Gesamtes Protokol
Grüß Gott, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-
zung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-
nung um eine Debatte zur Demokratie in der Ukraine zu
erweitern und diesen Punkt im Anschluss an die Frage-
stunde aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? – Das
ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen
Kabinettssitzung mitgeteilt: Verbraucherpolitischer Be-
richt 2004 der Bundesregierung.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernäh-
rung und Landwirtschaft, Renate Künast.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Kabinett hat heute den Verbraucherpolitischen Be-
richt 2004 beschlossen. Mit der Arbeit an diesem Fort-
schrittsbericht haben wir im Frühjahr 2003 begonnen.
Auch an dieser Stelle haben wir den Aktionsplan Ver-
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braucherschutz der Bundesregierung und die Schwer-
punkte, die wir in dieser Legislaturperiode setzen, vorge-
stellt.
Im vorliegenden Bericht wird ausgeführt, welche
Fortschritte wir in diesem Bereich gemacht haben. Dabei
greifen wir im Wesentlichen auf abgeschlossene und grö-
ßere, bereits weit fortgeschrittene Rechtsetzungsvorha-
ben zurück. Alle Ausführungen beziehen sich auf den ge-
sundheitlichen und wirtschaftlichen Verbraucherschutz.
Wir lassen uns von zwei verbraucherpolitischen Zie-
len leiten: zum einen vom Schutz der Verbraucherinnen
und Verbraucher vor gesundheitlichen und wirtschaftli-
chen Schäden – das ist der Schutzaspekt
braucherpolitik –, zum anderen vom Recht de
cherinnen und Verbraucher, als gleichberechti
formierte Marktpartner selbstbestimmt entsc
)
)
ie Kunden wissen: Hier bekommen sie gute Beratung.
Dies war ein Überblick. Wir werden mit beiden
tandbeinen, gesundheitlicher und wirtschaftlicher Ver-
raucherschutz und Information der Verbraucher, damit
ie selbstbestimmt entscheiden können, auch in Zukunft
eitermachen. Unsere Aufgabe wird sein, auch für neue
ertragsgestaltungen, gerade über das Internet und mit-
els neuer Technologien, wodurch auf die Verbraucher
iel größere Kosten zukommen können als durch ein un-
lug eingegangenes Zeitungsabo, Regeln wie beispiels-
eise zum Haustürwiderruf und damit das gleiche
chutzniveau zu schaffen.
Vielen Dank, Frau Ministerin. Ich bitte, zunächst Fra-
en zu dem Themenbereich zu stellen, über den soeben
erichtet wurde.
Das Wort hat Frau Kollegin Mortler.
Frau Ministerin, ich denke wir sind uns einig, dass
nsere Verbraucher im Hinblick auf den Schutz ihrer Ge-
undheit einen hohen Anspruch besitzen; diesem werden
ir in unserem Lande auch gerecht. Ich frage mich aber,
ie Sie die Tatsache rechtfertigen, dass Nahrungsmittel,
ie aus der EU zu uns in die Läden bzw. auf den Teller
es Verbrauchers kommen, nicht den strengen Verbrau-
herschutzvorschriften entsprechen müssen, die für
eutsche Produkte gelten. Ich bin der Meinung, hiermit
aukeln Sie den Verbrauchern in Deutschland etwas vor.
Ich will das an dem Beispiel Erdbeeren deutlich ma-
hen. Die Erzeuger im Inland müssen die strengen
chutzvorschriften in Deutschland akzeptieren. Die Erd-
eeren, die aus dem Ausland zu uns kommen, unterlie-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13359
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)
Marlene Mortler
gen diesen strengen Schutzvorschriften dagegen nicht.
Es gäbe viele weitere Beispiele dafür.
Im Bereich Biosiegel ist es genau andersherum. Hier
konnten wir in den letzten Jahren feststellen, dass die
deutschen Biobauern sehr hohe Standards erfüllen. Frau
Ministerin Künast, aufgrund des von Ihnen neu geschaf-
fenen Biosiegels kommen immer mehr Bioprodukte aus
dem Ausland auf den deutschen Markt, was zulasten der
einheimischen Produktion geht. Der Verbraucher kann
nicht mehr erkennen, woher das jeweilige Produkt
kommt. Was sagen Sie dazu?
Ich bitte Sie, mir diese zwei Fragen zu beantworten.
Danke schön.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Frau Mortler, Sie haben Recht: Bezüglich der Pflan-
zenschutzmittel ist Deutschland besser. Wir sind aber
auch nur deshalb besser, weil wir uns in den letzten Jah-
ren bemüht haben, einen neuen Standard zu erreichen.
Ich weiß noch sehr genau, dass wir vor drei Jahren mit
der Opposition große Probleme hatten, als wir die Frist
für die Umstellung der Pflanzenschutzmittel nicht noch
einmal verlängern wollten. Es ging darum, diese nicht
mehr einfach nur mit der Gießkanne zu verteilen, also
pauschal zu nutzen, sondern eine Indikation einzuführen.
Das heißt, bei Vorliegen eines bestimmten Problems darf
jetzt nur ein gegen dieses Problem wirkendes und ent-
sprechend zugelassenes Pflanzenschutzmittel benutzt
werden.
Wir haben auf diese Indikation umgestellt und es gibt
Landwirte, die sich bemühen, diese Mittel systematisch
und ordentlich anzuwenden. Durch unser Pestizidmini-
mierungsprogramm werden wir das auch weiterhin un-
terstützen. Ich glaube, die Landwirte tun dies nicht nur,
damit es weniger Rückstände in den Produkten gibt, son-
dern auch, weil es für sie schlicht und einfach wirtschaft-
lich preiswerter ist. Dieser extrem schwierige Weg der
Umstellung auf Indikation hat dazu geführt, dass wir die
Rückstandshöchstmengen an einigen Stellen plötzlich
erhöhen mussten. Dafür gab es an anderen Stellen wie-
derum massive Reduzierungen. Es kommt hier also zu
einem richtigen Wechsel der Regeln.
Wir wollen die Harmonisierung auf europäischer
Eben weiter betreiben. Sie haben Recht, wenn Sie sagen,
dass teilweise unterschiedliche Regeln gelten. Das liegt
aber daran, dass wir uns in einem Vereinheitlichungspro-
zess befinden und dass im Zweifelsfalle umgekehrt gel-
ten würde – was ich nicht hoffen will –: Wenn andere
Länder strengere Regeln haben, dann können diese auch
auf unsere Produkte angewandt werden. Ich würde mich
sehr freuen, wenn Sie uns in Zukunft dabei unterstützen
würden, dass wir mit der Harmonisierung auf europäi-
scher Ebene schneller vorankommen und dass die Euro-
päische Kommission im Bereich der Pflanzenschutzmit-
tel mehr Personal einsetzt, damit wir schneller
weiterkommen und europaweit einheitliche Werte und
keine auseinander fallenden Regeln haben. Wie gesagt:
Dies habe nicht ich geregelt, sondern das ist europäi-
sches Recht.
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– Frau Kopp, Sie haben Recht: Man kann auch eine Ne-
gativbewertung bekommen. Aber wir beide wissen doch,
welchen enormen finanziellen Profit und Nutzen jede
Firma von guten Testergebnissen der Stiftung Warentest
hat, und zwar seit ihrem Bestehen.
In den 50er-Jahren war man der Auffassung, dass es
Aufgabe der Wirtschaft ist, selber für ihre Produkte zu
werben. Später hat die Republik begonnen, Werbung
und Information auseinander zu halten. Werbung macht
die Wirtschaft, während Organisationen wie die Stiftung
Warentest für unabhängige Informationen sorgen. Es
kann aber nicht sein, dass ein Unternehmen mit den
positiven Ergebnissen der durch Steuerzahlergelder
finanzierten Stiftung Warentest auf seinen Produkten
werben will, um guten Profit zu machen, und es gleich-
zeitig ablehnt, einen kritischen Fragebogen auszufüllen.
Damit habe ich ein Problem. Ich glaube, die Stiftung
Warentest ist frei, das zu testen, was nach ihrer Meinung
die Verbraucher, ihre Kunden, wissen wollen. So verhält
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Sie sagen, dass dies die Verbraucher schlechter stelle.
ber die Zahlen zeigen im Vergleich zu vorher eine po-
itive Entwicklung.
Frau Ministerin, ich kann einen Dialog mit Frau Kopp
nd die Beantwortung der geäußerten Zusatzfragen nicht
ulassen, weil das auf Kosten der Kolleginnen und Kol-
egen geht. Es gibt noch viele andere Fragestellerinnen
nd Fragesteller.
Das Wort hat die Kollegin Waltraud Wolff.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich bedanke mich ganz
erzlich für den verbraucherpolitischen Bericht der Bun-
esregierung. Er zeigt, welchen Stellenwert der Verbrau-
herschutz in Deutschland einnimmt. Ich hätte gerne ge-
usst, mit welchen Maßnahmen die Bundesregierung
ewährleistet, dass die Verbraucherinnen und Verbrau-
her vor unlauterem Wettbewerb geschützt werden.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
chutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Ich glaube, der Kernpunkt des Schutzes gegen unlau-
eren Wettbewerb ist das geänderte UWG, das nach ent-
prechender Beratung im Sommer dieses Jahres in Kraft
etreten ist. Neu ist, dass zum ersten Mal der Verbrau-
herschutz als Gesetzesziel aufgenommen worden ist.
as UWG regelt und schützt damit nicht länger nur die
nterschiedlichen Interessen der Unternehmen, das
eißt, dass es beispielsweise verhindert, dass sich ein
nternehmer durch trickreiche Sonderangebote einen
irtschaftlichen Vorteil auf Kosten anderer Unternehmer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13363
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Bundesministerin Renate Künast
verschafft. Nun gilt ein Verbot benachteiligender Prakti-
ken wie Lockvogelangebote und Mondpreise. Man darf
also nicht mit einem sehr billigen Angebot – sei es für
einen Bräter oder sei es für einen Eierkocher oder einen
Computer – werben, ohne das so beworbene Produkt
vorrätig zu haben. Insbesondere bei den Discountern war
es Praxis, bestimmte Produkte mit großformatigen An-
zeigen zu bewerben, die aber spätestens um 10.30 Uhr
nicht mehr vorhanden waren. Viele Kunden, die losge-
rannt sind, um die beworbenen Produkte zu kaufen, aber
keine bekommen haben, haben dann bei den Discoun-
tern eingekauft, weil sie schon einmal da waren. Das war
ja der Trick. Man wollte die Kunden sozusagen locken.
Das ist in Zukunft verboten.
Mit Mondpreisen zu werben ist in Zukunft ebenfalls
verboten. Man darf also nicht behaupten, etwas sei ein
super Sonderangebot, wenn es nicht bereits eine be-
stimmte Anzahl von Tagen zu dem entsprechenden Preis
vorrätig war und verkauft wurde; denn sonst behauptet
man, ein Schnäppchen zu haben, obwohl es keines ist.
Es gibt zudem wirtschaftliche Sanktionen – das ist ein
neues Instrument der Verbraucherverbände –: Wer gegen
die Regeln verstoßen hat, der muss in Zukunft gewärti-
gen, dass die Verbraucherverbände klagen und eine so
genannte Unrechtsgewinnabschöpfung vornehmen, de-
ren Einnahmen dem Bundeshaushalt zufallen.
Darüber hinaus gibt es eine Kombination aus aktivie-
renden Verbandsrechten – darunter fällt auch ein Ver-
bandsklagerecht – und ökonomischen Reaktionen. Da-
runter fällt auch das, was im Energierecht neu geregelt
worden ist. Mein Wunsch ist eigentlich, dass wir das in
den verschiedenen rechtlichen Regelungen in Zukunft
zum Standard machen.
Das Energierecht ist besonders bedeutsam, weil wir
alle in der letzten Zeit darüber diskutiert haben, was die
Gaspreise mit der Ölförderung und den entsprechenden
Rohölpreisen zu tun haben. Dabei geht es um Alltags-
kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher; deshalb
ist es richtig, an dieser Stelle nicht nur zu kontrollieren,
sondern schlechte Praktiken, durch die Unrechtsgewinne
erzielt werden, zu beseitigen. Die Unternehmen müssen
wissen, dass die Verbraucherverbände ein Werkzeug ha-
ben, mit dem sie ihnen wirtschaftlich schaden können.
Frau Kollegin Heinen, bitte.
Sie sprechen in Ihrem Bericht – wie auch sonst immer
wieder gerne – an, dass nicht nur der gesundheitliche
Verbraucherschutz wichtig ist, sondern wir einen umfas-
senden Verbraucherschutz brauchen, also einen Verbrau-
cherschutz im wirtschaftlichen und im rechtlichen Be-
reich.
Umso erstaunter bin ich, dass diese beiden Bereiche
nur einen relativ geringen Teil Ihres Berichts ausma-
chen. Mich verwundert sehr, lesen zu müssen, dass Sie
sich mit der Bundesanstalt für Finanzen auseinander set-
zen wollen, da Sie eine neue Aufgabenverteilung beim
Umgang mit Schrottimmobilien – das ist ein wichtiges
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Frau Ministerin Künast, auf das Jubiläum zum 40-jäh-
igen Bestehen der Stiftung Warentest ist bereits hinge-
iesen worden. Auf die Frage eines Journalisten „Sind
ie mit dem Stellenwert zufrieden, den die rot-grüne Re-
ierung dem Verbraucherschutz einräumt?“ antwortete
erner Brinkmann, Alleinvorstand der Stiftung Waren-
est: Ja, seit Verbraucherministerin Renate Künast im
mt ist, hat die Politik für Verbraucher zweifellos an
influss und Profil gewonnen. Das ist erfreulich und
acht auch unsere Arbeit einfacher.
rau Ministerin, ich frage Sie, ob Sie mit diesem Quali-
ätsurteil zufrieden sind.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
chutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Frau Präsidentin, nun kann ich Ihrem Wunsch nach-
ommen und eine knappe Antwort geben: Ich bin zufrie-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13365
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Bundesministerin Renate Künast
den und würde ein solches Lob zum 50. Geburtstag der
Stiftung Warentest notfalls noch einmal annehmen.
Herr Kollege Feibel, bitte.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin von Lockvogelan-
geboten und Mondpreisen gesprochen. Ich frage Sie, ob
bei der Billigfliegerei diese Grundsätze, die beim Ver-
braucherschutz beherzigt werden sollen, noch angewen-
det werden, wenn gerade einmal 10 Prozent der Flug-
plätze zu diesen Billigpreisen zur Verfügung gestellt
werden müssen, also zum Beispiel vielleicht nur zehn
Sitzplätze für den Preis von 9,99 Euro von Köln nach
Perpignan angeboten werden. Widerspricht das nicht
dem Verbot von Lockvogelangeboten und Mondpreisen?
Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass die Deutsche
Bahn serienweise Bahnhöfe schließt? Dadurch wird dem
Verbraucher ja eigentlich die Möglichkeit genommen,
sich ausführlich über Fahrpläne, Fahrpreise und Ähnli-
ches zu informieren. Hinzu kommt, dass die Bahn auch
noch die Provision für die Vermittlung von Leistungen
absenkt, sodass der Verbraucher fast ausschließlich auf
Internet und Callcenter angewiesen ist, deren Beratungs-
qualität ja nicht sonderlich herausragend ist.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Bei der Billigfliegerei muss man unterscheiden: Zum
einen muss man sich fragen, wie es überhaupt zu einem
solchen Erscheinungsbild kommt, wie die Konkurrenzsi-
tuation der Flughäfen untereinander ist und wie die
rechtlichen, finanziellen und steuerlichen Bedingungen
aussehen. Dieser Themenbereich fällt nicht in die engere
Zuständigkeit des Verbraucherschutzministeriums.
Zum anderen muss man sich fragen – das ist der
wichtigere Punkt –, ob es in diesem Bereich Lockvogel-
angebote und Mondpreise gibt. Um das zu prüfen, muss
man wie in anderen Bereichen schauen, ob das, womit
geworben wird, auch tatsächlich im Angebot ist. Es wird
im Zweifelsfalle auch kontrolliert, ob man solche Ange-
bote bekommt. Hier ist der Sachverhalt aber natürlich
ein anderer als bei Angeboten in Geschäften, die man
erst einmal aufsuchen muss. Aus dem Internet dagegen,
wo man in der Regel nachschaut, ob es einen Flug für
40 Euro zum gewünschten Ziel gibt, kommt man leichter
wieder heraus als aus einem Geschäft. Die grundsätzli-
chen Regelungen gelten natürlich auch für den Bereich
der Fliegerei, aber nur in Bezug auf die interne Preisge-
staltung der Unternehmen, nicht in Bezug auf das Er-
scheinungsbild der Billigfliegerei, das durch die Kon-
kurrenz der Unternehmen untereinander entstanden ist.
Hinsichtlich der Schließung von Bahnhöfen und Ser-
vicecentern lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich wun-
dere mich darüber, dass ich auf der einen Seite so häufig
dafür kritisiert werde, dass durch die Festschreibung von
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– Dann haben Sie, Herr Kollege Koppelin, noch zwei
weitere Zusatzfragen.
Teilt der Bundesfinanzminister die Auffassung des
nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers, der gefor-
dert hat, es müssten genaue Nachweise über die Verwen-
dung der Mittel erbracht werden und es müsste gegebe-
nenfalls, wenn die Bedingungen nicht erfüllt sind, über
Sanktionen nachgedacht werden?
K
Herr Kollege Koppelin, in ihrer Stellungnahme vom
Oktober 2004 zu den Fortschrittsberichten „Aufbau Ost“
der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpom-
mern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen fordert
die Bundesregierung auf Seite 51:
Die Bundesregierung erwartet, dass die neuen Län-
der ihrer Verantwortung für das Gelingen des Auf-
baus Ost nachkommen. Die Solidarpaktmittel müs-
sen vollständig und nicht wie bisher in den meisten
Ländern nur zur Hälfte bis zu zwei Dritteln zur För-
derung des Aufbauprozesses eingesetzt werden.
Länder, die Solidarpaktmittel nicht für aufbauge-
rechte Zwecke einsetzen, verstoßen gegen den
Geist des Solidarpakts. Um ihrer Verantwortung für
den Aufbauprozess gerecht zu werden, sind die
Länder gefordert, darzulegen, welche zusätzlichen
Maßnahmen sie ergreifen, damit zukünftig die er-
haltenen Solidarpaktmittel vollständig sachgerecht
eingesetzt werden.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eichel betonte, die Zweckentfremdung der Gelder
bremse den Fortschritt beim Aufbau Ost.
Eichel wird dann wörtlich zitiert:
„Das kann und werde ich nicht länger akzeptieren.“
Darf ich Sie fragen, welche konkreten Maßnahmen der
Minister durchzuführen beabsichtigt, um sicherzustellen,
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– Haben Sie keine zweite Zusatzfrage mehr, Frau
Mayer?
– Sie verzichten auf Ihre zweite Zusatzfrage?
– Es ist aber üblich, dass zunächst Sie Ihre zwei Zusatz-
fragen stellen und dann andere Abgeordnete ihre Fragen
stellen.
Dann will ich das gerne tun. Vielen Dank.
Hält die Bundesregierung das Thema HIV/Aids unter
den Ministerien für optimal und ausreichend koordi-
niert? Eine Anmerkung dazu. Wir haben mehrere Fragen
zum Thema HIV/Aids gestellt und haben heute einen
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ie Effektivität dieses Messeauftritts kann ich daher in
einer Weise nachvollziehen.
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Herr Abgeordneter, Sie müssen ganz offensichtlich
ie ganze Zeit diesen Stand beobachtet haben. Wir haben
ufgrund der Rückmeldungen unserer Mitarbeiterinnen
nd Mitarbeiter ein anderes Bild gewonnen. Auch die
xperten, die wir eingeladen hatten, haben ein anderes
ild geschildert.
Klar ist, dass ein Stand zum ökologischen Landbau
erade auf einer traditionellen Messe wie der „Euro-
ier“ von dem einen oder anderen Besucher, der sozusa-
en ideologisch an dieses Thema herangeht, nicht so
ern gesehen wurde. Wir sind aber mit der Präsenz und
er Resonanz auf diesen Stand sehr zufrieden. Sollten
ie genaue Daten haben, aufgrund deren Sie zu der Mei-
ung gekommen sind, dass die Resonanz so furchtbar
chlecht war, bin ich sehr daran interessiert, diese zu be-
ommen.
13370 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
)
Ihre zweite Zusatzfrage, bitte.
Zur Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähig-
keit der deutschen Landwirtschaft hat dieser Stand dann
nicht beigetragen, oder?
Ma
Herr Kollege Auernhammer, wenn ich die Messeprä-
senzen, die ich auch in meiner Zeit als Haushälter zur
Kenntnis nehmen konnte, immer daran gemessen hätte,
ob sie sich im agrarpolitischen Bereich sofort positiv
auswirken, kämen wir sicherlich zu interessanten Ergeb-
nissen.
Wir gehen davon aus, dass die hervorragenden For-
schungsergebnisse in den Bereichen „artgerechte Tier-
haltung“ und „ökologischer Landbau“ auf jeden Fall zur
Steigerung der Wirtschaftskraft beitragen. Das können
Sie schon daran erkennen, dass die Ergebnisse, sowohl
was die Ertragssteigerung als auch was die Zahl der Be-
triebe des ökologischen Landbaus angeht, positiv sind,
während die Ergebnisse in der Landwirtschaft ansonsten
eher rückläufig sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Goldmann.
Herr Staatssekretär, ich habe den Eindruck, dass Sie
wirklich nicht auf der „Euro-Tier“ waren. Es war schon
interessant, dass Sie gesagt haben, die „Euro-Tier“-Aus-
steller und -Besucher hätten nicht so ganz kapiert, um
was es im Bereich der Agrarwirtschaft geht. Es sei auch
– wie sagten Sie? – eine traditionelle Messe. Ich emp-
fehle Ihnen, sich einmal die Auszeichnungen anzusehen,
die dort verteilt worden sind.
Meine Frage, Herr Staatssekretär: Warum gab es diese
sehr einseitige Ausrichtung? Ich habe mir den Stand an-
geguckt und fand ihn auch hübsch. Vor dem Hintergrund
aber, dass der Ökobereich, den ich sehr schätze,
4 Prozent des Gesamtmarktes ausmacht, erscheint mir
ein Mitteleinsatz von 220 000 Euro – es wird möglicher-
weise noch mehr – nicht ganz richtig gewichtet.
Ma
Zunächst einmal, Herr Kollege, zu der Ihrer Frage vo-
rangestellten Unterstellung. Ihre Beurteilung der „Euro-
Tier“ ist nicht mit dem in Einklang zu bringen, was ich
dazu gesagt habe. Klar ist, dass der Ökolandbau bei den
Besuchern der „Euro-Tier“ nicht ganz unumstritten ist,
ebenso wie hier im Parlament. Ich freue mich sehr, dass
Sie den Stand hübsch fanden. Darüber hinaus bin ich der
Meinung, dass es sich lohnen würde, die Erkenntnisse,
die wir gewonnen haben, wie artgerechte Tierhaltung in
der Praxis sowohl wirtschaftlicher umsetzbar ist als auch
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Über welche Erkenntnisse in Bezug auf Betrug und Kor-
ruption durch die Regierung des ehemaligen irakischen
Staatspräsidenten Saddam Hussein im Zusammenhang mit
dem Programm „Öl für Lebensmittel“ der Vereinten Nationen
verfügt die Bundesregierung und wie bewertet die Bundes-
regierung die Einschätzung des Vorsitzenden des Ausschusses
für auswärtige Beziehungen des Repräsentantenhauses der
Vereinigten Staaten von Amerika, Henry Hyde, in seiner Stel-
lungnahme für die Anhörung des Ausschusses am 17. No-
vember 2004, dass es bei der Durchführung des Programms
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dass die Länder und Kommunen Förderinstrumente ein-
setzen können, die der Bund und die Europäische Union
mitfinanzieren. Dazu gehören die Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, der
Europäische Strukturfonds – das wären in diesem Fall
der ESF bzw. EFRE – und die Städtebaufördermöglich-
keiten. Ich habe mir vom Wohnungsbauministerium he-
raussuchen lassen, welche Kommunen und militärischen
Liegenschaften in meinem Bundesland gegenwärtig aus
Städtebaufördermitteln in ihrer strukturellen Umwand-
lung gefördert werden.
Es geht um eine Entscheidung vor Ort seitens der
Länder. Sie müssen entscheiden, mit welchen Instrumen-
ten sie ihrerseits an die Aufgabe herangehen und die Ge-
meinden unterstützen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Rose.
Herr Staatssekretär, da meine Wortmeldung etwas zu-
rückliegt und Sie zu dem Zeitpunkt die zusätzlichen
Möglichkeiten noch nicht erwähnt hatten – wobei ich
aus Erfahrung weiß, dass es solche zusätzlichen Mög-
lichkeiten gibt –, frage ich Sie: Übertrumpfen Sie frü-
here Bundesregierungen in ihrem Bemühen, den durch
Standortschließungen sehr stark betroffenen Kommu-
nen zu helfen und sie zu unterstützen, indem Sie den Ka-
talog vielleicht noch ausweiten?
K
Herr Kollege, Sie waren selbst in der Funktion des
Parlamentarischen Staatssekretärs Mitglied der vorigen
Bundesregierung und kennen die Details. Ich war da-
mals in der Opposition und habe mich vehement bei-
spielsweise dafür eingesetzt, die Verkehrswertermittlung
dadurch zu beschleunigen, dass wir nicht erst abwarten,
bis die Angaben seitens der Länder vorgelegt wurden. In
Rheinland-Pfalz zum Beispiel waren die Staatsbauämter
des Landes für die Verkehrswertermittlung bei Liegen-
schaften zuständig, mit der Folge, dass ihre Kapazitäten
so schnell ausgelastet waren, dass jede frei werdende
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Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, geht die Bundesregierung davon
us, dass Presseveröffentlichungen realitätsnah sind, wo-
ach mit massenhaften Zwangsumsiedlungen in neue
ohnungen zu rechnen sei?
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Ich glaube das nicht. Ich traue den Kommunen und
en Verantwortlichen vor Ort sehr wohl zu, dass sie
icht nur menschlich und sozial verantwortlich handeln,
ondern auch ökonomisch und betriebswirtschaftlich
enken. In manch einem Fall wird sich in der Praxis das
berschreiten bestimmter Grenzwerte, die vorgegeben
ind, im Vergleich zu den zu übernehmenden Umzugs-
nd anderen Folgekosten sicherlich als hinnehmbar he-
ausstellen. Streitfälle wird man zwar nie ganz ausschlie-
en können. Aber ich bin sehr sicher, dass die Kommu-
en hier – großflächig – sehr verantwortungsbewusst
orgehen werden.
Ich rufe die Frage 22 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
uf:
Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung
unternommen, um die Verdrängung von regulären Stellen,
zum Beispiel im Reinigungsgewerbe – „Berliner Zeitung“
vom 25. November 2004 –, durch 1-Euro-Jobs zu verhindern?
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Frau Abgeordnete, im SGB II ist zur Umsetzung des
rundsatzes „Fördern und Fordern“ eine Vielzahl von
ördermöglichkeiten vorgesehen, um für die erwerbsfä-
igen Hilfsbedürftigen einen möglichst passgenauen In-
egrationsplan mit den notwendigen Eingliederungsin-
trumenten zu erarbeiten.
Eines dieser Instrumente ist die Schaffung von Ar-
eitsgelegenheiten unter Fortzahlung des Arbeitslosen-
eldes II bei zusätzlicher Gewährung einer angemesse-
en Mehraufwandsentschädigung bei zusätzlichen und
m öffentlichen Interesse liegenden Arbeiten nach
16 Abs. 3 Satz 2 SGB II, von der Bundesregierung als
Zusatzjobs“ bezeichnet.
13380 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
)
Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt
Der Einsatz der Zusatzjobs und weiterer Maßnahmen
der öffentlich geförderten Beschäftigung des SGB II ist
gegenüber anderen Eingliederungsleistungen, zum Bei-
spiel Qualifizierungsmaßnahmen, nachrangig und soll
nur erfolgen, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige
auch unter Einsatz dieser anderen Instrumente nicht in
den Arbeitsmarkt eingegliedert werden kann. Über den
Einsatz von Zusatzjobs wird auf lokaler Ebene in eigener
Verantwortung der Arbeitsgemeinschaften, Arbeitsagen-
turen und optierenden Kommunen entschieden.
Die Bundesregierung nimmt mit Besorgnis wegen
möglicher Wettbewerbsverzerrungen die eine oder an-
dere Entwicklung außerordentlich ernst. Dies gilt für das
Reinigungsgewerbe genauso wie für andere Wirtschafts-
bereiche oder auch für den öffentlichen Dienst.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass bei einem
verantwortungsbewussten Einsatz von Zusatzjobs durch
die Arbeitsgemeinschaften, Arbeitsagenturen und optie-
renden Kommunen Wettbewerbsverzerrungen vermie-
den werden können. Dadurch, dass Zusatzjobs nur für im
öffentlichen Interesse liegende zusätzliche Arbeiten ge-
schaffen werden dürfen, ist gesetzlich ausgeschlossen,
dass es im Kernbereich erwerbswirtschaftlichen Han-
delns zu einer Verzerrung des Wettbewerbs kommen
kann.
In diesem Zusammenhang ist gut vorstellbar, dass die
regional Beteiligten zur Klärung derartiger Fragen die
Schaffung eines gemeinsamen Gremiums verabreden,
zum Beispiel einen Beirat, in dem die Arbeitsgemein-
schaften, Arbeitsagenturen und optierenden Kommunen
gemeinsam mit den Kammern, Fachverbänden, Gewerk-
schaften und anderen vertreten sind, um die verschiede-
nen Interessen frühzeitig auszugleichen.
Die Bundesregierung wird die Entwicklung bei der
Umsetzung der Zusatzjobs dennoch sehr aufmerksam
beobachten, um beim Beschreiten neuer Wege nie ganz
auszuschließende Fehlentwicklungen frühzeitig zu er-
kennen und gegebenenfalls rechtzeitig gegenzusteuern.
Gegenwärtig sind der Bundesregierung derartige Fehl-
entwicklungen aber nicht bekannt, jedenfalls nicht im
Sinne flächendeckender Fehlentwicklungen. Insoweit
gilt zunächst, das In-Kraft-Treten des neuen Rechts zum
1. Januar 2005 abzuwarten.
Ihre erste Zusatzfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,
Sie haben gesagt, es gelte zunächst, das In-Kraft-Treten
des neuen Rechts abzuwarten. Ich glaube, damit ist
meine Frage nicht so richtig beantwortet worden. Sie
wissen genauso gut wie ich, dass es diese ersten Arbeits-
gelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen, so
genannte 1-Euro-Jobs, bereits seit einigen Wochen im
Zuge einer Testphase gibt.
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Weshalb geht die Bundesregierung davon aus, dass – so
die Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministe-
rin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Marion Caspers-
Merk, in ihrer Antwort auf meine mündliche Frage 14 in der
Fragestunde am 10. November 2004 – „… die Finanzreserven
der Pflegeversicherung bis ins Jahr 2008 reichen“ – Plenar-
protokoll 15/137, Seite 12554 C –, wenn der Sachverständi-
genrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwick-
lung in seinem Jahresgutachten 2004/05 darauf hinweist, dass
die Rücklagen der sozialen Pflegeversicherung bereits bis
Mitte des Jahres 2007 aufgebraucht sein könnten – „Erfolge
im Ausland – Herausforderungen im Inland“, Jahresgutachten
des Sachverständigenrates 2004/05, Seite 331 –, und wie ist
diese Diskrepanz in der Berechnung nach Meinung der Bun-
desregierung zu begründen?
M
Herr Kollege Bahr, bei der Einschätzung der Finanz-
ntwicklung in der Pflegeversicherung besteht keine
iskrepanz zwischen dem Sachverständigenrat und der
undesregierung. Der Sachverständigenrat bezieht seine
ussage wahrscheinlich darauf, dass im Laufe des Jah-
es 2007 der Mittelbestand der Pflegeversicherung vo-
aussichtlich 1,5 Monatsausgaben unterschreiten wird.
ei dem Betriebsmittelsoll handelt es sich allerdings
icht um eine Mindestreserve, die gesetzlich vorge-
chrieben ist und die von den Pflegekassen zwingend
orzuhalten ist, sondern um das Maximum an Betriebs-
itteln, die bei der Pflegekasse verbleiben dürfen. Da-
über hinausgehende Mittel müssen die Pflegekassen im
inanzausgleichsverfahren an die Ausgleichsfonds ab-
ühren.
Der Finanzausgleich der Pflegeversicherung funk-
ioniert auch noch bei einem geringeren Mittelbestand.
ieser Mittelbestand wird in der aktuellen Finanzschät-
ung der Bundesregierung erst im Laufe des Jahres 2008
nterschritten. Daher bleibe ich bei meiner Aussage, dass
ir durch die zusätzlichen Einnahmen – die Beitragszah-
er ohne Kinder werden stärker belastet; damit setzen wir
in Urteil des Bundesverfassungsgerichts um – Zeit für
ine grundlegende Reform der Pflegeversicherung ge-
onnen haben. Mit diesen Einnahmen in einer Größen-
rdnung, so die Prognose, von 700 Millionen Euro kann
as Defizit der Pflegekassen abgebaut werden. Das
chafft Finanzsicherheit für die Pflegebedürftigen und
uch für die Pflegedienstleister bis zum Jahr 2008.
13384 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
)
Nachfrage, Herr Kollege Bahr.
Frau Staatssekretärin, herzlichen Dank für Ihre Dar-
stellung. Der Sachverständigenrat hat deutlich gemacht,
wie dringend eine grundlegende Reform der Pflegeversi-
cherung ist. Er hat angemahnt, keine Zeit zu verlieren.
Wir dürfen uns also nicht ausruhen, nur weil wir durch
die verkappte Beitragserhöhung in Form des Kinder-Be-
rücksichtigungsgesetzes Zeit gewonnen haben.
Ich möchte Sie fragen: Wie viel Zeit haben wir noch
für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung
angesichts der Tatsache, dass spätestens bis zum Jahr
2008 – das ist Ihre Einschätzung – die Rücklagen so auf-
gebraucht sein werden, dass es zwangsläufig zu Beitrags-
erhöhungen kommen muss?
M
Wir müssen zwischen der finanziellen und der struk-
turellen Situation der Pflegeversicherung unterscheiden.
Ich sehe den Hauptänderungsbedarf in der strukturellen
Situation der Pflegeversicherung. Denn in der jetzigen
Struktur der Pflegeversicherung ist beispielsweise der
Bereich der Demenzerkrankungen nicht ausreichend ab-
gebildet. Wenn man hier strukturelle Veränderungen
will, dann muss man auch sagen, woher die Mittel kom-
men sollen. Bei der derzeit angespannten finanziellen
Lage der Pflegekassen haben wir im Augenblick keine
Möglichkeit, mehr Leistungen ohne eine Erhöhung der
Beiträge zu organisieren.
Deswegen war unser Ziel, in einer ersten Stufe die
Auflagen des Bundesverfassungsgerichts mit der finan-
ziellen Konsolidierung der Pflegeversicherung zu ver-
knüpfen, um dann in einem nächsten Schritt festzulegen,
was noch verändert werden muss.
Ich will an dieser Stelle sagen: Ich bin über den Be-
schluss der Ländersozialminister sehr froh. Die Arbeits-
und Sozialministerkonferenz hat jüngst in Friedrichsha-
fen bekräftigt, dass sie der Auffassung ist, dass ein Teil
der Leistungen aus der Pflegeversicherung selbst erwirt-
schaftet werden soll, wenn es bei der Pflegeversicherung
Reformen geben soll. Das ist ein wichtiger Aspekt für
gemeinsame weitere Gespräche.
Wir haben in einem ersten Schritt finanziell konsoli-
diert. Wir müssen in einem zweiten Schritt die Pflege-
versicherung umgestalten und nachhaltig verändern. Im
Hinblick auf diese Nachhaltigkeit werden wir darüber
diskutieren müssen, was dieser Gesellschaft die Pflege
wert ist. Denn das hat natürlich Konsequenzen für die
Pflegeversicherungsbeiträge.
Aber Sie fragen jetzt nach dem dritten Schritt, bevor
der zweite getan ist. Einen ersten Umsetzungsschritt ha-
ben wir gemacht. Ich habe dazu auch an dieser Stelle
schon Antworten gegeben. Es gibt derzeit einen runden
Tisch gemeinsam mit dem Bundesministerium für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Vorschläge zur
Entbürokratisierung und zur Umsetzung zum Beispiel
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ns geht es schlicht darum, dass wir versuchen, im
inne der Wahrung europäischer Werte zu helfen, damit
o viel Mut, so viel persönliche Risikobereitschaft – üb-
igens auch so viel Disziplin und Umsicht – nicht mit ei-
er Demonstration dumpfer Macht beantwortet wird, da-
it nicht mit faulen Tricks versucht wird, diese
ewegung ins Leere laufen zu lassen, sondern damit das
13388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
)
Gernot Erler
Ganze mit einem fairen Ergebnis endet, das dem ganzen
Land Ukraine hilft.
Was ist das für ein Land, von dem wir hier sprechen?
Ukraine heißt Land an der Grenze, Grenzland. Das spielt
auf Mitteleuropa an und bedeutet auch immer, zwischen
anderen, größeren Mächten eingeklemmt zu sein. Kein
anderer hat das besser ausgedrückt als der derzeit popu-
lärste ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch in
seinem Essay „Mittel-Ost-Revision“, aus dem ich eine
kleine Passage zitieren möchte. Da schreibt er:
Der Platz zwischen den Russen und den Deutschen
ist die historische Bestimmung von Mitteleuropa.
Die zentraleuropäische Angst schwankt historisch
hin und her zwischen zweierlei Sorge: Die Deut-
schen kommen, die Russen kommen. Der zentral-
europäische Tod – das ist der Tod im Lager oder im
Gefängnis, dazu kommt noch ein kollektiver Tod:
Massenmord, Säuberung. Die zentraleuropäische
Reise – das ist die Flucht. Aber von woher und wo-
hin? Von den Russen zu den Deutschen? Oder von
den Deutschen zu den Russen? Gut, dass es für alle
Fälle noch Amerika gibt.
Vielleicht ist das die kürzeste und prägnanteste Ortsbe-
stimmung von Mitteleuropa und damit vom größten
Land dort, der Ukraine. Das weist uns aber auch darauf
hin, mit welcher Umsicht und Vorsicht wir auf die Vor-
gänge bei unserem Nachbarn reagieren müssen.
Ich bin froh, dass man diese Sensibilität hier bemer-
ken kann. Ich bin froh, dass Vertreter der EU, der polni-
sche Präsident Kwasniewski, der litauische Präsident
Adamkus und der Hohe Repräsentant und Generalsekre-
tär der EU, Solana, jetzt schon zum zweiten Mal in der
Ukraine sind, um ihre guten Dienste anzubieten. Ich
finde, wir sollten ihnen für diese Bemühungen Dank sa-
gen.
Auch bin ich froh, dass Außenminister Fischer deut-
lich gemacht hat, dass wir die Menschen und die Demo-
kratie, nicht aber einen einzelnen Kandidaten unterstüt-
zen. Im Namen der Koalition und der SPD-Fraktion
möchte ich Dank sagen und unsere volle Unterstützung
für die Bemühungen des deutschen Bundeskanzlers zum
Ausdruck bringen, der seine guten und freundschaftli-
chen Beziehungen zum russischen Präsidenten hilfreich
genutzt hat.
Er hat zwei Telefongespräche mit ihm geführt, die jedes
Mal ein gutes Ergebnis gebracht und in Moskau deutlich
gemacht haben, dass das Prestige der russischen Politik
auf dem Spiel steht.
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Es stimmt übrigens: An einigen amerikanischen
chreibtischen sitzen Leute, die geopolitische Spiele aus
em Kalten Krieg im Kopf haben und die diese Präsi-
entenwahl tatsächlich zu einer Art Endspiel im Kampf
m Einfluss und Einflusszonen in Mitteleuropa hoch-
chreiben wollten. All denen – egal wo sie sitzen –, die
avon ausgehen, die Ukraine sei ein Spielball anderer
ächte, sie sei Objekt der Politik und nicht Subjekt, ru-
en wir heute aus dem Plenum des Deutschen Bundesta-
es zu: Ihr irrt euch! Schaut auf die Straßen von Kiew,
on Charkow, von Lemberg, von Tarnopol und vielen
nderen Städten! Die Menschen in der Ukraine sind fest
ntschlossen, Subjekt von Geschichte und Politik zu
erden. Sie wollen nicht eingeklemmt bleiben und zer-
ieben werden, sie wollen endlich selber über ihren Weg
estimmen. Im 21. Jahrhundert kann die Ukraine nicht
ehr Hinterhof von irgendwem oder passives Objekt ir-
endwelcher geopolitischen Spiele sein.
Wir werden Partner dabei sein, diese Situation zu be-
nden und dieses von Jurij Andruchowytsch beschrie-
ene Trauma zu überwinden.
Meine Damen und Herren, es gibt keine politische
inmischung von uns – und es wird auch keine geben –,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13389
)
)
Gernot Erler
aber es gibt auf allen Ebenen Sympathie für die oran-
gene Revolution. Zum Beispiel hat der Freiburger Ge-
meinderat gestern einstimmig, über alle Fraktionen hin-
weg, ein Unterstützungsschreiben an den Gemeinderat
in Lemberg geschickt. Ich wünsche mir, dass so etwas
„von unten“ vielerorts passiert. Das ist Sympathie mit
Menschen, die nicht bereit sind, die groben Wahlfäl-
schungen vom 21. November zu akzeptieren.
Wir wissen und wir haben Belege dafür, welchen Um-
fang diese Wahlfälschungen angenommen haben: dass
Wählerlisten gefälscht wurden, dass Busse mit Mehr-
fachwählern herumgefahren sind, dass Kisten mit vorab
ausgefüllten Wahlzetteln gefunden wurden. In diesen
Stunden treten vor dem obersten Gericht der Ukraine
Zeugen auf, die von Hunderten von Wahlbezirken be-
richten, in denen eine Wahlbeteiligung von mehr als
100 Prozent festgestellt wurde. Es ist eindeutig: Diese
Wahl kann nicht anerkannt werden. Kein Präsident, der
nach einer solchen Wahl sein Amt antritt, kann ir-
gendeine Autorität beanspruchen, weder in seinem eige-
nen Land noch bei uns.
Der Konsens darüber wird breiter. Aber wir müssen
auch erkennen, dass es nicht nur um diese Wahl geht;
diese Wahl hat eigentlich nur ein Fass überlaufen lassen,
das schon vorher voll war. Ich meine damit die Wahl-
kampagne, bei der die Anhänger von Wiktor
Juschtschenko in unfairster Weise behindert wurden.
Seine Flugzeuge konnten plötzlich nicht starten, seine
Busse kamen nie an den Bestimmungsorten an. Man
nennt das „die administrativen Ressourcen nutzen“. Es
ist schon zynisch, dass nach dem unaufgeklärten Giftan-
schlag auf diesen Kandidaten, der sein Gesicht bekannt-
lich sehr entstellt hat, die Gegner sagten: Wie kann ei-
gentlich jemand, der so aussieht, die Ukraine nach außen
vertreten? Das ist blanker Zynismus.
Es gab eine neue Studentenbewegung; sie heißt
„Pora“, das heißt „Es ist Zeit“. Schon vor der Wahl sind
viele der Studenten, die sich engagiert haben, die sich
politisch betätigt haben, festgenommen worden. Sie sind
bedroht worden, verhaftet worden, zum Teil aus den
Universitäten ausgeschlossen worden. Übrigens gab es
dafür ein Vorbild: Das war die Studentenbewegung im
Jahr 2000 in Serbien; sie hieß „Vreme“, auf Deutsch
auch „Es ist Zeit“.
Es gab eine massive Einschüchterung und Vermach-
tung der Medien. Der einzige unabhängige Kanal der
Ukraine ist der Kanal 5. Er ist immer wieder in seiner
Arbeit behindert worden. Wir kennen die berühmten und
berüchtigten „Temniki“, die Anweisungen des Chefs der
ukrainischen Präsidialverwaltung, Wiktor Medwedtschuk,
der den Medien jeweils im Detail vorschrieb, was zu be-
richten ist und was nicht. Wir haben großen Respekt vor
den über 330 ukrainischen Journalisten, die schon vor
dem Wahltag ihren Protest gegen diese Bevormundung
angekündigt haben und sich damit praktisch die eigene
Entlassungsurkunde ausgestellt haben.
Immer mehr Menschen in der Ukraine sagen einfach:
Wir machen nicht mehr mit. Wir wollen Ehrlichkeit und
nicht mehr diesen Sumpf und diese verborgenen Spiele
zwischen politischer und ökonomischer Macht, zwi-
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Viele Tricks sind jetzt möglich. Wir müssen damit
echnen, dass Tricks angewandt werden, um Zeit zu ge-
innen und die Wahlen zu wiederholen. Es wird heißen,
err Juschtschenko und Herr Janukowitsch können nicht
ehr kandidieren; denn sie haben die Ukraine durch ih-
en Streit an den Rand des Bruchs gebracht. Ich sage
ur: Diese Tricks werden nicht wirken.
Dort sind Menschen aufgebrochen, die nicht wieder
urück in ihre Häuser gehen werden. Wir glauben nicht,
ass die Menschen aufhören, für diese neue Ukraine zu
ämpfen. Es gibt diese neue Ukraine schon. Wir haben
lles Recht und die Pflicht, ihr unsere Sympathie und un-
ere Unterstützung zuzusagen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Claudia Nolte von der
DU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
ollegen! Die drei Tage in Kiew in der letzten Woche
aren für mich unglaublich bewegend. Ich habe
13390 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
)
Claudia Nolte
Tausende von Menschen gesehen, die mit viel Hoffnung
und Optimismus für ihre Grundrechte auf der Straße
streiten und demonstrieren und die ihre sehr klare Ent-
schlossenheit zum Ausdruck bringen: Wir werden nicht
eher aufhören, bis der aus unserer Sicht rechtmäßige Sie-
ger der Wahl auch zum Präsidenten erklärt wird.
Ich denke, es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass es
einen Wahlbetrug gegeben hat. Der Kollege Erler hat das
schon ausgeführt. Für mich ist es ein unglaublich hoff-
nungsfrohes Zeichen, dass sich in der Ukraine inzwi-
schen eine so große Zivilgesellschaft herausgebildet hat,
die diesen Betrug nicht mehr akzeptieren will, und dass
es eine starke Opposition gibt, was ein wesentliches
Merkmal für demokratische Strukturen ist. Für mich war
es sehr wichtig, zu erleben, dass dies friedliche Men-
schen waren und dass es ihnen ganz wichtig ist, dass
keine Gewalt angewendet wird. Auch von Juschtschenko
und den anderen ist immer darauf hingewiesen worden,
sich nicht provozieren zu lassen, sondern den Protest
friedlich auszutragen.
Dass es Gründe für diese Warnung gab, wurde mir
klar, als ich die Busse gesehen habe, mit denen
Janukowitschs Anhänger, in der Regel Männer, aus dem
Ostteil des Landes nach Kiew gebracht worden sind. Da-
durch kam es zu einer spannungsgeladenen Atmosphäre.
Es wurde deutlich: Es ist nicht unbedingt sicher, dass die
Lage auf Dauer friedlich bleibt.
Vor dem Hintergrund dieser Konstellation stellt sich
die Frage: Wie lässt sich dieser Konflikt auflösen? Der
rechtliche Weg ist nicht ganz einfach. Das Wahlgesetz
sieht beispielsweise keine Wiederholung von Stich-
wahlen vor. Genau das aber verlangt die Opposition. Ich
kann diesen Wunsch der Opposition sehr gut nachvoll-
ziehen. Ihrer Meinung nach würde eine Neuwahl den
ganzen Prozess erneut in Gang setzen, was viel Zeit
braucht. Sie sind sich jedoch nicht sicher, was in dieser
Zeit alles passiert. Maßnahmen der Regierung wären nur
schwer kontrollierbar. Daher sind die Befürchtungen der
Opposition nicht unbegründet.
Der Vorschlag, der immer wieder ins Feld geführt
worden ist, man könne ja in einzelnen Regionen die
Stimmen nachzählen, ist kein gangbarer Weg. ODIHR
hat ausdrücklich davor gewarnt; denn viele Wahlfäl-
schungen fanden vor der Wahl statt. Wenn man diese
Stimmen auszählt, würde man im Nachgang ein falsches
Ergebnis sanktionieren. Das ist also keine Lösung.
Die Wiederholung der Stichwahl, wie es die Opposi-
tion fordert, wäre nur über eine politische Einigung
möglich. Dafür müsste das Wahlgesetz geändert werden,
damit eine rechtliche Grundlage geschaffen wird. Man
müsste es auch ändern, um die Instrumentarien, die als
Einfallstore für Wahlfälschungen dienen, abzuschaffen,
wie die fliegenden Wahlurnen oder die Wahlscheine, mit
denen man außerhalb des eigenen Wahllokals wählen
kann, und vieles mehr. Ebenso müsste darauf geachtet
werden, dass die Wahlkommissionen paritätisch besetzt
werden.
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s ist zwar richtig, dass der Osten stärker nach Russland
usgerichtet ist, aber das heißt doch nicht, dass die Men-
chen im Osten Wahlbetrug wollen. Sie haben vielmehr
leichermaßen den Anspruch und das Recht, dass ihr
otum, egal in welche Richtung es geht, ernst genom-
en und dass ihr Wählerwillen akzeptiert wird.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13391
)
)
Claudia Nolte
Ich denke auch, dass die Stimmung im Osten zum
großen Teil damit zusammenhängt, dass im östlichen
Landesteil eine vollkommene Desinformation stattge-
funden hat. Der einzige freie Fernsehkanal war dort in
vielen Regionen nicht empfangbar. Über Monate hinweg
ist eine Kampagne geführt worden, sodass viele Men-
schen im Ostteil des Landes überhaupt keine richtigen
Vorstellungen davon haben, was in Kiew und den westli-
chen Landesteilen vorgeht. Ich kann nur hoffen, dass
sich dieses Meinungsbild ändern wird, wenn die Medien
heute offener und neutraler berichten. Die Rückmeldun-
gen, die ich habe, besagen, dass Autonomiebestrebun-
gen, wie Janukowitsch sie jetzt ins Gespräch gebracht
hat, im Osten des Landes keine Mehrheit finden würden
und dass ihm diese Aktion eher geschadet hat, auch in
den eigenen Reihen.
Ich bin in der Ukraine immer wieder darauf angespro-
chen worden, dass man von der Europäischen Union
klare Zeichen erwartet. Diese Zeichen kamen spät, sie
kamen auch von der Bundesregierung spät. Ich begrüße
es sehr, dass jetzt und schon am Freitag letzter Woche
der EU-Außenbeauftragte, Herr Solana, in Kiew Gesprä-
che mit beiden Seiten führt, um auszuloten, welche
Wege es gibt, und um zu schauen, wie man beide Seiten
zu Verhandlungen bewegen kann.
Mir wurde auch immer wieder bedeutet, dass man die
Hoffnung hat, dass Deutschland seine guten Beziehun-
gen zu Russland nutzt. Man möchte, dass Russland das
ukrainische Volk entscheiden lässt und nicht die Ukraine
umklammert. Wenn Russland einem Präsidenten die Un-
terstützung gibt, der durch Wahlbetrug ins Amt gekom-
men ist, dann wird das von den Menschen auf der Straße
nicht akzeptiert. Russland hat im Wahlkampf sehr stark
Partei ergriffen. Deswegen finde ich es notwendig, Herr
Bundeskanzler, dass Sie diese Gespräche mit Präsident
Putin führen. Wenn uns Einmischung vorgeworfen wird,
obwohl der Westen nicht einmal sagt, dass er einen be-
stimmten Kandidaten präferiert – das haben wir nie ge-
tan –, sondern nur darauf beharrt, dass kein Wahlbetrug
passiert und dass der Wählerwille zum Ausdruck
kommt, dann stellt sich für mich die Frage nach dem je-
weiligen Demokratieverständnis.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben auf die Frage, ob der
russische Präsident Putin ein lupenreiner Demokrat sei,
mit Ja geantwortet. Dann müsste es doch aus Ihrer Sicht
möglich sein, mit ihm darin eine Übereinstimmung zu
bekommen, dass so ein Wahlbetrug nicht akzeptabel ist.
Da der russische Präsident Einfluss hat, nicht zuletzt auf
den Präsidenten Kutschma, müsste es doch auch einen
Weg geben, zu versuchen, dass dieser Einfluss dahin ge-
hend genutzt wird, dass Kutschma den Weg für eine
friedliche und positive Lösung freimacht. Es ist doch
keine Einmischung, wenn Sie dies nachdrücklich in Ge-
sprächen mit dem russischen Präsidenten erörtern.
Es geht doch nicht um eine Konfrontation zwischen
Russland und uns. Ein Konflikt darf überhaupt keinen
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Katrin Göring-
ckardt vom Bündnis 90/Die Grünen.
Eintopf und Euphorie – das sind die Zutaten der
rangenen Revolution. Was in der Ukraine passiert,
ommt vom Volk. Volkes Wille wird dokumentiert mit
attejacke und Pelzmantel, von Großmüttern und En-
elsöhnen. Es sind viele Junge, die protestieren und aus-
alten. Es geht um ihre eigene Zukunft.
Übrigens sind nicht alle politisiert. Es treffen sich
eine kleinen Zirkel und es finden auch keine runden Ti-
che statt, bei denen man sich fragt, was nach dem Sieg
assiert. Nein, die Politik sollen die Politiker machen.
arin zeigt sich fast ein wenig Demut.
Aber worum geht es dann? Sind wirklich alles An-
änger von Juschtschenko, seiner Politik und seinen
ahlversprechen? Auch auf diese Frage lautet die Ant-
ort Nein. Es geht um Wahrheit, Würde und Stolz. Man
ässt sich nicht die Wahlen stehlen. Mit dem Aufzwingen
13392 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
)
Katrin Göring-Eckardt
des Willens von oben und von außen muss Schluss sein.
Auch deswegen ist der Protest so friedlich und wird es
hoffentlich bleiben.
Es geht bei diesem Protest auch nicht um ein Wohl-
standsversprechen. Es geht nicht um Autos für alle, son-
dern um Freiheit und Demokratie auch in einem sehr
armen Land. Das unterscheidet die Ukrainer übrigens
von manchen anderen Revolutionären.
Es wird ganz bestimmt Enttäuschungen geben, wenn
sich erst wieder Apparate und Bürokraten über das Land
beugen. Aber egal, wie lange jetzt verzögert oder hinge-
halten wird: Das, was jetzt geschieht, ist nicht zurückzu-
drehen. Der Gedanke an die Freiheit ist ebenso wie der
Rausch der Revolution tief in die Herzen eingegraben.
Als wir am Samstag, nachdem das Parlament dokumen-
tiert hatte, dass es die Wahlen nicht für rechtmäßig hält,
die Pressesprecherin der Wahlkommission trafen, war
sie von oben bis unten in einen orangen Schal gehüllt.
Es geht in der Tat um die Einheit der Ukraine, um
eine gemeinsame Identität. Für uns heißt das: mehr ei-
genständigere Ukrainepolitik, nicht eine, die über Russ-
land definiert wird. Es geht nicht darum – auch wenn es
noch so gut gemeint ist –, der Ukraine jetzt eine EU-Per-
spektive zu eröffnen. Das würde zu einer Spaltung füh-
ren und verhindern, dass die Ukraine ihren eigenen Weg
findet. Das bedeutet für Russland, einen eigenständigen
und demokratischen Weg der Ukraine zu respektieren.
Das Verhältnis der beiden Länder mit der langen ge-
meinsamen Grenze wird – von welchem rechtmäßigen
Präsidenten die Ukraine auch immer regiert wird – sehr
eng bleiben. Wladimir Putin hat durch seine Einmi-
schung von außen viel von seiner Reputation in der
Ukraine verspielt. Diese Einmischung von außen will
man nicht mehr respektieren – weder auf den Straßen
Kiews noch in anderen Teilen der Ukraine. Man will
sich nicht mehr vorschreiben lassen, wen man wählen
und was man denken soll.
Es ist nicht richtig – darauf haben schon andere an
dieser Stelle hingewiesen –, von einer gespaltenen
Ukraine zu reden. Erst seit wenigen Tagen kommen die
Nachrichten über das, was in Kiew und Lemberg ge-
schieht, auch im Osten des Landes an. Bis dahin hatte
die Staatsmacht das offizielle Fernsehen daran gehindert,
frei zu berichten. Inzwischen sind aber mehr und mehr
Journalistinnen und Journalisten dazu übergegangen,
real und objektiv zu berichten. Es ist übrigens ausge-
rechnet eine Gebärdendolmetscherin gewesen, die dies
als eine der Ersten tat. Während die Wahlkommission
den Sieg Janukowitschs verkündete, übersetzte sie in
Gebärdensprache: Glaubt ihnen kein Wort!
Im Osten des Landes kommt die Revolution an – den
üblen Verleumdungen mancher Janukowitsch-Leute zum
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m besten wäre die Wiederholung der Stichwahl.
ber niemand, der nun versucht, auf Zeit zu spielen und
u tricksen, sollte glauben, dass sich das Volk der
kraine noch einmal betrügen lässt.
„Was können wir tun?“, werden wir in diesen Tagen
mmer wieder gefragt. Die Bilder von den Apfelsinen
uf unseren Tischen und den orangefarbenen Schals im
undestag sind über alle Sender des ukrainischen Fern-
ehens gegangen. Unsere Solidarität mit der Demokra-
iebewegung in der Ukraine ist auch deswegen so wich-
ig, weil klar ist, dass wir, das Ausland, genau
inschauen und beobachten, was passiert. Das unter-
tützt das ukrainische Volk in seinem Kampf um Freiheit
nd Demokratie. Natürlich ist es in diesem Zusammen-
ang außerordentlich hilfreich – darauf haben schon ver-
chiedene Redner hingewiesen –, dass die Europäer
mit Javier Solana an der Spitze – vor Ort sind; denn sie
erden als unabhängige Vermittler anerkannt.
Ich bin außerordentlich froh, dass der Bundeskanzler
it Wladimir Putin telefoniert hat und mit ihm verabre-
et hat, dass das rechtmäßige Ergebnis einer Wahlwie-
erholung zu respektieren ist. Daran führt kein Weg vor-
ei.
s geht dabei nämlich um unsere Werte: Demokratie,
reiheit und Menschenrechte. An die Adresse der Abge-
rdneten, die es erwägen, nach Kiew zu fahren, kann ich
ur sagen: Jede Unterstützung von außen gibt neue
raft. Das kennen wir noch gut von 1989. Für mich ist
s ein ziemlich großes Glück, zum zweiten Mal im Le-
en bei einer Revolution dabei zu sein. Ich kann nur sa-
en: Es lohnt sich!
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13393
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Katrin Göring-Eckardt
Die Orangenen rufen auf den Straßen: Nas bahato,
nas ne podolati! Das heißt: Wir sind viele und wir sind
nicht zu bezwingen! Das ist wahr.
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
die Bilder von den Ereignissen in der Ukraine wahrneh-
men, dann sollten wir uns – genauso wie viele in unseren
europäischen Nachbarländern – daran erinnern, dass die
Ukraine das zweitgrößte Land Europas ist. Das scheint
völlig aus dem Blick geraten zu sein; denn die Aktivitä-
ten, die sich nun überschlagen und die notwendig sind,
stehen ja im Kontrast zu dem jahrelangen Vorbeiblicken.
Das betrifft auch die Aktivitäten der Europäischen
Union, die in ihrer Bewertung eher zurückhaltend ist.
Die Ukraine ist ein Land mit 70 Prozent Ukrainern, mit
20 Prozent Russen, mit Weißrussen und Moldawiern,
mit Menschen griechisch-orthodoxen sowie Menschen
römisch-katholischen Glaubens, mit Erdöl, Erz, Getreide
und einer Rüstungsindustrie sowie mit kulturellen
Glanzpunkten. Ich habe mich nicht allein an diejenigen
erinnert, die wir auf den Plätzen sehen. Erinnern Sie sich
an einen bedeutsamen Mann aus der Literaturgeschichte:
Nikolai Gogol. Dieses Land ist zutiefst europäisch. Die
Ukraine ist unser Nachbar. Stellen Sie es sich bildlich
vor: Es ist so weit entfernt wie die Schweizer Grenze.
Das geht uns etwas an: Wir sollten uns nicht einmischen,
aber im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit des Landes
Hilfestellung leisten.
Mit den Bildern, die wir alle beschreiben und die uns
alle emotional so berühren, gehen Momente einher, die
Dahrendorf mit den Worten „Charmes of Liberty“ be-
schrieben hat. Vielleicht handelt es sich um die Geburts-
stunde einer freiheitlichen Ordnung. Voraussetzung ist,
dass der von der Opposition eingeschlagene Weg durch-
gehalten werden kann. Manches, womit wir uns hier be-
schäftigen, nennt Dahrendorf – er schreibt ja mehr in
Englisch – „cold projects“.
In einer solchen Stunde muss anscheinend immer
wieder einmal daran erinnert werden, dass Freiheit für
Menschen etwas bedeuten kann und dass diese Men-
schen emotionale Zuwendung brauchen.
Wir sollten den Menschen dort dafür Dank aussprechen,
dass sie diesen Weg gehen. Sie ringen um ihre Sicherheit
und um ihre Zukunft in Freiheit. Aber sie ringen auch
um ganz einfache soziale Sicherheiten. Ich verstehe,
dass ein Minenarbeiter in Donezk sagt: Es ist für mich
wichtig, dass ich am Monatsende einfach Lohn erhalte.
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Wir wollen gute Beziehungen zu Russland. Wir wis-
en, dass wir all diejenigen Kräfte in diesem Land unter-
tützen müssen, die sich international orientieren wollen.
ber das Russland, an dem wir Interesse haben, darf
ben kein Machtfaktor von unbestimmter Qualität und
iffuser Richtung sein. Wir wollen, dass dieses Land für
ns ein großer Nachbar ist und bleibt. Aber wir wollen
uch, dass es sich in seinem Selbstwertgefühl nicht im-
er wieder verletzt fühlt, wenn andere Völker anders
ntscheiden, als man sich das in der Hierarchie im Kreml
orstellt.
Durch Einmischung, auch nicht durch Einmischung
m nahen Ausland, wird Russland seine alte imperiale
röße nicht mehr gewinnen können. Russland wird nur
ann wieder zu einer großen internationalen Rolle finden
diese Chance gibt es; wir sollten es dabei unterstützen –,
enn es die innere Souveränität entwickelt, auch andere
ölker über ihr eigenes Schicksal entscheiden zu lassen.
lles, was dem hilft, sollten wir tun.
Der russische Präsident soll beim EU-Russ-
and-Treffen gesagt haben – er hat das auch in Richtung
uropäische Union gesagt –: Die Ukraine ist unser bei-
er Problem. Das ist völlig richtig ausgedrückt. Wir soll-
en ihm erwidern: Unser beider Problem kann nur gelöst
erden, wenn beide akzeptieren, dass die Ukrainer über
hre Zukunft entscheiden. Es gibt keinen anderen Weg.
as muss man so klarstellen.
Als der jetzige Bundesaußenminister Fischer noch
orsitzender der Fraktion der Grünen war, haben wir
noch im alten Plenarsaal in Bonn – über die Entwick-
ung Russlands wiederholt Debatten im Parlament ge-
ührt. Er ist immer leidenschaftlich dafür eingetreten,
ass gegenüber Russland mit Klarheit, mit Unbeugsam-
eit und mit deutlicher Haltung gesprochen wird. Ent-
prechende Appelle hat er seinerzeit mehrfach – ich
13394 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
)
Dr. Wolfgang Gerhardt
erinnere mich – an die Adresse des damaligen Bundes-
kanzlers Helmut Kohl gerichtet. Kohl führte Telefonge-
spräche mit Jelzin; die Entwicklung in Tschetschenien
war dramatisch. Fischer hat gesagt: Telefonieren allein
genügt nicht. Er hat präzise gesagt: Diese Stunde der Di-
plomatie muss genutzt werden, um die anderen wissen zu
lassen, nach welchen Regeln eine Problemlösung nur
stattfinden kann.
Deshalb ist es kein verborgener Lauschangriff auf Ihr
Gespräch mit dem russischen Präsidenten, Herr Bundes-
kanzler, zumal der Regierungssprecher dazu schon Stel-
lung genommen hat, wenn ich Sie bitte, noch einmal klar
und eindeutig zu sagen, da sich ein Teil der Meldungen
in Moskau so nicht niederschlägt, ob Gegenstand des
Gesprächs mit dem russischen Präsidenten tatsächlich
eine Hoffnung gewesen sein könnte, nämlich die, dass
dort auf jeden Fall eine legitimierte Wahl in der
Ukraine, wenn sie denn stattfinden kann, respektiert
wird.
Jeder Tag, an dem man so etwas erfährt, ist wichtig; das
wäre nämlich ein weiterer Schritt in die richtige Rich-
tung. Da Sie, Herr Bundeskanzler, in vielen Gesprächen
einen besonderen Zugang zum russischen Präsidenten
entwickelt haben, was wir begrüßen, was auch richtig
ist, sollten Sie, glaube ich, die Chance wahrnehmen, das
hier vor dem Parlament zu erklären.
Folgende Prinzipien sollten gelten: erstens und zu-
allererst Klarheit über die territoriale Integrität der
Ukraine; zweitens Klarheit darüber: Selbstbestimmung
der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes über die zu-
künftige Herrschaft; drittens eine klare internationale
Verabredung des Inhalts, dass alle das Ergebnis entwe-
der von nachgeprüften, korrigierten Wahlen oder von
Neuwahlen respektieren. Viertens: Jeder enthält sich der
Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukra-
ine. Fünftens: Wir sagen dem ukrainischen Volk, dass
der Deutsche Bundestag über alle Parteigrenzen hinweg
die Aktivitäten, die in der Ukraine entfaltet worden sind,
als aufgeklärten europäischen zivilen Beitrag einer Ge-
sellschaft empfindet, mit der wir gern in friedlicher
Nachbarschaft zusammenleben, und fügen gleichzeitig
hinzu, dass wir allen großen Erfolg wünschen, dass die
Opposition durchhalten sollte und dass dieses Land jetzt
die große Chance hat, seine Zukunft selbst zu gestalten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
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etztlich, meine Damen und Herren, kann das nach den
reignissen, die stattgefunden haben, ohne eine Wahl-
iederholung nicht gelingen. Davon bin ich überzeugt.
Die Entscheidung über die Zukunft der Ukraine kann
ls letzte Instanz nur das dortige Volk selbst treffen. Es
iegt jetzt in der Verantwortung aller Beteiligten, alles zu
n, um eine friedliche und demokratische Lösung zu
rmöglichen. Deshalb haben wir die Parteien nachdrück-
ich zum Dialog und auch zur Kompromissbereitschaft
ufgefordert. Diese Parteien in der Ukraine haben näm-
ich das Geschehen in der Hand; nicht wir. Gewalt – das
st immer deutlich gemacht worden – darf kein Mittel
ur Lösung der dortigen Krise sein, weder von der einen
och von der anderen Seite. Natürlich freue auch ich
ich wie jeder andere darüber, dass Gewalt vermieden
erden konnte. Ich habe die Hoffnung, dass das auch in
ukunft so bleibt.
Über die künftige Gestalt Europas wird auch die
ntwicklung in der Ukraine entscheiden. Zu Recht hat
ie Europäische Union deshalb ihre Unterstützung bei
er Suche nach einem Ausweg aus der Krise angeboten.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13395
)
)
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Die Europäische Union ist durch ihren Hohen Vertreter
für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an
der Suche nach einer Lösung beteiligt. Wir, die Bundes-
regierung, unterstützen diese Bemühungen ausdrücklich
und nachdrücklich. Sie zeigen übrigens, dass die Euro-
päische Union in der Lage ist, rasch und verantwor-
tungsvoll auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheits-
politik zu handeln. Das war nicht immer so, aber das
wird in Zukunft mehr und mehr der Fall sein, auch der
Fall sein müssen. Sie zeigen auch, dass die Europäische
Union dies mit einem größeren Gewicht tun kann, als je-
der einzelne Mitgliedstaat das tun könnte; dabei beziehe
ich Deutschland ausdrücklich ein. Zur Stunde sind der
Hohe Vertreter Solana und der polnische Präsident
Kwaśniewski, mit dem ich im Übrigen auf seinen aus-
drücklichen Wunsch hin in ständigem Telefonkontakt
stehe, ebenso wie andere Vermittler erneut in Kiew. Sie
leisten, so denke ich, einen wirklich wichtigen Beitrag
dazu, den politischen Verhandlungsprozess voranzubrin-
gen.
Der Einsatz der Europäischen Union für eine friedli-
che Lösung in der Ukraine ist gegen niemanden gerich-
tet, sondern er ist Ausfluss bestimmter Prinzipien, die
wir für richtig halten, und dient insbesondere dazu, eine
demokratische und stabile Perspektive für die Ukraine
zu entwickeln. Es geht schlicht darum, auf der einen
Seite Demokratie in der Ukraine – da stimme ich Ihnen
durchaus zu, Herr Gerhardt – und auf der anderen Seite
die territoriale Integrität der Ukraine zu gewährleisten.
Niemand kann ein Interesse an der Verletzung ihrer terri-
torialen Integrität haben. Darüber, was im Inneren wie
organisiert wird, wird die Ukraine in einer demokrati-
schen Entscheidung selbst bestimmen müssen. Von
außen hat sich da jeder einer Einmischung zu enthalten.
Beides liegt übrigens im Interesse nicht nur Deutsch-
lands, sondern auch Europas und genauso im richtig ver-
standenen Interesse Russlands.
Die Europäische Union hat deshalb schon in den ver-
gangenen Jahren versucht, im Rahmen einer partner-
schaftlichen Beziehung die politische und die wirt-
schaftliche Entwicklung der Ukraine zu fördern. Die
Bundesregierung hat in den Konsultationen, die sie na-
türlich mit denen – mit wem denn sonst? –, die in der
Ukraine gegenwärtig an der Regierung sind, geführt hat,
ein Gleiches getan, sowohl ökonomisch als auch poli-
tisch. Wir haben das im Rahmen unserer bilateralen
Kontakte getan und werden das weiterhin tun. Wie weit
diese Partnerschaft künftig gehen wird und gehen kann,
hängt nicht nur von der Europäischen Union, sondern
auch und in besonderem Maße von der politischen und
ökonomischen Entwicklung in der Ukraine selbst ab.
Deshalb wird der Ausgang der gegenwärtigen Krise
auch über die Qualität der Beziehungen zwischen der
Union auf der einen Seite und der Ukraine auf der ande-
ren Seite mitentscheiden. Genauso klar muss sein – das
soll und kann das ukrainische Volk wissen –, dass die
Europäische Union zum Ausbau der Beziehungen mit
einer demokratischen Ukraine, wenn sie es denn so will,
wie wir es wollen, zu einer wirklich funktionierenden
politischen und ökonomischen Partnerschaft durchaus
bereit ist. Deutschland wird das immer unterstützen.
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Vieles – ich füge hinzu: auch sehr Polemisches – ist in
en vergangenen Tagen über die Rolle Russlands und
es russischen Präsidenten gesagt worden. Richtig ist:
uch für Russland ist die Entwicklung in der Ukraine
on größter Bedeutung. Wie kein anderes Land in Eu-
opa ist Russland mit der Ukraine durch Geschichte,
ultur – es ist ja wiederholt auf die Literatur hingewie-
en worden – und auch durch Sprache verbunden. Beide
änder sind im Übrigen füreinander absolut unersetzli-
he Wirtschaftspartner. Das gilt jedenfalls für die – wie
uch immer politisch organisierte – Ukraine und das be-
rifft nicht nur den Energiesektor, sondern weit mehr.
Sie sind also aufeinander angewiesen, wenn ich das
o sagen darf. Jeder, der Ratschläge erteilt, was die in-
ere Entwicklung dort und anderswo angeht, sollte das
issen, wenn er wirklich hilfreich sein will.
Kein anderes Land in Europa hat so vielfältige
enschliche und familiäre Bindungen zur Ukraine wie
ussland. Russland hat deshalb ein vitales Interesse an
iner stabilen, auch einer prosperierenden und einer
richtig verstanden – geeinten Ukraine, und zwar einer,
ie eng mit Russland zusammenarbeitet. Dass das auf
er Basis der Souveränität zweier Staaten zu geschehen
at, ist, denke ich, für uns außer jeder Diskussion.
All das sollte bei der Beurteilung der russischen Poli-
ik und der Entwicklung in der Ukraine nicht vergessen
erden. Die Lage in der Ukraine habe ich in zwei aus-
ührlichen Telefonaten mit Präsident Putin besprochen.
r hat mir zugesichert, dass Russland an einer friedli-
hen und demokratischen Lösung der Krise in der
kraine interessiert ist, und zwar an einer Lösung, die
ie territoriale Integrität des Landes nicht infrage stellt.
r hat sich ferner, wie auch wir, für Verhandlungen zwi-
chen den an der Krise beteiligten Parteien ausgespro-
hen und in Den Haag, aber auch in den verschiedenen
esprächen erklärt, dass das Ergebnis eines demokrati-
chen Prozesses – und was könnte das zur Entscheidung
ieser Situation anderes sein als demokratische Wah-
en? –, der den Willen der ukrainischen Bevölkerung wi-
erspiegelt, von allen, also auch von Russland, zu res-
ektieren ist.
Ich sage es noch einmal: Für mich ist völlig klar – ich
enke, darüber kann es bei allen sprachlichen Möglich-
eiten auch keine wirklichen Differenzen geben –, dass
er wirkliche Wille des Volkes, soweit es um politische
estaltung geht, nur durch manipulationsfreie Wahlen
rmittelt werden kann, durch nichts anderes. Ich denke,
as ist für jeden verständlich.
Weil wir, meine Damen und Herren, von der Lage
usgehen müssen, wie sie wirklich ist, und nicht von ei-
er Lage, wie wir sie uns wünschen – sie soll ja erst so
erden, wie wir sie uns wünschen –, rate ich dringend
azu, die Tatsache, dass Russland seine Verantwortung
ahrnehmen und die Entscheidung respektieren wird,
13396 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
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Bundeskanzler Gerhard Schröder
als ein wirklich positives Signal zu begreifen und sich
darum zu bemühen, dass die Führung dort daran auch
festhält. Wir sind wirklich gut beraten, die Willensbil-
dung und die Willensäußerungen des russischen Präsi-
denten ernst zu nehmen, aus sehr vielen Gründen, vor al-
lem dann, wenn wir, wie hier von jedem zum Ausdruck
gebracht worden ist, an einer vernünftigen Lösung der
Krise interessiert sind – und wir müssen daran interes-
siert sein.
Im Übrigen, meine Damen und Herren, ändert die ge-
genwärtige Situation dort nichts an unserem Ziel, eine
strategische Partnerschaft mit Russland auf- und aus-
zubauen. Was immer uns in der Bewertung der Situation
trennt: Dies muss unabhängig davon unser fester Wille
sein.
Im kommenden Jahr werden wir den 60. Jahrestag
des Kriegsendes begehen. Ich sehe dieses Datum und die
Erinnerung an die Schrecken, die mit dem Krieg verbun-
den sind – in Russland, aber auch in Deutschland –, als
eine Verpflichtung zu gemeinsamer Politik, eine Ver-
pflichtung, alles zu tun, um die strategische Partner-
schaft mit Russland auf eine neue Stufe zu heben und
durch Politik, aber auch durch Kontakte zwischen den
Zivilgesellschaften und durch wirtschaftlichen Aus-
tausch dafür zu sorgen, dass das, was im letzten Jahrhun-
dert geschehen ist, nie wieder passieren kann. Die Si-
cherheit ganz Europas, unsere Stabilität und auch
unseren Wohlstand werden wir auf Dauer nicht ohne und
schon gar nicht gegen Russland, sondern nur in Partner-
schaft mit Russland gewährleisten können.
Niemand sollte dieses grundlegende Prinzip der euro-
päischen Politik vernachlässigen. Daraus folgt, dass wir
den Weg der Partnerschaft, den wir jetzt beschritten ha-
ben, entschlossen weitergehen, ohne unsere Grundsätze
aufzugeben. Dieser Weg ist politisch, aber auch ökono-
misch ohne eine vernünftige Alternative. Ich meine da-
mit nicht nur die Frage, wie wir in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten die für die deutsche Wirtschaft so wich-
tige Energieversorgung sichern können. Es ist nicht ganz
unwichtig, über diese Frage nachzudenken; ich jeden-
falls werde mich davon nicht abbringen lassen. Daneben
wollen und müssen wir aber die allgemeinen wirtschaft-
lichen Beziehungen ausbauen. Das liegt in unserem ur-
eigenen Interesse und dient der Gewährleistung von Sta-
bilität und Sicherheit in Europa.
Bilateral werden die deutsch-russischen Regierungs-
konsultationen in Hamburg und auf Schloss Gottorf der
nächste Schritt sein. Wir wollen dabei mit der Unter-
zeichnung eines Abkommens über einen verstärkten
Jugendaustausch unsere Partnerschaft auch in der Zi-
vilgesellschaft, insbesondere bei der jungen Generation,
verankern. Für die Europäische Union geht es darum, die
so genannten vier gemeinsamen Räume mit Russland in
den Bereichen Inneres und Justiz, Äußeres und Sicher-
heit, Bildung und Forschung sowie Wirtschaft zu entwi-
ckeln.
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Angela Merkel von der
DU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle
alten in diesen Tagen den Atem an. Mit großem Res-
ekt und mit großen Hoffnungen schauen wir uns die
ilder aus Kiew und aus der übrigen Ukraine an. Wir
ehmen somit Anteil an den Demonstrationen und den
rotesten der Menschen dort. Ich freue mich, dass heute
krainische Wissenschaftler unter den Zuschauern
ind, die auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung
en Deutschen Bundestag besuchen und diese Debatte
erfolgen können.
Jeder, der die friedliche Revolution 1989 in der DDR
iterleben konnte, kann sich ungefähr vorstellen, wel-
he Gefühle die Menschen in der Ukraine bewegen. Ich
öchte hinzufügen, dass die Lebensumstände, aber auch
ie Witterungsumstände viele zusätzliche Ängste und
orgen unter den Menschen auslösen. Deshalb kann ihr
ut gar nicht hoch genug bewertet werden.
Auch ich möchte darauf hinweisen, dass es ganz
ichtig ist, dass es nicht zu einer Trennung in die Ost-
nd in die Westukraine kommt. Die Trennlinie muss
ielmehr angesetzt werden zwischen denen, die bereit
ind, für Demokratie und für Rechtsstaatlichkeit einzu-
reten, und denen, die sich den Beharrungskräften unter-
rdnen. Eine einige Ukraine ist die Voraussetzung für
ine friedliche Lösung. Ich glaube, das wollen auch die
enschen dort. Das sollten wir unterstützen.
Deshalb gilt unsere Solidarität all denen, die ihr
echt auf freie, ungefälschte Wahlen einklagen. Wir sind
lücklicherweise über alle Fraktionen hinweg mit allen
ahlbeobachtern der Meinung, dass die Wahlen, so wie
ie stattgefunden haben, gefälscht waren. Deshalb er-
reifen wir Partei für die Menschen, die sich das nicht
ieten lassen wollen. Diese Parteiergreifung erfolgt zur-
eit für den Kandidaten der Opposition, für Wiktor
uschtschenko. Das hat nichts mit Parteinahme für einen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13397
)
)
Dr. Angela Merkel
ehrlichen Wahlsieger zu tun, sondern damit, wer die
Stimme des Protestes in der Ukraine ist. Das ist die Be-
wegung von Juschtschenko.
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Geist der
Demokratie, der sich jetzt in der Ukraine Bahn bricht
und sich im Übrigen schon über eine lange Zeit eines
Selbstfindungsprozesses entwickelt hat, in der Allgegen-
wärtigkeit des ukrainischen Volkes unumkehrbar ist. Es
ist deshalb gerade unsere Aufgabe, Aufgabe der Deut-
schen, die eine erfolgreiche Wiedervereinigung erreicht
haben, den Geist der Demokratie, wo immer wir können,
zu stärken und zu ermutigen. Natürlich sind friedliche
Wege zu suchen; aber vor allen Dingen sind Demokratie
und Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen – und dies so-
wohl auf politischer als auch auf menschlicher Ebene,
sowohl über die Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
land als auch über das Parlament. Das ist erfreulicher-
weise durch vielfältige Reisen geschehen.
Hinter diesem Ziel müssen alle anderen Interessen zu-
rückstehen. Unsere Wertebasis muss bei dem, was wir
jetzt tun, vollkommen klar sein. Denn – da bin ich mir
vollkommen sicher – der Ausgang dieser Krise, wie sie
sich jetzt darstellt, und die Art und Weise, wie wir Euro-
päer und wir Deutschen agieren, werden weit über diese
Krise hinaus etwas über europäisches und deutsches
Handeln und über die Glaubwürdigkeit unserer Politik
aussagen.
Deshalb sollten wir drei Signale aussenden:
Erstens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
werden sich niemals mit Wahlfälschung abfinden. Sie
werden niemals Regierungen akzeptieren, die durch
Wahlfälschung an die Macht gekommen sind.
Deshalb wird zu Recht die Forderung nach neuen Wah-
len gestellt. Wir haben nicht zu befinden, auf welchem
Weg das genau geht. Der Vorschlag einer Stichwahl ist
sicherlich eine Möglichkeit, vielleicht auch der Vor-
schlag einer Neuwahl.
Aber klar müssen zwei Dinge sein:
Der Prozess zu einer Neuwahl darf zum einen nicht in
der Absicht geführt werden, zum Schluss die Zermür-
bung der Opposition zu bezwecken. Das ist die große
Gefahr.
Welche Wahlvorgänge auch immer abgehalten wer-
den: Es muss zum anderen von Anfang an sicher sein,
dass die in der Ukraine Handelnden bereit sind, OSZE-
Standards zu akzeptieren – und das nicht nur am Tag der
Wahl, sondern im Vorfeld und im Nachhinein, damit
nicht nur einmal flächendeckend geschaut wird, ob diese
eingehalten werden, sondern damit auch in der Tiefe
kein Zweifel an dem dann zukünftigen Wahlergebnis be-
steht.
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Zweitens. Weil es so sehr um das Selbstverständnis
uropas geht, brauchen wir ein handlungsfähiges, eini-
es und engagiertes Europa. Ich begrüße ausdrücklich
ür die CDU/CSU-Fraktion die Aktivitäten des Hohen
eauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik,
avier Solana. Er ist zum zweiten Mal in der Ukraine.
ch begrüße ausdrücklich, dass diesmal nicht zwischen
eutschland, Frankreich und Russland über Polen hin-
eg agiert wird, sondern dass die polnische Regierung
ntensiv einbezogen ist.
Herr Bundeskanzler, ich glaube, die deutsche Rolle
uss eine aktive, kameradschaftliche und nachbar-
chaftliche Rolle sein, eine Rolle, die auf ein einiges
uropa hinwirkt. Natürlich brauchen wir eine politische
ösung. Ich finde nur, die Nebenbemerkung, welche
ehnsüchte auch immer manch einer haben mag, ist ein
enig irreführend, weil wir alle an einer politischen,
ber demokratischen Lösung interessiert sind. Es gibt
iemanden, der irgendwelche poujadistischen Sehn-
üchte hat. Wir alle wollen vielmehr einen friedlichen,
rfolgreichen Prozess mit einer klaren Zielsetzung: der
inführung der Demokratie.
Drittens. Ich glaube, für uns alle ist klar, dass Russ-
and als ein auf das Engste mit der Ukraine verbundener
achbar dazu Stellung nehmen kann und auch muss.
orhin wurde schon ausgeführt, dass es eine gemein-
ame Geschichte, Kultur und teilweise auch eine ge-
einsame Sprache gibt, obwohl sich diese auseinander
ntwickeln. Russland trägt Verantwortung für einen
riedlichen, aber demokratischen Prozess. Auch Russ-
and steht in der Frage, wie es vorgeht, vor einer ganz
chwierigen, aber existenziell wichtigen Entscheidung.
ussland könnte sich von dem Denken in imperialen
influsssphären – solche Kräfte gibt es – leiten lassen.
ussland könnte aber auch die Kraft und den Mut haben,
eutlich zu sagen, nach welchen Prinzipien die russische
ntwicklung und damit auch der Umgang mit Nachbar-
taaten geleitet werden. Das müssten rechtsstaatliche
nd demokratische Prinzipien sein. An dieser Frage wird
ich entscheiden, ob dieser Prozess auf einem guten Fun-
ament gebaut ist oder ob es ein Prozess ist, an dem wir
ritik üben müssen. Für uns darf es keinen Zweifel ge-
en: Das Fundament muss aus Demokratie und Rechts-
taatlichkeit bestehen.
Meine Damen und Herren, es steht viel auf dem Spiel.
s steht viel auf dem Spiel für die Menschen in der
kraine, für ihr persönliches Leben. Es geht um die
rage, ob es gelingt, diesen Konflikt friedlich und er-
olgreich zu lösen. Wir wissen, wenn solche Aufstände
chief gehen – ich erinnere an Prag im Jahr 1968 –, wie
iel Leid, wie viel Schrecken, wie viele zerstörte Karrie-
en und Menschenleben dies mit sich bringen kann. Es
teht aber auch sehr viel auf dem Spiel für das Bild, das
ir, die Deutschen und die anderen Mitgliedstaaten der
13398 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
)
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Dr. Angela Merkel
Europäischen Union, bei den Menschen in der Ukraine
hinterlassen. Deshalb glaube ich, dass wir entscheidende
Stunden erleben.
Ich finde es gut und erfreulich, dass Sie, Herr Bundes-
kanzler, aufgrund Ihrer guten Beziehungen in intensiven
Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Putin auch
über das, was notwendig ist, geredet haben. Natürlich
sind die Interessen Russlands ebenso wie die Interessen
der Europäischen Union zu beachten. Ich glaube aber,
dass wir in der Sprache ganz vorsichtig sein sollten. In
Ihren Ausführungen, Herr Bundeskanzler, ist dies eben
auch deutlich geworden. Dass der russische Präsident
das Ergebnis eines demokratischen Prozesses in der
Ukraine respektieren wird, ist eigentlich eine Selbstver-
ständlichkeit.
Wenn dies noch einmal ausgesprochen wird, ist es gut.
Dass Sie aber hinzufügen: „Was anderes soll das Ergeb-
nis eines demokratischen Prozesses sein als neue Wah-
len?“, scheint Ihre Interpretation von demokratischen
Prozessen zu sein. Ich bin mir aber nicht hundertprozen-
tig sicher – das erklärt auch die unterschiedlichen Ver-
lautbarungen in Moskau und in Berlin –, ob auch der
russische Präsident als einzige Möglichkeit eines demo-
kratischen Prozesses Neuwahlen ansieht. Wir werden
dies abwarten. Auch das ist letztendlich in der Ukraine
zu entscheiden.
Aus zwei Gründen ist es für uns Deutsche in beson-
derer Weise wichtig, dass bei allem, was die Bundes-
republik Deutschland tut, Rechtsstaatlichkeit und frei-
heitliches, demokratisches Handeln vor allen anderen
Interessen Vorrang haben: Der erste Grund ist der
60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges; darin
bin ich mit Ihnen vollkommen einig. Der zweite Grund
ist unsere Erfahrung mit der Einigung Deutschlands in
Freiheit, Frieden und Freundschaft mit unseren Nach-
barn. Wir Deutsche haben beides erlebt.
Herr Bundeskanzler, das ist keine Absage an eine
wirtschaftliche Kooperation, an eine Orientierung an
wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Wenn wir aber lang-
fristig denken, kann auch der Bundesrepublik Deutsch-
land ein nicht auf Demokratie, sondern auf hegemoniales
Machtdenken beruhendes gemeinsames Wirtschaftspro-
jekt nicht recht sein. Es muss auf Rechtsstaatlichkeit in
Russland gegründet sein. Das ist die Basis, auf der wir
gute strategische Partnerschaften aufbauen können. Ob
die Demokratie in Russland schon lupenrein ist, darüber
kann man in Deutschland sicherlich verschiedener Mei-
nung sein. Das ist auch wichtig und richtig so.
– Um die Frage zu beantworten: Ich schlage vor, dass
wir unsere Maßstäbe – das ist dann auch meine letzte
Bemerkung – ganz klar definieren und Prioritäten set-
zen. Und die Priorität heißt: rechtsstaatliches Handeln in
Russland. Es kann auch in einer strategischen Partner-
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Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock
on Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
eht, glaube ich, heute um zwei wichtige Punkte. Zum
inen geht es um die Solidarität mit den Menschen in
er Ukraine, um die Millionen von Menschen, die seit
iner Woche auf der Straße sind und für ihre nationale
ürde kämpfen, die dafür kämpfen, dass sie als Volk de-
okratisch und selbstbestimmt über ihre Zukunft ent-
cheiden können. Die Menschen in der Ukraine verdie-
en natürlich unsere volle Unterstützung. Uns, die wir in
reien Wahlen gewählt worden sind, um das deutsche
olk, die Menschen in Deutschland zu vertreten, steht es
ut an, in der Frage der Solidarität mit den Freiheitsbe-
egungen eines Volkes gemeinsam zu handeln. Ich bin
ehr froh darüber und auch ein bisschen stolz darauf,
ass Gert Weisskirchen, Jelena Hoffmann, Katrin
öring-Eckardt, Claudia Nolte und ich mit einem ge-
einsamen Beschluss dieses deutschen Parlaments in
ie Ukraine fahren und sagen konnten: Der Bundestag
st auf eurer Seite und unterstützt die demokratische Be-
egung in der Ukraine. – Ich glaube, das war ein ganz
ichtiges Signal.
Aber dies ist zum anderen nicht nur eine Stunde der
olidarität. Vielmehr glaube ich, dass es auch die Stunde
iner selbstkritischen Nachdenklichkeit ist. Denn wir
lle in diesem Parlament, unabhängig von der Partei-
ugehörigkeit, und auch die Länder der Europäischen
nion haben in der Vergangenheit die Dynamik der Ent-
icklung in der Ukraine unterschätzt. Wir haben uns
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Rainder Steenblock
nicht ausreichend um dieses Thema gekümmert. Das
müssen wir alle selbstkritisch zur Kenntnis nehmen. Wir
haben die Kraft dieses Volkes unterschätzt, sich trotz all
der Schwierigkeiten, trotz der Unterdrückung, trotz der
Manipulation, trotz der Erpressung zu erheben und zu
sagen: Das lassen wir uns nicht bieten.
Das haben wir in der Vergangenheit nicht ernst genug
genommen und das ist auch ein Grund, in Bezug auf den
Blick nach Osten nachdenklich zu sein. Die Kraft, die in
diesem Volk steckt, verdient unsere Solidarität. Ich
glaube, wir müssen uns in Zukunft darum mehr küm-
mern. Diese Solidarität, die heute alle Fraktionen sehr
deutlich gemacht haben, und unsere Aufmerksamkeit
dürfen nicht ihr Ende finden, wenn das eintritt, was wir
alle hoffen und wofür wir kämpfen, wenn nämlich neue
Wahlen ein demokratisch legitimiertes Ergebnis bringen.
Wir müssen uns vielmehr dafür einsetzen, dass dieses
Land und die Menschen, auf die so viele Frustrationen
und Schwierigkeiten warten, auch in Zukunft auf unsere
Solidarität bauen können. Wir können nicht jetzt sozusa-
gen ein Solidaritätsevent durchführen, auf das die Öf-
fentlichkeit schaut, und dann, wenn der Tross der öffent-
lichen Berichterstattung weitergezogen ist, in unserer
Solidarität nachlassen. Wir müssen in unserer Politik
verankern, dass dieses Land zu Europa gehört. Es ist ein
europäisches Land, welches auch weiterhin unsere Soli-
darität verdient.
Die Situation in der Ukraine – einige Kollegen haben
das angesprochen – ist nicht so sehr durch ethnische,
kulturelle oder sprachliche Spaltung gekennzeichnet.
Dieses Land ist gespalten durch den möglichen Zugang
zu Informationen. Demokratie braucht Medien, die ob-
jektiv, aber natürlich auch streitbar Bericht erstatten und
Meinungen wiedergeben. Demokratie und demokrati-
sche Kultur – das macht gerade die jetzige Auseinander-
setzung in der Ukraine deutlich – brauchen den demo-
kratischen Diskurs, für den die Medien mit
verantwortlich sind. Deshalb – das möchte ich hier noch
einmal sehr deutlich zum Ausdruck bringen – bin ich
persönlich Ute Schaeffer, der Redaktionsleiterin des
ukrainischen Programms der Deutschen Welle, sehr
dankbar. Alle Oppositionellen und Demokraten in der
Ukraine sagen immer, wie wichtig dieses Informations-
programm auch in schwierigen Zeiten gewesen ist, um
überhaupt über Demokratie diskutieren zu können, um
Rückhalt zu haben. Deshalb herzlichen Dank für diese
Arbeit.
Lassen Sie mich heute noch einmal ein Problem an-
sprechen, in dem es auch um Solidarität geht. Wir haben
heute den Weltaidstag. Gerade das Beispiel Ukraine
zeigt die Schwierigkeiten bei der Bekämpfung von
Aids. Die Infektionszahlen sind in den letzten Jahren in
ganz Osteuropa geradezu explodiert. Die Ukraine ist be-
sonders betroffen. Wir wissen aus afrikanischen Län-
dern, wie dramatisch diese Entwicklung werden kann,
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
erren! Die Lage in der Ukraine ist dramatisch und un-
bersichtlich. Das ukrainische Parlament hat heute be-
chlossen, dass die Regierung zurücktreten soll. Einige
inister haben das bereits getan. Der Druck der Demons-
ranten ist weiterhin groß. Sie sind offensichtlich nicht be-
eit, sich mit Kompromissen besänftigen zu lassen. Präsi-
ent Kutschma lehnt eine Wiederholung der Stichwahl ab
nd will vollständige Neuwahlen. Er hofft, wie auch
usslands Präsident Putin, dass Neuwahlen die Möglich-
eit bieten, den verbrauchten Wiktor Janukowitsch fallen
u lassen und einen unverbrauchten Kandidaten präsen-
ieren zu können. Kutschma und Putin spielen auf Zeit, in
er Hoffnung, dass der Opposition die Luft ausgeht.
Die OSZE bestätigte, dass die Wahl in der Ukraine
icht den internationalen Standards entsprochen hat.
enn es zu Neuwahlen kommen sollte, dann muss unbe-
ingt darauf geachtet werden, dass diese Standards ein-
ehalten werden.
13400 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
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Dr. Gesine Lötzsch
Doch nicht nur die politische, sondern auch die wirt-
schaftliche Situation in der Ukraine spitzt sich weiter zu.
Viele Menschen sind verunsichert. Aus Furcht vor Unru-
hen werden Spareinlagen geplündert. Darum, finde ich,
ist es die dringlichste Aufgabe der Bundesregierung, al-
les zu unternehmen, damit die Situation in der Ukraine
nicht eskaliert und damit es nicht zu Gewalt und Blutver-
gießen kommt.
Nicht nur die Lage in der Ukraine ist unübersichtlich,
sondern auch die Interessen Russlands, der USA, der EU
und der Bundesrepublik sind nicht immer deutlich. Der
Bundeskanzler und der Außenminister scheinen manch-
mal zweigleisig zu fahren. Ich habe den Eindruck, dass
der Kanzler alles tut, damit die Handelswege sicher blei-
ben und die deutsche Exportindustrie keinen Schaden
nimmt. Der Außenminister scheint mehr die Demokra-
tieschiene bedienen zu sollen. In der Krise zeigt sich dra-
matisch, dass die Bundesregierung kein überzeugendes
Konzept hat, wie sie ihre Beziehungen zur Ukraine und
zu Russland gestalten will.
Der Weg aus dieser politischen Krise und die Verhin-
derung einer Spaltung der Ukraine werden nicht dadurch
erleichtert, dass man einfache Lösungen verfolgt.
Auch der Demonstrationstourismus einiger Bundestags-
abgeordneter nach Kiew bringt uns keinen Schritt näher
an die Lösung des Problems.
Im Gegenteil, der Parlamentstourismus schürt nur den
begründeten Argwohn der Menschen im Osten der Ukra-
ine, die hinter der Opposition das Werk des Westens ver-
muten. Bedauerlich ist, dass die EU und die Bundesre-
gierung der Ukraine bis zu den Wahlen die kalte Schulter
gezeigt haben. Da ist es doch nur zu verständlich, dass
das Engagement einiger Politiker etwas überraschend
wirkt und Argwohn erzeugt. Mein Vorredner von den
Grünen hat ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass es
nicht angehen könne, jetzt daraus ein Politikevent zu
machen, aber dann, wenn die Fernsehkameras nicht
mehr dabei sind, kein Interesse mehr für die Ukraine zu
zeigen.
Die Bundesregierung und die EU sollten zusammen
mit Russland und den legitimierten Vertretern des ukra-
inischen Volkes schnell nach Formen der vertrauensvol-
len Zusammenarbeit suchen, damit die Ukraine nicht
Spielball unterschiedlichster Interessen bleibt.
Jetzt muss diese Krise im Interesse aller Menschen in der
Ukraine und im Interesse der Europäer schnell, gewalt-
frei und demokratisch gelöst werden.
Vielen Dank.
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Als wir hier vor fast genau sechs Wochen spät am
bend über unseren Antrag zur Ukraine abgestimmt ha-
en, hat keiner von uns an solch eine Entwicklung ge-
acht. Die Administration, die ukrainische Regierung
at unseren Appell ignoriert.
In der zweiten Runde der Stichwahl waren sich alle
ehr schnell einig: Die Wahlen sind gefälscht. Ich habe
esehen, wie schon in der Nacht nach der Stichwahl die
elte der Anhänger von Wiktor Juschtschenko auf dem
latz der Unabhängigkeit aufgestellt wurden. Tausende
enschen haben bei Schnee und klirrender Kälte den
ieg gefeiert; nicht unbedingt den Sieg ihres Kandida-
en, sie haben den Einzug der Demokratie in die ukraini-
che Gesellschaft dokumentiert. Politisch, demokratisch,
uropäisch – so haben wir in Deutschland und auch im
esten Europas die Ukraine noch nicht gesehen und
och nicht erlebt. In Kiew wird der Wille des ukraini-
chen Volkes sichtbar, der Wille nach Demokratie und
reiheit.
Das Rad der Geschichte darf in der Ukraine nicht
ehr zurückgedreht werden. Diese Demokratiebewe-
ung hat unsere Unterstützung verdient, nicht nur in die-
en Tagen des Protestes, sondern langfristig.
as war der Grund unserer Reise am Wochenende in die
kraine, liebe Kollegin, die Sie vor mir gesprochen ha-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13401
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Jelena Hoffmann
ben. Als wir mit Gert Weisskirchen auf der Bühne des
Majdan, wie die Ukrainer den Platz der Unabhängigkeit
in Kiew nennen, gestanden haben, hat mich ein Abge-
ordneter, der unsere Reden übersetzen sollte, gefragt, ob
ich auf Russisch reden möchte. Ich habe auf Ukrainisch
angefangen, dann Deutsch gesprochen und auf Russisch
meine Worte beendet, weil das der Situation im Lande
entsprochen hat.
Als ich gleich danach gesagt habe, dass es keine West-
und keine Ostukraine gibt, sondern nur ein ukrainisches
Volk, ein Land, eine Ukraine, jubelten und applaudierten
Tausende von Menschen, weil sie sich auch wie ein Volk
gefühlt hatten.
Die Spaltung des Landes war im Wahlkampf die
Strategie der Regierung und des Stabes von
Janukowitsch. Die historischen, kulturellen und wirt-
schaftlichen Unterschiede innerhalb der Ukraine sind
nicht zu unterschätzen, doch sie dürfen nicht miss-
braucht werden. Ich glaube und ich hoffe – da bin ich Ih-
rer Meinung, Frau Nolte –, dass eine Teilung der
Ukraine nicht stattfinden wird. Ich bin überzeugt, dass
die Mehrheit des ukrainischen Volkes dies nicht will und
auch nicht zulassen wird.
An dieser Stelle möchte ich dem Bundeskanzler für
sein großes politisches und persönliches Engagement für
eine friedliche Lösung des Konfliktes danken.
Ich möchte feststellen, dass unser Kanzler die höchste
Kunst der Diplomatie beherrscht.
Was Frau Merkel möchte und vom Kanzler erwartet, ist,
dass er sich wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt,
dass er eine Art Basar-Diplomatie macht. Ich freue mich,
dass der Kanzler auf Frau Merkel und ähnliche Aussa-
gen nicht hört. Auch dem Außenminister sei für sein En-
gagement in Richtung der Europäischen Kommission
gedankt.
Das ukrainische Volk braucht unsere Unterstützung.
Sobald die demokratischen Kräfte in der Ukraine ge-
wonnen haben, werden sie eine Antwort auf die Frage
ihrer eigenen Zukunft in Europa suchen. Dabei dürfen
wir sie nicht allein lassen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hoffmann,
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ch denke, die Rede des Bundeskanzlers hat deutlich ge-
acht, dass die Telefonate innenpolitisch zwar verwen-
et werden, außenpolitisch im Ergebnis aber nicht das
ringen, was hier suggeriert wird.
Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Kritik muss
an in der Demokratie vertragen können.
Darüber entscheiden Sie an dieser Stelle sicherlich
icht.
Der Bundeskanzler hat in seiner Rede einen Zusam-
enhang nicht hergestellt – was ich für dringend gebo-
en gehalten hätte –, nämlich den Zusammenhang von
trategischer Partnerschaft einerseits und dem Einfor-
ern von Freiheit, Recht und Demokratie andererseits,
nd zwar nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russ-
and.
as ist die entscheidende Frage.
Deswegen möchte ich an den Anfang meiner Betrach-
ung zu dem heutigen Thema gerne ein Zitat aus der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 26. November
004 stellen. Die Rede des Bundeskanzlers hat gezeigt,
ass es notwendig ist, über diese Frage zu reden. Die
FAZ“ schrieb: Öl und Gas sind nicht die höchsten
erte des Westens.
Von dieser Frage ausgehend sollten wir uns an-
chauen, welche Entwicklung in den letzten Wochen und
onaten in der Ukraine vonstatten gegangen ist. Vor
em Hintergrund der strategischen Fragen in diesem
usammenhang und der entsprechenden Berichterstat-
ung ist es ungemein wichtig, die richtige Prioritäten-
olge zu wählen, wenn es um unser politisches Engage-
ent für die Gestaltung Europas, in der Ukraine, aber
uch in der Partnerschaft mit Russland geht. Bei den Vo-
aussetzungen für ökonomisches Wachstum und für stra-
egische Partnerschaften sind auch Fragen von Recht,
reiheit und Demokratie zu beachten, weil sie die
rundlagen für stabile wirtschaftliche und politische
erhältnisse sind.
Ich denke, wenn man von dieser Seite aus an die Sa-
he herangeht, dann wird deutlich, dass die Interessen
uropas, Deutschlands und Russlands letztendlich gar
13402 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004
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Kurt-Dieter Grill
nicht so weit auseinander liegen. Es muss sowohl im In-
teresse Europas insgesamt als auch im Interesse
Deutschlands und Russlands liegen, eine stabile, demo-
kratische, ökonomisch entwickelte und damit sozialver-
trägliche Ukraine zu haben. Wenn wir allerdings mit un-
seren russischen Partnern über diese Begrifflichkeiten
reden, auch im Rahmen EU-Nachbarschaftspolitik, nei-
gen diese dazu – ich beklage das, weil ich es für nicht
angemessen halte –, in den alten Kategorien des Kalten
Krieges zu denken, anstatt die Lage bezogen auf die heu-
tige Zeit zu interpretieren.
Mit der Nachbarschaftspolitik der Europäischen
Union und mit der Nachbarschaftspolitik gemäß der In-
terpretation, die Angela Merkel hier vorgetragen hat,
wollen wir niemanden bedrohen. Wir wollen wirklich
Partnerschaft, Frieden, Freiheit und Demokratie. Das ist
die Prioritätenfolge in unserer politischen Agenda.
Ich will gar nicht bestreiten – das gilt auch bezogen
auf die Diskussionen in anderen Bereichen –, dass nicht
zuletzt ökonomisch gute Beziehungen eine Vorausset-
zung dafür sind, dass das andere klappt. Ich denke, wir
müssen in der Auseinandersetzung um die Frage der
vier Räume und um die EU-Russland-Partnerschaft
schlicht und einfach sehen, dass wir nicht nur auf den
Wirtschaftsraum schauen und Freiheit sowie Demokra-
tie sozusagen rechts liegen lassen können. Von daher
sind die Kriterien für die Nachbarschaftspolitik mit der
Ukraine die Kriterien für die Nachbarschaftspolitik mit
Russland. Ich glaube, es gibt hier schon eine hohe Iden-
tität.
Wie schwierig das auch vor dem Hintergrund der po-
litischen Auseinandersetzung um die Entwicklung in der
Ukraine ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass der EU-
Russland-Gipfel nicht zu einem Abschluss gekommen,
sondern auf Mai vertagt worden ist. Wir bedauern das
außerordentlich, weil es außer den politischen Umstän-
den und der Interpretation der Nachbarschaftspolitik,
weil es jenseits von Freiheit, Recht und Demokratie
keine Veranlassung gibt, diese Partnerschaftsabkommen,
die strategische EU-Russland-Partnerschaft, zum Ab-
schluss zu bringen.
Ich habe bereits am Anfang gesagt: Wenn wir hinter
die Kulissen schauen, wird offensichtlich – das hat hier
auch der Bundeskanzler mehr als deutlich durchscheinen
lassen –, dass die Diskussion nicht zuletzt vor dem Hin-
tergrund strategischer Fragen der Rohstoff- und Ener-
giepolitik geführt wird. Niemand stellt infrage – ich
sage dies, weil oftmals Zweifel aufkommen, wenn man
Probleme diskutiert –, dass Russland auch in Zeiten des
Kalten Krieges ein zuverlässiger Gas- und Öllieferant
gewesen ist.
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Auch vor dem Hintergrund eines Gespräches gestern
bend mit dem russischen Botschafter will ich deutlich
agen: Der Ukraine eine freiheitlich-demokratische Per-
pektive zu eröffnen, die die Grundlage für eine ökono-
ische und soziale Perspektive ist, bedeutet nicht einen
ngriff auf Russland, sondern ist der Versuch, mit die-
en Grundwerten die Stabilität des Friedens in Europa,
o wie wir das für uns 1990 erreicht haben, auch den
enschen in Mittel- und Osteuropa dauerhaft zugäng-
ich zu machen. Das muss das Ziel unserer Politik und
as Ziel der EU-Nachbarschaftspolitik sein. Es geht
ämlich nicht um Einmischung, sondern darum, ob wir
ns als Vermittler in der Balance zwischen Werten und
rinzipien einerseits und den strategischen Fragen ande-
erseits einschalten können. Niemand will zur alten Situa-
ion zurückkehren.
Ich will am Schluss mit Nachdruck sagen: Wir wollen
rieden und Freiheit für unsere Demokratie und die De-
okratie unserer Nachbarn. Wenn wir das erreicht ha-
en, dann werden wir alles in Gang setzen, um ökonomi-
che und soziale Stabilität zu erreichen, sowohl für jene,
ie – wie das hier beschrieben worden ist – im Donezk-
ecken arbeiten, als auch für die, die im Westen der
kraine leben. Nach einem Besuch in einem ukraini-
chen Kraftwerk – ich will hier keine Reizworte streuen –,
er leider einmalig geblieben ist, kann ich nur unterstrei-
hen: Wer das sieht, weiß, dass wir uns alle Mühe geben
üssen, eine ökonomische Entwicklung in Gang zu set-
en, die die Voraussetzung für eine sichere Demokratie
nd Freiheit ist.
In diesem Sinne sollten wir in der Frage, wie es mit
er Ukraine weitergeht, nicht nur die strategischen Inte-
essen der Europäischen Union sehen, sondern gewiss
ein, dass eine freiheitliche und ökonomische Entwick-
ung in der Ukraine auch uns Frieden und Stabilität si-
hert.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2004 13403
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(D)
Kurt-Dieter Grill
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 2. Dezem-
ber 2004, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.