgeklärte Verbraucherin, son-dern eine unaufgeklärte Politikerin gesprochen.
Fachliche, ideologiefreie Aufklärung nicht nur durch diePolitik, sondern auch durch jeden einzelnen Betrieb inder Prozesskette nach dem Motto „Warum und wie ma-che ich was?“ ist eine Daueraufgabe. Die Entfremdungvon landwirtschaftlicher Produktion bietet den Nähr-boden für nicht hinnehmbare Pauschalverurteilungen ei-nes gesamten Berufsstandes. Es geht eben nicht um dasAusspielen von Biolandwirtschaft gegen konventionelleLandwirtschaft. Wir sind Gott sei Dank an einem Gunst-standort, wo beide Bereiche ihre Berechtigung haben.
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Marlene Mortler
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Parallel dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehenwir diese Entfremdung auch beim Thema gesunde Er-nährung. Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Gesund-heitssystem wegen falscher Ernährung und Verhaltens-weisen folgenschwer belastet wird. Hier ist mit demBeschluss der Kultusministerkonferenz im Herbst letz-ten Jahres zur Verbraucherbildung an Schulen – Stich-worte „Alltagsökonomie“, „Ernährungskompetenz“,„Lebensökonomie“ – ein weiterer Meilenstein auf demWeg zu frühzeitiger und damit nachhaltiger Aufklärungauf diesem Feld erreicht worden.An dieser Stelle danke ich – genauso wie mein Minis-ter – unseren Landfrauen landauf, landab, die der Motordafür waren, dass diese wichtigen Felder in den Unter-richt eingebaut werden. Danke!
Meine Damen, meine Herren, die Vereinten Nationenhaben aus guten Gründen das Jahr 2014 zum Jahr derbäuerlichen Familienbetriebe ausgerufen. Sie haben er-kannt: Familienbetriebe sind weltweit die Voraussetzungfür starke ländliche Räume; da sind wir uns wieder einig,Friedrich Ostendorff. Und warum? Weil sie persönlichfür unternehmerische, finanzielle Entscheidungen haftenund damit eine hohe Eigenverantwortung übernehmen.Tag für Tag haben sie generationenübergreifend ihreFamilien, ihre Mitarbeiter, ihre Tiere und eine intakteUmwelt im Blick.Zugang zu Land und zu Eigentum, zu den Agrarmärk-ten und eine gute Ausbildung sind und bleiben derSchlüssel für die Landwirte nicht nur bei uns, sondernweltweit. Das heißt, wir brauchen mehr leistungsfähigebäuerliche Familienbetriebe, die mit weniger Einsatzmehr produzieren. Wir haben dafür das Wissen und dasKönnen in unserem Land, und wir versündigen uns ander Zukunft, wenn wir dieses Wissen und Können nurbei uns umsetzen oder sogar – wie die Grünen hier – in-frage stellen. Wir haben die Pflicht, einen starken Bei-trag im Sinne der sogenannten Millenniumsziele in unse-rem Land und weltweit zu leisten.In diesem Sinne schließe ich mit einem Satz unseresLandwirtschaftsministers:Das Landwirtschaftsministerium ist das Wirt-schaftsministerium des ländlichen Raums.Wenn das alle Landwirtschaftsministerien der Welterkannt haben, dann sind wir auf einem guten Weg. Wirleisten unseren Beitrag dazu.Danke.
Danke, Frau Kollegin Mortler. – Die nächste Redne-
rin ist Dr. Kirsten Tackmann für die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Mortler, ich glaube, so ganz den parlamentarischenGepflogenheiten hat das nicht entsprochen, wie Sie hiermit den Kollegen umgegangen sind. Ich finde schon,man sollte da etwas fairer sein.
Um zur Realität zurückzukommen: Ganz so schick istdas in den Dörfern und kleinen Städten ja nicht.
Das liegt auch daran, dass wir einem falschen agrarpoli-tischen Leitbild folgen. Die Linke will eine Landwirt-schaft, die die Menschen versorgt, am besten regional.Dann ist der Markt aber nur ein Dienstleister. Aber dieRealität ist, dass die Landwirtschaft der Dienstleister füreinen globalen Markt geworden ist, der die Menschennur auf ihren Geldbeutel reduziert. Dieser sozial undökologisch blinde Markt knebelt die Landwirtschafts-betriebe.Wer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut behandeltund die Natur schont, der setzt sich einem betriebswirt-schaftlichen Risiko aus. Das ist der Systemfehler, denwir beheben müssen.
Die Kanzlerin forderte doch gestern den Staat als dieordnende Macht, als den Hüter der Ordnung. Aber wo istdafür der agrarpolitische Beleg im Koalitionsvertrag?Die vagen Aussagen und Prüfaufträge sind eher einWegducken. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.Gerade weil sich die Konflikte in den Dörfern undkleinen Städten zuspitzen, brauchen wir ein neues agrar-politisches Konzept, ein friedensstiftendes, so möchteich es nennen. Ich will nur einige Brandherde benennen:Die Boden- und Pachtpreise sind unterdessen mit land-wirtschaftlicher Arbeit nicht mehr zu finanzieren. Des-halb müssen wir den spekulativen Bodenerwerb durchnichtlandwirtschaftliche Investoren beenden.
Übertragen Sie endlich die BVVG-Flächen an die ost-deutschen Länder, am besten kostenlos oder zumindestzu einem fairen Preis. Regeln Sie endlich gesetzlichObergrenzen für die Tierhaltung, sowohl hinsichtlich derGröße als auch der Dichte für Standorte und Regionen.
Megaställe mit 400 000 Hähnchen oder 40 000 Schwei-nen sind nicht vernünftig, weder sozial noch ökologisch,und sie werden auch nicht akzeptiert.Stärken Sie die Erzeugerbetriebe durch die Förderungregionaler Verarbeitung und Vermarktung. Das bringtWertschöpfung in die Regionen. Das ist übrigens besser
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Dr. Kirsten Tackmann
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für die Betriebe als Fördergelder, die häufig in falschenTaschen landen.
Stärken Sie Erzeugergemeinschaften. Binden Sie Ag-rargenossenschaften in die Aus- und Weiterbildung ein.Da können Sie vielleicht vom Osten etwas lernen. Schaf-fen Sie die anachronistische Hofabgabeklausel ab. Dieist ein Witz.
Da muss ein Bauer seinen Hof verkaufen, damit er eineArmutsrente bekommt. Ich finde, das ist staatlich ange-ordnete Enteignung und wird den Strukturwandel aller-höchstens beschleunigen; das ist nicht notwendig.
Sorgen Sie dafür, dass bei der Energiewende die Dör-fer mitbestimmen können und auch davon profitierenund nicht nur die Landeigentümer und die Investoren.Deckeln Sie den Maisanteil für Biogasanlagen bei30 Prozent. Es gibt doch unterdessen vernünftige Alter-nativen, die auch noch für eine bienenfreundliche Land-wirtschaft geeignet sind.
Stellen Sie klar, dass eine Vorerntebehandlung mitdem Unkrautvernichter Glyphosat keine gute landwirt-schaftliche Praxis ist. Stellen Sie das ein.
Sorgen Sie dafür, dass bei dringend benötigten Aus-weichflächen für Hochwasser die Agrarbetriebe fairbehandelt werden. Aber sorgen Sie auch dafür, dassHochwasserschutz für viele nicht an einzelnen Landei-gentümern scheitert. Dafür gibt es Art. 14 Grundgesetz.
Lehnen Sie die Zulassung gentechnisch veränderterPflanzen ab. Die Mehrheit durchschaut doch längst, werdavon profitiert, und sie will keine Landwirtschaft, dieam Gängelband der Saatgutkonzerne hängt.
Vergessen Sie übrigens auch das Freihandelsabkom-men mit den USA; denn Chlorhähnchen und Frackingwill nun wirklich überhaupt niemand.Herr Minister Friedrich, machen Sie sich im Kabinettfür die Dörfer stark. Die müssen per Bus und Bahn er-reichbar bleiben, Kranke müssen versorgt werden, unddas Internet darf kein Neuland und übrigens auch keineVerheißung werden.
Beenden Sie die direkte und indirekte Exportförde-rung, weil sie den Entwicklungsländern die Zukunfts-chancen verbaut. Machen Sie Agrarforschung zur Chef-sache. Dann ist uns selbst und auch der Welt geholfen.Zum Schluss ein Rat: Wer die Feuerwehr nicht ruft,wenn es brennt, oder absichtlich das Wasser abstellt, ris-kiert Totalschaden, auch politisch. Ihre 100 Tage laufen.Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin Tackmann. – Die nächste Red-
nerin in der Debatte ist Elvira Drobinski-Weiß für die
SPD.
Frau Präsidentin! Herr Minister! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! In den letzten Jahren hat die Verbrau-cherpolitik der Bundesregierung unter ihren falschenVoraussetzungen gelitten; denn auf dem Markt derschwarz-gelben Vergangenheit bewegten sich aus-schließlich mündige Verbraucher. Bei der KolleginMortler ist das auch hängen geblieben, wie wir vorhingehört haben. Das sind nämlich solche, die jederzeit undüberall in der Lage sind, informierte und rein rationaleKonsumentscheidungen zu treffen, ob beim Zehnminu-teneinkauf im Supermarkt, im Internet oder auch beimAbschluss eines Versicherungsvertrages. Dem wider-sprechen jedoch die Ergebnisse der Verbraucherfor-schung. Wir wissen alle, alle, wie wir hier sitzen, aus un-serem eigenen Alltag, dass zwischen diesem Ideal undder Realität eine große Lücke klafft.Die Verbraucherpolitik gehört zu den Bereichen, indenen es mit der neuen Bundesregierung die größtenNeuerungen geben wird. Damit meine ich jetzt wenigerdie neue Ressortaufteilung. Ich sehe, Herr Landwirt-schaftsminister, Ihr Kollege Verbraucherminister istauch da. Ich meine damit, dass die Politik auf eine neueBasis gestellt wird. Das gilt unabhängig davon, ob es umLebensmittel geht, um die digitale Welt oder um Finanz-dienstleistungen. Ich bin sehr froh, dass unsere neueBundesregierung im Koalitionsvertrag den realen Ver-braucher, die reale Verbraucherin mit ihren unterschied-lichen Voraussetzungen, Interessen und Problemen imBlick hat. Damit können wir gemeinsam eine Verbrau-cherpolitik gestalten, die bei den Menschen ankommtund ihren Alltag erleichtert.
Es ist eine Verbraucherpolitik mit dem Ziel, fürSchutz zu sorgen, wo Verbraucher sich nicht selbstschützen können – dafür haben wir genügend aktuelleBeispiele –, sie zu unterstützen durch gezielte und um-fassende Information, Beratung und Bildung, Trans-parenz zu schaffen durch Vergleichbarkeit, Möglichkei-ten zu schaffen für eine effektive Rechtsdurchsetzung.Zusammengefasst: Dieser Verbraucherpolitik geht es
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Elvira Drobinski-Weiß
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darum, Interessen, Bedürfnisse und Vorbehalte zu be-rücksichtigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben bestimmtVerständnis dafür, dass ich, wie meine Kollegin UteVogt, noch ein Wort zur Agrogentechnik verliere. UteVogt hat bereits darauf hingewiesen, dass wir dieseTechnologie nicht brauchen.
Herr Bundeslandwirtschaftsminister, Ihr Haus hat erstim Dezember eine Studie veröffentlicht, die Ihr Haus inAuftrag gegeben hatte. Diese Studie zeigte, dass 83 Pro-zent der Menschen diese Technik ablehnen. Deshalb istes für uns klar, dass die Zulassung der gentechnisch ver-änderten Maislinie 1507 in Brüssel abgelehnt werdenmuss.
Mit dem Koalitionsvertrag haben wir ein gutes, aberauch ein ehrgeiziges Programm, bei dem wir die Bun-desregierung nach Kräften unterstützen wollen, zumal,wie wir wissen, gerade die Verbraucherpolitik sichdadurch auszeichnet, dass das Leben täglich neue Tages-ordnungspunkte auf die Agenda setzen kann. Ich sage„das Leben“ und erinnere an Schufa, an ADAC oder aneinen neuen Lebensmittelskandal. Wie wir wissen,kommt der nächste bestimmt.
Die im Koalitionsvertrag skizzierten Vorgaben erge-ben eine anspruchsvolle Agenda, aus der ich wegen derKürze der Zeit nur wenige Punkte herausgreifen kann.So gilt es insbesondere, im Lebensmittelbereich verlo-rengegangenes Vertrauen vom Verbraucher zurückzuge-winnen. Ich sehe das nicht so optimistisch, wie es einigeVorrednerinnen und Vorredner formuliert haben. DennAnlässe zum Misstrauen gab es beispielsweise durch diegroßen Lebensmittelskandale wie Gammelfleisch oderDioxin im Ei. Allzu oft fühlen sich Verbraucherinnenund Verbraucher von Verpackungsaufmachungen odervon Bezeichnungen hinters Licht geführt. Das Internet-portal lebensmittelklarheit.de zeigt Fälle, in denen dieErwartungen von Verbrauchern an Produkte nicht erfülltwurden.Wir finden auch, dass die Verbraucher endlich eineechte Wahlfreiheit haben müssen, zum Beispiel durcheine EU-weit verpflichtende Kennzeichnung für Pro-dukte von Tieren, die mit gentechnisch verändertenPflanzen gefüttert worden sind.
Die Lebensmittelüberwachung soll besser vernetztund ihre Standards sollen vereinheitlicht werden. Außer-dem soll eine sachgerechte Kontrolldichte für mehrSicherheit sorgen. Im Verbraucherinformationsgesetz– dessen Umsetzung liegt ja in Ihrem Haus, Herr Minis-ter Friedrich – und im Lebensmittel- und Futtermittelge-setzbuch sollen Änderungen endlich eine rechtssichereVeröffentlichung von Verstößen ermöglichen. Ich finde,Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht da-rauf, zu erfahren, in welchen Betrieben geschmuddeltwird und welche Betriebe vorbildlich sind.
Unser Ziel – ich denke, unser aller Ziel – ist ein ver-braucherfreundlicher, transparenter Markt, auf dem si-chere und gute Produkte unter fairen und nachhaltigenBedingungen hergestellt und angeboten werden. Dafürwerden wir uns einsetzen.Vielen Dank.
Vielen Dank, liebe Kollegin. – Ich danke auch dafür,
dass Sie Ihre Redezeit absolut eingehalten haben. Das
war schon mal eine kleine Mahnung für alle nachfolgen-
den Redner.
Das Wort hat der Abgeordnete Harald Ebner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Etwas hat in der Rede des Herrn Ministers ge-fehlt. Es wurde dann von der gefühlten ScheinoppositionSPD doch noch nachgeholt. Was die Menschen in die-sem Land im Bereich Ernährung und Landwirtschaftdieser Tage nämlich umtreibt, ist jenseits von GAP undMilchquote die Frage der Gentechnik auf dem Acker.In der nächsten Sitzungswoche entscheiden die Re-gierungen der EU-Mitgliedstaaten, also auch Sie, HerrMinister Friedrich, ob die gentechnisch veränderte Mais-linie 1507 für den Anbau in der EU zugelassen wird. Sieentscheiden damit auch, ob Deutschlands Äcker weiter-hin frei von Gentechnik bleiben. Das ist die Frage.Nach jüngsten Umfragen wollen 88 Prozent der Men-schen in Deutschland keine Gentechnik auf Acker undTeller – und das aus gutem Grund. Diese Maisliniebringt – wie alle anderen Gentechnikpflanzen – keinenMehrertrag, keine qualitativen Vorteile, und vor allemproduziert sie ein Insektengift, das unter anderem selteneSchmetterlingsarten bedroht.Die Zulassung einer solchen Maislinie schadet auchdem Produktionsstandort Deutschland. Landwirte, Er-nährungswirtschaft und Handel haben sich in den letztenJahren auf eine gentechnikfreie Erzeugung ausgerichtet.Allein die 190 Mitgliedsunternehmen des Verbandes Le-bensmittel ohne Gentechnik – das ist die grüne Raute derVorgängerin Aigner – erzielen einen Jahresumsatz von68 Milliarden Euro. Die deutsche Lebensmittelwirt-schaft müsste sich nach so einer Zulassung mit einemRiesenaufwand und unter hohen Kosten vor der Verun-
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Harald Ebner
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reinigung ihrer Felder und Produkte schützen. Es stehtalso nicht weniger auf dem Spiel als der hart errungeneStatus eines gentechnikfreien Landes, meine Damen undHerren.
Zur Gentechnik gab es von den Koalitionären CSUund SPD vorher knackige Worte: „Freisetzungen vongentechnisch veränderten Pflanzen werden in Bayernnicht gestattet“, so die CSU 2013, oder: „Wir lehnen dieZulassung der gentechnisch veränderten Maissorte ab“,so Bundeswirtschaftsminister, Vizekanzler und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel letzte Woche.
Da hatte ich noch den Hoffnungsschimmer, dass sichnach dem Ausscheiden der Pro-Gentech-Fraktion FDPin diesem Haus etwas bewegt. Aber: Fehlanzeige! DieHalbwertszeit dieser Aussagen ist kurz.
Vor gerade vier Stunden hat die Große Koalition hier imHohen Hause, Herr Kollege, unseren Antrag gegen dieZulassung der Maislinie 1507 mit 452 Stimmen abge-lehnt, auch mit der Stimme der Kollegin Vogt und mitden Stimmen der anderen Kolleginnen und Kollegen derSPD. Da finde ich es schon seltsam, wenn man jetzt hiergroße Töne anschlägt.
Wenn im Koalitionsvertrag steht: „Wir erkennen dieVorbehalte des Großteils der Bevölkerung gegenüber dergrünen Gentechnik an“, dann frage ich mich schon, wasdas für eine Anerkennung ist. Auf so eine Anerkennungkann ich eigentlich verzichten.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme gleich zum Schluss. – „Im Zweifel han-
deln wir für den Menschen“, hat Kanzlerin Merkel ges-
tern hier verkündet.
Die Menschen wollen diese Gentechnik nicht. Dann er-
warte ich auch, dass sich der Herr Friedrich und dass
sich die Bundeskanzlerin dafür einsetzen, dass die Gen-
technik nicht auf unsere Äcker kommt. Deshalb hier
noch mein Appell: Stimmen Sie in der nächsten Sit-
zungswoche in Brüssel gegen die Zulassung dieser
Maissorte! Ich erwarte von der CSU und ich erwarte
auch von den Kolleginnen und Kollegen der SPD, –
Und ich erwarte, dass Sie jetzt zum Ende kommen.
– dass sie sich effektvoll, wirksam und vor allem er-
folgreich dafür einsetzen.
Danke schön.
Danke, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist Alois
Gerig für die CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Die Landwirt-schaft hat durchaus noch Bedeutung in Deutschland.670 000 Erwerbstätige sind in dem Bereich der Land-,Forst- und Fischereiwirtschaft tätig. Das sind zwar ge-rade einmal 1,6 Prozent aller Erwerbstätigen, aber – da-rauf kommt es an – jeder neunte Arbeitsplatz in Deutsch-land hängt mittelbar oder unmittelbar mit dieser Branchezusammen. Somit ist die Landwirtschaft ein wichtigerWirtschaftsriese. Ich bin daher sehr froh, dass für dieLandwirtschaft weiterhin ein eigenständiges Ministe-rium zuständig ist. Dies ist ein wichtiges Signal an dieLandwirtschaft und an die ländlichen Räume. Die Auf-gaben, die sich dort ergeben – das haben wir schon ge-hört –, sind in der Tat sehr vielfältig.
Ich bin nicht blauäugig; der Strukturwandel wird wei-tergehen. Dafür gibt es einen Grund: Unsere Höfeschließen nicht wegen Wohlstands. Das Vergleichsein-kommen in der Landwirtschaft liegt rund 50 Prozent un-ter dem des Gewerbes. Das heißt, wir brauchen einePolitik, die die bäuerlichen Strukturen in unserem Landfördert. Das ist ganz wichtig. Die Landwirte müssen gutewirtschaftliche Rahmenbedingungen vorfinden und einegewisse Wertschätzung erfahren. Ich danke unserenBäuerinnen und Bauern für das, was sie leisten. Wirmüssen ihre Arbeit anerkennen. Sie sind sieben Tage inder Woche für ihren Hof und für ihre Tiere da, damit wirgesunde und die am besten geprüften Nahrungsmittel ha-ben. Wenn wir es schaffen, dass die Lust und die Freudean der bäuerlichen Arbeit auf den Höfen erhalten bleibt,dann haben wir eine Chance, dass die Höfe auch überden Generationswechsel in der Landwirtschaft hinwegbestehen bleiben.
Der Verbraucher hat es in der Hand. Wir brauchen ei-nen entsprechenden Dialog. Mit jedem Griff ins Regalentscheidet der Verbraucher, wer wo was produziert. Mitjedem Griff ins Regal entscheidet der Verbraucher, wieunsere Heimat aussieht und wie die Kulturlandschaft inDeutschland beschaffen ist. Deswegen bin ich Ihnen, lie-
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ber Herr Minister, sehr dankbar, dass Sie den ländlichenRaum in den Mittelpunkt Ihrer Politik stellen. Das istwichtig.Wir, die wir aus den ländlichen Räumen kommen,wissen um die Probleme. Es gibt den demografischenWandel und eine gewisse Abwanderungstendenz. Wirbrauchen daher eine Politik speziell für die ländlichenRäume. Wir müssen den Politikern auf allen Ebenenklarmachen, wie wichtig es ist, für diesen Bereich einebesondere Politik zu machen.Die Stückkosten für die Einwohner in den dünner be-siedelten Räumen liegen nun einmal höher als für dieMenschen, die in Ballungszentren leben. Das müssenwir berücksichtigen. Es geht um die Infrastruktur:Straße, Schiene und schnelles Internet. Es geht aber auchum medizinische Nahversorgung und Lebensmittelnah-versorgung sowie um die Versorgung mit Schulen. Da-für, dass es da zu Verbesserungen kommt, wollen wir ge-meinsam kämpfen. Wir wollen uns dafür einsetzen, dassdie ländlichen Räume eine Zukunft haben. Davon profi-tieren alle Bürger in Deutschland.
Es geht um Mittelstand und um Handwerk; das wurdebereits gesagt. Es geht auch um den Tourismus. Da seheich noch sehr viel Potenzial für die Zukunft.Es geht aber auch um die Energiewende. Die Energie-wende findet im ländlichen Raum statt. Dort gibt es dieRessourcen in Feld und Wald. Wir haben, wenn man sowill, die Standorte für die Windkraftanlagen und die Dä-cher für die Solaranlagen.
Wir brauchen eine Novelle des EEG. Sie ist wichtig,um die Akzeptanz der Bürger zu erhalten, lieber KollegeEbner. Aber wir brauchen auch auf jeden Fall eine Ener-giepolitik, die den Markt für die erneuerbaren Energiennicht zerschlägt. Dafür wollen wir uns einsetzen, auchwenn wir regulieren und den Zubau in manchen Berei-chen eingrenzen müssen. Es geht beispielsweise darum,dass die Biomasse, die stärkste Säule der Erneuerbaren,noch effizienter wird und dass wir damit Regelenergieproduzieren. Der daraus erzeugte Strom kann dann ein-gespeist werden, wenn aus den volatilen Energien, dieaus Wind und Sonne gewonnen werden, kein Strom er-zeugt werden kann. Darauf müssen wir hinarbeiten. Da-für wollen wir uns einsetzen.Ich will noch kurz auf den Genmais eingehen, lieberKollege Ebner. Wir haben heute den Antrag der Grünenabgelehnt. Dafür gibt es gute Gründe.
Im Antrag waren fachliche Fehler enthalten. Es gingaber keinesfalls um die Frage, ob wir in Deutschlandgentechnisch veränderte Pflanzen wollen oder nicht. Wirwaren es, die die Hürden mit schuldunabhängiger Haf-tung und bestimmten Abstandsflächen sehr hoch gelegthaben.
Wir haben doch dafür gesorgt, dass es in Deutschlandkeinen kommerziellen Anbau gibt.
Ich sehe im Moment überhaupt keine Gefahr, dass einkommerzieller Anbau von gentechnisch verändertenPflanzen kommen wird. Ich sage auch: Ich sehe im Mo-ment auch keine Notwendigkeit.
Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage oder -be-
merkung des Kollegen Ebner zulassen?
Ja, gerne.
Dann bitte schön.
Danke schön, Alois Gerig. – Wenn angesprochen
wird, dass da fachliche Mängel in unserem Antrag wä-
ren: Der Antrag hat nur einen Satz: Der Bundestag möge
beschließen, die Bundesregierung aufzufordern, den Zu-
lassungsantrag der Kommission in Brüssel abzulehnen.
In dieser Kürze kann ich mir keinen fachlichen Fehler
vorstellen. Hier bin ich für eine Erläuterung dankbar.
Mich würde auch interessieren: Wenn gesagt wird, es
gebe doch gar keinen Anbau, auch wenn er zugelassen
ist, weil wir so tolle Regeln haben. Obwohl wir diese
Regeln haben, hatten wir mit MON 810 3 000 Hektar
Anbau in Deutschland. Das ist wenig, aber es ist nicht
nichts. Und es laufen heute noch Gerichtsprozesse dazu.
Und da frage ich schon: Wie kommt man zu einer
solchen Aussage, wenn man genau weiß, was damals
lief?
Danke schön.
In dem Antrag, der mir vorliegt, lieber Kollege Ebner,ist sehr ausführlich erläutert, dass es um ein Pflanzen-schutzmittel geht, dass es darum geht, dass die Mehrheitder deutschen Bürger das nicht will und man deswegendiesen Antrag eingebracht hat. Vielleicht gibt es einenneueren Antrag, den ich nicht gesehen habe. Aber dasPapier, das ich gesehen habe, liefert Gründe genug, umes abzulehnen.
Wir müssen natürlich einen Dialog führen – ohneZweifel. Aber wir müssen differenzieren. Wir dürfennicht nur polarisieren, nicht mit ideologischen Scheu-klappen nur dem Mainstream folgen.
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Alois Gerig
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Das ist zu einfach. Wenn der Kollege Ostendorff einer-seits sagt, man müsse Transparenz herstellen und einenDialog führen, und andererseits in seiner Rede nur aufdie Landwirtschaft einschlägt, dann ist das auch nichtfair.
So müssen wir auch mit dem Thema GVO umgehen.Wir müssen differenzieren. Wir brauchen dies nicht inDeutschland. Es gibt überhaupt keinen Grund für irgend-eine Sorge, aber die Welt wird sich weiterdrehen. DieBevölkerung wird weiter zunehmen. Länder, in denender Hunger groß ist, werden vielleicht noch sehr frohsein; gentechnisch veränderte Pflanzen können dortunter Umständen eine Chance sein. Ich möchte keineGentechnik in Deutschland. Aber ich bitte auch darum,dass wir dieses Thema nicht als Ersatz für „Atomkraft?Nein danke“ nutzen. Das wird diesem Thema nicht ge-recht.
Wir dürfen dieses Thema nicht nur emotional behandeln.Wir sind es unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig,dass wir bei diesem Thema etwas fairer miteinander um-gehen und in einen Dialog eintreten.
Alles in allem brauchen wir eine Ernährungs- undLandwirtschaftspolitik für die Verbraucher, die transpa-rent ist, die aber auch eine gewisse Wertschätzung anden Tag legt. Das brauchen wir in der Gesellschaft, dasbrauchen wir in der Politik. In unserem Fachbereichbrauchen wir eine Politik im Sinne der Ernährung, einePolitik im Sinne unserer schönen Kulturlandschaft, einePolitik, die die Energiewende schafft. Ich bin davonüberzeugt. Meine Damen und Herren, packen wir es an!Auch in der Großen Koalition werden wir gemeinsamgenau dies schaffen.Vielen herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. Ich darf Ihnen im Namen des
ganzen Hauses – wenn ich jetzt wüsste, ob Sie singen
können, würde ich Sie jetzt bitten, aufzustehen und zu
singen – alles, alles Gute – –
– Bitte alle!
Alles Gute zum Geburtstag! Unser Geschenk von hier
oben waren drei Minuten mehr Redezeit. Das ist ziem-
lich viel Redezeit für die Opposition. Alles Gute!
Feiern Sie schön, lassen Sie sich hochleben! Ab morgen
geht es dann wieder in den Clinch.
Jetzt verabschiede ich mich hier. Zum Freibier melde
ich mich auch an. Schönen Abend noch! Ich übergebe an
Herrn Singhammer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nächster Redner ist
der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Minister! Zunächst einmal macht es mir natür-lich besondere Freude, dir, Alois, auch von hier vorne zugratulieren. Ich verspreche, dass ich mich an meine Re-dezeit halte, damit du früh feiern kannst. Ich kommedann auch noch vorbei, so wie das unter Kollegen imAgrarausschuss an und für sich üblich ist.Aber nun zu den ernsten Inhalten. Meine lieben Kol-leginnen und Kollegen, ich darf etwas Persönliches zumAusdruck bringen: Gestalten macht Spaß, Regierenauch. In der neuen Konstellation der Bundesregierungwerden wir, die SPD, das, was wir in den Koalitionsver-handlungen formuliert haben, hier gemeinsam mit derUnion umsetzen. Ich glaube, der Koalitionsvertrag eröff-net eine gute Perspektive für Deutschland,
für unsere Landwirte und vor allen Dingen auch für denländlichen Raum.Die Umsetzung der EU-Agrarpolitik ist ein wesentli-cher Punkt, den wir jetzt angehen. Von der Agrarminis-terkonferenz in München ist ein Signal ausgegangen.Wir haben es aufgenommen. Jetzt gilt es, die Wettbe-werbsfähigkeit unserer landwirtschaftlichen Betriebeweiter zu fördern und zu entwickeln. Denn mittelfristigwollen wir alle auf die direkte Einkommensstützungdurch Prämien verzichten;
das muss zumindest Ziel einer geordneten Agrarpolitiksein. Es bleibt für die SPD ein Ziel für die Zukunft, auchüber das Jahr 2017 hinaus. Wir wollen die freiwerdendenMittel zielgerichtet in den ländlichen Raum investieren.Insofern freue ich mich ganz besonders über das Be-kenntnis des Herrn Ministers zum ländlichen Raum, daser anlässlich der Grünen Woche und auch heute ausge-sprochen hat. Denn für eine strukturierte Politik, die denländlichen Raum vorwärtsbringt, bedarf es einer besse-ren Koordinierung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 775
Dr. Wilhelm Priesmeier
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Wir haben in diesem Hause einen klaren Anspruch: Wirwollen gestalten und koordinieren. In diesem Sinne wer-den wir die Chancen der Großen Koalition nutzen unddie Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar-struktur und des Küstenschutzes“, eine Kernaufgabe, fürdie auch in unserem Haushalt Mittel bereitstehen, zu ei-ner Gemeinschaftsaufgabe für den ländlichen Raum wei-terentwickeln.
Das ist ein Signal, das von unserer gemeinsamen Politikin diesem Hause ausgehen wird. Wir werden aus demGrunde die Verfassung ändern und natürlich auch dieentsprechenden finanziellen Ressourcen für die Ausge-staltung einer nachhaltigen Politik für den ländlichenRaum zur Verfügung stellen. Ich weiß den Minister daan meiner Seite, weiß, dass er auch mit dem Finanz-minister streiten wird, damit sich die entsprechenden fi-nanziellen Ressourcen in unserem Haushalt wiederfin-den.
Darüber hinaus gibt es andere wichtige Themen, diefür uns Sozialdemokraten Signalwirkung haben. Wirkonnten hinsichtlich der Novellierung der Vorschriftenzur agrarsozialen Sicherung nicht erreichen, dass dieHofabgabeklausel gestrichen wird. Trotzdem haben wirder Vereinbarung zugestimmt.
Ich glaube, das Ergebnis unserer Verhandlungen in denKoalitionsgesprächen ist eindeutig und klar: Wir habenuns dafür ausgesprochen, die Hofabgabeklausel neu zugestalten.
Dafür gibt es eine entsprechende gutachterliche Grund-lage. Denjenigen, die bislang noch zweifeln, ob das dennso einfach geht, kann man nur empfehlen, den Weg mituns zu gehen.Ein Abschlag bei der Rente von 10 Prozent ist einegute Regelung.
Diejenigen Kollegen, die ihren Betrieb nicht aufgeben,werden weiterhin die höheren Beiträge zahlen müssen.Insofern werden im Wesentlichen die kleineren Betriebe,die nicht unbedingt immer auf Rosen gebettet sind, vondieser Regelung profitieren, wenn die Betriebsinhaber esdenn wollen.Bei der monatlichen Rente geht es um eine Größen-ordnung von heute etwa 472 Euro. Das ist als Altersrentenicht sehr viel.
Für kleinere Betriebe besteht durchaus die Alternative,in dem von ihnen noch gewünschten Umfang eventuellweiter zu wirtschaften. Diese Entscheidung sollten wirihnen überlassen.Ich finde, es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Wer einLeben lang in die landwirtschaftliche Alterskasse einge-zahlt hat, sollte ohne Einschränkung ein Recht auf Rentehaben wie in anderen Bereichen unserer Rentenversiche-rung auch.
Dafür werden wir nachhaltig streiten. Wenn ich die Zei-chen richtig verstanden habe, dann können wir in Zu-kunft bei der Umsetzung mit der Unterstützung unseresKoalitionspartners rechnen.
Die landwirtschaftliche Nutztierhaltung ist für dieWertschöpfung von zentraler Bedeutung. Wir brauchenhier nicht nur sichtbare, sondern auch qualitative Verbes-serungen im Bereich Tierwohl. Das ist heute schon ange-kündigt worden, auch vom Minister. Diesen Weg werdenwir zielgerichtet weitergehen.Nur wettbewerbsfähige Betriebe können höhere Tier-schutzstandards umsetzen. Das sollte uns allen bewusstsein.
Darum halte ich wenig von Debatten über entsprechendeGrößenordnungen, über Export, weitere Orientierungenund Selbstbeschränkungen. Ich bin der Meinung, wirsollten es den Betrieben selbst überlassen, wie sie dasgestalten wollen.
Unserer Einschätzung nach ist es auch wichtig, dasswir für den gesamten Bereich Tierschutz und Tierhal-tung gesellschaftliche Akzeptanz schaffen. Unser Vorha-ben, einen einheitlichen Rechtsrahmen für den BereichTiergesundheit und Tierarzneimittel zu schaffen, wird inganz entscheidender Weise dazu beitragen können; dennwer den Arzneimitteleinsatz, vor allem den Einsatz vonAntibiotika, reduzieren will, muss sich um die Verbesse-rung der Haltungsbedingungen kümmern. SchlechteHaltungsbedingungen sind die Ursachen von Krankhei-ten. Mit dem einheitlichen Gesetzesrahmen werden wiran Verbesserungen arbeiten können. Vor allen Dingenkönnen wir den Betrieben eine Richtung vorgeben, kön-nen ihnen Sicherheit für Investitionsentscheidungen ge-ben. Dazu trägt auch ein bundeseinheitliches Prüf- undZulassungsverfahren bei.Der landwirtschaftliche Sektor insgesamt hat inDeutschland eine hervorragende, nachhaltige Perspek-tive. Die Landwirtschaft ist und bleibt das Fundamentdes ländlichen Raums. Aber, wie der ehemalige EU-Kommissar Fischler schon gesagt hat: Man darf Politikfür den ländlichen Raum nicht mehr ausschließlich alsKlientelpolitik begreifen, sondern man muss den ländli-chen Raum als Ganzes sehen. Dazu sind wir bereit.
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776 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Dr. Wilhelm Priesmeier
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Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten. Ich bin si-cher, die Kollegen von der CDU/CSU werden uns dabeiunterstützen.Vielen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Thema ist der Kol-
lege Franz-Josef Holzenkamp, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich binder Meinung, dass wir für die nächsten vier Jahre ein gu-tes, ein ambitioniertes Programm für den ländlichenRaum vorgelegt haben. Lieber Kollege WilhelmPriesmeier, Unterstützung lebt immer von Gegenseitig-keit. So wollen wir es hier auch pflegen.Ich möchte mit einem Lob für unseren Bundesminis-ter beginnen, dem, wie ich finde, ein fulminanter Start indas agrarpolitische Jahr 2014 gelungen ist, traditionellbeginnend mit der Internationalen Grünen Woche. Er hatnicht nur den Terminmarathon beeindruckend gemeis-tert, er hat vor allen Dingen eines gemacht: Er hat dieMenschen begeistert. Das ist eine große Leistung.
Die Leistungen der Land- und Ernährungswirtschaft, derknapp 300 000 Bauernfamilien, der 5 Millionen Be-schäftigten im ländlichen Raum anzuerkennen, denMenschen Mut zu machen und Vertrauen in das Handelndieser Menschen zu haben, das ist klasse, das ist toll. Da-für herzlichen Dank, Herr Bundesminister.
Ich bin froh, dass wir uns eigentlich im ganzen Hauseinig sind, dass unsere Aufgabe über den Bereich derLandwirtschaft hinausgeht, dass wir uns als Anwalt desländlichen Raumes verstehen. Damit verbunden sindvielfältige Aufträge und Aufgaben, letztendlich bis zumThema Breitbandversorgung, damit die Attraktivität un-serer ländlichen Räume erhöht wird.Wenn wir durch Deutschland fahren, stellen wir im-mer wieder fest, dass es nur dort, wo es eine moderneLandwirtschaft gibt, auch lebendige Dörfer gibt. Des-halb werden wir in dieser Legislaturperiode die Land-wirtschaft als tragende Säule weiter stärken, und zwar inVerantwortung für unsere Folgegenerationen. Wir sinduns sehr wohl bewusst – Bundesminister Friedrich hatdas mehrfach angesprochen –, dass uns dabei ein Spagatgelingen muss; denn wir müssen auch unserer Schöp-fung, unserer ethischen Verantwortung gerecht werden.
– Tun Sie mal nicht so spöttisch. Jeder Bauer weiß das.Jeder hat das in die Wiege gelegt bekommen. Von Ihnenkenne ich das aber nicht anders. Sie können es einfachnicht. Sie kennen kein Benehmen; es tut mir leid.
Wir müssen den Spagat schaffen, wir müssen auf dereinen Seite der Schöpfung gerecht werden und auf deranderen Seite wettbewerbsfähig sein.
Die Menschen, die sich damit auskennen, wissen das.Schauen wir uns die Länder auf unserer Weltkugel an:Überall dort, wo Wettbewerbsfähigkeit herrscht, wird imSinne der Nachhaltigkeit gehandelt, und nirgendwo an-ders. Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit sindganz eng miteinander vernetzt und können nicht gegen-seitig ausgeschlossen werden.
Da Sie von den Grünen über den Strukturwandel ge-sprochen haben, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Inder Zeit von Rot-Grün sind 76 000 Höfe gestorben.Wenn Sie über Strukturwandel reden, dann sollten Sieauch das sagen. Ansonsten ist das einfach unehrlich.
Wir haben uns ein Leitbild gegeben. Über Wettbe-werbsfähigkeit und Nachhaltigkeit haben wir bereits ge-sprochen. Wir wollen, dass die Landwirtschaft in denHänden von Bauernfamilien und in keinen anderen Hän-den liegt.
Wir wollen keine kapitalgesteuerten Fremdinvestoren.Ich glaube, das gilt für das ganze Haus.
Das ist im Rahmen unseres Grundgesetzes nicht ganzeinfach zu verwirklichen – das will ich zugestehen –,aber das ist unser Ziel. Deshalb sollten wir mit der Stig-matisierung von Bauern aufhören. Das haben sie einfachnicht verdient.
Wir haben ein ambitioniertes Konzept aufgelegt.Meine Überschrift lautet: Lösungen statt Verbote. Ver-bieten kann jeder; das ist einfach. Wir wollen Lösungenbieten für unsere Landwirte, die sie umsetzen können.Deshalb stärken wir die Agrarforschung. Deshalb setzenwir die GAP so um, wie wir uns das vorgenommen ha-ben, auf Basis des Beschlusses der Agrarministerkonfe-
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Franz-Josef Holzenkamp
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renz. Wir machen das mit dem Greening vernünftig. Ver-nünftig heißt praxisgerecht. Wir fördern dieVermarktung, und zwar regional und global. „Made inGermany“ ist überall gefragt; Minister Friedrich hat esgesagt. Regional und global! Wir wären doch mit demKlammerbeutel gepudert, wenn wir diese Märkte nichtnutzen würden. Deutsche wollen ausländische Lebens-mittel essen, und Ausländer wollen unsere Lebensmittel– „Made in Germany“ – essen. Diese Märkte werden wirbefriedigen. Das ist Wertschöpfung und Arbeitsplatzsi-cherung im ländlichen Raum. Das ist vernünftig. Daswerden wir so machen.
Zur Tierwohloffensive ist einiges gesagt worden. Da-mit ist es uns sehr ernst. Wir wollen unvoreingenommenin einen offenen gesellschaftlichen Dialog eintreten, bishin zu einer wissenschaftlichen Diskussion über dieFrage, bis zu welcher Größenordnung eine artgerechteTierhaltung möglich ist.
Ich lade Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, ganz herzlich dazu ein, bitte aber um Ernsthaftig-keit. Sonst macht das keinen Sinn.
Wir wollen den Flächenverbrauch reduzieren. Wirwissen, dass Grund und Boden Grundlage jeder Erzeu-gung sind. Die Bodenpreise steigen. Das ist ein Indikatorfür Knappheit, für zunehmende Spekulationen. Wir wol-len dem entgegenwirken; darauf habe ich hingewiesen.Landwirtschaftliche Flächen gehören in Bauernhand.
Auch um unsere Umwelt kümmern wir uns. Wir wol-len die Risiken für Mensch, Tier und Umwelt natürlichweiter minimieren. Beispielhaft zu nennen ist die Dün-geverordnung, die sich in der Novellierung befindet.Aber wir wollen nicht diese Schaukämpfe zum Thema„Intensiv oder extensiv“ führen, die Sie hier immer wie-der anbringen. Es wird langweilig. Haben Sie eigentlichnichts Neues im Kopf? Was ist das für ein Blödsinn, fürein Quatsch? Die Lösung heißt Effizienz. Es ist ganzeinfach. Sie gilt für alle, für große und kleine, für ökolo-gisch wirtschaftende Betriebe und für konventionellwirtschaftende Betriebe. Lassen wir das also mit demgegenseitigen Ausspielen der verschiedenen Arten unse-rer Landwirtschaft. Wir sollten vielmehr unsere gesamteLandwirtschaft in Deutschland unterstützen. Sie hat esverdient.
Ich denke, wir haben eine sehr gute Basis für dieLand- und Ernährungswirtschaft in Deutschland – Stich-wort: der ländliche Raum als tragende Säule – erarbeitet.Wir haben den Bereich gesundheitlicher Verbraucher-schutz im Ministerium gehalten. Das ist vernünftig; allesandere wäre unsinnig. Es wäre unsinnig, die Lebensmit-telkette hinsichtlich der fachlichen Zuständigkeit zusprengen. Das haben wir gut gemacht. Minister Friedrichhat da mächtig mitgeholfen. Herzlichen Dank! Ich freuemich auf diese vier Jahre. Ich lade alle ein, mitzuma-chen, aber bitte persönlich respektvoll und gern hart inder Sache.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Holzenkamp. – WeitereWortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nichtvor.Ich rufe nun den Themenbereich Innen auf.Das Wort hat zu Beginn der Bundesminister des In-nern, Herr Thomas de Maizière.
Ich bitte die Kollegen, die jetzt den Platz verlassenund anderen Platz machen, dies in einer gewissen Zügig-keit durchzuführen, damit der Minister, wenn alle Platzgenommen haben, unverzüglich mit seiner Rede begin-nen kann.
– Ist notiert. – Ich denke, Herr Minister, Sie können jetztbeginnen.Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundes-ministerium des Innern ist nach meiner Auffassung dasBürgerministerium für Deutschland, das Ministerium fürden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Was bedeutetdas? Wir wollen erstens, dass unsere Bürgerinnen undBürger ihr Leben in Freiheit führen, dass sie sich enga-gieren, aktiv und tolerant dazu beitragen, dass wir alsGesellschaft zusammenhalten. Wir wollen zweitens,dass unsere Bürgerinnen und Bürger möglichst in Si-cherheit leben und auf einen leistungsfähigen Staat undeine gute Verwaltung vertrauen können. Für diese Zielearbeite ich als Bundesminister des Innern und für die in-neren Angelegenheiten unseres Gemeinwesens.
Freiheit und Sicherheit – das klingt auf den erstenBlick nach Gegensatz, nach Spannung, nach widerstrei-tender Forderung. Aber in Wahrheit ist es nicht so. Siebedingen einander geradezu. Freiheit und Sicherheit sindzwei Seiten ein und derselben Medaille. Innenpolitik istgeprägt von Ermöglichen und Einschränken, von Selbst-bestimmung und Ordnung, von Unabhängigkeit undVerpflichtung, von Freiheit und Verantwortung. Ziel istes in unserer Demokratie stets, die Ausübung von Frei-
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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heit zu stärken. Dafür braucht es Rahmenbedingungen.Das gilt nicht nur für Märkte, insbesondere Finanz-märkte, wie wir schmerzlich gelernt haben, sondern ge-nauso für das Zusammenleben von Menschen insgesamt.Lassen Sie mich das an drei Beispielen deutlich ma-chen.Erstens. Zunächst zum Kernanliegen eines jeden de-mokratischen Staates, dem Schutz der Bürgerinnen undBürger. Um diesen Schutz zu gewährleisten, braucht esInstrumente und Menschen, Gesetze und Beamte. Wodiese Instrumente ansetzen und wie sie wirken, hängtvon dem zu schützenden Gut oder anders formuliert da-von ab, welchen Gefahren wir ausgesetzt sind.Leider müssen wir davon ausgehen, dass der interna-tionale Terrorismus immer noch eine große Gefahr fürunsere öffentliche Sicherheit in Deutschland darstellt.Schließen wir bitte nicht daraus, dass es bei uns wenigerAnschläge als in anderen Staaten gibt, dass die Gefahrbei uns geringer sei; eine Gefahr, der wir entschlossengegenübertreten müssen, allerdings in dem Wissen, dasses einen perfekten Schutz vor terroristischen Anschlägennicht gibt.Der Kampf gegen den internationalen Terrorismusdarf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in Deutsch-land in erheblichem Umfang international agierende or-ganisierte Kriminalität haben. Die Täter agieren in denBereichen Einbruchs- und Kfz-Diebstahl, bei internatio-nal vernetzten Finanzgeschäften, bei Menschenhandelund Rauschgift – auch im und mithilfe des Internets. Da-gegen müssen wir in Deutschland entschlossen und inEuropa gemeinsamer als bisher vorgehen. Das habe ichmir auch mit meinem französischen Kollegen vorge-nommen.
Unsere Demokratie, unsere Freiheit wird darüber hi-naus von Extremisten, rechts wie links, angegriffen. DieVergangenheit, gerade auch die letzte Legislaturperiode,hat es gezeigt: Wir dürfen politischen Extremismus niemehr unterschätzen.
Notwendige Instrumente, die wir zu all dem brau-chen, sind unter anderem bestimmte, präzise wirkendeund maßvoll geführte Dateien über Gefährder. Effektiveund rechtsstaatliche Möglichkeiten für die Ermittlungs-arbeit sind die Neuausrichtung unseres Verfassungs-schutzes und die sogenannte Vorratsdatenspeicherung,präziser: die Regelung von Mindestspeicherfristen fürVerbindungsdaten bei den Unternehmen, die ohnehinüber diese Daten verfügen. Wir brauchen dieses Instru-ment, um schwerste Straftaten aufklären zu können.
Instrumente sind aber nur das eine. Es geht immerauch um den Menschen. Ich sehe mit Sorge, dass dieharte, rohe Gewalt in unserem Alltag zunimmt. Ichmeine Gewalt gegen Polizisten, aber sogar auch gegenRettungskräfte. Ich meine Gewalt rund um das ThemaFußball. Ich meine rohe Gewalt unter Jugendlichen, diedann gelegentlich auch noch ins Netz gestellt wird. Alldas ist natürlich strafbar und muss bestraft werden. Aberes geht genauso um Prävention und Zusammenhalt. Wirbrauchen eine Ächtung von Gewalt auf unseren Straßen.Es gibt keinen Grund, es gibt keinen gesellschaftlichenMissstand, der es rechtfertigt, in unserem Land Gewaltauszuüben.
Ich denke dabei zum Beispiel an die jüngsten Aus-schreitungen in Hamburg. Mit Blick auf zukünftige Ein-satzlagen, zum Beispiel den G-8-Gipfel im nächstenJahr, kann ich nur dringend dazu auffordern: Wir brau-chen Solidarität mit Polizisten. Wir brauchen Solidaritätmit Polizisten, wenn sie angegriffen werden, wenn siebei Demonstrationen den Rechtsstaat vertreten. Wirbrauchen genauso auch Solidarität mit allen Opfern vonAngriffen: Jugendlichen, Asylbewerbern – wo und wieauch immer. Gewalttäter dürfen in unserem Land vonniemandem gesellschaftliche Solidarität erfahren.
Das kann der Staat nicht allein leisten. Wir brauchensolidarische Bürgerinnen und Bürger. Natürlich habenwir Initiativen wie das Bundesprogramm „Zusammen-halt durch Teilhabe“, die zu Mitwirkung und Solidaritätanregen. Aber es bedarf vieler Netzwerke der Hilfe, derZivilcourage und der gesellschaftlichen Übereinstim-mung. Bürgerschaftliches Engagement ist wie Hefe füreine freiheitliche Gesellschaft. Wir sind auf Menschenangewiesen, die für andere Verantwortung übernehmen,die einen Beitrag für die Gemeinschaft erbringen. Daswird in Zeiten des demografischen Wandels sicher nichteinfacher; denn die Bewältigung demografischer Pro-bleme trifft nicht allein die Sozialkassen.Nachhaltige Demografiepolitik bedeutet auch, sichdarüber Gedanken zu machen, wie wir unser Zusam-menleben künftig organisieren wollen, in den Städtengenauso wie in den ländlichen Regionen, von der Schul-versorgung über Krankenhäuser und Pflegestrukturenbis zu einer erreichbaren Verwaltung. Alt und Jung sindmehr denn je aufeinander angewiesen. Das Bundes-ministerium des Innern führt die Anliegen der Ressortsder Bundesregierung in einer Demografiestrategie zu-sammen.Der gesellschaftliche Zusammenhalt braucht aucheine leistungsfähige Verwaltung; nur sie kann das Funk-tionieren unserer arbeitsteiligen Gesellschaft gewährleis-ten. Wir brauchen eine Verwaltung mit tüchtigen Mitar-beitern, die zügig entscheiden, klug abwägen und immerdaran denken, dass es bei der Gesetzesanwendung umMenschen geht. Ich stelle mich als Minister für den öf-fentlichen Dienst vor unsere Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 779
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Im Hinblick auf die Lohnrunde, vor der wir stehen, rufeich die Gewerkschaften auf: Halten Sie Maß! KeinBaum wächst in den Himmel.Der zweite Bereich, den ich heute ansprechen will, istdas Thema „Sicherheit im Netz“. Bürger, Gesellschaft,Wirtschaft und Staat sind immer stärker auf digitale In-formationswege angewiesen. Gleichzeitig steigt die Zahlder Angriffe auf das Netz, nimmt die Kriminalität imNetz zu, wie wir es unlängst mit den Hackerangriffenauf Millionen von E-Mail-Konten deutscher Nutzer er-lebt haben. Bei diesen Angriffen geht es aber auch umSpionage gegenüber Staat und Wirtschaft und um dieBedrohung kritischer Infrastrukturen aus dem Cyber-raum.Wenn wir diesen Gefahren begegnen wollen, dannbrauchen wir Freiheit im Netz und Sicherheit im Netz.Wir brauchen ausreichenden Raum für neue Geschäfts-modelle. Wir brauchen eine intelligente Nutzung derneuesten technischen Kommunikationsmöglichkeiten.Und wir brauchen selbstverständlich auch hier einenOrdnungsrahmen. Nur so kann überhaupt ein sicheresund verantwortungsvolles Navigieren im Netz erhaltenoder wiederhergestellt werden. Rechtsfreie Räume dür-fen wir auch im Netz nicht dulden.Wir reden zu Recht viel über die NSA und die USA;die Kanzlerin hat das gestern thematisiert, und wir wer-den es weiter tun. Aber das ist nur ein Ausschnitt einesganz großen Themas: Gleichgültig mit welcher Motiva-tion, mit welchen Methoden oder von wo aus auch im-mer das Netz angegriffen wird, es muss uns dabei stetsum eines gehen: um den Erhalt und den Schutz des Net-zes als geordneten Freiheitsraum und damit um denSchutz unserer Bürgerinnen und Bürger. Deswegen be-haupte ich: Der demokratische Staat und die Netzcom-munity sind nicht etwa Gegner, sondern in Wahrheit Ver-bündete bei diesem Anliegen.
Die Sicherung der Kommunikation und der Nutzungder Informationstechnik ist eine gemeinsame Aufgabevon Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Alle Betei-ligten in Verantwortung zu nehmen, wird ein Schwer-punkt meiner Arbeit sein. In Anbetracht der angespann-ten Bedrohungslage im Netz ist der Schutz kritischerInfrastrukturen für uns alle besonders wichtig. Ich werdeeinen neuen Entwurf für ein IT-Sicherheitsgesetz vorle-gen. Dieser wird mit klaren Verantwortungszuweisungenund Vorgaben natürlich auch reglementieren, ein be-stimmtes Verhalten vorschreiben. Aber es wird kein siche-res Netz geben, wenn durch die Sorglosigkeit Einzelnerelementare Güter unseres Zusammenlebens gefährdetwerden.Zum dritten Bereich, der Integration. Deutschlandbraucht qualifizierte Zuwanderer – das wissen längstalle, auch wenn es unterschiedlich laut ausgesprochenwird –; aber sie muss legal erfolgen und nicht weil un-sere Sozialleistungen ohne Arbeit höher sind als an-derswo. Auch das, meine Damen und Herren, sind zweiSeiten derselben Medaille. Stichtagunabhängiges Blei-berecht, Lockerung der Residenzpflicht für Asylbewer-ber, erleichterter Arbeitsmarktzugang, Aufhebung derOptionspflicht für in Deutschland geborene und aufge-wachsene junge Menschen: all diese Maßnahmen kön-nen bei der Bevölkerung nur dann auf Akzeptanz stoßen,wenn wir gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass gegen-über denjenigen, die den Rechtsfrieden in Deutschlandstören, das Recht auch klar durchgesetzt wird.
Die Beendigung des Aufenthalts von Ausländern, denenunter keinem Gesichtspunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht,muss tatsächlich zeitnah erfolgen. Ebenso die Verkürzungder Asylverfahren. Hier müssen erhebliche Vollzugsdefi-zite bei der Aufenthaltsbeendigung abgebaut werden undeine angemessene Modernisierung des Ausweisungs-und Abschiebungsrechts erfolgen. Für beide Bereichehaben wir in der Koalitionsvereinbarung Verabredungengetroffen, die gemeinsam umgesetzt werden. Wir brau-chen eine Willkommenskultur in Deutschland für alle,die hier wirklich willkommen sind.Zum Schluss ein paar Worte zum Sport: Deutschlandbraucht Spitzensport. Hier gilt ein unverfälschtes, klaresLeistungsprinzip. Hier entstehen Vorbilder, und Spitzen-sport fördert Patriotismus. Ich freue mich darüber.Allen Teilnehmern der Olympischen Winterspiele inSotschi möchte ich alles Gute und viel Erfolg wünschen.
Als Bundesinnenminister ist es für mich selbstver-ständlich, die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschizu besuchen. Wir wollen unseren Athletinnen und Athle-ten die Daumen drücken.
Danach reden wir dann mit den Sportverbänden und aufderen Vorschläge hin über Veränderungen bei den För-derstrukturen.Dem Parlament, Herr Präsident, biete ich bei alledemund auch bei den Punkten, die ich aus Zeitgründen nichtansprechen konnte, wie etwa den Katastrophenschutzund vielen andere Themen, eine gute und faire Zusam-menarbeit an. Streiten wir für die Freiheit, für denSchutz der Bürger, für die Sicherheit und für den Zusam-menhalt unserer Gesellschaft um den besten Weg.Vielen Dank.
Danke sehr, Herr Bundesminister. – Das Wort hat nunKollege Jan Korte, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Vorgehen, mit dem BundeskanzlerinMerkel hier gestern schlimmerweise begonnen hat,nämlich eine Regierungserklärung in Form einer Neu-jahrsansprache vorzutragen, setzt sich leider auch imInnenressort mit rekordverdächtigen Phrasen fort. Dasist sehr bedauerlich und der Sache, wie ich finde, nichtangemessen.
Seit sechs Monaten bewegt die Ausspähaffäre diesesLand und die Menschen. Diese Bundesregierung bewegtdas aber herzlich wenig, wie wir gerade auch feststellenkonnten.Die massenhafte Überwachung gefährdet die Funda-mente unserer Demokratie – ob offen oder verdeckt. Werüberwacht wird, ist nicht frei. Das ist keine freie Gesell-schaft, und dazu, was Sie konkret tun wollen, haben Sieim Kern nichts gesagt. Das ist der Sache nicht angemes-sen.
Was tut denn die Bundesregierung? Wo sind die Gip-fel im Kanzleramt, die ja insbesondere die Bundeskanz-lerin ansonsten jeden Monat durchgeführt hat? Nichtsfindet statt. Wo sind die Initiativen für eine Neuverhand-lung zum Beispiel des Fluggastdatenabkommens oder zuSWIFT auf europäischer Ebene? Fehlanzeige! Wo istdenn Ihre Initiative dafür, die Kooperation der deutschenGeheimdienste mit den US-amerikanischen endlich zu-mindest einmal offenzulegen, damit man sie korrigierenkann? Auch dazu kam heute nichts. Auch das ist derDimension dieser Affäre nicht angemessen.
Wie wollen Sie denn die Bevölkerung und auch die Un-ternehmen ganz konkret vor Spionage schützen? Auchdazu kam nichts.Die einzige Personalie, die der Bundesregierung indiesem Zusammenhang am Anfang wichtig gewesen ist,nämlich die Neubenennung des Bundesdatenschutz-beauftragten, war ein grandioser politischer Fehlgriff.
Sie haben Ihre Parteikollegin ernannt, die die Vorratsda-tenspeicherung gut findet und jetzt viele Wochen Zeithatte – Änderungen sind ja möglich –, endlich etwas zudiesen ganzen Vorgängen zu sagen. Fehlanzeige! Wirbräuchten dringend eine kompetente Datenschutzbeauf-tragte, die in diese Debatten eingreift. Das haben Sie mitdieser Personalentscheidung völlig versemmelt.
Aus aktuellem Anlass – auch dazu haben Sie leidergar nichts gesagt –: Wo bleibt eigentlich ein kleines Si-gnal der Dankbarkeit und des Respekts an EdwardSnowden, der das Ganze in Gang gesetzt und uns über-haupt erst in die Lage versetzt hat, über diese VorgängeBescheid zu wissen und diskutieren zu können? Hierkommt nichts. Stattdessen muss er sich auch noch vomPräsidenten des Bundesverfassungsschutzes in einezwielichtige Ecke stellen lassen. Zumindest das hättenSie heute hier einmal geraderücken können, lieber Kol-lege de Maizière.
Es ist an der Zeit, im Bereich der Innenpolitik und desDatenschutzes alles auf Anfang zu setzen und ein neuesZeitalter von Bürgerrechten und Demokratie einzuläu-ten. Das tut man am besten vor der eigenen Haustür.Deswegen mache ich Ihnen konkrete Vorschläge, wieman ohne bürokratischen Aufwand und Neujahrsanspra-chen einfach schnell handeln kann: Verzichten Sie nunendgültig auf die Vorratsdatenspeicherung, die nichts an-deres als die Totalprotokollierung des menschlichenKommunikationsverhaltens ist. Werden Sie in Europaaktiv, und warten Sie nicht erst auf die Entscheidung desEuGH. Beerdigen Sie endlich die Vorratsdatenspeiche-rung!
Ich will etwas in eigener Sache sagen. Es gibt inzwi-schen einen bemerkenswerten Briefwechsel zwischenmeinem Fraktionsvorsitzenden, Ihrem Ministerium undder Bundeskanzlerin. Ich glaube, dass es jetzt wirklichan der Zeit ist, die unsägliche und antidemokratischeBeobachtung meiner Abgeordnetenkollegen und meinerPartei durch den Verfassungsschutz ein für allemal end-lich zu beenden.
Die Zeit dafür ist gekommen: Beenden Sie das!Da Sie das Thema Integration zumindest kurz ange-sprochen haben, will auch ich dazu etwas sagen. Gesternhat der Kollege Oppermann sinngemäß gesagt, dass eshier in diesem Bundestag europakritische, europafeindli-che und populistische Kräfte geben würde. Komischer-weise meinte er damit meine Fraktion, meine Partei, abernicht die neuen Freunde von der CSU. Ihre unsäglicheKampagne gegen Menschen aus Rumänien und Bulga-rien ist europafeindlich, bedient die übelsten Ressenti-ments und zerstört das solidarische Zusammenleben indiesem Land. Sie sind das Problem, nicht meineFraktion!
In diesem Zusammenhang will ich Ihnen noch einmalsachlich in Erinnerung rufen, was Ihre Regierungauf eine Kleine Anfrage der Linken bzw. meiner Kolle-gin Jelpke geantwortet hat: Seit 2010 kamen rund400 000 Menschen aus den besagten Ländern Rumänienund Bulgarien nach Deutschland. Von diesen 400 000Menschen sind 38 000 auf soziale Hilfestellungen ange-wiesen. Von diesen 38 000 Menschen sind 30 ProzentAufstocker.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 781
Jan Korte
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Das heißt – man kann ja rechnen –, dass die Men-schen, die hierher gekommen sind, viel mehr in unseresozialen Sicherungssysteme einzahlen, als sie aus ihnenherausbekommen. Das müssen Sie doch einmal zurKenntnis nehmen und deswegen dieses Spiel mit demFeuer beenden. Dazu hätten Sie heute etwas sagen müs-sen, Herr Innenminister.
Selbst wenn die Zahlen anders wären – auch das willich sagen –, brauchen diese Menschen im Zweifel Hilfe.Bei den Christen nennt man das Nächstenliebe. Ichmöchte von internationaler Solidarität sprechen. Sie sinddie Brunnenvergifter, und die SPD koaliert mit diesenBrunnenvergiftern. Deswegen brauchen wir in dieserFrage keine Nachhilfe von Ihnen.
Es wird Sie vielleicht überraschen, aber ich möchteeine kleine Anmerkung zur FDP machen,
mit der mich politisch immer wenig verbunden hat. Al-lerdings spricht für die FDP ein Twitter-Eintrag der er-freulicherweise anwesenden Kollegin Steinbach von derCDU/CSU. In Ihrem Twitter-Eintrag konnte man lesen– Zitat –:Koalitionsvertrag: Gedenktag für die deutschenHeimatvertriebenen kommt! War mit der FDP nichtmöglich!Ende des Twitter-Eintrags. – Ich finde es sehr wichtig,dass wir hier bestimmte Formen von Gedenken und Auf-arbeitung finden. Aber mit dieser Entscheidung – dasgeht vor allem an die Adresse der SPD – wird dieser Ge-denktag symbolisch auf eine Stufe mit dem am 27. Ja-nuar gestellt, den wir in dieser Woche begangen haben,und die Geschichte aus ihrem Kontext gerissen. Dass dieSPD bei ihrer Geschichte so etwas mittragen kann, istfür mich unbegreiflich. Da hatte die FDP, die dies ver-hindert hat, mehr Rückgrat, um das hier klar zu sagen.
Zum Schluss. Ich glaube, dass die Große Koalition inder Innenpolitik für große Fehlentwicklungen steht. Esgibt noch viele andere Punkte, zu denen ich noch etwashätte sagen können. Leider hat die Opposition bedeutendzu wenig Redezeit, Sie haben bedeutend zu viel Rede-zeit.
Ich glaube, dass die Hoffnung auf eine fortschrittlicheund progressive Innenpolitik noch nie so begründet ge-ring gewesen ist, wie dies zu Beginn dieser Wahlperiodeder Fall ist. Wir würden uns, Herr Minister, über positiveÜberraschungen selbstverständlich freuen – wie auchimmer. Aber ich glaube, dass das nicht eintreten wird.Deswegen wird auch in dieser Frage von Freiheit undGerechtigkeit die Linke die Arbeit übernehmen müssen,da Sie es nicht wollen oder dazu nicht in der Lage sind.
Vielen Dank.
Es spricht jetzt für die Sozialdemokraten der Kollege
Michael Hartmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, werandere mit der Formulierung kritisiert, es würden nurNeujahrsansprachen gehalten, der muss selbst aber auchetwas anderes bringen als die alten Schallplatten, die wirschon ewig von der Linken hören.
– Tut mir leid, das hat angesichts dieser Eingangskritiknicht bestanden.Wie in allen übrigen Politikbereichen, so ist dieGroße Koalition auch im Bereich der Innenpolitik gefor-dert. Sie ist in der Pflicht, dieses Land zu regieren. Wirwerden uns dieser gemeinsamen Pflicht stellen. Dasstelle ich deshalb an den Anfang meiner Ausführungen,weil ich uns allen sagen will: Jetzt dürfen nicht mehr diejeweils eigenen puren Interessen dominieren, sondern je-der muss in der Lage und bereit sein, den gemeinsam ge-fundenen Kompromiss mitzutragen. Das gilt für dieSPD, die sich dem auch da stellt, wo es ihr im Detailvielleicht gar nicht so gut gefällt, und das muss auch fürdie CDU/CSU gelten. Deshalb bin ich froh, wenn, obWildbad Kreuth droht oder nicht, Sätze wie „Wer be-trügt, fliegt“ nur noch an die eigene Adresse gerichtetwerden statt an die Adresse der Regierung oder gar desKoalitionspartners.
Ich kann allerdings auch allen übrigen Neugierigenversichern: Jetzt wird Innenpolitik gemacht werden. Eswerden nicht mehr Blockade und wechselseitiges Sich-aufhalten dominieren, sondern jetzt wird das Entschei-den angesagt sein: in dieser Großen Koalition
und bei allen Themenblöcken, die anstehen. Das bedeu-tet im Übrigen, dass Handwerk an die Stelle von Ideolo-gie treten wird, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Michael Hartmann
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Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben im Bereichder klassischen Sicherheitsfragen drei große Themen,die ich heute Abend erwähnen möchte.
Erstens. Die Aufarbeitung des historisch großen Skan-dals um den NSU ist noch nicht beendet, sondern erst anihrem Anfang. Wir wollen, dass der begonnene Umbauunserer Sicherheitsbehörden weitergeht. Das bedeutetfür uns: Natürlich muss einiges anders werden, lieberKollege Binninger, liebe Kollegin Eva Högl. Beide sindintensiv mit den Fragen befasst. Wir müssen bei der Füh-rung der V-Leute besser werden und anders vorgehen.Wir müssen die Zusammenarbeit zwischen den Si-cherheitsbehörden ganz anders und neu definieren. Dasist nicht nur an die Adresse der Behörden des Bundesgerichtet.Wir müssen unbedingt kultursensibler werden, wennermittelt wird. Last, not least müssen wir auch auf dieZivilgesellschaft, die in den Fragen der Bekämpfung desRechtsextremismus ein Gewinn sein kann, ganz anderszugehen. Das bedeutet auch, dass man beim Verfas-sungsschutz und anderswo nicht mehr beliebig irgend-welche Dokumente auswertet, sondern die Gewaltbereit-schaft bestimmter Gruppen der Rechten in den Fokusnimmt und da hart und entschlossen agiert.
Zweitens. Sicherheitsgesetze sind kein Selbstzweck.Sie müssen maßvoll und mit geeigneten Methoden um-gesetzt und eingesetzt werden. Dies vorausgeschickt,füge ich hinzu: Das bedeutet, dass jedes Sicherheitsge-setz, das in die Persönlichkeitsrechte der Menschen ein-greift, permanent einer Quasi-Evaluierung und Befris-tung unterliegen muss. Da darf nichts in Stein gemeißeltund auf Dauer sein, schon gar nicht in Zeiten der NSA.Das bedeutet zugleich aber auch, dass nun endlicheinmal der ewige Glaubenskrieg um die Mindestspei-cherfristen beendet werden muss. Sie ist weder das In-strument der Totalausspähung, das unsere Bürgerrechtevöllig negiert und in der Auswirkung quasi der Höllegleich ist, noch das Allheilmittel polizeilicher Arbeit.
Eine Polizei wäre arm dran, wenn sie ohne die Vorrats-datenspeicherung nicht mehr ermitteln könnte. Ziel undMaß sind bei diesem Thema dringend geboten, und zwarauf beiden Seiten, denen ich dabei Abrüstung empfehle.
Wir werden deshalb sehr genau nach Europa schauen,wo ein wegweisendes Urteil bevorsteht, und dann auchvorlegen, und zwar werden sich der Justizminister undder Innenminister – im Unterschied zur Vergangenheit,da bin ich mir sehr sicher – gemeinsam zusammenrau-fen. Es kann nur vorgelegt werden, was grundrechtscho-nend ist, einem Richtervorbehalt unterliegt und zeitlichsehr begrenzt wirkt. Das bedeutet, dass eine Überprüf-barkeit ermöglicht werden muss und dass die Daten un-serer Bürger vor dem unberechtigten Zugriff durchDritte geschützt sein müssen. Das sind die Parameter, in-nerhalb derer wir weiter diskutieren und die wir bei dem,was uns auf europäischer Ebene vorgegeben wird undKarlsruhe bereits vorgegeben hat, beachten werden.Herr Minister, ich bin Ihnen zum Dritten sehr dank-bar, dass Sie das Thema organisierte Kriminalität stärkerin den Mittelpunkt rücken. Natürlich haben wir denNSA-Skandal weiter aufzuarbeiten. Natürlich haben wirKonsequenzen aus dem NSU-Skandal zu ziehen. Natür-lich ist die Terrorbedrohung andauernd und muss eben-falls bekämpft werden. Auch die Gewalt- und Alltags-kriminalität bleiben große Themen. Aber wir sollten esnicht länger zulassen, dass die organisierte Kriminalitätin Deutschland fröhliche Urstände feiert. Damit meineich das Rockerunwesen und – die entsprechenden Datenmüssen uns bedrücken – die klassische Mafia wie’Ndrangheta und Camorra. Ich meine damit aber auchdas, was uns aus Osteuropa droht: Drogenschmuggelund Drogenkriminalität, Menschenhandel und Zwangs-prostitution, Glücksspiel und Ausbeutung von Men-schen, Schutzgelderpressung und Ähnliches mehr. DerStaat würde versagen, würde er in diesen Bereichen wei-terhin die Augen verschließen und nicht konsequent vor-gehen. Das gilt auch für die Weiße-Kragen-Kriminalität.
Dabei gilt: Wir müssen wissen, worüber wir reden.Deshalb brauchen wir bessere und aussagefähigere Sta-tistiken. Wir müssen die Präventionsarbeit stärken. Wirbrauchen die nötige Technik und – last, but not least –gute Behörden, da das Internet immer auch Instrumentder Tatvorbereitung oder der Tatdurchführung ist. Wirbrauchen zudem eine entsprechende Debatte. Das Inter-net ist sicherlich ein Raum der Freiheit, aber nicht derLibertinage. Es muss auch ein Raum der Sicherheit unddes Rechts sein. Da wird viel Arbeit auf uns zukommen.Am wichtigsten ist, Herr Minister, dass wir gutes undmotiviertes Personal haben. Deshalb sollten wir alle ge-legentlich etwas sorgsamer bei unserer Wortwahl gegen-über den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Si-cherheitsbehörden sein. Wir müssen aber auch dafürsorgen, dass diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mo-tiviert sind und es sein können. Das verlangt eine anstän-dige Bezahlung – sie wird in Tarifverhandlungen ausge-fochten – und auch, dass wir den Beamtinnen undBeamten im mittleren Dienst des großen Personalkör-pers der Bundespolizei mit über 40 000 Beschäftigtenwieder eine Perspektive bieten und ihnen ihre Identitätzurückgeben. In diesem Zusammenhang sollten wir unsauch der Aufgabe betreffend die Ausrüstung stellen.
Herr Kollege Hartmann, denken Sie an Ihre Redezeit.
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Ich bin quasi beim letzten Absatz. Aber es ist nett,
dass Sie mich erinnern.
Das werde ich weiterhin tun.
Gut. Ich bin nicht beim letzten Absatz meiner fünf-
bändigen Memoiren, sondern dieser meiner Rede, keine
Sorge.
Wenn wir in diesem Rahmen weiter agieren, dann ist
die SPD als eine Partei dabei, die soziale Sicherheit als
Voraussetzung für innere Sicherheit sieht. Wir wollen,
dass alle die Regeln einhalten, sowohl jene, die abhängig
beschäftigt sind, als auch jene, die die Arbeit bestimmen.
Wenn das Gefühl entsteht, dass man die Großen laufen
lässt und die Kleinen henkt, ist es um die innere Sicher-
heit schlecht bestellt. Wir sollten hier gemeinsam zusam-
menstehen und in diesem Sinne in den kommenden vier
Jahren agieren.
Vielen Dank.
Als Nächster spricht der Kollege Dr. Konstantin vonNotz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lieber Herr Minister de Maizière, auch von unsherzlichen Glückwunsch zum neuen, alten Amt. Gernesagen wir zu, weiterhin offen und konstruktiv mit Ihnenzu streiten und zu diskutieren. Aber dort, wo Sie alsGroße Koalition dieselbe Blockadehaltung beim Daten-und Verbraucherschutz, den gleichen Zynismus in derFlüchtlingspolitik und eine ähnliche Verweigerungshal-tung in netzpolitischen Fragen an den Tag legen, wie dasSchwarz-Gelb getan hat, werden wir uns kritisch mit Ih-nen auseinandersetzen.
Zuallererst müssen wir hier heute feststellen: DieseBundesregierung hat ein handfestes Sicherheitsproblem,und dieses trifft alle Bürgerinnen und Bürger unmittel-bar. Herr Minister, das ist relevant für das Bürgerminis-terium. Im größten Überwachungsskandal aller Zeitenstehen Sie nach neun Monaten mit völlig leeren Händenda. Selbst der amerikanische Präsident, über dessen Un-tätigkeit Sie zu Recht klagen, hat öffentlich klarer Stel-lung bezogen, als sie das bisher getan haben.
Die einzigen Antworten der Bundeskanzlerin in die-ser schweren Krise unseres Rechtsstaates – EU-Daten-schutzverordnung und No-Spy-Abkommen – sind beidekläglich gescheitert. Sie sind gescheitert wie der Versuchvon Herrn Pofalla, die Probleme für beendet zu erklären,oder der Versuch, sie einfach wegzudefinieren, denjüngst der Präsident des Bundesamtes für Verfassungs-schutz unternommen hat, um offenbar von eigenen Ver-säumnissen abzulenken. Dieses Verhalten ist skandalös.Deswegen brauchen wir Aufklärung, Transparenz undden parlamentarischen Untersuchungsausschuss, meineDamen und Herren.
Zweifellos geht es um komplexe Zusammenhängevon kommerziellen und staatlichen Infrastrukturen beider Datenverarbeitung. Da braucht es neue, differen-zierte Antworten. Ein IT-Sicherheitsgesetz, das alleinauf Meldepflichten der Wirtschaft abzielt, wird deshalbeben nicht ausreichen, Herr Minister – vor allem dannnicht, wenn – wie beim jüngsten millionenfachen Daten-klau – staatliche Stellen selbst auf den Informationen zu-mindest wochenlang sitzen bleiben.
Das geht so nicht, und auch in dieser Frage haben wirnoch ganz erheblichen Aufklärungsbedarf, meine Da-men und Herren.
Gut, dass Sie den Stellenwert der Netzpolitik so klarbenennen, Herr Minister – das sehe ich genauso. Aberbei aller Sympathie für den Dialog: Die Zeit der Kaffee-kränzchen, unverbindlichen Dialogrunden und RundenTische ist vorbei. Jetzt ist die Zeit des Handelns. Unddieses Handeln werden wir anhand der Empfehlungender Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-schaft“, deren Einsetzung wir alle interfraktionell be-schlossen haben, mit Nachdruck von Ihnen einfordern,Herr Minister.
Auch heute kann ich es Ihnen nicht ersparen: Unge-achtet anhaltender Datenschutzskandale in der Privat-wirtschaft und geheimdienstlicher Totalüberwachunghalten Sie weiter an der Vorratsdatenspeicherung als In-strument der anlasslosen Massenüberwachung der ge-samten Bevölkerung fest.
Das ist grober Unfug, Herr Schuster, grober Unfug!
Die Vorratsdatenspeicherung ist kein Mehr an Sicher-heit, sie stellt vielmehr ein zusätzliches Risiko für denDatenschutz und für die Datensicherheit der Menschenund der Wirtschaft dar. Und weil Sie gesagt haben, dieseDaten wären bei den Unternehmen sowieso vorhanden:
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Dr. Konstantin von Notz
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Das ist ja gerade nicht so, sonst bräuchten wir ja über-haupt kein Gesetz. Sie wollen zusätzliche Datenbergeanhäufen. Das ist fatal. Herr Hartmann, da Sie schon da-rauf hinweisen, man sollte entspannt und moderat aufdie Vorratsdatenspeicherung schauen: Als Sie das dasletzte Mal in der Großen Koalition gemacht haben, istdas von Karlsruhe zu Recht wieder einkassiert worden.
Deswegen: Ziehen Sie endlich einen Schlussstrichunter die Peinlichkeit, sich als Exekutive ständig vonden Gerichten über unsere Verfassung belehren zu las-sen. Das ist doch peinlich für einen Innenminister undein Innenministerium. Streiten Sie mit uns gegen dieVorratsdatenspeicherung in Deutschland und in Europa!
Schließlich: Bei der Vorstellung des Migrationsbe-richts haben Sie erklärt, wie dringend unser Land Zu-wanderung braucht und wie sehr wir von Zuwanderungprofitieren. So ist das! Aber es war hochgradig irritie-rend, dass gestern auch die Bundeskanzlerin seehoferteund Zuwanderung illegitimerweise mit Missbrauch ver-bunden hat. Auch Ihre Stilblüten hier von der Willkom-menskultur für diejenigen, die willkommen sind, er-scheinen mir eher merkwürdig.
Sie tun das gegen alle Zahlen und wider besseres Wis-sen. Die CSU gibt bei dieser Kampagne ja vor, den Men-schen „aufs Maul“ zu schauen. Tatsächlich aber sind dasdie Stammtische von oben. Die allermeisten Menschensind viel weiter als Horst Seehofer und die CSU.
In den Gemeinden, in den Städten, in den Kirchen unse-res Landes gibt es runde Tische, eine Willkommenskul-tur für Zuwanderer, Mitgefühl und Aufnahmebereit-schaft gegenüber Flüchtlingen.Wir erwarten, dass diese Debatten über Zuwanderungund Flüchtlinge hier in diesem Hohen Haus auch auf die-sem Niveau geführt werden und nicht anders, meine Da-men und Herren.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank!
Es spricht jetzt der Kollege Stephan Mayer, CDU/
CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst möchte ich Ihnen,sehr geehrter Herr Bundesminister de Maizière, ganzherzlich dafür danken, dass Sie eindrucksvoll dargelegthaben, wie groß die Bandbreite von innenpolitischenThemen in dieser Legislaturperiode ist. Ich möchte Ih-nen vor allem auch dafür danken, dass Sie deutlich ge-macht haben, dass es wenig hilfreich ist, einen Wider-spruch zwischen Sicherheit und Freiheit zu konstruieren.Innenpolitik ist nicht rückwärtsgewandt und nichtanachronistisch, Innenpolitik ist Zukunftspolitik. Das In-nenministerium ist nicht ohne Grund das Verfassungsmi-nisterium. Es ist es deshalb, weil es federführend fürGrundgesetzänderungen zuständig ist. Ich bin der festenÜberzeugung, dass vielleicht in keinem Ministerium sostark wie im Innenministerium Regelungen und Vorkeh-rungen getroffen werden, die ausschlaggebend dafürsind, wie die innere Verfassung und vielleicht auch dieinnere Verfasstheit unseres Staates und unserer Gesell-schaft sind.Wir haben die Aufgabe, durch gesetzliche Rahmenbe-dingungen größtmögliche Sicherheit zu erzeugen, damitunsere Bürgerinnen und Bürger in Freiheit leben können.Wir haben die Aufgabe, auch mit gesetzgeberischenMaßnahmen dafür zu sorgen, dass die Offenheit und To-leranz, die in unserer Gesellschaft vorhanden sind, wei-terentwickelt werden können. Aber wir haben auch dieAufgabe, dass wir denjenigen ganz klare Grenzen auf-zeigen, die unsere freiheitlich-demokratische Grundord-nung bekämpfen wollen,
die extremistisch sind, egal auf welcher Seite sie extre-mistisch sind – das sage ich hier ganz deutlich –, ob amlinken Rand oder am rechten Rand; das gilt auch für isla-mistisch motivierten Extremismus.
Wir haben auch die klare Aufgabe, jedweden Gewalttä-tern, egal in welcher Form sie Gewalt ausüben, klar ent-gegenzutreten.Deswegen ist es wichtig, dass wir den Abschlussbe-richt des NSU-Untersuchungsausschusses beherzigen.Ich gehe davon aus, dass die wichtigen Empfehlungen,die uns dieser Untersuchungsausschuss in der letztenWahlperiode mit auf den Weg gegeben hat, in dieserWahlperiode entsprechend wahrgenommen und umge-setzt werden. Der Untersuchungsausschuss hat wesentli-che Hinweise für die zukünftige Arbeit der Justiz, derPolizei und des Verfassungsschutzes, aber auch für dieparlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste ge-geben. Deswegen sollten diese Empfehlungen auch wei-terhin Bestand haben.Unser zentrales Anliegen muss sein, dass wir den Ver-fassungsschutz nicht schwächen oder gar abschaffen,wie es die Fraktion Die Linke fordert, sondern dass wirunseren Verfassungsschutz verbessern, natürlich im Ein-vernehmen mit den Ländern. Deswegen kann man sichaus meiner Sicht nicht einerseits über mangelnde Auf-
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klärung und über fehlerhafte Frühwarnsysteme bekla-gen, aber auf der anderen Seite unseren Nachrichten-diensten die erforderlichen Sach- und Personalmittel unddie rechtlichen Befugnisse vorenthalten.Ein weiteres wichtiges Thema, das in dieser Legisla-turperiode hohe Priorität haben wird, ist die IT-Sicher-heit. Hier stehen wir vor besonderen Herausforderungen.Es gilt, das Vertrauen in die Informations- und Kommu-nikationstechnik wiederherzustellen und zu sichern, undhier sind sowohl die Wirtschaft als auch der Staat, aberauch die Zivilgesellschaft insgesamt gefordert.Die NSA-Affäre ist eine besondere Problematik. Dasmöchte ich in keiner Weise negieren. Ich sage hier auchin aller Deutlichkeit: Ich bin nicht mit den Antworten zu-frieden, die uns die US-Amerikaner, aber auch die Britenbisher gegeben haben. Diese Affäre hat mit Sicherheitdazu beigetragen, dass das Bewusstsein in der Bevölke-rung für die Themen Datensicherheit und Datenschutzdeutlich gestiegen ist. Aber ich möchte genauso deutlichsagen, dass mit Sicherheit die größten Gefahren für un-sere Datensicherheit nicht von befreundeten Nationenwie den USA und Großbritannien drohen, sondern dasses uns weniger freundlich gesonnene Staaten und auchOK-Strukturen sind, von denen weitaus größere Gefah-ren für die Freiheit und die Sicherheit im Internet ausge-hen.
Gerade im Bereich der IT- und der Datensicherheit istein erheblicher Handlungsbedarf gegeben. Ich denkeschon, dass wir es kritisch sehen müssen, dass sich einezunehmende Abhängigkeit Deutschlands im Bereich derInformations- und Kommunikationstechnik von auslän-dischen Anbietern ergeben hat. Das hat aus meiner Sichtnicht nur eine sicherheitspolitische Dimension, sonderndas hat sehr wohl auch eine wirtschaftspolitische Dimen-sion. Deswegen ist es auch unsere Aufgabe, mit dazubeizutragen, dass wir eine wettbewerbsfähige deutscheIT-Sicherheitswirtschaft aufbauen. Wir müssen hierbeioffensiv in die Weiterentwicklung gehen. Deutschlandmuss zu einem herausragenden IT-Sicherheitsstandortwerden. Dafür haben wir unsere Unternehmen entspre-chend zu unterstützen.Ein erster Schritt ist durch die Gründung des RundenTisches „Sicherheitstechnik im IT-Bereich“ durch dasBundesinnenministerium gemacht worden. Ich sage hieraber ganz offen: Dieser erste Schritt reicht noch nicht. Esbedarf in Zukunft weiterer Schritte. Wir müssen eine ge-zielte Industriepolitik im Bereich der IT-Sicherheit be-treiben.
Dazu gehört aus meiner Sicht, dass der Staat zunehmendals Nachfrager auftritt, um die Förderung der IT-Sicher-heit weiter zu gewährleisten.Wir müssen auch stärker in Forschung und Entwick-lung gerade in diesem wichtigen Bereich investieren.Das IT-Sicherheitsgesetz, das Sie, sehr geehrter HerrBundesminister, schon angesprochen haben, ist erforder-lich, insbesondere zum Schutz kritischer Infrastrukturen.Ich sage aber auch offen: Es wird notwendig sein, dasswir insbesondere das Bundesamt für Sicherheit in der In-formationstechnik sowohl personell als auch finanziellstärken.Entscheidend für die innere Verfassung eines Staatesist aber auch die Frage, wie man mit den Themen Migra-tion, Integration, Staatsangehörigkeit, Asyl und Zuwan-derung umgeht. Es wird in den kommenden vier Jahrenentscheidend darauf ankommen, dass wir die schon gutetablierte Willkommens- und Anerkennungskultur, diewir in Deutschland haben, weiterentwickeln. Wir sindgut beraten, offen zu sein für qualifizierte Zuwanderung,die eine Bereicherung für Deutschland und nicht nur fürunsere Wirtschaft darstellt. Aber wir haben genauso dieAufgabe, klare Maßnahmen gegen die Bürgerinnen undBürger ins Werk zu setzen, die ausschließlich des Sozial-leistungsbezugs wegen nach Deutschland kommen.
Hier gilt es, beides entsprechend zu berücksichtigen.Insofern bin ich sehr dankbar für die sehr präzisenVorgaben zum Asylrecht und zum Asylverfahrensrechtim Koalitionsvertrag. Es ist schon erwähnt worden: Wirwollen die Möglichkeiten, in den Arbeitsmarkt einzutre-ten, erleichtern. Wir wollen bei den entsprechenden Vor-gaben, auch was die Durchführung des Verfahrens anbe-langt, eine Beschleunigung erreichen. Aber es geht auchdarum, dass klargemacht wird, dass derjenige, der wirk-lich abgelehnt ist und auch nicht geduldet wird, unserLand zügig zu verlassen hat.Denn nur wenn wir hier konsequent handeln, könnenwir die hohe Akzeptanz in unserer Bevölkerung für dasim Grundgesetz verbürgte Asylrecht weiterhin erhalten.
Es darf nicht heißen: Wer asylberechtigt ist, darf bleiben,und wer nicht asylberechtigt ist, darf auch bleiben. Des-wegen ist es wichtig, beide Seiten der Medaille zur Gel-tung kommen zu lassen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichmöchte zum Abschluss schon noch ein paar Worte zumBevölkerungs- und Katastrophenschutz sagen. Ein schö-nes geflügeltes Wort besagt: Wir leben nicht vor der Ka-tastrophe, und wir leben auch nicht nach der Katastro-phe, wir leben zwischen den Katastrophen. – Dass dasstimmt, hat sich uns sehr deutlich gezeigt, als im Juniletzten Jahres ein schwerwiegendes Hochwasser vieleBundesländer, viele Bürgerinnen und Bürger ereilt hat.Ich sage hier ganz deutlich: Es ist wichtig, dass wirdie ehrenamtliche Organisation des Bundes im Bereichdes Bevölkerungsschutzes, das Technische Hilfswerk,weiter stärken. Wir können nicht in Sonntagsreden dasHohelied auf die Bedeutung des Ehrenamts singen undbleiben dann hinter den Erfordernissen zurück, wenn esganz konkret darum geht, Maßnahmen ins Werk zu set-zen und durchzuführen, die erforderlich sind, um dieseshohe bürgerschaftliche Engagement gerade im Bevölke-
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rungs- und Katastrophenschutz weiter aufrechtzuerhal-ten.
Deswegen sehe ich uns in der Verpflichtung, dass wirinsbesondere das Technische Hilfswerk, in dem 99 Pro-zent ehrenamtlich tätig sind, auch finanziell weiterhinangemessen und ausreichend unterstützen.Ein allerletztes Wort möchte ich an den KollegenKorte richten, weil Sie, Herr Korte, es nicht unterlassenkonnten, eine Bemerkung zum wichtigen Anliegen derGroßen Koalition, einen nationalen Gedenktag für dieHeimatvertriebenen zu schaffen, zu machen.
Ich muss schon sagen: Es ist wirklich unerträglich, wennSie hier behaupten, dieser Gedenktag werde aus demhistorischen Kontext gerissen.
Wir sind sehr wohl gehalten – ich glaube, wir habenhier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe –, dass wirder schrecklichen Unrechtstaten, die durch den Holo-caust passiert sind und die 6 Millionen Menschen aufbestialische Weise das Leben gekostet haben, immerwieder gedenken und dass wir dieses Gedenken auchhochhalten. Aber in gleicher Weise, Herr Kollege Korte,sind wir aufgerufen, das Gedenken und die Erinnerungan diejenigen hochzuhalten – das waren am Ende undnach dem Zweiten Weltkrieg immerhin 15 MillionenDeutsche –, die aus ihrer Heimat vertrieben worden sind,
und das nicht, weil sie Nationalsozialisten waren, son-dern weil sie einfach den falschen Wohnort hatten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gehörtebenfalls zu der ordentlichen Verfassung eines modernenund aufgeklärten Staates, dass man beide historischenEreignisse entsprechend würdigt und ihrer gedenkt.
Deswegen werden wir in der Großen Koalition nebendem Weltflüchtlingstag am 20. Juni auch noch einen ei-genen Gedenktag für die 15 Millionen deutschen Hei-matvertriebenen und Flüchtlinge schaffen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irene Mihalic,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Herr Minister! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! „Wir wollen einen Staat, der Freiheit undSicherheit für die Menschen überall gewährleistet.“ Soheißt es in Ihrem Koalitionsvertrag. Doch „Freiheit“ suchtman in Ihrem innenpolitischen Programm leider vergebens,und das ist fatal; denn Sicherheit steht im Dienste der Frei-heit und nicht umgekehrt.
Das sind Ihre Worte, Herr Minister de Maizière. Sieselbst haben es vorhin noch einmal in mehreren Zusam-menhängen betont. Selbst in Ihrer ersten Rede als Innen-minister in der Aussprache zur Regierungserklärung derBundeskanzlerin 2009 haben Sie gesagt, dass die „Frei-heitssicherung der eigentliche Kern der staatlichen Zu-ständigkeit für öffentliche Sicherheit“ ist. Recht habenSie! Denn Sicherheit ist eben kein vorrangiges Super-grundrecht, auch wenn Ihr Nachfolger und zugleich Vor-gänger im Amt, Hans-Peter Friedrich, sie eigenmächtigdazu auserkoren hat, und Freiheit ist kein Grundrechtzweiter Klasse.
Es kann nicht unsere Pflicht als Opposition sein, im-mer wieder zusammen mit dem Bundesverfassungsge-richt als Korrektiv dafür zu sorgen, dass die Verfas-sungsordnung von Freiheit und Sicherheit wieder insrechte Lot gebracht wird. Die Wahrung der Verfassungist die elementarste Aufgabe des Bundesinnenministers.
Dass Sicherheit nicht absolut gewährleistet werdenkann, das hat uns allen auf sehr grausame Art und Weisedie Terrorserie des NSU vor Augen geführt. So etwasdarf in unserem Land nie wieder geschehen.
Gerade deshalb ist es höchst bedauerlich, dass die GroßeKoalition mit ihrer so großen Mehrheit die Steilvorlageder gemeinsamen Empfehlungen des NSU-Untersu-chungsausschusses verschenkt. Liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD, von Ihrem 30-Seiten-Sonder-votum – lieber Kollege Hartmann, Sie haben das vorhinnoch einmal angesprochen – ist im Koalitionsvertragrein gar nichts mehr übrig geblieben.
Löblich ist zwar, dass Ihre Ankündigung, den ge-meinsamen Konsens umsetzen zu wollen, darin enthal-ten ist; doch gerade diesen Konsens durchlöchern Sie,indem Sie einzelne Reformpunkte nochmals gesondertaufgreifen. Ich jedenfalls kann Ihnen versichern, dasswir konkrete Schritte einfordern werden, damit Sie we-nigstens Ihre Minimalversprechen auf diesem Gebieteinlösen werden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 787
Irene Mihalic
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Für die hohen Güter „Freiheit“ und „Sicherheit“ tre-ten tagtäglich Polizistinnen und Polizisten mit großemEngagement ein. Nach 20 Dienstjahren als Polizeibeam-tin bin ich persönlich ziemlich erschrocken darüber, wiewenige Ideen Sie für unsere Polizei entwickeln. Ein Wei-ter-so verdienen weder meine Kolleginnen und Kollegenim Dienst noch die Bürgerinnen und Bürger unseresLandes. Ja, wo ist denn der Schritt hin zu einer echtenBürgerpolizei, einer Polizei aus Bürgerinnen und Bür-gern und für Bürgerinnen und Bürger?Sie haben vorhin die Gewalt gegen Polizistinnen undPolizisten angesprochen und Solidarität angemahnt,Herr Minister. Aber was ist zum Beispiel mit der Beam-tin der Bundespolizei, die sich im Dienst verletzt hat unddanach wochenlang auf die Erstattung ihrer Kostendurch die Beihilfe warten muss? Wo ist denn da die Soli-darität?
Oder was ist mit dem Ad-hoc-Aufruf des Bundespoli-zeipräsidiums an Vollzugsbeamte, ihre Dienstzeit zu ver-längern? Das ist doch der Offenbarungseid einer fal-schen Personalpolitik!
Als damaliger Bundesinnenminister waren Sie Dienst-herr, Herr de Maizière. Sie tragen die Verantwortung da-für, in den Jahren 2010 und 2011 zu wenige Dienstan-fänger eingestellt zu haben, und das rächt sich jetzt; dennes zeigt sich, dass der Einsatz von Videotechnik, wie Siein der Koalition ihn ja so favorisieren, die Polizei vor Orteben nicht ersetzen kann.
Polizistinnen und Polizisten sind keine Übermen-schen. Sie machen natürlich, wie jeder andere in seinemBeruf, auch einmal Fehler. Was wir aber brauchen, istendlich ein offener und konstruktiver Umgang mit die-sem Fehlverhalten, und dazu bedarf es beispielsweiseauch im Bund einer unabhängigen Beschwerdestelle.Diese muss für die Menschen von außen genauso an-sprechbar sein wie für die Beamtinnen und Beamten voninnen.
Der hoch geschätzte und unermüdliche Kämpfer fürden verantwortungsvollen und freiheitlichen Rechts-staat, Winfried Hassemer,
der leider kürzlich verstorben ist, hat einmal kritisiert:Eine Schippe Sicherheit passt immer noch in den mitKontrollen und Sanktionen schon prall gefüllten Sack. –Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem prall gefüll-ten Sack darf aber die Freiheit nicht ersticken. Dafür zusorgen, ist unsere gemeinsame Aufgabe.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Kollegin Mihalic, das war Ihre erste
Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu
und wünsche Ihnen viele erfolgreiche Reden im Hohen
Hause.
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Lars
Castellucci für die Sozialdemokraten.
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren!Wir haben uns in der Großen Koalition noch etwas vor-genommen, und zwar eine Reform des Staatsangehörig-keitsrechts. Sehr geehrter Herr Minister de Maizière, dasist für Sie anscheinend so selbstverständlich, dass Sie esgar nicht mehr erwähnen. Das ist gut.
Bereits Rot-Grün hat das Staatsangehörigkeitsrechtreformiert. Das war schon damals eine längst überfälligeMaßnahme. Es ist gesünder, sich nicht an jedes Detailaus dieser Debatte zu erinnern.
Klar ist: Die SPD steht für das moderne Deutschland,und sie steht damit auch für ein modernes Staatsangehö-rigkeitsrecht, so auch heute.
Wir zwingen junge Menschen, die neben der deut-schen eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, dazu,sich bis zu ihrem 23. Lebensjahr für eine zu entscheiden.Das fällt ihnen schwer. Man kann in den Medien einigetheoretische Einlassungen wahrnehmen, zum Beispielvon Hannes Wader inspiriert: „Heute hier, morgen dort,bin kaum da, muss ich fort“. Es wird darüber berichtet,was alles passieren kann, wenn Menschen mehrereStaatsangehörigkeiten haben.Ich glaube, es wäre gut, wenn wir einmal die betroffe-nen Menschen zu Wort kommen lassen würden. Das willich hier tun. Einer hat mir vorgestern geschrieben – ichzitiere –: Kurz vor der Veröffentlichung des Koalitions-vertrages saß ich im bosnischen Konsulat und habe dieAbtretungsurkunde der bosnischen Staatsangehörigkeitunterschrieben. Das hat wehgetan. Die Familie in Bos-nien versteht das nur sehr schwer; denn für sie lasse ichein Land im Stich, das Heimat für meine Großeltern warund ist. Warum muss ich das? Ich bedrohe niemanden,wenn ich zwei Staatsangehörigkeiten habe.
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788 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Dr. Lars Castellucci
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Es fällt den Betroffenen schwer, und es betrifft eineganze Reihe von Menschen. Ab 2018 – das wird pro-gnostiziert – werden 40 000 Jugendliche unter die Op-tionspflicht fallen. Gleichzeitig akzeptieren wir schonheute bei einer Mehrheit der Einbürgerungen Mehrstaat-lichkeit: weil es nicht anders geht, weil es sich um an-dere EU-Bürger handelt. Kinder aus internationalenEhen haben ohnehin keine Schwierigkeit, einen Doppel-pass zu haben. Meine Damen und Herren, es ist ein biss-chen wie bei der Wehrpflicht: Irgendwann haben wirmehr Ausnahmen als Regeln, und dann funktioniert esnicht mehr. Das ist dann ungerecht, und es treibt einenKeil in den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das kannnicht so bleiben.
Im Dezember war ich bei einem Empfang des Ver-bands der Migrantenwirtschaft in Berlin. Dort meldetesich jemand zu Wort, der Folgendes sagte: Wir lebenhier, wir arbeiten hier, wir zahlen hier Steuern, wir grün-den hier unsere Familien, wir schaffen Arbeitsplätze.Können wir nicht einfach alle Deutsche sein, statt Aus-länder oder ausländische Mitbürger oder Deutsche mitMigrationshintergrund oder Deutsche mit Zuwande-rungsgeschichte? – Diese Begrifflichkeiten zeigen nureines, nämlich dass wir an dieser Stelle ein Problem ha-ben.
Als die Frage „Können wir nicht einfach Deutschesein?“ gestellt worden war, kam Rita Süssmuth zu Wort.Sie sagte: Vergessen Sie Ihre Wurzeln nicht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen dasaus meiner eigenen Familie erzählen. Mein Vater hatschon in den 70er-Jahren die italienische Staatsbürger-schaft abgegeben und die deutsche angenommen. Im-mer, wenn ein Acker in der alten Heimat zu vererbenwar, hat er seinen Geschwistern gesagt: Macht es untereuch aus. Ich habe damit nichts mehr zu tun. – Er ist voreinigen Jahren in Rente gegangen, und dann waren dieFragen wieder da: Wo gehöre ich hin? Wo will ich le-ben? Vielleicht hier und dort? – Frau Süssmuth hat recht:Die Wurzeln sind tief im Inneren da. Die neue Staats-angehörigkeit möchte blühen und Früchte tragen, aberohne seine Wurzeln ist der Mensch nicht ganz.
Deshalb wollen wir als SPD-Fraktion – ich bin Aydandankbar, dass sie es auch so ausspricht – die Options-pflicht abschaffen, gänzlich und ohne Einschränkung.
Deshalb haben wir in den Koalitionsverhandlungendurchgesetzt, dass wir nun bei den Kindern beginnen.Der Optionszwang entfällt. Mehrstaatigkeit wird akzep-tiert. Das ist ein Anfang. Manche werden sagen: Nur einAnfang. Ich sage: Es ist ein guter Anfang.
Johannes Rau hat einmal gesagt:Wer dauerhaft in Deutschland leben will, brauchtseine Herkunft nicht zu verleugnen.In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Zwingenwir die Menschen nicht länger, die eigenen Wurzeln abzu-schneiden! Unterstützen Sie uns alle dabei, den nächstenSchritt bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zugehen! Lassen wir die Menschen ganz!Vielen Dank.
Herr Kollege Castellucci, das war auch Ihre erste
Rede hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen
dazu und wünsche auch Ihnen viele weitere Reden im
Hohen Hause.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Clemens Binninger das
Wort, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich habe auch den Beiträgen der Oppositionsredner,nicht nur meiner eigenen Kollegen, aufmerksam zuge-hört. Herr Kollege Korte, ich würde mich gern mit IhrenVorschlägen auseinandersetzen, nur: Es gab keine.
Acht Minuten ohne eigene konkrete Vorschläge.
Immer nur Kritik am Minister, was er angeblich verges-sen hat und was zu kurz kommt. Aber eine eigeneAgenda: Fehlanzeige.
Wenn Sie wollen, dass wir in den politischen Streit umden besten Weg kommen – den ich auch mit Ihnen füh-ren würde –, müssen Sie sagen, was Sie wollen, und dür-fen nicht nur lamentieren, was angeblich alles fehlt.Vielmehr müssen Sie Ihr eigenes Programm vorstellen.Das haben Sie nicht getan.Frau Kollegin Mihalic, Glückwunsch auch von mirzur ersten Rede. Sie haben sinngemäß gesagt: Es istnicht Hauptaufgabe der Opposition, dafür zu sorgen,dass wir bei den Sicherheitsgesetzen die Verfassung ein-halten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 789
Clemens Binninger
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– „Mit Karlsruhe zusammen.“ – Ganz bescheiden! Ei-gentlich machen die es alleine, aber so sei es.Ich will nur daran erinnern: Eine der größten Schlap-pen dieses Parlaments bzw. einer Regierung war das rot-grüne Luftsicherheitsgesetz, mit dem Sie grandios ge-scheitert sind.
Insofern sollte man immer daran denken, dass man auchselber im Glashaus sitzt, bevor man meint, hier eineRolle einzunehmen, die nicht zu uns passt.
Herr Kollege von Notz, die Vorratsdatenspeicherungdurfte nicht fehlen.
– Bei uns fehlt sie auch nicht. Wir werden sie auch um-setzen. Ich hätte nur die Bitte:
Wenn wir diesen politischen Streit führen, dann müssenwir der Bevölkerung und allen, die vielleicht andererMeinung sind als wir, deutlich machen, dass unser Ver-fassungsgericht – ich bin mir sehr sicher, dass der Euro-päische Gerichtshof nicht anders entscheiden wird –sagt: Die Vorratsdatenspeicherung ist grundsätzlich mitunserem Grundgesetz vereinbar.
Können wir diesen Satz einmal an den Beginn der De-batte stellen?
Es kommt darauf an, wie wir sie regeln. Das ist der ent-scheidende Punkt.
Sie tun immer so, als ob es per se verfassungswidrigwäre. Das ist nicht der Fall. Es kommt darauf an, wie wires regeln. Wir haben uns vorgenommen, dass wir derDatensicherheit, den Speicherfristen und all diesen Din-gen einen hohen Stellenwert einräumen.
Dann ist es nicht verfassungswidrig. Insofern sollten wirda zu einer seriösen Debatte kommen.
Wir brauchen diese Daten für unsere Behörden, wennauch nicht – Kollege Hartmann, da haben Sie recht – alsAllheilmittel. Aber es ist doch kaum zu ertragen, dass dieStrafverfolger, wenn ein Straftäter kinderpornografischeInhalte ins Internet stellt – mit den wirklich schlimmstenBildern, die man sich vorstellen kann –, sagen müssen:Wir haben zwar die IP-Adresse des Verbrechers, der die-ses Video ins Netz gestellt hat, erfahren von den Provi-dern aber nicht, wem diese IP-Adresse gehört, weil siesie nicht speichern müssen, weil sie mit Verweis auf einefehlende Regelung zur Vorratsdatenspeicherung sagen,dass sie es nicht speichern. – Dann hört die Strafverfol-gung schon auf, bevor sie überhaupt begonnen hat. Beisolch schweren Verbrechen ist das nicht hinnehmbar –auf keinen Fall!
– Doch, das ist auch Vorratsdatenspeicherung.Jetzt will ich kurz drei der Punkte herausgreifen, dieder Minister angesprochen hat. Ich bin sehr dankbar,dass wir uns in der Koalition darauf verständigt haben,die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschussesumzusetzen. Es sind 47 gemeinsame Empfehlungen. Dabrauchen wir übrigens nicht auf Sondervoten irgendeinerFraktion abzuheben; es sind 47 Empfehlungen, die alleFraktionen mitgetragen haben. Wenn wir dafür sorgen,dass sie umgesetzt werden, haben wir der Sache ammeisten gedient.
Ich will deutlich machen, wer davon betroffen ist, erstrecht, weil auch der Justizminister hier ist: Es sind nichtnur hinsichtlich Polizei und Verfassungsschutz Reform-überlegungen notwendig; auch Staatsanwaltschaften bishin zum Generalbundesanwalt haben sich in der NSU-Sache nicht mit Ruhm bekleckert. Auch da muss es Ver-änderungen geben.
Das ganze tragische Scheitern im Zusammenhang mitden schrecklichen Morden des NSU hat aber auch ge-zeigt, dass die Sicherheitsarchitektur des Föderalismussehr schnell an ihre Grenzen kommt. Deshalb sind nichtnur wir und die Bundesregierung in der Pflicht. Wir rich-ten natürlich auch einen Appell an die Länder, die Refor-men, die wir empfohlen haben, auch in den Ländern um-zusetzen. Wenn wir alle zusammen handeln, dann wirdsich hier in der Sache etwas bewegen.
Der zweite Punkt. Eine der großen Schwächen war,dass sich Polizei und Verfassungsschutz nicht austau-schen konnten; es gab keine gemeinsame Datei. Wir hat-ten eine gemeinsame Datei für den Bereich des Islamis-mus, aber nicht für den Bereich des Rechtsextremismus.Jetzt haben wir für beide Bereiche eine Datei: dieRechtsextremismusdatei und die Antiterrordatei. Karls-ruhe hat über die Antiterrordatei geurteilt und sie für
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790 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Clemens Binninger
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grundsätzlich verfassungskonform erklärt, aber unterdem Vorbehalt notwendiger Veränderungen.
Diese werden wir vornehmen. Dann haben die Sicher-heitsbehörden in unserem Land das Instrument, das siebrauchen, um unter Beachtung des Trennungsgebotesdie Informationen auszutauschen, die ausgetauscht wer-den müssen, damit wir in unserem Land Islamismus undgewaltbereiten Rechtsextremismus bekämpfen können.Insofern ist es ein wichtiger Schritt, wenn wir hier vo-rangehen.Ein dritter Punkt. In einem aktuellen Fall hat das BSInach Weihnachten gewarnt, dass Nutzerdaten und Kenn-wörter zu 16 Millionen E-Mail-Adressen gestohlen wor-den sind. Ich muss sagen: Ich habe großen Respekt da-vor, was das BSI hier in der kurzen Zeit gestemmt hat,wie es die Bevölkerung gewarnt und eine eigene Home-page aufgebaut hat, auf der man überprüfen konnte, obdie eigene E-Mail-Adresse betroffen ist. Ich habe es sel-ber gemacht. Das hat innerhalb weniger Minuten tadel-los geklappt. Ich war Gott sei Dank nicht betroffen. – Ichhoffe, dass ich nicht betroffen war, aber ich bin mirziemlich sicher.
Der Fall zeigt doch auch: All die Warnungen zur Si-cherheit im Netz – zu Botnetzen, Serverattacken undinfizierten Homepages –, die wir seit Jahren äußern,werden von den Menschen offenkundig noch nicht sosensibel aufgenommen, weil man immer denkt: Das istweit weg, das betrifft mich nicht. – Die Schaffung vonSicherheit im Netz wird eine der wichtigsten Aufgabensein, vor denen wir in den nächsten Jahren stehen – da-mit die Akzeptanz für alle Möglichkeiten, die das Netzden Bürgern, den Behörden und der Wirtschaft bietet, er-halten bleibt und das Netz nicht zu einem Ort der Unsi-cherheit wird, sondern ein Ort der Sicherheit bleibt.Herr Minister, ganz zum Schluss sage ich Ihnen: DieFraktionen, die Regierungsfraktionen allemal, vielleichtdie anderen auch, werden Sie gerne auf Ihrem Weg be-gleiten, die Agenda, die Sie uns skizziert haben, umzu-setzen. Es gehört zum Selbstbewusstsein von Parlamen-tariern, dass wir manchmal vielleicht etwas aufs Tempodrücken, manchmal vielleicht etwas auf der Bremse ste-hen oder auf eine Abzweigung oder eine Sehenswürdig-keit am Rande des Weges hinweisen.
Aber wir sind an Ihrer Seite.Eines verpflichtet uns alle: Wenn es uns gelingt, sei esim politischen Streit oder durch gemeinsame Gesetzge-bung, ein Stück dazu beigetragen zu haben, dass dieMenschen in unserem Land in Freiheit und Sicherheit le-ben können, dann haben wir unsere Aufgabe erfüllt.Herzlichen Dank.
Abschließende Rednerin zu diesem Themenbereich
ist jetzt die Kollegin Michaela Engelmeier-Heite, SPD.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! HerrMinister de Maizière, ich möchte mich bei Ihnen für Ih-ren kleinen Exkurs in die Welt des Sports bedanken. Ichhoffe, Sie alle sind noch ordentlich fit; denn auch jetztgeht es fünf Minuten lang um Sport.In den kommenden Monaten und Jahren erwarten unsgroße Herausforderungen im Bereich der Sportpolitik.Ich kann in der Kürze der Zeit nicht alle Ziele nennen,weswegen ich mich auf drei Schwerpunkte beschränkenwerde.Ein zentrales Ziel unserer Arbeit in den nächsten Jah-ren ist die Unterstützung des organisierten Sports bei derBewahrung der sportlichen Ideale. Wir Sozialdemokra-ten stehen immer dafür ein, die sozialen, gesundheitli-chen und kulturellen Aspekte des Sports zu fördern unddie Werte von Toleranz und Fairness herauszustellen.Damit sind wir gleich beim ersten wichtigen Themain dieser Wahlperiode angelangt: Antidoping und Spiel-manipulationen im Sport. Wir brauchen zum einen einenachhaltig finanzierte Antidopingagentur, die NADA,zum anderen brauchen wir schärfere gesetzliche Maß-nahmen gegen Doping und Spielmanipulationen.
Der Sport lebt vom fairen Wettkampf, und wir dürfenes nicht zulassen, dass die Werte des Sports beschädigtwerden. Es darf nicht sein, dass die NADA jedes Jahraufs Neue um ihre Existenz bangen muss. Die Finanzie-rung bedarf eines soliden Fundamentes, und wir müssenentsprechende Mittel zur Verfügung stellen. Das Stake-holder-Modell, bei dem Bund, Länder, Wirtschaft undSport gemeinsam die Finanzierung der NADA sicher-stellen sollen, funktioniert in dieser Form nicht. Die Län-der und die Wirtschaft haben sich bis auf wenige Aus-nahmen nicht an der Finanzierung der NADA beteiligt.Das Unternehmen Otto Bock zum Beispiel hat amDienstag dieser Woche verkündet, der NADA 1 MillionEuro für das operative Geschäft zu spenden. Das ist er-freulich.
Es wäre begrüßenswert, wenn andere Unternehmen die-sem positiven Beispiel folgen würden. Nichtsdestotrotzbenötigen wir eine nachhaltige Finanzierung. Das Prin-zip, von der Hand in den Mund zu leben, ist nicht ziel-führend. Es darf nicht sein, dass die NADA wenigerKontrollen durchführt als geplant, nur weil kein Geldmehr da ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 791
Michaela Engelmeier-Heite
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Ein ehemaliger Sieger der Tour de France sagte ein-mal: „Doping ist für mich, wenn einer positiv erwischtwird“. Ich finde, das sagt schon alles. Wir brauchen einengmaschiges Kontrollnetz, das nicht an den Finanzenscheitert. Es gilt daher, über das derzeitige Modell zudiskutieren und in einem offenen Dialog über neue Kon-zepte zu sprechen.Mir ist es wichtig, dass wir hier im Bundestag recht-lich stärker als bisher gegen Doping und Spielmanipula-tionen vorgehen. Wir brauchen eine tragfähige undrechtssichere Lösung, um auch dopende Spitzensportlerzu überführen. Der dopende Sportler ist die zentrale Ge-stalt des Dopingsystems und nicht das Opfer.Die bisherigen Regelungen in § 6 a des Arzneimittel-gesetzes reichen nicht aus; insbesondere die Beschrän-kung der Strafbarkeit auf die sogenannte nicht geringeMenge wird den Ansprüchen an einen sauberen Spitzen-sport nicht gerecht. Wir brauchen schärfere strafrechtlicheMaßnahmen unter Wahrung der Sportgerichtsbarkeit. Nurso besteht überhaupt die Chance, die kriminellen Do-pingnetzwerke aufzubrechen und die Hintermänner zufassen, und dies ist möglich.Der Koalitionsvertrag setzt an der entscheidendenStelle an. Wir werden die Einführung einer uneinge-schränkten Besitzstrafbarkeit prüfen. Über die endgül-tige Form werden wir noch ausführlich sprechen, aberdie Richtung ist klar: Der Sport benötigt die verstärkteUnterstützung des Staates im Kampf gegen Doping.
Bereits im Februar werden wir uns in einer Sitzung desSportausschusses weiter mit der Finanzierung derNADA und der Dopinggesetzgebung befassen.Der Sportausschuss ist mein nächstes Stichwort.Meine Fraktion, die SPD-Bundestagsfraktion, hat sichgenerell für öffentliche Sitzungen des Sportausschussesausgesprochen,
das konnte aber leider nicht einvernehmlich beschlossenwerden. Wir stehen zu den Vereinbarungen mit unseremKoalitionspartner, auch wenn uns das an dieser Stelle et-was schmerzt. Dennoch setzen wir uns weiterhin dafürein, in jeder Ausschusssitzung große Teile öffentlich zubehandeln.Ich werde meine Rede mit einem Thema schließen,das momentan täglich in der Presse zu finden ist. Am7. Februar werden die Olympischen Spiele in Sotschi er-öffnet, einen Monat später die Paralympischen Winter-spiele. Die aktuelle Berichterstattung in den Print- undOnlinemedien beschränkt sich nicht auf den Sportteil.Nein, Sotschi hat quasi seit der Vergabe im Jahr 2007auch eine politische Komponente. Stichworte dazu sinddie aktuelle Menschenrechts- und Bürgerrechtssituationin Russland, Arbeitsbedingungen beim Bau derWettkampfstätten, Korruption und keine Entlohnung derArbeit beim Sportstättenbau, Umweltzerstörung undGigantismus. Es ist unsere Aufgabe, diese Fehlentwick-lungen zu thematisieren und gegenzusteuern.
Aber auf der anderen Seite – das ist mir ganz wichtig –steht immer noch der Sport. Aus eigener Erfahrung weißich, dass Athletinnen und Athleten jahrelang oder sogarihr ganzes Leben lang auf diese Spiele hingearbeitet undgroße Entbehrungen auf sich genommen haben. Diesund die sportliche Leistung dürfen nicht in den Hinter-grund geraten. Den Sportlerinnen und Sportlern gilt un-sere volle Anerkennung.Aus dem Bundestag heraus und gemeinsam mit demInnenminister wünsche ich den deutschen Athletinnenund Athleten für Olympia und die Paralympics allesGute und viel Erfolg.
Auf der politischen Ebene müssen aus Sotschi Lehrengezogen werden, aber nicht nur aus Sotschi. Die Bewer-bung Münchens um die Winterspiele 2022 scheiterte be-reits im Vorfeld deutlich am Bürgerwillen, und das trotzeines guten und nachhaltigen Konzepts. Die Gründe fürdas negative Votum sind sehr vielschichtig. Aus unsererSicht gibt es für das Internationale Olympische Komiteeviel zu tun. Aber auch der Fußballweltverband FIFA istgefragt. Die Diskussion über Katar als Ausrichter derFußball-WM 2022 wird uns sicherlich begleiten und mitvielen Problematiken konfrontieren.Wir stehen zur Verfügung, wenn der Sport unsere Un-terstützung in Bezug auf faire und nachhaltige Standardsbei internationalen Sportgroßveranstaltungen benötigt.Wir reichen dem Sport in partnerschaftlicher Zusam-menarbeit die Hand.Danke.
Frau Kollegin Engelmeier-Heite, das war Ihre ersteRede hier im Deutschen Bundestag. Meinen Glück-wunsch dazu! Auch Ihnen wünsche ich viele weitere er-folgreiche Reden.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereichliegen mir nicht vor. Deshalb kommen wir nun zu demBereich Recht und Verbraucherschutz.Ich warte einige Sekunden, damit die Kolleginnenund Kollegen ihre Plätze einnehmen können. – HerrWunderlich, die Disziplin der Linkspartei ist notiert undarchiviert. –
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792 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Darf ich bitten, dass die Kolleginnen und Kollegen, diedie vorderen Plätze einnehmen wollen, dies jetzt auchtun, damit wir beginnen können?Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demBundesminister Heiko Maas. – Herr Bundesminister, Siehaben das Wort.
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Heute steht nicht nur ein neuer Bun-desjustizminister vor Ihnen, sondern zum ersten Malliegt auch die Verantwortung für Justiz und Verbraucher-schutz in einer Hand. Ich finde, das ist eine gute Nach-richt für Stromkunden, für Internetnutzer, für Käufer undKleinanleger. Für den Verbraucherschutz in Recht undWirtschaft gilt nämlich, wie ich finde, schon lange: DieZeit der Appelle ist vorbei; auch den Schwachen soll dieStärke des Rechts zuteilwerden. Deshalb ist der Verbrau-cherschutz im Justizministerium gut aufgehoben.
Wie notwendig das ist, liegt auf der Hand. Wer in denletzten Monaten in Berlin oder in anderen Großstädtenunterwegs gewesen ist, der konnte einer Reklame kaumentkommen. Da warb ein Unternehmen um Anleger, in-dem es das Zeichen für atomare Strahlung schrittweisein ein grünes Windrad verwandelte. Gutes tun und dabeiGewinn machen, das war das subtile Versprechen, demdann 75 000 Bürgerinnen und Bürger geglaubt haben.Inzwischen hat das Unternehmen Prokon Insolvenz an-gemeldet, und viele Menschen bangen um ihr Erspartes,das sie dort angelegt haben.Keine Frage, zur Marktwirtschaft gehört auch dasRisiko; aber Risiken müssen offengelegt werden, damitAnleger abwägen können, ob sie diese Risiken wirklicheingehen wollen. Das war bisher nicht immer der Fall.Dieses Beispiel zeigt, dass es beim Grauen Kapitalmarktnicht unerheblichen Handlungsbedarf gibt. Wir werdendeshalb zusammen mit dem Bundesfinanzministeriumdemnächst Vorschläge machen, wie wir die Irreführungvon Anlegerinnen und Anlegern etwa durch Werbungverhindern können. Wir wollen dazu auch die Zuständig-keiten der BaFin erweitern. Die Finanzaufsicht undderen Zielkatalog soll nicht nur die Stabilität des Mark-tes im Blick haben, sie muss sich auch um den kollekti-ven Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucherkümmern. Das ist ein erster Punkt, wo wir als Verbrau-cherschutzministerium in den kommenden Tagen aktivwerden wollen.
Der Verbraucherschutz hat viele Facetten. Eine, diebesonders viele Menschen betrifft, ist das Mietrecht.Dieses Thema war ja auch bisher im Justizministeriumressortiert. Heute werden die Mieten vor allem bei Wie-dervermietungen zum Teil drastisch erhöht. In Münchenbetragen die Steigerungen in einzelnen Stadtteilen40 Prozent und mehr, und selbst in Berlin
– ja, auch noch mehr – muss man bei neuen Mietverträ-gen oft 20 bis 30 Prozent mehr zahlen als bei laufendenVerträgen für vergleichbare Wohnungen.Ich meine, auch gegen diese unverhältnismäßige Dy-namik bei den Mieten müssen wir etwas tun.
Auch in Großstädten muss das Wohnen bezahlbar blei-ben. Wir wollen keine Gentrifizierung. Unsere Städte le-ben von der Vielfalt in den Wohnquartieren und nichtvon der Separierung nach Einkommensgruppen.
Deshalb werden wir noch im März einen Entwurf füreine wirksame Mietpreisbremse vorlegen. In Zukunftsollen die Länder Gebiete festlegen können, in denen beiWiedervermietung die Mietsteigerung auf maximal10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete be-grenzt wird.
Das ist ein Beitrag für mehr bezahlbare Mieten undWohnungen auch in Ballungsgebieten.Ein zweiter Teil der Vorlage, die wir machen werden,wird beinhalten, dass wir bei den Kosten für die Maklerdas Bestellerprinzip einführen. Wer bestellt, bezahlt.
Dieses Prinzip der Marktwirtschaft soll in Zukunft auchfür die Maklerrechnung gelten. Eigentlich ist dies nichtsanderes als eine überfällige Selbstverständlichkeit. Demwerden wir nachkommen.Rechtspolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik.Unser Ideal ist eine moderne Gesellschaft, in der alleMenschen selbstbestimmt leben können ohne Privilegienund ohne Benachteiligungen aufgrund ihrer Herkunft,ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität. Für zuviele Menschen in unserer Gesellschaft ist das aber nochimmer Utopie, zum Beispiel für Frauen in deutschen Un-ternehmen. Trotz hervorragender Qualifikationen gibt esimmer noch viel zu wenige Frauen in Führungspositio-nen. Um das zu ändern, um zumindest einen erstenSchritt zu tun, werden wir zusammen mit der Frauenmi-nisterin Manuela Schwesig das Aktienrecht reformieren.Wir werden dafür sorgen, dass in den Aufsichtsräten dergrößten Unternehmen zukünftig eine verbindliche Frau-enquote gilt. Es kann nicht sein, dass es sich um einenstatistischen Fehler handelt, dass wir mittlerweile diebestausgebildete Generation an Frauen haben, sich dasin den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft aberimmer noch nicht niederschlägt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 793
Bundesminister Heiko Maas
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Selbstbestimmt zu leben, das bedeutet auch, dass derStaat zwar die Solidarität unter den Menschen fördernsoll, ihnen aber nicht vorschreibt, wie sie zu leben haben.Ich setze mich deshalb dafür ein, dass wir alle Benachtei-ligungen von eingetragenen Lebenspartnerschaften, dieunser Recht noch immer kennt, endlich beseitigen.
Im Adoptionsrecht haben wir damit bereits angefangen.Der Entwurf eines Gesetzes, das die Sukzessivadoptionfür Lebenspartner ermöglicht, ist fertig und wird derzeitinnerhalb der Bundesregierung abgestimmt. Auf demlangen Weg zur rechtlichen Gleichstellung ist das, wieich finde, ein wichtiger Schritt.Die dritte große Aufgabe unserer Politik sehe ich vorallem im Schutz der Freiheit und der Bürgerrechte. Ih-nen drohen heute viele Gefahren, sogar von denen, dievorgeben, sie zu schützen.
Der Fall des massenhaften Abgreifens persönlicherDaten durch fremde Geheimdienste ist für mich nicht er-ledigt.
Um gegenseitiges Vertrauen wiederherzustellen, dürfenwir nichts unversucht lassen, die Daten unserer Bürger– übrigens nicht nur die der Regierungsmitglieder – bes-ser zu schützen.
Präsident Obama hat zumindest erste Schritte angekün-digt. Dennoch sind wir uns einig – ich bin froh, dass dieBundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung klareWorte dazu gefunden hat –: Die NSA sollte nicht mehrungebremst Daten sammeln können. Gerade in den USAgibt es längst Hinweise, dass die enormen Datenmassengar nicht ausgewertet werden können und daher auchkeinen Beitrag zum Schutz vor Terroranschlägen leisten.Bei der schwierigen Suche nach der Balance zwi-schen Freiheit und Sicherheit können wir den Anspruchder Bürgerinnen und Bürger auf ein Leben in Sicherheitnicht ignorieren. Genauso wenig können wir ignorieren,dass immer häufiger lediglich vermeintliche Sicherheits-interessen dazu dienen sollen, Bürgerrechte unverhält-nismäßig einzuschränken. Das ist nicht der richtige Wegfür eine ausreichende Balance zwischen Freiheit undSicherheit.
Wenn mitten in Deutschland Menschen wegen ihrerHerkunft oder ihrer Hautfarbe verfolgt, ja ermordet wer-den, dann ist das der schlimmste Angriff auf Freiheit undSicherheit, den man sich vorstellen kann. Der rechts-extreme Terror des NSU war ein Schock für unseregesamte Gesellschaft. Ich weiß, dass sich der DeutscheBundestag sehr intensiv mit diesen Verbrechen beschäf-tigt hat. Deshalb sage ich Ihnen zu: Die Empfehlungendes Untersuchungsausschusses werden wir zügig umset-zen.
Wir werden, Herr Binninger, zum Beispiel die Rolle desGeneralbundesanwaltes stärken. Es ist sinnvoll, dass derGeneralbundesanwalt in Zukunft eine größere Entschei-dungskompetenz erhält für den Fall, dass sich die Staats-anwaltschaften der Länder nicht über Verfahrensabgabeneinigen können. Wir stellen auch sicher, dass Rassismusals Motiv einer Tat zukünftig stärker berücksichtigtwird. Bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus wer-den Sie uns an Ihrer Seite haben.
Meine Damen und Herren, das waren nur einige we-nige Punkte aus unserem Arbeitsprogramm. Wir habenuns viel vorgenommen. Dazu gehören auch der Kampfgegen Menschenhandel und die rasche Umsetzung derentsprechenden EU-Richtlinie oder die Einrichtung desSachverständigenrates für Verbraucherfragen. Auchbeim Urheberrecht sind wichtige Entscheidungen nichtlänger aufschiebbar.
– Das freut mich. – Ich freue mich auf die Zusammen-arbeit.Schönen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister. – Auch ein Bundesjustiz-minister hält hier einmal seine erste Rede. Das darf manauch einmal erwähnen. Ich bin mir sicher, dass er hiernoch viele Reden halten wird.
Gestatten Sie mir, bevor wir wieder zur Tagesordnungkommen, noch einen Hinweis aufgrund der Erfahrungender stattgefundenen Debatten. Der eine oder andere Red-ner hat sich wohl mehr an die gefühlte Redezeit gehaltenals an die, die zwischen den Parlamentarischen Ge-schäftsführern vereinbart worden ist. Ich bitte zumindestfür den folgenden Teil der Aussprache, die vereinbartenRedezeiten einzuhalten, nachdem die Zeit am heutigenTag schon sehr fortgeschritten ist. Ich bin mir sicher,dass das alle Kolleginnen und Kollegen beachten werdenund darf jetzt der Kollegin Halina Wawzyniak für dieFraktion Die Linke das Wort erteilen.
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794 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Herr Bundesjustizminister! Mein Kollege Korte hat
eigentlich schon alles zur Vorratsdatenspeicherung ge-
sagt. Sie arbeiten an einem entsprechenden Gesetz-
entwurf. Werfen Sie ihn in den Papierkorb, und lassen
Sie ihn dort liegen! Dahin gehört er nämlich.
Die dadurch gewonnene Zeit sollten Sie sinnvoll nutzen,
zum Beispiel indem Sie einen Gesetzentwurf für mehr
direkte Demokratie auf Bundesebene vorlegen. Es ist an
der Zeit für Volksbegehren, Volksinitiativen und Volks-
entscheide. An diesen sollen sich auch Menschen beteili-
gen können, die seit fünf Jahren hier leben. Wir machen
es Ihnen einfach: Sie können, wenn wir Ihnen demnächst
einen Gesetzentwurf dazu vorlegen, gerne von Copy-
and-Paste Gebrauch machen.
Sie könnten auch den Vorschlag der schleswig-hol-
steinischen Justizministerin aufnehmen und gemeinsam
mit den Justizministerinnen und Justizministern der Län-
der über eine Bereinigung des Strafrechts von NS-Tatbe-
ständen nachdenken. Das ist überfällig. Der Deutsche
Anwaltverein hat hierzu vorzügliche, nachdenkenswerte
Vorschläge unterbreitet. Schauen Sie sich die doch bitte
einmal an!
Das wäre allemal sinnvoller, als unsinnige Projekte vo-
ranzutreiben wie zum Beispiel das Fahrverbot als Haupt-
strafe. Dieses Fahrverbot ist nicht nur politisch unsinnig;
es gibt auch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken
gegen eine solche Regelung. Deswegen, Herr Maas:
Lassen Sie die Finger davon!
Weil wir gerade bei „Finger davon lassen“ sind: Die
Idee einer nachträglichen Therapieunterbringung ist
ebenfalls ein solcher Fall. Sie kennen sicherlich den of-
fenen Brief, in dem Wissenschaftler, Strafverteidiger,
Bewährungshelfer und Kriminologen detailliert aufzei-
gen, warum eine nachträgliche Therapieunterbringung
europarechtlich und verfassungsrechtlich Unsinn und
deshalb abzulehnen ist.
Ich kann Ihnen diesen Brief nur dringend empfehlen; ich
stimme ihm vollumfänglich zu. Deswegen: Treten Sie
diese Idee einfach in die Tonne!
Sie haben vorhin gesagt, Sie arbeiten an einem Gesetz
zur sogenannten Mietpreisbremse. Nun wird diese Miet-
preisbremse im besten Fall ein Mietpreisbremschen. Sie
suggerieren eine Lösung, die aber nur dann eine werden
kann, wenn die Bundesländer mitspielen. Diese müssen
nämlich eine Ermächtigung dafür schaffen, dass die
Miete auf maximal 10 Prozent über der ortsüblichen
Vergleichsmiete beschränkt wird, wenn eine Wohnung
wiedervermietet wird. Sie wollen die Regelung zudem
auf fünf Jahre beschränken, und sie soll nur gelten, wenn
der lokale Wohnungsmarkt angespannt ist.
Das sind lauter Wenn-Regelungen. Was, wenn nicht?
Dann haben Millionen Mieterinnen und Mieter noch im-
mer das Problem viel zu hoher Mietkosten. Statt „wenn“,
„falls“ und „vielleicht“ brauchen die Menschen klare
und verbindliche Ansagen. Wir wollen unter anderem,
dass eine Mieterhöhung bei Wiedervermietung ohne
Wohnwertverbesserung nur im Rahmen des Inflations-
ausgleichs möglich ist. Das wäre wenigstens ein Anfang.
Auch hierzu werden wir Ihnen in Kürze einen Vorschlag
vorlegen; auch in diesem Fall ist Copy-and-Paste aus-
drücklich erlaubt.
Weil wir gerade bei Copy-and-Paste sind: Das dürfen
Sie auch bei unserem Gesetzentwurf zur Abschaffung
der Störerhaftung im Internet machen. Das ist nämlich
ebenso erforderlich wie eine gesetzliche Festschreibung
der Netzneutralität. Auch das Urheberrecht ist an das di-
gitale Zeitalter anzupassen; Sie haben es selbst ange-
sprochen. Die Kreativen müssen von ihrer Arbeit leben
können. Gleichzeitig müssen die Nutzerinnen und Nut-
zer einen Zugang zu Wissen und Kultur haben. Wir ha-
ben in der letzten Legislaturperiode einen hervorragen-
den Gesetzentwurf zum Urhebervertragsrecht vorgelegt.
Auch hier ist Copy-and-Paste ausdrücklich erlaubt.
Ich habe die Redezeit eingehalten.
Danke schön.
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Disziplin und
bitte die anderen, das nachzuahmen.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Thomas
Silberhorn, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bundesminister Maas hat bereits einige wichtigeProjekte vorgestellt, die wir in dieser Legislaturperiodegemeinsam angehen wollen. Gestatten Sie mir dazu nurzwei kurze ergänzende Anmerkungen:Sicherlich gehört das, was wir im Koalitionsvertragzur Behebung des Wohnungsmangels beschlossen ha-ben, zu den dringlichsten Vorhaben. Eine Mietpreis-bremse ist hier ein wichtiges Instrument. Sie kann abernur den weiteren Anstieg der Mieten abschwächen; dasProblem lösen kann sie nicht. Wir brauchen also auchmehr Wohnraum. Daher haben wir uns im Koalitionsver-trag darauf verständigt, dass wir den Wohnungsbau stär-ken wollen. Ein größeres Angebot an Wohnungen wirktüberzogenen Mietpreisen am ehesten entgegen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014 795
Thomas Silberhorn
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Wir stehen auch zu den Vereinbarungen zur Frauen-quote und setzen sie um.
Ich will allerdings nicht verhehlen, dass es mir persön-lich lieber wäre, wenn erst gar kein Handlungsbedarf fürden Gesetzgeber entstünde.
Die Wirtschaft und die Tarifparteien sind aufgerufen,ihre Hausaufgaben zu machen.
Das gilt für die Frauenquote, aber auch für ein angemes-senes Entgelt.
Soweit die Tarifparteien ihre Angelegenheiten selbst an-gemessen regeln, muss der Gesetzgeber gar nicht tätigwerden.
Wenn sie es aber nicht tun, dann greifen wir ein.
Lassen Sie mich drei Kernpunkte ansprechen, die fürdie Rechtspolitik von strategischer Bedeutung sind unddie wir aus meiner Sicht zügig anpacken sollten: Erstens.Wir müssen den Opferschutz weiter verbessern. Zwei-tens. Wir müssen Recht und Ordnung aufrechterhalten.Drittens. Wir müssen Strafbarkeitslücken im digitalenRaum schließen.
Für den Opferschutz brauchen wir eine großzügigereRegelung der strafrechtlichen Verjährung bei sexuellemMissbrauch.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode für alle Sexu-alstraftaten den Beginn der Verjährung vom 18. auf das21. Lebensjahr verschoben. Das war richtig, aber dasreicht uns nicht.
Sie und wir wollten schon in der letzten Legislaturpe-riode mehr. Jetzt haben wir die Gelegenheit, das umzu-setzen. Die Opfer von sexueller Gewalt sind nämlich ofttraumatisiert und brauchen Jahre, manchmal sogar Jahr-zehnte, bis sie überhaupt über das Geschehene redenkönnen. Deshalb müssen wir dieser besonderen Belas-tung der Opfer bei sexuellem Missbrauch Rechnung tra-gen und dafür sorgen, dass die Täter ihrer gerechtenStrafe nicht länger entgehen können.
Wir müssen auch den Stalking-Paragrafen präzisie-ren. Wir verzeichnen eine wachsende Anzahl an Strafan-trägen aufgrund von Stalking, aber nur eine geringe An-zahl an Verurteilungen. Das liegt daran, dass erstermittelt werden muss, ob das Opfer, dem jemand nach-stellt, dadurch in seiner Lebensgestaltung schwerwie-gend beeinträchtigt wird. Dieses Kriterium ist aber ob-jektiv kaum überprüfbar, und zudem zählen psychischeBelastungen hier nicht mit. Wir müssen künftig eine Be-strafung ermöglichen, ohne dass das Opfer erst umgezo-gen sein muss oder Ähnliches. Für die Strafbarkeit solltees deshalb ausreichen, dass die Lebensgestaltung nichttatsächlich schwerwiegend beeinträchtigt wird, sonderndass das Nachstellen geeignet ist, die Lebensgestaltungdes Opfers zu beeinträchtigen.Meine Damen und Herren, es ist ein großer Fort-schritt, dass wir uns im Koalitionsvertrag darauf verstän-digt haben, ein Angehörigenschmerzensgeld einzufüh-ren. Deutschland ist eines der wenigen Länder inEuropa, das bislang kein Angehörigenschmerzensgeldkennt. Natürlich kann Geld niemals einen menschlichenVerlust aufwiegen. Es ist aber auch nicht das Ziel desAngehörigenschmerzensgeldes, einen solchen Ausgleichzu verschaffen. Die Entschädigung soll ausdrücken, dassdas seelische Leid, das den Angehörigen zugefügtwurde, anerkannt wird und dass die Rechtsgemeinschaftmit den Betroffenen solidarisch ist. Das werden wir um-setzen.
Um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, müssenwir Menschenhandel und auch Zwangsprostitution ge-zielt bekämpfen. Der Handel mit der Ware Mensch isteine der schlimmsten Formen moderner Sklaverei.Durch die Zulassung der Prostitution wurde auch dieKontrolle in diesem Bereich eingeschränkt, was derZwangsprostitution offenkundig Vorschub geleistet hat.Straftaten sind schwer nachweisbar, zumal die Opfer oftbedroht und eingeschüchtert werden. Wir müssen die be-troffenen Frauen besser vor Gewalt und vor Zwangspro-stitution schützen. Die Verfolgung der Täter darf nichtdavon abhängen, dass sich die Opfer zu einer Aussagebereitfinden, obwohl sie bedroht werden. Das werdenwir im Zuge der Umsetzung des Koalitionsvertrages än-dern.
Wir sollten auch Polizisten und Einsatzkräfte besserschützen. Sie halten für uns den Kopf hin, wenn esbrenzlig wird. Wir haben bereits in der letzten Wahlpe-riode dafür gesorgt, dass Widerstand gegen Polizeibe-amte strenger bestraft werden kann. Die Entwicklungder Gewalt gegen Polizisten und Einsatzkräfte ist aberweiterhin alarmierend. Bei der Demonstration für denErhalt des Kulturzentrums „Rote Flora“ in Hamburgwurden Ende letzten Jahres mehr als 80 Polizisten ver-
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796 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 11. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2014
Thomas Silberhorn
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letzt. Immer wieder gibt es Aufrufe im Internet zur Ge-walt gegen die Polizei. Hier muss die Polizei konsequentdurchgreifen, wie das in Hamburg zu Recht geschehenist. Aber auch der strafrechtliche Schutz von Polizeibe-amten und Einsatzkräften muss weiter verbessert wer-den.
Wir müssen auch die organisierte Kriminalität aus-trocknen. Wirtschaftskriminalität verursacht jedes Jahreinen immensen Schaden für unsere Volkswirtschaft.Wir müssen insbesondere dem kriminellen Treiben vonGeldwäschern entschieden entgegentreten. Wir werdendeshalb die Möglichkeit schaffen, Vermögen und Bar-geld, das mutmaßlich krimineller Herkunft ist, leichtereinzuziehen. Wir wollen nicht die Kleinen hängen unddie Großen laufen lassen, sondern die Großen hängenund die Kleinen auch nicht laufen lassen.Schließlich müssen wir die digitalen Herausforderun-gen in der Rechtspolitik annehmen. Es gibt im digitalenRaum Strafbarkeitslücken, die wir schließen müssen, da-mit unsere Rechtsordnung für das 21. Jahrhundert fitwird. Wir wissen um die dramatische Wirkung vonStraftaten über das Internet, beispielsweise bei Cyber-mobbing. Die Dimension von Mobbing wird in sozialenNetzwerken um ein Vielfaches verstärkt. MehrereSelbstmorde von Jugendlichen zeigen, dass wir auch inder digitalen Welt die Rechtsordnung durchsetzen müs-sen.Ein Letztes. Die Richtlinie der Europäischen Unionzur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs und der sexuel-len Ausbeutung von Kindern hätte bereits am 18. De-zember letzten Jahres umgesetzt sein müssen. Es ist keinRuhmesblatt, dass eine Richtlinie, die dem Schutz derSchwächsten in unserer Gesellschaft dient, nicht fristge-recht umgesetzt worden ist.
Bundesminister Maas trägt dafür keine Verantwortung,seine Vorgängerin aber schon.
Deswegen zähle ich darauf, dass wir diese EU-Richtliniejetzt schnell umsetzen können.Wir haben viele und bedeutende Aufgaben vor uns.Ich freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeitder Rechtspolitiker in dieser Großen Koalition.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister Maas, zu-nächst möchte ich Ihnen von dieser Stelle aus zu Ihremneuen Amt ganz herzlich gratulieren. Die Justiz ist nichteinfach nur eines von 14 Ministerien dieser Regierung.Neben der Gesetzgebung und der Regierung ist sie alsdritte Gewalt die tragende Säule unseres demokratischenRechtsstaates. Wenn hier alles glattläuft, dann halten dasdie Bürgerinnen und Bürger schnell für selbstverständ-lich. Aber wehe, das Vertrauen in den Rechtsstaatkommt ins Wanken. Dann ist die Grundlage unseresfriedlichen Zusammenlebens schnell in Gefahr.In den Krisenregionen von Libyen über Somalia bisnach Afghanistan wissen die Menschen oft besser alswir: Gerechtigkeit und Frieden gehören zusammen undbedingen einander. Ich freue mich daher, im Koalitions-vertrag zu lesen, dass Sie die Initiative „Law – Made inGermany“ stärken und weiterentwickeln wollen. Dabeikönnen Sie mit unserer grünen Unterstützung rechnen.
Aber auch hier bei uns gilt es, das Vertrauen der Bür-ger in den Rechtsstaat immer wieder neu zu gewinnen.Dabei ist vor allem der Zugang zum Recht eine Schlüs-selvoraussetzung. Zum 1. Januar 2014 trat das neue Pro-zesskostenhilfe- und Beratungshilferecht in Kraft, mitdem die Voraussetzungen der staatlichen Kostenhilfeverschärft werden. Damit soll angeblicher Missbrauchbekämpft werden, obwohl die staatliche Kostenhilfe ge-rade einmal 5 Prozent der Gesamtkosten der Justiz aus-macht und Deutschland im europäischen Vergleich weitunter den durchschnittlichen Pro-Kopf-Kosten liegt. Dasvon Ihrem Ministerium vorgelegte Formular ist nun län-ger und komplizierter. Gerade Hartz-IV-Empfänger sol-len ihre Bedürftigkeit nicht mehr allein durch die Vor-lage des Leistungsbescheides nachweisen können.Warum eigentlich? Ist ihre Bedürftigkeit nicht bereitsausreichend geprüft worden? Bitte denken Sie bei derweiteren Ausgestaltung der Verfahren daran, wie wichtiges für uns alle ist, dass auch die Ärmeren unter uns ihreAnliegen der staatlichen Gerichtsbarkeit anvertrauenund nicht aus Frust dazu übergehen, die Dinge selbst indie Hand zu nehmen; denn das wäre am Ende immer dieteuerste Alternative – für alle.
Dann gibt es da noch eine Berufsgruppe, die für denZugang zum Recht von besonderer Bedeutung ist: dieAnwältinnen und Anwälte vor Ort in den kleinen Kanz-leien, sozusagen die Hausärzte des Rechtssystems. Trotzder unveränderten Haftungsrisiken verdienen die Einzel-anwälte durchschnittlich gerade noch 1 500 Euro netto.Das werden auch die Idealisten unter ihnen nicht mehrlange durchhalten. Wir können aber die Rechtsuchendenauf dem Lande langfristig nicht auf die großen Wirt-schaftskanzleien in der nächsten Metropole verweisen.
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Auch das würde den Zugang zum Recht und damit dasVertrauen in den Rechtsstaat erheblich erschüttern.
Aber auch bei der Frage der Gerichtsbarkeit sehe icheine Gefahr auf unseren Rechtsstaat zukommen. In Ih-rem Koalitionsvertrag steht:Wir wollen das Rechtsprechungsmonopol des Staa-tes stärken.Das ist gut. Wie wollen Sie aber damit in Einklang brin-gen, dass künftig im Rahmen des Transatlantischen Frei-handelsabkommens internationale Konzerne vor eineminternationalen Schiedsgericht gegen unsere Gesetzeklagen und den deutschen Gesetzgeber aushebeln kön-nen?
Hier sind Sie als Bundesjustizminister gefordert. Ver-hindern Sie, dass Streitigkeiten mit internationalen Kon-zernen demnächst nicht mehr vor deutschen Gerichtenausgetragen werden! Verhindern Sie, dass wenige ausge-wählte Wirtschaftsanwälte als Richter von Schlichtungs-kammern den sogenannten Investorenrechten Vorrangvor unserer Gesetzgebung einräumen, ohne dass es da-gegen eine Berufungsmöglichkeit gibt!Wir Grünen halten außerdem die Aussetzung der Ver-handlungen zu diesem Abkommen für unabdingbar, so-lange uns nicht einmal ein Mindestmaß an Datenschutzvon der anderen Seite des Atlantiks garantiert wird. Frei-handel und Wirtschaftsspionage passen nicht zusammen.Es tut sogar der Opposition weh, zu sehen, wie hilflosdie Bundesregierung auf diese Rechtsverstöße reagiert.Ärgerlich wird es, wenn der einzige Deutsche, der kon-krete Ermittlungen einleiten könnte, sich das seit Mona-ten nicht traut. Der Generalbundesanwalt unterliegt IhrerWeisung. Wenn er jetzt nicht bald in Gang kommt, fälltdas irgendwann auf Sie zurück.
Es ist bitter, erkennen zu müssen, dass niemand in Eu-ropa der NSA technologisch Paroli bieten kann. Solangesich daran nichts ändert, sollten wir möglicherweisenoch einmal neu über die zwingende, das heißt aus-schließlich elektronische Gerichtspost ab 2022 nachden-ken. Wir sollten ehrlich sein: Keine Anwaltskanzlei undkein deutsches Gericht kann den Rechtsuchenden bei di-gitalen Schriftsätzen derzeit den erforderlichen Vertrau-ensschutz vollständig garantieren.
Diesem Vertrauensschutz droht weiteres Ungemach.Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom2. März 2010 entschieden, dass Telekommunikationsda-ten von zu Verschwiegenheit verpflichteten Berufsgruppenkeinesfalls im Rahmen einer Vorratsdatenspeicherungübermittelt werden dürfen. Das ist ein verfassungsrecht-liches Gebot.Unabhängig davon, wie das Urteil des EuGH zur Vor-ratsdatenspeicherung ausgeht, ist eine Übermittlung undNutzung gespeicherter Daten schon aus verfassungs-rechtlichen Gründen immer unter Richtervorbehalt zustellen. So wie man nicht auf Vorrat übermitteln und nut-zen darf, so darf man auch nicht auf Vorrat speichern.
Der Begriff Vorrat passt nicht zu einem Rechtsstaat.Er übermittelt nicht auf Vorrat, hört nicht auf Vorrat abund sammelt auch nicht auf Vorrat. Unser Rechtsstaatbraucht keine Vorratsdatenspeicherung.
Sie haben aber noch viel nettere Projekte, die Sieschnell und unkompliziert werden angehen können, zumBeispiel im Aktienrecht. Sie haben es angesprochen. DieFrauenquote für die Aufsichtsräte ist überfällig undsollte nicht länger auf sich warten lassen. Die Mieterin-nen und Mieter in den Ballungsräumen warten darauf,dass Sie endlich die Mietpreisbremse bei Neuvermietungeinführen.Bei der Prostitution müssen wir nicht nur im Gewer-berecht nachsteuern, sondern auch Opfern von Men-schenhandel besseren Schutz gewähren.
Noch eine gute Idee: Wie ist es denn mit der Karenz-zeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder? Nachdemzunächst einige meinten, man bräuchte dazu keine ge-setzliche Regelung, hat sich zum Glück doch noch derjuristische Sachverstand durchgesetzt.Zu alledem sind Sie jetzt auch federführend für denVerbraucherschutz zuständig. Das finden wir richtig. Dermündige Bürger des BGB und der schutzbedürfte Ver-braucher sind eben doch ein und dieselbe Person. HabenSie in den letzten Jahren schon mal ernsthaft den Ver-such unternommen, Ihre Telefonrechnung nachzuvoll-ziehen? Da kann man auch als mündiger Bürger wütendwerden. Nicht umsonst spielen die Telekommunika-tionsverträge bei Verbraucherinsolvenzen eine erschre-ckende Rolle, und das, obwohl Telefonieren in den letz-ten 20 Jahren doch eigentlich billiger geworden ist.Da ist es in der Tat eine staatliche Aufgabe, denmarktbeherrschenden Konzernen die roten Linien aufzu-zeigen. Dazu gibt Ihr Koalitionsvertrag leider nicht vielher: keine Ausweitung der Verbraucherinformations-rechte und keine Einführung der Gruppenklage. Egal obim Finanzmarkt, beim Onlinehandel, bei Bewertungendurch den ADAC oder die Schufa – überall dort würdendiese Instrumente weiterhelfen.Sie sind sich mit Ihrem Kabinettskollegen noch nichteinmal einig, dass das Verbraucherinformationsgesetz inIhren Zuständigkeitsbereich fällt. Die Auskunftsrechteder Verbraucher sind eine zentrale Säule des Verbrau-cherschutzes und sollten sich gerade nicht auf Lebens-
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mittel beschränken. Lassen Sie sich hier also nicht vomLandwirtschaftsminister die Butter vom Brot nehmen.
Und lassen Sie sich von einem schwachen Koalitions-vertrag nicht abhalten, trotzdem sinnvolle Gesetze aufden Weg zu bringen. Wenn Sie eine gute Idee brauchen,können Sie gerne die Opposition fragen.Vielen Dank.
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Keul, auch für die
präzise und disziplinierte Einhaltung der Redezeit. – Ich
darf jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß, SPD, bit-
ten.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Herr Minister! Die Verbraucherpolitik gehört zu
den Bereichen, in denen es die größten Neuerungen ge-
ben wird. Damit meine ich weniger die neue Ressortauf-
teilung. Ich meine damit: Die Verbraucherpolitik wird
auf eine neue Basis gestellt. Das gilt unabhängig davon,
ob es sich um Lebensmittel, um die digitale Welt oder
um Finanzdienstleistungen handelt.
Der mündige Verbraucher, der gerade angesprochen
worden ist, ist ein Ideal. Er ist nicht die Realität. Die
Verhaltensforschung zeigt, dass wir alle als Verbrauche-
rinnen und Verbraucher häufig nicht rational entschei-
den, sondern von vielen unterschiedlichen Faktoren be-
einflusst werden. Fragen Sie sich doch einmal selbst!
Nicht umsonst setzt die gesamte Werbebranche auf
Emotionen und Stimmungen.
Die neue verbraucherpolitische Basis, das sind die re-
alen, die konkreten Menschen mit ihren verschiedenen
Interessen und Bedürfnissen. Gute Verbraucherpolitik
muss ihre unterschiedlichen Voraussetzungen und Ver-
haltensweisen berücksichtigen. Die Erkenntnisse der
Verbraucherforschung sollen in Zukunft starken Einfluss
auf Gesetzesvorhaben und Regelungen haben. Ich be-
grüße sehr, dass eine der ersten Maßnahmen des neuen
Verbraucherministers die Einrichtung eines Sachverstän-
digenrats für Verbraucherfragen sein wird.
Wichtig ist aber, dass sich dieser Rat aus unabhängigen
Experten und Wissenschaftlern interdisziplinär zusam-
mensetzt und die juristische Perspektive um Erkennt-
nisse aus zum Beispiel Soziologie, Politologie und Ver-
haltensforschung ergänzt. Der Sachverständigenrat soll
zu wichtigen Verbraucherfragen und Teilmärkten Gut-
achten abgeben und Vorschläge zur Forschungsförde-
rung erarbeiten.
Durch das Nutzen der Ergebnisse der Verbraucherfor-
schung zur Entwicklung von effektiveren und effiziente-
ren Politikinstrumenten wird die Verbraucherpolitik bes-
ser werden. Das wird direkt bei den Menschen
ankommen und ihren Alltag erleichtern. Darauf freue ich
mich und werde gerne daran mitwirken.
Vielen Dank.
Genauso großes Lob für die Disziplin. – Jetzt erteile
ich das Wort der Kollegin Caren Lay für die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Justizminister ist neuerdings auch der Ver-braucherminister. Ich kann Ihnen sagen: Nach den vierJahren der letzten Legislaturperiode, wo die Verbrau-cherpolitik so eine Art unwichtiger Anhang der Land-wirtschaftsministerin war, klingt das zunächst vielver-sprechend. Wenn wir uns die Details allerdings ansehen,dann stellen wir fest, dass das ganz schön ernüchterndist. Es beginnt damit, dass Sie das Themengebiet Ver-braucherpolitik im Grunde einmal in der Mitte durch-schneiden und es damit faktisch spalten. Wir haben hierden gesundheitlichen Verbraucherschutz. Wir haben aneiner anderen Stelle den wirtschaftlichen Verbraucher-schutz. Ich kann nur sagen: Damit ist das Thema Ver-braucherpolitik verhackstückt statt gestärkt.
Die entscheidende Frage lautet natürlich: WelcheKonsequenzen hat das in der Realität? Das heißt bei-spielsweise, dass der nächste Lebensmittelskandal dannvom Landwirtschaftsminister und nicht vom Verbrau-cherminister aufgeklärt wird. Wie absurd ist das denn?Genau hier wäre doch die Chance gewesen, dafür zu sor-gen, dass die Interessenvertretung der Landwirtschaftund der Lebensmittelwirtschaft auf der einen Seite undder Aufklärungswille im Interesse der Verbraucherinnenund Verbraucher auf der anderen Seite strukturell ge-trennt werden. Das wäre eine historische Chance gewe-sen. Sie haben sie leider verpasst.Es kommt noch dicker, wenn wir davon ausgehen,dass die Zuständigkeit für das Verbraucherinformations-gesetz Pressemeldungen zufolge federführend beimLandwirtschaftsministerium bleiben soll. Das ist einesder ganz zentralen Instrumente der Verbraucherpolitik.Es geht darum, dass die Bürgerinnen und Bürger einAuskunftsrecht gegenüber Behörden und – wenn es nachuns geht – auch gegenüber Unternehmen haben.Es kann doch wirklich nicht sein, dass dieses zentraleGesetzesinstrument federführend beim Landwirtschafts-ministerium bleiben soll. Ich sage: Wer den Verbraucher-schutz stärken will, der muss verantwortlich für diesesGesetz sein, und der muss dieses Gesetz reformieren.Meine Damen und Herren, darauf wird es auch in dieserLegislatur ankommen.
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Caren Lay
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Bis jetzt, so scheint es mir, ist im Detail schlecht ver-handelt worden. Ich hoffe sehr, dass Sie hier nachver-handeln können. Denn wenn das nicht gelingt, dann blei-ben Sie in Bezug auf die Verbraucherpolitik leider einSchmalspurministerium. Und das können wir gemein-sam nicht wollen.
Ich habe mich gefreut, dass Sie die Mietpreisbremseangesprochen haben. Auch wir als Fraktion die Linkewollen die Mietpreisbremse. Aber dann muss es aucheine sein, die ihren Namen verdient. Bitte, verhindernwir gemeinsam, dass es sich hierbei nicht um Etiketten-schwindel handelt!
Es gibt ein ganz wichtiges Thema im Interesse derVerbraucherinnen und Verbraucher, das heute noch nichtangesprochen wurde, das ist die Deckelung der Dispo-zinsen. Wir, SPD, Grüne und Linke, haben in der letztenLegislatur gemeinsam dafür gekämpft. Es ist ja auchnicht sehr einleuchtend: Die verschuldeten Banken be-kommen ihr Geld für 0,5 Prozent Zinsen; die verschul-deten Verbraucher bezahlen 12,5 Prozent, wenn sie imDispo stecken. Das ist logischerweise ungerecht.Dieses Thema hat leider keinen Eingang in den Koali-tionsvertrag gefunden. Das halte ich für falsch. Ich kannSie nur auffordern: Bereiten Sie diesem wirklich unan-gemessenen Treiben der Banken ein Ende, und setzenSie dem Dispo an dieser Stelle einen Deckel auf.
Ein weiterer Punkt: Wer einmal eine Verbraucherzen-trale von innen gesehen hat, der weiß, dass vor allenDingen ältere Menschen in die Verbraucherzentralenkommen, und ein ganz wichtiges Thema ist, dass ihnenam Telefon unseriöse Verträge untergeschoben wurden.Wir haben in der letzten Legislatur auch gemeinsam fürdie Lösung durch eine schriftliche Bestätigung gestrit-ten. Sie hatte auch Eingang in den Koalitionsvertrag ge-funden, aber auf den letzten Metern wurde sie – aus wel-chen Gründen auch immer – herausgestrichen. Das findeich sehr schade. Bitte setzen Sie sich für eine Bestäti-gungslösung bei Telefonverträgen ein!
Zu guter Letzt, meine Damen und Herren: In der letz-ten Legislatur war es fast immer so – und dass das auchheute so ist, ist vielleicht kein Zufall –, dass wir dasThema Verbraucherschutz im Schutze der Dunkelheitdiskutiert haben. Das sagte einiges über den geringenStellenwert aus, den die Vorgängerregierung dem Themabeigemessen hat. Ich hoffe sehr, dass wir dieses Themagemeinsam ins Licht führen können. Die Verbraucherin-nen und Verbraucher würden es uns danken.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AmAnfang meiner Rede möchte ich die besten Wünscheder CDU/CSU-Fraktion an den Minister und die übrigeHausspitze, an die Parlamentarischen Staatssekretäre,die heute hier sind, richten. Ich denke, wir haben – sohabe ich es jedenfalls unseren ersten Gesprächen ent-nommen – einen konstruktiven Ansatz, eine positive He-rangehensweise an die Rechtspolitik gefunden. Deshalbfreue ich mich auf die Zusammenarbeit. Ich denke, dasswir da auch einiges schaffen werden. Denn wir habenuns in der Tat sehr viel vorgenommen.Wir stehen nicht nur am Beginn der Legislaturpe-riode, sondern auch eines besonderen Jahres, in dem wiruns an viele besondere Ereignisse des letzten Jahrhun-derts erinnern: 100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 JahreZweiter Weltkrieg, 25 Jahre friedliche Revolution. Vorallem die beiden Ereignisse, die ich zuletzt genannthabe, führen uns den Wert des Rechtsstaats noch einmalbesonders vor Augen. Sie zeigen, welches Unrecht undLeid es bedeutet, wenn es keinen Rechtsstaat gibt. Siezeigen, was Menschen auf sich nehmen, welche Risikensie auf sich nehmen, um wieder einen Rechtsstaat zu er-kämpfen.
Dies zeigt aber auch ein Blick in die Gegenwart, zumBeispiel in die Ukraine. Der Oppositionsführer Klitschkowurde vor einiger Zeit gefragt: Was ist denn schwieriger,Politik in der Ukraine oder Boxen? – Er hat gesagt: Ganzklar, Politik in der Ukraine; denn da gelten keine Re-geln. – Die Menschen dort kämpfen gerade für solcheRegeln, für eine politische Machtverteilung und für ihrepersönliche Sicherheit, weil ihnen der Staat dies ebennicht gewährt. Sie riskieren Leib, Leben und Gesund-heit, damit ihnen diese Bürgerrechte gewährt werden.Bei einer Reise nach Uganda habe ich vor einiger Zeitkennengelernt, was es heißt, wenn es kein Katasteramtgibt. Wenn es kein Grundbuchamt gibt, gibt es dort auchkeine Investitionen. Wo Kinder keinen Namen haben,der bei einer Behörde gemeldet ist, sind die Kinder ihresLebensrechts nicht sicher. Das zeigt, dass das vermeint-lich so trockene Recht doch ganz relevante Auswirkun-gen auf das tägliche Leben der Menschen hat; denn esbietet den Rahmen, in dem sich Entwicklungen ge-schützt vollziehen können. Deshalb sollten wir froh undstolz sein, dass wir uns mit dem Recht, dieser wichtigenGrundlage und den Regeln unseres Zusammenlebens,beschäftigen.
Deshalb ist uns dieser Rechtsstaat so wichtig. Wirwissen, dass er nicht eine statische Veranstaltung ist, die
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einmal geschaffen worden ist und dann immer so bleibt;der Rechtsstaat muss vielmehr weiterentwickelt werden,er muss an technische Entwicklungen und Verfahrensän-derungen angepasst werden, und es muss Änderungenim materiellen Recht geben. Diese Aufgabe müssen wirso wahrnehmen, dass sich die Bürger mit ihren Anliegenin ihrem Alltag, mit den Konflikten, die sie haben, sei esim öffentlichen Recht, sei es im privaten Recht, auchwiederfinden. Sie müssen erkennen, dass wir ihre Anlie-gen aufgreifen, Regeln schaffen und diesen zur Geltungverhelfen, damit dieser Rechtsstaat ihnen, den Bürgern,dient.Eine der ersten Voraussetzungen dafür ist eine guteund funktionsfähige Justiz. Das fängt bei dem Zivilpro-zess an, der erst garantiert, dass man seine privatenRechtsansprüche durchsetzen kann, das gilt aber auchfür die Abwehr von unberechtigten Eingriffen des Staa-tes im öffentlichen Recht oder im Strafrecht. Dieser Jus-tizapparat muss gepflegt und unterstützt werden. Dasfängt bei einer guten Ausbildung an und geht hin bis zueiner guten Besoldung. Das sage ich ganz bewusst alsRichterin, die ich vor dem Einstieg in die Politik war; ichsehe, dass nicht immer die Wertschätzung erfolgt, diedem Beruf entgegengebracht werden müsste.Wir haben auch einige Veränderungen vorgesehen,um eine Effizienzsteigerung bei den Verfahren zu errei-chen. Ich möchte hier nur wenige nennen. Die Digitali-sierung muss auch in der Justiz noch deutlicher genutztwerden. Sie bietet Chancen, wir müssen aber auch jetztden Blick dafür schärfen, welche Gefahren damit ver-bunden sind. Ich denke, es wird trotz der Gefahren einweites Anwendungsfeld geben. Die meisten Verfahrensind öffentlich. Es wird nicht in dem Maße auf Schutzankommen wie in geheimen Verfahren. Die Leute müs-sen sich aber auch des Risikos bewusst sein, dass etwasnicht vertraulich behandeln werden könnte. Wir müssenuns die Frage stellen, ob man eine Pflicht dafür aufrecht-erhalten soll.Eine wichtige Verbesserung ist die Stärkung des Ad-häsionsverfahrens. Es geht dabei um die Durchsetzungprivater Rechtsansprüche im Strafprozess, für die mandie Voraussetzungen nicht einfach nachweisen kann. Dasoll demnächst helfen, dass im Strafverfahren Feststel-lungen getroffen werden, die man auch zur Durchset-zung des privaten Rechtsanspruchs braucht.Ich denke aber auch, dass im Strafverfahren vielesneu geregelt werden muss. Vieles ist einfach eklatant un-gerecht. Oft schüttelt man den Kopf, wenn sich Befan-genheitsanträge aneinanderreihen, die dazu führen, dassVerurteilungen nicht mehr möglich sind, man ist er-staunt, zu sehen, dass Verfahren anscheinend miss-bräuchlich verzögert werden. Stattdessen muss wiedermehr im Mittelpunkt stehen, zu klären, welche Schuldanzuklagen und welche Strafe angemessen ist. Die Ver-fahrensmätzchen müssen wieder in den Hintergrund ge-drängt werden.
Es muss uns besorgt machen, wenn, wie Studien zei-gen, Anklagevertreter und angeklagte Manager undUnternehmen, die hochspezialisierte und oft gut bezahlteAnwälte haben, nicht mehr auf gleicher Augenhöheagieren, sondern die Anklagevertreter in der schwäche-ren Position sind. Wir haben auch im materiellen Rechtetliche Punkte auf der Agenda; zahlreiche wurden vomMinister und von meinen Vorrednern schon angespro-chen. Ich möchte ausdrücklich betonen: Das ist eine ge-meinsame Agenda. Die Aspekte, die sie angesprochenhaben, sind im Koalitionsvertrag enthalten und liegenauch uns am Herzen, angefangen von der Mietpreis-bremse über Regelungen im Aktienrecht bis hin zuRegelungen bei der Zwangsprostitution. Was die Miet-preisbremse angeht, sage ich ganz klar: Eine solcheRegelung ist vor allem dann in der Realität sinnvoll,wenn man weiterhin Anreize zum Wohnungsbau schafft.
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Ver-braucherschutz jetzt einen ganz starken Platz im Rechts-ausschuss wie auch im Justizministerium einnimmt. Ichmöchte allerdings, liebe Elvira Drobinski-Weiß, nocheinmal auf den mündigen Verbraucher eingehen. Dermündige Verbraucher ist ganz klar der, der unseremMenschenbild entspricht.
Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, darf ich an Ihre
Redezeit erinnern?
Ja, das dürfen Sie. Ich komme zum Schluss.
Ich zitiere unsere Ausschussvorsitzende, die hier
heute nicht zu Wort kommt. Sie hat gesagt: Verbraucher-
schutz ist eigentlich zu eng gefasst. Wir brauchen Ver-
braucherpolitik, die nicht davon ausgeht, dass wir den
Verbraucher unter die Käseglocke setzen; vielmehr müs-
sen wir den Verbraucher auch in seiner Eigenverantwor-
tung ernst nehmen. – Ich denke, das ist der richtige An-
satz für die gemeinsame Verbraucherpolitik. In diesem
Sinne auf gute Zusammenarbeit!
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Burkhard Lischka,
SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wirhier heute Abend über Rechtspolitik sprechen, möchteich eine Feststellung vorneweg machen: Um das Justiz-und Rechtssystem hier in Deutschland – Frau KolleginWinkelmeier-Becker, Sie haben eben beispielsweise aufdie Ukraine verwiesen – beneiden uns viele. Das können
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wir jedes Jahr in den unterschiedlichen Rankings able-sen, in denen verschiedene Standortfaktoren der Indust-rienationen miteinander verglichen werden. Da sind wirseit vielen Jahren eigentlich immer weltweit vorne mitdabei, wenn es um eine gute, verlässliche Justiz, um ei-nen sicheren und ausgewogenen Rechtsrahmen geht.Wir merken das übrigens auch hier im Deutschen Bun-destag, wenn uns ausländische Delegationen besuchen.Der deutsche Rechtsstaat hat für viele wirklich Vorbild-funktion. Insofern wird es sicherlich auch in dieserLegislaturperiode in der Rechtspolitik nicht darum ge-hen, das Rad komplett neu zu erfinden.Dieser Erfolg hat eben auch etwas damit zu tun, dasssich Rechtspolitik immer wieder darum bemüht hat, aus-gewogene Antworten auf neue gesellschaftliche Ent-wicklungen und Herausforderungen zu geben und sichso auf die Höhe der Zeit zu bringen. So werden wir dasauch in dieser Legislaturperiode tun.
Eine dieser Herausforderungen wird darin bestehen,dass wir endlich damit anfangen, die männliche Mono-kultur, die es leider in vielen großen Konzernen hier inDeutschland gibt, aufzubrechen und zu überwinden.Dazu ist schon einiges gesagt worden. Deshalb nur einpaar grundsätzliche Feststellungen:Erstens. Unser Land hat jetzt wirklich eine verbindli-che gesetzliche Frauenquote bitter nötig.
Es muss Schluss damit sein, dass es gerade in Deutsch-land viel zu viele große Unternehmen gibt, in denenSchlipsträger andere Schlipsträger bevorzugen, wenn esum die Besetzung von Führungspositionen geht. Daswird ohne verbindliche Vorgaben – das zeigen leider dieletzten zwölf Jahre – nicht zu ändern sein.
Zweitens. Nicht die Frauen, sondern leider mancheMänner haben eine verbindliche Quote nötig, um end-lich gut qualifizierten Frauen, beispielsweise in den Auf-sichtsräten, Platz zu machen. Liebe Unternehmer, habtkeine Angst: Das wird unserer Wirtschaft guttun. Es gibtin diesem Land genügend gut ausgebildete Frauen, diesich ganz hervorragend für Führungspositionen eignen.
Ein Argument, das wir in den letzten Jahren immerwieder von so manchem Schlipsträger zu hören beka-men, lautete in etwa so: Wenn eine Frau gut ist, dannschafft sie es auch ohne Quote. – Wir drehen das in die-ser Legislaturperiode einmal um und sagen: Habt keineAngst, liebe Männer. Wenn ein Mann in einem Unter-nehmen richtig gut ist, dann schafft er es auch trotzQuote.
Lassen Sie mich noch zu einem weiteren Thema kom-men, das in der Debatte bisher – da bin ich ein bisschenüberrascht – gar keine Rolle gespielt hat, zu dem ichaber sage: Da müssen wir uns wirklich dringend auf dieHöhe der Zeit begeben. Die Vereinten Nationen wartenjetzt seit über zehn Jahren darauf, dass wir in Deutsch-land endlich das UN-Abkommen gegen Korruption rati-fizieren und damit die Bestechung und Bestechlichkeitvon Abgeordneten unter Strafe stellen.
Das haben inzwischen 169 Länder weltweit getan; wirnoch nicht. Ich finde, das ist eigentlich eine unfassbareStrafbarkeitslücke, die wir jetzt dringend schließen müs-sen.
Jede Demokratie lebt vor allen Dingen von dem Ver-trauen der Bürgerinnen und Bürger darauf, dass wir Ab-geordnete Vertreter des ganzen Volkes sind und nicht imEinzelfall irgendwie Gefahr laufen, unsere Stimme anden meistbietenden Lobbyisten zu verscherbeln. Eigent-lich ist das eine Selbstverständlichkeit. Hier müssen wiralle uns einmal an die eigene Nase fassen. Es ist wirklichein Skandal, dass gleichwohl Bestechung und Bestech-lichkeit von Abgeordneten hier in Deutschland nochweitestgehend straflos bleibt. Wenn es um Korruptiongerade im parlamentarischen und im politischen Bereichgeht, dann kann es ernsthaft nur eine Antwort geben:Das muss strafbar sein. Nur wir können da handeln, unddas werden wir jetzt tun, gemeinsam. Alles andere istnur noch peinlich, meine Damen und Herren.
Drittes Thema, wo wir jetzt tatsächlich dringend Ant-worten auf aktuelle Entwicklungen geben wollen, ist dieMietpreisbremse; das wurde schon mehrfach angespro-chen. Wir wissen inzwischen: Wohnen ist in vielenBallungszentren wirklich zum Luxusgut geworden. Aberwenn inzwischen ganz normale Menschen mit ganz nor-malen Berufen und einem ganz normalen EinkommenSchwierigkeiten haben, das Wohnen in ihren Städten zubezahlen, dann stimmt etwas nicht in diesem Land.München, Hamburg, Berlin und andere Städte dürfennicht in Zukunft Gettos für Wohlhabende werden, son-dern sie müssen Heimat für Millionen Menschen aus un-terschiedlichsten Einkommensschichten bleiben, meineDamen und Herren.
Die Mittelschicht in die Außenbezirke und die Reichenin die City – das kann nicht die Zukunft unserer Städtesein. Auch da werden wir handeln – mit einer Mietpreis-
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bremse. Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie das heuteAbend wieder als ein prioritäres Vorhaben dieser Koali-tion angekündigt haben. Die SPD-Rechts- und -Verbrau-cherschutzpolitiker jedenfalls werden Sie bei diesemVorhaben und bei vielen anderen Vorhaben an Ihrer Seitehaben.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Stephan
Harbarth, CDU/CSU, dem ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist heute Abend schon deutlich geworden: Der Koali-tionsvertrag von CDU, CSU und SPD, der im Bereichder Rechts- und Verbraucherschutzpolitik sehr ambitio-niert ist, ist eine gute und tragfähige Grundlage für eineerfolgreiche Arbeit der Großen Koalition in den kom-menden Jahren. Wer sich den Koalitionsvertrag 2005 an-schaut, der wird feststellen, dass die Große Koalition inden Jahren 2005 bis 2009 den allergrößten Teil dessen,was sie sich vorgenommen hatte, abgearbeitet, vollstän-dig umgesetzt hat. Das ist ein gutes Vorzeichen für dieneue Legislaturperiode. Das sollte auch jetzt wiederunser Anspruch sein.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer gestrigen Regie-rungserklärung deutlich gemacht, dass und wie derMensch im Mittelpunkt unserer Politik steht. DerRechts- und der Verbraucherschutzpolitik kommt dabeieine besondere Bedeutung zu: der Rechtspolitik alsklassischer Querschnittsaufgabe, die viele Sphärenmenschlichen Lebens erfasst – wir sehen das auch imKoalitionsvertrag, wo sich die Rechtspolitik nicht aufein Kapitel beschränkt; sie durchzieht den gesamtenKoalitionsvertrag –, und der Verbraucherschutzpolitik,weil sich gerade in der modernen arbeitsteiligen Welt derVerbraucher in seinem täglichen Leben vielfach auf Aus-künfte Dritter verlassen muss.Die Arbeit, die wir zu verrichten haben werden, istauch deshalb so wichtig, weil die Rechtspolitik Gesell-schaftspolitik ist und weil sie für die langfristige Aus-richtung einer Gesellschaft entscheidend ist.Die Bundeskanzlerin hat gestern den großen Stellen-wert der sozialen Marktwirtschaft betont; diese ist weitmehr als ein Wirtschaftsmodell, nämlich ein Gesell-schaftsmodell für unser Land. Im Bereich des Privat-rechts und auch im Bereich des Wirtschaftsrechts wirdes in den kommenden Jahren darum gehen, dass wir ge-rade in der Rechtspolitik mit einer vernünftigen Ord-nungspolitik an die Aufgaben herangehen. Meine Vorred-ner hatten schon herausgearbeitet: Für uns bedeutetOrdnungspolitik, dass man nicht nur an Symptomen he-rumdoktert, etwa in Form einer Mietpreisbremse, sonderndass man sich auch überlegt, wie der äußere Rahmen sogeschaffen werden kann, dass der Markt in der Lage ist,eine vorhandene Nachfrage zu befriedigen.
Wir werden Sie daran messen. Wenn es gerade in derAnfangsphase in einem sozialdemokratisch geführtenHaus mit der ordnungspolitischen Perspektive ab und zuetwas hapern sollte, dann dürfen Sie versichert sein, dassSie immer einen großen, starken und tüchtigen Koali-tionspartner an Ihrer Seite haben, auf den Sie jederzeitgerne zukommen können.
Lassen Sie mich den Bereich von Unternehmensgrün-dungen kurz anreißen. Trotz aller wirtschaftlichen Er-folge unseres Landes liegen wir im Bereich von Unter-nehmensgründungen noch weit zurück. Es wird darumgehen, dass wir in den kommenden Jahren auch in derRechtspolitik darüber nachdenken, wie wir Unterneh-mensgründungen erleichtern können, um damit denWohlstand künftiger Generationen zu sichern. Es wirdauch darum gehen, etwa die Europäische Privatgesell-schaft, die völlig unabhängig von politischer Couleur inden vergangenen Jahren auch auf deutscher Seite viel zulange liegen geblieben ist, mit neuem Schub zu versehenund auf den Weg zu bringen. Ich nenne weiterhin dasKonzerninsolvenzrecht, bei dem wir bereits in Kürzeschauen werden, wie wir es reformieren können, um zuverhindern, dass Werte zerschlagen werden und Arbeits-plätze verloren gehen.Ferner nenne ich das Urheberrecht, das ohne jedenZweifel gerade im Lichte der Herausforderungen des di-gitalen Zeitalters der Modernisierung bedarf. Klar ist da-bei für uns, dass Urheber, die mit ihren geistigen Leis-tungen wichtige Beiträge zu unserem Wohlstand leisten,angemessen geschützt werden müssen. Klar ist für unsaber auch, dass in einer Rechtsordnung, die am Ziel derWiderspruchsfreiheit festhält, die zentralen Maßstäbe inder analogen Welt einerseits und in der digitalen Weltandererseits nicht fundamental auseinanderklaffen kön-nen.
Wir wollen – Kollege Lischka hat zu Recht daraufhingewiesen –, dass der deutsche Rechtsstaat eine Vor-bildfunktion hat, auch international. Wir wollen weiter-hin schauen, dass sich das deutsche Recht internationalentwickeln kann. Die Initiative „Law – Made in Ger-many“, die wir in den vergangenen Jahren erfolgreichbetrieben haben, wollen wir fortsetzen.Innerhalb des Deutschen Bundestages ist der Rechts-ausschuss in ganz besonderer Weise dem Einsatz für dasRecht verpflichtet. Wir werden deshalb auch in derneuen Legislaturperiode den fachlichen Diskurs inner-halb des Ausschusses führen sowie mit Sachverständigenund mit vielen anderen Gesprächspartnern versuchen,sachkundig und lösungsorientiert unsere Rechtsordnungfortzuentwickeln.
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Dr. Stephan Harbarth
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Wir werden uns mit vielen Detailfragen mit Hingabebefassen. Das ist ein Gütesiegel unseres Ausschusses.Aber es geht nach meiner Auffassung nicht nur darum,dass wir uns mit Detailfragen befassen. Es geht auch da-rum, dass wir schauen, wo Recht in seiner fundamenta-len Funktion, wo Recht in seiner existenziellen Dimen-sion betroffen ist.Dass Deutschland eine Hochburg des Menschenhan-dels und der Zwangsprostitution geworden ist – in Eu-ropa wird die Zahl der Opfer auf 900 000 geschätzt –, istein Schandmal unserer Gesellschaft.
Wenn wir uns nur einen Moment in die Situation der Be-troffenen hineinversetzen – mit Gewaltandrohung undGewalt festgehalten, des Kontakts zum angestammtensozialen Umfeld, zur Familie und zu Freunden beraubt,täglichem Missbrauch ausgeliefert –, dann wird uns klar,in welcher existenziellen Weise hier Recht betroffen ist.Da geht es um Fälle, bei denen Menschen auf dem Pa-pier Rechte haben, sich aber in der Lebenswirklichkeitrechtlos fühlen. Dies zeigt klar, wie aktuell in diesemBereich der Handlungsauftrag ist, den uns Art. 1 desGrundgesetzes auferlegt: „Die Würde des Menschen …zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“Wir möchten diese Problemfelder, die viel zu langeliegen geblieben sind, in der neuen Legislaturperiode mitvoller Entschlossenheit und in aller Konsequenz ange-hen.
Ihnen, Herr Bundesminister Maas, gratuliere ich zuIhrer neuen Aufgabe. Ich wünsche Ihnen eine glücklicheHand. Die CDU/CSU-Fraktion freut sich auf eine guteZusammenarbeit mit Ihnen und mit Ihrem Haus.Vielen Dank.
Die Kollegin Mechthild Heil ist die letzte Rednerin zu
diesem Geschäftsbereich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Verbraucherpolitik wird in dieser Wahlpe-riode in einem anderen Ministerium gestaltet. Aber diealte Frage bleibt: Was kann die Politik für Verbrauche-rinnen und Verbraucher leisten, was muss sie leisten, undwo liegen die Grenzen unserer Politik? Das ist diegrundsätzliche Frage, die wir uns bei jedem Thema, beijedem neuen Fall, der in der Öffentlichkeit, in den Me-dien diskutiert wird, stellen müssen. Wir werden darangemessen werden, ob wir diese Frage mit einem klarenBekenntnis zur Selbstbestimmung der Verbraucher be-antworten können oder ob wir uns von der medial ge-machten Aufregungskultur in eine Regulierungswutdrängen lassen, was am Ende vor allem den Verbrau-chern schaden würde. Die Vorhaben der Großen Koali-tion stehen deshalb unter dem Motto: So viel Regulie-rung wie nötig und so wenig Bevormundung wiemöglich!Wir wollen den Verbrauchern keine Ernährungsvor-schriften machen. Lebensmittel mit einer Ampel zu ver-sehen, halten wir für falsch; denn auch Fette und Koh-lenhydrate sind wichtige Bestandteile einer gesundenErnährung. Ein bewusster Umgang mit unseren Lebens-mitteln und ausreichende Bewegung muss allerdings un-ser Ziel sein.
Das ist eben eine Frage der Bildung und nicht der Ver-bote. Deswegen wollen wir auch die vielen Initiativenzur Ernährungsbildung, so zum Beispiel die PlattformErnährung und Bewegung, in dieser Wahlperiode evalu-ieren und die erfolgversprechenden Ansätze verstetigen.Wir wollen die Verbraucherinnen und Verbraucherdavor bewahren, sich zu überschulden. Wir wollen abernicht die Höhe des Dispo-Zinssatzes deckeln, weil dasnicht das wirkliche Problem löst. Wir wollen stattdessenfür Finanzkompetenz und Gebührentransparenz sorgen,etwa durch den Warnhinweis beim Eintritt in den Dispo-Kredit. Junge Menschen müssen für einen überlegtenUmgang mit Geld sensibilisiert werden.
Die aktuelle Diskussion um das Windenergieunter-nehmen Prokon – Minister Maas hat es angesprochen –stellt uns vor Fragen. Was wollen wir für einen Markt?Vor welchen Gefahren wollen wir die Verbraucher schüt-zen? Wie weit mischt sich der Staat in die Angelegenhei-ten der Verbraucher ein? Also: Was wollen wir Verbrau-chern erlauben, und was wollen wir ihnen verbieten?Wir wollen aus Verbrauchern keine unmündigen Kon-sumkinder machen, sondern wir wollen ihnen helfen,selbstbestimmte Marktteilnehmer zu werden. Was heißtdas für uns, für unsere politische Praxis? Im Fall Prokonhaben 75 000 Anleger sogenannte Genussscheine erwor-ben, eine riskante, aber immerhin lukrative Anlageformnach dem Muster: Sie gehen ein hohes Risiko ein undbekommen dafür vielleicht eine hohe Rendite oder garnichts. – Jetzt hat das Unternehmen Insolvenz angemel-det, und die Anleger fürchten nicht nur um ihre Rendite,sondern um ihre gesamte Einlage. Die Frage, die wir be-antworten müssen, lautet nun: Welche Informationenstanden den Anlegern zur Verfügung? War das Risikodarin vollständig beschrieben? Denn jeder, der Genuss-scheine kauft, muss wissen, dass ein Totalverlust mög-lich ist. Ein Blick in die Vertragsunterlagen sollte genü-gen. Und ein Nachschlagen des Begriffs „Genussschein“schafft Klarheit über die Kapitalabsicherung bei diesenProdukten.Aus diesem Fall die Forderung an die Politik abzulei-ten: „Reguliert diesen Markt! Verbietet diese Genuss-scheine!“, ist für mich eine Dummheit.
Denn das Problem sind nicht die Genussscheine, son-dern die Tatsache, dass die Anleger das Risiko nicht ein-
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schätzen oder unterschätzen. Das wiederum ist eine Wis-sens- und Bildungsfrage. Deswegen muss die Antwortder Politik lauten: Es geht hier nicht ums Verbieten, wirschauen uns aber den Grauen Kapitalmarkt genau an. –Die Vertragsbedingungen müssen verständlich sein. DieRisiken müssen klar beschrieben werden. Die Kundenmüssen ein Grundwissen in Finanzfragen haben.
Die Verbraucherpolitik muss also die Rahmenbedin-gungen dafür schaffen, dass die Verbraucher überlegte,selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Voraus-setzung dafür ist selbstverständlich, dass unseriöseGeschäftspraktiken der Anbieter durch staatliche Rege-lungen ausgeschlossen oder – das müssen wir ehrlicher-weise sagen – fast ausgeschlossen sind.
Wenn dies gewährleistet ist und der Staat dafür sorgt,dass die Verbraucher nicht übervorteilt werden, dannsind nach meiner Auffassung die Grenzen einer verant-wortungsvollen Regulierung in einem demokratischenStaat auch erreicht.Eine Regulierungswut, die vorgeblich im Sinne derVerbraucher handelt, führt uns in eine Welt, in der ir-gendwann Wirtschaft zum Erliegen kommt und es kei-nen Wettbewerb mehr gibt – zum Schaden der Verbrau-cher. Das können wir nicht wollen. Die Wirtschaftbraucht die Kunden, und die Kunden, also die Verbrau-cher, brauchen auch die Hersteller. Deswegen gehen wireinen anderen Weg: Wir gehen den Weg einer ausgewo-genen Verbraucherpolitik, die Verbraucher und Anbieterals zwei Seiten derselben Medaille begreift. Diese Aus-sage wird uns nicht in die Schlagzeilen bringen, aber dasist auch nicht wichtig. Wir sollten uns auf das Wesentli-che konzentrieren, und das gemeinsam.Ich möchte das Beste für die Verbraucherinnen unddie Verbraucher in unserem Land erreichen. Dabei sindSchutz und Selbstbestimmung meine Ziele. Gemeinsam– da bin ich mir sicher – werden wir sie erreichen.Vielen Dank.
Damit schließen wir die Aussprache zu diesem Ge-schäftsbereich.Wir kommen nun abschließend zu dem Bereich Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend.Auch hierzu ist eine Redezeit von insgesamt einerStunde verabredet.Das Wort hat zunächst die Bundesministerin FrauSchwesig, wir warten aber noch einen kleinen Augen-blick, bis sich der Schichtwechsel halbwegs übersicht-lich vollzogen hat, wobei ich mit Erstaunen registriere,dass so viele Juristen dieses spannende Thema nichtmehr glauben bewältigen zu können. Aber wie auch im-mer!
Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Tja, Familien- und Frauen-politik ist eben nur etwas für Leute, die durchhalten.
Ich freue mich jedenfalls, auch wenn es vielleichtkeine ganz familienfreundliche Redezeit ist, dass ichheute hier meine erste Rede als Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend halten kann. Ichfreue mich auch auf die Zusammenarbeit mit Ihnen: na-türlich auf die Zusammenarbeit mit meiner SPD-Frak-tion, weil wir seit vielen Jahren für viele Themen kämp-fen, die wir jetzt voranbringen können, aber auch auf dieZusammenarbeit mit der Fraktion des Koalitionspartnersvon CDU/CSU, weil wir in den Koalitionsverhandlun-gen gemeinsam um viele gute Ansätze gerungen haben,die die Lebensbedingungen von Familien, aber auch dieGleichstellung von Frauen und Männern voranbringen.Ich denke, wir haben eine gute Basis, um gemeinsamviel voranzubringen.
Ich freue mich aber ausdrücklich auch auf die Zusam-menarbeit mit der Opposition, mit den Abgeordneten derFraktion Die Linke und der Grünen. Es gehört zum We-sen der Demokratie, dass wir um die besten Lösungenstreiten werden. Sie können jedenfalls sicher sein, dassich auf Ihre Argumente gespannt bin, gut zuhören willund dem Streit nicht aus dem Weg gehe, sondern Ihrekonstruktiven Anregungen gerne aufnehme. Wir habenin der letzten Legislaturperiode bewiesen, dass wir auchüber Parteigrenzen hinweg Dinge voranbringen können,wie beim Bundeskinderschutzgesetz oder beim RundenTisch „Sexueller Kindesmissbrauch“. Ich bin sicher,dass uns das auch in dieser Legislaturperiode gemeinsamgelingen kann.
Ich will meine Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmendes Koalitionsvertrages nutzen, um eine moderne Ge-sellschaftspolitik für das 21. Jahrhundert zu machen,eine moderne Gesellschaftspolitik, die die Vielfalt derLebensentwürfe von Menschen in unserem Land, dieVielfalt der Herkunft und der Kulturen als Chance be-greift und nicht als Bedrohung, und die vor allen Dingendafür sorgt, dass die Generationen zusammenhalten,
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Jung und Alt, Groß und Klein. Hierbei sehe ich sechsSchwerpunkte.Es geht um eine moderne Familienpolitik, die den Le-bensentwürfen der Menschen gerecht wird, die vor allemannimmt, dass Familien heute bunt sind, und die dabeihilft, dass wir Familien bestmöglich unterstützen.Es geht um eine starke Gleichstellungspolitik, die das,was unser Grundgesetz längst verankert hat, nämlich diegleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern,Lebenswirklichkeit lassen wird.Es geht mir um eine gute Kinderpolitik, die vor allenDingen darauf ausgerichtet ist, dass die Kinder in unse-rem Land die bestmöglichen Chancen haben, dass Kin-der geschützt, individuell gefördert und beteiligt werden.
Es geht auch um eine eigenständige Jugendpolitik, dienicht immer auf die Defizite von Jugendlichen schautund Jugendliche nur vor dem Hintergrund von Jugendar-beitslosigkeit und Komasaufen sieht,
sondern die berücksichtigt, dass Jugendliche Ansprücheauf Freiräume haben, und deren Interessen sowie den be-rechtigten Anspruch auf Partizipation in den Mittelpunktrückt.
Dann geht es darum, dass wir in der SeniorenpolitikSenioren nicht nur über die Bereiche Rente und Pflegedefinieren, sondern dass wir begreifen, dass wir die Le-benskenntnisse, die die älteren Menschen in unseremLand haben, zum Beispiel im Bereich des bürgerschaftli-chen Engagements, brauchen.Es geht auch darum, Demokratie und Toleranz zustärken, weil das die Basis für unser gemeinschaftlichesZusammenleben ist. Ich möchte die Frauen und Männer,vor allem die vielen Jugendlichen, die sich in unserenVereinen und Verbänden gegen Extremismus, egal vonwelcher Seite, engagieren, unterstützen.Eines ist ganz klar: Kein Steuergeld darf an Extremis-ten gehen, egal in welchen Bereichen: ob Kultur, Sportoder Demokratieförderung. Aber klar ist auch: Wir dür-fen gerade die Menschen, die sich stark machen, die sichin unserem Land engagieren und die wir in unserenSonntagsreden immer wieder loben, nicht unter General-verdacht stellen.
Sie wissen, dass meine Redezeit niemals reicht, umalle Vorhaben, die wir vereinbart haben, anzusprechen.Ich möchte deshalb kurz Schlaglichter auf die Bereichewerfen, die uns gerade 2014 gemeinsam bewegen wer-den.Im Bereich der Familienpolitik geht es vor allem da-rum, dass wir die Familien so annehmen, wie sie sind,dass wir die Menschen unterstützen, die partnerschaft-lich Verantwortung füreinander übernehmen. Das sinddie vielen Paare, ob mit Trauschein oder ohne, mit Kin-dern, aber vor allem auch mit pflegebedürftigen Ange-hörigen. Es sind die vielen Alleinerziehenden, die unsereUnterstützung brauchen, aber es sind auch die Regenbo-genfamilien und Patchworkfamilien. Wo Menschen be-reit sind, in unserer Gesellschaft füreinander einzuste-hen, haben sie unsere Unterstützung verdient.
Das wollen wir tun mit einem Dreiklang aus Geld fürFamilien, Angeboten für Familien und Zeit für Familien.Neben materieller Unterstützung brauchen gerade jungeFamilien gute Betreuungs- und Bildungsangebote fürihre Kinder: von der Ganztagsschule über die Ganztags-kita bis hin zur Hochschule.Aber ich sage auch ganz klar: Familien wünschensich heute, Beruf und Familie miteinander vereinbarenzu können, und das eben nicht nur über gute Infrastruk-tur, sondern auch über eine familienfreundliche Arbeits-welt. Nicht die Familien müssen immer flexibler undarbeitsfreundlicher werden, die Arbeitswelt muss fami-lienfreundlicher werden. Das ist der Schlüssel.
Es ist gut und richtig, dass wir 2014 Projekte auf denWeg bringen, die dafür sorgen werden, dass die Balancezwischen beruflichen Herausforderungen und demWunsch nach Zeit für Familie besser gelingen kann, undzwar durch eine flexiblere Elternzeit, mit dem Eltern-geldPlus, was helfen wird, die Kombination aus Teilzeitund Zeit für Familie zu verbessern, und auch mit demRückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit.Wir wollen aber auch die Vereinbarkeit von Pflegeund Beruf verbessern. Hier setze ich sehr auf bessere Be-dingungen im Zuge einer guten Pflegereform durch mei-nen Kollegen Herrn Gröhe. Aber wir wollen zum Bei-spiel auch die zehntägige Auszeit unter Lohnfortzahlungsetzen. Damit setzen wir ein Zeichen: Wer sich Zeit fürdie Pflege und Unterstützung seiner Angehörigennimmt, der bekommt auch von uns Unterstützung.
Nicht zuletzt mit dem Pflegeberufegesetz, das ich ge-meinsam mit Herrn Gröhe in diesem Jahr auf den Wegbringen will, sorgen wir dafür, dass zukünftig gut ausge-bildete Fachkräfte den Familien durch professionelleUnterstützung bei der Pflege helfen können.Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, starkeGleichstellungspolitik wird auch in diesem Jahr auf derTagesordnung stehen. In der vorangegangenen Debattehabe ich gehört, dass die Rechtspolitiker dabei an unse-rer Seite sind; das freut mich. Ich will hier mit meinemKollegen Heiko Maas gemeinsam an einem Strang zie-hen; denn in Bezug auf eine gleichberechtigte Teilhabevon Frauen und Männern besteht zwischen der Wirklich-keit und dem, was wir eigentlich wollen, ein großer Un-terschied: Frauen verdienen strukturell bedingt wenigerals Männer; nach wie vor sind nur wenige Frauen inFührungspositionen vertreten; Frauen arbeiten oft im
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Niedriglohnbereich. Diese drei Missstände für Frauengehören abgeschafft. Das wollen wir ändern.
Wir wollen das ändern durch ein Entgeltgleichheits-gesetz, für das wir in diesem Jahr die Eckpunkte festle-gen und dann auf den Weg bringen wollen, und vor al-lem durch das Gesetz zur Förderung von Frauen inFührungspositionen. Nicht die Frauenquote ist ein Pro-blem für Deutschland, sondern die 90-prozentige Män-nerquote, die wir in Wissenschaft, Wirtschaft und Politikhaben. Sie gehört abgeschafft, indem wir mehr Frauen inFührungspositionen bringen.
Das werden wir in dreierlei Weise tun: mit einer ver-bindlichen Quote für die Aufsichtsräte bestimmter Un-ternehmen, mit verbindlichen Zielvorgaben für Vor-stände und Aufsichtsräte in weiteren Unternehmen unddurch Vorgaben im öffentlichen Bereich; denn wir kön-nen der Wirtschaft nicht Dinge vorschreiben, die wirselbst nicht einhalten.
Es geht aber auch darum, Frauen vor Gewalt zu schüt-zen. Auch das war in der vorherigen Debatte ein wichti-ges Thema. Die Koalition ist sich einig, dass wir hin-sichtlich Menschenhandel und Zwangsprostitutionstrengere Regeln im Strafrecht brauchen. Wir müssenaber auch die legale Prostitution besser regeln. Wir brau-chen hier klare Regeln und Kontrollen, damit die Aus-beutung von Frauen in der legalen Prostitution verhin-dert wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeord-nete, ich wünsche mir, dass wir diese Projekte in diesemJahr gut gemeinsam auf den Weg bringen, um die Le-bensbedingungen in unserem Land für viele Kinder undJugendliche, aber auch Senioren, Frauen und Männer zuverbessern. Ich denke, da ist eine ganze Menge Musikdrin. Ich freue mich auf die Arbeit als Bundesministerin,und ich freue mich über gute Debatten hier im Parla-ment.Vielen Dank.
Und ich freue mich über die vorbildliche Einhaltung
der Redezeit, was schon gar mit Blick auf Mitglieder der
Bundesregierung ein seltenes, aber erfreuliches Erlebnis
ist.
Nun hat der Kollege Jörn Wunderlich für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin, ich habe mir den Koalitionsvertrag vor-genommen. Nach der Klausur am 23. Januar 2014sprach die Kanzlerin bezüglich der Familienpolitik voneinem bunten Strauß von Maßnahmen. Wo allerdings dieBlumen in diesem Strauß sein sollen, weiß die Kanzlerinoffensichtlich nicht. Das wurde auch in ihrer Regie-rungserklärung gestern deutlich. Frau Ministerin, auchSie sind meiner Überzeugung nach nicht so recht fündiggeworden, zumindest sind Sie nicht konkret geworden.
Gut, das Blümchen „ElterngeldPlus“ soll es geben.Ich glaube, das fällt bei den Blumen, um in diesemGenre zu bleiben, in die Rubrik Stinknelke.
Es benachteiligt Alleinerziehende. Inwieweit es über-haupt von Eltern wahrgenommen wird, kann keiner sa-gen. Eine aktuelle forsa-Studie belegt jedenfalls, dassMänner zwar mehr Zeit für die Familie haben wollen,ihre Arbeitszeit aber nicht verkürzen wollen.Dann gibt es noch das Blümlein „32-Stunden-Wo-che“: kaum aufgegangen, schon plattgemacht. Schadeeigentlich.
Prinzipiell ist das ja keine schlechte Idee. Nur, sie istnicht zu Ende gedacht. So, wie das vorgetragen und vor-gelegt wurde, käme sie auch nur Eltern zugute, die beidein Vollzeit arbeiten. Das wären nach dem Deutschen In-stitut für Wirtschaftsforschung in Berlin knapp 14 Pro-zent, und sie wäre angesichts der bestehenden Kinderbe-treuungsmöglichkeiten wohl der absolute Ausnahmefall.Aber die Idee ist ausbaufähig. So sieht es unter anderemauch der Verband berufstätiger Mütter.Von den fehlenden Blumen wurde gestern und heutegar nicht gesprochen.Die Kosten und die weiteren Maßnahmen der Bun-desregierung für den Kitaausbau – er wurde gestern vonder Kanzlerin erwähnt – sind ein ganz wichtiges Thema.Die fehlenden Plätze, der Personalmangel und der quali-tative Ausbau wurden nicht angesprochen. Schon vorJahren hat die Linke auf den sich abzeichnenden Perso-nalmangel hingewiesen. Die Regierung hat nichts getan.Vor drei Tagen konnte man in der taz lesen, dass einejunge Mutter aus Berlin-Lichtenberg zehn Monate aufeinen Kinderbetreuungsplatz warten musste. Als sieschließlich einen erhielt, war sie froh und fragte nichtnach der Qualifikation der Erzieher. Anschließend stelltesich heraus, dass einige der Betreuer Praktikanten waren.Gründe für den Personalmangel in Kitas gibt es viele:
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schlechte Bezahlung, hohe Arbeitsbelastung, mangelndeAnerkennung.In Berlin dürfen Kitas seit dem letzten Jahr zu 25 Pro-zent Erzieher ohne entsprechende Ausbildung beschäfti-gen. In Baden-Württemberg dürfen Physiotherapeutenund Dorfhelfer – ich konnte bis heute Abend nicht mehrklären, was ein Dorfhelfer eigentlich ist –
nach 25-tägiger Schulung als Erzieher arbeiten. Das istein Zustand, der sich schon vor Jahren klar abgezeichnethat. Die Regierung hat nichts getan. Gut, 2012 hat IhreAmtsvorgängerin, Frau Schröder, ein bundesweites Qua-litätsgesetz angekündigt. Das Thema wurde aus dem Ko-alitionsvertrag gestrichen. Ich denke, das ist vielleichtauch ganz gut; denn möglicherweise wären dann Mini-malstandards eingeführt worden, was zu einem nochstärkeren Qualitätsverlust geführt hätte.Zur Kinderarmut wird nichts gesagt, obwohl nahezujedes fünfte Kind betroffen ist. Das muss sich ändern.
Dazu sage ich auch: Die angekündigte Erhöhung desKinderzuschlags um 20 Euro – dafür gibt es keine Erhö-hung des Kindergeldes, keine Erhöhung der Freibeträge –wird die Situation nicht verbessern.Frau Ministerin, Sie haben die Jugendpolitik ange-sprochen. Was ist denn mit den Problemen rund um dasauslaufende Programm zur Jugendschulsozialarbeit?Wie und wann soll es mit den Jugendberufsagenturenlosgehen, die laut Koalition bundesweit eingerichtetwerden sollen?Zur Mütterrente: Warum sind Kinder aus den neuenBundesländern – das ist schon angesprochen worden –knapp 10 Prozent weniger wert als Kinder aus den altenBundesländern? Wie viel kommt bei den Eltern tatsäch-lich an und bei wem? Bei der Mutter, beim Vater oderbei beiden? Wie ist es bei inzwischen geschiedenen El-tern, die noch nicht in Rente sind? Soll das alles im Rah-men eines möglicherweise erneut durchzuführendenVersorgungsausgleichs erfolgen? Da werden sich die Fa-miliengerichte freuen. Wurde dieses Vorhaben zu Endegedacht? Ich glaube kaum.Das Ehegattensplitting muss reformiert werden. Auseiner Studie, welche die Regierung 2009 in Auftrag ge-geben hat, ergibt sich klar, dass die steuerlichen Vorteiledie finanzielle Situation von Familien langfristig nichtverbessern. So konnte man es in der Welt am 23. Januardieses Jahres lesen. Kinderbetreuung und Elterngeld er-halten gute Noten, aber zu deren Ausbau oder Erweite-rung wird von der Regierung nicht viel gesagt.Die Frauenquote mutiert unter dieser Regierung letzt-lich zu einer Miniquote. Aus der Flexi-Quote und einer40-Prozent-Quote ist eine Miniquote von 30 Prozent ge-worden, die laut Koalitionsvertrag nur für den kleinenSektor der 200 mitbestimmungspflichtigen und börsen-notierten Unternehmen gelten soll, nicht für die übrigen2 000 Unternehmen und auch nicht für die Vorstände.Heute haben Sie gesagt, dass diese Quote auch für dieVorstände gelten soll. Daran werde ich Sie erinnern; wirkönnen es dem Protokoll entnehmen. Das war nämlichein ganz neuer Aspekt, den ich vorher noch nie so gehörthabe.Gewalt gegen Frauen. Dieses Problem ist offensicht-lich kein Thema. Das einzig Konkrete, das im Vertraggenannt wird, ist das Frauenhilfetelefon. Alles andere istkeiner Erwähnung wert. Im Entwurf des Koalitionsver-trages war noch die dringende Einigung mit den Ländernzur Finanzierung der Frauenhäuser aufgeführt. Im gel-tenden Vertrag sucht man danach vergeblich. Das Wort„Frauenhäuser“ taucht nur noch in einer Überschrift auf;Konkretes gibt es dazu aber nicht.Entgeltgleichheit. Hier wird zwar guter Wille gezeigt,aber ohne gesetzliche Regelungen wird sich da nichtstun. Es ist schon so lange auf die Freiwilligkeit gesetztworden. Ich bin seit 2005 im Bundestag. Jedes Jahr tref-fen sich zum Equal Pay Day Vertreter aller Fraktionen,insbesondere die Frauen, hier am Brandenburger Tor, ge-hen auf die Bühne, und insbesondere die frauenpoliti-schen Sprecher der regierungstragenden Koalitionsfrak-tionen ergreifen das Mikrofon und rufen: Was ist das füreine Ungerechtigkeit! Endlich muss das abgeschafftwerden! Wir brauchen gleiches Recht für alle! Frauenmüssen gleichgestellt werden! – Jedes Jahr, immer wie-der, aber nichts tut sich. Alle wollen es, egal ob CDU/CSU, SPD, FDP – jedenfalls das letzte Mal noch – undGrüne,
alle, die regiert haben, wollen es, aber es tut sich nichts.Antidiskriminierung. Die Linke fordert ein klares Be-kenntnis der Bundesregierung zur Förderung und zumAusbau der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. FrauLüders, die Leiterin, ist eine ganz toughe Frau. Siemacht ihre Arbeit mit so viel Leidenschaft und Engage-ment und hat Akzente gesetzt. Sie braucht letztlich einenerhöhten Etat. Diese Arbeit soll sie fortsetzen. Deswegensollte man sie auch auf dieser Stelle weiterbeschäftigen.Wir fordern von der Bundesregierung – Sie haben esheute schon einmal angedeutet – ein klares Bekenntniszu allen Formen von Familie. Egal ob hetero, lesbisch,schwul oder alleinerziehend: Alle leisten ihren Beitragzu unserer Gesellschaft. Jegliche Ressentiments, auchgegenüber Regenbogenfamilien, gehören abgeschafft.Unterstützung und ein klares Bekenntnis: Das fordertdie Linke. So stand es auch im Wahlprogramm der SPD,und so fordern wir es von der Ministerin. An Ihre heuti-gen Worte werden wir Sie noch erinnern.Zu den Alleinerziehenden. Sie werden im Koalitions-vertrag quasi nicht erwähnt. Allein durch die Erhöhungvon Entlastungsbeträgen sollen sie Unterstützung erfah-ren.Unterhaltsvorschuss: Im ersten Entwurf war noch et-was dazu zu finden. Kein Wort mehr darüber im Vertrag,also sogar ein Rückschritt hinter den Koalitionsvertragzwischen CDU, CSU und FDP.
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Zu den Senioren findet sich als eine der Hauptaussa-gen in den 22 Zeilen im entsprechenden Kapitel desKoalitionsvertrages, dass die Altersgrenzen überprüftund gegebenenfalls verändert werden sollen. Das klingtfür mich wie eine Drohung. Rente erst ab 70?Dann die Extremismusklausel. Frau Ministerin, Siehaben es angesprochen. Erst wollten Sie sie abschaffen,dann soll das Ganze beibehalten werden, aber mit einementspannten Verfahren, wie man der Presse entnehmenkonnte. Auf dieses entspannte Verfahren bin ich furcht-bar gespannt.
Sie tun so, als wären das Erfolge. Ich möchte nichtwissen, wie Sie Niederlagen wegstecken. Einen Straußaus Disteln und Brennnesseln bezeichne ich jedenfallsnicht als bunten Strauß.Frau Ministerin, wir werden Sie beobachten – nichtüberwachen; das soll die NSA machen –, wir werden Ih-nen richtungsweisende, zukunftsorientierte Wege bzw.Alternativen aufzeigen zum Wohle aller Kinder, Jugend-lichen, Senioren und Familien, wie auch immer sie kon-zipiert sind, egal ob in Ost oder West.Gleiche, gute Lebensverhältnisse für alle Familien:Das ist die Politik der Linken. Nach Ihren heutigen Wor-ten freue ich mich auf die avisierte gute Zusammenarbeitmit der von Ihnen so genannten Opposition.
Nadine Schön ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Familienpolitik ist ein sehr sensibles und auchsehr wichtiges Feld. Deshalb ist es schade, dass wir da-rüber zu so später Uhrzeit debattieren; aber ich denke,wir können uns alle gemeinsam vornehmen, in dernächsten Sitzungswoche in der Kernzeit über dieseswichtige Thema zu debattieren.Bei Familienpolitik geht es ja um ganz entscheidendeDinge. Zum einen geht es um unsere Gesellschaft alsGanzes. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Werte ge-lebt werden, eine Gesellschaft, die bei aller Vielfalt auchbindende Elemente aufweist, die gemeinsame Vorstel-lungen davon hat, was ein gutes Leben ist, eine Gesell-schaft, die uns zusammenhält. Familienpolitik muss undwill dazu beitragen, den Zusammenhalt in unserem Landzu stärken.Zum anderen geht es um den einzelnen Menschen,den Menschen in seiner Vielfalt und Unterschiedlichkeit,mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartun-gen an das eigene Leben, den Menschen in allen Phasenseines Lebens, von der Geburt, also vom ersten Schrei,bis zum letzten Atemzug. Es geht um den Menschen inseiner Beziehung zu anderen Menschen und den Men-schen in Verantwortung für andere, also um ein großesund sehr sensibles Feld.Diese beiden Punkte – Zusammenhalt der Gesell-schaft und die Bedürfnisse des einzelnen Menschen –stehen wie kommunizierende Röhren miteinander inVerbindung. Wenn wir den Einzelnen stärken, für sichund für andere Verantwortung zu übernehmen, eigeneChancen zu nutzen und auch anderen Chancen zu geben,dann entsteht eine lebenswerte Gesellschaft. Wir habendie große Aufgabe, mit unseren Rahmenbedingungendafür zu sorgen, dass diese lebenswerte Gesellschaft ent-stehen kann. Dazu müssen wir Möglichkeiten schaffen.
Eine dieser Möglichkeiten ist der Bundesfreiwilligen-dienst. Hinter dem Bundesfreiwilligendienst steht derGedanke, dass Menschen jeder Generation für eineWeile Verantwortung übernehmen – den ganzen Tag, nurgegen ein kleines Taschengeld. Die Betätigungsmöglich-keiten sind sehr vielfältig, etwa im kulturellen, sportli-chen oder sozialen Bereich. Spricht man mit Menschen,die einen Bundesfreiwilligendienst geleistet haben – sichzum Beispiel für ein Jahr in einem Seniorenheim enga-giert haben oder in Kolumbien mit Straßenkindern gear-beitet haben –, dann erfährt man nicht nur, was das fürdie Menschen bedeutet hat, mit denen sie gearbeitethaben, sondern man erfährt auch, was das mit denMenschen gemacht hat, die als Freiwillige tätig waren,nämlich dass sie eine bereichernde Erfahrung gemachthaben, dass sie ihre Persönlichkeit gestärkt haben.Jede einzelne Stunde Bundesfreiwilligendienst leistetihren Beitrag dazu, dass unsere Gesellschaft zusammen-wächst – im sozialen, im ökologischen, im kulturellenBereich. Deshalb ist der Bundesfreiwilligendienst, denwir in der letzten Legislaturperiode eingeführt haben, einParadebeispiel für eine gute, christdemokratische Ge-sellschaftspolitik, bei der individuelle Chancen genutztwerden und gleichzeitig der Zusammenhalt der Gesell-schaft gestärkt wird.Ich bin sehr froh, dass wir den Bundesfreiwilligen-dienst weiter ausbauen wollen und dass auch die neueRegierung sich auf den Weg macht, ihn zu stärken. Esgibt mehr Bewerber als Plätze; das ist ein Garant für denErfolg dieses Modells.
Die beiden genannten Grundsätze – Zusammenhaltder Gesellschaft und Unterstützung des Einzelnen inganz unterschiedlichen Lebenssituationen – durchziehenunsere komplette Familienpolitik, auch das, was man imklassischen Sinne als Familienpolitik bezeichnet, näm-lich Politik, bei der es um die Frage geht: Was brauchendie Familien in unserem Land?Herr Wunderlich, selbstverständlich können wir einenStrauß von familienpolitischen Maßnahmen vorsehen.
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Nadine Schön
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Natürlich könnte man, um die Familien glücklich zu ma-chen, auch nur mit Geld arbeiten. Aber ganz ehrlich: Ichglaube nicht, dass das der Kern dessen ist, was die Fami-lien brauchen.
Die Familien sind ganz vielfältig; deshalb brauchen wireinen Werkzeugkasten, aus dem sich Familien, wenn sieHilfe, wenn sie Unterstützung brauchen, das passendeWerkzeug für ihre Lebenssituation heraussuchen kön-nen.
Im Wesentlichen sind das drei Dinge – die Ministerin hates erwähnt, und auch in der letzten Legislaturperiode hatdieser Dreiklang unsere Familienpolitik ausgemacht –:Zeit, Geld und Infrastruktur.
Beim Thema Geld wird die Vielzahl der ehe- und fa-milienpolitischen Leistungen immer kritisch beäugt. Tat-sächlich müssen wir schauen, wie man diese Leistungenbesser aufeinander abstimmen kann. Aber wenn wirMenschen nicht vorschreiben wollen, wie sie zu lebenhaben, wenn wir nicht ein Familienmodell zum Allheil-mittel erklären wollen – sei es die Alleinverdienerfami-lie, sei es die Doppelverdienerfamilie, sei es ein anderesModell –, wenn wir den Familien selbst überlassen wol-len, wie sie leben möchten, dann müssen wir ein vielfäl-tiges Angebot an familienunterstützenden Leistungenanbieten. Ich denke, es ist nichts Schlechtes daran, wennsich jeder seiner individuellen Situation entsprechenddie staatliche Leistung aussuchen kann, die passend ist.Das ist eben die Konsequenz daraus, dass wir in unseremLand eine Vielzahl von unterschiedlichen Wertvorstel-lungen und eine Vielzahl von unterschiedlichen Lebens-entwürfen haben. Der Ansatz unserer Politik ist nicht,Menschen etwas vorzuschreiben, sondern der Ansatz ist,diese Vielfalt wertzuschätzen – auch durch Leistungendes Staates.
Neben Geld ist für die Familien die Infrastrukturwichtig. Dass die Kitabetreuung ausgebaut werdenmuss, ist angesprochen worden. Wir werden massiv wei-ter in Qualität investieren.Was Familien aber auch brauchen, ist Zeit: Zeit, umVerantwortung wahrzunehmen, Zeit, um – das war schonin der letzten Legislaturperiode das große Stichwort – inschwierigen Lebenssituationen, etwa nach der Geburt ei-nes Kindes oder während der Pflege eines Angehörigen,Freiräume zu haben. Deshalb, Herr Wunderlich, ist dasElterngeldPlus, das wir einführen wollen, keine „Stink-nelke“, wie Sie das bezeichnet haben, sondern eine we-sentliche Fortentwicklung der Elternzeit. Dieses Erfolgs-modell gibt jungen Familien mehr Flexibilität und stärktgleichzeitig die Partnerschaftlichkeit in der Beziehung.Das ist genau das, was junge Familien wollen. Deshalbist das ElterngeldPlus eine adäquate und folgerichtigeWeiterentwicklung der Elternzeit.
Das Gleiche gilt für die Pflege. Auch die Pflege isteine Situation im Leben eines Menschen, in der beson-dere Unterstützung gebraucht wird. Die Weiterentwick-lung der Familienpflegezeit ist elementar für die Men-schen, die sich dieser besonderen Aufgabe stellen. Somitist der Dreiklang aus Zeit, Geld und Infrastruktur auch indieser Legislaturperiode das, worauf wir unsere Fami-lienpolitik ausrichten und was den Werkzeugkasten fürdie Familien ergänzt.Ich will aber noch einen vierten Punkt hinzufügen,der mir sehr wichtig ist. Es geht um die Anerkennung.Wenn wir über Familienpolitik sprechen, dann redenwir oft von den problematischen Dingen: vom Druck,von der Zerreißprobe, in der sich Eltern befinden, undvon der Belastung, die pflegende Angehörige haben. Wirsprechen viel zu wenig von dem Schönen und dem Sinn-stiftenden, das Familien eigentlich ausmacht.Viel zu selten sind Familien auch zu sehen. Wann ha-ben Sie zum letzten Mal abends im Restaurant Kindergesehen? In Italien ist es völlig normal, dass Kinderabends mit den Eltern ins Restaurant gehen. Am Flug-hafen gibt es spezielle Einrichtungen. In unserem Landwerden Kinder aber immer wieder outgesourct. Ichfinde, diesen Zustand kann man nicht hinnehmen. Dasträgt nämlich zu einer familienunfreundlichen Gesell-schaft und dazu bei, dass sich junge Menschen dreimalüberlegen, ob das jetzt die richtige Zeit ist, ein Kind zubekommen. Es bestehen eine große Verunsicherung undeine große Skepsis.Ich erlebe das in Gesprächen mit jungen Menschenmeiner Generation. Man sichert sich erst nach allen Sei-ten hin ab, und erst wenn das komplette Feld bestellt ist,hat man den Mut, Kinder zu bekommen. Dann ist es abermeistens schon zu spät.Wir müssen viel mehr dahin kommen, dass Kinder alseine Selbstverständlichkeit angesehen und wertgeschätztwerden und dass man eben auch das Gute und Sinnstif-tende der zwischenmenschlichen Beziehungen nach au-ßen kehrt, sei es bei der Kindererziehung, sei es aberauch bei der Pflege; denn ja, Pflege ist hart, aber vielepflegende Menschen berichten auch davon, dass es einesinnstiftende und gute Erfahrung war, einen Menschen,den man liebt, zu pflegen.Deshalb will ich zum Schluss Eckart von Hirschhausenzitieren, der gesagt hat: Das Glück der Gemeinschaft istdie wichtigste Quelle des Glückes. – Um es mit derKanzlerin zu sagen: Wir wollen ein gutes Leben. – Dafürwollen wir uns in den nächsten vier Jahren einsetzen –für die Familien, für die Menschen in unserem Land undfür den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
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Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Dörner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! FrauSchwesig, Sie haben unlängst gesagt, es sei Ihre Auf-gabe, wichtige gesellschaftspolitische Debatten anzu-stoßen. Ich will einmal etwas provokant anfangen undsagen: Nein, das ist eigentlich nicht Ihre Aufgabe. Siesind Ministerin, und als Ministerin ist es Ihre Aufgabe,zu handeln und die Herausforderungen, die auf demTisch liegen, beherzt anzugehen.Wenn ich mir den Koalitionsvertrag anschaue, dannhabe ich große Zweifel, ob da etwas kommt. Da unsereKollegin Nadine Schön es geschafft hat, neun Minutenzu sprechen, ohne eine einzige konkrete Maßnahme zunennen,
muss ich sagen: Hier klingeln bei mir alle Alarmsignale.
Wir haben in den nächsten Jahren familien- und frauen-politisch offensichtlich nicht viel zu erwarten.Ich verstehe es sehr gut, dass ein Koalitionsvertragwie der, den Union und SPD abgeschlossen haben, eineMinisterin dazu einlädt, lieber über das zu sprechen, wasnotwendig wäre, als über das wenige, was tatsächlich ge-plant ist. Wir werden Sie in den kommenden Monatenund Jahren aber an Ihren Taten und nicht an Ihren Dis-kussionsbeiträgen messen.
Dass meine Bedenken richtig sind, hat man hier ebenschon erleben können, als das Thema Extremismusklau-sel angesprochen worden ist. Selbstverständlich mussdiese unsägliche Extremismusklausel abgeschafft wer-den.
Sie wird aber eben gerade nicht abgeschafft, und das istdoch ein Fehler in der Rede gewesen, den man hier ein-mal ganz klar benennen muss. Der Innenminister hatschon Njet gesagt.
Das ist eine Ankündigungspolitik, die wir Ihnen hiernicht durchgehen lassen.
Wir müssen über die Herausforderungen in der Fami-lienpolitik für die nächsten Jahre sprechen. WelcheHerausforderungen sind das?Stichwort: Mehr Zeit für Familien. Zwei Drittel allerjungen Eltern wünschen sich, Familie und Erwerbsarbeitpartnerschaftlich aufteilen zu können. Nur 7 Prozentkönnen diesen Wunsch in ihrem realen Familienalltagtatsächlich umsetzen. In dieser Diskrepanz liegt aus mei-ner Sicht eine der größten Herausforderungen modernerFamilienpolitik überhaupt. Diese Diskrepanz zeigt auch,dass die vielbeschworene Wahlfreiheit, die gerade dieUnion immer so hoch hängt, in diesem Land eine FataMorgana ist.Wo sind denn die konkreten Vorschläge, um Elternmehr Zeit für Kinder und Familie, aber auch Pflegendenmehr Zeit für ihre Angehörigen zu ermöglichen? Statt ei-nen konkreten Vorschlag zu machen, gibt es bei Ihnen,Frau Ministerin, eine Runde 32-Stunden-Woche für alle.Auch dieser Vorschlag wurde umgehend wieder einkas-siert.
Ich muss einfach sagen: Mit Ihrem Vorgehen haben Sieeinem absolut wichtigen und berechtigten Anliegen ei-nen Bärendienst erwiesen. Gutgemeinte Diskussionsbei-träge ersetzen eben keine gut gemachte Politik.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es geht auch umKinderarmut. 2,5 Millionen Kinder in Deutschland sindarm. Das ist ein Zustand, den wir nie und nimmer akzep-tieren können. Wenn man in eine große Suchmaschine„Manuela Schwesig Kinderarmut“ eingibt, bekommtman umgehend 6 440 Treffer. Wenn man im schwarz-ro-ten Koalitionsvertrag den Begriff „Kinderarmut“ sucht,gibt es keinen einzigen Treffer – auf 185 Seiten keinen,
und das, nachdem sich Union und SPD im Bundestags-wahlkampf einen Überbietungswettbewerb geliefert ha-ben, wer mehr für eine bessere materielle Absicherungvon Familien tut. Das ist überhaupt nicht akzeptabel. DieSPD hat ein Kindergeldplus versprochen. Die Union hatgesagt: Das Kindergeld und auch die Kinderfreibeträgewerden erhöht. – Was lernen wir daraus? Kindergeldplusplus mehr Kindergeld gleich keinen Euro mehr für Fami-lien. Das ist eine traurige und beschämende Gleichung.
Dabei spricht beim Thema Kinderarmut vieles dafür,hier mutig zu sein. In der von der vorherigen GroßenKoalition selber in Auftrag gegebenen Evaluation derehe- und familienbezogenen Leistungen wird geradedazu aufgefordert, alle Kinder, unabhängig von der Fa-milienform, in der sie aufwachsen, materiell besser zuunterstützen und damit direkt gegen Kinderarmut anzu-gehen. Dafür spricht auch eine aktuelle Umfrage, wo-
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nach 66 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ausdrück-lich bereit sind, höhere Steuern zu zahlen, wenn mitdiesem Geld konkret gegen Kinderarmut vorgegangenwird.
Das macht auch ganz klar: Wir brauchen keine Flick-schusterei am Kinderzuschlag. Wir brauchen ein Ge-samtkonzept gegen Kinderarmut.
Was das Thema Qualität in der Kindertagesstätte an-geht – unbestritten eine große Herausforderung, der wiruns stellen sollten –: Auch da muss man sich Sorgen ma-chen, dass die Ankündigungen im Koalitionsvertragreine Lyrik bleiben, weil die Bundesregierung nicht be-reit ist, sich im Sinne einer besseren Fachkraft-Kind-Re-lation auch finanziell zu engagieren. Wir werden es nichtakzeptieren, dass sich die Bundesregierung mit demFähnchen „Mehr Qualität in Kindertagesstätten“ schmückt,wenn die Kosten dafür bei den Ländern und Kommunenhängen bleiben. Das werden wir nicht hinnehmen.
Ich finde es richtig, dass die Ministerin gesagt hat,dass wir nicht mit einem defizitorientierten Blick auf Ju-gendliche schauen sollen. Wir müssen über Partizipationund über Rechte reden; das unterstütze ich ausdrücklich.Aber wie sehen die nächsten vier Jahre für Jugendlicheaus, die Unterstützung brauchen, um beispielsweise ineiner Ausbildung Fuß zu fassen?Ich erinnere mich sehr gut an die letzte Legislaturpe-riode, als es darum ging, die finanzielle Absicherung fürProgramme wie „Die 2. Chance“ oder auch die Kompe-tenzagenturen zu schaffen. Damals hat sich die SPD zumAnwalt dieser Jugendlichen gemacht. Und jetzt? Wieheißt es im Koalitionsvertrag hauchdünn? Da geht es nurnoch um eine modellhafte Unterstützung der Länder undKommunen.Wo ist die Jugendministerin, die wir brauchen, diesich auch für die abgehängten Jugendlichen starkmacht?Hier hätte ich mir ganz klar mehr erwartet. Das gilt übri-gens auch für die Jugendverbandsarbeit, die dringendeine bessere finanzielle Absicherung durch den Bundbraucht, weil sie eben von lahmen Absichtserklärungenkeine coolen Programme wird finanzieren können.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dass zu einer gu-ten Frauenpolitik mehr gehört, als eine Ministerin fürdieses Ressort zu haben, ist bekannt; das haben wirschon leidvoll erfahren. Aber es gehört auch mehr dazuals die geplante und angesichts der Debatte der letztenJahre nun wirklich zu erwartende Einführung einer Frau-enquote. So wichtig und überfällig diese Maßnahme ist,ersetzt sie nicht weitere notwendige Schritte, um eineechte Gleichstellung von Frauen und Männern hinzube-kommen. Dazu gehören aus unserer Sicht ganz klar dieeigenständige Existenzsicherung für Frauen, eine solideFinanzierung von Frauenhäusern und eine Reform desEhegattensplittings, das der eigenständigen Existenzsi-cherung von Frauen entgegensteht und das Armutsrisikofür Frauen erhöht. Hier wollen wir in den nächsten vierJahren eine entschlossene Frauenministerin handeln se-hen. Aber ich bin sehr skeptisch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch ei-nen letzten Aspekt ansprechen. Auch im Bereich der Al-tenpolitik will die Bundesregierung offensichtlich keinesonderlich dicken Bretter bohren. Beispiel Altersdiskri-minierung: Altersdiskriminierung aktiv zu bekämpfen,das versprechen verschiedene Bundesregierungen seitJahren.
Warum nutzt diese Bundesregierung nicht die gutenErkenntnisse der Antidiskriminierungsstelle des Bundesund packt das Problem endlich an? Altersdiskriminie-rung zählt zu den häufigsten Diskriminierungsgründenin Deutschland. Doch statt einer konkreten Gesetzesini-tiative gibt es auch hier nur Prüfaufträge. Das ist defini-tiv zu wenig.Sehr geehrte Frau Ministerin, ich habe den Eindruck,Sie würden schon mehr wollen, wenn Sie denn dürften.
Da wir am Beginn der Legislaturperiode sind, wage ichdoch zu hoffen, dass es gelingt, das enge Korsett Koali-tionsvertrag ein bisschen aufzusprengen. Wenn es gelingt,etwas konkret gegen Kinderarmut, für mehr Gleichbe-rechtigung, für Freiräume für Jugendliche und mehrTeilhabe für Ältere zu tun und uns gemeinsam dafür zuengagieren, dann haben Sie selbstverständlich auch un-sere Unterstützung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat nun Carola Reimann das
Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kollegin-nen! In die Familien- und Gleichstellungspolitik kommtneuer Schwung. Das haben Sie, Frau MinisterinSchwesig, mit Ihrem bisherigen Engagement sehr deut-lich gemacht.
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In der letzten Großen Koalition ist es uns gemeinsamgelungen, mit dem Elterngeld und dem Kitaausbau dieFamilienpolitik zu entstauben und ihr ein modernes Ge-sicht zu verleihen. Frau Ministerin, hier wollen Sie an-knüpfen und weitermachen. Im Koalitionsvertrag sinddazu für die Bereiche Bildung und Kitaausbau 6 Milliar-den Euro und auch das ElterngeldPlus vereinbart. Dabeihaben Sie unsere volle Unterstützung.
Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns aber nochviel mehr vorgenommen. Wir wollen eine wirkungsvolleGleichstellungspolitik neben die moderne Familienpoli-tik stellen. Die Bundesregierung will für Frauen die glei-chen Verwirklichungschancen schaffen, wie sie für Män-ner lange üblich sind. Und wir wollen auch Männernermöglichen, neue Lebensentwürfe zu leben. Es geht unsdarum, das Versprechen unseres Grundgesetzes auf glei-che Chancen unabhängig vom Geschlecht endlich aucheinzulösen. Dafür haben wir uns in den nächsten vierJahren viel vorgenommen. Ich will drei besonders wich-tige Vorhaben herausgreifen.Erstens. Vorstands- und Chefetage sollen für Frauennicht länger verschlossen bleiben. Wir wollen für Frauenall die Hindernisse aus dem Weg räumen, die sie in ih-rem beruflichen Fortkommen heute noch beschränken.Die Arbeitgeber hatten jetzt fast 13 Jahre Zeit, über frei-willige Selbstverpflichtungen Frauen den Weg in Füh-rungsfunktionen zu ebnen. Diese Chance haben sie ver-tan. Nicht mehr Frauen in Vorstandspositionen, sondernin einigen Bereichen sogar weniger: So lautet der be-schämende Befund des letzen Managerinnen-Barome-ters. Deshalb ist es absolut richtig, dass wir jetzt als Ge-setzgeber handeln.
Ich komme zum zweiten Punkt. Quote ist wichtig.Entgeltgleichheit ist mir persönlich noch wichtiger.Frauen bekommen ganze 22 Prozent weniger Lohn alsMänner. Diese Ungerechtigkeit betrifft fast alle Frauen.Sie ist in fast allen Berufen und Branchen anzutreffen,und sie gilt für die Aushilfskraft genauso wie für dieChefin.Wir wollen Hindernisse aus dem Weg räumen, dieFrauen von einem fairen und gerechten Lohn ausschlie-ßen. Dazu haben wir uns in der Großen Koalition auf ge-setzliche und untergesetzliche Regelungen verständigt.Wir wollen einen individuellen Auskunftsanspruchfür alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, damitLohnungleichheit überhaupt sichtbar wird. Wir wollenverbindliche Verfahren für die Unternehmen, mit denen sieLohngerechtigkeit erreichen können, Herr Wunderlich.Frau Kollegin Dörner, wir werden das beherzt angehen.
Helfen wird auch der gesetzliche Mindestlohn; denn70 Prozent derjenigen, die mit Niedriglöhnen zurecht-kommen müssen, sind Frauen. Es werden also vor allemFrauen sein, die mehr verdienen, wenn 8,50 Euro als un-tere Lohngrenze gesetzlich festgeschrieben sind.Drittens wollen wir ein großes Rad drehen: die Flexi-bilisierung der Arbeitszeiten. Ein zentraler Grund, wa-rum Frauen weniger verdienen als Männer, ist Teilzeitar-beit. Teilzeitarbeit ist in Deutschland immer noch eineFrauendomäne. Wer in Teilzeit arbeitet, wird trotz einesbestehenden Diskriminierungsverbots letztlich dochnoch oft benachteiligt: bei der Bezahlung, beim berufli-chen Aufstieg und auch bei Fort- und Weiterbildung.Deswegen machen wir zweierlei: Zum einen stärken wirdie Rechte von Teilzeitbeschäftigten. Wir werden einengesetzlichen Anspruch auf befristete Teilzeit einführen,damit Teilzeit nicht zur Falle wird, damit Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer auch das Recht erhalten,auf eine Vollzeitstelle zurückzukehren. Das ist bei Kin-dererziehung, aber auch bei pflegenden Angehörigenganz wichtig.
Zum anderen wollen wir eine grundsätzliche Debattedarüber führen – ich glaube, dass sie nötig ist, FrauDörner –, ob wir im Interesse von Frauen und Männernmit Familienpflichten nicht über andere Arbeitszeitmo-delle nachdenken müssen. 60 Prozent der Eltern kleinerKinder wünschen sich eine partnerschaftliche Teilungvon Erwerbs- und Familienarbeit. Nur ganze 14 Prozentkönnen diesen Wunsch auch verwirklichen. Hier klaffteine gewaltige Lücke zwischen gewünschter und geleb-ter Familienrealität. Das muss uns zu denken geben;denn dieser Widerspruch zwischen Wünschen und Wirk-lichkeit belastet Paare, eine Belastung, die Familien de-stabilisieren kann und im schlimmsten Fall zu Trennungund Scheidung führt.Andere Arbeitszeiten für Familien sind ein Thema fürFrauen, aber eben auch für Männer. Ein Großteil derMänner wünscht sich mehr Zeit für ihre Kinder; das istein Ergebnis der forsa-Väterstudie. Das aber zu realisie-ren, ist für Männer oft noch schwieriger. Da kann schondie bloße Äußerung des Wunsches nach Arbeitszeitredu-zierung schnell zum Karrierekiller werden.Frau Ministerin Schwesig, Sie haben mit Ihrem Vor-schlag der Familienarbeitszeiten einen wichtigen Vor-stoß gemacht. Wie überfällig er war, merken wir daran,dass jetzt überall über Arbeitszeiten für Familien disku-tiert wird: in Feuilletons, in Talkshows und bei den Tarif-partnern.
Gerade Anfang der Woche hat die IG Metall 30-Stun-den-Wochen für Familien und zur Weiterbildung vorge-schlagen. Es gibt ja konkrete Vorschläge. Auch die Bür-gerinnen und Bürger diskutieren darüber. Ich hatte vorwenigen Tagen gestandene Feuerwehrmänner zu Be-such. Reden wollten sie vor allem über eines: flexibleArbeitszeiten und die Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf. Zeit für Familie ist die nächste große Baustelle inder Familienpolitik. Deshalb haben wir im Koalitions-vertrag sehr schnell das ElterngeldPlus als einen erstenSchritt aufgenommen. Dabei werden wir das Elterngeld
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weiter entwickeln. Mit dem ElterngeldPlus soll Teilzeit-arbeit während der ersten Lebensjahre des Kindes bessermöglich werden. Eltern, die partnerschaftlich in Teilzeitarbeiten, wollen wir dabei mit einem Partnerschaftsbo-nus besonders unterstützen.Kolleginnen und Kollegen, es gibt in den nächstenvier Jahren eine Menge zu tun. Ich finde, wir haben ei-nen Koalitionsvertrag mit den richtigen Rezepten. Jetztkommt es darauf an, unsere Rezepte gut und zügig um-zusetzen. Ich freue mich auf eine konstruktive Zusam-menarbeit.Danke.
Marcus Weinberg erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Um eine familienfreundliche Arbeitszeit
ist es bei uns nicht immer so gut bestellt, Frau Ministe-
rin. Aber daran werden wir arbeiten, zumal heute der
Präsident bei uns ist und nun den siebten Redner gehört
hat, der darauf hinweist, dass die Familienpolitik im
Zentrum der Gesellschaftspolitik steht –
Ich kann das nicht oft genug hören, Herr Kollege
Weinberg. Sie müssen keine Hemmungen haben, das zu
wiederholen, wenn Sie das wollen.
– und deshalb in das Zentrum der Diskussion imDeutschen Bundestag gehört.Herr Wunderlich, wie ich nachgelesen habe, hat HenriMatisse einmal gesagt: „Es gibt überall Blumen für den,der sie sehen will.“ Wenn man in einem Blumenbeetliegt, kann man einen Blumenstrauß allerdings nicht sorichtig erkennen. Im Hinblick auf die Familienpolitikmag das so sein.
Ich bin sehr froh, dass wir in der ersten Debatte in derneuen Legislaturperiode einen anderen Stil gefunden ha-ben, den die Ministerin vorgegeben hat. Wir tun jetzt et-was, was wir in den letzten Jahren nicht immer so beher-zigt haben: Wenn wir über die Besonderheiten vonFamilien diskutieren, entideologisieren wir die Diskus-sion. Opposition und Regierung müssen kontroversstreiten, wobei wir an der Seite der Ministerin stehen,wenn wir sie auch gelegentlich anstupsen werden – ichglaube, das sagt man heute so auf Facebook –, keineFrage,
aber wir müssen die Diskussion endlich davon befreien,Familien im Sinne politischer Ideologien zu instrumen-talisieren.
Ich glaube, wir waren heute schon auf einem guten Weg.Deswegen ist das Angebot einer offenen Diskussionweiterhin gültig, Frau Dörner.In einer Generaldebatte muss man auch sagen, wasman will und wofür man eigentlich steht. Dazu gibt es inder Großen Koalition einen fast schon überraschendenKonsens.
Wir gehen davon aus, dass wir Familien in ihrer Vielfalt,ihrer Besonderheit und Einzigartigkeit anerkennen unddass die Politik, wie Frau Schön es gesagt hat, die Rah-menbedingungen setzen und Angebote machen muss,und zwar frühzeitig, zielgenau und bedarfsorientiert. DiePolitik darf aber nicht bestimmen, was Familie ist undwas die Familien machen sollen. Wir setzen nur denRahmen, nicht mehr und nicht weniger.
Wir befinden uns in einem Lernprozess und erkennenan, dass Familienbilder sich ändern. Darauf hat Politikzu reagieren. Wir müssen den Familien aber auch immerwieder Mut zusprechen. Wir sehen, dass Familien esschaffen können, wenn sie politisch unterstützt werden.Das heißt auch, dass wir Vertrauen in die Familien set-zen.
Wenn Menschen Weichen stellen wollen, sollten siesich bewusst sein, dass es vorher Menschen gegeben hat,die die Weichen gelegt haben. Deswegen sei mir derHinweis gestattet, dass viele der wichtigen und gutenDinge, über die wir jetzt diskutieren und die wir gemein-sam auf den Weg bringen wollen, in den letzten acht Jah-ren in der Politik der CDU/CSU-geführten Bundesregie-rung angelegt waren; denn diese Regierung hatte denAnsatz einer neuen, modernen und nachhaltigen Politikgewählt.
Auch in der letzten Großen Koalition, Kollege Kahrs,haben wir vier Jahre in diesem Bereich erfolgreich zu-sammengearbeitet.Ich will einige Beispiele nennen, weil diese vor demHintergrund der heutigen Diskussion wichtig sind:Das Elterngeld. Geld allein macht nicht glücklich, au-ßer vielleicht den Kollegen Kahrs. Im Nachhinein mussman sagen, dass das Elterngeld, das wir eingeführt ha-ben, eine der zentralen politischen Maßnahmen war, dieeinen unheimlichen Erfolgsfaktor hatte. Diese Maß-nahme hat auch einen ungeheuren Nachhaltigkeitswert.Im letzten Jahr haben wir 5 Milliarden Euro ausgegeben.Seit der Einführung hat sich die Anzahl der Väter, dieVätermonate beantragt haben, von 20 auf 30 Prozent er-höht. Es ist noch mehr möglich, und ich wünsche mir,
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dass noch mehr Väter diese Möglichkeit in Anspruchnehmen; aber die Einführung des Elterngeldes war rich-tig und wichtig.
Frau Dörner, Sie haben das Kindergeld und die Kin-derfreibeträge angesprochen.
Ich will rückblickend sagen, dass wir das Kindergeld um20 Euro pro Monat erhöht haben und der Kinderfreibe-trag mittlerweile 7 008 Euro beträgt. Noch einmal: Geldallein macht es nicht. Die Maßnahmen müssen aber auchfinanzierbar sein. Sie haben Ihren Vorschlag präsentiertund Ende September dafür in gewisser Weise die Quit-tung erhalten.
Wir sagen ganz deutlich: Wenn wir für Familien undKinder Politik machen, dann können wir nicht Schuldenmachen, die genau diese Kinder später zurückzahlenmüssen. Deshalb muss man in dieser Hinsicht sehr sorg-sam sein.
Der eigentlich wichtige Impuls, den wir in der Fami-lienpolitik gesetzt haben, ist, dass seit dem 1. Au-gust 2013 ein Rechtsanspruch auf einen Krippenplatzbesteht. Wenn ich davon rede, dass wir Familien undauch die Vielfalt von Familien akzeptieren, dann stelleich den Begriff der Wahlfreiheit in den Mittelpunkt. Esging nie darum, entweder das eine oder das andere zumachen, das sogenannte Betreuungsgeld oder die Krip-penbetreuung in Anspruch zu nehmen. Es ging bei dem,was wir damals beschlossen haben, immer um eineKombination. Wir haben gesagt, dass wir Familien beider Wahlmöglichkeit stärken wollen.Sie fragen, was der Bund dafür getan habe. Ich sage Ih-nen: Der Bund hat 5,4 Milliarden Euro zur Unterstützungdes Aufbaus der Kindertagesbetreuung und der Krippen-plätze bereitgestellt. Sie, Frau Dörner, fragen, wo dasGeld eigentlich fließe und worin die großen Impulse be-stünden. Wir geben jedes Jahr 845 Millionen Euro für dieBetriebskosten der Krippen aus. Das ist eine immenseLeistung des Bundes.
Wir werden die Weichen auch weiter stellen. Wir ha-ben das Bundeskinderschutzgesetz implementiert. Eswird auch evaluiert werden. Ich sage das gerade vor demHintergrund einer traurigen Diskussion über Gescheh-nisse in Hamburg, wo wieder einiges bei der Frage „Wiegehen Ämter mit Problem- bzw. Risikofamilien um?“falsch gelaufen ist. Wir werden bei der Evaluierung desBundeskinderschutzgesetzes sehr genau darauf achten,wo wir als Bundesgesetzgeber Verbesserungen vorneh-men können.Auch der Unterhaltsvorschuss ist angesprochen wor-den. Ich erinnere daran: Am 1. Januar 2010 wurde derUnterhaltsvorschuss für Alleinerziehende angehoben,und der damit einhergehende Vollzug wurde erleichtert.„Wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht, trägt sie ander falschen Stelle“, hat Mao Zedong einmal gesagt. Wirwerden auch in den nächsten vier Jahren überlegen, wowir Veränderungen durchführen können. Ich glaube,dass dieser Koalitionsvertrag gerade das Thema „Zeit fürdie Familie“ – es wurde von Frau Schön und von derMinisterin angesprochen – im Hinblick auf mehr Flexi-bilität bei der Gestaltung der Zeit für die Familie stärkt;dort werden wesentliche Akzente gesetzt.Es ist so, dass Familienaufgaben und Erwerbspflich-ten partnerschaftlich – das wünschen sich immer mehrMänner und Frauen – aufgeteilt werden. Das ist das Er-gebnis vieler Studien und auch ein zentraler Erkenntnis-stand des Achten Familienberichtes. Wir werden darübernachdenken, wie man diesen Schritt noch besser vollzie-hen kann. Ich glaube, die Flexibilisierung bei der Eltern-zeit ist der richtige Weg. Ein Elternteil kann jetzt biszum achten Lebensjahr des Kindes bis zu 24 Monate El-ternzeit nehmen. Hinzu kommt die Diskussion über dasElterngeld und das ElterngeldPlus. Ich will nicht wieder-holen, was die Kolleginnen und Kollegen zum Partner-schaftsbonus bereits ausgeführt haben.Eine weitere Maßnahme ist übrigens, dass wir imHinblick auf Kita, Schule und weitere Institutionen über-prüfen, wo und wie wir mehr für die Flexibilisierung tunkönnen. Das betrifft Öffnungszeiten. Das betrifft denUnterricht an Schulen. Das betrifft familienunterstüt-zende Dienstleistungen und insbesondere die bessereAbstimmung der Betreuungszeiten in Kindertagesein-richtungen und Schulen.Viele haben diesen Strauß an Maßnahmen angespro-chen. Jeder hat seinen Schwerpunkt. Ich will noch aufzwei Bereiche eingehen.Das eine ist, dass wir es schaffen müssen, den Kin-dern gerechte und gute Chancen zu bieten. Dabei ist derAusbau der Kindertagesbetreuung ein Impuls, aber nichtder einzige. Wir haben es zum Beispiel mit dem Pro-gramm „Offensive Frühe Chancen“ geschafft, geradedas Thema „Integration und Sprache“ neu aufzulegen. Injedem Wahlkreis müssten es fünf bis zehn Kindertages-stätten sein, die davon profitieren. Wir müssen zweiDinge tun: Wir müssen gute, feste familiäre Bindungenstärken. Aber wir müssen auch frühe Impulse für die Bil-dung geben. Wir müssen endlich den Konflikt „Bindungoder Bildung?“ auflösen. Es darf in jeder Phase einesjungen Menschen nur noch „Bindung und Bildung“ hei-ßen.
In der Familie kommt die Individualität besonderszum Vorschein. Vieles ist bei dem einen Kind anders ge-lagert als bei einem anderen. Ich glaube, wenn wir denbeschriebenen Konflikt dauerhaft auflösen und passge-naue Angebote machen, die im Sinne einer Wahlfreiheitangenommen werden können, dann sind wir auf demrichtigen Weg.
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Im Hinblick auf die aktuellen Fälle der Gefahren fürKinder müssen wir sehr darauf achten – das will ichnoch einmal sagen –, dass wir die Kompetenzen der Kin-der stärken, und zwar mit den Eltern. Wir sollten nichtversuchen, sozusagen Teile aus einer Familie herauszu-brechen. Familienpolitik muss immer in Gänze betrach-tet werden.Gerne würde ich noch das eine oder andere zum Bun-desfreiwilligendienst sagen. Der soziale Zusammenhaltder Generationen wird für uns in den nächsten Jahren– Nadine Schön hat es ausgeführt – zentral sein. Es spie-gelt die Stärke oder die Schwäche einer Gesellschaft wi-der, wie die Generationen zusammenleben und zusam-menhalten und welches Engagement es gibt, freiwilligetwas zu tun.
Herr Kollege Weinberg.
Herr Präsident, Sie werden gleich sagen, dass ich zum
Schluss kommen muss.
Nein. Ich wollte sagen: schönes Thema für die
nächste Debatte.
Die hoffentlich am helllichten Tag stattfindet.
Zum Schluss. 85 000 Menschen sind es, glaube ich,
die sich mittlerweile freiwillig über den BFD oder über
andere Einrichtungen engagieren. Dieses Engagement
zu stärken, ist eine der vielen Aufgaben der Politik.
Frau Ministerin, Sie haben unsere volle Unterstüt-
zung. Wir stupsen Sie, wie gesagt, ab und zu einmal im
Sinne der Familien und der Kinder an. Insofern freue ich
mich auf eine gute Zusammenarbeit in der Koalition,
aber auch auf einen kontroversen Diskurs mit der soge-
nannten Opposition im Sinne der Familien.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als Abschluss und Höhepunkt der heutigen Debatten
erhält jetzt der Kollege Paul Lehrieder das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ichkann es mir nicht verkneifen, hier mein Bedauern überden späten Zeitpunkt dieser Debatte – ich bin der sie-bente Redner in dieser Diskussion – zum Ausdruck zubringen. Wir vertreten in unserem Ausschuss die Bevöl-kerungsgruppen Familien, Senioren, Frauen und Jugend.Nicht dazu gehören die alleinstehenden 20 bis 25 Jahrealten Männer. Da wäre es gut gewesen, wenn diese De-batte von einem größeren Teil der Bevölkerung hätte an-gesehen werden können. Wir müssen feststellen: Die Fa-milien sind zum Teil nicht in der Lage, dieser Debatteheute Abend um halb elf zu folgen. Die Jugendlichensind im Bett oder auf dem Weg in die Disko.
– Vielleicht sind auch ein paar zu Hause und schauen dasan. – Es wäre wirklich gut gewesen, wenn mehr Men-schen die Chance gehabt hätten, dieser Debatte zu fol-gen.Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsführer, dasnächste Mal dafür Sorge zu tragen, dass wir das ThemaFamilie zu einem prominenteren Zeitpunkt diskutierenkönnen. Ich bedanke mich bereits jetzt für die diesbe-züglichen Bemühungen für die nächste Plenardebatte.Unser Dreigestirn im Bundesfamilienministerium, FrauMinisterin Schwesig, die Parlamentarische Staatssekre-tärin Elke Ferner und die Parlamentarische Staatssekre-tärin Caren Marks, hätten es durchaus verdient, mit demvorgelegten tollen Strauß von Maßnahmen, lieber Kol-lege Wunderlich, die wir mit dem Koalitionsvertrag aufden Weg gebracht haben, hier beachtet zu werden.Die Vorrednerinnen und Vorredner haben bereits eini-ges bilanziert. Im familienpolitischen Teil des schwarz-roten Koalitionsvertrags sind wichtige Impulse gesetztworden. Zentrale Erwartungen der Wählerinnen undWähler sind von uns aufgegriffen und vertraglich veran-kert worden.Besonders erfreulich ist, dass nach zähen Verhandlun-gen der Einstieg in die verbesserte rentenrechtliche An-erkennung der Kindererziehung auch für alle jene Müttergelungen ist, deren Kinder vor 1992 geboren wurden.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Familien leisteneinen wesentlichen Beitrag für den Generationenvertrag;das ist allen hier bekannt. Daher war und ist unser erklär-tes Ziel, die Gerechtigkeits- und Rentenlücke für Müttervon vor 1992 geborenen Kindern zu schließen. Hier istzwar der Ausschuss für Arbeit und Soziales federfüh-rend, aber das betrifft genau die Mitbürgerinnen undMitbürger, nämlich die Frauen und die Senioren, für diewir in unserem Ausschuss Verantwortung tragen.Die bessere Anerkennung der Lebensleistung vonMüttern war längst überfällig. Gerade in den Wochenvor der Wahl habe ich Unmengen von Postkarten, Brie-fen und E-Mails von Frauen – und, wohlgemerkt, auchvon Männern – bekommen, die sich für die Gleichbe-handlung aller Mütter bei der Rentenberechnung einge-setzt haben. Und das vielfältige Engagement hat sich ge-lohnt.Über die Mütterrente und deren Finanzierung wurdeund wird viel diskutiert. Jedoch ist die Einführung der
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Mütterrente der falsche Austragungsort für Graben-kämpfe zwischen den Generationen.
Ich halte es für falsch, bei diesem Thema eine Genera-tion gegen die andere auszuspielen. Es geht hierschlichtweg um ein Stück mehr Gerechtigkeit in unsererGesellschaft
und die längst überfällige Anerkennung und Honorie-rung der Lebensleistung unserer Mütter. Die Mütterrenteist ein wichtiger Beitrag für Millionen von Frauen in un-serem Land und schließt die bestehende Gerechtigkeits-lücke bei der Bewertung von Kindererziehungszeitenvon älteren und jüngeren Frauen mit Kindern.Das Ziel unserer Familienpolitik ist, weiterhin Bedin-gungen zu schaffen, die eine Entscheidung für das Lebenmit Kindern in der Familie erleichtern, um der demogra-fischen Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Auf demFeld der Familienpolitik stoßen die unterschiedlichstenInteressen aufeinander. Auf der einen Seite sind die El-tern mit ihren Kindern, die möglichst viel Zeit mit- undfüreinander brauchen – darauf wurde bereits von mehre-ren Vorrednern hingewiesen –; auf der anderen Seitesteht die Wirtschaft, die Nachwuchskräfte und qualifi-zierte Frauen braucht. Natürlich geht es auch um die Be-hinderung von Karrierechancen von Frauen, wenn sieeine längere Auszeit zur Familiengründung genommenhaben; das wurde von etlichen Vorrednern bereits deut-lich gemacht.Unser Familienpaket stellt die Entwicklung familien-freundlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen in denVordergrund. Den wichtigsten Beitrag zu einer moder-nen Familienpolitik leistet dabei der weitere Ausbau derKindertagesbetreuung – mit den notwendigen Regelun-gen der Qualität der Betreuungseinrichtungen. Dazu ge-hören eine sachgerechte Bezahlung von qualifiziertenFachkräften und ein entsprechender Betreuungsschlüs-sel.Lieber Kollege Wunderlich, Dorfhelferinnen – um Sieda einer Wissenslücke zu berauben – sind Kräfte, die imdörflichen Bereich quasi als Familienersatz, Mutterer-satz, Hausfrauenersatz eingesetzt werden, wenn eineFrau, insbesondere eine Bäuerin – so war das bei unsfrüher insbesondere –, ausgefallen ist.
– Vaterersatz auch; aber dann muss es ein Dorfhelfersein. – So wurde Hilfe für die Familie geleistet. So ken-nen wir das.
Ich kenne noch die Dorfhelferin aus meiner Heimatge-meinde. Das war gang und gäbe.
– Das ist nicht arrogant, sondern das ist Historie. Damitmüssen Sie leben. Das war bei uns so.Kitaplätze verbessern das Miteinander von Beruf undFamilie und stabilisieren zugleich das Einkommen vonEltern mit Kindern. Das wirkt sich langfristig auch posi-tiv auf die Renten von Müttern aus. Eine qualitativ hoch-wertige Betreuung verhilft den Kindern zudem zu einerguten frühkindlichen Bildung und legt damit den Grund-stein für spätere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.Bei den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag waruns besonders wichtig, dass es bei den Familien zu kei-nerlei Kürzungen kommt. Wir streichen nicht nur keineneinzigen Euro bei den Familienleistungen, sondernbauen sie sogar noch weiter aus, und zwar mit der Flexi-bilisierung der Elternzeit, dem ElterngeldPlus, das Kol-lege Wunderlich unverständlicherweise als „Stinknelke“bezeichnet hat. Herr Kollege Wunderlich, Sie hatten vorkurzem Geburtstag, und wir haben uns auf ein Bier ver-abredet. Ich biete Ihnen an, dass ich Ihnen bei dieser Ge-legenheit die einzelnen Passagen des Koalitionsvertragesin gemütlicher Atmosphäre erkläre. Vielleicht verstehenSie es dann besser.
Wenn Sie den Koalitionsvertrag Seite für Seite erläu-
tern wollen, wird ein Bier nicht reichen.
Wenn der Herr Präsident die weiteren Striche auf un-
serem Deckel übernimmt, dann können wir natürlich
mehrere Biere trinken, lieber Jörn Wunderlich.
Wenn der Kollege Wunderlich zusagt, dass er diese
Prozedur komplett erträgt, dann sage ich das zu.
Meine Damen und Herren, wir wollen das Elterngeld-Plus und einen Partnerschaftsbonus für alle Eltern, diezusätzlich zu der Erziehung ihrer Kinder 20 bis 30 Wo-chenstunden arbeiten. Kinder und Eltern brauchen vielgemeinsame Zeit. Daran besteht kein Zweifel. Die El-ternzeit ist eines der familienpolitischen Instrumente, umjunge Väter und Mütter dabei zu unterstützen. Die vonder schwarz-roten Koalition vorgesehene zeitliche Flexi-bilisierung der Elternzeit kommt den Eltern entgegenund soll im Sinne der Eigenverantwortlichkeit der Elternnoch weiter ausgebaut werden.Wir haben einiges vor. Sie sind alle des Lesens mäch-tig. Ich bitte Sie, die einzelnen Passagen unseres Koali-tionsvertrages noch einmal zur Kenntnis zu nehmen.
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Katja Dörner
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Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-sche noch einen schönen Abend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war’s für heute.
Beschlossen hatten wir, zehn Stunden und siebzehn Mi-
nuten zu diskutieren. Wenn wir uns daran gehalten hät-
ten, wären wir seit gut drei Stunden zu Hause. Aber da es
so schön wie im Plenarsaal zu Hause gar nicht sein kann,
machen wir gegebenenfalls auch Überstunden. Für die
neuen Kolleginnen und Kollegen mache ich darauf auf-
merksam, dass hier weder Überstunden- noch Nachtzu-
schläge gezahlt werden.
Für die morgige Sitzung, die ich hiermit für 9 Uhr
einberufe, steht ungefähr so viel Zeit zur Verfügung, wie
wir heute Überstunden gemacht haben.
Die Sitzung ist geschlossen. Schönen Abend noch.