Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-zung ist eröffnet.Ich wünsche Ihnen nachträglich alles Gute zum neuenJahr und eine erfolgreiche Arbeit in diesem Hause.
Vor Eintritt in die Tagesordnung ist folgende amtlicheMitteilung bekannt zu geben: Die Fraktion der FDP hatmitgeteilt, dass der Kollege Dr. Guido Westerwelle alsordentliches Mitglied aus dem Vermittlungsausschussausscheidet.
Als Nachfolger wird der Kollege Jörg van Essen vorge-schlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig derFall. Dann ist der Kollege Jörg van Essen als ordentli-ches Mitglied des Vermittlungsausschusses bestimmt.RedeIch rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-rung der Ausbildung und Beschäftigungschwerbehinderter Menschen– Drucksache 15/2318 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussInterfraktionell ist vereinbart, dass keineerfolgen soll. – Ich sehe, dass Sie damit esind.zungn 14. Januar 20043.00 UhrDamit kommen wir gleich zur Überweisung. Inter-fraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes aufDrucksache 15/2318 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitigeVorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigenKabinettssitzung mitgeteilt: Lokale Bündnisse für Fa-milie.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauenund Jugend, Renate Schmidt.Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Herrenund Damen Abgeordnete! Ich habe heute im Kabinettdie Initiative meines Ministeriums zu den lokalen Bünd-nissen für Familie vorgestellt. Sie wissen, dass sich diemeisten jungen Menschen Familie wünschen, dass sichaber keine ausreichend große Zahl diesen Wunsch er-textfüllt. Auch in der Wirtschaft wächst die Erkenntnis, dassFamilienfreundlichkeit betriebswirtschaftlich und volks-wirtschaftlich gesehen Gewinn bringt.Familie ist nicht nur in meinen Augen, sondern, wieich glaube, auch in den Augen vieler Menschen in allenBereichen ein Zukunftsthema. Auch Kommunen profi-tieren wie die gesamte Volkswirtschaft materiell vonmehr Kinder- und Familienfreundlichkeit, weil dadurchder Mut, Kinder zu haben, wächst. Durch die Studien,die wir im letzten Jahr vorgelegt haben, haben wir diesnachgewiesen.Diese Erkenntnisse nützen als abstraktes Wissen we-sen nutzbringend zugunsten von Kindern,r gesamten Gesellschaft umgesetzt werden.trittig; denn bei der Geburtenrate liegtheute im weltweiten Vergleich von Ausspracheinverstandennig. Sie müsEltern und deDies ist unsDeutschland207 Ländern auf Platz 185. Die meisten Menschen
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Bundesministerin Renate Schmidtwünschen sich Kinder. Aber viele erfüllen sich diesenWunsch nicht, weil es um die Familienfreundlichkeit inunserem Land nicht ausreichend gut bestellt ist.Niedrige Geburtenraten sind aber kein unveränderba-res Schicksal, auch nicht in Deutschland. Hier möchteich ein Beispiel erwähnen: In der Stadt Laer im Münster-land wurde erreicht, dass die Geburtenrate – verglichenmit durchschnittlich 8,7 Geburten in Deutschland – auf13,5 gestiegen ist. – Ich sehe an Ihrem Lächeln, dassmanche meinen, der Bürgermeister hätte sich persönlichbemüht.
Nein, das ist nicht der Fall gewesen.
Er hat sich zwar bemüht, aber in einem anderen Sinne,Herr Bergner. Dort sind nämlich wirklich exzellente Be-treuungsmöglichkeiten geschaffen worden. Die ganzeKommune hat an ihrer Familienfreundlichkeit gearbei-tet.Dieses Beispiel zeigt: Wir können etwas bewirken,und zwar dort, wo die Familien leben und wo die Väterund Mütter arbeiten, nämlich in den Kommunen, die dasLebens- und Wohnumfeld gestalten, und in den Unter-nehmen, die die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatzschaffen. Vor Ort können die passenden Lösungen fürProbleme des Alltags gefunden werden. Die Familienund die Akteure wissen selbst am besten, wo der Schuhdrückt.Deshalb habe ich das Projekt „Lokale Bündnisse fürFamilie“ ins Leben gerufen. Die Zielsetzung diesesBündnisses ist die Schaffung von familienfreundlichenArbeitszeiten in mehr Betrieben, von mehr familien-freundlichen Betreuungsmöglichkeiten und von fami-lienfreundlicheren Rahmenbedingungen. Dazu sollenvor Ort konkrete Verabredungen getroffen werden. Da-durch entsteht ein größerer Mut, Kinder zu haben.Besonders wichtig ist mir die gute Zusammenarbeitvon Bund und prominenten Repräsentanten der Kommu-nen. Auf der lokalen Ebene soll die Allianz für Familie,die ich auf Bundesebene ins Leben gerufen habe, ihreFortsetzung finden. Deshalb habe ich zusammen mitstarken Partnern aus Gesellschaft und Wirtschaft die Ini-tiative „Lokale Bündnisse für Familie“ begründet. Indiesen lokalen Bündnissen schließen sich die Partner zu-sammen, die die Rahmenbedingungen für Familie ge-stalten. Neben Kommunen und Unternehmen sind diesVereine, Gewerkschaften, Verbände, Kirchen, freieWohlfahrtsträger und natürlich die Familien selbst.In einigen Kommunen wurden bereits solche Initiati-ven für Familie gegründet. Sie tragen unterschiedlicheNamen, haben aber meistens die gleichen Zielsetzungen.Ich möchte zwei dieser Initiativen als Beispiele nennen:In meiner Heimatstadt Nürnberg hat der Stadtrat dieKommune mit der Stadtverwaltung, den Stadtratsfraktio-nen, den Kirchen, Kammern, Gewerkschaften und freienTrägern vernetzt. Mit diesem Bündnis soll ein familien-freundliches Bewusstsein und ein positives Klima fürKinder geschaffen werden. Nur eine von vielen Maßnah-men, die bereits umgesetzt werden konnte: Mit familien-gerechten Angeboten und günstigen Preisen wird dieTeilnahme von Familien am kulturellen Leben erleich-tert.Damit man nicht immer Beispiele aus Großstädten er-wähnt, nun ein zweites Beispiel aus Ostfriesland. ZweiLandkreise und eine Stadt werden zusammen mit120 kleinen und mittelständischen Betrieben in einemkommunen- und betriebsübergreifenden Bündnis tätig.Eine solche überbetriebliche Verbindung von Firmenfördert erfolgreich die Berufstätigkeit und Qualifizie-rung von Frauen mit Kindern durch gezielte Beratungund Schulung.Unsere Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“knüpft an solche Beispiele an. Wir wollen bestehendeBündnisansätze bekannt machen. Sie sollen zur Nachah-mung anregen und zeigen, was möglich ist – gemeinsamund zum gegenseitigen Vorteil. Außerdem unterstützenwir die Gründung neuer Bündnisse. Unser Ziel ist es,dass in einem ersten Schritt mindestens 100 solcherBündnisse gegründet werden und sich etablieren. VieleEinzelinitiativen sollen konkrete Verbesserungen vor Ortherbeiführen und so zu einem familienfreundlicherenKlima in unserem Land beitragen.Die wichtigsten Bausteine dieser Initiative sind dasneu gegründete Servicebüro in Berlin und das Online-Handbuch „Lokale Bündnisse für Familie“.Bis Ende 2006 bietet das Servicebüro kostenlose Be-ratung beim Aufbau eines Bündnisses und bei der Ver-besserung bestehender Bündnisse an. In Workshops wer-den die Grundlagen erfolgreicher Bündnisarbeitvermittelt, damit der Start gelingt. Mitarbeiter des Ser-vicebüros helfen bei der Moderation der Auftaktveran-staltung. Akteure vor Ort erhalten eine Einführung inPressearbeit. Ich könnte noch vieles andere nennen. Ent-scheidend sind immer die jeweiligen Anforderungen derlokalen Bündnisse. Insofern steht auch das Leistungs-spektrum des Servicebüros noch nicht endgültig fest. Eswird sich parallel zu dieser Initiative entwickeln.Eine weitere Unterstützung bieten wir mit dem On-line-Handbuch „Lokale Bündnisse für Familie“, das manauf der Homepage der Initiative finden kann. Darin ste-hen Ideen für ein familienfreundliches Wohnumfeld, An-sätze zur Verbesserung der Kinderbetreuung, Maßnah-men für eine Balance zwischen Beruf und Familie sowieweitere Anregungen.Fachlich und wissenschaftlich begleitet wird die Initia-tive vom Deutschen Jugendinstitut. Die Initiative stehtauch in Kooperation mit der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung, die auch über dasJahr 2006 hinaus an der Verwirklichung des Ziels vonmehr Familienfreundlichkeit arbeiten werden. Die Euro-päische Union unterstützt das Projekt finanziell.Die Zusammenarbeit verschiedener Partner machtden besonderen Charakter dieser Initiative aus. Die Artund Weise, in der alle an einem Strang ziehen – jeder en-gagiert sich und steuert seinen Teil zum Ganzen bei –, isteine Form der Politik, die hoffentlich weite Kreise zieht.
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Bundesministerin Renate SchmidtDie Bundesregierung will aus dem Trend zur Familieeinen Trend zu mehr Kindern machen. Gemeinsam rufenwir dazu auf, überall in Deutschland solche lokalenBündnisse für Familie zu gründen. Wer familienfreund-lich handelt, ist ein Trendsetter. Meine Bitte an Sie, dieAbgeordneten: Helfen Sie mit und werben auch Sie fürdiese Initiative! Dadurch kann das Ganze nämlich nurnoch erfolgreicher werden.
Ich bitte, zunächst Fragen zu diesem Themenbereich
zu stellen. – Ich habe bereits eine Reihe von Wortmel-
dungen vorliegen. Zunächst hatte sich die Kollegin
Maria Eichhorn von der CDU/CSU-Fraktion gemeldet.
Frau Ministerin, bereits 1992 hat die unionsgeführte
Bundesregierung die erste Auflage des Buches „Örtliche
und regionale Familienpolitik“ herausgegeben und den
Wettbewerb „Kinder- und familienfreundliche Ge-
meinde“ ausgelobt.
Es gibt Gott sei Dank etliche lokale Bündnisse. Die
einen nennen es „runder Tisch“ und die anderen „Bünd-
nis für Familie“. Das haben wir, die Unionsfraktion, vor
zwei, drei Jahren in unserem Familienkonzept auch noch
einmal dargestellt. Es ist sicherlich gut, dass diese Initia-
tive vonseiten der Bundesregierung, also von Ihnen, nun
fortgeführt und ausgebaut wird. Man kann sicher einiges
tun, ohne dass es Geld kostet. Ganz ohne finanzielle Un-
terstützung wird es aber nicht gehen. Das zeigt sich auch
an vielen Initiativen und Projekten in Bayern, die finan-
ziell unterstützt werden. Es gibt aber auch runde Tische,
die bereits seit Jahren ohne finanzielle Unterstützung ar-
beiten.
Sie haben in Ihrer Presseerklärung gesagt, als Ergeb-
nis könnten Sie sich längere Öffnungszeiten der Kinder-
gärten vorstellen, da es um verbesserte Kinderbetreu-
ungsmöglichkeiten gehe. Das kostet aber Geld, Frau
Schmidt. Darum stelle ich folgende Fragen: Was wollen
Sie tun, damit diese Vorhaben für die Verbesserung der
Kinderbetreuung angesichts der knappen – besser ge-
sagt: der zum Teil katastrophalen – finanziellen Ausstat-
tung der Kommunen tatsächlich zu verwirklichen sind?
Was wollen Sie grundsätzlich tun – zum Beispiel durch
eine kommunale Finanzreform –, um eine Verbesserung
der kommunalen Finanzen zu erreichen?
Sie haben gerade auch noch die Beratung angespro-
chen. Auch die Beratung kostet Geld.
Frau Kollegin Eichhorn, ich bitte, nur eine Frage zu
diesem Themenkomplex zu stellen.
Ja. – Es gibt bundeszentrale Träger, wie zum Beispieldie Arbeitsgemeinschaft der Familienbildungsstätten.Was haben Sie vorgesehen, damit diese finanziell besserausgestattet werden, sodass diese Arbeit vor Ort geleistetwerden kann?Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrte Frau Eichhorn, zunächst zum ersten Teil.Ich glaube, wir wären hier und heute überfordert, wennwir die Diskussion zu den Kommunalfinanzen, die zu-letzt im Vermittlungsausschuss des Deutschen Bundesta-ges und des Bundesrates geführt worden ist, noch einmalführen würden. Es wäre schön gewesen, wenn be-stimmte weitere Vorschläge von uns zur besseren Fi-nanzausstattung der Kommunen nicht abgelehnt wordenwären. Wir brauchen jetzt nicht mehr nachzukarten, aberdie Konzepte lagen auf dem Tisch.
Wir sind uns darüber einig, dass natürlich die Mög-lichkeit bestehen muss, dass die Kommunen tatsächlichtätig werden. Die Kommunen sind aber nicht alleine ver-antwortlich. Ich will gerne ein Stück weiter ausholen.Wie Sie wissen, wollen wir die Kommunen mit den Mit-teln, die durch die Verwirklichung des Hartz-Konzepteseingespart werden, ab dem Jahr 2005 mit 1,5 MilliardenEuro jährlich in die Lage versetzen, ihren gesetzlichenAuftrag zu erfüllen – dieser liegt nun einmal bei denKommunen –, die Betreuung für die unter Dreijährigenbedarfsgerecht auszubauen und mehr Ganztagsplätze inden Kindertagesstätten einzurichten.Darüber hinaus muss aber auch die Wirtschaft versu-chen, hier ihre Aufgaben zu erfüllen. Wir wissen – Sie ha-ben darauf hingewiesen –, dass es bereits solche kommu-nalen Bündnisse gibt – bundesweit sind es insge-samt 40 –, die die unterschiedlichsten Namen tragen undunterschiedlich konzeptioniert sind. Das ist noch zu we-nig. Deshalb wollen wir dies ausbauen. Im Rahmen sol-cher Bündnisse – aber auch darüber hinaus – gibt es Ini-tiativen. Ich nenne zum Beispiel die Initiativen vonkleinen und mittelständischen Unternehmen, die in einerKommune eine bestimmte Zahl von Ganztagsplätzen fürdie Kinder ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und,wenn sie von ihnen nicht wahrgenommen werden, auchfür die Kinder anderer Menschen in dieser Kommune be-reitstellen.Ich möchte die Kommunen auch durch Beratung un-terstützen. Das Servicebüro ist nicht kostenlos, sondernwird uns bis zum Jahr 2006 insgesamt 4 Millionen Eurokosten, ungefähr zur Hälfte durch den EuropäischenSozialfonds finanziert. Ich möchte aber eines nicht tun:Ich möchte dadurch nicht die Aufgabenstellung derunterschiedlichen Gebietskörperschaften in der Bundes-republik Deutschland verändern. Es gibt Bundeszustän-digkeiten, Länderzuständigkeiten und kommunale Zu-ständigkeiten. Wir werden nicht versuchen, über lokaleBündnisse für Familie diese Zuständigkeiten in irgendei-ner Art und Weise zu vermischen.
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Die nächste Frage hat die Kollegin Ina Lenke von der
FDP-Fraktion.
Frau Ministerin, was Sie hier als sehr großen Erfolg
verkaufen, ist ganz normale Ministeriumsarbeit. Ich
möchte deshalb etwas anderes ansprechen. In Ministe-
rien muss konzeptionell und ordnungspolitisch gedacht
werden. Da Sie gesagt haben, dass mehr für die Familie
und die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit
getan werden muss, möchte ich Sie auf unser neues
Steuerkonzept verweisen. Wir sind hier Trendsetter;
denn wir fordern die Abschaffung der Steuerklasse V.
Jeder, der einmal in Steuerklasse V gearbeitet hat, weiß,
dass diese Steuerklasse gestrichen werden muss. Davon
würden Frauen profitieren. Ich würde mich freuen, wenn
Sie uns da unterstützen könnten.
Meine Frage: Wie sieht eigentlich das Konzept zur
Betreuung der unter Dreijährigen aus? Sie haben
versprochen, den Kommunen ab 2004 jährlich
1,5 Milliarden Euro dafür zu geben. Dies haben Sie auf
2005 verschoben. Ich habe heute bisher von Ihnen noch
kein ordentliches Konzept für Kinderbetreuung gehört,
zum Beispiel bei den Tagesmüttern. Sie wissen, dass in
diesem Bereich sehr viel schwarzgearbeitet wird. Noch
einmal: Wie genau ist Ihr Konzept zur Betreuung von
Kindern unter drei Jahren? Wie wollen Sie da ordnungs-
politisch und konzeptionell vorgehen?
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Frau Lenke, ich bin gerne bereit, auch über die Frage
der Steuerklasse V zu diskutieren. Ich glaube aber, dass
dies weniger mit den lokalen Bündnissen zu tun hat.
Über dieses Problem sollten wir uns einmal im Aus-
schuss unterhalten. Ich bin mit Ihnen einig, dass die
Einkommensteuerklasse V für manche Frauen eine Be-
nachteiligung darstellt. Das gilt insbesondere für diejeni-
gen, die durchgängig erwerbstätig sind und nicht nur ge-
legentliche Aushilfstätigkeiten ausüben.
Ich habe dem Finanzministerium vorgeschlagen, dies
im Zusammenhang mit der Abschaffung der Lohnsteuer-
klassen insgesamt zu machen, die unmittelbar be-
vorsteht. Mit der Umstellung auf eine elektronische
Bearbeitung können die Einkommen – je nach Größen-
ordnung – entsprechend besteuert werden. In dieser
schwierigen Angelegenheit stehen wir in engem Kontakt
mit dem Finanzministerium.
Zu Ihrer Frage, die nicht unmittelbar mit den lokalen
Bündnissen für Familie zu tun hat: Ich habe Ihnen im
Ausschuss angekündigt und wiederhole es hier, dass es
im Jahr 2004 ein Gesetzgebungsverfahren zum Kinder-
und Jugendhilferecht in enger Abstimmung mit den
Kommunen und den Ländern geben wird. Auch wenn
dieses Gesetz nicht zustimmungspflichtig ist, wollen wir
ihre Zustimmung erreichen. Wir wollen dafür sorgen,
dass in diesem Gesetz Qualität und Bildungsziele, wie
sie in der Nationalen Qualitätsinitiative festgehalten
sind, die Behandlung der Tagespflege sowie der Bedarf
für die Betreuung der unter Dreijährigen so definiert
werden, dass die Kommunen Spielräume haben, um sich
auf den konkreten Bedarf vor Ort einzurichten. Wir wer-
den aber sicherstellen, dass die 1,5 Milliarden Euro, die
wir zur Verfügung stellen, für diesen Zweck ausgegeben
werden.
Die nächste Frage hat die Kollegin Christel Humme.
Frau Ministerin, zunächst einmal herzlichen Dank fürdie Darstellung des Projekts „Lokale Bündnisse für Fa-milie“. Sie haben uns gerade aufgefordert, dieses Projektnach allen Kräften zu unterstützen. Ich denke, dies isteine der kommenden Aufgaben der Abgeordneten. Vondaher kann ich für uns sagen, dass wir dies mit Sicher-heit tun werden.Ich glaube, das, was auch schon gesagt hat, ist richtig,nämlich dass es schon einige runde Tische und Aktivitä-ten gibt, aber nicht flächendeckend. Daher ist zu begrü-ßen, dass das Ministerium eine Servicestelle einrichtenwill, um die Aktivitäten, die vorhanden sind, zu unter-stützen und weitere Aktivitäten zu entwickeln.Wir brauchen in der Tat in den Kommunen und vorOrt ein stärkeres Bewusstsein für Familie. Da haben wirnoch eine Menge zu tun. Wenn Sie, Frau Ministerin,vielleicht einmal darstellen könnten, welche Vorteile– es geht darum, zu transportieren, welche Vorteile dieUnternehmen und die Kommunen haben – dieses Projekthat, wäre ich sehr dankbar.Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrte Frau Humme, wir haben im letzten Jahreine Vielzahl von Studien in Auftrag gegeben und dieErgebnisse vorstellen können. Die Studien erhärten dieThese, dass es Vorteile bringt, wenn wir zu einer besse-ren Vereinbarkeit von Kindererziehung und Erwerbstä-tigkeit beitragen. Das ist gut für die Kinder selbst, aberauch für die Volkswirtschaft insgesamt, insbesondere dieUnternehmen und die Kommunen.Die DIW-Studie hat deutlich gemacht, dass der Aus-bau der Kinderbetreuung einen volkswirtschaftlichenVorteil auf allen Ebenen bedeutet. Nun mache ich mirkeine Illusion. Das findet nicht nach dem Motto statt: Ichinvestiere und am nächsten Tag habe ich schon die Vor-teile. Die Vorteile hat man erst mit einer gewissen Zeit-verzögerung. Insgesamt wird aber deutlich, dass mehrMütter erwerbstätig sein können, was sie in einem hohenAusmaß wollen. Das bedeutet, dass sie unter Umständenvon Sozialhilfeempfängerinnen zu Erwerbstätigen wer-den, Steuern und Sozialabgaben zahlen und dadurch dieSozialleistungen, die aufzuwenden sind, gemindert wer-den.
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Bundesministerin Renate SchmidtEs wurde durch eine zweite Studie, die der PrognosAG bei mittelständischen Unternehmen, deutlich, dassdie Kinderbetreuung und familienfreundliche Arbeitsbe-dingungen – dafür sind an erster Stelle die Unternehmenzuständig – betriebswirtschaftliche Vorteile bringen.Alle diese Studien sind in unserem Ministerium abruf-bar. Ich nenne hier nur eine Zahl: Jeder eingesetzte Eurobringt eine Rendite von mindestens 25 Prozent. Wennalle Investitionen in einem Unternehmen eine solcheRendite hätten, wären die Unternehmen wahrscheinlichsehr froh.Wir haben noch eine dritte Studie, nämlich die Studievon Herrn Rürup zur nachhaltigen Familienpolitik.Darin wurde noch einmal deutlich, welchen zentralenStellenwert für unsere Volkswirtschaft, für unser Brutto-sozialprodukt und unser wirtschaftliches Wachstumder Ausbau der Kinderbetreuung hat. Durch den zu-sammen mit den Arbeitgeberorganisationen durchge-führten Monitor Familienfreundlichkeit bei insgesamt10 000 Unternehmen wurde deutlich, dass erstens in ei-nem gewissen Ausmaß ein Umdenken stattfindet, aberzweitens in 70 Prozent der Unternehmen noch kein Pro-blembewusstsein vorhanden ist.Das wissen wir jetzt alles. Ich konnte das nur schlag-lichtartig beleuchten. Da uns Wissen allein nicht vor-wärts bringt, müssen wir schauen, dass wir das Wissenkonkret umsetzen. Dazu dienen gesetzliche Maßnahmenüber diejenigen hinaus, die ich Frau Lenke genannt habe,nur in begrenztem Ausmaß. Wir haben den Anspruch aufTeilzeitarbeit und wir haben eine flexible Elternzeit. Angesetzlichen Maßnahmen wurde in diesem Zusammen-hang nahezu alles getan. Trotzdem wird zu wenig umge-setzt. Zu dieser Umsetzung sollen die lokalen Bündnissefür Familie dienen. Ich sage noch einmal: Das würdeauch zu unserer wirtschaftlichen Prosperität beitragen.
Ich habe eine größere Zahl von Wortmeldungen.
Wenn Sie sich bei den Fragen wie bei den Antworten
kürzer fassen würden, könnten wir sie alle aufrufen.
Denn wir haben jetzt nur noch 16 Minuten Zeit.
Die nächste Frage hat die Kollegin Renate
Gradistanac.
Frau Familienministerin, ich freue mich sehr, dass Sie
daraus eine Kampagne machen und die Diskussion vor
Ort fördern wollen. Ich glaube, dass sich das von der
letzten Kampagne entscheidet. Ich weiß, dass es einzelne
Bündnisse gibt, allerdings sind sie, glaube ich, in Baden-
Württemberg besonders spärlich. Sie sagen, dass
70 Prozent der Unternehmen keine entsprechende Sensi-
bilität besitzen. Das trifft zumindest für Baden-Württem-
berg zu. Ich komme aus dem Schwarzwald. Dort haben
die Unternehmen noch viel Nachholbedarf.
Sie haben sich mit diesem Thema auch an die Wirt-
schaft herangewagt. Wie ich höre, sind Sie da sehr er-
folgreich. Könnten Sie uns die Partner in der Wirtschaft
und in der Gesellschaft nennen? Ich denke, dass Sie es
geschafft haben, das Engagement in den lokalen Bünd-
nissen vor Ort zu einer Verpflichtung zu machen. Mich
interessiert besonders, ob auch Baden-Württemberg da-
ran beteiligt ist.
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Wir führen eine bundesweite Kampagne durch, die
ich initiiert habe. Ich kann übrigens nicht bestätigen,
dass sich in Baden-Württemberg flächendeckend nichts
tut. Angefangen bei den Firmen Weleda und Rösch in
Tübingen könnte ich Ihnen eine ganze Reihe von Unter-
nehmen nennen, die dort bereits heute viel tun. Von der
IHK Heilbronn-Franken ist mir bekannt, dass sie dazu
beitragen will, diese Region zur familienfreundlichsten
Region in Deutschland zu machen. Es freut mich, wenn
solche Wettbewerbe zustande kommen.
Für unser Kuratorium, das die lokalen Bündnisse für
Familie begleitet, haben wir uns auf die Bundesrepräsen-
tanz verständigt. Zu den Beteiligten gehören der Präsi-
dent des Deutschen Industrie- und Handelskammertages,
Herr Braun, der Präsident des Zentralverbands des Deut-
schen Handwerks, Herr Philipp, der Bundesvorsitzende
des DGB, Michael Sommer, und die Hertie-Stiftung.
Besonders wichtig ist mir, dass sehr viele Kommunal-
politiker und -politikerinnen beteiligt sind. Was Baden-
Württemberg angeht, ist meines Wissens auch die Ober-
bürgermeisterin von Heidelberg, Frau Weber, vertreten.
Ich betone aber noch einmal, dass es sich nicht aus-
schließlich um SPD-Oberbürgermeister und -bürger-
meisterinnen handelt; ich habe vielmehr Wert darauf
gelegt, dass die Beteiligung parteiübergreifend erfolgt.
Denn ich möchte, dass sich alle Seiten daran beteiligen.
Es sollte in der Tat ein Wettbewerb zustande kommen,
aber dies im besten Sinne.
Die nächste Frage hat die Kollegin Rita Pawelski von
der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Ministerin, die Bundesregierung hat schon vorJahren mit den Wirtschaftsverbänden eine Vereinbarunggetroffen mit dem Ziel, die Vereinbarkeit von Familieund Beruf in den Betrieben zu verbessern. Inwieweit be-teiligt sich der Staat als Arbeitgeber an dieser Zielset-zung und inwieweit beteiligt sich der Staat als Arbeitge-ber an den lokalen Bündnissen? Denn bei einem lokalenBündnis zum Beispiel in Berlin, spielt der Staat als Ar-beitgeber eine wichtige Rolle.Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Es ist sicherlich richtig – deshalb lege ich auch Wertdarauf –, dass sich vor Ort die Kommunen beteiligenund in den Bündnissen vertreten sein müssen. Wenn die
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Bundesministerin Renate SchmidtKommunen als staatliche Organe nicht vertreten sind, istmeiner Ansicht nach das gesamte Vorhaben zum Schei-tern verurteilt. Wenn die staatlichen Organe außen vorblieben, können sie nur Vorschläge machen, die aber si-cherlich nicht umgesetzt würden. Ich glaube, dass sichalle gemeinsam in die Pflicht nehmen lassen müssen.Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie da-nach gefragt, welchen Beitrag der Bund leistet.
In meinem Ministerium wie auch in anderen Ministeriensind viele Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit vonKindern und Erwerbstätigkeit, angefangen bei variablenund flexiblen Arbeitszeitsystemen bis hin zu besserenKinderbetreuungsmöglichkeiten, in Angriff genommenworden. Ich hatte erst kürzlich mit einem strittigen Fallim Zusammenhang mit einem Betriebskindergarten inBonn zu tun, den mein noch dort ansässiges Ministeriumauch für andere Ministerien dort betreibt.Es gibt bereits eine ganze Reihe von Initiativen. Wasmein Ministerium betrifft, können wir sicherlich sogarein Stück weit als Vorbild dienen. Ob das allerdings füralle gleichermaßen zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Indiesem Punkt gebe ich Ihnen Recht. Eine Aktion, wiewir sie durchführen wollen, kann hier zu einem besserenDrive führen.
Die nächste Frage hat die Kollegin Ingrid Fischbach.
Frau Ministerin, ich möchte Ihnen zunächst einmal
für die gute Idee danken, die Betriebe, den Mittelstand
und die Industrie in die Familienpolitik einzubeziehen,
die übrigens seinerzeit schon von der Ministerin Nolte
verfolgt wurde. Sie hat bereits in den 90er-Jahren Wett-
bewerbe wie die Wahl des familienfreundlichsten Be-
triebs ausgelobt. Frau Kollegin Gradistanac hätte sich
besser informieren sollen: Diesen Wettbewerb haben
baden-württembergische Betriebe gewonnen. Denn sie
haben diese Idee auf wunderbare Weise aufgegriffen und
deutlich gemacht, dass sich Familienfreundlichkeit für
die Betriebe lohnt und rechnet.
Frau Ministerin, Sie haben gegen Ende Ihrer Ausfüh-
rungen gesagt, der Trend zur Familie soll ein Trend zu
mehr Kindern werden; dieses würde familienfreund-
liches Handeln bedingen. Kann ich daraus ableiten, dass
Sie zukünftig bei allen Gesetzgebungsverfahren, die auf
Bundesebene erfolgen, eine Familienfreundlichkeitsprü-
fung durchführen werden?
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Frau Kollegin, ob das eine formale Prüfung sein
muss, stelle ich infrage. Aber dass mein Ministerium,
das unter anderem für Familien und Kinder zuständig ist,
die Gesetzentwürfe der Bundesregierung und des Parla-
ments daraufhin zu überprüfen hat, wie sie sich auf Kin-
der, Jugendliche und die Familien insgesamt auswirken,
versteht sich in meinen Augen von selbst. Dazu fühle ich
mich regelmäßig aufgefordert. Gerade im letzten Jahr
hatten wir damit nicht gerade wenig Arbeit.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt die Kollegin
Michaela Noll.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich freue mich natürlichüber das Engagement für lokale Bündnisse. Ich habeaber eine konkrete Frage. Wir alle wissen: „Ohne Moosnix los!“ Wir wissen außerdem, wie es in den Kommu-nen aussieht und dass es 40 000 Insolvenzen gibt. In derPressemitteilung der Bundesregierung vom 8. Januar2004 steht: „Sie bezuschusst die Ganztagsbetreuung vonKindern in Unternehmen.“ – Ich hätte gern dazu eineAuskunft, wie das in der Praxis aussehen soll; denn ohneeine entsprechende Finanzierung wird es relativ schwie-rig sein, die Unternehmen dazu zu bewegen, dass siemehr Ganztagsbetreuung für Kinder anbieten.Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Das stimmt nicht, Frau Kollegin. Es ist nicht darangedacht, dass der Bund das Engagement einzelner Un-ternehmen bezuschusst. Ich bin aber sehr offen für Vor-schläge – teilweise sind sie schon vorhanden, teilweisemüssen sie noch verifiziert werden –, die dazu dienen,den Großbetrieben zu helfen, die beispielsweise wieMTU in München Kinderbetreuung in Eigenregie durch-führen wollen – für kleine und mittlere Betriebe lohntsich so etwas nicht – und die dabei feststellen, dass sieeine Vielzahl von bürokratischen Hindernissen zu über-winden haben. Wenn sich hier Notwendigkeiten für eineGesetzesänderung ergeben, dann sind wir gerne bereit,diese in Angriff zu nehmen. Das Ganze hat sich abernoch nicht genügend erhärtet.Wir denken, wie gesagt, nicht an Zuschüsse durch denBund. Ich sage noch einmal: Für Kinderbetreuung undderen Finanzierung gibt es eine verfassungsmäßig fest-gelegte Zuständigkeit. Diese liegt bei den Kommunenund nicht beim Bund. Dass wir dabei helfen, weil wirdas für die Modernisierung unseres Landes für dringendnotwendig halten, ist in meinen Augen schon außerge-wöhnlich. Aber vor dem Hintergrund, dass Deutschlandin dieser Beziehung Schlusslicht in Europa ist, verstehtsich das meines Erachtens von selbst. Deshalb werdenwir das tun.Ich glaube, solche Anstöße wie die lokalen Bündnissekönnen dazu dienen, dass Unternehmen einsehen, dasses in ihrem eigenen Interesse ist, hier etwas zu tun. Ichbetone noch einmal: Die Unternehmen, die selber Kin-derbetreuungseinrichtungen betreiben, sagen, dass sichdiese Investitionen für sie lohnten; denn unter demStrich rechneten sich solche Investitionen dadurch, dass
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Bundesministerin Renate Schmidtman an anderen Stellen einen Gewinn habe, zum Bei-spiel durch geringere Personalbeschaffungskosten undgeringere Krankenstände.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt der Kollege
Dr. Christoph Bergner.
Frau Ministerin, Sie haben – wie ich meine: aus gu-
tem Grund – die bedrückende Geburtenstatistik zum
Ausgangspunkt Ihrer Ausführungen gemacht. Die nega-
tive Geburtenentwicklung hat den Nebeneffekt, dass Fa-
milien mit Kindern in unserer Bevölkerung immer mehr
in eine Minderheitenposition geraten. Ich denke insbe-
sondere an großstädtische Siedlungsgebiete, in denen
das bereits gegenwärtig in gravierendem Maße der Fall
ist. Dies hat zur Konsequenz, dass die Interessen von
Familien mit Kindern im demokratischen Willensbil-
dungsprozess eigentlich kaum noch angemessen wahr-
genommen werden können, gerade wenn es um Interes-
senkonflikte geht, in deren Mittelpunkt Kinder stehen.
Jedenfalls besteht die Gefahr, dass die Vertreter dieser
Interessen überstimmt werden.
Frau Ministerin, Sie wissen, dass sich Kolleginnen
und Kollegen dieses Hauses um eine Wahlrechtsände-
rung bemühen. Auch wenn ich diesen Weg für falsch
halte, denke ich, dass das Problem wichtig ist. Deshalb
frage ich Sie: Zeigen Sie mit Ihrer Initiative auch Wege
auf, mit denen man die Mitwirkungsmöglichkeiten von
Familien mit Kindern im demokratischen Willensbil-
dungsprozess in den Regionen verstärken und verbes-
sern kann?
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Herr Kollege Bergner, die lokalen Bündnisse sind ge-
nau ein solches Instrument. Vielleicht entwickeln sich
daraus weitere Instrumente. Sie kennen meine Position
zu dem von Ihnen erwähnten Antrag, der in das Parla-
ment eingebracht worden ist. Sie wissen auch, dass das
nicht die Position der Bundesregierung ist. Ich erhoffe
mir aber allein durch eine breite Diskussion über eine
eventuelle Änderung des Wahlrechtes Bewusstseinsver-
änderungen in der Gesellschaft, die dazu beitragen kön-
nen, dass man Familien mehr einbezieht.
Für mich ist ein lokales Bündnis für Familien erst
dann vollständig, wenn die Familien selbst und ihre Ver-
tretungen, also Elternbeiräte in Kindertagesstätten, in
Schulen, Familienorganisationen, daran beteiligt sind.
Diejenigen lokalen Bündnisse, die bisher erfolgreich wa-
ren, weisen genau das auf: Nicht nur die Fachleute, die
Kinder- und Jugendhilfepolitiker und Vertreter von
Kammern und Ähnlichem, reden dort miteinander, viel-
mehr werden die Familien einbezogen.
Ich habe in meinem einführenden Referat gesagt, dass
die Familien am besten wissen, wo sie der Schuh drückt.
Es wäre in meinen Augen falsch, ihre Erfahrungen nicht
einzubeziehen.
Wenn es keine Fragen außerhalb dieses Themenbe-
reichs gibt, dann können wir die letzten fünf Minuten
nutzen, um die vorliegenden Wortmeldungen abzuwi-
ckeln. – Das scheint der Fall zu sein.
Der Kollege Klaus Haupt hat das Wort.
Frau Ministerin, ich begrüße ausdrücklich jede Initia-
tive, die dazu beiträgt, dass Deutschland familien- und
kinderfreundlicher wird. Ich glaube, wir sind uns einig:
Familienfreundlichkeit und Kinderfreundlichkeit kann
man nicht trennen; das eine bedingt das andere.
Das zeigen auch einige Beispiele, die Sie hier an-
geführt haben. Eine kinderfreundliche Kommune ist
einfach lebens- und liebenswerter. Ich habe bei den Ini-
tiatoren – Stichwort Wohnumfeld – einen Mangel fest-
gestellt. Daraus resultiert meine Frage. Ich schließe da-
mit an das an, wonach Herr Bergner gefragt hat. Es ging
ihm um den Einfluss und die Mitentscheidungsrechte
von Familien. Wir beide wissen, dass Kinder laut UN-
Kinderrechtskonvention das Recht haben, bei allen Din-
gen, die sie betreffen – das umfasst auch das Wohnum-
feld –, mitzubestimmen.
Ich frage ganz konkret: Wie kann die Partizipation
von Kindern – darüber wird auch in Ihrem Hause disku-
tiert – mit der von Ihnen vorgestellten Bewegung ver-
netzt und gekoppelt werden? Ich frage, weil ganz ent-
scheidend sein wird, dass die betroffenen Kinder dort ein
Mitspracherecht bekommen, wo sie mitentscheiden dür-
fen.
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Herr Kollege Haupt, ich bedanke mich ausdrücklich
für diese noch einmal geäußerte Anregung. Wir haben
den lokalen Bündnissen natürlich nicht im Einzelnen
vorgeschrieben, wie es abzulaufen hat. Ich habe in mei-
nen Eingangsbemerkungen deutlich gemacht: Ich
möchte, dass sich die unterschiedlichsten Formen und
Strukturen etablieren.
Das Servicebüro wird Anregungen wie die von Ihnen
gerade gemachte in die lokalen Bündnisse einspeisen.
Wir werden dort, wo das nicht geschieht, darauf auf-
merksam machen, dass Kinder – auch nach der
UN-Kinderrechtskonvention – das Recht haben, die sie
betreffenden Angelegenheiten mitzugestalten. Wir wer-
den dort, wo das nicht von selbst geschieht, den gebote-
nen Einfluss ausüben, um das umzusetzen, was Sie hier
richtigerweise geäußert haben.
Die nächste Frage stellt der Kollege Andreas Scheuer.
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7454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Frau Ministerin, ich mache eine Vorbemerkung, weil
Sie gesagt haben, dass Sie im Bereich der Kinder- und Ju-
gendhilfe etwas erarbeiten wollen. Wenn Sie der Bundes-
ratsinitiative, die momentan beraten wird, zustimmen
würden, dann könnten wir uns diese Arbeit sparen, weil
sie in enger Abstimmung mit der Praxis und den Kommu-
nen – das hat die Anhörung gezeigt – entwickelt wurde.
Zur Politik von Rot-Grün könnte man sagen: Für alles
eine schöne Kampagne, aber wenig Taten. – So einfach
möchte ich es mir jedoch nicht machen. Trotzdem müs-
sen wir am Image arbeiten. Ich bedanke mich für diese
Initiative. Wir wollen einmal sehen, welche Werbeagen-
tur diese Kampagne durchführen soll! Wir werden auch
auf die Evaluierungskosten, die bei dieser Kampagne an-
fallen, schauen, damit es nicht wieder eine Selbstbe-
schäftigung im eigenen Haus wird.
Wie teilen sich die Kosten für das Servicebüro Berlin
in Höhe von 4 Millionen Euro – Sie haben diese Zahl ge-
nannt – auf? Sie haben vom Online-Handbuch „Lokale
Bündnisse für Familie“ und von der Homepage dieser
Initiative geredet. Können Sie das einmal genau auf-
schlüsseln? Für die Information wäre ich Ihnen dankbar.
Wird ein zusätzliches Gebäude angemietet oder läuft das
im Ministerium ab? Wie hat man sich das Servicebüro in
operativer Hinsicht vorzustellen?
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:
Das Servicebüro hat seinen Sitz in Bonn. Insgesamt
ist ein Finanzvolumen von 4,231 Millionen Euro not-
wendig. Davon zahlt der Europäische Sozialfonds
2,001 Millionen Euro. Wir werden für das Online-Hand-
buch insgesamt 85 000 Euro ausgeben. Dem Deutschen
Jugendinstitut, das das ganze Vorhaben begleitet und
damit auch evaluiert, werden dafür insgesamt
296 000 Euro zur Verfügung gestellt werden. Die große
Masse des Geldes geht also in die konkrete Beratung und
Unterstützung der lokalen Initiativen. Wir haben weder
irgendeine Werbeagentur noch sonst jemanden beauf-
tragt, sondern wir wollen versuchen, das Projekt erfolg-
reich durchzuführen und möglichst viele solcher lokalen
Bündnisse zu installieren.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit auch noch
einmal auf das eingehen, was einige Ihrer Kolleginnen
schon gesagt haben. Ja, es stimmt; so eine Idee ist natür-
lich schon da gewesen. Ich habe mich darüber gefreut.
Man kann doch voneinander lernen. Es ist um Himmels
willen nicht so, dass die Weisheit immer nur auf einer
Seite des Hauses ist. Wenn etwas gut begonnen hat, aber
leider Gottes irgendwo stecken geblieben ist – bundes-
weit sind es insgesamt nur, meine ich, 40 solcher Initiati-
ven –, dann ist es in meinen Augen an der Zeit, weiterzu-
helfen. Ich glaube, dass auf freiwilliger Basis manchmal
Besseres entsteht als durch gesetzliche Vorschriften.
Die Zeit für die Befragung der Bundesregierung ist
eigentlich abgelaufen. Mir liegen noch drei Wortmeldun-
gen vor. Wenn Sie einverstanden sind, rufe ich die noch
auf; das ginge dann auf Kosten der Zeit für die Frage-
stunde. Aber die Zahl der Fragen ist heute ohnehin nicht
so groß. – Dann verfahren wir so.
Die nächste Frage hat der Kollege Thomas
Dörflinger.
Frau Ministerin, um der Gefahr vorzubeugen, die derKollege Scheuer eben beschrieben hat, nämlich dass dasGanze ein Selbstbefassungsprogramm für PR-Agenturenoder auch für Ihr Haus wird,
muss natürlich ein bisschen „Butter bei die Fische.“Sie haben von einem Leitfaden für Pressearbeit ge-sprochen. In einem lokalen Bündnis für Familie, in demprofessionelle Kräfte aus der öffentlichen Verwaltungund aus Unternehmen sitzen, braucht meines Erachtensniemand einen Leitfaden für Pressearbeit. Die Leutewissen, wie das geht. Sogar ein Privatmann kriegt es aufdie Reihe, einen Zeitungsartikel zu schreiben oder einRundfunkinterview zu führen;
das wird ja ordentlich zusammengeschnitten.Mir geht es aber noch um etwas ganz anderes, was Sieeben auch angedeutet haben. Ist denn sichergestellt,dass, wenn sich aus diesen lokalen Bündnissen für Fami-lie Handlungsbedarf ergibt, der über den eigentlichenZuständigkeitsbereich der Kommunen deutlich hinaus-geht, der politische Handlungsbedarf, der sich darausbeispielsweise auf der Bundesebene ergibt, nicht nur do-kumentiert, sondern anschließend auch in die Tat umge-setzt wird?Beispiel: Es wird sich relativ schnell herausstellen,dass die Betreuungsfrage, die jetzt diskutiert wird, nichtallein durch die Schaffung von Ganztagseinrichtungengelöst werden kann, weil zum Beispiel Kindergärtensowohl in Unternehmen als auch in der öffentlichen Ver-waltung nur ab einer bestimmten Größe möglich sind.Alles das, was darunter liegt, beispielsweise im ländli-chen Raum Gemeinden mit 1 000, 2 000 oder 3 000 Ein-wohnern, fällt durch den Rost.Ist also sichergestellt, dass das in der Weise evaluiertwird und anschließend auch die politischen Konsequen-zen daraus gezogen werden?Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Herr Kollege Dörflinger, es ist so, wie ich vorhin ge-sagt habe, nämlich dass wir das bis zum Jahr 2006 aus-gelegt haben. Mein hohes Interesse richtet sich darauf,dann wirklich zu wissen: Erstens. Was hat sich auf derkommunalen Ebene tatsächlich getan? Das ist der eine
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7455
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(D)
Bundesministerin Renate Schmidtwichtige Aspekt. Zweitens. Welchen Handlungsbedarfgibt es über die kommunale Ebene hinaus, wie Sie es ge-rade geschildert haben, auf anderen Ebenen – das kön-nen die Länder sein, das kann der Bund sein –, der erfülltwerden muss, um Verbesserungen für Familien zu errei-chen? Daraus müssen dann die Konsequenzen gezogenwerden. Ich bitte um Verständnis dafür, dass das amEnde und nicht am Anfang geschieht. Wir fangen ja ge-rade erst mit diesen lokalen Bündnissen an.Sie haben außerdem gesagt, dass ich von einem Leit-faden für Pressearbeit gesprochen hätte. Das haben Siewahrscheinlich falsch verstanden; vielleicht habe ichmich auch versprochen. Ich habe jedenfalls gemeint:Wenn es vor Ort gewünscht wird, werden wir unter Um-ständen auch bei der Presse- und Medienarbeit helfen.Ich möchte mit diesem Büro vor allem auf die Bedürf-nisse der Kommunen und dieser lokalen Bündnisse ab-stellen und ihnen nichts vorschreiben. Nur wenn wir soverfahren, wird etwas Vernünftiges daraus.
Deshalb ist es nicht geplant, einen Leitfaden für Presse-arbeit zu erstellen, vielmehr wird es ein Handbuch fürUnternehmen geben, in dem dargestellt wird, wie fami-lienfreundliche Unternehmenspolitik gemacht werdenkann. Das wird gemeinsam mit der IHK erarbeitet; wirbefinden uns da im Moment kurz vor dem Abschlussund werden es Ihnen dann auch zur Verfügung stellen.Ich glaube, daraus kann dann wirklich etwas Vernünf-tiges werden.
Die nächste Frage hat die Kollegin Hannelore Roedel.
Frau Ministerin, Sie haben in einer Ihrer Presseerklä-
rungen bemerkt, dass es Ihnen gelungen sei, die Wirt-
schaft miteinzubeziehen; im gleichen Atemzug haben
Sie die Schuld für das familienfeindliche Klima in unse-
rem Land eindeutig der Wirtschaft zugewiesen. Das liegt
mir schriftlich vor. Sie können es ja klarstellen, wenn Sie
es anders sehen. Ist es nicht eher so, dass es die falsche
Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung
den Unternehmen unmöglich macht, irgendwo Geld lo-
cker zu machen, das nötig wäre, um für familienfreund-
lichere Regelungen zu sorgen?
Sehen Sie es nicht auch so, dass Frauen keine Motiva-
tion haben, Kinder zu bekommen, weil sie nicht wissen,
wie es später mit der Rückkehr in den erlernten Beruf
aussieht, sie also um ihren Arbeitsplatz fürchten?
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend:
Es gibt – das betone ich ausdrücklich – keine fami-
lienfeindliche Wirtschaft. Ich habe wirklich sehr engen
Kontakt und gutes Einvernehmen sowohl mit den Prä-
sidenten des BDA, des BDI, des DIHK als auch des
Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Wir führen
kontinuierliche Arbeitsgespräche und unterstützen uns
gegenseitig. Herr Hundt und ich haben gemeinsam – er
war bei dieser Pressekonferenz dabei – den Monitor
Familienfreundlichkeit vorgestellt. Erstmals werden
10 000 Wirtschaftsunternehmen anhand eines Fragebo-
gens mit über 40 Fragen gefragt, wie sie es mit der Fa-
milienfreundlichkeit halten, wo sie Hinderungsgründe
sehen usw.
Ihr Zitat bezieht sich wahrscheinlich darauf, dass sich
zwar auf der einen Seite eine zunehmende Zahl von Un-
ternehmen Gedanken über familienfreundliche Arbeits-
zeiten macht, aber bei immerhin rund 70 Prozent der Un-
ternehmen – darauf dürfte sich wahrscheinlich das Zitat
beziehen; das hat nichts mit der aktuellen wirtschaftli-
chen Situation zu tun – kein Bewusstsein dafür vorhan-
den ist, dass es auch ihre Aufgabe ist, Familienpolitik zu
betreiben. Herr Hundt und ich sehen unsere gemeinsame
Aufgabe darin, dieses Bewusstsein zu wecken. Dazu tra-
gen auch die lokalen Bündnisse bei. Wir werden den Fa-
milienmonitor gemeinsam fortschreiben und in regelmä-
ßigen Abständen von zwei bis drei Jahren vorlegen,
damit wir erkennen, ob sich in diesem Bereich etwas ge-
ändert hat.
Die letzte Frage hat die Kollegin Kerstin Griese.
Vielen Dank. – Frau Ministerin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir sprechen über die lokalen Bündnissefür Familie. Ich bin immer noch ganz erschüttert, dassder Kollege Scheuer meint, mit dem Streichen der Hilfenfür seelisch behinderte Jugendliche, Kinder und jungeErwachsene könne man mehr Kinder- und Familien-freundlichkeit erreichen. Unsere Anhörung hat ja dasGegenteil bewiesen.
Eine Frage an Sie, Frau Ministerin, zu den lokalenBündnissen. Ich finde es gut – das ist ja auch gut gelun-gen –, dass Sie auf breiter Grundlage eingeladen undverschiedene Träger wie die Kammern, die Kirchen unddie Wohlfahrtsverbände einbezogen haben. Der KollegeTauss ruft dann ja immer von hinten, dass es sich hierbeiauch um ein Männerthema handele. Auch das ist richtig,sie müssen bei den lokalen Bündnissen für Familie mit-machen. Deshalb beglückwünsche ich Sie zunächst zudem guten Auftakt und frage: Wie geht es weiter? Washaben Sie vor? Was sind die weiteren Schritte nachdiesem Auftakt? Wir alle hoffen und werden sicherlichgerne dazu beitragen, dass möglichst viele solcher
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7456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Kerstin Grieselokalen Bündnisse gegründet werden. Was planen Siealso, um dem noch weiteren Nachdruck zu verleihen?Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend:Jetzt müssen natürlich erst einmal weitere entstehen.Wir werden außerdem mit der geplanten Handreichungden Unternehmen – das habe ich ja gerade gesagt –Wege aufzeigen, wie sie eine familienfreundliche Unter-nehmenspolitik gestalten können, und ihnen Antwort aufdie Frage geben, was eigentlich dazu gehört. Am11. Mai 2004, also noch in der ersten Hälfte dieses Jah-res, wird in der Dortmunder Westfalen-Halle eine Fach-tagung stattfinden, auf der positive Beispiele für Bünd-nisse, die es bis dahin gibt, aufgezeigt werden. DasInteresse daran ist, wie sich jetzt schon abzeichnet, groß.Das wird hoffentlich dazu führen, dass manche Kommu-nalvertreter – und ich hoffe, auch manche Abgeordnete –ihren Stadtrat, ihre Gemeindegremien fragen: Warumhaben wir eigentlich so etwas noch nicht? Warum machtnicht auch ihr das?Ich habe die Vorstellung, dass das einen Schneeball-effekt bewirken wird, dass sich weitere etablieren wer-den, auch über das Jahr 2006 hinaus. Wir beabsichtigennicht, das ad infinitum weiterzuführen, sondern hoffen,dass sich dann andere in diesem Bereich von selber eta-blieren. Außerdem haben uns die Bertelsmann- und dieHertie-Stiftung, die beide daran beteiligt sind, zugesagt,sich auch über das Jahr 2006 hinaus zu engagieren.
Vielen Dank, Frau Bundesministerin, für Ihre Bereit-
schaft zu einer ausführlichen Antwort. Die Befragung
der Bundesregierung ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
– Drucksache 15/2317 –
Die Fragestunde beginnt diesmal mit dem Geschäfts-
bereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur
Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Hans Georg Wagner zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 1 des Kollegen Helmut Lamp:
Wie ist zu erklären, dass einerseits der Staatssekretär im
Bundesministerium der Verteidigung Klaus-Günther Biederbick
in einer Mitteilung vom November 2003 zum Konzept zur
Neuordnung der ortsfesten logistischen Einrichtungen, OLE,
den Personalstärkeabbau mit 31 Bundeswehrangehörigen und
186 Zivilbediensteten des Marinedepots 1 Laboe bekannt ge-
geben hat, dass mir andererseits aber bei einem Informations-
besuch vor Ort die heutige Personalstärke mit insgesamt deut-
lich weniger als 200 Personen mitgeteilt wurde, und trifft es
weiterhin zu, dass entgegen der in der oben bezeichneten Mit-
teilung dargestellten „signifikanten Reduzierung“ damit eine
„moderate Anpassung“ beabsichtigt ist?
H
Herr Kollege Lamp, die Personalzahlen des
Marinemunitionsdepots 1 in Laboe beruhen auf der zur-
zeit gültigen Stärke- und Ausrüstungsnachweisung, der
so genannten STAN, von circa 290 Dienstposten. Dies
muss nicht der aktuellen Tagesdienststärke im Depot
entsprechen. Für die Zielstruktur waren zunächst die
Planzahlen für die jeweiligen Stärken in der zukünftigen
Depotorganisation gesetzt worden. Nachdem über das
Konzept zur Neuordnung der ortsfesten logistischen Ein-
richtungen der Streitkräfte entschieden ist, wird nunmehr
der endgültige Personalumfang des Marinemunitionsde-
pots erarbeitet. Sie können allerdings davon ausgehen,
dass die derzeitige Planzahl für Laboe von 70 militä-
rischen und zivilen Dienstposten, einschließlich der
Feuerwehr, einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad an Ge-
nauigkeit hat. Dies bedeutet, bezogen auf die bis jetzt
gültige STAN, nach derzeitigen Planungen einen Abbau
von circa 220 Dienstposten. Damit handelt es sich nach
unserer Definition um eine signifikante Reduzierung.
Zusatzfragen, Kollege Lamp?
Die Mitteilung aus dem Verteidigungsministerium,
die auch in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist,
musste so verstanden werden, dass das Verteidigungs-
ministerium im Munitionsdepot Laboe 220 Arbeitsplätze
abbauen wollte, obwohl dort nur 185 Leute beschäftigt
sind. Das hat in der Region zu großer Verwirrung ge-
führt. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, dass die
Grundlagen für die Berechnung aus der Vergangenheit
stammten. Können für die zukünftigen Planungen der
Bundeswehr insgesamt solche missverständlichen Äuße-
rungen, die in einzelnen Regionen zur großer Aufregung
führen können, ausgeschlossen werden?
H
Herr Kollege, wenn ich das ausschließen wollte, dann
würde ich die menschlichen Schwächen nicht berück-
sichtigen. So etwas kann immer einmal passieren. In die-
sem konkreten Fall ist es so, dass die Iststärke, die Sie
bei Ihrem Besuch vor Ort angetroffen haben, nicht mit
der Sollzahl in Höhe von circa 290 Dienstposten, die wir
zugrunde gelegt hatten, übereinstimmt. Krankheitsfälle
und Abwesenheit durch Urlaub werden in diese Zahl
nicht einbezogen und dadurch entsteht eine solche Diffe-
renz. Tatsache ist, dass nach der endgültigen Ausplanung
70 Dienstposten verbleiben werden.
Weitere Zusatzfrage? – Das ist nicht der Fall.Dann kommen wir zur Frage 2 des Kollegen Lamp:Welche konkreten Planungen hat die Bundesregierung zurmittelfristigen – bis zum Jahr 2020 – Verwendung und zumweiteren Ausbau des Marinedepots 1 Laboe?
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7457
(C)
(D)
Ha
Lieber Herr Kollege Lamp, das Marinemunitions-
depot 1 in Laboe wird zum 1. April 2004 in „Muni-
tionsdepot Laboe“ umbenannt und mit einer neuen
Stärke- und Ausrüstungsnachweisung in eine neue
Organisationsstruktur umgegliedert. Zum gleichen Zeit-
punkt werden dem Munitionsdepot Laboe die Muniti-
onslager Boostedt, Enge-Sande, Kropp, Süderlügum
und Löwen-stedt unterstellt. Hauptauftrag wird zukünf-
tig die Lagerung und Instandhaltung von marineeigen-
tümlicher Munition und die Auf- und Abmunitionie-
rung von schwimmenden Einheiten sein. Darüber
hinausgehende Aussagen bis zum Jahre 2020 sind nicht
möglich.
Keine Zusatzfrage? – Vielen Dank, Herr Staatssekre-
tär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Zur
Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Achim Großmann zur Verfügung.
Welche Auswirkungen wird nach Erkenntnissen der Bun-
desregierung die im Rahmen der von der Europäischen Kom-
mission vorgelegten Europäischen Wachstumsinitiative
– KOM(2003) 690 endgültig – zur Stärkung der Transeuro-
päischen Verkehrsnetze vorgesehene Baumaßnahme der
Schienenverbindung Dijon–Mulhouse–Müllheim auf das zu
erwartende Schienenverkehrsaufkommen auf der Rheintal-
bahnstrecke zwischen Basel und Karlsruhe haben?
A
Herr Kollege Weiß, belastbare Aussagen zur Verände-
rung des zu erwartenden Schienenverkehrsaufkommens
auf der Eisenbahnstrecke zwischen Basel und Karlsruhe
durch den Bau der Strecke Dijon–Mulhouse–Müllheim
sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, da diese ent-
scheidend vom bisher nicht bekannten künftigen Be-
triebskonzept der beteiligten Bahnen, also der Société
Nationale des Chemins de Fer Français und der Deut-
schen Bahn AG, abhängen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Weiß.
Herr
Halten Sie es
unter diesen Umständen nicht doch für gerechtfertigt
und notwendig, dass im Rahmen dieser Planungen unter-
sucht wird, wie sich das Vorhaben „Transeuropäische
Netze“, das auf EU-Ebene verabredet worden ist, auf
diese Strecke auswirkt? Damit könnte man den Planern,
aber vor allen Dingen auch den betroffenen Städten und
Gemeinden sowie den Bürgerinnen und Bürgern eine ei-
nigermaßen verlässliche Perspektive geben, sodass sie
wissen, was auf sie zukommt.
A
Herr Kollege Weiß, diese verlässliche Perspektive ist
ja vorhanden. Das Verfahren ist normalerweise so, dass
sich zunächst einmal die Regierungen dazu bereit erklä-
ren, Investitionen in die Schieneninfrastruktur zu leisten.
Die betroffenen Unternehmen – im Falle der SNCF han-
delt es sich um ein staatliches Unternehmen und im Falle
der DB AG handelt es sich um ein privatisiertes Unter-
nehmen – müssen dann Kriterien aufstellen.
Zurzeit wird in Frankreich das öffentliche Interesse
am Bau des Ostastes für den TGV Rhein–Rhone ermit-
telt. Nach dem, was wir von den französischen Freunden
hören, soll das Projekt im Jahre 2006 begonnen werden.
Mit einer Fertigstellung ist im Jahre 2012 zu rechnen.
Sie wissen, wie lang die Vorlaufzeiten sind. Wenn der
TGV-Verkehr aufgenommen wird, kommt es – das wissen
auch Sie; das ist von anderen TGV-Strecken bekannt – nur
zu einer überschaubaren Zahl von neuen Verbindungen.
Weitere Zusatzfrage? – Bitte.
Herr Staatssekretär, nach der Ankündigung des Vor-
standsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG, Herrn Meh-
dorn, wird die DB AG aufgrund der mangelhaften Mit-
telzuweisung durch den Bund frühestens ab dem Jahre
2008 in der Lage sein, die Ausbaumaßnahmen auf der
Rheinstrecke zwischen Karlsruhe und Basel in Angriff
zu nehmen. Ist es richtig, dass daher auch für den Pla-
nungsprozess eine Verzögerung wahrscheinlich ist? Es
könnte also möglich sein, dass die nach Ihrer Aussage
noch zu erhebenden und zu bewertenden Zahlen in das
Planverfahren zum Ausbau des dritten und vierten Glei-
ses einbezogen werden.
A
Herr Kollege Weiß, Sie haben gestern eine entspre-chende Frage schriftlich eingereicht. Wir geben uns imMinisterium große Mühe, diese Fragen fundiert zu be-antworten. Ich glaube, dass das, was ich Ihnen gerade
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7458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Achim Großmanngesagt habe, zutrifft, nämlich dass wir bei der TGV-Stre-cke Rhein–Rhone eine sehr lange Vorlaufzeit haben wer-den. Wenn diese Strecke in Betrieb sein wird, wird dieZahl der neuen Verbindungen nur sehr begrenzt sein.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
– das sind die Fragen 4 und 5 – sollen schriftlich beant-
wortet werden.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beant-
wortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Christoph Matschie zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Michael
Kretschmer auf:
Wie unterscheidet sich nach Ansicht der Bundesregierung
eine geplante Eliteuniversität von einer bereits heute beste-
henden Hochschule?
C
Herr Kollege Kretschmer, Ihre Frage nach dem Unter-
schied zwischen Eliteuniversitäten und den bereits heute
bestehenden Hochschulen will ich wie folgt beantwor-
ten: Hochschulen und außeruniversitäre Forschungsein-
richtungen erbringen auch heute überall in Deutschland
in vielen Disziplinen exzellente Leistungen in Wissen-
schaft und Forschung. Aus Sicht der Bundesregierung
müssen wir auf diese Leistungen aufbauen, damit unsere
Hochschulen mit ihren Spitzenleistungen künftig mit
Universitäten wie Harvard, Stanford, Oxford oder Cam-
bridge Schritt halten können. Solche Spitzenleistungen
können nur im Wettbewerb der stärksten Einrichtungen
entstehen. Die Hochschulen brauchen dafür eine ent-
sprechende Ausstattung und leistungsfördernde Rah-
menbedingungen.
Elite misst sich am Output; sie entsteht nur durch
Leistung. Der Maßstab ist eindeutig: Weltspitze in der
Forschung. In der Ausbildung muss eine solche Spitzen-
einrichtung in der Lage sein, Spitzennachwuchskräfte
aus dem Ausland anzuziehen.
Zusatzfrage? – Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Ihrer Meinung nach
mangelhaften Rahmenbedingungen und Ausstattungen
der Universitäten angesprochen und haben ausgeführt,
dass das bei Eliteuniversitäten anders sein soll. Ich hätte
die Frage: Welche Rahmenbedingungen müssen nach Ih-
rer Vorstellung geändert werden und warum gilt dies nur
für Eliteuniversitäten?
C
Herr Kollege Kretschmer, ich habe nicht gesagt, dass
veränderte Rahmenbedingungen nur für Eliteuniversitä-
ten gelten sollen. Wir wollen vielmehr den Wettbewerb
zwischen den Universitäten, den Hochschulen, verstär-
ken. Dazu gehört es, dass sich die Rahmenbedingungen
aller Universitäten ändern. Was das im Einzelnen bedeu-
tet, darüber muss mit den Ländern diskutiert werden, die
in dieser Frage eine wichtige Entscheidungskompetenz
haben.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Ich möchte noch einmal nachfragen, Herr Staatssek-
retär: Es gibt eine ganze Reihe von Rahmenbedingun-
gen, die Sie als Bund selbst ändern können. Dieses
Thema ist sehr hochgekocht worden; Sie selbst haben
sich daran beteiligt. Daher können Sie uns vielleicht sa-
gen, welche Rahmenbedingungen vonseiten des Bundes
Ihrer Meinung nach umgehend geändert werden sollten.
C
Wir stehen im Moment ganz am Anfang der Debatte
über die Weiterentwicklung unserer Universitätsland-
schaft. Diese Debatte muss gemeinsam mit den Ländern
geführt werden.
In den letzten Tagen ist deutlich gemacht worden, dass
die Universitäten mehr Flexibilität und mehr Spielräume
für eigenständige Entscheidungen brauchen. Dazu ge-
hört eine leistungsbezogene Vergütung, für die ja in der
Bundesrahmengesetzgebung Voraussetzungen geschaf-
fen worden sind. Ich hoffe, dass dies in möglichst vielen
Bundesländern aufgegriffen wird.
Ich habe dazu eine ganze Reihe von Wortmel-
dungen. – Zunächst der Kollege Dr. Christoph Bergner.
Herr Staatssekretär, Kollege Kretschmer hat nach denRahmenbedingungen gefragt. Ich möchte mich über dieBerücksichtigung der Ausgangsbedingungen im Rahmendes Projektes „Eliteuniversität“ erkundigen, wozu mei-nes Erachtens bisher überhaupt keine Auskunft gegebenwurde. Sie wissen, wir haben in Deutschland erstens eineEliteförderung durch die WissenschaftsorganisationenMax-Planck-Institut und Deutsche Forschungsgemein-schaft. Sie wissen, wir haben zweitens ein funktional dif-ferenziertes Hochschulwesen, das aus Fachhochschulenund Universitäten besteht. Sie kennen drittens die Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Berufs-freiheit gemäß Art. 12 des Grundgesetzes, nach der derHochschulzugang prinzipiell offen gehalten werdenmuss.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7459
(C)
(D)
Dr. Christoph BergnerIch möchte Sie fragen: Wie sind diese drei Gesichts-punkte bei der Idee der Schaffung von Eliteuniversitätenund der entsprechenden Konzeption berücksichtigt wor-den?C
Herr Kollege, es gibt bisher keine fertigen Konzeptio-
nen. Wir haben vielmehr einen Diskussionsprozess da-
rüber begonnen, wie wir die Rahmenbedingungen der
Hochschulen so weiterentwickeln, dass mehr Wettbe-
werb entstehen kann und beispielsweise eine stärker leis-
tungsbezogene Vergütung möglich ist. Letztendlich wird
nur in Zusammenarbeit mit den Ländern zu entscheiden
sein, wie sich die Rahmenbedingungen konkret weiter-
entwickeln lassen. Deshalb halte ich es für falsch, von
vornherein Festlegungen zu treffen, ohne dass über diese
Fragen mit den Ländern ausreichend diskutiert worden
ist.
Die nächste Frage hat der Kollege Axel Fischer.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):
Herr Staatssekretär, Sie haben eben gesagt, Sie stün-
den am Anfang der Debatte. Dafür, dass Sie am Anfang
der Debatte stehen, haben Sie – so muss ich feststellen –
schon sehr viel Wind im Zusammenhang mit diesem
Thema gemacht. Man hat fast den Eindruck, es gehe ei-
gentlich gar nicht um Elitehochschulen in Deutschland,
sondern mehr darum, mit welchem Thema man von der
aktuellen katastrophalen Lage ablenken kann, wie man
die Reform der Bundeswehr, über die diskutiert wird,
und die Steuerpolitik zur Seite schieben kann, wie man
im Prinzip von den wichtigen Themen
– genau, zum Beispiel von der Arbeitslosigkeit; man
könnte beliebig viele Punkte nennen; das will ich aber
nicht; ich will vielmehr eine konkrete Frage stellen –
ablenken kann.
Man hat den Eindruck, dass es vor allem ein Ver-
suchsballon ist. Aber ich versuche trotzdem, eine Frage
zu stellen. Vielleicht haben Sie zu dem einen oder ande-
ren Punkt doch eine Idee oder können bereits mitteilen,
wie Sie sich das vorstellen.
Zum einen möchte ich wissen, welchen Einfluss staat-
liche Behörden dann auf die Auswahl der Studierenden
haben sollen und ob das überhaupt geplant ist. Zum
zweiten möchte ich wissen, wie Sie in diesem Zusam-
menhang über Studiengebühren denken.
C
Zunächst einmal zur Debatte: Wer sie in den letzten
Tagen aufmerksam verfolgt hat, der weiß, dass es eine
ganze Menge wichtiger Stimmen aus der Wissenschaft
gibt, die sagen: Wir brauchen eine Diskussion über mehr
Spitzenleistung und mehr Spitzenuniversitäten und de-
ren Entwicklung in Deutschland. Wir haben ein starkes
Wissenschaftssystem, aber wir müssen es weiterent-
wickeln. Gerade in der Spitze müssen wir mehr Sicht-
barkeit erzeugen.
Deshalb ist es eine notwendige Debatte. Ich verstehe
nicht, warum man etwas Falsches daran finden kann,
wenn wir in diesem Land darüber reden, wie wir mehr
Spitzenqualität erzeugen können. Das ist auch für unsere
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit notwendig.
Zur Auswahl der Studierenden will ich Ihnen sagen,
dass wir seit einiger Zeit in Gesprächen mit den Ländern
sind, um eine Regelung zu finden, wie die Universitäten
in Zukunft ihre Studierenden vermehrt selbst aussuchen
können. Ich glaube, dass auch das eine notwendige Vo-
raussetzung für die Weiterentwicklung des Hochschul-
systems ist.
Zur Gebührenfrage gibt es eine gesetzliche Regelung
im Hochschulrahmengesetz. Dazu gibt es keine neue
Auffassung im Bundesministerium für Bildung und For-
schung.
Die nächste Frage hat der Kollege Dirk Niebel.
Herr Staatssekretär, als der Abgeordnete des Wahl-kreises Heidelberg, der schon mit einer Eliteuniversitäthinreichend ausgestattet ist, freue ich mich, dass diedeutsche Sozialdemokratie mittlerweile erkannt hat, dasswir auch außerhalb des Spitzensportes Spitzenleistungenin Wirtschaft und Wissenschaft benötigen. Insofern istdies ein Lob von mir dafür, dass diese Erkenntnis ge-wonnen wurde.Aufgrund Ihrer Antworten habe ich allerdings das Ge-fühl, dass Sie noch gar nicht so genau wissen, was Siemachen wollen. Sie haben richtig festgestellt: Elite bildetsich durch Wettbewerb. Das heißt, die Politik kann Elitenicht verordnen. Wettbewerb bildet sich aber auch nurdurch Freiheit der Bildungseinrichtungen und durchFreiheit der Studierenden. Deswegen frage ich ganz kon-kret: Sind Sie bereit, die Zentrale Vergabestelle für Stu-dienplätze als Studentenlandverschickung abzuschaffen,den Universitäten das Recht auf freie Auswahl ihrer Stu-dierenden zu geben und auf der anderen Seite den Studie-renden das Recht auf freie Auswahl ihrer Hochschule?Sind Sie bereit anzuerkennen, dass die Hochschulendann, wenn sie diese Elitebildung im Wettbewerb mit an-deren Einrichtungen erreichen wollen, die Freiheit habenmüssen, im Wettbewerb mit anderen Einrichtungen auchihre Gebührenstrukturen so zu organisieren, wie es fürrichtig gehalten wird? Zu Deutsch: Zum Beispiel sollteim Rahmen nachlaufender Studiengebühren, wenn je-mand aufgrund einer hervorragenden Qualifikation auchein hervorragendes Gehalt bezieht, die Bildungseinrich-tung, die diese Qualifikation vermittelt hat, mit einemRückfluss von Geldern versehen werden.
Metadaten/Kopzeile:
7460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Ch
Herr Kollege, das war gleich ein ganzes Bündel von
Fragen. Ich will Ihnen insofern eine Antwort geben, als
ich sage: Sie haben Recht, wir brauchen mehr Entschei-
dungsfreiheit der Hochschulen. Was die Entwicklung
von Spitzenuniversitäten angeht, habe ich eingangs deut-
lich gemacht, dass wir schon über eine ganze Reihe von
Spitzenleistungen in Deutschland verfügen.
Aber es ist auch klar, dass wir in den internationalen
Rankings mit unseren Hochschulen bisher keine entspre-
chende Rolle spielen. Deshalb müssen wir unser Leis-
tungspotenzial weiterentwickeln. Dazu gehört für mich
die bessere Zusammenarbeit von Universitäten und au-
ßeruniversitären Forschungseinrichtungen. In diesem
Bereich müssen wir organisationsübergreifend zu besse-
rer Zusammenarbeit in der Wissenschafts- und For-
schungslandschaft kommen.
Mein Eindruck ist, dass wir jetzt das Gespräch mit
den Ländern brauchen, um die Rahmenbedingungen ge-
meinsam genau zu beschreiben. Diese kann und will der
Bund nicht allein festlegen. Die Hochschulen fallen zu
einem erheblichen Teil in die Kompetenz der Länder.
Deshalb wird es ohne die Länder nicht gehen.
Ich will Ihnen auch Recht geben in der Aussage: Poli-
tik kann nicht darüber entscheiden, was Spitzenleistung
oder Elite ist. Das muss sich im Wettbewerb herausbil-
den. – Für diesen Wettbewerb wollen wir sorgen.
Die nächste Frage hat der Kollege Jens Spahn.
Herr Staatssekretär, nach dem, was Sie gerade zu der
einen oder anderen Bestimmung des Hochschulrahmen-
gesetzes gesagt haben, könnte man sich fragen, warum
es denn eigentlich eines auf Bundesebene gibt, wenn
doch immer alles in Länderhand liegt.
Meine Frage: Welches Betreuungsverhältnis zwi-
schen Studenten und Lehrern an Hochschulen gibt es
heute und welches Betreuungsverhältnis ist angedacht?
Es muss wohl ein anderes angedacht sein, sonst bräuch-
ten wir die ganze Debatte nicht. Wie wollen Sie Ihre
Pläne vor den vielen Tausend Studenten rechtfertigen,
die an den bereits bestehenden Hochschulen eingeschrie-
ben sind?
C
Herr Kollege, Sie wissen wahrscheinlich genauso gut
wie ich, dass das Betreuungsverhältnis von Hochschule
zu Hochschule, aber auch von Fach zu Fach sehr unter-
schiedlich ist. Ich glaube, dass wir auch daran arbeiten
müssen, im Durchschnitt ein besseres Betreuungsver-
hältnis zu bekommen. Die jetzt stattfindenden Studieren-
denproteste haben einen ganz realen Hintergrund, näm-
lich dass die Studienbedingungen nicht in allen Fällen
als ausreichend empfunden werden, weil es in verschie-
denen Einrichtungen an entsprechend guten Betreuungs-
relationen fehlt.
Deshalb halte ich es für notwendig, an dieser Stelle
den Wettbewerb zwischen den Hochschulen zu verstär-
ken, damit auf diesem Wege insgesamt bessere Studien-
bedingungen entstehen. Spitze entwickelt sich dann aus
diesem Wettbewerb. Ich bin sicher, dass von diesem
Wettbewerb, der dann entsteht, alle Hochschulen etwas
haben werden, weil sie sich in diesem Wettbewerb wei-
terentwickeln können.
Die nächste Frage hat der Kollege Uwe Schummer.
Herr S
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehen Sie einen direk-
ten Zusammenhang zwischen der Zahl der Stipendiaten
und den Studiengebühren in den USA sowie der verbes-
serten Selbstfinanzierung, die dort entsprechend organi-
siert ist? Wären Sie auch bereit, im Zusammenhang mit
der Schaffung von Eliteuniversitäten das Verbot der Er-
hebung von Studiengebühren in Deutschland aufzuhe-
ben?
C
Herr Kollege, Sie haben die Situation in den USA an-gesprochen. Sie wissen wahrscheinlich auch, dass derAnteil der Studiengebühren an der Gesamtfinanzierungder Hochschulen dort sehr unterschiedlich hoch ist. Beieiner ganzen Reihe von Hochschulen spielen die Gebüh-ren bei der Gesamtfinanzierung der Hochschulen eineeher untergeordnete Rolle. Ich sage hier noch einmal: Esgibt zu Studiengebühren eine Regelung im Hochschul-rahmengesetz und die Position unseres Ministeriumsdazu hat sich nicht geändert.Wir sind der Auffassung, dass wir mehr Geld für dasWissenschafts- und Forschungssystem in Deutschlandbrauchen. In Weimar ist die Zielstellung klar beschrie-ben worden, nämlich im Laufe dieses Jahrzehnts dazu zukommen, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Be-reiche Forschung und Entwicklung zu lenken. Das isteine Herausforderung für die öffentliche Hand, aberauch für die Industrie, die auch heute zwei Drittel dieserAusgaben trägt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7461
(C)
(D)
Die nächste Frage hat der Kollege Jörg Tauss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lieber Kollege Niebel, ich will jetzt nicht lokalpatrio-
tisch auf die Spitzenuniversität Karlsruhe zu sprechen
kommen, nachdem Sie Heidelberg angesprochen haben.
Ich will aber immerhin meiner Freude darüber Ausdruck
verleihen, dass die Innovationsoffensive der Bundesre-
gierung und der Koalition bei Ihnen so viel Kreativität
und Interesse auslöst. Ich würde mich freuen, wenn Sie
dort, wo Sie mitregieren, mitziehen und die Rahmenbe-
dingungen verbessern würden. Das wäre sicherlich sinn-
voll.
Eines aber – darauf bezieht sich meine Frage – erfüllt
mich gerade unter diesem Gesichtspunkt mit großer
Sorge, gerade wenn ich in den Süden zu den so genann-
ten reichen Bundesländern schaue: Herr Staatssekretär,
wir sind uns sicher darüber einig, dass der bayerische
Weg, an den Hochschulen und Universitäten nach der
Rasenmähermethode in der Breite massiv Geld einzu-
sparen und dies in wenige Spitzenförderungen zu ste-
cken, nichts mit dem zu tun hat, was wir wollen,
nämlich tatsächlich zu einer Verbesserung in der Breite
zu kommen und dadurch auch mehr Spitze zu gewinnen.
Das muss der deutsche Weg sein. Stimmen Sie mir da
zu?
C
Herr Kollege Tauss, ich gebe Ihnen in dieser Frage
Recht. Es kann nicht nur darum gehen, die Spitze stärker
zu fördern. Wir brauchen insgesamt mehr Mittel für das
Hochschulsystem. Das ist auch in den vielen Auseinan-
dersetzungen der letzten Wochen deutlich geworden.
Spitzenforschung braucht übrigens auch in der Breite
eine gute Fundierung, damit sie sich weiterentwickeln
und aus einem möglichst großen Reservoir schöpfen
kann.
Die nächste Frage hat der Kollege Andreas Scheuer.
Herr Staatssekretär, in der Geschichte war der Begriff
„Elite“ im Weltbild von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen immer ein Pfuiwort. Daher wundert mich jetzt dieser
Schwenk. Ihre Äußerungen zeigen mir, dass man aufsei-
ten der Bundesregierung vielleicht erst hätte nachdenken
und dann den Begriff kreieren bzw. reden sollen.
Meine Frage lautet: Ist vor der Erstellung dieses Kon-
zeptes bzw. der Wahl dieses Begriffes – denn von einem
„Konzept“ kann man bei dem, was Sie uns hier sagen,
eigentlich nicht reden; daher möchte ich nur von der
Klärung des Begriffes sprechen – eine Analyse der gro-
ßen Finanzbudgets von US-Eliteuniversitäten wie Har-
vard durchgeführt worden? Hat die Bundesregierung
Vorstellungen davon, welches Finanzbudget eine Elite-
universität braucht?
C
Herr Kollege, natürlich kennen wir die Finanzdaten
von Spitzenuniversitäten, auch die von Harvard, Stan-
ford oder anderen Universitäten. Ich will hier deutlich
machen: Unser Weg ist nicht einfach eine Kopie dessen,
was in anderen Staaten gemacht worden ist. Wir wollen
vielmehr die Bedingungen für die Hochschulen so ver-
ändern, dass sich hier stärker Spitzenleistungen heraus-
kristallisieren und dass sich einzelne Hochschulen zu
solchen Spitzenuniversitäten weiterentwickeln können.
Das halte ich für den richtigen Weg. An dieser Stelle
brauchen wir mehr Sichtbarkeit, auch um international
die besten Köpfe anwerben zu können. Das brauchen wir
nicht nur für unsere weitere wissenschaftliche, sondern
auch für unsere wirtschaftliche Entwicklung.
Deshalb ist es gut, dass wir diese Diskussion jetzt füh-
ren.
Herr Kollege, was den Elitebegriff angeht, möchte ich
Ihnen nur sagen, dass sich die Mitglieder der SPD und
wahrscheinlich auch die der Grünen schon immer auch
als Elite empfunden haben.
Die nächste Frage hat der Kollege Eckart von
Klaeden.
Herr Staatssekretär, dieses Empfinden will ich garnicht infrage stellen. Allerdings stellt sich die Frage, in-wieweit es mit der Realität übereinstimmt. Aber auchdas ist ein anderes Thema.In Ihrer vorletzten Antwort haben Sie selbst die Ta-gung Ihrer Partei in Weimar erwähnt. Dort hat sich IhreStaatssekretärskollegin Frau Vogt für die Lenkungswir-kung von Studiengebühren ausgesprochen. Auch vondem so genannten Netzwerk Ihrer Partei, dem Sie ange-hören, wurde ein entsprechendes Papier verfasst. Nam-hafte Hochschulpolitiker wie der frühere niedersächsi-sche Hochschulminister Thomas Oppermann haben sichfür die Lenkungswirkung von Studiengebühren ausge-sprochen.
Metadaten/Kopzeile:
7462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Eckart von KlaedenHier interessiert mich einmal Ihre persönliche Mei-nung, Herr Staatssekretär.
Vertreten Sie persönlich die Position, die in dem Netz-werk-Papier von einer Reihe jüngerer SPD-Abgeordne-ter eingenommen wird, oder sind Sie der Ansicht IhresHauses?C
Herr Kollege, es ist kein Geheimnis, dass über diese
Frage mit unterschiedlichen Akzenten diskutiert wird
und dass es auch Befürworter von Gebühren gibt. An
dieser Stelle sage ich: In unserem Hause gibt es keine
veränderte Position zu dem, was im Hochschulrahmen-
gesetz festgelegt ist.
Die vorerst letzte Frage zu diesem Komplex hat der
Kollege Helmut Lamp.
Herr Staatssekretär, Ihre Antworten sind in vielen Be-
reichen sehr vage. Sie selbst sagen, dass wir ganz am
Anfang der Diskussion stehen. Meine Frage lautet: Hat
es vorab in irgendeiner Form – es drängt sich der Ver-
dacht auf, dass dies nicht der Fall gewesen ist – zwi-
schen dem Bundeskanzler und den zuständigen Fachbe-
reichen der Regierung, und wenn ja, wann, eine
Abstimmung gegeben? Oder ist die Regierung von die-
sem Schwenk genauso überrascht gewesen wie die Re-
gierungsparteien?
C
Herr Kollege Lamp, vielleicht wissen Sie, dass die
Diskussion darüber, wie wir auch Spitzenleistungen stär-
ker fördern und sichtbar machen können, schon seit ei-
ner Weile geführt wird. Auch in unserem Hause wird
schon seit längerem über solche Fragen nachgedacht und
diskutiert. Deshalb hat es an dieser Stelle auch keine
Überraschung gegeben. Das, was im Rahmen dieser
Klausurtagung öffentlich gemacht worden ist, entspricht
den Vorstellungen, die auch in unserem Hause entwi-
ckelt werden.
Das war die letzte Frage zu diesem Komplex. Vielen
Dank, Herr Staatssekretär Matschie.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanz-
lers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung
steht der Staatsminister Rolf Schwanitz zur Verfügung.
Ich rufe Frage 7 des Kollegen Dirk Niebel auf:
Wie rechtfertigt die Bundesregierung ihre ablehnende Hal-
tung zur Durchführung des „Bundespressegipfels“ – Ski-
rampe in der Nähe des Bundeskanzleramtes zwischen der
Schweizer Botschaft und der Spree –, der Fortsetzung der im
Sommer sehr erfolgreichen Ich-AG „Bundespressestrand“, für
die notwendige Investitionen bereits getätigt wurden, und
trifft es zu, dass die Haltung der Bundesregierung ausschlag-
gebend für die Absage des Projekts durch die Senatsverwal-
tung gewesen ist?
Herr Kollege Niebel, die Antwort lautet wie folgt:
Nach Angaben der Betreiberin handelt es sich um eine
Winterwelt mit Tannenbäumen, Ski- und Schlittenberg,
Après-Ski-Bar und Holzhäusern. Der für die Genehmi-
gung zuständige Berliner Senat hat dieses Projekt abge-
lehnt. Er hat es aus Gründen des Protokolls, aus sicher-
heitstechnischen Überlegungen sowie aufgrund der
Angemessenheit des Ortes als nicht genehmigungsfähig
bewertet.
Im Vorfeld dieser Entscheidung hatte der Senat den
Anliegern Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. In
dem von ihm mit Vertretern der Verwaltung des Deut-
schen Bundestages, der Schweizerischen Botschaft, der
Berliner Polizei und des Bundeskanzleramtes geführten
Gespräch wurden diese Aspekte zur Sprache gebracht.
Dazu gehörten auch Aspekte der Sicherheit und des Pro-
tokolls, die die Bundesregierung betrafen. Welche der
auch vonseiten der verschiedenen Anlieger diskutierten
Aspekte für die Entscheidung des Senats ausschlagge-
bend waren, entzieht sich der Kenntnis der Bundesregie-
rung.
Zusatzfrage, Kollege Niebel.
Herr Staatsminister, die „Berliner Zeitung“ hat dieses
Thema am 7. Januar mit der Überschrift „Regierungs-
viertel bleibt Ski- und rodelfrei“ aufgegriffen. Laut dieses
Artikels waren die Bedenken des Bundeskanzleramtes
Grund für die ablehnende Haltung des Senats – ursprüng-
lich hatte die Genehmigung der Berliner Senatsverwal-
tung schon vorgelegen und die Schweizerische Botschaft
und der Deutsche Bundestag hatten keine Probleme ange-
meldet –, dass Lärm von der Skipiste bei Staatsempfän-
gen, beispielsweise wenn die Nationalhymnen gespielt
würden, die protokollarischen Abwicklungen stören
könne. Dies soll der ausschlaggebende Grund dafür sein,
dass für dieses Projekt keine Genehmigung erteilt wurde,
obwohl es im Vorfeld genehmigt wurde und dafür immer-
hin über 200 000 Euro Sponsorengelder eingeworben
wurden. Ist es richtig, was die „Berliner Zeitung“
schreibt?
Herr Kollege Niebel, Sie wissen, dass die Bundesre-gierung Pressemeldungen grundsätzlich nicht kommen-tieren oder bewerten kann. Ich habe mich im Vorfeld derBeantwortung Ihrer Frage mit dem Vertreter des Bundes-kanzleramtes in Verbindung gesetzt und ihn befragt; dasist in meiner Antwort ja angeklungen. Nicht nur dasBundeskanzleramt hat im Rahmen seiner Stellungnahmeentsprechende Anmerkungen gemacht. Vier verschie-dene Stellen – ich habe sie genannt –, deren Argumente
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7463
(C)
(D)
Staatsminister Rolf Schwanitzetwa gleich viel zählen, haben ihre Positionen einge-bracht. Insofern will ich das gern korrigieren.
Zweite Zusatzfrage.
Würde die Bundesregierung zur Kenntnis nehmen und
mir den Widerspruch erklären, der darin besteht, dass das
Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit in diesem
Sommer mit dem „Bundespressestrand“ als bemerkens-
werte Ich-AG geworben hat, dass aber die gleiche Ich-
AG durch Einwendung des Bundeskanzleramtes, die sie
an der Fortsetzung, dem „Bundespressegipfel“, hindert,
in den Ruin getrieben wird?
Kollege Niebel, Ihre Bewertung, die Sie gerade vor-
genommen haben, halte ich nicht für sachgerecht. Dass
die Bundesregierung Ich-AGs fördert, liegt in der Natur
der Sache. Sie wissen, dass es dazu groß angelegte Initia-
tiven insbesondere des BMWA gibt.
In diesem Fall kenne ich den Förderstatus der Betrei-
berin nicht. Insofern kann ich die These, dass es sich um
eine Ich-AG gehandelt hat, nicht bestätigen.
Ich will aber ausdrücklich sagen, dass man die Beteili-
gungsrechte von Anliegern nicht deshalb konterkarieren
oder sogar infrage stellen kann, nur weil es sich um eine
Ich-AG handelt.
Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswär-
tigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Staatsminister
Hans Martin Bury zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Michael
Kretschmer auf:
Welche EU-Agenturen sind derzeit neben den neuen auf
dem Europäischen Rat von Brüssel – 12./13. Dezember 2003 –
beschlossenen zur Gründung in der Diskussion?
Herr Kollege Kretschmer, über den Ihrer Frage zu-
grunde liegenden Beschluss des Europäischen Rates in
Brüssel hinaus besteht über die Einrichtung von zwei
weiteren Behörden politischer Konsens. Dabei handelt
es sich um die Agentur zum Schutz der Außengrenzen
und um die Rüstungsagentur.
Daneben gibt es Vorschläge für die Einrichtung weite-
rer Agenturen, zu deren Einrichtung bisher noch kein
Konsens besteht. Dazu gehören eine Agentur für den
Katastrophenschutz, eine Beobachtungsstelle für Wande-
rungsbewegungen, ein EU-Gleichstellungsinstitut, eine
europäische Enforcementstelle zur Durchsetzung der
Rechnungslegungsvorschriften und das europäische Kol-
leg für Sicherheit und Verteidigung.
Generell möchte ich betonen, dass in jedem Einzelfall
zunächst geprüft werden muss, ob eine europäische
Agentur einen Mehrwert bringt. Dabei sind insbesondere
auch Subsidiaritätsgesichtspunkte zu berücksichtigen.
Gerade unter Subsidiaritätsgesichtspunkten ist es aus
Sicht der Bundesregierung nicht erstrebenswert, eine eu-
ropäische Katastrophenschutzbehörde einzurichten.
Zusatzfrage, Kollege Kretschmer.
Herr Staatssekretär, ich stimme Ihnen ohne Frage zu,
dass es eine dringende Notwendigkeit geben muss, um
eine EU-Agentur einzurichten. Für den Fall, dass sie ge-
geben ist, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung
der Meinung ist, dass zur Unterstützung der EU-Erwei-
terung, in deren Rahmen Probleme im Grenzgebiet zu
erwarten sind, die Ansiedlung in den Grenzregionen
sinnvoll ist, und ob die Bundesregierung entsprechende
Pläne verfolgt.
Der Europäische Rat in Brüssel hat einen Grundsatz-
beschluss gefasst, Herr Kollege Kretschmer, neue Agen-
turen prioritär in den neuen Mitgliedstaaten anzusiedeln.
Ich denke, das trägt Ihrem Anliegen Rechnung.
Zweite Zusatzfrage.
Wir haben die Erkenntnis, dass sich die Bundesregie-
rung für die Ansiedlung weiterer Agenturen, beispiels-
weise der Europäischen Polizeiakademie mit Sitz in
Münster, beworben hat. Können Sie uns dazu etwas sa-
gen?
Kollege Kretschmer, die Polizeiakademie war Be-
standteil des Sitzpaketes, über das auf dem ER in Brüs-
sel entschieden worden ist. Wir hatten unsere Priorität
auf die Luftsicherheitsbehörde mit dem Standort Köln
gelegt und haben uns durchsetzen können. Es ist nach-
vollziehbar, dass ein zweiter deutscher Sitz im Rahmen
dieses Paketes nicht zu realisieren war. Insgesamt kön-
nen wir mit dem Ergebnis zufrieden sein.
Vielen Dank, Herr Staatsminister Bury. – Wir kom-men zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums derJustiz. Zur Beantwortung steht der ParlamentarischeStaatssekretär Alfred Hartenbach zur Verfügung.Ich rufe die Frage 9 der Kollegin Tanja Gönner auf:Sieht die Bundesregierung durch die Risikoprüfung fürprivate Krankengeldversicherungen bzw. private Krankenver-sicherungen eine Benachteiligung für behinderte Menschen,und wenn ja, wie könnte hier Abhilfe geschaffen werden?
Metadaten/Kopzeile:
7464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Al
Frau Kollegin Gönner, ich darf Ihnen zunächst einmal
herzlich danken, dass Sie diese im Moment in der Öf-
fentlichkeit ebenfalls diskutierte wichtige Frage gestellt
haben.
Ich gebe Ihnen folgende Antwort auf Ihre Frage:
Dass private Versicherungen vor Abschluss eines Ver-
trages eine Risikoprüfung durchführen, ist sachgemäß.
Dies gilt auch für die in der Frage angesprochenen Versi-
cherungen. Für die Krankenversicherung ist die Risiko-
prüfung in § 12 des Versicherungsaufsichtsgesetzes aus-
drücklich vorgeschrieben.
Die Tatsache allein, dass das Risiko geprüft wird, und
zwar auch dann, wenn sich behinderte Menschen versi-
chern wollen, stellt keine Benachteiligung dar. Eine Be-
nachteiligung kann sich indes ergeben, wenn nach einer
Risikoprüfung gleiche Sachverhalte ungleich behandelt
werden. Vor dem Abschluss der in der Frage genannten
Versicherungen wird die Versicherung insbesondere das
Erkrankungsrisiko prüfen. Ob ein höheres Erkrankungs-
risiko besteht, ist eine Frage des Einzelfalls, die insbe-
sondere unter medizinischen Gesichtspunkten zu beant-
worten ist.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Gönner.
Ich habe eine Nachfrage, bei der ich mir insbesondere
vor dem Hintergrund der letzten Ausführungen nicht si-
cher bin, ob sie in Ihr Ressort gehört: Wie sieht die Risi-
koprüfung bei Behinderten bezogen auf die Dinge aus
– ich denke hierbei insbesondere an den Zahnersatz –,
die aus dem Leistungskatalog für die Pflichtversicherten
in der GKV herausgenommen wurden und von den Ver-
sicherten somit extra zu versichern sind?
A
Ich kann nur auf meine Antwort von eben verweisen.
Dabei wird es sich um den gleichen Weg handeln.
Ich kann Ihnen allerdings dazu sagen, dass unser
Haus derzeit prüft, wie man Menschen mit Behinderun-
gen in diesen Fällen gegebenenfalls entgegenkommen
kann.
Zweite Zusatzfrage.
Ich weiß nicht so recht, wie ich mit einem Lob der
Bundesregierung dafür umgehen soll, dass ich eine
Frage stelle, die die Menschen bewegt. – Warum wurde
dieses Thema nicht bereits von der Bundesregierung
vorab aufgenommen, da es ja die Menschen bewegt?
A
Ich habe Sie für Ihre Frage gelobt, verehrte Frau Kol-
legin, nachdem die Frage an Herrn Staatsminister
Schwanitz für meine Begriffe nicht unbedingt in dieses
Hohe Haus passte, Ihre Frage hingegen sehr wohl.
Das von Ihnen angesprochene Problem ist in vielfälti-
ger Art und Weise aufgetreten. Wir prüfen die Sachlage
schon seit längerer Zeit. In der Bundesrepublik Deutsch-
land mit ihrem austarierten Rechtssystem ist es sehr
schwierig, in das Prinzip der Vertragsfreiheit im Privat-
recht einzugreifen. Das wird mir Herr Hinsken als lang-
jährig tätiger Selbstständiger sicherlich zugestehen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Herr Kollege
Schockenhoff, dem Präsidenten steht keine inhaltliche
Bewertung von Fragen und Antworten zu. Er ist nur für
den fairen Ablauf zuständig.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Zur
Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Marion Caspers-Merk zur Verfügung.
Wir beginnen mit der Frage 10 des Kollegen Jens
Spahn:
In welchem Umfang kommen nach Kenntnis der Bundes-
regierung die Kliniken der Verpflichtung nach dem Transplan-
tationsgesetz nach, jeden Hirntoten, der als potenzieller Or-
ganspender infrage kommt, an die zuständigen Stellen zu
melden, und wie bewertet die Bundesregierung die derzeitige
Meldepraxis?
M
Herr Kollege Spahn, Sie haben nach der tatsächlichenPraxis bei Organspenden und der Umsetzung der Melde-pflicht nach dem Transplantationsgesetz gefragt. ImJahre 2002 – die Zahlen für 2003 liegen uns Anfang Ja-nuar 2004 noch nicht vor – haben nach Angabe der Ko-ordinierungsstelle Deutsche Stiftung Organtransplanta-tion von den 1 400 Krankenhäusern mit Intensiv- oderBeatmungsbetten in Deutschland 42 Prozent Mitteilungüber verstorbene Patienten, die nach ärztlicher Beurtei-lung als postmortale Organspender in Betracht kommen,gemacht. Bundesweit lässt sich dabei eine positive Ent-wicklung gegenüber den Jahren 1995 bis 1999 feststel-len, als die Beteiligungsquote bei durchschnittlich34 Prozent lag.Hierbei handelt es sich um die von den Kliniken undKrankhäusern gemeldeten Zahlen. Für uns entscheiden-der ist die Zahl der tatsächlich postmortalen Organspen-der, die nach Klärung der medizinischen und rechtlichenVoraussetzungen für eine Organspende verbleiben.Diese Zahl hat sich nach den vorläufigen Zahlen im ver-gangenen Jahr positiv entwickelt. Sie betrug 1 140 undlag damit um 10,8 Prozent höher als im Jahre 2002 undum 6,9 Prozent höher als im Durchschnitt der Jahre 1995
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7465
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merkbis 1999. Insoweit können wir hier eine positive Bilanzziehen. Richtig ist: Es könnte besser sein. Aber derAnstieg der Zahl der Organspenden stimmt uns hoff-nungsvoll; denn viele Menschen sind auf Organspendenangewiesen. Deswegen ist es wichtig, die Spendenbe-reitschaft in der Bevölkerung zu fördern.
Zusatzfrage, Kollege Spahn.
Frau Staatssekretärin, danke für die Antwort. – Ich
habe eine Frage zu den Sanktionsmöglichkeiten. Mir
liegt ein Zeitungsartikel vor, in dem eine Sprecherin des
Düsseldorfer Gesundheitsministeriums erklärt, dass das
Transplantationsgesetz ein Bundesgesetz sei und keine
Sanktionsmöglichkeiten vorsehe. Das Ganze sei ein po-
litischer Kompromiss: Die Kliniken seien zwar zur Mel-
dung verpflichtet, Sanktionen gebe es aber keine. Wie
bewertet die Bundesregierung diese Aussage und die
Situation, wenn sie denn so ist? Gibt es aus Sicht der
Bundesregierung Handlungsbedarf?
M
Das Problem ist, dass in unserem föderalen Staat das
Transplantationsgesetz ein Bundesgesetz ist und eine
Meldepflicht umfasst, aber die Länder für die Durchfüh-
rungspraxis zuständig sind. Die Frage ist, ob man sofort
mit Sanktionen drohen muss oder ob man durch auf-
sichtsrechtliche Maßnahmen in Form eines Gesprächs,
einer Beratung oder eines Hinweises auf die Melde-
pflicht nicht mehr erreicht.
In Vorbereitung auf die Beantwortung Ihrer Frage war
es für uns interessant, in unserem Haus nachzuforschen,
ob es regionale Besonderheiten gibt. Wichtig ist, durch
gezielte Maßnahmen und Gespräche mit den Ländern
darauf hinzuwirken, dass die Länder ihre Kliniken – egal
ob Universitätskliniken, Kliniken in privater, kommuna-
ler oder Landesträgerschaft – auf die Meldepflicht hin-
weisen.
Es ist ganz interessant, dass wir zwei Spitzenreiter bei
der Beteiligung haben, und zwar einmal Bayern mit
49 Prozent und die Region Nord – Bremen, Hamburg,
Niedersachsen und Schleswig-Holstein – mit 47 Prozent.
Wir haben in der Region Ost eine Beteiligung von
33 Prozent. Die Beteiligung ist dort am niedrigsten. Das
zeigt, dass wir einen Aufklärungs- und Handlungsbedarf
in den Ländern haben.
Wir werden Ihre Frage zum Anlass nehmen, in den
Bund-Länder-Koordinierungsgremien – wir haben regel-
mäßig Treffen – auch dieses Thema anzusprechen. Es
muss mehr auf die Meldepflicht hingewiesen werden.
Die Länder haben eine Mitwirkungspflicht und müssen
von sich aus die betroffenen Kliniken darauf hinweisen,
dass es ein wichtiges Anliegen ist, die Zahl der poten-
ziellen Spender durch die Meldepflicht überhaupt einmal
zu erfassen. Man sieht, dass, wenn die Zahl der Meldun-
gen zunimmt, auch die Zahl der Organspender zunimmt.
Dieser Zusammenhang muss noch einmal klar gemacht
werden.
Ich glaube, Sanktionen sind ein ungeeignetes Mittel.
Wir müssen mit den Bund-Länder-Koordinierungsgre-
mien darauf hinwirken, dass die Länder aktiv für die
Meldungen werben.
Weitere Zusatzfrage? – Bitte schön.
Dann stimmen Sie abschließend mit mir überein, dass
es, wenn keine Verbesserung aufgrund dieser Gespräche
erreicht wird, zu Sanktionen kommen muss? Denn Sie
kennen genauso gut wie ich viele Fälle, in denen Men-
schen, auch Kinder, auf Organspenden warten und in de-
nen eine Nichteinhaltung der Meldepflicht mehr als är-
gerlich ist.
M
Herr Kollege Spahn, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu. Wir brauchen in Deutschland ein anderes gesell-
schaftliches Klima. Es muss klar werden, dass die Organ-
spende notwendig ist und wir sie brauchen, weil viele
Menschen, die auf ein Spenderorgan angewiesen sind,
auf Wartelisten stehen. Wir müssen auch darauf hinwir-
ken, dass das, was wir mit der Meldepflicht wollten, um-
gesetzt wird. Es handelt sich um ein Umsetzungspro-
blem. Ich hoffe, dass sich nach den Gesprächen mit den
Ländern die Zahl der Meldungen erhöht. Wir müssen se-
hen, wie sich das Ganze entwickelt. Aber die Zahl von
knapp über 40 Prozent ist für uns nicht ausreichend.
Dann kommen wir zur Frage 11 des Kollegen Spahn:
Trifft es zu, dass der erweiterte Bewertungsausschuss der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenver-
bände der Krankenkassen, der im Dezember 2003 den neuen
Einheitlichen Bewertungsmaßstab, EBM, für den kalkulatori-
schen Arztlohn – EBM 2000 Plus – verabschiedet hat, keinen
eigenen EBM für Kinder- und Jugendärzte vorgesehen hat,
und, wenn ja, was gedenkt die Bundesregierung zu unterneh-
men?
M
Die Spitzenverbände der Krankenkassen und die Kas-senärztliche Bundesvereinigung haben sich imDezember 2003 auf die zukünftige allgemeine Strukturdes Einheitlichen Bewertungsmaßstabs, EBM, geeinigt.Unter anderem ist vorgesehen, dass die im EinheitlichenBewertungsmaßstab aufgeführten ärztlichen Leistungennach einzelnen Arztgruppen untergliedert werden. Insge-samt sind im Einheitlichen Bewertungsmaßstab nebeneinem Hausarztkapitel diverse Facharztkapitel, so zumBeispiel ein EBM „Innere Medizin“ und ein EBM „Or-thopädie“, vorgesehen.Für die Kinderärzte ist kein eigenes Kapitel vorgese-hen, sondern für diese gilt das Hausärztekapitel desEinheitlichen Bewertungsmaßstabs. Die grundsätzlich
Metadaten/Kopzeile:
7466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merknur von Kinderärzten, nicht von den übrigen Hausärztenabrechenbaren Leistungen, zum Beispiel Untersuchun-gen und Beurteilungen der Entwicklung von Säuglingen,des Kleinkindes oder von Kindern bis zum vollendetensechsten Lebensjahr, sind dabei in zwei gesonderten Un-terabschnitten des Hausärztekapitels aufgeführt. NachAuffassung der Bundesregierung bestehen keine grund-sätzlichen Einwände gegen eine solche EBM-Systema-tik. Insofern besteht gegenwärtig kein Handlungsbedarf.Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,dass es sich hier nicht um gesetzgeberisches Handelnhandelt, sondern die Selbstverwaltung ihrem Auftragnachkommt, Vorschläge zu entwickeln. Wenn wir keinstaatliches Gesundheitssystem wollen, dann muss diegemeinsame Selbstverwaltung Arbeitsaufgaben über-nehmen. Wenn die Ergebnisse der Arbeitsaufgaben soausfallen, wie sie ausfallen, dann steht es uns nicht zu,daran etwas zu ändern, wenn wir keine rechtlichen Ein-wände haben.Ich finde es ganz interessant, dass immer dann, wennjemandem Detailregelungen der Selbstverwaltung nichtgefallen, staatliches Handeln eingefordert wird. Wennwir sagen, dass das Bundesgesundheitsministerium ge-setzgeberisch tätig werden muss, kommt von Ihrer Seiteder Vorwurf der Staatsmedizin.
Jörg Tauss [SPD]: Das sind die Widersprü-che!)Man muss sich schon auf eine Richtung einigen.
Zusatzfrage, Kollege Spahn.
Frau Staatssekretärin, ich bin ein großer Verfechter
der Selbstverwaltung und stelle diese nicht infrage.
Gleichwohl machen wir auch Gesetze. In § 73 SGB V
steht, dass Kinderärzte auch an der fachärztlichen Ver-
sorgung teilnehmen können. Das heißt letztlich, dass im
neuen EBM spezielle Maßnahmen für Kinder- und Ju-
gendärzte – über die zwei derzeit geltenden kleineren
Regelungen hinaus – notwendig sind. Ähnlich haben Sie
sich – zumindest im Grundsatz – auch in einer Antwort
auf eine zu einem früheren Zeitpunkt von mir gestellte
Frage bezüglich eines Beschlusses des Deutschen Bun-
destages hinsichtlich der Kinder- und Jugendmedizin ge-
äußert. Von daher beharre ich darauf. Ich würde auch
gerne Ihre Meinung zu der Möglichkeit der Beanstan-
dung hören, durch die seitens des Ministeriums darauf
hingewirkt werden kann, dass die Kinder- und Jugend-
ärzte in den Katalog aufgenommen werden, zumal der-
zeit auch die Fachausbildung installiert wird und die
Maßnahme insofern sozusagen ein Pendant hätte.
M
Wenn wir Zuständigkeiten an die gemeinsame Selbst-
verwaltung von Krankenkassen und Ärzten delegieren,
die eine Regelung treffen, die unseres Erachtens durch-
aus eine sinnvolle Möglichkeit darstellt – auch wenn si-
cherlich eine andere Lösung möglich gewesen wäre –,
dann sehen wir nicht die Notwendigkeit einer Beanstan-
dung. Es kann nicht angehen, dass immer dann, wenn ei-
nem Teil der Leistungserbringergruppe die Arbeitsergeb-
nisse der gesamten Leistungserbringergruppe nicht
zusagen, der Gesetzgeber handeln soll.
Die zweite Zusatzfrage, bitte.
Stimmen Sie mir zu, dass es gleichwohl bei dem mehr
als unangenehmen Zustand bleibt, dass der relativ gerin-
gen Zahl von Kinder- und Jugendärzten durch eine an-
ders geartete Mehrheit in der Selbstverwaltung einmal
mehr keine angemessenen Möglichkeiten eingeräumt
werden? Das gilt auch hinsichtlich der im Gesundheits-
wesen entstehenden Kosten. Denn beispielsweise ist
eine Darmspiegelung beim Kleinkind anders und auch
aufwendiger durchzuführen als beim Erwachsenen. Es
würde auch zu einer dauerhaften Kostensenkung beitra-
gen, wenn eine vernünftige Behandlung honoriert
würde. Stimmen Sie mir zu, dass die bestehenden Rege-
lungen sehr unbefriedigend sind und dass in allen Fragen
der Selbstverwaltung Handlungsbedarf besteht?
M
Angesichts der durchschnittlichen Einkommen der
unterschiedlichen Arztgruppen stimme ich Ihnen zu,
dass sie ein sehr deutliches Ungleichgewicht aufwei-
sen, da zum Beispiel die Kinder- und Jugendärzte am
Ende der Tabelle stehen, obwohl sie eine sehr wichtige
und auch im Sinne der Prävention notwendige Arbeit
leisten.
Es ist klar – das haben wir auch immer betont –, dass
sich innerhalb der Ärzteschaft etwas bewegen muss.
Aber das Beispiel macht deutlich, dass innerhalb der
Selbstverwaltung, in der in der Regel Konsens und
Kompromisse gesucht werden, nicht immer jedes Ein-
zelinteresse zum Zuge kommt. Die Selbstverwaltung
würde jedoch ad absurdum geführt, wenn sie zunächst
aufgefordert würde, Regelungen zu finden, aber immer
dann, wenn es ihr nicht möglich ist, allen Einzelinteres-
sen Rechnung zu tragen, der Gesetzgeber tätig würde.
Ich kann nur die Kinder- und Jugendärzte auffordern,
sich stärker in den Gremien der Selbstverwaltung zu be-
teiligen. Vielleicht würde sich dadurch einiges ändern.
Wir kommen jetzt zur Frage 12 der KolleginDr. Gesine Lötzsch:Wie hoch ist die durchschnittliche monatliche finanzielleBelastung eines Krebspatienten, der sich einer ambulantenChemotherapie unterziehen muss und der nicht als chronischkrank gilt, und welches Krankheitsstadium muss ein Krebspa-tient erreichen, damit er als chronisch krank eingestuft wird?
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Ma
Frau Kollegin, Sie haben nach den finanziellen Belas-
tungen eines Krebspatienten unter ambulanter Chemo-
therapie und nach den Bedingungen gefragt, unter denen
ein Krebspatient als chronisch krank eingestuft wird.
Auch dafür gilt – das will ich grundsätzlich festhal-
ten –, dass der Selbstverwaltung auferlegt wurde, klar zu
definieren, wer chronisch krank ist. Denn die im GKV-
Modernisierungsgesetz enthaltenen Zuzahlungsregelun-
gen setzen mit der Deckelung in Höhe von 1 Prozent für
chronisch Kranke und 2 Prozent für alle anderen voraus,
dass hinsichtlich der chronisch Kranken eine klare Rege-
lung besteht.
Die Selbstverwaltung hat uns einen Richtlinienvor-
schlag für chronisch Kranke vorgelegt, den wir in der Tat
ablehnen mussten. Er muss überarbeitet werden, weil
nach dem in der Richtlinie vorgesehenen Krankheitsbe-
griff nur diejenigen als chronisch krank gelten würden,
die in die Pflegestufe 2 oder 3 eingestuft sind und für die
mindestens zweimal im Jahr ein Krankenhausaufenthalt
erforderlich war. Das bildet meines Erachtens die tat-
sächliche Situation von chronisch Kranken nicht ab.
Wir haben im Fachausschuss über dieses Thema ge-
sprochen. Der neue Gemeinsame Bundesausschuss ist
aufgefordert, uns bis zum 31. Januar verbindliche Richt-
linien vorzulegen, in denen definiert wird, wer als chro-
nisch krank gilt.
Generell verschlechtert sich für die Versicherten die
Situation bis dahin nicht, weil zu hohe Zuzahlungen von
den Kassen zurückzuerstatten sind. Das heißt, dass zu
viel gezahltes Geld auf keinen Fall verloren ist. Die ge-
meinsamen Organe der Selbstverwaltung wissen, was
auf sie zukommt. Für uns ist wichtig, dass Klarheit
herrscht.
Aber auch hier gilt: In Deutschland gibt es kein staat-
liches Gesundheitssystem – wenn es das gäbe, dann
könnten wir alles selbst regeln –, sondern Selbstverwal-
tungsorgane, in denen die Vertreter der fachlichen Seite,
also der Ärzte, der Krankenkassen, die alles finanzieren,
und der Patientenverbände – das ist eine Neuerung; diese
sind seit dem 1. Januar 2004 mit einer vollen dritten
Bank in den Selbstverwaltungsorganen vertreten – ge-
meinsam definieren, wer als chronisch krank zu gelten
hat. Ich bin mir sicher, dass es hier zu einer Klarstellung
im Interesse der Patientinnen und Patienten kommen
wird. Auch mir gefällt die Verunsicherung nicht, die da-
durch entstanden ist, dass die Selbstverwaltung nicht
umfassend und rechtzeitig gehandelt hat.
Erste Zusatzfrage der Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatssekretärin,
das Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist ja nicht erst
gestern, sondern – im Gegensatz zu den anderen Geset-
zen, die auf der von Ihnen hochgelobten und von uns
stark kritisierten Agenda 2010 basieren – bereits kurz
nach der Sommerpause beschlossen worden. Wieso
tauchen jetzt so viele Probleme auf? Wieso ist das Mi-
nisterium nicht seiner Pflicht nachgekommen, zu kon-
trollieren, ob die Gesetze, insbesondere das Gesund-
heitsmodernisierungsgesetz, so umgesetzt werden, dass
keine Verunsicherung und Probleme für die Patienten
auftreten?
M
Hierzu sage ich ganz klar: Unmittelbar nachdem das
GKV-Modernisierungsgesetz im Deutschen Bundestag
am 17. Oktober letzten Jahres verabschiedet worden ist,
haben wir die gemeinsamen Gremien der Selbstverwal-
tung aufgefordert, die Richtlinien zu erarbeiten. Wenn
man genau hinschaut, dann stellt man fest, dass es im
Moment zwei Richtlinien gibt, die zu den meisten Nach-
fragen Anlass geben, weil hier vieles noch nicht geklärt
ist. Die eine betrifft die Fahrtkosten – auch das haben Sie
in Ihrer Frage angesprochen – und die andere betrifft die
Frage, wer als chronisch krank zu gelten hat. Die Gre-
mien der Selbstverwaltung haben gewusst, was sie zu
tun haben. Wir haben immer auf eine zügige und recht-
zeitige Umsetzung der Richtlinien im Jahr 2003 hinge-
wirkt.
Beide Richtlinienentwürfe sind dem BMGS erst Mitte
Dezember letzten Jahres zugeleitet worden. Wir haben
dann im Interesse der Patientinnen und Patienten Verbes-
serungen und Klarstellungen gefordert. Wenn wir also
gehandelt haben, dann im Interesse der Patientinnen und
Patienten. Verzögerungen haben wir nicht zu vertreten
und zu verantworten. Wir drücken sehr stark auf das
Tempo. Aber auch hier weise ich noch einmal darauf
hin, dass es in Deutschland kein staatliches Gesundheits-
system gibt. Wir mussten uns aber immer vor der Oppo-
sition rechtfertigen. Wenn wir gesagt haben, dass wir das
gesetzlich regeln wollten, dann hieß es immer, dass es
ein föderales System und eine Selbstverwaltung gebe.
Wenn dem so ist, dann muss man auch die jetzigen Pro-
bleme in Kauf nehmen und die Kritik dort anbringen,
wohin sie gehört. Die Gremien der Selbstverwaltung, in
denen die Ärzte und die Krankenkassen vertreten sind,
haben nicht, wie von Ihnen gefordert, die Richtlinien
rechtzeitig und umfassend vorgelegt. Die Selbstverwal-
tung steht vor der Bewährung. Wir gehen davon aus,
dass bis Ende Januar dieses Jahres die beiden Richtlinien
vorliegen werden, dass sie nachvollziehbar sind und
Rechtsklarheit bringen.
Zweite Zusatzfrage der Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatssekretärin,ich habe in meiner schriftlich eingereichten Frage kon-kret nach den Kosten für eine ambulante Krebstherapiegefragt. Bei einer solchen Therapie wird ein ganzerCocktail an Medikamenten benötigt, der zum einen ausverschreibungspflichtigen Medikamenten, die von derKasse erstattet werden, und nicht verschreibungspflichti-gen Medikamenten besteht, die nach dem neuen Gesetz
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7468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
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Dr. Gesine Lötzschnicht mehr erstattet werden. Ist die Bundesregierung derMeinung, dass Patienten, die sich einer ambulanten Che-motherapie unterziehen, einzelne Bestandteile des Medi-kamentencocktails extra bezahlen müssen oder nicht?M
Generell gilt, dass niemand durch Zuzahlungen über-
fordert werden soll. Dem dient die Regelung, dass
höchstens 2 Prozent des Jahresbruttohaushaltseinkom-
mens an Zuzahlungen zu leisten sind und nicht mehr.
Deswegen ist die Frage, wie viel im Einzelfall zu ent-
richten ist, nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr
– das ist schon jetzt klar –, dass die Summe des Ganzen
bei nicht mehr als 2 Prozent liegen darf. Wenn jemand
nach der neuen Richtlinie als chronisch krank eingestuft
wird, dann liegt die Obergrenze bei 1 Prozent.
Zusätzlich will ich noch zu dem Bereich „OTC, nicht
verschreibungspflichtige Medikamente“ – Sie haben
dies hier angesprochen – Stellung nehmen. Frau Kolle-
gin, das Gesetz enthält in der Tat eine klare Übergangs-
regelung: Bis zum 31. März dürfen OTC-Präparate zu-
lasten der GKV verschrieben werden, wenn sie
Bestandteil einer Behandlung sind. Für die Zeit danach
erwarten wir – auch das ist dem Bundesausschuss be-
kannt – eine klare Vorgabe. Wenn OTC-Präparate für
eine leitliniengerechte Behandlung einer schweren Er-
krankung notwendig sind – das sind sie in Ihrem Bei-
spiel –, dann können sie nach wie vor verschrieben wer-
den. Hierbei sind wir allerdings auf eine Liste der
Krankheiten und der zu deren Heilung notwendigen Me-
dikamente angewiesen.
Ich fasse zusammen: Bis zum 31. März gibt es im
Prinzip keine Änderung; danach gibt es eine Änderung
im Hinblick darauf, was als schwerwiegende Krankheit
eingestuft wird. Generell gilt die Überforderungsklausel
von 2 Prozent.
Jetzt stellt der Kollege Jens Spahn eine weitere Frage.
Frau Staatssekretärin, darf ich feststellen, dass zwi-
schen Ihrer eben auf die Frage der Kollegin Lötzsch ge-
gebenen Antwort, dass Sie in die Selbstverwaltung ein-
gegriffen haben bzw. etwas beanstandet haben, weil es
Ergebnisse gab, die Sie nicht zufrieden gestellt haben,
und der mir gegebenen Antwort, dass das die Selbstver-
waltung macht und dass die Ergebnisse am Ende egal
sind, eine Diskrepanz besteht?
M
Herr Kollege Spahn, im Protokoll werden Sie keine
Formulierung von mir finden, die besagt, dass uns das
egal ist. Ich habe vielmehr gesagt: Man braucht gute
Gründe, um eine Richtlinie, die die Selbstverwaltung
vorlegt, zu beanstanden. Wenn die Ärzte, die von dem
Einheitlichen Bewertungsmaßstab unmittelbar betroffen
sind, den Gremien angehören und einen Katalog vorle-
gen, der plausibel erscheint, dann sehen wir keinen
Grund zur Beanstandung.
Wir haben aber Grund, eine Richtlinie zu beanstan-
den, die von einem Bundesausschuss alten Rechts, in
dem auf der einen Seite nur die Kassen und auf der ande-
ren nur die Ärzte vertreten waren, vorgelegt wurde,
wenn, wie wir meinen, im Sinne der Patienten nicht aus-
reichend definiert wird, wer chronisch krank ist. Hierbei
müssen wir als Treuhänder der Patienten handeln. –
Wenn eine Leistungserbringergruppe betroffen ist, dann
hat sie über ein Engagement in der Selbstverwaltung
selbst die Chance, auf die Besserung ihrer Lage hinzu-
wirken. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
Eine weitere Frage stellt die Kollegin Petra Pau.
Frau Staatssekretärin, Sie haben auf die Möglichkeit
der Erstattung nach Überschreiten der 1- oder 2-Prozent-
Grenze mehrfach hingewiesen. Was soll aber beispiels-
weise ein Sozialhilfeempfänger machen, der, wie wir in-
zwischen hinreichend wissen, genau diese Grenze mit
der Zuzahlung von 71 Euro schon überschritten hat, der
aufgrund einer bisher als chronisch eingestuften Erkran-
kung und einer entsprechenden Behandlung vielleicht
schon jetzt, also in der ersten Hälfte des Januars, 50 Euro
bezahlen musste, ohne die er für den Rest des Monats
seinen Lebensunterhalt bestreiten muss?
M
Frau Kollegin, wir sind der Auffassung, dass Sozial-hilfeempfänger in doppeltem Sinne gleichgestellt sind.Sie erinnern sich an die Diskussion in diesem Hause, inder beklagt wurde, dass Sozialhilfeempfänger anders alsMitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung behan-delt werden.
– Der Vorwurf lautete: Sie werden besser behandelt.Wir haben mittlerweile dafür gesorgt, dass Sozialhil-feempfänger gleichgestellt werden; sie werden jetzt wiealle anderen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversi-cherung behandelt. Das heißt, die Struktur ihrer Behand-lung ist gleich. Angesichts dessen kann man erwarten,dass Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfän-ger im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit Behandlungs-kosten übernehmen, wie es alle anderen auch tun müs-sen.Wir haben festgelegt – ich halte das für eine faire Re-gelung –, dass dabei nicht das Gesamtfamilieneinkom-men, sondern das Einkommen des Haushaltsvorstands,also die Transferleistungen, die ein Sozialhilfeempfän-ger bekommt, zugrunde gelegt wird. Bei chronischKranken handelt es sich um eine Größenordnung von3,50 Euro pro Monat. Wenn die reguläre Zuzahlungs-regelung gilt, dann sind es 7 Euro pro Monat. Ich glaube,dass das niemanden überfordert; schließlich stehen
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Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merkdamit sämtliche Leistungen, die allen anderen gesetzlichVersicherten angeboten werden, zur Verfügung.Die Aufsummierung in einem Monat ist ein Problem,das die Träger der Sozialhilfe und die Kassen lösen müs-sen. Wir haben Vorschläge dazu erarbeitet. Der Bund istaber, wie Sie wissen, nicht der Träger der Sozialhilfe. Ineinzelnen Fällen gibt es pragmatische Lösungen, bei de-nen auch auf die Überforderungsgrenze Rücksicht ge-nommen wird, sodass nicht in einem Monat alles aufeinmal anfällt.Die kommunalen Spitzenverbände und die Spitzen-gremien der Kassen sind in einem Schreiben von unsausdrücklich auf diese Problematik hingewiesen wor-den. Beide Seiten müssen praxisnahe Lösungen vorse-hen.Angesichts dessen, dass man die Sozialhilfeempfän-ger mit den anderen gesetzlich Versicherten gleich be-handelt, sowohl was die Rechte als auch was die Pflich-ten angeht, halte ich das nicht für eine Überforderung.
Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 13 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Rechtsposition von
Augenärzten, die die Verschreibung einer Sehhilfe – Brille
oder Kontaktlinsen – privat abrechnen wollen?
M
Frau Kollegin Lötzsch, Sie wissen, dass sich dazu
auch Ministerin Ulla Schmidt öffentlich geäußert hat.
Wir haben klargestellt, dass dies eine rechtswidrige Pra-
xis der Augenärzte ist, dass die Ermittlung der Seh-
schärfe weiterhin Kassenleistung bleibt, dass es also ein
Vorgehen der Augenärzte ist, das weder durch das Ge-
setz gedeckt noch ethisch zu verantworten ist.
Gerade weil wir in dieser Woche eine Aktuelle
Stunde unter anderem zum Thema Praxisgebühr haben
werden, möchte ich dazu noch eine Bemerkung ma-
chen. Eine Argumentation in diesem Zusammenhang
finde ich merkwürdig: Ärztevertreter sagen uns, dass es
das Arzt-Patient-Verhältnis negativ beeinflusst, wenn
man eine Praxisgebühr von 10 Euro verlangt. Gleich-
zeitig werden ungeniert 25 Euro verlangt, auf die kein
Anspruch besteht. Da muss man bitte schön doch bei
einer Linie bleiben. Es war meines Erachtens unvertret-
bar, dass versucht wurde, auf kaltem Weg ein Zu-
satzentgelt für eine Arztgruppe zu erschleichen. Das
war gesetzlich nicht gedeckt. Das ist von uns auch klar-
gestellt worden.
Zusatzfrage, Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatssekretärin,
gestern ist bekannt geworden, dass die Kassen im Ge-
gensatz zu den früheren Gepflogenheiten künftig nur
noch die Sehstärkenbestimmung beim Augenarzt, aber
nicht mehr beim Augenoptiker übernehmen wollen. Wie
steht die Bundesregierung zu dieser Haltung der Kassen,
und ist die Bundesregierung mit mir der Auffassung,
dass eine derartige Praxis eher zur Kostenerhöhung als
zur Kostensenkung im Gesundheitswesen führen würde?
M
Ich kann dies nicht erkennen. Für uns war entschei-
dend, dass die ärztliche Leistung nach wie vor erbracht
wird. Bislang ist das Vorgehen der Optiker sehr unein-
heitlich. Manche verlangen eine Gebühr, manche verlan-
gen keine. Es gibt keine einheitliche Praxis.
Die Optiker haben diese Leistung früher erbracht, um
Kunden an sich zu binden. Insofern ist jeder Versicherte
aufgefordert, bei seinem Optiker nachzufragen, unter
welchen Bedingungen er diese Leistung erbringt. Uns
liegen keine Erkenntnisse darüber, dass es einen einheit-
lichen Satz gibt, den die Optiker fordern. Der Markt wird
entscheiden, ob sich eine Gebühr überhaupt durchsetzt.
Für uns ist wichtig, dass es dabei bleibt: Bei der Leis-
tung durch den Arzt handelt es sich um eine Kassenleis-
tung. – Vielfach ist es auch notwendig, dass der Arzt
diese Leistung erbringt. Wenn Optiker eine solche Leis-
tung zusätzlich anbieten, gehört das zum Marktgesche-
hen. Da muss jeder selbst entscheiden, ob er bereit ist,
dafür etwas auszugeben. Der Wettbewerb wird dazu füh-
ren, dass von überzogenen Forderungen, von denen auch
ich gehört habe, Abstand genommen wird.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Staatssekretärin,
die Fragestellung war eigentlich ein bisschen anders. Ich
habe auf Folgendes hingewiesen: Die Krankenkassen
haben bekannt gegeben, dass sie anders als früher, vor
In-Kraft-Treten der Neuregelung, die Kosten für die
Sehstärkenbestimmung beim Optiker nicht mehr über-
nehmen wollen, also nur noch für eine entsprechende au-
genärztliche Leistung zahlen wollen. Meine Frage war,
wie Sie diese neue Praxis, die sich von der vorhergehen-
den Praxis eben unterscheidet, einschätzen.
M
Frau Kollegin, ich kann Ihnen nur sagen: Es war sonicht. Es gibt eine neue Rechtssituation. Früher ist fürdie Sehhilfe von der Kasse ein Anteil erstattet worden.Von den Optikern wird jetzt gesagt: Darin war auch einTeil für die Ermittlung der Sehschärfe enthalten. – DieKassen sehen dies anders. Die Optiker versuchen, eineZusatzleistung anzubieten und dafür von den Patientin-nen und Patienten eine Gebühr zu erhalten.
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7470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
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Pa
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bestimmung der
Sehschärfe durch den Arzt gehört zu den Leistungen, auf
die gesetzlich Versicherte Anspruch haben. Niemand
muss eine Gebühr für eine Leistung entrichten, die er gar
nicht will. Die Optiker fordern eine Gebühr für eine
Leistung, die früher schon keine Kassenleistung gewe-
sen ist; diese Leistung wird auch zukünftig nicht von den
Kassen übernommen werden. Noch einmal: Der Markt
wird mit Sicherheit zu einer Änderung dieser Praxis füh-
ren.
Damit kommen wir Frage 14 der Kollegin Petra Pau:
Wie viele Anfragen und Beschwerden sind bei der Patien-
tenbeauftragten der Bundesregierung, Helga Kühn-Mengel,
bezüglich des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung eingegangen und auf welche konkreten
Problemstellungen bezogen sich diese?
M
Frau Kollegin Pau, Sie fragen nach der Zahl der An-
fragen und Beschwerden bei der Patientenbeauftragten
und danach, auf welche Bereiche sich diese Beschwer-
den konzentrieren.
Als Vorbemerkung möchte ich dazu sagen, dass das
Gesundheits- und Sozialministerium schon vor In-Kraft-
Treten dieses Gesetzes reagiert hat, indem es beispiels-
weise im Internet die wichtigsten Neuregelungen darge-
stellt hat. Dieses Internetangebot wurde täglich aktuali-
siert. Hier wurden auch Fragen und Antworten auf der
Basis von Anfragen der Patientinnen und Patienten wie-
dergegeben. Diese Internetseite wurde täglich 30 000-
mal aufgerufen, also sehr rege genutzt. Darüber hinaus
haben wir eine Hotline mit einer einheitlichen kostenlo-
sen Telefonnummer eingerichtet, unter der das BMGS
Auskünfte erteilt hat.
Die Einsetzung einer Patientenbeauftragten der Bun-
desregierung hat selbstverständlich dazu geführt, dass
zusätzlich auch bei ihr eine Vielzahl von Beschwerden
und Anfragen einging. Die Patientenbeauftragte ist seit
dem 2. Januar im Amt. Es gab täglich mehrere hundert
Anrufe und Faxanfragen; ebenso gingen unzählige E-Mails
ein. All diese werden jetzt von zehn Mitarbeitern – wir
haben die Zahl hausintern aufgestockt, damit die Fragen
schnell bearbeitet werden – beantwortet.
Insgesamt summiert sich das auf einige tausend ver-
schiedene Fragestellungen. Es ist also klar, dass all das
nicht von heute auf morgen abgearbeitet werden kann;
die Anfragen werden vielmehr in der Reihenfolge des
Eingangs beantwortet. Mein Eindruck ist, dass derzeit
die Anzahl der Anfragen tendenziell geringer wird, unter
anderem deswegen, weil jetzt endlich auch die Kranken-
kassen ihrer Pflicht nachkommen, ihre Versicherten ord-
nungsgemäß zu informieren.
Es gab im Vorfeld große Probleme, weil einige Kas-
sen falsch, unvollständig oder gar nicht informiert ha-
ben. Für uns ist interessant, dass die Spitzenverbände of-
fensichtlich nicht dafür gesorgt haben, dass die
Informationen, wie uns ursprünglich zugesagt, an jede
Geschäftsstelle weitergeleitet wurden. Nur so ist die Dis-
kussion zu erklären, wie wir sie beispielsweise über die
Feiertage erlebten, dass die Barmer Ersatzkasse keine
Sozialhilfeempfänger mehr aufnehme. Es hat sich ja hin-
terher herausgestellt, dass das so nicht zutrifft und es
sich dabei um eine Einzelmeinung handelte, die recht-
lich nicht gedeckt war.
Ich habe die Patientenbeauftragte gefragt, zu welchen
Komplexen die meisten Fragen kommen. Es kristallisie-
ren sich dabei – das sehen wir auch an unserer Hotline –
drei große Fragenkomplexe heraus: erstens die Chroni-
kerregelungen – ich habe eben noch einmal darauf hin-
gewiesen, dass wir diesbezüglich vom Gemeinsamen
Bundesausschuss bis 31. Januar Klarstellungen einfor-
dern –, zweitens die Fahrtkostenregelungen und drittens
die Praxisgebühr. Bezüglich der Fahrtkostenregelung
wird ebenfalls bis 31. Januar eine Richtlinie vorgelegt.
Bei der Praxisgebühr hat die KBV, die für die Umset-
zung ja auch Verantwortung trägt, reagiert, indem sie die
Detailregelungen auf ihrer Homepage veröffentlicht hat,
sodass auch hier die Zahl der Anfragen abnimmt.
Wenn uns eine rechtswidrige Praxis gemeldet wird
– so haben zum Beispiel einzelne Ärzte statt 10 Euro
12 Euro Praxisgebühr verlangt und das mit internen Ver-
waltungskosten gerechtfertigt –, gehen wir jedem Ein-
zelfall nach.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Pau.
Frau Staatssekretärin, Sie haben schon dargestellt, wo
die Schwerpunkte der Anfragen lagen und in welchen
Bereichen das Informationsbedürfnis am höchsten war.
Zeichnet sich ab, dass die Patientenbeauftragte der Bun-
desregierung eventuell zum Monatsende Vorschläge un-
terbreiten wird, wo Nachbesserungs- oder Regelungsbe-
darf besteht? Wir hören ja im Moment, dass die Frau
Bundesministerin ankündigt, zum Beispiel im Bereich
der gynäkologischen Versorgung, beim Nachfolgerezept
für die Pille, eine Klarstellung vorzunehmen. Zeichnen
sich im Zuge der Tätigkeit der Patientenbeauftragten
weitere Komplexe ab, bei denen dringend nachgebessert
oder etwas klargestellt werden muss?
M
Frau Kollegin, ich will noch einmal ausdrücklich sa-gen, dass wir keinen Nachbesserungsbedarf sehen. Sol-cher ist auch von der Ministerin nicht angekündigt wor-den. Hier hat sich ein Duktus eingeschlichen, der denEindruck erweckt, dass der Gesetzgeber nicht in derLage sei, ordnungsgemäß Gesetze zu machen. Dabei istes doch so, dass Aufgaben, die wir untergesetzlich an dieSelbstverwaltung delegieren, von dieser nicht wahrge-nommen werden. Es gibt keinen Nachbesserungsbedarf,es gibt einen Umsetzungs- und Klarstellungsbedarf; dieSelbstverwaltung muss endlich ihre Arbeit tun. Dies ha-ben wir eingefordert.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7471
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Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-MerkDie Klarstellungen wird es geben. Wo zum BeispielDinge rechtswidrig passieren, muss jemand sagen: Dasist rechtswidrig! Das haben wir bei den Augenärzten ge-tan, ebenso dort, wo Praxisgebühren ungerechtfertigt er-hoben wurden. Dort werden wir tätig und weisen klarauf die Gesetzeslage hin. Mir ist nicht bekannt, dass diePatientenbeauftragte die Forderung nach einer Nachbes-serung erhoben hätte. Ich halte diese Begrifflichkeitnicht für angemessen.Unser Problem liegt darin, dass in einem Gesund-heitswesen, das so komplex ist wie das unsere – mit derVerantwortung für die Fachaufsicht teilweise bei denLändern, mit der Verantwortung der Beteiligten in derSelbstverwaltung –, die Umsetzungsprobleme enormsind. Ich bin zwar neu im Feld der Gesundheitspolitik.Aber ich habe mir von Erfahrenen wie zum BeispielHerrn Seehofer, der sich dazu ja heute Morgen im „Mor-genmagazin“ auch öffentlich äußerte, sagen lassen:Diese Umsetzungsprobleme gab es jedes Mal. Sie sindärgerlich; aber man muss die Verantwortung dort ansie-deln, wohin sie gehört.
Weitere Zusatzfrage, Frau Pau?
Frau Staatssekretärin, jenseits unserer offensichtli-
chen Meinungsverschiedenheiten zum Inhalt des Geset-
zes komme ich auf den Komplex der Zuzahlungen und
Härteregelungen zurück. Welchen Rat würde die Pati-
entenbeauftragte oder würden auch Sie einem Rat su-
chenden Patienten geben, der in folgender konkreter
Lebenssituation ist: Er bezieht Arbeitslosenhilfe, hat
nach Abzug aller feststehenden Kosten für den Lebens-
unterhalt noch 100 Euro übrig, hat bis zum heutigen
Tag schon 50 Euro für Medikamente ausgegeben, die er
zur Versorgung seiner chronischen Krankheit braucht,
zahlt für weitere Hilfsmittel und entrichtet die Praxisge-
bühr. Wovon soll er den Rest des Monats und bis zur
eventuellen Erstattung am Ende des Quartals leben?
M
Frau Kollegin, ich habe eben schon einmal darauf
hingewiesen, dass die Möglichkeit der Befreiung schon
jetzt besteht, wenn jemand überfordert ist. Hier ist natür-
lich jeweils der Träger der Arbeitslosenhilfe oder der So-
zialhilfe aufgefordert, an Lösungen mitzuarbeiten. Das
ist jederzeit bereits möglich; man muss nicht ein ganzes
Jahr Zuzahlungen leisten – das suggerieren Sie ja –, be-
vor man etwas einreichen und zurückbekommen kann.
Sobald man in die Größenordnung der Überforderung
– 2 Prozent des Bruttoeinkommens – kommt, kann man
sofort zur Kasse gehen und wird für den Rest des Jahres
befreit.
Zusatzfrage, Herr Kollege Spahn.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade schon ange-
deutet, wie viele Mitarbeiter zurzeit im Ministerium für
die Patientenbeauftragte arbeiten; das resultiert ja jetzt
eher vorübergehend aus dem großen Bauch an Anfragen,
der sich mit dem Jahreswechsel ergeben hat. Wie soll die
Personalausstattung der Patientenbeauftragten in Zu-
kunft aussehen, wie die sachliche Ausstattung? Insbe-
sondere höre ich immer etwas munkeln von Dienstwa-
gen und Chauffeur. Gehört das tatsächlich zur
Ausstattung?
M
Herr Kollege Spahn, für uns ist entscheidend, dass
wir eine arbeitsfähige Struktur herstellen. Insofern – das
finde ich wichtig – braucht die Patientenbeauftragte
qualifizierte Mitarbeiter. Sie stimmen mir sicher zu, dass
die Patientenbeauftragte eine tragfähige Ausstattung
braucht. Wenn ich mich richtig erinnere, ist ausweislich
des Haushaltsplans vorgesehen, dass die Patientenbeauf-
tragte – wie im Übrigen andere Beauftragte auch; ich als
Drogenbeauftragte habe ebenfalls einen solchen Mitar-
beiterstab – sechs Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter zur
Verfügung hat. Klar ist, dass in solchen Leistungsspitzen
wie jetzt ausgeholfen wird und man sich im Interesse der
Patientinnen und Patienten flexibel zeigt.
Ich halte es für ein Riesenproblem, wenn man auf der
einen Seite vorgibt die Funktion solle mit Leben erfüllt
werden, und auf der anderen Seite kritisiert, wenn ent-
sprechende Sachmittel und Personalmittel zu etatisieren
sind. Es ist doch klar: Wenn eine solche Funktion ge-
schaffen wird, muss sie arbeitsfähig sein. Die Erwartung
der Menschen ist: Wenn ich dort anrufe, nimmt jemand
meinen Anruf an und beantwortet kompetent meine Fra-
gen. Deswegen halte ich es für vertretbar, dass die Patien-
tenbeauftragte einen Mitarbeiterstab im Ministerium hat.
Frau Kollegin Lötzsch.
Frau Staatssekretärin, ich möchte an die Fragen mei-ner Kollegin Petra Pau und an die Fragen nach densozialen Härten anknüpfen.Sie haben bereits vorhin gesagt, Sie erwarten, dasszwischen den Kassen und den Trägern der SozialhilfeVereinbarungen getroffen werden. Vom Standpunkt derRegierung ist das eine naheliegende Erwartung. Aberder betroffene Bürger oder Sozialhilfeempfänger, der nurwenig Geld hat, ist in den ersten Wochen dieses Monatsmit der Tatsache konfrontiert, dass in vielen Fällen dieseVereinbarung zwischen den Kassen und den Trägern derSozialhilfe offenbar nicht getroffen worden ist. KönnenSie sagen, ob es entsprechende Vereinbarungen zwi-schen den Trägern der Sozialhilfe und den Kassen gibt?Ich möchte ferner wissen, ob diese Vereinbarungendazu beitragen, dass es erstens nicht zu sozialen Härtenfür die Bürger kommt und dass zweitens die Bürger vonden zuständigen Stellen informiert werden und diesesDurcheinander aufhört.
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7472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
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(D)
Ma
Frau Kollegin, ich erinnere mich an einen Dankesbrief
Ihrer Kollegin Frau Pau für das Zusenden des Informa-
tionspakets zum Gesundheitssystemmodernisierungsge-
setz, das die Bundesregierung allen Abgeordneten zu-
kommen ließ, um sie rechtzeitig und umfassend zu
informieren. Unser Ministerium hat darüber hinaus
– auch das habe ich vorhin gesagt – eine aktuelle Seite
ins Internet gestellt und eine Hotline eingerichtet. Ich
glaube daher, dass wir unserer Informationspflicht um-
fassend nachgekommen sind.
Die Ministerin, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
unseres Hauses und auch ich selbst als Parlamentari-
sche Staatssekretärin haben mehrere öffentliche Veran-
staltungen zu diesem Thema durchgeführt. Ich stand
mindestens drei Zeitungen für die Beantwortung von
Bürgerfragen mehrere Stunden lang zur Verfügung. Wir
haben also versucht, umfassend zu informieren. Aber
diese Information kann nicht nur vonseiten der Bundes-
regierung erfolgen. Auch die Kassen, die Ärzte und die
Leistungserbringer haben eine Informationspflicht. Das
gilt auch für die Länder, die an diesem Gesetz mitge-
wirkt haben. Ich meine, dass die notwendigen Informa-
tionen geflossen sind. Zur Verunsicherung hat teilweise
beigetragen, dass sie nicht rechtzeitig geflossen sind.
Ich habe vorhin schon das genannt, was noch zu ver-
bessern ist.
Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass jede
Ebene ihre Aufgabe zu erfüllen hat. Es kann nicht ange-
hen, dass einzelne Teile der Selbstverwaltung bestimmte
Aufgaben nicht erledigen oder Maßnahmen blockieren.
Wir haben jetzt zum Beispiel die unbefriedigende Situa-
tion, dass es noch einen Streit zwischen den Sozialhilfe-
trägern und den Kassen gibt. Wir haben die Beteiligten
aufgefordert, die offenen Punkte im Sinne der Patientin-
nen und Patienten zu regeln. Wir gehen davon aus, dass
dies geschehen wird.
Abschließend will ich sagen: Diese Operation fällt
niemandem leicht, auch uns nicht. Denn wir wissen, dass
die Patientinnen und Patienten belastet werden. Es ist
ebenfalls klar, dass diese Regelungen für viel Unmut
sorgen. Aber man muss sich einmal anschauen, was die
Alternative gewesen wäre. Angesichts der Verschul-
dungssituation der Kassen wären die Alternative Bei-
tragssatzanhebungen gewesen. Das hätte eine Flucht
derjenigen aus der gesetzlichen Krankenversicherung
bewirkt, die zu einer privaten Krankenversicherung
wechseln können.
Wer die Entsolidarisierung und einen Anstieg der
Lohnnebenkosten nicht will, muss den Mut zu Ausga-
benbegrenzungen haben. Auch wenn es unbequem ist,
müssen diese Maßnahmen vertreten werden. Natürlich
haben Sie es einfacher, jedem alles zu versprechen, weil
Sie nicht sagen müssen, woher die gesetzlichen Kran-
kenkassen das Geld nehmen sollen.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereiches.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums des Innern auf. Zur Beantwortung steht der Par-
lamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zur
Verfügung.
Die Fragen 15 und 16 der Kollegin Kristina Köhler
, die Fragen 17 und 18 des Kollegen
Hartmut Koschyk sowie die Fragen 19 und 20 des Kolle-
gen Dr. Nobert Röttgen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe nun die Frage 21 der Kollegin Petra Pau auf:
Wie viele antisemitische Straftaten wurden im dritten
Quartal 2003 in der Bundesrepublik Deutschland begangen
und wie viele Opfer dieser Straftaten gab es?
F
Frau Kollegin Pau, im dritten Quartal 2003 wurden
insgesamt 253 antisemitische Straftaten, die dem Phäno-
menbereich „politisch motivierte Kriminalität rechts“
zugeordnet wurden, gemeldet. Darunter befanden sich
46 so genannte Propagandadelikte und sieben Gewaltde-
likte. Bei letzteren handelt es sich um fünf Körperverlet-
zungs- und zwei Widerstandsdelikte. Im dritten Quartal
2003 wurden dabei sechs Personen verletzt. Todesfälle
waren nicht zu verzeichnen.
Zusatzfrage.
Ich gehe sicherlich recht in der Annahme, Herr
Staatssekretär, dass Sie auch auf meine Zusatzfrage wie
immer umfassend vorbereitet sind: Können Sie mir diese
Statistik nach Ländern getrennt vortragen?
F
Nach Bundesländern?
Ja, nach Bundesländern.
F
Ich werde meinem Ruf, dass ich hervorragend vorbe-
reitet bin, wieder gerecht und könnte das jetzt im Einzel-
nen tun. Aber um das Verfahren ein bisschen abzukür-
zen, bekommen Sie diese Information schriftlich.
Frau Pau, ich möchte jedoch so viel dazu sagen, dass
aus der statistischen Erfassung keine besonderen
Schwerpunkte in Bezug auf einzelne Bundesländer her-
auszulesen sind. Das werden auch Sie sehen, wenn Sie
sich diese Zahlen zu Gemüte führen.
Weitere Zusatzfrage?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7473
(C)
(D)
Ich möchte keine Zusatzfrage stellen, wenn wir, das
Präsidium, der Herr Staatssekretär und ich, darin über-
einstimmen, dass diese nachgereichte Information Be-
standteil des Stenografischen Berichts wird und nicht
nur zwischen uns beiden ausgetauscht wird.
F
Wenn das möglich ist, ist das kein Problem.
Es war bisher einmal möglich und einmal nicht. Des-
halb möchte ich das klargestellt wissen.
Ich sehe überhaupt keine Probleme, schon gar nicht
dann, wenn alle darin übereinstimmen, dass es sinnvoll
wäre, diese Information allen zugänglich zu machen.1)
Ich rufe jetzt die Frage 22 des Kollegen Ernst
Hinsken auf:
Aus welchen Gründen will der Bundesminister des Innern,
Otto Schily, die Eröffnungsfeier der Fußballweltmeisterschaft
2006 nach Berlin verlegen, obwohl das Eröffnungsspiel in
München ausgetragen wird – vergleiche „Süddeutsche Zei-
tung“ vom 20./21. Dezember 2003 –, und wie hoch sind die
dadurch entstehenden Kosten?
F
Herr Kollege Hinsken, ich darf Ihre Frage wie folgt
beantworten: Der Deutsche Fußball-Bund hat als Aus-
richter der WM 2006 gegenüber dem Veranstalter FIFA
zugesagt, unmittelbar vor dem Eröffnungsspiel im Sta-
dion im üblichen Rahmen eine Eröffnungszeremonie zu
veranstalten. Diese Zusage steht nicht infrage.
Ganz unabhängig davon wird darüber nachgedacht,
ob sich Deutschland nicht der Welt wie beispielsweise
nach dem Vorbild der Olympischen Spiele 2000 in Syd-
ney und der Fußball-WM 1998 in Frankreich einen Tag
vor dem Eröffnungsspiel mit einer ansprechenden Feier
als weltoffenes, gastfreundliches und interessantes Gast-
geberland präsentieren sollte. Insofern geht es nicht da-
rum, eine Feier von München nach Berlin zu verlegen,
sondern um die Frage, ob es neben der Eröffnungszere-
monie vor dem Eröffnungsspiel im Stadion eine zusätzli-
che Veranstaltung geben soll, um die herausragende
Chance zu nutzen, dass die Welt auf unser Land blickt.
Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass es überhaupt
keinen Anlass zu Streit geben muss und dass die Verant-
wortlichen bzw. die Entscheidungsträger diese Konzep-
tion mittragen und befürworten. Dies sind im Übrigen
Konzeptionen, wie wir sie bei den Beispielen, die ich Ih-
nen genannt habe, erlebt haben.
Zusatzfrage, Herr Kollege Hinsken.
1) Anlage 7
Herr Staatssekretär Körper, was hat den Bundesinnen-
minister Schily überhaupt bewogen, zu sagen, dass die
Eröffnungsfeier der Fußballweltmeisterschaft 2006 hier
in Berlin stattfinden soll, und ist Ihnen und Herrn Schily
bewusst, dass es viel Verdruss gegeben hat, dass man
sich ärgert und dass hiermit ein Novum eingeführt wer-
den würde, wie wir es bei einer Fußballweltmeister-
schaft noch nie gehabt haben?
F
Herr Hinsken, es kommt immer darauf an, ob man je-
manden wie beispielsweise den Herrn Bundesinnen-
minister Otto Schily richtig verstehen will oder ob man
ihn vielleicht bewusst falsch verstehen will, um ein Kon-
fliktthema in die Welt zu setzen. Es ging ihm bei seinen
Überlegungen lediglich darum, ob wir beispielsweise
nach dem Vorbild der Olympischen Spiele in Sydney
oder nach dem Vorbild der Fußballweltmeisterschaft
1998 in Frankreich eine besondere, von dem Eröff-
nungsspiel losgelöste Einstiegsfeier vorsehen sollten.
Dazu hat er den Gedanken geäußert – im Übrigen auch
wieder an dem Beispiel der Fußballweltmeisterschaft in
Frankreich orientiert –, diese Feierlichkeit in der Haupt-
stadt, also hier in Berlin, stattfinden zu lassen. Ich
glaube, wer die Entwicklung dieser Dinge kennt, kann
nicht gut nachvollziehen, dass darüber irgendein Streit
entsteht.
– Nein, der Streit ist überhaupt nicht vorhanden. Viel-
leicht bei Herrn Hinsken, aber ansonsten nicht.
Das wird sich durch die weitere Zusatzfrage des Kol-
legen Hinsken klären.
Fr
Das glaube ich auch.
So ist es, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, was,
meinen Sie, könnten wir unternehmen, sodass auch der
Oberbürgermeister von München, Herr Ude, in der Lage
ist, Herrn Schily richtig zu deuten, und sich nicht sorgen-
voll an die FIFA und an Herrn Blatter wenden muss,
weil er nicht bereit ist, ohne weiteres hinzunehmen, was
hier vom Zaun gebrochen wird? Wann ist im Übrigen
das erste Gespräch zwischen Herrn Schily und Herrn
Blatter geführt worden?
F
Herr Hinsken, es gibt einen alten Grundsatz: Es istbesser, miteinander zu reden als übereinander. Es istschlecht, wenn man miteinander über Pressemeldungenverkehrt. Ich denke, es ist wichtig, dass man die Dingeanspricht. Es ist ganz aktuell und vielleicht auch Ihnenbekannt, dass Herr Blatter und Herr Beckenbauer an
Metadaten/Kopzeile:
7474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf KörperHerrn Ude geschrieben und entsprechend klargestellt ha-ben, worum es geht. Ich bin sicher, wenn die Fakten sozur Kenntnis genommen werden, hat auch der Oberbür-germeister von München keinerlei Einwendungen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
ich knüpfe gleich an Ihren guten Rat, lieber miteinander
als übereinander zu sprechen, an und frage Sie, ob Sie
mit mir der Meinung sind, dass es im Interesse aller Mit-
glieder des Deutschen Bundestages – auch der bayeri-
schen – sein müsste, dass möglichst viele bedeutende
Veranstaltungen in Berlin – immerhin Hauptstadt der
Bundesrepublik Deutschland – stattfinden sollten?
F
Liebe Frau Kollegin, wissen Sie, die Betrachtungs-
weisen sind unterschiedlich und immer besonders davon
motiviert, wo jemand seinen Wohnsitz und sein Arbeits-
umfeld hat. Ich habe damit Erfahrung. Insbesondere be-
ziehe ich mich dabei auch auf die nachher anstehende
Aktuelle Stunde, deren Thema sich nicht vom Sachkon-
zept ableiten lässt, sondern eher dadurch bestimmt wird:
Wer kommt woher? Ich denke, das ist keine objektive
Herangehensweise.
– Habe ich etwas Falsches gesagt?
– Ja, es wird auch davon bestimmt, wer wohin kommt.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Roedel.
Herr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie ist denn die Finanzierung dieses Ereignisses, das
vor der Eröffnungsfeier stattfinden soll, geplant? Da-
rüber hat sich Ihr Minister sicherlich schon Gedanken
gemacht.
F
Frau Kollegin, das ist übrigens die nächste Frage, die
mir der Abgeordnete Hinsken gestellt hat. Hinsichtlich
der Finanzierungsfrage muss man step by step vorgehen.
Es war bisher überhaupt nicht klar, ob die FIFA, die
letztendlich Entscheidung zu treffen hat und auch die
Verantwortung dafür zu tragen hat, so ein Konzept – eine
solche besondere Veranstaltung zur Eröffnung dieses
sportlichen Großereignisses in Berlin – umsetzen will.
Wenn wir diese Entscheidung kennen und dieses Kon-
zept steht, dann werden wir auch für die entsprechende
Finanzierung sorgen.
Frau Kollegin Kaupa.
Her
Wer zahlt, schafft an. Sie haben sich
jetzt nicht festgelegt, wo das Geld herkommt. In der Zei-
tung stand, dass Sie es durch den Münzverkauf finanzie-
ren wollen. Von den Mitteln aus dem Münzverkauf sind
dem Sport 30 000 Euro zugesagt worden. Alles, was zu-
sätzlich eingenommen wird, bleibt insgesamt im Staats-
säckel.
Es gibt auch ein Gremium von Abgeordneten, das
über diese Gelder bestimmt. Dabei geht es um kulturelle
Veranstaltungen. Handelt es sich hierbei um eine kultu-
relle Veranstaltung? Für wen ist sie? Für eine Elite? Für
besondere Leute, die ihren Arbeitsplatz – wie vorhin an-
gesprochen – nicht in München, sondern in Berlin haben
und vielleicht nicht nach München fahren wollen? Die
Eröffnungsfeier ist eigentlich für diejenigen gedacht, die
den Start der Fußball-EM erleben wollen.
Noch allgemein gefragt: Welche weiteren zentralisti-
schen Ideen hat die Bundesregierung im Bereich des
Sports, um das föderale System der Bundesrepublik wei-
ter auszuhöhlen?
F
Liebe Frau Kollegin, jetzt könnte ich eigentlich mitFranz Beckenbauer antworten: Schau’n wir mal, wie esweitergeht. Ihr Redebeitrag jedoch veranlasst mich, einpaar Bemerkungen zu diesem Thema zu machen. Ichglaube, dass die Frage, wie unser Land beispielsweiseein sportliches Großereignis organisiert und sich in die-sem Zusammenhang auch entsprechend präsentiert, ganzwesentliche Rückschlüsse darüber zulässt, wie wir die-ses Ereignis angehen. Ich denke, dass dieses Land, dassdie Menschen in Deutschland und dass auch diese Bun-desregierung voll hinter dieser Fußballweltmeisterschaftstehen und dass wir dieses Ereignis entsprechend organi-sieren wollen.Ich halte den Zungenschlag, den Sie mit Ihrer Fragean die Bundesregierung hinsichtlich mehr Zentralismusin die Debatte gebracht haben, nicht für gut. Ich denke,wir haben ein paar ganz gute Vorbilder. Ich nenne hierinsbesondere Frankreich, das uns 1998 gezeigt hat, wieman eine Eröffnungszeremonie direkt vor dem Eröff-nungsspiel durchführt. Eine schöne Eröffnungsfeier bei-spielsweise einen Tag vor dem Eröffnungsspiel stündediesem Ereignis gut zu Gesicht. In Frankreich gab esbeispielsweise keine Debatte darüber, ob diese Feier inParis stattfinden sollte oder nicht. Ich glaube, auch wirsollten eine solche Debatte nicht führen. Diese Art vonEinstieg in dieses fußballerische Ereignis hier in Berlinhalte ich für überhaupt kein Problem.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7475
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf KörperZur Frage der Finanzierung habe ich meine Meinunggesagt. Das werden wir in einem weiteren Schritt ent-sprechend festlegen.
Nun rufe ich die Frage 23 des Abgeordneten Ernst
Hinsken auf:
Aus welchen Haushaltstiteln will die Bundesregierung,
falls die Eröffnungsfeier in Berlin stattfindet, diese finanziell
unterstützen?
Vielleicht ist den angedeuteten Überlegungen zur Fi-
nanzierung ja noch etwas hinzuzufügen.
F
Herr Präsident, nein, dem ist nichts hinzuzufügen. Ich
hatte die Antwort schriftlich wie folgt fixiert: Die Frage
des erforderlichen Aufwandes ist im Hinblick auf
Frage 22 noch nicht abschließend geklärt.
Herr Kollege Hinsken.
Herr Staatssekretär, Sie wurden vorhin dafür so ge-
lobt, dass Sie immer so gut vorbereitet sind.
Halten Sie es denn für angemessen, mit Aussagen an die
Öffentlichkeit zu treten, ohne zu überlegen, was das
Ganze kostet? Ist Ihnen denn überhaupt bewusst, dass
der kleine Mann überhaupt keine finanziellen Möglich-
keiten hat, um von der Eröffnungsfeier zur Fußballwelt-
meisterschaft hier in Berlin zum Eröffnungsspiel nach
München und dann wieder zurück zu fahren? Wir aber
wollen alle Menschen mit dabeihaben. Das soll ein gro-
ßes Highlight des Jahres 2006 werden.
Deshalb würde mich interessieren, wo der Haushalts-
ansatz ist. Aus welchen Töpfen wollen Sie diese Eröff-
nungsfeier hier finanzieren? Ich rufe noch einmal ins
Gedächtnis, dass Franz Beckenbauer gesagt hat: Wer
zahlt, schafft an. Wenn die Bundesregierung das will, an-
schafft und auch bezahlt, sollte sie auch – so weit irgend
möglich – meinem Wunsch nachkommen.
F
Lieber Herr Kollege Hinsken, ich glaube, dass jeder
die Entscheidung treffen kann, ob er zur Eröffnungszere-
monie vor dem Eröffnungsspiel nach München oder zur
Eröffnungsfeier nach Berlin, zu beidem oder vielleicht
zu einem WM-Spiel in Kaiserslautern geht. Das muss
man sich dann überlegen. Herr Kollege Kelber, das sage
ich deshalb, weil ich dorthin den kürzesten Anfahrtsweg
habe.
Sie sollten schon darauf achten, alle Austragungsorte
vollständig zu nennen; sonst entstehen die nächsten
Missverständnisse.
F
Herr Vizepräsident, da ich neben dem Austragungsort
für das Eröffnungsspiel und dem für das Endspiel nur
noch einen weiteren genannt habe, hoffe ich auf Ihr Ver-
ständnis.
Langer Rede kurzer Sinn: Herr Hinsken, ich glaube,
dass die Konzeption richtig ist. Die Verantwortlichen ha-
ben sich so entschieden. Das ist auch gut so. Jetzt wer-
den wir für die Durchführung dieses Konzeptes organi-
satorisch und finanziell sorgen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist denn die Bundesregierung be-
reit, das, was sie in finanzieller Hinsicht für Berlin in
Aussicht gestellt hat, auch für München in Aussicht zu
stellen, nachdem jetzt doch die Konzentration auf Mün-
chen vorgenommen wird? Das kostet einige Millionen.
Ist die Bundesregierung in der Lage und auch bereit, die
Mittel zur Verfügung zu stellen und hier keinen Unter-
schied zwischen München und Berlin zu machen?
F
Das, was jetzt durch den Zwischenruf des Kollegen
Bosbach deutlich geworden ist, ist die viel wichtigere
Frage. Hinsichtlich des Titelgewinns jedoch lassen wir
uns überraschen.
Herr Hinsken, ich gehe davon aus, dass es zu einer
objektiven und sachgerechten Umsetzung dieses Kon-
zepts sowohl in organisatorischer als auch in finanzieller
Hinsicht kommen wird.
Die letzte Frage hat Frau Kollegin Kaupa.
Stimmt der Ablauf der Entscheidungsfindung, wo-
nach das WM-OK und das Bundesinnenministerium
miteinander einen Beschluss fassen müssen, der dann
aber von der FIFA abgesegnet werden muss, dass sie
also das letzte Wort hat? Wird es denn, wenn die FIFA
Nein sagt, nicht gemacht?
Wenn Sie sich Gedanken machen, was Sie vorhaben,
dann müssen Sie doch auch geplant haben, was es kosten
wird. Man kann doch nicht ins Blaue hinein planen. Ir-
gendwann wird man doch auch einmal eine Rechnung
aufstellen. Ihnen werden doch Zahlen vorliegen. Wenn
Sie sie haben, legen Sie sie uns bitte vor.
F
Frau Kollegin, das letzte Wort hat die FIFA. Sie ent-scheidet darüber, ob diese Konzeption realisiert wird.
Metadaten/Kopzeile:
7476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Pa
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn diese Konzeption auf dem Tisch
liegt, wird auch finanziell für ihre Durchführung gesorgt.
Herr Kollege Körper, nachdem nun nahezu alle Fra-
gen zu den Rahmenbedingungen des Eröffnungsspiels
mindestens angesprochen, wenn nicht geklärt sind,
bleibt nur die Frage nach dem Ergebnis dieses Spiels.
Ich gehe davon aus, dass uns die Bundesregierung recht-
zeitig unterrichtet, sobald dazu eine Vereinbarung ge-
troffen worden ist.
F
Das werden wir tun, Herr Präsident.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Wirtschaft und Arbeit auf. Zur Beantwortung
steht der Parlamentarische Staatssekretär Rezzo
Schlauch zur Verfügung.
Ich rufe Frage 24 der Kollegin Roedel auf:
Trifft es zu, dass Auszubildende der deutschen Agenturen
für Arbeit mit Billigung der Bundesagentur für Arbeit, BA,
regelmäßig mit einem Dienstwagen zu ihren Seminaren ge-
bracht werden, um Kosten zu sparen, und, wenn ja, wurden in
die Vergleichsberechnung zwischen Dienstwagennutzung und
der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auch die Personal-
kosten für die Fahrer eingerechnet?
R
Sehr geehrte Frau Kollegin Roedel, ich beantworte
Ihre Frage wie folgt: Es trifft nicht zu, dass Auszubil-
dende zu ihren Seminaren regelmäßig mit einem Dienst-
wagen gebracht werden. Nach Auskunft der Bundes-
agentur für Arbeit sind ihre Dienststellen gehalten, für
die erforderlichen Dienstreisen ihrer Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter zu Aus- und Fortbildungsveranstaltun-
gen die insgesamt kostengünstigste Variante einzuset-
zen. Dabei sind nicht nur die unmittelbaren Kosten zu
berücksichtigen, sondern auch mittelbare Faktoren wie
die Anbindung an Netze des ÖPNV oder die zeitliche
Lage der Veranstaltung.
Diese Grundsätze gelten auch für die Teilnahme von
Auszubildenden an Aus- und Fortbildungsveranstaltun-
gen. Stets ist eine Prüfung, bezogen auf die jeweilige
Veranstaltung, vorzunehmen. Diese einzelfallbezogene
Prüfung erfasst sinnvollerweise nur die zusätzlich anfal-
lenden Kosten. Die Nutzung eines Dienstwagens mit
Fahrer ist dabei auch dann günstiger, wenn andere Fahr-
ten nicht durchzuführen sind, der Kraftfahrer also nur in
Bereitschaft steht und das Fahrzeug ansonsten ungenutzt
bleiben würde. Die Bundesagentur strebt einen mög-
lichst hohen Auslastungsgrad vorhandener Ressourcen
an. Kosten wie die Fixkosten des ansonsten nicht ge-
nutzten Fahrzeuges oder die anfallenden Personalkosten
des Fahrers werden beim Kostenvergleich mit öffentli-
chen Verkehrsmitteln daher nicht in die Berechnung ein-
bezogen.
Ihre Zusatzfrage, Frau Roedel.
Dann stimmt also die Aussage eines Arbeitsamtdirek-
tors, dass gerade Behörden mit großem Einzugsbereich
auf ihren Fuhrpark zurückgreifen? Hier kommt es dann
wohl im Einzelnen auf die Berechnungen an. Denn erst
haben Sie mir erklärt, so würde grundsätzlich nicht ver-
fahren. Dann haben Sie Stellung dazu genommen, wel-
che Berechnungen angestellt werden. Das habe ich nicht
ganz verstanden.
R
Ihre Frage lautete, ob es zutreffe, dass Auszubildende
regelmäßig zu Fortbildungsveranstaltungen chauffiert
würden. Dazu habe ich gesagt, dass das nicht zutrifft.
Vielmehr werden Einzelfallprüfungen durchgeführt. Im
Einzelfall kann das günstiger oder angemessen sein.
Diese Möglichkeit wird deshalb nach Bedarf wahrge-
nommen.
Keine weitere Zusatzfrage. Dann rufe ich Frage 25,
ebenfalls von Frau Roedel, auf:
Wie hoch sind die Kosten, die für öffentliche Verkehrsmit-
tel bzw. Dienstwagen inklusive der Kosten für die Fahrer auf-
gewendet werden müssen?
R
Sie fragen nach den Vergleichskosten einerseits bei
Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und andererseits bei
Nutzung von Dienstwagen. Hierzu teilt die Bundesagen-
tur Folgendes mit – deshalb beantworte ich Ihre Frage
auch in diesem Sinne –: Ein bundesweiter Vergleich der
Kosten, die für öffentliche Verkehrsmittel bzw. für
Dienstwagen mit Fahrer anfallen, ist nicht möglich. Für
Dienstfahrten liegen die direkten und indirekten Kosten
pro Fahrzeug und Kilometer bei 0,31 Euro, und zwar auf
der Basis von 21 615 844 Kilometern Fuhrparkgesamt-
fahrleistung im Jahr 2002, unabhängig von der Anzahl
der zu befördernden Personen. Hierin sind die Kosten
für Kauf, Leasing, Unterhalt sowie die Personalkosten
für die Disposition des Fuhrparks enthalten. Nicht ent-
halten sind jedoch die Personalkosten der Berufskraft-
fahrer, da die Dienstfahrzeuge sowohl von den Berufs-
kraftfahrern als auch von den Dienstreisenden selbst
gefahren werden.
Bei Bahnreisen wendet die Bundesagentur unter Be-
rücksichtigung von Rabatten 0,15 Euro pro Kilometer
und Person in der zweiten Klasse auf.
Da niemand eine weitere Zusatzfrage stellen möchte,rufe ich die Frage 26 des Kollegen Dr. ChristophBergner auf:Welche Kosten verursachen die aktuellen Ausschreibun-gen der BA bzw. der Landesarbeitsämter zur Durchfüh-rung von Maßnahmen nach § 37 a bzw. § 48 Drittes Buch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7477
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Norbert LammertSozialgesetzbuch, zum Beispiel durch Abordnung von Mit-arbeitern aller Agenturen für Arbeit zur Auswertung der An-gebote, Anmietung von gesonderten Räumlichkeiten für dieseAuswertung, Versendung aller notwendigen Unterlagen, Be-arbeitung der Bieteranfragen?R
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Bergner, Ihre Frage
beantworte ich wie folgt: Für die Verwaltungskosten zur
Durchführung der Ausschreibungen zur Beauftragung
von Dritten mit der Vermittlung sowie der Ausschrei-
bungen von Trainingsmaßnahmen auf regionaler bzw.
zentraler Basis wurden keine Erhebungen und separaten
Erfassungen vorgenommen. Zusammenfassend kann je-
doch davon ausgegangen werden, dass im Vergleich zu
den bislang in den Arbeitsämtern abgewickelten Verfah-
ren keine zusätzlichen Kosten entstanden sind und ent-
stehen werden. Zusätzliche Räumlichkeiten zur Auswer-
tung der Angebote wurden nicht angemietet. Durch die
Vielzahl der eingegangenen Angebote und Anfragen der
Bieter sind lediglich zu vernachlässigende Mehrkosten
bei Versandabfertigung und Porto entstanden.
Zurzeit werden die Angebote ausgewertet. Die Ertei-
lung von Zuschlägen wird bis Ende Januar vorbereitet.
Bereits jetzt kann festgestellt werden, dass es durch Bün-
delung und bessere Standardisierung bei mindestens ver-
gleichbarem Qualitätsstandard im Vergleich zu den bis-
her von den Agenturen für Arbeit in Auftrag gegebenen
Maßnahmen zu § 48 SGB III Einsparpotenziale in zwei-
stelliger Millionenhöhe gibt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Bergner.
Herr Staatssekretär, leider können wir nun nicht über
Zahlen sprechen. Es stellt sich aber die Frage nach der
Effizienz des gewählten Verfahrens. Die Landesagen-
turen bzw. Landesarbeitsämter – um beim alten Termi-
nus zu bleiben – sind angehalten, die Ausschreibung un-
ter dem Kriterium vorzunehmen, den billigsten Anbieter
auszuwählen. Die örtlichen Arbeitsämter, die diese Auf-
gabe bisher wahrgenommen haben, werden anschließend
daran gemessen, welche Effizienz sie in der Vermitt-
lungsarbeit erreichen. Damit führen Sie einen Interes-
senkonflikt herbei. Halten Sie es für wirklich für einen
geeigneten Weg, die Zuständigkeiten so zu entkoppeln,
dass das Kriterium der Effizienz bei der Vermittlung
nachrangig ist?
R
Das Kriterium der Effizienz bei der Vermittlung wird
nicht als nachrangig behandelt. Wir fragen selbstver-
ständlich nach, wie erfolgreich die Vermittlung ist und
welche Kosten dabei anfallen. Mehr Details hierzu bein-
haltet aber meine Antwort auf Ihre zweite Frage. In die-
ser werde ich nämlich aufzeigen, welches Instrumen-
tarium diejenigen, die sich bewerben, anwenden wollen,
um die Vermittlung möglichst effizient durchzuführen.
In diesem Fall bin ich auf die Antwort auf meine
zweite Frage gespannt.
Dann rufe ich die Frage 27 des Kollegen Bergner auf:
Inwiefern hält die Bundesregierung die Ausschreibungen
im Bereich des Landesarbeitsamtes Sachsen-Anhalt/Thürin-
gen angesichts der jeweiligen gewählten Losgrößen für geset-
zeskonform, etwa hinsichtlich der „Mittelstandsklausel“ des
§ 5 Nr. 1 der Verdingungsordnung für Leistungen/Teil A?
R
Diese Frage hat das Thema Effizienz zum Inhalt. Ich
beantworte sie daher wie folgt: Die Größe der Lose bei
den zurzeit laufenden Ausschreibungen wurde nicht sta-
tisch festgelegt. Ihre Festlegung wurde vielmehr sowohl
von inhaltlichen und wirtschaftlichen Überlegungen als
auch von regionalen Gesichtspunkten beeinflusst. Es
wird also auch das Kriterium der Regionalität berück-
sichtigt. Mit Vertretern der jeweiligen Regionaldirektio-
nen wurde gemeinsam die Losbildung auch unter Beach-
tung der vom Gesetzgeber in § 97 Abs. 3 des Gesetzes
gegen Wettbewerbsbeschränkungen festgeschriebenen
Interessen des Mittelstands vorgenommen. Mehrere
Agenturen für Arbeit wurden nur in Ballungsräumen
bzw. regional definierten Wirtschaftsräumen im Losver-
bund zusammengefasst. Fachlich-inhaltliche Aspekte
wurden ebenso berücksichtigt.
Für kleine Anbieter – jetzt komme ich zur Effizienz
der Anbieterseite – sind Bietergemeinschaften der Weg,
um Lose zu erhalten. Vielerorts bestehen vorwiegend im
Bereich der beruflichen Weiterbildung bereits Trägerver-
bünde und andere Bildungsnetzwerke. Es kann somit da-
von ausgegangen werden, dass entsprechende Kommu-
nikationsstrukturen bei den Trägern vor Ort vorhanden
sind und genutzt werden. Rückmeldungen zu den laufen-
den Ausschreibungen zeigen, dass Angebote auf die
Lose in ausreichender Anzahl eingehen und die Ange-
bote in erheblichem Umfang durch Bietergemeinschaf-
ten eingereicht wurden.
Im Bezirk der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt/
Thüringen wurden zu § 37 a des Dritten Buches Sozial-
gesetzbuch 34 Lose gebildet. Daraufhin wurden ins-
gesamt 227 Angebote, an denen die Bietergemeinschaf-
ten einen Anteil von 80 Prozent hatten, abgegeben. Zu
§ 48 SGB III wurden 21 Lose gebildet, auf die
228 Angebote, an denen die Bietergemeinschaften einen
40-prozentigen Anteil hatten, eingegangen sind.
Durch diese Zahlen wird bestätigt, dass die Vergabe
nach Losen berücksichtigt und diese Vorgehensweise
vom Wettbewerb angenommen wurde.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, damit wir wissen, über welcheGrößenordnung wir bei dieser Ausschreibung sprechen,
Metadaten/Kopzeile:
7478 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
(C)
(D)
Dr. Christoph Bergnermöchte ich bezüglich der Ausschreibung zu§ 37 a SGB III gern den Umfang eines Loses nennen.Bei Los 7 handelt es sich um 84 Maßnahmen für1 344 Teilnehmer in mindestens 13 Standorten in Sach-sen-Anhalt und Thüringen.Es stellt sich nun tatsächlich die Frage, wie mittel-ständisch organisierte Bieter hiermit zurechtkommen.Sie verweisen auf die Bietergemeinschaften. Ich möchteSie fragen, ob Sie es wirklich für die hohe Schule desVergaberechts halten, wenn mittelständische Bildungs-träger mit Konkurrenten der gleichen Branche – dasschließt diese spezielle Branche ein – eine Bietergemein-schaft unter Offenlegung ihrer Kalkulationsgrößen undBildungskonzepte bilden müssen.R
Ich kann Ihnen nicht beantworten, was die hohe
Schule des Vergaberechts ist. Ich kann Ihnen nur sagen
– darauf rekurrieren Sie ja –, dass die Vergabekammer
für dieses Verfahren gerügt worden ist. Die Vorgehens-
weise wurde vom Bundeskartellamt aber legitimiert, das
heißt, die Vergaberichtlinien wurden eingehalten.
Ich glaube, wenn 80 Prozent der Angebote durch Bie-
tergemeinschaften eingereicht werden, dann kann man
davon sprechen, dass sich das Verfahren bei den Anbie-
tern durchgesetzt hat. Somit ist es marktkonform und
sinnvoll.
Eine weitere Zusatzfrage.
Nur zur Verständigung bezüglich der Bietergemein-
schaften: Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass die Bieter-
gemeinschaften unter den gegebenen Bedingungen Not-
gemeinschaften sind?
R
Ich glaube nicht, dass es Notgemeinschaften sind. Ich
denke, es ist sinnvoll, dass sich Anbieter, die verschie-
dene Angebote haben, zusammenschließen und ein ge-
meinsames Angebot abgeben.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu dem von
Bundesminister Schily verkündeten Umzug
des Bundeskriminalamtes zur Zentrali-
sierung aller operativen Einheiten des BKA in
Berlin
Diese Aktuelle Stunde wurde von der Fraktion der
CDU/CSU verlangt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt die Absicht des Innenmi-nisters, die bewährte dezentrale Organisation des BKAzu zerschlagen und das Bundeskriminalamt in Berlin zuzentralisieren, entschieden ab.
Das gilt sowohl für die komplette Schließung des Stand-ortes Meckenheim als auch für die geplante Verlagerungverschiedener Abteilungen der BKA-Zentrale von Wies-baden nach Berlin.Es mag sein, Herr Minister, dass es den einen oder an-deren vernünftigen Grund für eine Verlagerung be-stimmter Abteilungen und Aufgaben des BKA nach Ber-lin gibt.
Aber aus polizeifachlicher Sicht gibt es überhaupt keineNotwendigkeit, das BKA überwiegend nach Berlin zuverlagern; denn bei der notwendigen Abwägung allermaßgeblichen Gesichtspunkte sprechen wesentlich mehrArgumente gegen als für die geplante Zentralisierung inBerlin.
Darüber hinaus widersprechen die Pläne des HerrnSchily nicht nur Sinn und Zweck des Berlin/Bonn-Ge-setzes. Sie sind auch ein Schlag ins Gesicht aller Betrof-fenen, die den Standortgarantien geglaubt und sich hie-rauf auch in ihrer persönlichen Lebensplanung verlassenhaben.
Die Art und Weise, wie der Innenminister mit den be-troffenen Mitarbeitern umgeht, wie er sie vor gut einerWoche Knall auf Fall vor vollendete Tatsachen gestellthat, ist unerträglich. Das ist Politik nach Gutsherrenart,mit der man Mitarbeiter nicht motiviert, sondern völligdemoralisiert.
Genau das ist das Letzte, was wir uns in dieser höchstangespannten Sicherheitslage erlauben können. WennHerr Schily glaubt, mit Umzügen quer durch die Repu-blik und einer Zentralisierung in Berlin mehr Sicherheitproduzieren zu können, dann irrt er. Die Investitionen amneuen Standort, die Umzüge selber, aber auch die not-wendigen Sozialpläne werden viele Hundert MillionenEuro verschlingen. Angesichts der desolaten Finanzlagedes Bundes ist das ein völlig unverantwortliches Vorha-ben. Dieses Geld sollten wir lieber in eine optimale Aus-und Fortbildung der Mitarbeiter und in modernste Tech-nik zur Verbrechensbekämpfung investieren. Dann hät-ten wir tatsächlich einen Sicherheitsgewinn.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7479
(C)
(D)
Wolfgang Bosbach
Die Pläne des Innenministers führen nicht zu mehr Si-cherheit, sondern zu mehr Verunsicherung gerade derje-nigen, auf deren Engagement wir in ganz besondererWeise angewiesen sind. Wir brauchen keine verstärktepolitische Einflussnahme auf die Arbeit unserer Sicher-heitsbehörden. Sie allerdings – das muss ich zugeben –wäre in Berlin leichter möglich als an den StandortenWiesbaden oder Meckenheim.
Aber gerade das spricht nicht für, sondern ebenfalls ge-gen die geplante Zentralisierung.Mir kann keiner erklären, wieso es in einem Zeitaltermodernster Informations- und Kommunikationstechni-ken nicht möglich sein soll, die jetzige dezentrale undauch der föderalen Struktur unserer Bundesrepublik ent-sprechende Standortverteilung beizubehalten. In einemZeitalter, wo Informationen, Meinungen, Zahlen, Datenund Fakten in Sekundenbruchteilen rund um den ganzenGlobus gehen, soll es angeblich nicht mehr möglich sein,die dezentrale Struktur aufrechtzuerhalten. Stattdessensoll es nunmehr notwendig sein, die Sicherheitsbehördenhier in Berlin zu zentralisieren.Eine effiziente Sicherheitspolitik, Herr Minister, istnicht in erster Linie eine Frage des Standortes einer Be-hörde, sondern die Folge richtiger politischer Entschei-dungen. Deshalb fordern wir den Innenminister auf,seine fatale Fehlentscheidung zu korrigieren und seineUmzugs- und Zentralisierungspläne umgehend aufzuge-ben.Danke fürs Zuhören.
Das Wort hat nun der Kollege Frank Hofmann, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ehe-maliger Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes möchteich an dieser Stelle dem Bundeskriminalamt meinenDank abstatten. Der hohe Stellenwert, den das Bundes-kriminalamt in der nationalen und internationalen Krimi-nalitätsbekämpfung hat, hat zu einem entsprechend gu-ten Ruf geführt. Dies hat seine Ursachen in derKompetenz aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die-sen hohen Stellenwert hätte es nicht gehabt, wenn sieimmer nur Dienst nach Vorschrift gemacht hätten. Viel-mehr haben sie immer Dienst nach Sicherheitsbelangengemacht. Die Zahl der Überstunden, die jedes Jahr dortgeleistet werden, geht an die 200 000. Das zeigt, dasAmt ist motiviert.Die jeweilige Sicherheitslage stellt an die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter besondere Herausforderungen,die sie immer gemeistert haben. Sie haben sie auch im-mer bei Umzügen gemeistert. Sie wissen genau, dass dieAbteilung Terrorismus in den 70er-Jahren neu entstan-den und das Bundeskriminalamt mit dieser ausgebautworden ist, dass ein Umzug stattgefunden hat
und dass das Bundeskriminalamt immer wieder gute Ar-beit geleistet hat. Die wird es auch künftig leisten kön-nen.
Die dienstlichen Notwendigkeiten, verstärkt in Berlintätig zu werden, stehen außer Zweifel. Die Gewerkschaftder Polizei spricht von einigen Bereichen, die vonbesonderer politischer Bedeutung sind. Das heißt nichtPolitikberatung, sondern Unterstützung durch Politik,damit man international Fälle lösen kann, an denenDeutsche beteiligt sind. Ich erinnere an den Fall in derWüste von Algerien. Dazu ist es notwendig, dass man inBerlin arbeitet. Ich halte es für wichtig, das einzubezie-hen.
Es kann nicht alles beim Alten bleiben. Man muss aufdie Sicherheitslage, die Kosten und auch die sozialenBelange achten. Herr Bosbach,
Sie haben immer eine neue Sicherheitsarchitektur gefor-dert. Im Innenausschuss wird ständig davon gesprochen,ein Amt für Homeland Security möglicherweise auch inDeutschland einzurichten. Da ist alles unter einem Dach.Jetzt aber sagen Sie, alles müsse dezentral bleiben.
Sie betreiben Populismus. So kann es nicht gehen.
Den Zentralisierungswahn betreiben Sie mit dieser Si-cherheitsphilosophie. Wir versuchen, eine sachgerechtePolitik zu machen. Das gilt für auch unseren Minister.
Das Innenministerium hat in der Folge des11. September 2001 die Notwendigkeiten kriminalpoli-zeilicher Art aufgezeigt und besonnen reagiert. Diese be-sonnene Kriminal- und Sicherheitspolitik werden wirfortführen.
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Frank Hofmann
Für uns war die Kommunikation zwischen dem Ministe-rium und dem Bundestag schwierig. Es wäre sinnvollund hilfreich für uns gewesen, wenn eine bessere Kom-munikation bestanden hätte. Nachher sind wir aber alleschlauer.Wir stimmen dem Minister zu,
– Sie können überhaupt nicht zuhören –, dass es eine er-gebnisoffene Diskussion über die beste Antwort auf dieSicherheitslage geben muss.
Dies ist Aufgabe der Führung des Bundeskriminalamtesgemeinsam mit der Personalvertretung unter besondererBerücksichtigung der föderalen, finanziellen und sozia-len Aspekte.Verwunderung möchte ich gegenüber der Position derFDP zum Ausdruck bringen. In ihrem Antrag heißt es:Eine räumliche Umstrukturierung des Bundeskri-minalamtes zu diesem Zeitpunkt ist denkbar unge-eignet.Wenn Sie in den Plenarsaal schauen, dann stellen Siefest, dass die FDP vor allem durch Abgeordnete ausNRW und weniger durch Innenpolitiker vertreten ist.Die sitzen etwas weiter hinten.
Ich frage Sie: Wenn nicht jetzt, wann muss denn darübernachgedacht werden? Soll man erst warten, bis es zu ei-nem Anschlag in Deutschland kommt? Wir alle wissen,dann wird mit heißer Nadel gestrickt. Schnelligkeit gehtdann oftmals vor Sorgfalt. Nein, so geht es nicht.Heute können wir ergebnisoffen, ohne Sicherheitsein-bußen das Richtige tun. Das hat der Minister erkannt. Ichsehe es als gemeinsame Aufgabe des BMI, der Innenpo-litiker und der Fachleute im BKA an, alles zu tun, dasBundeskriminalamt so zu organisieren, dass auch künf-tig angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderun-gen eine gute Arbeit zum Schutz der Bevölkerung, zumSchutz der Bürgerinnen und Bürger geleistet werdenkann. Dazu bedarf es der Loyalität der Angehörigen desBundeskriminalamtes und der Fürsorgepflicht desDienstherrn. Darauf werden wir achten.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion erteile ich dem Kollegen
Dr. Max Stadler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! An meinem Tonfall werden Sie bemerken, dass ichaus Bayern komme und nicht aus Nordrhein-Westfalen.
Trotzdem sage ich: Das Bundeskriminalamt hat bisherhervorragende Arbeit geleistet. Das kann und soll sobleiben an den Standorten Meckenheim, Wiesbaden undBerlin.
Auch als Oppositionspartei hat die FDP die Politikdes Ministers Schily immer konstruktiv begleitet. Erstdiese Woche haben wir Ihnen zugestimmt, Herr Schily,und Ihnen Unterstützung für Ihre Pläne zur Modernisie-rung des öffentlichen Dienstes zugesagt. Die Unterstüt-zung kann sich aber nur auf vernünftige Entscheidungenbeziehen. Was den Umzug und die Zentralisierung desBundeskriminalamts anbelangt, melden wir entschiede-nen Widerspruch an.
Unser Widerspruch bezieht sich sowohl auf das Ver-fahren, wie die Entscheidung getroffen worden ist, alsauch auf den Inhalt der Entscheidung. Das Verfahrenwar ein Dekret von oben herab. Dieser Stil, ohne mit denBetreffenden zu sprechen und ohne sich mit dem Parla-ment ins Benehmen zu setzen, ist nicht akzeptabel, auchwenn es sich um eine Exekutiventscheidung des Minis-ters handelt.
Wer die besseren Argumente hat, kann von Anfang anoffen informieren und diskutieren. Das ist aber in diesemFall nicht geschehen.Herr Minister Schily, gestatten Sie mir eine kleine Po-lemik. Ihnen haftet seit vielen Jahren das Etikett der Tos-kanafraktion an;
ob zu Recht oder zu Unrecht, weiß ich nicht. Ich glaube,mit diesem Verfahren sind Sie leider – wenn auch zu Un-recht – auf dem besten Weg, noch einer anderen Assozi-ation Vorschub zu leisten, nämlich der Erinnerung anNiccolò Machiavelli, den Theoretiker der Machtpolitikaus der Renaissance. Ich glaube, eine solche Assoziationist nicht das, was Sie erstreben. Ich habe Sie bisher eherso verstanden, dass Sie sich gerne als ein Förderer derKünste und Wissenschaften wie Cosimo de’ Medici se-hen, der als Pater Patriae – Vater des Vaterlands – be-zeichnet wurde. Aber patriarchalische Entscheidungenpassen eben nicht mehr in die Moderne.
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Dr. Max StadlerIch komme zum Inhaltlichen: Wenn Sie die besserenArgumente gehabt hätten, dann hätten Sie, wie gesagt,offen über Ihr Vorhaben informieren können. Aber wasdie Arbeit des Bundeskriminalamts angeht, hat die Pra-xis auch nach dem 11. September gezeigt, dass die sichdurch die schwieriger gewordene Sicherheitslage erge-benden Herausforderungen gemeistert worden sind. In-folgedessen trägt derjenige, der für eine Verlegung desBundeskriminalamts nach Berlin plädiert, die Beweislastdafür, dass dieser Umzug und die damit verbundeneZentralisierung notwendig sind.
Wir sind schließlich nicht in der Situation, dass dieseBehörde neu zu schaffen und zunächst über ihren künfti-gen Standort zu entscheiden wäre. In diesem Fall hättedie Behörde ihren Sitz durchaus in Berlin bekommenkönnen. Aber die Behörde existiert bereits und sie arbei-tet erfolgreich. Wer ihren Sitz verlegen will, muss be-gründen, warum das zwingend erforderlich ist. Eine sol-che zwingende Notwendigkeit sehen wir nicht.
Darin liegt auch ein Unterschied zum Umzug desBundesnachrichtendienstes. Bei diesem konnte mandurchaus anderer Meinung sein. Aber – das wissenwahrscheinlich viele nicht – ein Großteil der Arbeit desBundeskriminalamts besteht nicht in der Beratung derBundesregierung, die vor Ort erfolgen muss. Vielmehrbesteht ein Großteil der Arbeit aus reiner Ermittlungstä-tigkeit und der Zusammenarbeit mit den Landespoli-zeien und mit Europol, die von jedem Standort in derBundesrepublik – das heißt, auch in Meckenheim oder inWiesbaden – mit demselben Erfolg geleistet werdenkann.
Der Begriff der Staatssicherheit, die nach Berlin kom-men soll, verleitet viele dazu, zu glauben, es gehe dabeium die Bewachung von Gebäuden, Regierungsbehördenund Ähnlichem. Dabei handelt es sich aber um nichts an-deres als die Aufklärung von terroristischen Aktivitätenund den Schutz vor terroristisch Anschlägen, die zur po-lizeilichen Ermittlungsarbeit gehören und auch in derZuständigkeit der Polizeien bleiben sollen.Ich möchte einen letzten Gesichtspunkt erwähnen.Zurzeit gibt es eine Föderalismuskommission, in der wirgemeinsam darüber diskutieren, welche zusätzlichenKompetenzen den Ländern eingeräumt werden sollen.Es bildet einen Widerspruch dazu, wenn eine dezentralarbeitende, bewährte Behörde – wenn auch eine Bundes-behörde – nach Berlin geholt werden soll. Dafür gibt eskeine Notwendigkeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Silke Stokar vonNeuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habegroßes Verständnis für die Proteste der BKA-Bedienste-ten, die es in den vergangenen Tagen auf Betriebsver-sammlungen und öffentlichen Demonstrationen gegebenhat. Ich wünsche von dieser Stelle aus viel Mut und vielErfolg für die am Samstag geplanten Demonstrationenan den Standorten. Wir, die Fraktion der Grünen, werdendas Unsrige dazu beitragen.
– Es ist doch schön, dass ich dem BKA einmal viel Er-folg für eine Demonstration wünsche; das hat doch auchetwas.So, wie die Umzugspläne für das BKA entwickeltwurden und wie sie den Bediensteten zur Kenntnis gege-ben wurden, kann man mit Menschen nicht umgehen.
Es ist insbesondere dieser Politikstil, den ich hier angrei-fen möchte. Wir, das Parlament, geben dem öffentlichenDienst sonst andere Botschaften. Wir sind der Meinung:Demokratie lebt von Beteiligung und einen modernenStaat kann man nur mit kreativen und kritischen Bürge-rinnen und Bürgern schaffen. Wir wollen den öffentli-chen Dienst modernisieren und reformieren. Dies ist nurmit offenen Diskussionen und offenen Konzepten mög-lich. Veränderungen dürfen in einem modernen Staatnicht von oben verordnet werden, sondern sie sollten ge-meinsam mit den betroffenen Mitarbeitern vorgenom-men werden. So stellen wir uns die Reform des öffent-lichen Dienstes vor. Ich verstehe deshalb sehr gut, dasserwachsene Menschen, die erst aus der Presse von denUmzugsplänen erfahren haben – der Umzug würde ei-nen tiefen Eingriff in ihre persönliche Lebensplanungbedeuten – und die eine hoch qualifizierte Arbeit leisten,auf den Betriebsversammlungen deutlich gemacht ha-ben: So lassen wir mit uns nicht umspringen!
Von dem Geheimplan „Umzug des BKA nach Berlin“haben auch wir, das Parlament, erst aus den Medien er-fahren. Die erste Überschrift, die ich im Flugzeug in ei-ner deutschen Zeitung gelesen habe, lautete: BKA ziehtfür 500 Millionen Euro nach Berlin um.
Welche politischen Botschaften sind das eigentlich, dieim neuen Jahr vermittelt werden sollen? Wie soll ichdenn die Sparpolitik, die ich in meinem Wahlkreis tapferverteidigt habe und die ich auch für richtig gehalten
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Silke Stokar von Neufornhabe – ich habe den Menschen gesagt, dass die öffentli-chen Kassen leer sind und dass wir kein Geld mehr fürdie Erfüllung wichtiger Bildungsaufgaben und sozialerAufgaben haben –,
weiterhin glaubwürdig vertreten, wenn man über dieMedien erfährt, dass offensichtlich 500 Millionen Euroübrig sind und ohne Beteiligung des Parlamentes einfachausgegeben werden sollen? Auch wir, die Fraktion derGrünen, lassen mit uns so nicht umspringen.
Wir halten das einen Tag vor der Sitzung des Innen-ausschusses vorgelegte Konzept für nicht hinreichendbegründet. Es hat keine Priorität. Wir kennen aus vielenanderen Ressorts nachvollziehbare Argumente für ge-wünschte Umzüge nach Berlin, die Ministerien betref-fen. Ich wünsche mir – auch das gehört zur Teamarbeitim Kabinett dazu –, dass wir ein Gesamtkonzept erarbei-ten. Für mich jedenfalls ist der Umzug von Teilen derMinisterien, die zwei Dienstsitze haben, nach Berlin ver-nünftig
und hat Priorität vor dem Umzug von Bundesämtern indie Hauptstadt.
Für mich ist das, was jetzt vorgeschlagen worden ist,ein verfehlter Start in das neue Jahr.
Ich kann den Innenminister nur bitten und auffordern,Folgendes zu beherzigen: Ergebnisoffen heißt für uns,von vorne zu beginnen und den Diskurs mit den Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern zu suchen. Ich habe bereitsmit einigen BKA-Bediensteten über das vorliegendeKonzept gesprochen und bin zu dem Schluss gekom-men, dass die sachlichen Einwendungen nachvollziehbarsind. Natürlich hat die Exekutive bestimmte Aufgabenzu erfüllen. Aber die Bereitstellung von Haushaltsmit-teln ist Aufgabe des Parlaments. Ohne parlamentarischeBeteiligung und ohne den Neubeginn einer Konzeptent-wicklung – vielleicht reicht es ja aus, wenn eine kleineEinheit von zusätzlich etwa 100 BKA-Bediensteten nachBerlin zieht – wird es keinen offenen Diskurs geben. Er-gebnisoffen heißt für mich aber nicht: Wir beruhigenjetzt die Gemüter, um später doch das zu machen, waswir in der Schublade haben.Danke schön.
Bevor ich der Kollegin Kristina Köhler für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort erteile, weise ich darauf hin,
dass die Redezeit von Mitgliedern des Hauses nach den
Bestimmungen unserer Geschäftsordnung weder durch
die Aufforderung „Aufhören!“ verkürzt noch durch die
Aufforderung „Zugabe!“ verlängert werden kann.
Bitte schön, Frau Köhler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! „In meinem Ministerium darf jeder das tun, wasich will.“ So tönte laut „Spiegel“ unser Bundesinnen-minister am vergangenen Montag in Bad Kissingen.
Mit derselben Selbstverständlichkeit eines absolutisti-schen Herrschers verfahren Sie auch mit den Beamtendes BKA, frei nach der Devise: Das BKA bin ich.Noch nicht einmal Ihre eigene Kabinettskollegin, dieWiesbadener Abgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul,zu informieren hielten Sie für nötig, geschweige denndie örtlichen MdBs, andere Abgeordnete oder die Innen-politiker der eigenen Partei, der SPD. Ich frage mich, obdie Tatsache, dass der Herr Wiefelspütz mittlerweile beiden Grünen sitzt, schon eine erste Konsequenz darausist.
Politischer Stil ist offensichtlich keine Stärke unseresBundesinnenministers. Was aber viel schwerer wiegt, ist,dass die getroffene Entscheidung einer Kosten-Nutzen-Analyse nicht standhält und dass der Bundesinnenminis-ter zu einer solchen Kosten-Nutzen-Analyse – zumindestbisher – offensichtlich auch nicht bereit war. In IhrenStellungnahmen, Herr Bundesinnenminister, gehen Sienämlich ausschließlich auf den vermeintlichen Nutzenein. Man muss aber, wenn man eine Entscheidung trifft,immer Nutzen und Kosten bedenken und man darf nurdann handeln, wenn der Nutzen die Höhe der Kostenübersteigt; ansonsten ist eine solche Veranstaltung nichtzu rechtfertigen.Zum Nutzen möchte ich nur Folgendes sagen – HerrBosbach hat dazu schon einiges ausgeführt –: Sie glau-ben, dass die Bündelung mehrerer Behörden in einerStadt zu einer effizienteren Zusammenarbeit führt. Dasmag vor 20 Jahren ein gewichtiges Argument gewe-sen sein. In einer Zeit aber, in der es schneller geht,eine E-Mail von Meckenheim nach Berlin zu schicken,als vom ersten in den zweiten Stock zu laufen, gilt ein
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Kristina Köhler
solches Argument nur noch sehr begrenzt, Herr Innen-minister.
So viel zu dem Nutzen.Kommen wir nun zu den Kosten, von denen bei Ihnenkeine Rede ist.Erstens. Die Höhe der direkten finanziellen Kostenliegt bei 600 Millionen Euro. Diese Summe würde zurTerrorismusbekämpfung wesentlich mehr beitragen,wenn man sie beispielsweise in die dringend benötigteAusstattung der Polizei mit digitalen Kommunikations-mitteln und nicht in einen Umzug investierte.
Zweitens. In eine Kosten-Nutzen-Analyse einfließenmüssen selbstverständlich auch die sozialen Kosten.2 000 Mitarbeiter und ihre Familien müssen ihr sozialesUmfeld verlassen und nach Berlin ziehen. Pikant ist bei-spielsweise, dass in Wiesbaden noch vor zwei JahrenBKA-eigene Wohnungen privatisiert und den BKA-Mit-arbeitern zum Kauf wärmstens empfohlen wurden. Jetzt,zwei Jahre später, heißt es eben: Ab nach Berlin!Fast alle Mitarbeiter sind darüber verzweifelt. Ich lesemit Erlaubnis des Herrn Präsidenten nur zwei Sätze ausden zahlreichen Briefen vor, die mich in den letzten Ta-gen erreicht haben:Die Stimmung in dieser Behörde ist kaum zu be-schreiben. Gestandenen Kriminalbeamten treibt esbei diesem Thema die Tränen in die Augen.Herr Bundesinnenminister, wie motiviert werden dieseMitarbeiter in den nächsten Jahren sein?
Drittens – dieser Punkt gehört ebenfalls auf die Kos-tenseite –: der Verlust an Motivation und Kompetenz.Vor allen Dingen ältere und erfahrene Mitarbeiter wer-den über Härtefallregelungen einen Umzug nach Berlinvermeiden können. Unsere BKA-Beamten sind so gut,dass sich die freie Wirtschaft sehr um sie bemühen wird.Von heute auf morgen werden dem BKA also eineMenge hochkompetenter Kräfte verloren gehen. HerrMinister, auch das können wir uns zurzeit nicht leisten.Viertens: die sicherheitspolitischen Kosten. Durch ei-nen Umzug wird die Sicherheit in Deutschland bis 2008schwer beeinträchtigt.
– Ist ja gut!
Statt islamische Terroristen aufzuspüren oder die or-ganisierte Kriminalität zu bekämpfen werden die Mitar-beiter damit beschäftigt sein, Umzugskisten ein- undauszupacken, neue Mitarbeiter einzuarbeiten und sichmit den neuen Strukturen vertraut zu machen. Auch daskönnen wir nicht verantworten.
Um eines klarzustellen: Niemand verschließt sichnotwendigen strukturellen und organisatorischen Verän-derungen
– wenn Sie das scheinheilig finden, ist das Ihre Sache;die 2 000 Mitarbeiter finden das, glaube ich, nichtscheinheilig –, aber ein Umzug, der 600 Millionen Eurokostet, der den Umzug von 2 000 Mitarbeitern und Fa-milien bedeutet, der die Arbeit des BKA beeinträchtigenwird und der mit einem kaum verkraftbaren Kompetenz-verlust verbunden sein wird, ist eindeutig überdimensio-niert. Die Kosten stehen in keinem vernünftigen Verhält-nis zu dem Nutzen. Deswegen appelliere ich an Sie, HerrBundesinnenminister: Nehmen Sie diese unsinnige Ent-scheidung zurück!
Das Wort hat nun der Kollege Gerold Reichenbach,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Köhler, es fehlt meines Erachtens ein biss-chen an Glaubwürdigkeit,
wenn die Szenarien, die Sie eben zu Recht beschriebenhaben, nun ausgerechnet aus einer Fraktion kommen, diebei jeder Talkshow immer mehr Flexibilität von Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern einfordert. Es sindnicht Sozialdemokraten, die dies so tun.
Ich gestehe Ihnen zu: Grundlage muss eine ausführ-liche Kosten-Nutzen-Analyse sein. Aber genau das, wasSie dem Minister vorwerfen, haben Sie gemacht. Sie ha-ben sozusagen per Schreiben einer Rede Ihre Kosten-Nutzen-Analyse auf die Größe von Umzugskartons undauf die Behauptung reduziert, dass so komplizierte Dingewie Organisation von Fahndung und Kommunikation in
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Gerold Reichenbacheinem schwierigen Erkenntnisgewinnungs- und Fahn-dungsprozess auf E-Mail-Format zu reduzieren wären.Das ist nicht so und das wissen auch alle.Es ist unbestritten, übrigens auch beim Personalrat,dass es einer stärkeren Verzahnung am Standort Berlinbedarf. Es ist unbestritten, übrigens auch in Ihren Rei-hen, Herr Bosbach, jedenfalls immer dann, wenn es umdie Theorie geht, dass es aufgrund der veränderten Si-cherheitslage – das ist keine Kritik an den bestehendenfunktionierenden Strukturen; es geht darum, dass wiruns an geänderte Bedingungen anpassen müssen – einerstärkeren Verzahnung bedarf.
Nun wird dieser Prüfungsprozess eingeleitet. Auchmir wäre es lieber gewesen, wenn die Art und Weise derInformation eine andere gewesen wäre; da spreche ichauch für meine hessischen Kollegen. Wenn Sie sich hieraber hinstellen und kritisieren – hier sitzt auch der Innen-minister Bouffier –, dann muss ich Ihnen sagen: Ichhätte mir gewünscht, dass Sie und Ihre hessischen Kolle-gen die Maßstäbe, die Sie hier propagiert haben, bei derUmstrukturierung der hessischen Ämter – dabei geht esebenfalls um Tausende von Beschäftigten; da werden6 000 Plätze abgebaut –
an sich selber angelegt hätten.
Dort verteidigen Sie die Gutsherrnart des Innenminis-ters. Viele Betroffene haben es morgens aus dem Internetoder per E-Mail erfahren oder wurden von der Presse an-gerufen.
Ihre Worte in allen Ehren, aber die Glaubwürdigkeitfehlt; denn dort, wo Sie selbst den Innenminister stellen,praktizieren Sie genau das Gegenteil.
– Herr Bosbach, hören Sie doch mit dem Dazwischenru-fen auf! Das dürfen Sie bei Frau Christiansen. Da be-kommen Sie mehr Aufmerksamkeit. Das geht hier imParlament nicht.
– Wenn Sie auf dem Niveau agieren, dann haben Sieschlechte Argumente.Es ist unbestritten, dass bei solchen Umstrukturie-rungsprozessen aus sozialpolitischen Gründen eine Für-sorgepflicht gegenüber dem Personal besteht. Daraufwerden wir als Sozialdemokraten auch achten. Es gibtFamilien, die da gebunden sind. Es gibt Menschen, dieHäuser haben. Es gibt Partnerschaften und Ehen, in de-nen auch der Partner beruflich eingebunden ist, sodassman nicht so einfach verlagern kann. Davon unberührtbleibt die Tatsache, dass es eine Residenzpflicht gibt.
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch die fach-liche Seite in die Abwägung einbeziehen. Auch wennman mit sicherheitsfachlichen Aspekten argumentiert,muss bei einem Umstrukturierungsprozess, wenn erdenn nötig ist, auch darauf geachtet werden – da habenSie Recht –, ob wirklich jeder Arbeitsplatz aus Sicher-heitsgründen verlagert oder anders vernetzt werden mussoder ob nach der Kosten-Nutzen-Analyse auch im Sinnedessen, was hier gesagt worden ist – Motivation, Rei-bungsverluste – die Entscheidung umgekehrt ausfallenmuss. Das gestehen wir zu. Aber in diesen Prozess musseingetreten werden. Der Minister hat ausdrücklich zuge-sagt, dass er diesen Prozess einleitet und von Anfang andurchführt.In diesem Sinne werden auch wir um jeden Arbeits-platz kämpfen und nachhaken, ob es wirklich notwendigist, ihn zu verlagern. In diesem Sinne werden wir dafürkämpfen, dass möglichst viele Arbeitsplätze in Wiesba-den bleiben. Wir stellen uns aber nicht hier hin und beur-teilen dies schon anhand der Größe von Umzugskartonsund der Menge der E-Mails.Die außerdem aus Wiesbaden zu hörende Argumenta-tion – der hessische Innenminister hat dies ja auch ge-sagt –, dass dies nur der Einstieg in den Ausstieg sei undeine Gesamtverlagerung stattfinde, entbehrt jeglicherGrundlage. Am Standort Wiesbaden wird nicht gerütteltwerden. Das können Sie allein daran sehen, dass für70 Millionen Euro ein Neubau für die kriminaltechni-sche Abteilung am Standort Wiesbaden errichtet wird.Das heißt, dass Wiesbaden auch weiterhin ein wichtigerStandort des Bundeskriminalamtes bleiben wird.
Wir sind dankbar, dass der Minister dies deutlich ge-macht hat.Wir werden den weiteren Prozess mit den Personal-vertretungen und mit anderen begleiten und fachlich ge-nau die Abwägung treffen, die Sie eingefordert, aber of-fensichtlich schon längst auf einer weniger fachlichenEbene getroffen haben.
Das mag politisch legitim sein. Ich sage Ihnen nicht nuraus Gründen der Fürsorgepflicht, sondern auch ausGründen der Sicherheit dieses Vorgehen zu. Ich kannIhnen versichern, dass meine Kollegin HeidemarieWieczorek-Zeul und die anderen hessischen Kollegen– Sie fragten ja danach – natürlich auch mit den hessi-schen Landtagskollegen dafür kämpfen und sich weiter-hin dafür einsetzen werden, dass der Hauptsitz in Wies-baden bleibt. Das sind wir unserem Selbstverständnis alshessische Wahlkreisabgeordnete auch schuldig. Für unsgibt es hier aber nicht wie für Sie nur ein alles odernichts, sondern wir wollen ernsthaft, ehrlich und ergeb-nisoffen prüfen.
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Gerold ReichenbachErgebnisoffenheit muss vor diesem Hintergrund für unsalle gelten. Das heißt natürlich auch, dass wir in diesenProzess die Interessen des Standortes einbringen. Dasgilt sowohl für mich wie auch für HeidemarieWieczorek-Zeul. Da können Sie sicher sein, FrauKöhler.
Das Wort hat nun der Kollege Professor Pinkwart,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die FDP-Bundestagsfraktion spricht sich gegenden von Bundesinnenminister Otto Schily geplantenUmzug des Bundeskriminalamtes von Wiesbaden undMeckenheim nach Berlin aus. Die Planungen, meine Da-men und Herren – das haben die Redebeiträge ja ein-drucksvoll gezeigt –, wurden dilettantisch vorbereitet,sind sachlich nicht geboten, finanziell untragbar, demoti-vierend für die Mitarbeiter und mit dem Prinzip der de-zentralen Aufgabenwahrnehmung in unserem föderalenGemeinwesen nicht vereinbar.
Meine Damen und Herren, innere Sicherheit ist ge-rade in Zeiten weltumspannenden Terrorismus ein hohesGut.
Wesentlicher Erfolgsfaktor für Sicherheit sind motivierteSicherheitskräfte. Voraussetzung für Motivation ist dasVertrauen der Bediensteten in die Führung. Herr Schily,Ihr Haus hat mit den Geheimplänen zur Verlagerung desBKA ohne Not genau dieses Vertrauen der Beamtinnenund Beamten grob fahrlässig aufs Spiel gesetzt.
Ich zitiere hierzu Herrn Zachert, Ex-BKA-Chef:Jetzt wird aber ohne angemessene Rückkopplungmit der Belegschaft, quasi in einer Hauruck-Aktion,nach Berlin gestartet, die Verwerfungen und be-triebsinterne Störungen zum Beispiel im dienstli-chen Arbeitsablauf nach sich ziehen wird. Und diesin einer höchst sicherheitsempfindlichen Zeit.Ich darf in dem Zitat fortfahren:Wer das Amt kennt, weiß, dass eine Mannschaft,die mit existenziellen Sorgen und familiären Pro-blemen zu tun hat, den Kopf für einen bedingungs-losen Einsatz bei der Terrorismusbekämpfung nichtfrei hat.Damit ist doch klar – das wurde gerade auch im Haus-haltsausschuss deutlich, in dessen Sitzung Herr Schilyfreundlicherweise einige Antworten gegeben hat –: Si-cherheitsfragen gehen vor Standortfragen. Aber dannmuss eben auch der klare Beweis erbracht werden, dassein derartiger Umzug, wie er hier offensichtlich im Hau-ruck-Verfahren geplant wird, mehr Sicherheit bringt, alswir sie gegenwärtig – in der bisherigen Struktur – in die-sem Lande vorfinden. Genau diesen Beweis haben Sienicht vorgelegt, Herr Schily, auch nicht im Haushalts-ausschuss.
Wir wissen, dass die überwiegende Mehrzahl der Mit-arbeiter – rund 80 Prozent – an den genannten Standor-ten, auch in Meckenheim, bundesweit flächendeckendeErmittlungsarbeiten durchführen. Das heißt, sie könnensie von allen Standorten aus durchführen. Das Entschei-dende ist, dass eine hinreichende Koordination aller fürSicherheitsfragen zuständigen Institutionen in diesemLand sichergestellt ist. Dabei geht es nicht nur um dasBMI. Es geht auch und insbesondere, wie Herr Zachertdargelegt hat, um den Generalbundesanwalt und andereEinrichtungen der inneren Sicherheit. Auch andere Län-der, die sehr zentral organisiert sind, haben in den letztenJahren keinen zwingenden Beweis dafür geliefert, dassdie Zentralität von Einrichtungen mehr Sicherheit bringt.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Bundesregie-rung, unterstützt durch die Opposition, hat in den letztenJahren für sich in Anspruch genommen – ich denke, zuRecht –, dass in Deutschland alles für die innere Sicher-heit geleistet worden ist, dank der hochmotivierten Mit-arbeiter auch mit großem Erfolg.
Herr Schily, Sie haben für Ihr Vorhaben auch imHaushaltsausschuss in keiner Weise Kosten konkretisie-ren können, obwohl schon ein halbes Jahr an allen Be-troffenen vorbei geplant worden ist. Ich sage hier: WennSie nach einer halbjährigen Planung weder den Nutzenhinreichend präzisieren können noch die Kosten quanti-fizieren können, dann handelt es sich hier nicht nur umeinen Geheimplan, sondern letztlich nur um eine unaus-gegorene Planung. Diese unausgegorene Planung hat nureines, was für sie spricht: Man kann sie ganz schnellwieder in die Schublade legen, Herr Schily.
Dazu fordern wir Sie hiermit auf. Denn es gibt weder ei-nen klar belegten Nutzen noch sind die Kosten geklärtnoch ist klar, wie die Mitarbeiter bei einem solchen Um-zug, der sich über einen langen Zeitraum hinzieht, moti-viert für Sicherheit in diesem Land sorgen sollen.Nehmen Sie diese Pläne vom Tisch! Hören Sie aufdas, was von allen Fraktionen hier gesagt worden ist!Tragen Sie weiterhin dazu bei, vernünftig für Sicherheitin diesem Land zu sorgen!
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Loske,Bündnis 90/Die Grünen.
Einstweilen müssen Sie noch mit mir vorlieb nehmen,lieber Kollege.Herr Präsident! Ich spreche hier natürlich für mich;das ist vollkommen klar. Aber ich gebe zu – um die Kar-ten offen auf den Tisch zu legen –: Ich komme aus Nord-rhein-Westfalen und Meckenheim ist von dem Ort, andem ich lebe, nicht mehr als 15 Kilometer entfernt.
– Keine Schande; das finde ich allerdings auch.Ich möchte in meiner Rede drei Fragen aufwerfen undversuchen, sie auf der Basis unseres heutigen Kenntnis-standes zu beantworten: Ist der BKA-Umzug sachlichgeboten? Ist er finanziell vertretbar, ist also die Kosten-Nutzen-Analyse, von der schon so viel die Rede war,ausgewogen? Ist der Umzug mit dem Prinzip der Dezen-tralität – oder, wie es gerade hieß, mit dem Prinzip derdezentralen Aufgabenwahrnehmung – von Bundesbe-hörden vereinbar? Das sind die drei Fragen, die uns inte-ressieren sollten.Bevor ich zu diesen Fragen im Einzelnen komme,will ich ein paar Worte zum Verfahren sagen und einedeutliche Kritik zum Ausdruck bringen. Es ist für uns alsParlamentarier nicht akzeptabel, von derart weitreichen-den Entscheidungen aus der Zeitung zu erfahren. Dahätte ich mir vom Innenminister schon mehr Offenheiterwartet.
Obwohl ich mir nicht anmaßen will, für die BKA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sprechen – wiekäme ich dazu? –, bin ich doch der Meinung, dass BKA-Präsident Kersten gut daran getan hätte, mit den Perso-nalräten vorher darüber zu sprechen statt nachher. So,wie es geschehen ist, ist das kein besonders guter Stil;das muss man einmal ganz klar sagen.
Zu den Fragen im Einzelnen: Ist der BKA-Umzug vonder Sache her geboten? Ist er finanziell vertretbar? Ist ermit dem Prinzip der dezentralen Aufgabenwahrnehmungvereinbar? Vom BMI wird argumentiert – das werden wirgleich vom Herrn Minister selber noch hören –, die Kon-zentration der drei Standorte auf einen, nämlich Berlin,sei im Wesentlichen geboten, um den Abstimmungsauf-wand zu reduzieren und personalwirtschaftliche Hand-lungsspielräume zu gewinnen. Das habe ich jedenfalls sogelesen.Die Frage ist, ob diese Argumente wirklich stichhaltigsind. Wir meinen: nein. Das BKA arbeitet mit dem Bun-desinnenministerium in Berlin und in Bonn, mit demGeneralbundesanwalt in Karlsruhe und mit den Polizei-behörden der Länder zusammen. Wiesbaden undMeckenheim liegen da ziemlich genau in der Mitte. Ausgeographischen Gründen und aus Gründen der Koopera-tion – das gilt erst recht im Zeitalter des Internets – istnicht zwingend nachvollziehbar, warum ein Komplett-umzug stattfinden soll.
Im Gegenteil: Man kann sogar argumentieren, dass einegewisse Distanz zum Machtzentrum Berlin höchst ver-nünftig ist.Darüber, ob die aktuelle Bedrohungslage einen Um-zug nach Berlin nahe legt oder eher die volle Konzentra-tion auf die anstehenden Aufgaben sinnvoll ist, kannman sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Aber dieLebenserfahrung zeigt, dass bei einem Umzug die Kraftund die Aufmerksamkeit mehr auf den Umzug als aufandere Dinge gelenkt wird. Wer auf der Umzugskistesitzt, der kann sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren.Das ist eigentlich eine triviale Feststellung.
In Meckenheim und in Wiesbaden wird gut gearbeitet.Ein Umzug wäre daher – das kann man ohne weiteres sa-gen – nicht unbedingt motivationsfördernd. Das sehennicht nur die Personalräte und die Gewerkschaft der Po-lizei so, sondern auch wir.Bleibt die dritte und letzte Frage, nämlich die Fragenach den Kosten. Exakte Zahlen sind bislang nicht be-kannt. Das Innenministerium hat, soweit ich weiß, keineeigenen Zahlen präsentiert. Der Presse war zu entneh-men, die Kosten würden sich auf etwa eine halbe Mil-liarde Euro belaufen. Das ist eine Menge Holz. Manmuss sich schon fragen, wofür man das Geld in diesenZeiten ausgibt. Uns fallen in der Tat andere Dinge ein,zum Beispiel die Integration von Zuwanderern. In Berlin– das ist ein weiteres Beispiel – streiken die Studenten,weil den Berliner Universitäten jedes Jahr 70 MillionenEuro fehlen. Mit dieser halben Milliarde Euro könntenwir sieben Jahre lang diese Defizite ausgleichen. Daswäre doch auch ein schönes Ziel.
Ich fasse meine Argumente zusammen. Uns leuchtetder Komplettumzug des BKA nach Berlin nicht ein.Zwingende Gründe für diesen Umzug können wir nichterkennen. Im Gegenteil: Wir sehen in dem geplantenUmzug eher Nachteile, vor allen Dingen Nachteile fürdie betroffenen Regionen. Wir fordern den Bundesin-nenminister deshalb auf, die Planung entweder zurück-zunehmen oder bessere Argumente vorzulegen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7487
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(D)
Dr. Reinhard Loske
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Minister, Sie haben eine ergebnisoffene Prü-fung zugesagt.
Wir nehmen Sie beim Wort und nehmen Ihre Ankündi-gung ernst.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es keine Nie-derlage ist, wenn man sich korrigiert und durch Argu-mente zu einer anderen Einsicht und Meinung kommt.
– Es wäre etwas Neues. Aber es würde von meiner Seitekeine Häme geben. Im Dienste der Sache setzen wir da-rauf, dass Sie Argumenten zugänglich sind.
Auch wenn es schwer fällt – man muss sich diszipli-nieren –, will ich in den fünf Minuten meiner Rede indieser Debatte meine Argumente ohne Schärfe vortra-gen. Darin liegt die Chance, eine andere Entscheidungim Innenministerium zu bewirken.Ich möchte zunächst über den Maßstab der Entschei-dung sprechen; es sind diesbezüglich schon viele Ge-sichtspunkte angeführt worden. Ich finde, der Maßstabdieser Entscheidung sind die Sicherheitserfordernisseder Bundesrepublik Deutschland.
Das ist der Maßstab, mit dem die Entscheidung beurteiltwerden muss.
Allerdings wird diese Frage nicht abstrakt „Wenn esnoch kein Bundeskriminalamt gäbe, wären wir dann derAuffassung, dass der richtige Standort Meckenheim,Wiesbaden oder Berlin wäre?“ gestellt. Aus föderalenund funktionellen Gründen wäre ich der Auffassung,dass eine Zentralisierung falsch wäre. Aber das ist einetheoretisch-abstrakte Frage und nicht die konkreteFrage, die Sie zu beantworten haben.Wir haben, wie Sie, Herr Bundesinnenminister, selbstsagen, ein exzellent funktionierendes Bundeskriminal-amt. Es stellt sich also nicht die abstrakte Frage „Wennes noch kein Bundeskriminalamt gäbe, wo würden wires ansiedeln?“, sondern die konkrete Frage „Was bringtder Umzug, mit dem eine Zentralisierung verbunden ist,und was bedeutet er für die Aufgabenerfüllung des Bun-deskriminalamts?“. Dabei muss man die Situation be-rücksichtigen, die nicht nur durch die Entscheidungselbst, sondern auch durch den Stil der Entscheidungs-findung und der Entscheidungsverkündung hervorgeru-fen wurde. Meine These ist, dass dieser Umzug – nachmeiner Ansicht kann man das auf diesen Punkt reduzie-ren – eine Schwächung des Bundeskriminalamtes unddamit eine Schwächung der inneren Sicherheit inDeutschland bedeuten würde.
Ich möchte dafür einige Gründe nennen:
Es wird beim Bundeskriminalamt – dort arbeiten kompe-tente Experten – einen Aderlass geben.
Viele von ihnen – gerade die besten – aus den wirt-schaftsstarken Regionen Köln/Bonn und Rhein-Mainwerden diesen Umzug nicht mitmachen. Sie werden indiesen Regionen eine andere berufliche Perspektive fin-den.Sie werden Jahre brauchen – das sage ich Ihnen ausder Erfahrung mit Umzügen auch in die andere Rich-tung –, bis Sie das Expertenwissen, die Fähigkeiten unddie Kompetenz dieser erfahrenen Polizisten wieder beineuen Kräfte aufgebaut haben. Sie werden das Bundes-kriminalamt über Jahre schwächen.
Die jetzige Entscheidung und deren Stil haben dieMotivation im Bundeskriminalamt auf den Nullpunktgebracht. Darüber werden sicherlich auch Sie sich nichtfreuen. Ich glaube, auch Sie werden in Ihrer bisherigenAmtszeit und darüber hinaus nicht erlebt haben, dass derAmtsleitung einer Behörde – hier einer Sicherheitsbe-hörde – in der Breite sowie drastisch und eindeutig arti-kuliert von der Belegschaft das Vertrauen entzogen wor-den ist.
Es ist ein einzigartiger Fall, wenn Polizisten, Expertenund Beamte, die alle ihre Pflichten kennen, in der Öf-fentlichkeit erklären: Wir entziehen der Amtsleitung desBundeskriminalamtes das Vertrauen. – Dieses Desasterhaben Sie angerichtet.Wenn Sie in dieser konkreten Situation – ich sprechenicht von abstrakten Fragestellungen – mit dem Kopfdurch die Wand wollen, dann werden Sie die angerichtete
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Dr. Norbert RöttgenDemotivierung ebenfalls über Jahre hinweg fortsetzenbzw. perpetuieren. Dies ist eine Schwächung des Bun-deskriminalamtes in einer angespannten Sicherheits- undBedrohungslage. Das ist nicht zu verantworten.
Ein weiteres Argument stimmt: Wenn es zu einemUmzug von 2 000 Beschäftigten kommt – bei Einzelnenfallen die Belastungen des Umzuges nicht auf –, dannwird sich dies ebenfalls auf die Funktionsfähigkeit desAmtes auswirken. Wenn eine so hohe Zahl von Beschäf-tigten nicht den Kopf frei hat, sondern mit dem Umzug,dem Hausverkauf, dem Schulwechsel der Kinder unddem Berufswechsel des Ehepartners beschäftigt ist,wenn das also ein Massenphänomen ist, schwächt dasdie Funktionsfähigkeit.
– Ich spreche gerade von Erfahrungen aus Behördenum-zügen in die andere Richtung. Nehmen wir diese Erfah-rungen doch auf! – Auch das ist also eine Belastung imHinblick auf die Funktionsfähigkeit des Bundeskrimi-nalamtes.
Ich komme zum letzten Punkt – er ist schon häufigergenannt worden –: Der Umzug kostet rund eine halbeMilliarde Euro. Das sind über 1 Milliarde DM; dieserBetrag ist für die Menschen noch immer plastischer. Siekönnen dieses Geld nicht durch Verschuldung aufbrin-gen, sondern nur dadurch, dass Sie es aus der Investitionin die materielle Sicherheit abzweigen. Das ist nicht ver-antwortbar im Hinblick auf die materielle Sicherheit undden überschuldeten Haushalt und nicht veranwortbar ge-genüber den Beamten und der Bevölkerung. Den Beam-ten wird das Weihnachtsgeld gekürzt und das Urlaubs-geld gestrichen; auch bei den Bürgern werdenLeistungen gekürzt.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss –
Das müsste er eigentlich sein.
– er ist es auch –: Herr Minister Schily, Sie haben
schriftlich geantwortet. Das Bundeskriminalamt mit sei-
nen mehr als 5 000 Mitarbeitern gehört zu den effektivs-
ten Sicherheitsbehörden. Als Teil der Bundespolizei ge-
nießt es national und international hohe Anerkennung.
Wir sind der Auffassung – das ist die tragende Begrün-
dung –: Nur wenn dieser Umzug unterbleibt, wird das
BKA das bleiben, was es ist: eine effektive Sicherheits-
behörde mit internationaler Anerkennung. Darum sollten
Sie Ihre Haltung korrigieren.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael
Hartmann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Nach diesem Weltuntergangsszenario, das uns Kol-lege Röttgen eben an die Wand gemalt hat, ist es viel-leicht gut und richtig, deutlich darauf hinzuweisen, dassdas Bundeskriminalamt mit seinen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern in schwierigen Lagen und auch in der Situ-ation eines Umzugs einen hervorragenden und engagier-ten Dienst für die innere Sicherheit leistet. Sie könnendoch nicht unterstellen, dass deren Motivation ver-schwunden ist, nur weil ein Umzug stattfindet. Dafürsind die Leute dort viel zu gut!
Die Belastungen sind nach dem 11. September 2001noch größer geworden. Die Situation ist nicht einfacherund die Arbeit der Menschen dort ist auch nicht unge-fährlicher geworden. Deshalb haben wir, den Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern des Bundeskriminalamtes zu-nächst einmal Dank zu sagen. Ich hoffe, dass uns das beiallem Streit, den wir heute führen, eint.Wenn wir diesen Dank aussprechen, müssen wir unsbewusst machen, dass jede Entscheidung, die getroffenwird, – das geht an beide Seiten des Hauses – sehr sorg-fältig abgewogen werden muss und dass wir pfleglichmit dem Vertrauen umgehen müssen, das uns übertragenwurde. Deshalb war es vielleicht vonseiten der Opposi-tion nicht immer glücklich und richtig, so zu argumen-tieren, wie es geschehen ist. Es ist nicht verantwortungs-voll, in einer zweifelsohne schwierigen Situation Öl insFeuer zu gießen, statt eine sachliche Debatte zu führen.
Wir haben sauber und klar abzuwägen. Das bedeutet,dass ein Zitat von Ihnen, Herr Kollege Stadler, richtigwar. Machiavelli ist mit Recht ein höchst umstrittenerpolitischer Philosoph. Aber er hat gesagt, dass zur Siche-rung und Gewährung des innergesellschaftlichen Frie-dens ein funktionierender Staat mit einer funktionieren-den Polizei notwendig ist. Diese Motivation treibt denInnenminister bei seiner Entscheidung an, die er jetzt ausseiner Organisationshoheit heraus getroffen hat.Wir haben natürlich auf der einen Seite genau zu ge-wichten, wie es den Menschen geht, die im Bundeskri-minalamt beschäftigt sind, deren Familien in der Region
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Michael Hartmann
wohnen – ob nun in Meckenheim oder in Wiesbaden –,die ihr Häuschen gebaut haben, die dort in Vereinen en-gagiert sind, die dort ihre Kinder in die Schule schickenetc. Das muss geschehen. Aber auf der anderen Seite istin Rechnung zu stellen, welchen Status dies hat in einerSituation, in der die Herausforderung durch den interna-tionalen Terrorismus, durch die organisierte Kriminalitätund vieles andere mehr so groß ist wie noch nie. Vor die-sem Hintergrund kommen wir zu dem Ergebnis, dass soviel Umzug wie nötig erfolgen muss und dass so viel anden Standorten bleiben muss, wie möglich ist. Das istunsere Devise.
– Das heißt – ich beantworte das gern, Herr Bosbach –,dass kein Mensch gesagt hat – der Bundesinnenministernicht, die SPD-Fraktion nicht, lokale Kolleginnen undKollegen nicht –, dass der Standort Wiesbaden völligzerschlagen werden soll. Eine ganze Menge bleibt da.Wenn der Bundesinnenminister gelegentlich kritisiertwird, er sei gar keiner Argumentation und gar keinem ra-tionalen Diskurs zugänglich, so beweist gerade das, wasin diesen Tagen geschehen ist, das Gegenteil. Denn OttoSchily war gestern in Meckenheim und in Höchst, ummit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Wiesbadenzu reden. Man hört ja auf Ihrer Seite gern nur das, wasman hören möchte. Ich habe heute mehrfach mit Kolle-ginnen und Kollegen, die dort arbeiten, gesprochen. Diehaben gesagt: Otto Schily hat eine prima Figur abgege-ben, ist auf unsere Argumente eingegangen und ist be-reit, alles auf den Prüfstand zu stellen, was notwendigist, um das Ganze sozialverträglich abzufedern.
In dieser Manier soll weiter verfahren werden.
Sie, Herr Bosbach haben im Übrigen angedeutet– wenn auch nur versteckt in einem Nebensatz gleich zuBeginn der Debatte –, dass es durchaus gute Gründegibt, eine Verlagerung vorzunehmen. Tatsächlich gibt esdie. So schön es auch mit E-Mail und Videokonferenzenist; auch in Ihren Reihen sitzen genügend Polizeiprakti-ker und -taktiker, die genau wissen, dass man in bestim-men Situationen durch keine Videokonferenz und durchkeine E-Mail das ersetzen kann, was notwendig ist,wenn eine Gefahrensituation auf internationaler Ebeneabgewehrt werden muss. Dann muss man miteinanderreden, an einem Tisch sitzen und diplomatische Ver-handlungen führen. Das geht nicht elektronisch. Das istmoderne Kriminalpolitik!
Wir sollten uns darauf verständigen, dieses Feinkon-zept, das uns der Minister vorlegen wird, genau anzuse-hen. Wir als SPD-Fraktion wollen das engagiert und of-fensiv begleiten.
Außerdem wollen wir dafür sorgen, dass die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter anständig behandelt werden. Ichdarf in Richtung der Kollegin Wieczorek-Zeul als Main-zer Abgeordneter sagen – die Rivalität zwischen denStädten ist ja bekannt –: Wir wollen, dass das BKA auchweiterhin in Wiesbaden steht.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ralf Göbel, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Der Kollege Hartmann hat eben aus seinerSicht überzeugend begründet, warum der Umzug not-wendig ist.
Ich empfehle dem Kollegen Hartmann, den gleichenVortrag vor dem Kabinett von Ministerpräsident Beck zuhalten, der gestern mit seinem gesamten Kabinett diesenUmzug als völlig überflüssig bezeichnet hat. Damitkönnten Sie der Landesregierung von Rheinland-Pfalzein bisschen nachhelfen.
Der Umgang des Ministers Schily mit einem so sen-siblen Thema wie der Verlagerung von Einheiten desBKA und der Schließung des Standortes Meckenheimzeugt von einem Führungsverständnis, das aus meinerSicht anachronistisch ist. Dass die Kollegen aus dem Ka-binett, die Regierungskoalition und die eigene Fraktionvon ihm über diesen Plan nicht informiert wurden, zeigtder gesamten deutschen Öffentlichkeit, welche Wert-schätzung er diesem Personenkreis entgegenbringt. Dassoll aber nicht unser Problem sein. Das ist Ihr Problem.
Dramatischer – auch in den Folgen – ist die Wirkung,die dieses Vorgehen nach Gutsherrenart auf die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter des BKA hat. Sie werdenvom Minister häufig – und zu Recht – für ihre Arbeit ge-lobt, die sie für uns alle gerade in dieser schwierigen Zeitleisten. Wenn es aber um die ureigensten Bedürfnisse derMitarbeiter geht, nämlich um ihre Zukunftsplanung, umdie Frage, ob sie an ihrem Wohnort bleiben können, obsie ihre sozialen Beziehungen verändern müssen, kurz:um die Lebensplanung, dann werden sie auf eine Art undWeise behandelt, die wir eigentlich in unserer Republik
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Ralf Göbelfür nicht mehr möglich gehalten haben. Dieser Umgangmit den Mitarbeitern ist völlig unangemessen.Und dass ausgerechnet ein Minister der Sozialdemo-kraten den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenar-beit mit den Personalvertretungen so missachtet, wirftauch ein bezeichnendes Bild darauf, welche Wertschät-zung die Personalvertretung in diesem Ministerium ge-nießt.
Herr Reichenbach, wenn es stimmt, was Sie sagen,dass nämlich fast alles unbestritten sei, dann frage ichmich, wie es zu diesen Personalversammlungen und die-sen Demonstrationen kommen konnte. Der Schaden je-denfalls, der entstanden ist, der Vertrauensverlust gegen-über dem Minister und der Amtsleitung sowie derMotivationsverlust der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,ist gewaltig. Er ist – wenn man die Menschen wirklichkennt – auch nicht einfach dadurch zu beseitigen, dassman sagt: Jetzt drehen wir das Rad wieder zurück, fan-gen von vorn an und tun so, als ob nichts gewesen wäre.Der Schaden ist eingetreten und es wird ein sehr schwie-riger Prozess werden, wenn es überhaupt gelingt, dasVertrauen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wiederzu gewinnen, indem sie in diese Umzugsplanung einge-bunden werden.
– Ich glaube nicht, dass es da große Hoffnung gibt.Im Übrigen – der Kollege Röttgen hat schon daraufhingewiesen – sind bis heute Morgen bei der rheinland-pfälzischen Landesregierung 150 Bewerbungen vonMitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BKA eingegan-gen.
Das wäre für Rheinland-Pfalz sicherlich eine gute Sache.Für das BKA ist das jedoch eine schlimme Entwicklung.Denn das zeigt, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter, die eine hohe Kompetenz besitzen, mittlerweilenach anderen Jobs umschauen. Das schwächt die Be-hörde entscheidend.
Noch zur fachlichen Seite: In dem Konzept, das unssehr kurzfristig zugegangen ist, ist davon die Rede, dasslediglich operative und ermittlungsunterstützende Ein-heiten nach Berlin verlagert werden, natürlich ohne ge-nau zu sagen, was unter ermittlungsunterstützenden Ein-heiten zu verstehen ist. Ich denke aber – damit kommeich zu den Polizeipraktikern, die angesprochen wordensind –, dass auf lange Sicht auch die Erkennungsdiensteund die Kriminaltechnik nach Berlin gehen werden. Esmacht wohl keinen Sinn, wenn die von den operativenEinheiten hier in Berlin sichergestellten Asservate perShuttlebus nach Wiesbaden zur erkennungsdienstlichenBehandlung und kriminaltechnischen Analyse und spä-ter wieder zurück geschickt werden müssen. Der Polizei-taktiker wird sehr schnell sagen, dass das völliger Un-sinn ist und folglich auch die Erkennungsdienste und dieKriminaltechnik nach Berlin wandern müssen. So wer-den gewiefte Polizeitaktiker – man kennt ja seine Kolle-gen – immer eine Begründung dafür finden, warum dieEinheiten, die zunächst in Wiesbaden verblieben sind,nun nach Berlin müssen.Ich sehe diesen ersten Umzugsschritt als einen Schrittan, der am Ende dazu führen wird, dass das gesamteBundeskriminalamt zentral in Berlin angesiedelt seinwird. Ich kann den Minister nur auffordern, diese unse-lige Entscheidung zurückzunehmen und zu versuchen,den angerichteten Schaden so weit wie möglich zu be-grenzen.Danke schön.
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Merten, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte nicht die Begriffe Weltuntergang und Geheim-pläne bemühen. Allerdings ist die Entscheidung der letz-ten Woche in Meckenheim und in Wiesbaden schon wieeine Bombe eingeschlagen.
Dies war auch deswegen der Fall, weil sich die Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter des BKA in der Vergangenheit,als sie nachgefragt hatten – ich habe keinen Zweifel da-ran, dass das so gewesen ist –, auf die Zusicherung vonHerrn Kersten verlassen haben,
dass der Standort Wiesbaden sowieso nicht infrage ge-stellt werde, dass aber auch der Standort Meckenheimgesichert sei. Das, was für Meckenheim geplant war undwas sich bis zum Ende letzten Jahres durch Versetzun-gen noch verstärkt wurde, hat durchaus für die Richtig-keit dieser Aussagen gesprochen.Insofern möchte ich an dieser Stelle sagen: Ich finde,dass die Empörung und auch der Unmut der betroffenenMitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr als verständlichsind, sind doch weder Personalvertretungen noch Abtei-lungsleiter in diese Überlegungen einbezogen worden.
Ich möchte ganz deutlich sagen: Formale Entschei-dungskompetenz ist die eine, Fürsorgepflicht und sozialeVerantwortung des Dienstherrn gegenüber den Beschäf-tigten die genauso wichtige, andere Seite der Medaille.
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Ulrike MertenLiebe Kolleginnen und Kollegen, die Beschäftigtenhaben ihren Protest und ihren Unmut bekundet. Aber wirmachten es uns zu leicht, wenn wir das mit der Annahmeabtäten, wir hätten es hier lediglich mit umzugsunwilli-gen, unflexiblen Beamten bzw. Bundesbediensteten zutun.
Vielmehr haben wir es mit Beschäftigten zu tun, die inteilweise jahrzehntelangem Dienst in der Ermittlungstä-tigkeit oder im Personenschutz kreuz und quer durchdieses Land gezogen sind. Sie haben dies auf sich ge-nommen und wollen es auch in Zukunft tun.
Es ist bereits gesagt worden – ich bitte, dies nicht zuleicht zu nehmen –, dass durch die Unsicherheit solchumfänglicher Planungen die Konzentration nicht auf dienötige fachliche Arbeit ausgerichtet werden kann. Dasheißt nicht, dass wir es mit Leuten zu tun haben, dienicht willig sind. Ich glaube, dass das Argument derSicherstellung der bundespolizeilichen Arbeit in diesersicherheitspolitisch höchst schwierigen Zeit, durchausernst zu nehmen ist. Hier möchte ich ausdrücklich dieBekämpfung der Terrorismusgefahr als ein wichtigesund anerkanntes Ziel einbeziehen.Bei meinen Gesprächen habe ich nicht den Eindruckgewonnen, dass es bei den Mitarbeiterinnen und Mitar-beitern in Meckenheim Unverständnis geben würde,ginge es lediglich um eine Verstärkung des StandortesBerlin, also um Aufgaben, die wirklich an den Regie-rungssitz bzw. an das Auswärtige Amt gebunden sind.Aber ist es nicht so, dass Zielfahndungen zum Beispielim Bereich der organisierten Kriminalität nicht schwer-punktmäßig in und um Berlin herum stattfinden,
sondern eher im Ballungsraum von Rhein und Ruhr, alsoin den Städten Düsseldorf, Köln, auch in Bonn und imbenachbarten westlichen Ausland wie zum Beispiel Bel-gien?
Ist es nicht so – ich formuliere das als Frage und maßemir gar nicht an, in diesem Punkt kompetent zu sein –,dass in einem föderativen Bundesstaat, den wir alle wol-len, auch bei der Verteilung der Dienststellen auf meh-rere Standorte die zweifelsohne notwendige Sicherheitmithilfe moderner Technik gewährleistet werden kann?Ich glaube, dies sollte streng geprüft werden, und denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern – ich bin Ihnen, HerrMinister, sehr dankbar, dass Sie das gestern deutlich ge-macht haben – sollte signalisiert werden, dass Sie bereitsind, diese Entscheidung noch einmal ergebnisoffen zuüberdenken. Das ist nicht nur für die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes, sondern auchfür die Menschen in der Region wichtig. Sie bekommensonst nämlich das Gefühl, dass das Bonn-Berlin-Gesetz,auf das sie sich verlassen haben, Stück für Stück ausge-höhlt werden soll.
Das darf nicht geschehen. Die Sicherheit des Bonn-Ber-lin-Gesetzes hat dieser Region gut getan. Sie brauchtdiese Sicherheit auch weiterhin. Wir wollen mithelfen,dass dieser Prozess, der in den letzten Jahren positiv ge-staltet werden konnte, auch in Zukunft einen guten Fort-gang findet.Herzlichen Dank.
Ich erteile nun das Wort dem hessischen Minister des
Innern, Herrn Staatsminister Bouffier.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! IhreAbsicht, Herr Kollege Schily, das Bundeskriminalamt inBerlin zu zentralisieren, kam für die Länder völlig über-raschend und ist aus unserer Sicht unverständlich. EineVerlagerung ist für die Länder nicht akzeptabel. Das giltfür alle Länder und nicht nur für das Land Hessen, fürdas ich spreche; darin bin ich mir sicher. Wir lehnen eineZentralisierung aus fachlichen Gründen und aufgrundunserer föderalen Struktur ab.Ich spreche hier als Innenminister eines Landes, dasdurch die vorgesehene und von Ihnen verkündete Verla-gerung wesentlicher Teile des Standortes Wiesbadennach Berlin besonders betroffen ist. Ich spreche aberauch im Namen vieler, wenn nicht sogar aller meinerKollegen. Vielem, was in dieser Debatte gesagt wurde,kann ich zustimmen; Frau Kollegin Merten, unter IhrenBeitrag kann ich zum Beispiel einen Haken machen.
Eine Facette wurde in dieser Debatte bisher aber nochnicht aufgegriffen: Wir dürfen uns nicht nur mit derFrage der Rolle des Bundes beschäftigen. Es muss auchum die Frage gehen – Kollege Röttgen hat das auf denPunkt gebracht –, was erforderlich ist, um die innere Si-cherheit in dem Maße gewährleisten zu können, dasssich die Bürgerinnen und Bürger darauf verlassen kön-nen. Das ist die Kernfrage.
Darum kann sich nicht alleine der Bund kümmern. ImGesetz über das Bundeskriminalamt kommt das zumAusdruck. Die Überschrift dieses Gesetzes lautet:Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zu-sammenarbeit des Bundes und der Länder in krimi-nalpolizeilichen Angelegenheiten.
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Staatsminister Volker Bouffier
Aufgrund dessen kann eine Entscheidung darüber – ichweiß nicht, ob ein Kollege sie gekannt hat; ich habe sieder Presse entnommen –, wie das Kernstück der krimi-nalpolizeilichen Arbeit in der Bundesrepublik Deutsch-land arbeitet, nicht unabhängig von der Frage gesehenwerden, wie Bund und Länder zusammenarbeiten.Es geht um mehr als nur um die Frage, die bisher dis-kutiert wurde. Es darf nicht um Eitelkeiten gehen. Kol-lege Schily, es ist doch unbestritten: Es gibt Gremien, indenen wir, gerade angesichts der aktuellen weltpoliti-schen Lage, die nicht erst seit zwei Monaten so ist, ver-trauensvoll sprechen und uns austauschen können, ohnedie Befürchtung zu haben, dass darüber am nächsten Tagin der Zeitung zu lesen ist. Ich bedauere sehr, dass Sienicht die Gelegenheit wahrgenommen haben, dieseFrage in diesem Gremium mit den Kollegen zu ventilie-ren und gemeinsam mit uns – auch wenn Betroffenheitbesteht – die Frage zu klären, was zwingend ist, umdiese Aufgabe zu erfüllen. Ich bedauere, dass Sie dasnicht getan haben. Dadurch haben Sie ein Stück Ver-trauen verspielt.Jedes einzelne Land muss warnend den Finger heben.Es wurde das Bonn-Berlin-Gesetz genannt. Im Rahmendieser Debatte haben wir uns nach langen Diskussioneneinvernehmlich darauf verständigt, wie die bundesstaat-lichen Organe und die entsprechenden Behörden in derBundesrepublik platziert werden sollen. Jeder hat gege-ben, von jedem wurde genommen, aber am Schlusswurde ein Ergebnis erreicht. Man hat sich darauf verlas-sen, dass dies definitiv ist.Wenn die Bundesregierung dieses Übereinkommennun einseitig aufkündigt, dann muss allen klar sein, dassdas nicht das Problem von Nordrhein-Westfalen, Hessenoder Bayern alleine ist; das betrifft alle Länder. Sie wer-den die Frage stellen, wie verlässlich die Vereinbarungensind, die zwischen Bund und Ländern getroffen wurdenund ob sie auch in Zukunft gelten. Diese Verlässlichkeitwurde erschüttert.
Ich unterstreiche alles, was hier hinsichtlich der Pro-bleme der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesagtwurde, aber auch vieles mehr. Es ist doch unbestritten,dass hier in Berlin besondere Aufgaben – auch bezüglichder Führung der Sicherheitsbehörden – angesiedelt seinmüssen. Man wird aber doch fragen dürfen, ob das denUmzug von 2 000 Mitarbeitern erfordert. Es geht hier janicht um Spezialisten, die in einer bestimmten Situationvor Ort unmittelbar am Tisch sein müssen. Wer wolltedas bestreiten? Jeder, der ein wenig von öffentlicher Ver-waltung versteht – das ist kein Vorwurf –, der wird nichtwidersprechen können, wenn ich sage, dass es unbestrit-ten eine hohe Anforderung an die Sicherheitsgewährleis-tung gibt.Herr Kollege, mit Ihrer Verkündung sorgen Sie dafür,dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ganz ne-benbei auch die Bürger verunsichert sind und man sichin dieser Behörde mit einem guten Teil seiner Kraft mitder eigenen Zukunft und der Organisation und nicht mitden eigentlichen Aufgaben, die das Bundeskriminalamtleisten muss, beschäftigen wird. Das kann doch niemandernsthaft bestreiten.
Diese Nachteile liegen auf der Hand. Was sind nundie zwingenden Gründe, die die Nachteile so stark über-wiegen lassen, dass man zu der Entscheidung kommenmuss eine Verlagerung vorzunehmen? Ich kann diesezwingenden Gründe bisher nicht erkennen. Wenn es siegibt, dann müssen sie hier oder an anderer Stelle – dieshier ist aber das Parlament – vorgetragen werden.
Lassen Sie uns dann darüber diskutieren.Ich begrüße es durchaus, dass Sie gestern in Höchstund wohl auch in Meckenheim gesagt haben, Sie wolltendie Entscheidung ergebnisoffen prüfen. Das ist in Ord-nung. Gestatten Sie mir aber folgende Bemerkung, HerrKollege: Über die Begründung bin ich schon erstaunt.Sie haben – so war es jedenfalls in der Presse zu lesen –polizeifachliche Fragen genannt, die Sie jetzt prüfenwollen. Wenn es in einer solchen Situation irgendetwasgibt, das vorher geprüft werden muss, dann sind das po-lizeifachliche Fragen.
Ich bin in der Tat erstaunt darüber, dass Ihnen dies in ei-ner Weise vermittelt wurde, die den Sachverhalt nichtvollkommen trifft. Es gibt Annahmen, die man so inter-pretieren kann. Es ist aber noch nicht zu spät.Im Ergebnis ist doch Folgendes festzuhalten: Zwin-gende fachliche Gründe sind bisher nicht belegt. IhreÄnderungsabsicht beinhaltet zumindest die Gefahr, dasssich die innere Sicherheit eher verschlechtert als verbes-sert. Durch sie wird das föderale Strukturelement derBundesrepublik und – das ist mir besonders wichtig –die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Bund undLändern untergraben. Nach diesem Vorgang kann mansich nicht darüber wundern, wenn dieses Vertrauen in-frage gestellt wird. Ganz nebenbei gesagt würde es aucheine ganze Menge Geld kosten, Geld, das wir im Bereichder inneren Sicherheit ganz sicher für andere Dinge gutgebrauchen könnten.Herr Kollege, Sie haben jetzt Gelegenheit, sich zu äu-ßern.
– Nein, das ist keine Großmut. Damit Sie das verstehen:Die Geschäftsführer haben sich hinreichend bemüht,festzulegen, ob nun er zuerst redet oder ich. Das war fürmich kein Thema.
Eines möchte ich am Schluss des Debatte wirklichdeutlich machen: Es ist bereits ein beachtlicher Schadeneingetreten. Das kann niemand ernsthaft bestreiten.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7493
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Staatsminister Volker Bouffier
Unsere Aufgabe und die des zuständigen Bundesinnen-ministers ist es, weiteren Schaden zu vermeiden. Tun Siedas klug! Aus der Sicht des Landes Hessen ist diese Zen-tralisierung in der Sache nicht begründet und sie schadetunserem gemeinsamen Anliegen. Wir haben allen An-lass, uns auf die gemeinsamen Sicherheitsaufgaben zukonzentrieren, nämlich die Herausforderungen des Ter-rorismus sowie der organisierten Kriminalität und vielesmehr. Dies fordert unsere ganze Kraft. Meines Erachtensgeht die jahrelange Beschäftigung des zentralen Kern-stücks kriminalpolizeilicher Arbeit in dieser Republikmit sich selbst damit überhaupt nicht einher.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Bundesinnenminister Otto
Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!Ich bin ja schon dankbar dafür, dass der Kollege Röttgenhier einen sehr sachlichen Beitrag gehalten
und einen richtigen Satz an den Anfang gestellt hat. Esentspricht meiner Grundauffassung, dass Standortfragennach Sicherheitskriterien entschieden werden und sichnicht umgekehrt die Wahrnehmung von Sicherheitsauf-gaben an bestehenden Standortstrukturen orientierendarf. – Diesen Satz können wir alle unterschreiben.
Die Frage ist, welche Konsequenzen wir daraus ziehen.Ich will daran erinnern, dass beispielsweise derStandort Meckenheim damals deswegen gewählt wurde,weil die Sicherungsgruppe Bonn in der Nähe der Regie-rung sein sollte. Das ist konsequent. Das haben wir be-kanntlich in Berlin realisiert.
– Es ist erfreulich, dass auch Sie das als gelungen anse-hen.Ich will an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen: DaSie hier alle Schreckensszenarien an die Wand gemalthaben, wie schlimm es sei, wenn Umzüge stattfänden,erinnere ich in diesem Zusammenhang daran, dass in-zwischen 300 Polizeivollzugsbeamte umgezogen sind.Ich wüsste nicht, dass dadurch große Sicherheitseinbu-ßen entstanden wären und dass sich die Beamten der Si-cherungsgruppe, deren Arbeit ich sehr zu würdigen weißund bei denen ich mich bedanke, nur mit Umzugsfragenbeschäftigt hätten. Dies sage ich, damit diese Schre-ckensszenarien aus Ihren Köpfen verschwinden.Wenn wir nicht in der Lage sind, eine wichtige Be-hörde wenigstens in Bereichen zu verlagern, dann frageich: Wie ist es eigentlich mit dem Leistungsvermögenunserer Gesellschaft bestellt? Das ist der Punkt. Dauerndwird über Mobilität und Flexibilität gesprochen. Wennsich diese Frage aber einmal im öffentlichen Dienststellt, dann heißt es auf einmal: Das geht auf gar keinenFall.Sie haben Recht, Herr Kollege Röttgen: Die Beweis-last trägt derjenige, der eine Veränderung vornehmenwill. Darüber kann man in aller Ruhe streiten. Herr Kol-lege Bouffier meint, ich hätte eine ergebnisoffene Prü-fung unter dem Vorzeichen polizeifachlicher Argumentenur deshalb in Aussicht gestellt, weil mir jetzt erst einge-fallen sei, dass ein paar polizeifachliche Gesichtspunktezu berücksichtigen seien. Für so töricht, lieber KollegeBouffier, sollten Sie weder mich noch die Amtsleitungdes Bundeskriminalamtes halten. Die gesamte Amtslei-tung hat in ihrer Bewertung die polizeifachlichen Ge-sichtspunkte sehr sorgfältig geprüft. Ich habe am6. Januar noch einmal zusammen mit allen Herren, nichtnur mit dem Präsidium, sondern mit allen Abteilungslei-tern, gesprochen. Alle unterstützen dieses Konzept.Darüber hinaus kam es zu einer Diskussion mit derBelegschaft. In der Diskussion sind aus der Mitarbeiter-schaft des Bundeskriminalamtes durchaus beachtens-werte polizeifachliche Gesichtspunkte zusätzlicher Artvorgetragen worden. Ich wäre absolut schlecht beraten,wenn ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Prü-fung dieser polizeifachlichen Gesichtspunkte verweigernwürde. Diese ergebnisoffene Prüfung werde ich durch-führen. Das halte ich für eine selbstverständliche Pflicht.Wie ich sehe, läuft mir die Zeit rasend schnell davon.
Ich kann in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht,nicht auf alle Gesichtspunkte eingehen; das ist völlig un-möglich. Ich versichere Ihnen, dass wir die polizeifachli-chen Argumente mit großer Sorgfalt prüfen werden, undzwar ergebnisoffen.Herr Kollege Bouffier, ich möchte Ihnen Folgendessagen: Ich wüsste nicht, dass mir Landesregierungenihre Entscheidungen zu Technik und Ausrüstung mittei-len würden, dass ich also an Entscheidungen der Landes-regierungen beteiligt würde. In der Föderalismuskom-mission reden wir zwar über die unterschiedlicheZuordnung von Verantwortungen. Das Bundeskriminal-amt jedoch fällt eindeutig in Bundesverantwortung. Beiallem Verständnis bitte ich darum, dass es in Bundesver-antwortung bleiben wird.Es werden gerne Vergleiche angestellt. Ich habe wie-der das Wort „Zentralisierungsüberlegungen“ gehört.Dankenswerterweise hat man wenigstens das Wort„Zentralisierungswahn“ vermieden.
– Das kommt noch, wenn Sie es schon ankündigen.
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Bundesminister Otto SchilyDie Debatte hier unterscheidet sich übrigens ganz au-genfällig von der sachlichen Atmosphäre in den beidenAusschüssen. Das will ich auch einmal sagen. Das isteine Erfahrung, die man macht. Bei manchen Redenweiß ich, wie sie wirken sollen. Die sind einer sachli-chen Diskussion nicht unbedingt zuträglich.Ich will Sie fragen, Herr Kollege Bouffier: Wie siehtes denn in den Ländern aus? Wo sind denn dort die Lan-deskriminalämter? – Die sind mit Ausnahme von Meck-lenburg-Vorpommern und Brandenburg überall in denLandeshauptstädten. Ein Redner hat in der Debatte dasFBI angesprochen.
Es stimmt, dass das FBI mehrere Standorte hat. Aberschauen Sie sich einmal den Standort des FBI in Wa-shington an. Dann wissen Sie, wie die Größenordnungensind. Man muss also vorsichtig sein.Man sollte Herrn Dr. Kersten, der wirklich ein ver-dienstvoller Präsident ist, für dessen Leistung ich michherzlich bedanke – das sollte hier von uns allen gemein-sam gewürdigt werden –, nicht unterstellen, dass erleichtfertig solche Überlegungen anstellt.
Dies geschieht vielmehr aus der Sorge,
dass wir mit der Bedrohung der Sicherheit unseres Lan-des durch den islamistischen Terrorismus in eine neueSituation gekommen sind. Er sagt, dass es deshalb neueNotwendigkeiten gibt. Man hat seinerzeit aus sehr ver-nünftigen Überlegungen heraus in Meckenheim zu derSicherungsgruppe die Terrorismusbekämpfungseinhei-ten gestellt. Kommunikationseinrichtungen gab es schondamals, wenn auch nicht in der allermodernsten Form.Damals hat man gesagt, dass man die unmittelbare Zu-sammenarbeit brauche. Der jetzige Ansatz von HerrnDr. Kersten ist, dass die Grenzen zwischen der Bekämp-fung der organisierten Kriminalität und der des Terroris-mus verschwimmen und dass wir heute bei der Krimina-litätsbekämpfung eine ganzheitliche Betrachtungsweisehaben, die es notwendig macht, operative Kompetenzenzu bündeln und Synergieeffekte bei der Bekämpfungmoderner Kriminalitätsformen zu erzielen. Ferner müs-sen wir eine effektive und der Lage angepasste Steue-rung erreichen und eine personalwirtschaftlich zeitnaheund fachlich kompetente Reaktion auf besondere Situatio-nen ermöglichen.
Dabei spielt das hohe Aufkommen von Hinweisen imterroristischen Bereich – wir haben das im Innenaus-schuss erörtert – eine große Rolle.
– Ich habe Ihnen doch auch zugehört, Herr Koschyk. Siekönnen sich gleich dazu noch äußern.Es sind nach dem 11. September 2001 24 000 Hin-weise eingegangen. Hören Sie sich doch wenigstens ein-mal die Argumentation von Herrn Dr. Kersten in diesemZusammenhang etwas ausführlicher an. Diese Fragenmüssen sehr sorgfältig durchdacht werden. Das werdenwir auch im Weiteren tun.Wir haben zunächst einmal ein Grundkonzept vorge-legt. Es war von vornherein – das habe ich auch demPersonalrat gesagt – in Aussicht gestellt, in die Beratun-gen über eine Feinplanung einzutreten. Wir haben einGespräch mit dem Personalrat verabredet, in dem wir– da bin ich zuversichtlich – zu guten Ergebnissen kom-men.Selbstverständlich haben Sie Recht, wenn Sie sagen– das tat auch Herr Röttgen –, man müsse sorgfältig da-rauf achten, dass im Zuge solcher Planungen nicht Ver-werfungen in dem Amt entstünden, die die Motivationbeeinträchtigen könnten. Als Grundforderung stelle ichallerdings schon, dass auch ein Beamter in der Lage seinmuss, sich auf Veränderungen einzustellen.
Das gehört zum Beamtenverhältnis.
Man kann nicht einfach sagen: Das lehne ich ab. –Man muss aber Verständnis dafür haben, dass es Fami-lien gibt, die Eigentum vor Ort erworben haben, dassMitarbeiterinnen und Mitarbeiter Lebenspartner haben,die ihren Arbeitsplatz dort haben, und man muss berück-sichtigen, dass diese minderjährige schulpflichtige Kin-der haben. Es wäre nicht in Ordnung, wenn das von mei-nem Ministerium oder der Amtsleitung nichtberücksichtigt würde. Wenn man Loyalität von den Be-amtinnen und Beamten erwartet – da nehme ich den Satzvon Frank Hofmann auf –, die vorzügliche Arbeit für dieSicherheit unseres Landes leisten, dann muss der Staatumgekehrt auch seine Fürsorgepflichten wahrnehmen.Das ist meiner Ansicht nach eine pure Selbstverständ-lichkeit.Meine Bitte an Sie ist, keine falschen Informationenbis hin zu übertriebenen Summen hinsichtlich der Kos-ten in Umlauf zu bringen und nicht den Verdacht zu äu-ßern, der mit der Realität nichts zu tun hat, nämlich esgehe um Politikberatung oder – noch schlimmer – umpolitische Beeinflussung. Ich kann Ihnen vielmehr ei-nige Lagen darstellen – in der Kürze der zur Verfügungstehenden Zeit vermag ich das allerdings nicht –, in de-nen eine sehr enge Kooperation auch mit den Führungs-spitzen der Ministerien – das beschränkt sich nicht aufdas Bundesministerium des Innern; vielmehr gehörendas Auswärtige Amt, das Bundesjustizministerium wieauch, ganz zentral, das Bundeskriminalamt und durchdie Verlagerung des BND auch diese Einrichtung dazu –bestanden hat.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7495
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Herr Minister!
Ich weiß, Herr Präsident. Ich sehe Ihr Signal und ich
sehe auch, dass mir der Kollege von der FDP-Fraktion
nicht weiter zuhören will. Das kann ich verstehen.
– Ja, ich weiß.
Weil die Zusammenhänge in einem solchen Rahmen
nur sehr unzureichend dargestellt werden können, biete
ich Ihnen an, mich Ihnen – notfalls auch in öffentlicher
Sitzung – in den Fachausschüssen zur Verfügung zu stel-
len. Dann können wir über alle diese Fragen sehr sach-
lich und mit dem gebotenen Ernst reden. Ich bin froh
darüber, dass die Personalvertretung eine faire Debatte
ermöglicht hat.
Lassen Sie mich mit Folgendem schließen: Unabhän-
gig von der Frage, wie die unterschiedlichen Größenord-
nungen der Standorte beurteilt werden oder ob ein
Standort geschlossen werden soll, ist von allen aner-
kannt worden, dass eine stärkere Präsenz des Bundeskri-
minalamtes in Berlin notwendig ist. Das ist ein erfreuli-
cher Sachverhalt, der auch aus den Beiträgen der
Kolleginnen und Kollegen des Bundeskriminalamtes in
Wiesbaden sehr deutlich geworden ist. Das ist ein guter
Ausgangspunkt, um zu vernünftigen und letztlich kon-
sensualen Ergebnissen zu kommen.
Ich bedanke mich.
Bevor ich dem Kollegen Hartmut Koschyk das Wort
erteile, weise ich darauf hin, dass nach den Regelungen
unserer Geschäftsordnung für die Durchführung von Ak-
tuellen Stunden dann, wenn ein Mitglied der Bundesre-
gierung, des Bundesrates oder einer ihrer Beauftragten
länger als zehn Minuten sprechen, § 44 Abs. 3 unserer
Geschäftsordnung Anwendung findet, wonach auf An-
trag einer Fraktion oder 5 Prozent der Mitglieder des
Hauses dazu die allgemeine Aussprache eröffnet wird.
Diesen Antrag hat die FDP-Fraktion gerade gestellt. Ich
weise darauf hin, weil es möglicherweise auch Folgen
für die anderen Fraktionen haben könnte.
Nun erteile ich dem Kollegen Hartmut Koschyk das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Schily, ich bedauere es sehr, dass Sie trotzdeutlicher Überziehung Ihrer Redezeit diese Parlaments-debatte nicht genutzt haben, um auch nur ein überzeu-gendes Argument für die Megaverlagerung des BKAvon den Standorten Wiesbaden und Meckenheim nachBerlin vorzubringen.
Ich will deutlich sagen, werte Kolleginnen und Kolle-gen: Ich habe großen Respekt vor den Reden der FrauKollegin Merten und der Vertreter der Grünen, weil siesich in dieser Frage nicht in eine falsche Koalitionsräsoneinbinden lassen, sondern die begründeten Bedenken ge-gen diese Entscheidung auch hier im Parlament artiku-lieren.
Herr Minister, die Entscheidung war hinsichtlich derFürsorgepflicht und des Führungsstils miserabel. Sie ist,was die polizeifachliche Begründung angeht, auch nachIhrer Rede nicht stichhaltig; sie ist mehr als fragwürdigund im Hinblick auf das in dieser Zeit erforderliche Kos-tenbewusststein völlig unverantwortlich.Herr Minister, damit Sie nicht meinen, in eine falscheRichtung an uns appellieren zu müssen, versichere ichIhnen: Natürlich sind auch wir der Auffassung, dass Be-amtinnen und Beamte gerade im Sicherheitsbereich mo-bil und flexibel sein müssen. Gerade diese Beamtinnenund Beamten haben aber auch Anspruch auf Verlässlich-keit des Dienstherrn.Herr Minister, nach den Informationen, die mir vor-liegen, wurde in den Personalversammlungen an dendrei Standorten des BKA sowohl im Juni als auch imNovember 2003 von der Amtsleitung bekundet, dassdiese drei Standorte in vollem Umfang erhalten bleibensollten. Das soll auch in der Sitzung des Hauptpersonal-rates im BMI am 17. Dezember 2003, also kurz vorWeihnachten, von einem Vertreter des BMI bekräftigtworden sein.
Herr Minister, so lautet die Information, die mir zuge-gangen ist. Wir haben Sie auch in der heutigen Sitzungdes Ausschusses danach gefragt. Aber weder Sie nochHerr Kersten haben etwas dazu gesagt. Sie sollten dieentsprechenden Vorwürfe endlich einmal ausräumen.Herr Minister, gerade am Standort Meckenheim sindbis in das letzte Jahr hinein Verstärkungen vorgenom-men worden, zum Beispiel in der Abteilung Staats-schutz. Dafür sind Kollegen aus Wiesbaden und Berlin,aber auch aus der Ausbildung heraus für den StandortMeckenheim angeworben worden. Des Weiteren ist dortneues Logistikpersonal eingestellt worden. Hinzukommt, dass erst Ende letzten Jahres ein neues, funk-tionsfähiges Führungs- und Lagezentrum in Mecken-heim in Betrieb genommen worden ist. Es geht um Ver-lässlichkeit und Berechenbarkeit. Man darf einensolchen Megaumzug nicht in einer geheimen Arbeits-gruppe, in der Amtsleitung und im Ministerium quasihintenherum planen und die Menschen erst einmal ruhigstellen, weil man mit dem großen Schock bis nach Weih-nachten wartet. Das ist ein unverantwortlicher Führungs-stil. Herr Minister, ich hätte mir gewünscht, dass Siedazu etwas gesagt hätten.
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Hartmut Koschyk
Dass räumliche Nähe von Entscheidungsträgern keineGewähr für bessere Kommunikation und Kooperationist, zeigt gerade diese Entscheidung. Herr MinisterSchily, die anderen Minister, die mit Ihnen am Kabi-nettstisch sitzen, haben von dieser Entscheidung, dieauch sie betrifft, erst aus der Zeitung erfahren, ebensowie der Koalitionspartner. Trotz großer räumlicher Nähekommuniziert und kooperiert man also nicht so, wie dasnotwendig wäre.Ich möchte deutlich sagen: Wir sehen in dieser Ent-scheidung ein Stück Methode. Herr Minister, ich möchtenicht von Zentralisierungswahn sprechen. Aber ist esrichtig, den gesamten BND mit 5 000 Mitarbeitern nachBerlin umziehen zu lassen und dafür 1 Milliarde Euroaufzuwenden, jetzt 2 000 Mitarbeiter des BKA nachBerlin zu holen und dafür 500 Millionen Euro aufzu-wenden sowie den Führungsstab der Streitkräfte von derBonner Hardthöhe nach Berlin zu verlagern? Die Men-schen haben das Recht, dass das, was Politik als An-spruch formuliert, etwas länger gilt. Wir haben im Ber-lin/Bonn-Gesetz den Geist der föderalen Verteilung vonEinrichtungen beschworen. Herr Minister Bouffier hataußerdem auf die unabhängige Föderalismuskommis-sion verwiesen. Herr Minister Schily, viele Menschenglauben Ihnen nicht mehr, wenn Sie sagen: Aber amStandort des Bundesamtes für Verfassungsschutz inKöln will ich nicht rütteln.Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die jet-zige Entscheidung noch einmal auf den Prüfstand ge-stellt wird und dass wir deutlich machen, dass wir ange-sichts der Kommunikationsmöglichkeiten unserer Tageauch mit dislozierten Sicherheitsbehörden in Deutsch-land die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger hin-reichend gewährleisten können, dass wir also keine Zen-tralisierung von Sicherheitsbehörden in Berlin brauchen.Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte gern Ihr
Einverständnis dazu feststellen, dass die Redner in der
nun beginnenden Debatte wieder nur fünf Minuten Re-
dezeit haben. – Das ist der Fall.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Reichenbach für
die SPD-Fraktion. – Wie ich gerade sehe – ich denke,
wir alle sind hinreichend flexibel –, spricht nun der Kol-
lege Wiefelspütz für die FDP-Fraktion.
– Entschuldigung, natürlich für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber HerrWesterwelle, ich halte von Liberalität in der SPD sehrviel. – Ich hätte mir gewünscht, dass wir an dieser Stelleüber andere Dinge reden. Ich hoffe sehr, dass wir zur Be-handlung wichtiger Fragen, auch der Sicherheitspolitik,nicht solche Anlässe brauchen. Ich bin der Auffassung,dass in diesem Land eine ganze Menge passieren muss.Es gibt jetzt eine Föderalismuskommission, in der ichselbst mitwirken darf. Ich sage Ihnen: Wir müssen indiesem Land eine ganze Menge verändern, damit wiralle miteinander besser aufgestellt sind.Es macht auch Sinn – wenn ich das sage, dann nehmeich keine Ergebnisse vorweg –, darüber nachzudenken,ob – ich sage das mit allem Respekt vor der großartigenLeistung unserer Polizeibeamtinnen und unserer Poli-zeibeamten, der Mitarbeiter des Bundesnachrichten-dienstes, des Verfassungsschutzes und des Innenministe-riums – die Sicherheitsarchitektur der BundesrepublikDeutschland optimal ist. Wir müssen bereit sein, zu Ent-scheidungen zu kommen. Ich bin der festen Auffassung,dass das nur in einem fairen Dialog mit allen Beteiligtenmöglich ist.Das darf allerdings nicht zerredet werden und manmuss auch zu Ergebnissen kommen können. Ich sage eseinmal etwas pathetisch – ich habe den größeren Teilmeines Berufslebens im öffentlichen Dienst verbracht –:Ich arbeite dort, wo dieser Staat, mein Land, michbraucht und nicht dort, wo ich das Land brauche. Dasgilt jedenfalls vom Grundsatz her.
Wir müssen uns selbstverständlich um die Menschenkümmern. Das heißt, dass wir uns in erster Linie nichtum die Führungsetage, sondern um die vielen kleinerenund mittleren Bediensteten kümmern, die in der Tat Ver-lierer von Umzugsentscheidungen sein können.Ich bin der festen Überzeugung, dass man das, worü-ber wir hier heute sprechen, etwas anders hätte einstielenkönnen. Ich bitte um Verständnis: Ich habe den Ein-druck, dass der Bundesinnenminister die Botschaft ver-standen hat und – das müssen wir hier nicht großartigvertiefen – das korrigiert hat, was er selbst für korrektur-bedürftig hält und was auch wir für korrekturbedürftiggehalten haben. Dass Sie versuchen, das offensiv anzu-packen, das gehört zu der Veranstaltung, die wir parla-mentarische Demokratie nennen. Das respektieren wir.Jetzt muss aus dieser Sache etwas Gutes gemachtwerden. Ich betone ausdrücklich: Am Anfang und amEnde müssen die Sicherheitsbelange der BundesrepublikDeutschland stehen. Wir, Rot-Grün mit diesem Bundes-innenminister, machen einen guten Job im Bereich derinneren Sicherheit.
Das werden wir auch weiterhin machen.Ich sage Ihnen, Herr Grindel: Ich kenne keinen Fach-mann in Deutschland, der bestreitet, dass wir den Stand-ort Berlin in Sachen BKA stärken müssen. Ich will garnicht vorwegnehmen, was hier noch diskutiert und ent-schieden werden muss. Es ist eine Exekutiventschei-dung. Wir alle miteinander wollen mitreden und wirwollen informiert werden; das ist völlig klar. Die Bot-schaften sind hier wechselseitig angekommen. Die Füh-rungsetage des BKA muss hier, in Berlin, gestärkt wer-den; das ist doch wohl völlig klar.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7497
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Dr. Dieter WiefelspützEbenso ist klar, dass zumindest ein wichtiger Teil deroperativen Seite des Bundeskriminalamtes nach Berlingehört. Vom Fachlichen her kann man das doch ernstlichüberhaupt nicht bestreiten. Die Mitarbeiter müssen in dieUmzugsentscheidung allerdings einbezogen werden. Esmuss in der Tat nachgewiesen werden, warum die Struk-turen so und nicht anders verändert werden müssen. Die-sen Prozess organisieren wir gemeinsam unter der Ver-antwortung dieses sehr bewährten und hervorragendenBundesinnenministers Otto Schily. Wir werden überdiese Fragestellung hier erneut – zeitnah – zu reden ha-ben.Ich bitte darum, dass wir alle miteinander jede Artvon Heuchelei auf diesem Sektor unterlassen. Das Bun-deskriminalamt ist kein Landeskriminalamt, Herr Minis-ter Bouffier.
Ich halte sehr viel von der guten Zusammenarbeit, dieder Bundesinnenminister immer wieder rühmt. Sicher-heit in Deutschland wird gemeinsam von Bund und Län-dern, und zwar unabhängig vom Parteibuch, organisiert.Das funktioniert im Großen und Ganzen ganz hervorra-gend. Herr Bouffier, es ist aber unsere verdammtePflicht, immer wieder und aufs Neue zu fragen: WelchenVeränderungsbedarf gibt es in dieser Gesellschaft? – Re-formen können doch wohl nicht immer nur bei anderenund nie bei einem selber durchgeführt werden. Auch dieSicherheitsarchitektur ist uns anvertraut worden. Wirmüssen immer bereit sein, zu überlegen, was wir auf die-sem Sektor besser machen können.Allerdings ergeht die herzliche Bitte, dass die Men-schen mitgenommen werden, ernst genommen werdenund nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Dasist das Ergebnis dieser Debatte. Das garantieren wir.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Nun erteile ich dem Kollegen Willsch, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Wiefelspütz, selbstverständlich haben SieRecht damit, dass wir Veränderungen in unserer Gesell-schaft brauchen. Aber der Grundsatz muss doch sein,dass wir nur dann etwas verändern, wenn die Aussichtbesteht, dass es hinterher besser wird. Es kann dochnicht die Veränderung um ihrer selbst willen angestrebtwerden.
In dieser Hinsicht, Herr Innenminister, war das, wasSie vorgetragen haben, mehr als dürftig. Es ist kein ent-scheidender Punkt vorgetragen worden, der dafür ge-sprochen hätte, dass all das, was noch zum 50-jährigenJubiläum des BKA gesagt worden ist und was an Lob fürdie erfolgreiche Arbeit des BKA ausgesprochen ist,nicht mehr gilt und dass die Arbeit durch die einschnei-denden Maßnahmen, die Sie vorsehen, in irgendeinerWeise verbessert werden könnte. Weil Sie verändernwollen, müssen Sie den Beweis dafür antreten, dass dasNeue besser sein wird als das, was wir heute haben. Wirhaben erheblichen Anlass, zu vermuten, dass es zu einerVerschlechterung kommt, zumindest für die Übergangs-phase, unseres Erachtens aber darüber hinaus noch sehrviel länger. Darauf geben Sie nicht die richtigen Antwor-ten, weder im Ausschuss noch hier.
– Heute Mittag war er bei uns im Haushaltsausschuss.Wir haben auch dort schon einen kleinen Strauß ausge-fochten.Es ist bemerkenswert, mit welcher Lässigkeit Sie überdie eher zur Nachdenklichkeit anregende Bemerkungdes hessischen Innenministers hinweggegangen sind,dass die Arbeit des Bundeskriminalamtes die Basis derLänderpolizeien braucht, weil es über keine Fußtruppenverfügt. Das Bundeskriminalamt kann nur arbeiten,wenn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit denLänderpolizeien und den entsprechenden Behörden ge-geben ist. Dass Sie die mit der Art und Weise, in der Siehier vorgehen, nicht befördern, ist doch wohl augenfäl-lig.Ich will nur noch eine Bemerkung zu Ihrem Umgangmit den Mitarbeitern machen; das habe ich im Ausschussschon kurz angesprochen. – Bis in den Dezember hineinauf Personalversammlungen und gegenüber Personal-räten geradezu Bestandsgarantien auszusprechen oder zu-mindest zuzulassen, dass man so verstanden wird – ichwill nicht ausschließen, dass Sie das anders gemeint ha-ben, die Mitarbeiter es aber dann so aufgenommen ha-ben, wie sie es mir erzählt haben –, um ihnen dann kurznach Weihnachten, am 5./6. Januar, dies wie einen kaltenLappen um die Ohren zu hauen und zu sagen: „Was ges-tern erklärt worden ist, gilt alles nicht mehr“, das ist einmenschenverachtender Führungsstil,
den ich wirklich nur zurückweisen kann. So bin ich nochnie, in welchem Verantwortungsbereich auch immer, mitMitarbeitern umgegangen.Ich möchte einen Appell an jene aus den Koalitions-fraktionen richten, die sich hier mutig geäußert habenund diese Entscheidung von Schily nicht einfach exeku-tieren wollen. Der Innenminister gibt sich jetzt ein wenigflexibel, biegsam, aber er hat deutlich gesagt, dass erjetzt über Feinplanungen spricht, aber die Grundent-scheidung nicht mehr infrage stellt.
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7498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
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Klaus-Peter Willsch
– Herr Innenminister, an dem anderen Ort, an dem wirheute miteinander gesprochen haben, nämlich im Aus-schuss, haben Sie gesagt: nicht die Grundentscheidung,sondern die Feinplanung. – Deshalb sage ich all denen,die Bedenken gegen diese Entscheidung haben, auch Ih-nen, Frau Wieczorek-Zeul, die Sie nicht den Mut hatten,heute hier zu sprechen:
Lassen Sie sich nicht einlullen! Er will diese Entschei-dung durchexerzieren, schon allein aus grundsätzlichenErwägungen. Lassen Sie sich nicht einlullen, sonderngeben Sie mit uns gemeinsam Acht! Die innere Sicher-heit in unserem Land muss uns das wert sein.
Die Mitarbeiter an beiden Standorten, die in den vergan-genen Jahren hervorragende Arbeit geleistet haben,
haben es verdient, dass wir uns als Parlament für sie ein-setzen
und damit den Beweis dafür antreten, dass das, was wirbei Jubiläen sagen, nicht nur schöne Worte sind, sondernauch Konsequenzen hat. Wir als CDU/CSU-Fraktion je-denfalls werden für die innere Sicherheit und an derSeite der Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes stehen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten ChristianStröbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Willsch, auch ich gehöre zu denen, dieschon immer die Meinung vertreten haben und sich jetztauch in der Öffentlichkeit dahin gehend geäußert haben,dass ein Komplettumzug des Bundeskriminalamtes nachBerlin eine falsche Entscheidung wäre. Übrigens habeich mich auch bereits gegen einen Komplettumzug desBundesnachrichtendienstes nach Berlin gewandt. Dashabe ich immer deutlich gesagt. Das sage ich auch hier.
Ich halte es nicht für sinnvoll, die zusätzliche Debat-tenzeit dazu zu nutzen, all das, was in den anderthalbStunden vorher schon gesagt wurde, zu wiederholen,sondern die zusätzliche Debattenzeit sollte eigentlichdazu dienen, auf das einzugehen und uns damit zu befas-sen, was der Minister, dem wir die zusätzliche Debatten-zeit zu verdanken haben, gesagt hat.
Das will ich tun. Deshalb wiederhole ich die Argumente,die vorher schon gebracht wurden, nicht noch einmal.Ich sehe nun ein erhebliches Entgegenkommen desMinisters in zweifacher Hinsicht. Das sage ich jetzt nichtnur für mich, sondern auch für diejenigen aus meinerFraktion, die Sie von der Opposition vorhin so gelobt ha-ben, nämlich für die Kollegin Stokar und den KollegenLoske, die unsere kritischen Punkte hier vorher in allerDeutlichkeit klar gemacht haben. Wir haben den Minis-ter nämlich so verstanden, dass er sich hier ganz eindeu-tig dahin gehend festgelegt hat, dass er das weitere Pro-zedere mit den Vertretern des Personalrats erörtern undin diesem Sinne die Fragen, die offen sind, lösen will.Dafür sind wir ihm dankbar. Diese Anregung bzw. diesesVersprechen nehmen wir gerne auf, weil auch wir unsgegenüber den Leuten des Personalrats verpflichtet füh-len, deren Rechte hier im Deutschen Bundestag zur Gel-tung zu bringen.
Für mich ist es durchaus eine außergewöhnliche Situ-ation,
dass sich Vertreter des Personalrats des Bundeskriminal-amtes – also nicht irgendeiner Behörde – mit mir in Ver-bindung setzen, um dieses Problem zu besprechen. Ichhabe deren Anliegen nicht nur deshalb von Anfang anernst genommen, weil auch ich die Bedenken des Perso-nalrats hinsichtlich des Umzugs teile – meine Bedenkengehen noch darüber hinaus –, sondern auch deshalb, weiles ganz wichtig ist, wie der Personalrat diese Frage siehtund wie das Vertrauen der Beschäftigten – der Personal-rat ist ja nur die Vertretung der Beschäftigten – in dieAmtsleitung sichergestellt werden kann, damit einsolches Amt, das die Sicherheit in der BundesrepublikDeutschland mit garantieren soll, übrigens auch dieSicherheit der einzelnen Abgeordneten und der Mitglie-der der Bundesregierung, wirksam arbeiten kann. Umdas zu erreichen, müssen wir mit denen zusammenarbei-ten.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004 7499
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Hans-Christian StröbeleWeiterhin sind wir froh darüber, dass der Bundesin-nenminister gesagt hat, dass die in der Öffentlichkeit ge-nannten Kosten für diesen Umzug nicht die realistischenund richtigen Zahlen sind. Somit muss bei der jetzt an-stehenden Entscheidung seine Aussage, dass ein Umzugnicht 500 Millionen Euro bzw., wie es der KollegeRöttgen formuliert hat, 1 Milliarde DM kosten wird, be-achtet werden und zugleich muss sie dann auch gemein-sam mit dem Personalrat getroffen werden.An Diskussionen auf dieser Grundlage wollen wir unsbeteiligen. So wollen wir erreichen, dass maßvoll und al-lein an der Sache orientiert diskutiert und letztendlichauch entschieden wird. Somit sind Teilumzüge, wie siebereits geschehen sind, möglich, aber zu einem komplet-ten Umzug, der hier heute immer wieder als Schreckens-bild an die Wand gemalt wurde und heute immer wiederzu Recht kritisiert worden ist, wird es nicht kommen.Deshalb schließe ich meine Ausführungen mit derAussage, dass wir dem Innenminister dankbar sind,
dass er eine sachbezogene Rede gehalten hat und nichteine Rede, die er aufgrund der vielen Angriffe, denensein Amt und auch die Leitung des Bundeskriminalam-tes ausgesetzt waren, hier hätte halten können. Wir ge-hen auf dieses Auf-uns-Zugehen ein und wollen die Sa-che mit ihm gemeinsam zu einer vernünftigen Lösungbringen. Ich bedauere, der Opposition mit dieser meinerRede nicht mehr gedient haben zu können – vielleichtbeim nächsten Mal wieder.Danke sehr.
Als letztem Redner erteile ich dem Kollegen Guido
Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Ströbele, Sie haben gesagt, was füreine verkehrte Welt das sei, dass die Beamten des Bun-deskriminalamtes sich genötigt gesehen hätten, sich mitIhnen in Verbindung zu setzen.
– Oder sich veranlasst gesehen haben. – Wenn sich Be-amte des Bundeskriminalamtes schon an den Grünen-Abgeordneten Ströbele wenden, dann müssen sie sehrverzweifelt sein; davon ist auszugehen.
Herr Minister Schily, interessant ist nicht, dass Sie ge-sprochen haben, sondern interessant ist, dass Sie in Ihrer– das meine ich nur auf die Länge bezogen – überzoge-nen Rede nichts gesagt haben. Man merkt, dass auch Siegemerkt haben: Sie haben keine Mehrheit in diesemHause.
Das hat die eine Seite des Hauses klar formuliert, das ha-ben die Grünen gleich am Anfang der Debatte klar for-muliert und es ist Ihnen auch von der Seite der Sozialde-mokraten durch die Blume mehr oder weniger gesagtworden.Was Sie jetzt angetreten haben, ist ein Rückzugsge-fecht. Da wir nicht nur über das reden wollen, was in denletzten ein bis anderthalb Stunden gesagt worden ist,sondern auch über das, was jetzt auf uns zukommenwird, will ich Ihnen Folgendes sagen: Herr KollegeWiefelspütz, wie immer haben Sie als braver Soldat Ih-rer Fraktion hier gesprochen und versucht, dem eigenenMinister eine Brücke zu bauen. Aber wenn das so zuverstehen sein sollte, dass Sie in Wahrheit die Oppositi-onsparteien auffordern, an der Feinplanung mitzuarbei-ten
und die Grundsatzentscheidung nicht infrage zu stellen,dann werden Sie sich in diesem Hause mit Sicherheitauch weiterhin mit dieser für Sie sehr pikanten und un-angenehmen Problematik auseinander setzen müssen.
– Das Wort „ergebnisoffen“ heißt nicht, dass es noch umdie Art und Weise und die Zeitachse des Umzugs geht,sondern es heißt, dass die Grundsatzentscheidung, dieder Minister verkündet hat, durch dieses Haus infragegestellt wurde. Das ist das Ergebnis der heutigen De-batte.
Herr Minister, es ist schon ein starkes Stück, dass Siehier über zehn Minuten reden und nicht ein einzigesArgument vortragen, warum Sie, wie Sie im Haushalts-ausschuss gesagt haben, 400 Millionen Euro – Steuer-gelder – ausgeben wollen für einen Umzug, den Sie hieraugenscheinlich gar nicht fachlich begründen wollen,möglicherweise weil Sie es nie gekonnt haben.
Einen solchen Umgang mit Steuergeldern in Deutsch-land kann man mit Sicherheit nicht akzeptieren und nichtverantworten.Interessant ist übrigens nicht nur, wer in dieser De-batte gesprochen und nichts gesagt hat, sondern interes-sant ist auch, wer in dieser Debatte nichts gesagt hat,weil er nicht gesprochen hat.
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7500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 14. Januar 2004
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Dr. Guido WesterwelleFrau Kollegin Wieczorek-Zeul, Sie tun einem schonLeid.
– Ich höre Sie, aber ich hätte Sie gerne hier als Redneringehört.
Das ist ja ein Heldenmut, den Sie da hinten zeigen, zu-rückgezogen auf die letzten besetzten Bänke, im SchutzeIhrer Lieben. Das ist mit Sicherheit zu wenig.
Dieser Reflex ist unfair gegenüber Menschen, die schonaufgrund ihrer Arbeitszeiten, ihren Arbeitsorten und derGefahr, die ihre Tätigkeit mit sich bringt, mehr Flexibili-tät zeigen als die meisten, über die hier regelmäßig zusprechen ist.
Die Beamten des Bundeskriminalamtes sind verände-rungsbereit. Sie arbeiten zu Zeiten, zu denen andereMenschen nicht arbeiten, und sie setzen sich Gefahrenaus, denen sich die allermeisten Menschen niemals aus-setzen müssen.In der Presse die große Philippika zu starten, aber hiernicht den Mut zu haben, die eigenen Interessen, die deseigenen Wahlkreises, die der eigenen Region – wie Siees definiert haben – zu vertreten, das ist für eine Bundes-ministerin ganz schön zurückhaltend, um andere Wortezu vermeiden.
Interessant ist übrigens auch, wer auf der Bundesrats-bank sitzt und wer dort nicht sitzt. Das Land Hessen isthier vertreten. Man kann zu der Regierung stehen, wieman will; ich stehe als Liberaler in Opposition zu dieserRegierung.
Interessant ist aber auch, dass die nordrhein-westfälischeRegierung es nicht einmal für nötig hält, die Interessendes eigenen Bundeslandes hier im Deutschen Bundestagzu vertreten. Das ist – dies will ich als Nordrhein-West-fale hinzufügen – schändlich.
Zum Schluss, Herr Bundesinnenminister. Es stimmtnicht, dass Beamte keine Veränderungsbereitschaft zei-gen würden.
Denen mangelnde Veränderungsbereitschaft vorzuhaltenist in meinen Augen schon ein starkes Stück.
Es geht nicht um mangelnde Veränderungsbereit-schaft. Es geht vielmehr darum, dass Sie keinen einzigenfachlichen Grund vortragen konnten, warum400 Millionen Euro Steuergelder ausgegeben werdensollen. Sie sind mit Ihrem Plan gescheitert. Das ist dasErgebnis dieser Debatte.
Ich schließe die allgemeine Aussprache im Anschluss
an die Aktuelle Stunde.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 15. Januar 2004,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.