Protokoll:
15019

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 19

  • date_rangeDatum: 16. Januar 2003

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:15 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Benennung der Abgeordneten Dorothee Mantel für den Stiftungsrat der Stiftung „Hu- manitäre Hilfe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1423 A Erweiterung und Änderung der Tagesordnung 1423 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 1423 D Tagesordnungspunkt 3: a) Vereinbarte Debatte: 40 Jahre Élysée- Vertrag – Zusammenarbeit und ge- meinsame Verantwortung für die Zu- kunft Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1424 A b) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der Franzö- sischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages zur inter- parlamentarischen Zusammenarbeit (Drucksache 15/295) . . . . . . . . . . . . . . 1424 B c) Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas Schockenhoff, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: 40 Jahre deutsch-fran- zösischer Freundschaftsvertrag – für eine neue Qualität und Dynamik der deutsch-französischen Beziehungen (Drucksache 15/200) . . . . . . . . . . . . . . 1424 B d) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: 40 Jahre Élysée-Vertrag – Die deutsch-französische Zusammenar- beit fortentwickeln und in gemeinsa- mer Verantwortung für Europa die Zukunft mitgestalten (Drucksache 15/296) . . . . . . . . . . . . . . 1424 C Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 1424 D Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 1427 A Krista Sager BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1429 C Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . . . 1431 B Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 1432 C Michael Glos CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 1435 A Dr. Angelica Schwall-Düren SPD . . . . . . . . . 1436 D Ernst Burgbacher FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1438 D Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . . 1439 D Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . . . . . . 1440 C Peter Müller, Ministerpräsident Saarland . . . . 1442 A Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1443 C Dr. Andreas Schockenhoff CDU/CSU . . . . . . 1445 A Tagesordnungspunkt 4: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht 2002 derBundesregierung zum Stand der deutschen Einheit (Drucksache 14/9950) . . . . . . . . . . . . . . . . 1446 D Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1447 A Arnold Vaatz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 1449 B Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1452 C Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1454 B Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1454 C Joachim Günther (Plauen) FDP . . . . . . . . . . . 1455 A Siegfried Scheffler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 1456 D Plenarprotokoll 15/19 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 19. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 I n h a l t : Michael Kretschmer CDU/CSU . . . . . . . . . . . 1459 C Siegfried Scheffler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 1459 D Werner Kuhn (Zingst) CDU/CSU . . . . . . . . . 1460 B Peter Hettlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1463 A Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1464 C Angelika Krüger-Leißner SPD . . . . . . . . . . . . 1465 C Volkmar Uwe Vogel CDU/CSU . . . . . . . . . . . 1467 A Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Deutschland wirksam vor Terroristen und Extremisten schützen (Drucksache 15/218) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1468 B Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 1468 C Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 1471 A Gisela Piltz FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1473 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1474 C Hartmut Koschyk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 1476 D Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . . . . . . . 1478 B Rainer Funke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1479 D Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1480 D Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 1482 B Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1482 C Jürgen Herrmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 1483 A Christine Lambrecht SPD . . . . . . . . . . . . . . . 1484 B Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . 1486 B Volker Bouffier, Staatsminister Hessen . . . . . . 1488 B Rüdiger Veit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1490 C Volker Bouffier, Staatsminister Hessen . . . . . . 1490 D Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . 1491 B Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . 1497 B Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . 1497 C Clemens Binninger CDU/CSU . . . . . . . . . . . 1498 A Tagesordnungspunkt 18: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Steuer- vergünstigungen und Ausnahmerege- lungen (Steuervergünstigungsabbau- gesetz) (Drucksachen 15/287, 15/312) . . . . . . . 1499 D b) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung: Technikfolgenabschätzung (TA); Beratungskapazität, Technikfolgen- abschätzung beim Deutschen Bun- destag – ein Erfahrungsbericht (Drucksache 14/9919) . . . . . . . . . . . . . 1500 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich Adam, Ilse Aigner, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU: Transatlantische Beziehungen stär- ken – Potsdam-Center fördern (Drucksache 15/194) . . . . . . . . . . . . . . 1500 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfernstraßenfinanzierungs- und Ma- nagementgesellschaft (Bundesfernstraßen- finanzierungs- und Managementgesell- schaftsgesetz) (Drucksache 15/299) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1500 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Daniel Bahr (Münster), wei- teren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechs- ten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Un- terlagen-Gesetzes (6. StU-ÄndG) (Drucksache 15/313) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1500 C Tagesordnungspunkt 19: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- men vom 18. Februar 2002 zwischen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003II der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Zusammen- arbeit der Polizeibehörden und der Grenzschutzbehörden in den Grenz- gebieten (Drucksachen 15/11, 15/240) . . . . . . . 1500 C Tagesordnungspunkt 6: Wahlen zu Gremien a) Programmbeirat (Sonderpostwert- zeichen) beim Bundesministerium der Finanzen (Drucksache 15/206) . . . . . . . . . . . . . . 1501 A b) Beirat nach § 39 des Stasi-Unterla- gen-Gesetzes (Drucksache 15/303) . . . . . . . . . . . . . . 1501 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundes- republik Deutschland“ (Drucksache 15/304) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1501 A Tagesordnungspunkt 7: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Straßenbaubericht 2001 (Drucksache 14/8754) . . . . . . . . . . . . . . . . 1501 B Petra Weis SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1501 C Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 1503 B Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1505 D Horst Friedrich (Bayreuth) FDP . . . . . . . . . . 1507 B Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1508 B Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Eigenheimerwerb nicht erschwe- ren – weitere Belastungen für Beschäf- tigte und Betriebe der Bauwirtschaft und für Familien vermeiden (Drucksache 15/33) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1509 D Eberhard Otto (Godern) FDP . . . . . . . . . . . . . 1510 D Stephan Hilsberg SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1511 A Dr. Michael Meister CDU/CSU . . . . . . . . 1511 D Klaus Minkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 1512 D Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1514 C Georg Fahrenschon CDU/CSU . . . . . . . . . . . 1516 A Gabriele Groneberg SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 1517 C Tagesordnungspunkt 10: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des in- ternationalen Insolvenzrechts (Drucksachen 15/16, 15/323) . . . . . . . . . . 1520 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Anru- fung des Vermittlungsausschusses zu dem Zwölften Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Zwölftes SGB-V-Änderungsgesetz) (Drucksachen 15/27, 15/74, 15/76, 15/120, 15/298) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1520 C Dr. Marlies Volkmer SPD . . . . . . . . . . . . . . . 1520 D Michael Hennrich CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 1522 B Petra Selg BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 1524 A Dr. Dieter Thomae FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 1525 B Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen – Bil- dung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern (Drucksache 15/224) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1526 B Ulla Burchardt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1526 C Thomas Rachel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 1528 A Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1529 B Ulrike Flach FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1530 B Marion Seib CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 1531 C Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD . . . . . . . . . . . 1532 D Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 1534 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 III Tagesordnungspunkt 11: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vierzehntes Hauptgutachten der Mono- polkommission 2000/2001 (Drucksachen 14/9903, 14/9904 [Anlagen- band]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1536 A Hubertus Heil SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1536 A Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 1537 C Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1539 C Gudrun Kopp FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1540 C Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär BMWA 1541 C Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 A Hubertus Heil SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1544 A Tagesordnungspunkt 12: Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung hier: TA-Projekt: Tourismus in Großschutzgebieten – Wechselwirkungen und Kooperations- möglichkeiten zwischen Naturschutz und regionalem Tourismus (Drucksache 14/9952) . . . . . . . . . . . . . . . . 1545 B Gabriele Hiller-Ohm SPD . . . . . . . . . . . . . . . 1545 C Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 1547 B Undine Kurth (Quedlinburg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1548 C Jürgen Klimke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 1549 D Tagesordnungspunkt 19: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- nität und Geschäftsordnung zu dem Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau und zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der FDP: Weiter- geltung von Geschäftsordnungsrecht (Drucksachen 15/2, 15/1, 15/178) . . . . 1551 A Dr. Uwe Küster SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1551 B Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . . 1552 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1552 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 1553 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des internationalen Insolvenzrechts (Tagesord- nungspunkt 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1553 A Dirk Manzewski SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1553 B Tanja Gönner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 1554 A Jerzy Montag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1556 B Rainer Funke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1556 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 1557 A Anlage 3 Technikfolgenabschätzung hier: TA-Projekt: Tourismus in Großschutzgebieten – Wech- selwirkungen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Naturschutz und regionalem Touris- mus (Tagesordnungspunkt 12) . . . . . . . . . . . . 1557 D Dr. Christian Eberl FDP . . . . . . . . . . . . . . . . 1557 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003IV (A) (B) (C) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 1423 19. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 Beginn: 9.00 Uhr
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    (A) (B) (C) (D) 1552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 1553 (C) (D) (A) (B) Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 16.1.2003 Hartnagel, Anke SPD 16.1.2003 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 16.1.2003 Dr. Hoyer, Werner FDP 16.1.2003 Kasparick, Ulrich SPD 16.1.2003 Lenke, Ina FDP 16.1.2003 Michelbach, Hans CDU/CSU 16.1.2003 Möllemann, Jürgen W. FDP 16.1.2003 Reiche, Katherina CDU/CSU 16.1.2003 Straubinger, Max CDU/CSU 16.1.2003 Volquartz, Angelika CDU/CSU 16.1.2003 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des internationalen Insolvenzrechts (Tagesordnungspunkt 10) Dirk Manzewski (SPD):Am heutigen Tag debattieren wir abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung zur Neuregelung des Internationalen Insolvenz- rechts. Dieser Gesetzesentwurf beruht im Wesentlichen auf einer entsprechenden europäischen Verordnung, mit der das Internationale Insolvenzrecht in der Europäischen Union in seinen wichtigsten Bereichen harmonisiert wor- den ist. Ziel dieser Verordnung ist es insbesondere gewe- sen, Kollisionen zwischen den einzelstaatlichen Rechtsver- ordnungen und Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten besser zu lösen. Die euro- päische Gemeinschaft hat damit eine verlässliche Grund- lage erhalten, wie grenzüberschreitende Insolvenzverfahren abzuwickeln sind. Dies gilt für die Frage der Anerkennung eines ausländischen Insolvenzverfahrens ebenso wie das auf dieses Verfahren anwendbare Recht oder die Befug- nisse eines ausländischen Verwalters. Für die Verordnung gilt dabei – und dies ist wichtig – das Prinzip der so genannten gemäßigten Universalität. Dies bedeutet, dass – soweit keine Beschränkungen durch so genannte Sonderanknüpfungen oder besondere Terri- torialverfahren vorliegen – das in einem Mitgliedstaat eröffnete Insolvenzverfahren vom Grundsatz her univer- sale Wirkung entfaltet. Das gesamte Vermögen des Schuldners wird also hiervon umfasst und zwar unabhän- entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenografischen Bericht gig davon, in welchem Mitgliedstaat es sich befindet. Den Gläubigern bietet dies unter anderem den Vorteil einer stärkeren Gleichbehandlung, da all diejenigen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt, Wohnsitz oder Sitz in einem der EU-Mitgliedsländer haben, ihre Forderungen in je- dem Insolvenzverfahren über das schuldnerische Vermö- gen anmelden können. Der hier debattierte Gesetzesentwurf hat diese europä- ische Verordnung aufgegriffen und durch seinen Art. 1 in das deutsche Recht eingepasst. Zwar gilt eine Verordnung – wie die dem Gesetzesentwurf zugrunde liegende – un- mittelbar in jedem Mitgliedstaat und bedarf von daher ei- gentlich keiner besonderen Umsetzung, doch sind für ihr reibungsloses Funktionieren gewisse Anpassungen im deutschen Recht unerlässlich. Nicht mehr und nicht we- niger will insoweit der Gesetzesentwurf. Als Beispiel seien etwa die Festlegung des im Inland zuständigen Ge- richts oder Bestimmungen über die öffentlichen Bekannt- machungen in Deutschland genannt. Ein weiteres Problem ist, dass durch die Verordnung grenzüberschreitende Insolvenzverfahren nicht abschlie- ßend geregelt werden. So macht die Verordnung zum Bei- spiel keine Aussage zu den Mitwirkungsrechten des In- solvenzverwalters. Dies ist seinerzeit bewusst offen gelassen worden, um den Mitgliedstaaten insoweit eine eigenständige Ausgestaltung zu ermöglichen. Da das au- tonome deutsche Internationale Insolvenzrecht ohnehin bis- lang nur sehr lückenhaft im Einführungsgesetz zur Insol- venzordnung geregelt ist, hat sich ein eigenständiges deutsches Internationales Insolvenzrecht quasi aufgedrängt. Dieses wird im Übrigen schon seit langem gefordert. Der Gesetzesentwurf hat sich dem angenommen und sieht deshalb auch vor, dass in einem neuen elften Teil ein autonomes Internationales Insolvenzrecht in die Insol- venzordnung eingefügt wird. Hierfür hat nicht nur gesprochen, dass es der Rechts- klarheit dient, wenn die wesentlichen Rechtsgrundsätze für grenzüberschreitende Insolvenzen in einem eigenen Teil der Insolvenzordnung niedergelegt sind: Ein globaler Verweis auf die Verordnung würde dem nur unzulänglich gerecht. Zu beachten war auch, dass Regelungen, die für den überschaubaren Wirtschaftraum der EU richtig sein mögen, bei einer weltweiten Anwendung gegebenenfalls zu kurz greifen könnten, und dies nicht nur, weil ein der- art kompliziertes Verfahren, wie es nun einmal ein grenz- überschreitendes Insolvenzverfahren darstellt, auch auf der anderen Seite vergleichbare Regelungen voraussetzen sollte. Es wäre deshalb nicht sachgerecht, die Bestimmungen der Verordnung auch gegenüber Drittstaaten so gelten zu lassen. Um es deutlich zu sagen: Ein innerstaatliches In- ternationales Insolvenzrecht bräuchte – vielleicht sogar sollte – gegenüber Nicht-EU-Staaten weniger kooperati- onsfreundlich sein. Die in Art. 2 des Gesetzesentwurfs enthaltenen Bestimmungen lehnen sich deshalb eng an die EU-Verordnung an, enthalten dementsprechend je- doch Abweichungen, die bei einer weltweiten Anwen- dung zwingend geboten sind. Gleichzeitig wird mit diesen Vorschriften eine Teilum- setzung der Richtlinien über die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen respektive Kreditinstituten erreicht. Dies gilt für die Vorschriften der genannten Richt- linien, zu denen korrespondierend im deutschen Recht Bestimmungen geschaffen werden, die nicht nur für Kre- ditinstitute und Versicherungsunternehmen, sondern für alle Unternehmen gleichermaßen gelten. Die Gesetzesinitiative der Bundesregierung wird von mir ausdrücklich begrüßt. Ich hoffe, sie findet auch die Unterstützung der Opposition. Gründe, warum man sie ablehnen könnte, sind für mich nicht ersichtlich. Tanja Gönner (CDU/CSU): Wir diskutieren heute über das Gesetz zur Neuregelung des Internationalen In- solvenzrechtes. Die Neuregelung wird aufgrund der EG- Verordnung 1346/2000 eingeführt. Zwar gilt die Verord- nung grundsätzlich ohne weiteren Umsetzungsakt inner- halb der EU, allerdings gibt es die Notwendigkeit, einige Anpassungen vorzunehmen. Es geht darum, dass wir in- nerhalb des Wirtschaftsraumes der EU eine einheitliche Regelung haben. Darüber hinaus ist es in Zeiten der im- mer weiter fortschreitenden Internationalisierung und Globalisierung aber auch notwendig, dass Regelungen auch für Beziehungen mit anderen Staaten außerhalb der EU getroffen werden, damit die Insolvenzverfahren rei- bungslos ablaufen können. Deswegen besteht hinsichtlich des Inhalts des Gesetzes grundsätzlich ein Konsens. Aber bereits heute ist klar, dass dies nur der Anfang sein kann. Es muss und wird zu Ergänzungen kommen, da die Regelungen letztlich nur bei Einzelvermögensgegen- ständen und unselbstständigen Niederlassungen greifen. Damit ist ein zentraler Bereich ausgenommen, für den eine Regelung gerade notwendig wäre, nämlich die Ab- wicklung internationaler Konzerne. Kirch, Holzmann, Fairchild Dornier und Babcock Borsig waren im Jahr 2002 die spektakulären Insolvenzen. Dies alle sind große Konzerne mit internationalen Beziehungen und Tochter- firmen im Ausland. Gerade für diese aber gibt es keine Regelungen. Hier haben die Insolvenzverwalter keine Regelung, wie sie mit dem im Ausland vorhandenen Ver- mögen umgehen können und sollen. Hier bewegen sie sich im rechtlich noch ungeklärten Rahmen und haben damit immer auch ein nicht zu unterschätzendes Haftungsrisiko zu tragen. Wir brauchen daher als nächsten Schritt ganz dringend eine internationale Regelung zur Insolvenz von Konzer- nen. Dies ist eine Herausforderung, weil hier natürlich Widerstände vorhanden sind; aber es ist dringend not- wendig. Hier ist die Bundesregierung gefordert, die Ver- handlungen auf europäischer Ebene anzustoßen und vo- ranzubringen. Allerdings ist auch festzuhalten, dass wir zu diesem zentralen Bereich auch im nationalen Recht noch keine Regelung haben. Zwar sind alle gesellschaftsrechtlichen Rechtsformen in der Insolvenzordnung enthalten, aber welche Auswirkungen die Insolvenz eines Konzerns auf die verbundenen Tochterunternehmen bzw. die Insolvenz eines Tochterunternehmens auf den Gesamtkonzern hat, haben wir auch noch nicht geregelt. Es ist also noch genü- gend Handlungsbedarf auch und gerade bei uns vorhanden. Wer die Insolvenzzahlen in Europa für die Jahre 2001 und 2002 anschaut, der stellt fest, dass diese angestiegen sind. Das dürfte der Regierung entgegenkommen, da sie sich ja immer darauf beruft, dass es uns wirtschaftlich schlecht geht, weil die Weltwirtschaft nicht wachse; Eu- ropa ist neben den USA der stärkste Faktor für die welt- wirtschaftliche Gesamtentwicklung. Aber die Zahlen sprechen eine ganz andere Sprache. Die Steigerungsrate von 5,94 Prozent im Jahr 2001 in Europa geht zu einem guten Teil darauf zurück, dass der Anstieg in Deutschland bei 18,7 Prozent liegt. Deutschland hat in absoluten Zah- len die mit Abstand höchste Gesamtinsolvenzzahl in Eu- ropa. Wenn man nun bereits weiß, dass der Zuwachs bei den Gesamtinsolvenzverfahren im Jahr 2002 in Deutsch- land bei sage und schreibe 66 Prozent liegt, kann man sich vorstellen, dass wir auch in diesem Jahr diejenigen sein werden, die die Quote in Europa nach oben treiben. Nach den derzeit vorliegenden Zahlen hat sich die Zahl der Fälle in Frankreich um 7 Prozent und in Großbritan- nien um 3,5 Prozent erhöht. Dies sind zwei Volkswirt- schaften, die durchaus auch nicht zu den Kleinen zählen und mit uns vergleichbar sind. Diese Zahlen haben nichts damit zu tun, dass wir bisher kein Internationales Insol- venzrecht hatten. Wir sind der kranke Mann Europas. Nicht die Stim- mung ist schlechter als die Lage, sondern die Lage ist noch viel schlimmer als die Stimmung. Es herrscht De- pression und Resignation. Das will diese rot-grüne Bun- desregierung natürlich nicht nur nicht wahrhaben – sie ist schließlich dafür verantwortlich –, sondern sie behauptet auch noch ständig das Gegenteil. Aber wie weit man den Aussagen dieser Regierung trauen kann, haben die Wähle- rinnen und Wähler ja nach dem 22. September sehr schnell gemerkt. Sie hat jeglichen Realitätsbezug verloren. Früher waren die Worte Insolvenz und Konkurs nur den damit beschäftigten Fachleuten bekannt. Große Teile der Bevölkerung kannten diesen Begriff gar nicht. Heute wird die Entwicklung der Insolvenzraten mit Besorgnis wahrgenommen und es wird darüber gesprochen. Die Menschen haben Angst, dass es demnächst ihren Arbeit- geber und ihren Arbeitsplatz treffen könnte. Wir werden für das Jahr 2002 eine Gesamtzahl von sage und schreibe 82 400 Insolvenzen haben; das ist ein Anstieg von 66 Pro- zent gegenüber 2001. Die Zahl der Unternehmensinsol- venzen liegt bei 41 500 und damit 20 Prozent über dem letzten Jahr. Es sind nicht nur die spektakulären Insolven- zen Kirch, Holzmann, Herlitz, Photo Porst, Fairchild Dornier und Babcock. Es sind die vielen kleinen mittel- ständischen Betriebe, die das Gros ausmachen. Die Ar- beitsplätze gehen zu 65 Prozent in Betrieben mit unter fünf Mitarbeitern verloren. In diesen Zahlen sind im Übrigen all die kleinen mittelständischen Betriebe und Handwerker noch gar nicht enthalten, die still ihre Firmen liquidieren, bevor es zum „worst case“, der Insolvenz, kommt. Der wirtschaftliche Gesamtschaden aufgrund der For- derungsausfälle liegt bei 38,4 Milliarden Euro. Das ist ein höherer Betrag als die schon exorbitant hohe Neuver- schuldung des Bundes im Jahr 2002. Viele Betriebe kom- men aufgrund eines oder mehrerer Forderungsausfälle selber wieder in Schwierigkeiten. Die Zahl der Betriebe, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 20031554 (C) (D) (A) (B) die wegen Forderungsausfällen Dritter insolvent werden, steigt ständig an. Wir drehen uns hier in einer hoch ge- fährlichen Spirale nach oben. Aber dieser Zusammenhang scheint bei der Regierung noch nicht angekommen zu sein. Das alles sind Zahlen, mit denen man wie mit vielen Statistiken umgehen könnte: Zur Kenntnis nehmen und weglegen. Sie werden schon irgendwann wieder besser werden. Das einzig Dumme ist, dass man diese Zahlen nicht schönreden und vertuschen kann wie andere Zahlen, auch wenn diese Regierung gerade darin ja hervorragend ist. Hinter jedem Betrieb stehen Arbeitsplätze, hinter je- dem Arbeitsplatz steht ein Arbeitnehmer und hinter vielen dieser Arbeitnehmer stehen Familien. Im letzten Jahr wa- ren laut Creditreform 590 000 Arbeitsplätze durch die Insolvenzen betroffen. Das ist ein Anstieg von 17,5 Pro- zent gegenüber dem Vorjahr. Im Übrigen belasten diese 590 000 Menschen den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit nicht nur dadurch, dass sie nach der Entlassung Arbeitslosengeld beziehen. Darüber hinaus ist für diese Menschen für bis zu drei Mo- nate der Nettolohn im Rahmen des lnsolvenzgeldes zu zahlen. Allein diese Direktzahlung hat den Haushalt der Bundesanstalt im Jahr 2002 mit 1,93 Milliarden Euro be- lastet; auch hier liegt ein Anstieg von 1,3 Milliarden Euro von 2001 auf 2002, also um 48 Prozent vor. Wir haben im Insolvenzbereich Wachstumszahlen, von denen wir in der Wirtschaft nur träumen können. Von den Ausfällen der Sozialversicherungsbeiträge will ich in diesem Zusam- menhang nicht sprechen, hier hat die Regierung nach ei- genen Aussagen ja alles im Griff. Hier kann nur etwas erreicht werden, wenn die Regie- rung endlich in der Realität ankommt und ihre Wirt- schafts- und Arbeitsmarktpolitik deutlich ändert. Denn nicht nur die Zahlen für die Insolvenzen steigen an, zu- gleich geht die Zahl der Neugründungen ständig zurück. Wer soll eigentlich in Zukunft noch die Arbeitsplätze in diesem Land stellen? Es gibt auch noch einen zweiten Bereich in unserem In- solvenzrecht mit hohen Steigerungsraten. Bei der Ein- führung des Insolvenzgesetzes zum 1. Januar 1999 wurde ein Teil als Kernstück und große Errungenschaft angese- hen, nämlich das so genannte Restschuldbefreiungsver- fahren für Privatpersonen. Man wollte mit diesem Ver- fahren überschuldeten Menschen die Möglichkeit geben, einen Neuanfang zu erreichen. Wenn sie über einen Zeit- raum von sieben Jahren bereit waren, ihren pfändbaren Anteil am Arbeitseinkommen zugunsten der Gläubiger abzuführen, sollten sie nach dieser Zeit eine neue Chance für ihre wirtschaftliche Entwicklung ohne weitere Zwangs- vollstreckungsmaßnahmen erhalten. In Anbetracht von 2,9 Millionen überschuldeten Haushalten in Deutschland war man sich einig, dass hier Handlungsbedarf bestand. Der Gesetzgeber hat aber bereits damals – im Übrigen in Kenntnis dessen, dass es hier Probleme geben wird – zwei Fragebereiche nicht geregelt, nämlich erstens ob hinsicht- lich der Kosten Prozesskostenhilfe gewährt werden soll und zweitens, ob den Gläubigern vonseiten der Schuldner auch eine Lösung vorgelegt werden kann, die keinerlei Zahlungen vorsahen, den so genannten Nullplan. Die erste Frage hat große Auswirkungen auf die Haus- halte der Länder, da Prozesskostenhilfe eine Zahlung des Staates vorsieht, die nur in wenigen Fällen zurückgezahlt werden musste. Der zweite Teil hat Auswirkungen auf die Frage, ob der Schuldner überhaupt noch eine Anstrengung machen muss, um von allen Schulden befreit zu werden, also auch vorbeugend für die Zukunft ist, oder ob das Si- gnal lautet: Konsumiert, ihr könnt ja dann Insolvenz ma- chen und müsst nichts weiter tun, als euch sieben Jahre einzuschränken. Das ist ein fatales Signal und führt im Übrigen dazu, dass die Gläubiger, auf deren Kosten dies geht, den Glauben an den Rechtsstaat verlieren. Die offe- nen Fragen wurden durch die Rechtssprechung geklärt, der Nullplan ist zulässig und in den meisten Ländern wird PKH gewährt. Diese schuldnerfreundliche Rechtssprechung reichte der rot-grünen Bundesregierung aber nicht. Denn die Zah- len derer, die den Weg zu den Gerichten fanden und damit in den Genuss von Restschuldbefreiung kommen könn- ten, erschienen ihr zu niedrig. Das ursprüngliche Verfah- ren stellte einige Anforderungen an die Schuldner, die sel- ber etwas hätten beitragen müssen, damit aber auch ihren guten Willen hätten zeigen können. Also wurde zum 1. Dezember 2001 eine Regelung eingeführt, die es den Schuldnern jetzt ermöglicht, durch einfache Anträge letzt- lich alles zu erledigen und keine Leistung mehr zu erbrin- gen. Die Kosten werden gestundet und wenn er sie nach Ablauf des Verfahrens nicht zahlen kann, erfolgt eine wei- tere Verlängerung der Stundung und schließlich wird die Forderung dann nicht weiter verfolgt. Es reicht der Antrag auf Restschuldbefreiung und die Unterlagen soll sich der Insolvenzverwalter dann selber zusammensuchen. Bei allem sozialen Verständnis dafür, dass man den Menschen, nachdem sie in Teilen unverschuldet in die Verschuldung gelangt sind, helfen muss, damit sie hier wieder eine Chance erhalten, kann es aber nicht sein, dass dafür keine eigenen Anstrengungen vonseiten des Schuldners vorgenommen werden müssen und alles auf Kosten der Steuerzahler und Gläubiger geht. Wie nicht anders zu erwarten stieg die Zahl der Privatinsolvenzen im letzten Jahr exorbitant; wir haben eine Steigerung zwi- schen den Jahren 2001 und 2002 von 162 Prozent. Es sind nicht nur die großkapitalistischen Banken und Gläubiger, die diese Praxis bemängeln. Nein. Die Ge- richte wissen nicht mehr, wie sie den Arbeitsanfall bewäl- tigen sollen. In den namhaften Fachzeitschriften rufen die Insolvenzrichter und -rechtspfleger gemeinsam zur Wie- derherstellung der Funktionsfähigkeit der Insolvenzge- richte und der Insolvenzordnung auf. Wörtlich heißt es darin: „Insolvenzverfahren natürlicher Personen sind in der derzeitigen Ausgestaltung viel zu personalintensiv, teuer, nicht zielführend und gefährden die eingetretenen positiven Entwicklungen des reformierten Insolvenzrech- tes“. Ein vernichtendes Urteil von denen, die tagtäglich mit diesen Regelungen zu tun haben. Immerhin veranlasste dieser Aufruf den Staatssekretär Hartenbach dazu, eine Stellungnahme abzugeben. Er sieht keinen Anlass für einen Rundumschlag, man wolle ledig- lich überprüfen, in welchem Umfang zur Gerichtsentlas- tung Verfahrenserleichterungen im Regelinsolvenzver- fahren eingeführt werden können. Das Problem ist nur, dass diese Stellungnahme an der Realität und der Praxis vorbeigeht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 1555 (C) (D) (A) (B) Die von der Regierung zu verantwortende Fehlent- wicklung führt dazu, dass zwischenzeitlich in den Fach- kreisen bereits darüber diskutiert wird, dass das gesamte Restschuldbefreiungsverfahren ganz abgeschafft werden soll. Immerhin hat das Amtsgericht München zwi- schenzeitlich das Bundesverfassungsgericht zur Klärung der Frage eingeschaltet, ob denn die Regelungen der Rest- schuldbefreiung mit der grundgesetzlich verankerten Ei- gentumsgarantie vereinbar sind. Wahrhaft ein Phyrussieg für diejenigen, denen man helfen wollte. Ein Konsens, der über die Insolvenzordnung 1999 eingeführt worden war, wurde aus ideologischen Gründen aufgekündigt. Die Regierung hat vor allem eins gezeigt, nämlich dass sie von der Realität und der Praxis des Insolvenzrechtes in diesem Land nicht die geringste Ahnung hat. Hätte man im Vorfeld diejenigen, die die Verfahren abwickeln, be- fragt, dann hätten sie allen von der Neuregelung zum 1. De- zember 2001 abgeraten. Aber die Regierung ist ja so gut, dass sie keine Hilfe braucht und jeder, der nicht ihrer Mei- nung ist, keine Ahnung hat. Ich kann der neuen Justizministerin wärmstens emp- fehlen, die Änderung vom 1. Dezember 2001 rückgängig zu machen. Ich für meinen Teil würde diese begrüßen und sie werden in Fachkreisen auf große Zustimmung treffen. Helfen sie mit, dass die Gerichte wieder arbeitsfähig wer- den und wir ein Insolvenzrecht haben, dass tatsächlich ei- nen Ausgleich zwischen Gläubiger und Schuldner schafft. Die von mir angeführten Zahlen sind erschreckend. Wo immer man in dieser Angelegenheit ansetzt, man trifft verheerende Zahlen an, die zugleich Ausdruck für die de- saströse Wirtschaftspolitik dieser Regierung sind. Sie sollte endlich einsehen, dass sie auf dem Holzweg ist und ihre ideologischen Scheuklappen ablegen. Die Menschen und die Unternehmer in diesem Land brauchen endlich ein positives Zeichen. Der Arbeitsmarkt muss dereguliert werden und den Menschen muss Freiheit zurückgegeben werden, um sich unternehmerisch zu betätigen. Dann werden auch die Insolvenzzahlen wieder zurückgehen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir er- leben eine fortschreitende europäische Einigung mit ei- nem gemeinsamen Markt, die Transformation der mittel- und osteuropäischen Staaten von der Plan- zur sozialen und Regeln unterworfenen Marktwirtschaft und eine zu- nehmende Liberalisierung des Welthandels in Zeiten der Globalisierung – mit Chancen und gleichzeitig neolibera- len Auswüchsen schlimmster Art. Der internationale Wirt- schaftsverkehr hat in den letzten Jahren neue Dimensionen erreicht. Diese Entwicklung der stärkeren internationalen Wirtschaftsverflechtungen wird sich mit Sicherheit fortset- zen. Nationales wie internationales Wirtschaften brauchen ein gesichertes rechtliches Umfeld. Es muss rechtliche Rahmenbedingungen geben – und es gibt sie –, die es ermöglichen, dass nationales wie grenz- überschreitendes Wirtschaften funktionieren und florie- ren können. Rechtssicherheit ist jedoch nicht nur wichtig und wünschenswert, wenn es darum geht, wirtschaftlich „blühende Landschaften“ ersprießen zu lassen, sondern auch und gerade dann, wenn etwas schief läuft. Konkret bedeutet das: Schutz der finanziell und wirtschaftlich Schwächeren, Schutz ihrer als bevorrechtigt anzusehen- den Rechte und Gewährung einer zweiten Chance in ge- eigneten Fällen. Die Rede ist von Insolvenzfällen. Wie im nationalen gibt es die leider auch im grenzüberschreiten- den Wirtschaftsleben. Dementsprechend stellt sich die Frage, wie mit Insolvenzverfahren mit grenzüberschrei- tendem Bezug zu verfahren ist. In der Europäischen Gemeinschaft war diese Frage lange bekannt. Nach dem Scheitern der Bestrebungen zur Schaffung eines Europäischen Insolvenzübereinkom- mens wurde deshalb schließlich die entsprechende Ver- ordnung Nummer 1346/2000 erlassen. Damit wurde das internationale Insolvenzrecht in der EU in wesentlichen Teilen vereinheitlicht, sodass nun endlich Klarheit herrscht bei Fragen der kollidierenden Zuständigkeit der Gerichte, der Eröffnung des Verfahrens und der Anerkennung aus- ländischer Insolvenzverfahren. Wir begrüßen dies aus- drücklich. Das Gleiche gilt für den Teil des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Neuregelung der Kollisionsnormen des Internationalen Insolvenzrechts im deutschen Recht. Denn damit wird eine bisher nur lückenhafte Regelung des nationalen Rechts von einem umfassenden Gesetz ab- gelöst. Wir sorgen damit für die nötige Rechtsklarheit auch im nationalen Recht und zudem für ein reibungslo- ses Funktionieren der EG-Verordnung. Wenn wir zusätzlich zu einer EG-Verordnung, die oh- nehin direkte Bindungswirkung in den Mitgliedstaaten entfaltet, ein Gesetz schaffen, dann hat das einen triftigen Grund. Es geht vor allem auch darum, gegenüber Nicht- Mitgliedstaaten der EG nicht in gleicher Weise die Ver- ordnung anwenden zu müssen, sondern erforderlichen- falls die Möglichkeit zu schaffen, im Einzelfall die Rechtsstaatlichkeit und Funktionsfähigkeit der Verfahren in Drittländern prüfen zu können. Ich denke, darüber be- steht Einigkeit. Ich bin froh, dass wir bei einem Thema wie der Neure- gelung des Internationalen Insolvenzrechts an einem Strang ziehen. Das zeigt, dass es möglich ist, sachgerechte und ausgewogene Lösungen gemeinsam zu erarbeiten. Lassen sie uns das ein Ansporn sein, auch Themen, die man vielleicht nicht als „rein fachpolitischer“ Natur be- zeichnen kann – ich denke da an die anstehende Novelle des Urheberrechts – einer solchen Lösung zuzuführen. Wenn eine größere Bandbreite von verschiedenen Inte- ressen berührt ist, dann sollten diese berücksichtigt und ihr Gewicht vernünftig gegeneinander abgewogen werden. Rainer Funke (FDP):Als wir im Oktober 1994 die In- solvenzordnung alle gemeinsam hier im Parlament verab- schiedet haben, war uns bewusst, dass die Fragen des In- ternationalen Insolvenzrechts nur bruchstückhaft in der Insolvenzordnung geregelt sind, und dass insoweit ge- setzliche Regelungen noch erfolgen müssen. Bewusst ha- ben wir die Entwicklung, insbesondere in Europa, abwar- ten wollen. Eine erste Verordnung der Europäischen Union vom 29. Mai 2000 liegt nun vor und muss in deut- sches Recht eingefügt werden; auch wenn zuzugeben ist, dass die Verordnung direkt nationales Recht ist. Diese Einfügung in unser deutsches Recht ist dem Bundesjus- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 20031556 (C) (D) (A) (B) tizministerium gut gelungen; wir werden dem Gesetzent- wurf der Bundesregierung zustimmen. Wir sind uns darüber bewusst, dass am Internationalen Insolvenzrecht und dort insbesondere im Internationalen Konzerninsolvenzrecht weiter gearbeitet werden muss. Aufgrund der Globalisierung des gesamten Welthandels ist auch die internationale Konzernverflechtung vorange- schritten. Deswegen müssen durch internationale Verein- barungen, aber auch durch Rechtsvorschriften der Europä- ischen Union, die grenzüberschreitenden Auswirkungen einer Insolvenz eines Konzerns besser als bisher geregelt werden. Solche Dinge benötigen Zeit. Es wäre aber schön, wenn wir noch in dieser Legislaturperiode weitere wichtige No- vellierungen auf dem Gebiet des Internationalen Insol- venzrechts beschließen könnten. Dies gilt sowohl für das materielle Insolvenzrecht als auch für den formellen Be- reich. Es muss nicht nur die Zuständigkeit der einzelnen Insolvenzverfahren, sondern auch über die Abwicklung der Insolvenzverfahren im internationalen Verbund Klar- heit herrschen. Wir werden versuchen, wie im Insolvenz- recht bislang gute Übung, über die Fraktionen hinweg, vernünftige Regelungen zu finden. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Das Internationale Insolvenz- recht war bisher in Deutschland ein Stiefkind des Gesetz- gebers. Es ist in Art. 102 des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung sehr lückenhaft geregelt. Das ist ange- sichts der vielfältigen grenzüberschreitenden Beziehun- gen deutscher Unternehmen, aber auch der von Privatper- sonen, zu wenig, wie uns nicht zuletzt die Fachkreise immer wieder bestätigen. Ich begrüße es deshalb sehr, dass die EG-Verordnung über Insolvenzverfahren vom 29. Mai 2000 das Interna- tionale Insolvenzrecht der Mitgliedstaaten in den zentra- len Bereichen vereinheitlicht. Diese Verordnung ist in al- len Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht. Damit wir sie in Deutschland ohne größere Schwierigkeiten an- wenden können, sind gewisse Anpassungen im deutschen Recht erforderlich, wie etwa die Festlegung des Gerichts, das bei uns für Insolvenzverfahren mit grenzüberschrei- tendem Bezug zuständig sein soll. Diese Anpassungen nehmen wir in Art. 1 des Gesetzentwurfs vor, der Ihnen heute in zweiter und dritter Lesung vorliegt. Wir wollen außerdem unser Internationales Insolvenz- recht über den Kreis der Mitgliedstaaten der EU hinaus auf den Standard der Verordnung bringen. Denn das zu- recht beklagte Defizit im deutschen Internationalen Insol- venzrecht besteht ja auch gegenüber Drittstaaten, mit de- nen wir ebenfalls enge Wirtschaftsbeziehungen haben, wie etwa die USA. Der Gesetzentwurf sieht deshalb in Art. 2 eine eingehende Regelung für unser eigenes – au- tonomes – Internationales Insolvenzrecht vor, die sich weitgehend an das Regelungsprogramm der Verordnung anlehnt. Gewisse Einschränkungen sind hier jedoch vor- gesehen, da bei einer weltweiten Anwendung möglicher- weise auch Verfahren betroffen sind, die sich stärker von unseren insolvenzrechtlichen Vorstellungen unterschei- den, als es bei unseren Partnern in der EU der Fall ist. Dies hat bei den Beratungen im Wirtschaftsausschuss wohl einige Kollegen bewogen, den Grundsatz der Ge- genseitigkeit in unserem autonomen Internationalen In- solvenzrecht festschreiben zu wollen. Danach würden wir das Insolvenzverfahren eines anderen Landes anerken- nen, wenn es unser Verfahren anerkennt. Dieser Weg führt uns in der Praxis nicht weiter und koppelt uns von der Ent- wicklung in vergleichbaren Staaten ab. Ein Beispiel hier- für wäre ein Land, das zwar bereit ist, deutsche Insol- venzverfahren ohne weiteres anzuerkennen, in seinem eigenen Konkursrecht aber Verfahren kennt, die eher ei- ner Enteignung denn einem Insolvenzverfahren gleichen und ausländischen Gläubigern die Verfahrensteilnahme weitgehend verwehren. Die Anerkennung dieses auslän- dischen Verfahrens könnte nicht über den Grundsatz der Gegenseitigkeit abgelehnt werden. Effektive Kontrollen, mit denen solche Verfahren, die unseren Gerechtigkeitsvorstellungen grob zuwider lau- fen, abgewehrt werden können, bietet die Ordre-Public- Klausel, die sich in § 343 Abs. 1 Nr. 2 der Insolvenzord- nung in der Fassung unseres Gesetzentwurfs findet. Die Ordre-Public-Klausel ist das geeignete Mittel, um der Diskriminierung inländischer Gläubiger vorzubeugen und grob ungerechte Verfahren abzublocken. Wir erken- nen ein ausländisches Verfahren nicht deshalb an, weil der betreffende Staat auch deutsche Verfahren akzeptiert, sondern weil wir der Überzeugung sind, dass ein univer- sales Verfahren am Mittelpunkt der wirtschaftlichen In- teressen des Schuldners am besten für die Insolvenzgläu- biger ist. Auf dem Weg dorthin kommen wir mit diesem Gesetz einen großen Schritt weiter. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Berichts: Technikfolgenab- schätzung, hier: TA-Projekt: Tourismus in Groß- schutzgebieten – Wechselwirkungen und Koope- rationsmöglichkeiten zwischen Naturschutz und regionalem Tourismus (Tagesordnungspunkt 12) Dr. Christian Eberl (FDP): Bereits die Überschrift „Wechselwirkungen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Naturschutz und regionalem Tourismus“ weist auf die große Bedeutung der Kooperation zwischen Na- turschützern und Naturnutzern hin. Leider weist aus un- serer Sicht die bisherige Politik dieser Regierung in eine andere Richtung. Das in der letzten Legislaturperiode ver- abschiedete neue Naturschutzgesetz dient gerade nicht diesem Kooperationsprinzip und damit einem nachhalti- gen Interessenausgleich, sondern untergräbt die Akzep- tanz für Maßnahmen des Naturschutzes durch den Vor- rang ordnungsrechtlicher Maßnahmen. Das Resümee des vorliegenden Endberichtes können wir als FDP-Fraktion in vollem Umfang unterstützen und mittragen. Die Erhaltung und der Schutz der Natur einer- seits und die Entwicklung des Tourismus, aufbauend auf diesem natürlichen Kapital, andererseits zeigen auf, dass unsere Naturlandschaften in der Vergangenheit und auch in der Zukunft durch den Menschen geprägt und gestaltet Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 1557 (C) (D) (A) (B) wurden und werden. Letztlich zeigt der Bericht, dass es an strategischen Konzepten fehlt und dass es gilt, diese De- fizite anzugehen: Es fehlen regionale, ganzheitliche Ent- wicklungskonzepte, die alle Belange berücksichtigen. Es fehlt ein Marketingkonzept, um Tourismus im und nicht trotz des Großschutzgebietes zu entwickeln. Es fehlt zum Teil auch an der Information und Identifikation der örtli- chen Bevölkerung mit „ihrem“ Großschutzgebiet. Daher sollte der zuständige Umweltbundesminister aus unserer Sicht vorrangig mehr nationale Großschutz- gebiete und deren nachhaltige Entwicklung fördern, als globale Mittel für internationale Fonds – siehe Einzel- plan 16, Titel 687 11, Titelgruppe 01, Seite 24 – bereitzu- stellen. Aus diesen Fonds werden zum Beispiel die Vögel bei ihrem Überflug über der Sahelzone geschützt. Eine konkrete Unterstützung der Entflechtung der Interessen des Tourismus, der regionalen Bevölkerung und des na- tionalen Naturschutzinteresses, zum Beispiel der national bedeutsamen Kranichkolonien im Biosphärenreservat Elbtalauen in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, findet aber – noch – nicht statt. Als FDP-Fraktion werden wir den Bericht zum Anlass nehmen, eine weitere und deutlich verstärkte Förderung insbesondere der Biosphärenreservate anzumahnen, die aus unserer Sicht die besten Voraussetzungen für die Ko- operation zwischen kulturell geprägten Naturlandschaf- ten und sanftem Tourismus bieten. In diesem Sinne unter- stützen wir das Resümee und teilen die Auffassung, dass mehr Großschutzgebiete als Modellregionen entwickelt werden müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 20031558 (C)(A) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501900000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.
Da wir uns das erste Mal in diesem Jahr sehen, wün-

sche ich Ihnen allen ein freundliches, gutes und fried-
liches neues Jahr.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir erwidern das!)


Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der ehema-
lige Kollege Gerhard Scheu aus dem Stiftungsrat der Stif-
tung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infi-
zierte Personen“ ausscheidet. Als seine Nachfolgerin wird
die Kollegin Dorothee Mantel vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist die Kollegin Mantel für den Stiftungsrat der Stif-
tung „Humanitäre Hilfe“ benannt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung
der Bundesregierung zu ihren verschlechterten Prognosen
für das Wirtschaftswachstum in Deutschland im Jahr 2003
und der daraus geforderten Erhöhung der Neuverschul-
dung für den Bundeshaushalt


(Ergänzung zu TOP 18)

Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bun-
desfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft

(Bundesfernstraßenfinanzierungsund Managementgesellschaftsgesetz – BFFuMGG)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Haushaltsausschuss

3. Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Daniel
Bahr (Münster), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

(6. StU-ÄndG) – Drucksache 15/313 –

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

4. Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wahl der vom Deutschen

Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums
der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland“ – Drucksache 15/304 –

5. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Anrufung des Vermitt-
lungsausschusses zu dem Zwölften Gesetz zur Änderung

(Zwölftes SGB-V-Änderungsgesetz – 12. SGB V ÄndG)

15/74, 15/76, 15/120, 15/298 –

6. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be-
richt der Bundesregierung über die Beschäftigung schwer-
behinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes
– Drucksache 15/227 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.

Weiterhin wurde vereinbart, Tagesordnungspunkt 10
– internationales Insolvenzrecht – vor Tagesordnungs-
punkt 9 – GATS-Verhandlungen – aufzurufen und über
die bisher ohne Debatte vorgesehene Beschlussempfeh-
lung zur Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht – Ta-
gesordnungspunkt 19 b – heute als letzten Punkt der Ta-
gesordnung zu beraten.

Darüber hinaus mache ich auf nachträgliche Über-
weisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk-
sam:

Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen

(Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard

Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU: Seesicherheit optimieren – na-
tionaler und europäischer Handlungsbedarf
nach Tankeruntergang der „Prestige“ – Druck-
sache 15/192 –




Präsident Wolfgang Thierse

überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Der in der 12. Sitzung des Deutschen Bundestages über-
wiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Rechtsausschuss zurMitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Abbau von
Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen

(Steuervergünstigungsabbaugesetz – StVerAbG)

– Drucksache 15/119 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Aussschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Vereinbarte Debatte

40 Jahre Élysée-Vertrag – Zusammenarbeitund gemeinsame Verantwortung für die Zu-kunft Europas

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Entwurf einer gemeinsamen Erklärung der
Französischen Nationalversammlung und des
Deutschen Bundestages zur interparlamentari-
schen Zusammenarbeit
– Drucksache 15/295 –

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Andreas Schockenhoff, Dr. Friedbert Pflüger,
Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
40 Jahre deutsch-französischer Freundschafts-
vertrag – für eine neue Qualität und Dynamik
der deutsch-französischen Beziehungen
– Drucksache 15/200 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und

Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
40 Jahre Élysée-Vertrag – Die deutsch-franzö-
sische Zusammenarbeit fortentwickeln und in
gemeinsamer Verantwortung für Europa die
Zukunft mitgestalten
– Drucksache 15/296 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Franz Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1501900100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

22. Januar 1963, also vor fast genau 40 Jahren, unter-
zeichneten ein Franzose, Präsident Charles de Gaulle, und
ein Deutscher, Bundeskanzler Konrad Adenauer, den Ver-
trag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, den
Élysée-Vertrag. Heute würdigen wir dieses Jubiläum in
einer Debatte im Deutschen Bundestag. Aus dem damali-
gen Vertrag der Aussöhnung und über Zusammenarbeit ist
ein Dokument der Freundschaft zwischen unseren Völ-
kern geworden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Am Jahrestag in der kommenden Woche werden der
Deutsche Bundestag und die Französische Nationalver-
sammlung, also die frei gewählten Abgeordneten als Ver-
treter ihrer Völker, gemeinsam das Ereignis würdigen und
in Versailles beieinander sein. Wir werden gerne dort sein
und freuen uns darauf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



(A)



(B)



(C)



(D)


1424


(A)



(B)



(C)



(D)






Dass sich die beiden Parlamente treffen, habe es noch
nie gegeben; das haben manche in Deutschland in großen
Buchstaben reklamiert. Richtig, das gab es noch nie. Ge-
rade deshalb ist es so wichtig. Das sei vor allen Dingen
Symbolik, wurde geschrieben. Richtig, das ist ein Sym-
bol, aber ein gutes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das koste viel Geld, wurde beanstandet. Richtig, das kos-
tet viel Geld. Was für eine glückliche Zeit, in der sich
Menschen über die Kosten eines gemeinsamen freund-
schaftlichen Jubiläums Deutschlands und Frankreichs er-
regen können und nicht über die Milliarden klagen müs-
sen, die für Kriege zwischen unseren Völkern ausgegeben
wurden!


(Beifall im ganzen Hause)

Ich bin Jahrgang 1940. Ich habe noch als Kind gelernt,

dass Franzosen unsere Feinde seien. Sie standen im Krieg
meinem Vater gegenüber. Er kam Gott sei Dank heil
zurück. Meine Generation hat dann gelernt, dass Franzo-
sen, Briten, Amerikaner und all die anderen, die im Zwei-
ten Weltkrieg Nazideutschland gegenüberstanden, nicht
unsere Feinde sind, dass wir sogar Freunde werden kön-
nen. Nun haben wir seit bald 58 Jahren Frieden an dieser
Stelle in Europa. Das gab es an dieser Stelle in Europa
noch nie, zumindest über Jahrhunderte nicht. Wenn es die-
sen Frieden seit 58 Jahren nicht gäbe, dann würden wir
heute nicht über Wohlstand und nicht über einen Sozial-
staat auf hohem Niveau sprechen; wir hätten ganz andere
Sorgen.

Wir müssen uns daran erinnern, wie dieser Friede in
Europa und der Wohlstand in Europa möglich wurden,
und daran, dass diese Entwicklung kein Zufall ist, dass
kluge, weitsichtige Menschen, auch verantwortliche Poli-
tiker, dabei eine große Rolle spielten. Nicht Politik allein,
aber eben doch auch und im Wesentlichen Politik hat das
bewirkt.

Das gilt auch für die großen Herausforderungen, vor
denen wir in dieser Zeit stehen. Politik kann nicht alles und
es gelingt ihr nicht alles. Aber sie hat die Macht und die Kraft,
Weichen zu stellen, zum Beispiel was die gute Zukunft
Europas angeht, und daran wollen wir mitwirken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wissen, dass dieses Europa mehr als Deutschland
und Frankreich und deren Freundschaft ist, dass aber
diese Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich
der unverzichtbare Fokus für diese historische Entwick-
lung war und bleibt. Diese Freundschaft ist nichts Exklu-
sives; aber sie ist exemplarisch. Die deutsch-französische
Zusammenarbeit bleibt für die Entwicklung Europas we-
sentlich.

Im Frühjahr 1961, noch vor dem Élysée-Vertrag, war ich
bei einem der ersten Bataillone der deutschen Bundeswehr,
die in Frankreich zu Gast sein durften, in Mourmelon. Viele
haben damals noch gezweifelt, ob das trägt und ob das geht:
Deutsche in Uniform in Frankreich. Manche, auch in
Frankreich, haben nicht klatschen mögen. Wir haben das
verstanden, besonders als wir an den riesigen Feldern mit

den vielen, vielen Kriegsgräbern der Opfer gedachten. Aber
die Zeichen standen überall auf Freundschaft.

Edith Piaf, Juliette Gréco, Jacques Brel faszinierten
uns, auch wenn wir ihre Sprache nicht verstanden. Exis-
tenzialismus war Mode, aber auch viel mehr. Albert Camus
und Jean-Paul Sartre beeindruckten und beeinflussten
uns. Camus‘ „Der Mensch in der Revolte“ und „Der
Mythos von Sisyphos“ haben eine ganze Generation deut-
scher Jugendlicher mit geprägt.

Die deutsche und die französische Jugend standen bei-
einander und nicht mehr gegeneinander. Das Deutsch-
Französische Jugendwerk hat diese große Idee in feste
Form gebracht. Mehr als 7 Millionen Jugendliche haben
im Rahmen dieses Jugendwerks seitdem das jeweils an-
dere Land kennen gelernt. Diese Idee braucht immer wie-
der neue Impulse. Jede Generation muss das neu lernen
und erleben: die anderen zu kennen und gute Nachbarn
nach innen und nach außen zu sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Am 23. Januar, nächste Woche, am Tag nach dem Zu-
sammentreffen von Bundestag und Nationalversammlung
in Versailles, werden Bundeskanzler Gerhard Schröder
und Präsident Chirac hier in Berlin mit jungen Menschen
aus Frankreich und aus Deutschland über die gemeinsame
Zukunft diskutieren. Eine solche Veranstaltung ist längst
nicht mehr sensationell; aber sie ist ein gutes Zeichen
dafür, dass die Jugend und die Politik den Mut und die
Ausdauer haben, die Freundschaft zwischen unseren Völ-
kern zu festigen und auszubauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will für meine Fraktion ein Dankeschön sagen an
die vielen großen und kleinen Kommunen in Deutschland
und Frankreich, etwa 5 000 insgesamt, die lebendige
Städtepartnerschaften pflegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Da wird ganz unspektakulär Frieden, Freundschaft und
Wohlstand sicherer gemacht. Diese inzwischen gute Tra-
dition darf nicht zur Routine werden. Dieses Jubiliäums-
jahr des Élysée-Vertrages ist eine gute Gelegenheit, der
Idee der Städtepartnerschaften neue Impulse zu geben und
die enge Verflechtung der zivilen Gesellschaften und auch
der Wirtschaft zu stärken.

Wir würdigen heute einen Vertrag, der in vielem die
Ziele der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor-
weggenommen hat. 1963 verpflichteten sich beide Staa-
ten auf die Koordinierung ihrer Außen-, Sicherheits-, Ju-
gend- und Kulturpolitik. 1988 wurde diese Kooperation
auf die Wirtschafts- und Währungspolitik erweitert. Ganz
selbstverständlich haben sofort nach der deutschen Ein-
heit Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl be-
kräftigt, dass der Élysée-Vertrag auch für das vereinte
Deutschland Gültigkeit und großes Gewicht hat.

Kernstück des Élysée-Vertrages war damals, eine ge-
meinsame Konzeption in der Außen- und Sicherheitspolitik

Franz Müntefering




Franz Müntefering
zu entwerfen. Heute haben wir längst ein deutsch-fran-
zösisches Korps, in dem eng und regelmäßig zusammen-
gearbeitet wird.

Wir sind darüber hinaus bei der gemeinsamen Europä-
ischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorange-
kommen, auch wenn wir noch nicht am Ziel sind. Das gilt
auch für die Wirtschafts-, Innen- und Rechtspolitik sowie
für andere Politikbereiche.

Im Dezember 2002 hat der Europäische Rat in
Kopenhagen den Beitritt von zehn weiteren Ländern be-
schlossen – eine historische Entscheidung. Wir sind stolz,
dass die deutsche Bundesregierung unter Führung von
Bundeskanzler Gerhard Schröder einen so entscheidenden
Beitrag dazu geleistet hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber auch das große Engagement der EU-Kommission
und besonders des zuständigen Kommissars Günter
Verheugen hat eine besondere Anerkennung verdient. Es
ist gerade heute wichtig, daran zu erinnern, dass Günter
Verheugen wegen seiner Verdienste um die Erweiterung
am 9. Januar in Polen als Mann des Jahres ausgezeichnet
wurde. Das wurde in Deutschland kaum registriert. Wir
gratulieren ihm zu diesem außerordentlichen Ereignis
ganz herzlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt beginnt der Abschluss des großen europäischen
Projekts: die endgültige Überwindung der Teilung Europas.
Zusammen mit Frankreich wollen wir dafür sorgen, dass
das größer werdende Europa politisch erfolgreich geführt
werden kann. Wir wollen eine europäische Verfassung, die
Demokratie, Transparenz und Entscheidungsfähigkeit ga-
rantiert.

Der EU-Konvent ist mitten in der Arbeit. Vor wenigen
Tagen hat der Präsident des Konvents in der „Süddeutschen
Zeitung“ über die zukünftige Verfassung für Europa ge-
schrieben und einen Vorschlag für den Art. 1 einer solchen
Verfassung gemacht:

... eine Union von Staaten und Völkern, die ihre Poli-
tiken eng miteinander abstimmen und auf föderale
Weise bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahr-
nehmen.

Sie alle wissen: Vieles wird noch zu konkretisieren sein;
aber die Dinge kommen in Bewegung. Das gilt auch für die
Frage nach den neuen Führungsstrukturen der EU.

Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac haben
sich verständigt und gemeinsam ihren Vorschlag unterbrei-
tet für die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates
durch den Rat und für die Wahl des Präsidenten der Kom-
mission durch das Europäische Parlament. Es kann uns
Abgeordnete nur freuen, dass das Europäische Parlament
auch insofern an Kompetenz gewinnen soll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Von herausragender Bedeutung wird auch sein, die
richtige und belastbare Lösung der mit der Bündelung der

außen- und sicherheitspolitischen Aufgaben verbundenen
Probleme zu finden. Auch dazu gibt es einen Vorschlag
Deutschlands und Frankreichs.

Europa, seine neue Dimension, seine neue Verfassung,
Europa als Voraussetzung für dauerhaften Frieden und für
Wohlstand, all das wird eines der großen Themen deut-
scher Politik in den kommenden Monaten und auch in den
kommenden Jahren sein und sein müssen.

Keines der europäischen Länder wird seinen Wohl-
stand allein dauerhaft sichern können. Auch die größe-
ren Länder in Europa, zum Beispiel Frankreich und
Deutschland, werden dazu nicht in der Lage sein. Mit
anderen Worten: Dieses Europa mit seinen rund
500 Millionen Menschen, mit seinen großartigen Poten-
zialen ist eine gewaltige Chance für die Zukunftsfähig-
keit dieses Teils der Welt und eine Hoffnung weit darü-
ber hinaus. Die gute Erfahrung, die wir Deutschen und
die Franzosen mit dem Élysée-Vertrag gemacht haben,
soll dabei Ansporn sein.

Die bewährte Freundschaft zwischen Sozialdemokra-
ten aus Deutschland und Sozialdemokraten und Sozialis-
ten aus Frankreich wird dabei helfen. Die Spitzen unserer
Fraktionen haben gestern hier, in Berlin, konferiert und
noch einmal festgestellt: Keiner der beiden Staaten, keine
der verschiedenen Nationen Europas konnte vor 40 Jah-
ren vor den Herausforderungen einer Welt, die dem Gebot
der damaligen Supermächte unterworfen war, im Allein-
gang bestehen. Das ist insgesamt auch heute so und es
wird auch in Zukunft so sein. Die vielfältigen Anforde-
rungen einer von scharfem Wettbewerb und dem Verlust
politischer und ethischer Maßstäbe gekennzeichneten
Welt machen das freundschaftliche und enge Zusammen-
wirken von Deutschland und Frankreich und allen euro-
päischen Nationen unverzichtbar.

Frieden und Demokratie zu bewahren, Wohlstand zu
entwickeln, das europäische Sozialstaatsmodell zu erhal-
ten, Chancengerechtigkeit zu gewährleisten, den Ärmsten
der Welt zu helfen, das sind unsere gemeinsamen Aufga-
ben. Wir sehen die Europäische Union in einer Mitver-
antwortung für den Frieden in der Welt. Wir Abgeordne-
ten verleihen unserer Hoffnung Ausdruck, dass es der
internationalen Gemeinschaft gelingt, den Irakkonflikt
friedlich zu lösen. Wir begrüßen die Aussagen, die Bun-
deskanzler Schröder dazu in diesen Tagen noch einmal
gemacht hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Am 22. Januar werden der Deutsche Bundestag und die
französische Nationalversammlung in Versailles gemein-
sam und feierlich ihren Willen und ihre Entschlossenheit
bekunden, unsere beiden Länder miteinander in eine gute
Zukunft zu führen. Zwischen all den Sorgen und Aufga-
ben, die dort in Frankreich und hier in Deutschland auf der
politischen Tagesordnung stehen, ist das eine Nachricht,
die Anlass für viel Zuversicht gibt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



(A)



(B)



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(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501900200

Lieber Kollege Müntefering, da Sie uns das Vergnügen

bereitet haben, an Ihrem Geburtstag hier eine Rede zu hal-
ten, möchte ich Ihnen sehr herzlich, wie ich denke, auch
im Namen des Hauses, zu Ihrem Geburtstag gratulieren.


(Beifall)

Ich erteile nun das Wort Kollegin Angela Merkel,

CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1501900300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Wir feiern und debattieren heute über den 40. Jahres-
tag des Élysée-Vertrages und werden aus diesem Anlass
auch in wenigen Tagen in Paris sein. Wir können feststel-
len: Er hat sich als das wichtigste Fundament der deutsch-
französischen Zusammenarbeit nach dem Zweiten Welt-
krieg und zugleich als eine der wichtigsten Grundlagen
für Versöhnung, Zusammenarbeit und Frieden auf dem
europäischen Kontinent erwiesen.

Fünf Seiten schlichten Papiers – dennoch war es ein
politisches Programm für die bilateralen Beziehungen
zwischen Deutschland und Frankreich. Wenn man sich
die einzelnen Punkte noch einmal anschaut, stellt man
vielleicht nichts Ungewöhnliches fest: Im ersten Teil geht
es um Abstimmung in den wichtigen Fragen der Außen-
politik einschließlich der Europapolitik, der Ost-West-Be-
ziehungen, der NATO- und der UNO-Fragen – damals
schon alles so aufgeschlüsselt – sowie der Entwicklungs-
politik, in einem zweiten Teil um gemeinsame Ziele auf
dem Gebiet der Verteidigungs-, der Rüstungspolitik und
des Zivilschutzes. Also insgesamt ein Programm, das
überschaubar ist.

Für mich war es sehr interessant, dass von Anfang an
als dritter Schwerpunkt auch die Förderung der deutsch-
französischen Jugendarbeit und einer entsprechenden
Zusammenarbeit beinhaltet war. Ich denke, der Jugend-
austausch muss auch für die Zukunft der Kraftquell sein,
aus dem heraus sich jede Generation das deutsch-franzö-
sische Verhältnis wieder neu erarbeiten kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wichtiger vielleicht als die einzelnen Punkte erschie-
nen Adenauer und de Gaulle damals schon die dahinter
stehenden politischen Überzeugungen zu sein, die in einer
gemeinsamen Erklärung zu dem Vertrag dann auch sicht-
bar wurden:

… in der Überzeugung, dass die Versöhnung zwi-
schen dem deutschen und dem französischen Volk,
die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein ge-
schichtliches Ereignis darstellt, das das Verhältnis
der beiden Volker zueinander von Grund auf neu ge-
staltet …

Und weiter:
... in der Erkenntnis, dass die Verstärkung der Zu-
sammenarbeit zwischen den beiden Ländern einen
unerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem verei-

nigten Europa bedeutet, welches das Ziel beider Völ-
ker ist …

Auf der Basis dieser Grundüberzeugungen hat sich die
deutsch-französische Kooperation in allen Partei- und
Regierungsstrukturen der letzten Jahre bewährt und im-
mer wieder entwickelt sowie alle Häme und alle Frage-
zeichen überwunden. Deshalb ist es unsere Aufgabe,
diesen Jahrhundertvertrag auch weiter am Leben zu er-
halten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun habe ich noch einmal nachgelesen: Damals war
die Debatte um diesen deutsch-französischen Vertrag, der
uns heute so einleuchtend erscheint, gar nicht so unkon-
trovers; denn eingebettet in eine konkrete weltpolitische
Lage wurde natürlich durchaus und von allen Fraktionen
gleichermaßen die Frage gestellt: Ist es richtig, dass wir in
einer solchen weltpolitischen Situation einen bilateralen
Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich abschlie-
ßen, oder geben wir damit vielleicht dem Bilateralismus
zu viel Gewicht, sodass die atlantische Partnerschaft
zurücktreten könnte? – Das ist ein Thema, das auch in der
heutigen weltpolitischen Lage immer wieder eine Rolle
spielt.

Es war damals so, dass sich die französische Armee aus
der militärischen Zusammenarbeit in der NATO zurück-
gezogen hatte; außerdem gab es das französische Veto
gegen den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft – zwei Vorgänge, die die Parla-
mentarier in Deutschland mit Recht beunruhigten.
Adenauer mit seinem Sinn fürs Praktische ließ sich nicht
beirren. Er stellte dem Ratifikationsgesetz flugs eine
Präambel voraus, die die Dinge klarstellte – sehr zum
Missfallen von Charles de Gaulle.

Nun hatten diese historischen Kontroversen sicherlich
ihre Bedeutung; aber heute haben sie nur noch den Wert
einer Fußnote der Geschichte. Uns steht die Frage vor Au-
gen: Welche Bedeutung hat dieser Vertrag für die Zukunft
und wie können wir ihn immer wieder mit Leben erfüllen?

Meine Damen und Herren, es ist unstrittig, dass es eine
Vielzahl interessanter deutsch-französischer Kooperatio-
nen gibt. Als Beispiel nenne ich das Jugendwerk. Ich ver-
binde das mit der Bitte, dass dieses Jugendwerk nicht fi-
nanziell ausgezehrt wird; denn jede Generation muss sich
die Kontakte neu erarbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


– Das Klatschen von Herrn Müntefering stimmt mich
hoffnungsfroh; ich hoffe, dass wir das Gleiche darunter
verstehen. Dieses Deutsch-Französische Jugendwerk ist
nämlich außerordentlich wichtig, um immer wieder junge
Menschen zusammenzubringen. In einer Welt, die vieler-
lei Faszinationen, gerade kultureller Art, aus dem anglo-
amerikanischen Raum bietet, ist es von Bedeutung, dass
wir sowohl in Bezug auf die Sprachfähigkeit als auch das
gegenseitige Verständnis, wie es Herr Müntefering eben
für seine Jugendzeit dargestellt hat, stets deutsch-franzö-
sische Impulse setzen.




Dr. Angela Merkel

Wir haben den FernsehsenderArte,wir haben deutsch-
französische Hochschulen, wir haben die deutsch-franzö-
sische Brigade. Es gibt also eine Vielzahl von Koopera-
tionen. Unsere Volkswirtschaften sind stark miteinander
verflochten. Das ist allerdings mit der Aufgabe verbun-
den, dafür zu sorgen, dass die deutsch-französische Ko-
operation Motor und nicht Bremser der europäischen Ent-
wicklung ist und dass das gemeinsame Grundbekenntnis
zur sozialen Marktwirtschaft nicht in schönen Vereinba-
rungen zur Verlangsamung von Privatisierungen und
Staatseinflüssen genutzt wird. Dafür gab es in der Ver-
gangenheit ungute Beispiele.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb müssen wir, wenn wir lebendige Beziehungen
haben wollen, immer wieder kritisch schauen, ob die
deutsch-französischen Beziehungen in Ordnung sind. Der
französische Botschafter in Deutschland hat einmal ge-
sagt, die Beziehungen hätten einen Teil ihres emotionalen
Charakters verloren. Es ist wichtig, dass wir diesen emo-
tionalen Charakter stets deutlich machen und mit Leben
erfüllen.

Weil sich Charles de Gaulle damals bei der Unter-
zeichnung der Präambel außerordentlich geärgert hatte,
hat er, als er Deutschland im Juli 1963 besuchte, gesagt,
dass Verträge wie Rosen und junge Mädchen seien, sie
blühten nur einen Morgen und deshalb dürfe man an ih-
nen nicht herummachen.


(Heiterkeit im ganzen Hause)

– Ich dachte, als Frau kann ich mir leisten, das zu sagen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Adenauer griff diese Worte auf und antwortete: „Rosen
und junge Mädchen, natürlich haben sie ihre Zeit; aber die
Rose – davon verstehe ich nun wirklich etwas – überdau-
ert jeden Winter.“ Der deutsch-französische Vertrag hat
sich mehr als Rose denn als junges Mädchen erwiesen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, inzwischen – auch das will

ich anmerken – ist es manchmal so, dass wir, gerade in
Europa, froh sind, dass wir die französische Regierung
haben. Als Beispiel aus jüngster Zeit will ich den Agrar-
kompromiss nennen. Er wäre sicher nicht so gut gewor-
den, wenn nicht der französische Staatspräsident ein et-
was besseres Herz für die Bauern hätte als der deutsche
Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Alfred Grosser hat auf die Frage, ob der Élysée-Vertrag
neu geschrieben werden sollte, geantwortet: Um Gottes
willen, nicht neu schreiben! Aber er hat auch gesagt, dass
er sich vorstellen könne, dass man einen Satz hinzufügt,
nämlich: Wir, der französische Präsident und der deutsche
Kanzler, erkennen an, dass unser hauptsächliches natio-
nales Interesse die Vertiefung der Europäischen Gemein-
schaft ist. Ich glaube, dieser Satz ist von außerordentlicher
Bedeutung. Ich teile ihn uneingeschränkt.

Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, hängt natür-
lich von Deutschland und Frankreich ab. Ich bin sehr
dafür, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister,
dass Sie immer wieder versuchen, gerade zusammen mit
Frankreich Motor der europäischen Einigung zu sein.
Da gab es schlechtere Zeiten. Im Augenblick haben wir
wieder etwas fruchtvollere Zeiten. Ich bitte Sie aber auch,
dass die Schicksalsfragen im Zusammenhang mit der Ent-
wicklung der Europäischen Union wieder vorher im
überparteilichen Konsens geklärt werden. Diese Tradition
scheint in letzter Zeit verloren gegangen zu sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sind bereit, diese Dinge im Vorfeld zu klären. Aber
man muss auch mit uns sprechen.

Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich mit den
Konventmitgliedern der Bundesrepublik Deutschland
– natürlich gibt es keinen Zwang, sich zu einigen – einmal
darüber austauschen, in welcher Art und Weise wir ein
möglichst großes Stück des gemeinsamen Weges gehen
könnten, was die Konventvorschläge anbelangt. Dasselbe
hätte für die Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei ge-
golten. Da ist das Kind aber leider bereits in den Brunnen
gefallen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ernst Burgbacher [FDP] – Michael Glos [CDU/ CSU]: Wir werden es wieder herausholen!)


Die Geschichte des deutsch-französischen Vertrages
ist die Geschichte von Charles de Gaulle und Konrad
Adenauer. Es ist die Geschichte von Helmut Schmidt und
Giscard d’Estaing. Es ist die Geschichte von Helmut Kohl
und François Mitterrand. Es ist die Geschichte, die immer
auf einem breiten Konsens in unseren beiden Völkern
beruht hat. Damit es auch weiterhin eine gute Geschichte
ist, sollte dieses Bemühen um eine gemeinsame, breite
Grundlage nicht verloren gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lassen Sie mich das, was Sie in Bezug auf den Konvent
vereinbart haben, von meiner Seite kurz kommentieren.

Erster Punkt. Es ist zu begrüßen, dass der zukünftige
Kommissionspräsident vom Parlament gewählt werden
soll. Das ist eine Forderung, die wir seit langem aufge-
stellt haben. Ich möchte an dieser Stelle nur die Anmer-
kung machen, dass man aufpassen muss, dass das
Quorum für die Wahl durch das Parlament nicht so hoch
gesetzt wird, dass letztendlich die Entscheidung der Bür-
gerinnen und Bürger bei der Europawahl, auf der die Zu-
sammensetzung des Parlaments beruht, völlig nivelliert
wird; denn ein sehr hohes Quorum würde sozusagen eine
gemeinschaftliche Regelung bewirken.

Zweiter Punkt. Wir waren erstaunt, dass der Vorschlag,
nämlich einen ständigen Ratspräsidenten zu installie-
ren, den Sie bisher mit relativ großer Skepsis betrachtet
haben, nun ein gemeinsamer Vorschlag ist. Ich will an die-
ser Stelle aber sagen, dass wir aufpassen müssen, dass ein
solcher ständiger Ratspräsident nicht der heimliche Herr-
scher über alle Institutionen Europas wird, und dass wir
dafür sorgen müssen, dass das Verhältnis zum Kommis-


(A)



(B)



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(D)


1428


(A)



(B)



(C)



(D)






sionspräsidenten auf festgelegten Zuständigkeiten beruht.
Denn der Sinn des Konvents besteht darin – das darf bei
Diskussion über die Institutionen nicht vergessen werden –,
die Zuständigkeiten zwischen Europa und den National-
staaten insgesamt klar zu regeln. Es gilt also, die neuen
Überlegungen in das Gesamtkonzept für die Neuordnung
der EU-Institutionen einzubetten. Es darf deshalb nicht
sein, dass der ständige Ratspräsident Dinge außerhalb sei-
ner Zuständigkeit entscheidet und so den Kommissions-
präsidenten in seiner Arbeit behindert.

Es ist auch erfreulich, dass die Kommissare offen-
sichtlich Weisungsrechte bezüglich ihrer Generaldirek-
tion bekommen sollen. Ich begrüße das außerordentlich,
weil damit klarere Verhältnisse geschaffen werden. Aber
beim ständigen Ratspräsidenten stelle ich mir die prakti-
sche Umsetzung relativ schwierig vor, weil er natürlich
schnell sozusagen ein Herrscher ohne Unterbau sein
könnte. Man muss sich fragen, woher er diesen Unterbau
nimmt: entweder durch eine Aufblähung des Ratssekre-
tariats, was ich nicht begrüßen würde, oder durch ein Hi-
neinregieren in die Kommission, was ich für genauso
falsch hielte. Über diese Fragen sollten wir ehrlich spre-
chen, damit wir später sowohl geklärte Zuständigkeiten,
was die Sachaufgaben angeht, als auch geklärte Zustän-
digkeiten, was die Institutionen anbelangt, haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir begrüßen es, dass es nunmehr eine deutsch-fran-
zösische Gemeinsamkeit in der Frage der Außenvertre-
tungen der Europäischen Union gibt. Allerdings sage
ich auch: Bei allem intergouvernementalen Charakter der
Außen- und Sicherheitspolitik wird es wichtig sein, dass
die Persönlichkeit, die diese Funktion ausübt, auch die
Chance hat, in der Kommission Einfluss zu haben, dass
der Kommissionspräsident weiterhin die Außenvertre-
tung der Europäischen Union übernimmt und dass diese
Zuständigkeit nicht klammheimlich Richtung Rat wan-
dert. Auch das wird ganz wichtig sein.

Meine Damen und Herren, deshalb hoffen wir, dass
wir in die Diskussionen der deutschen und der französi-
schen Regierungen in Zukunft besser mit einbezogen
werden. Ich glaube, es kann der Arbeit im Konvent nicht
schaden. Es ist in anderen Ländern Usus, dass man ver-
sucht, die nationalen Interessen durch gemeinschaftliche
Konsultationen vorher zu regeln. Deshalb möchte ich an-
gesichts von 40 Jahren erfolgreicher deutsch-französi-
scher Kooperation diesen Wunsch hier in aller Klarheit
anmelden.

Wir werden in der nächsten Woche nach Paris fahren.
Ich glaube, dass angesichts des besonderen Charakters
des deutsch-französischen Verhältnisses diese Reise des
Parlaments angemessen ist, wenngleich sie eine Aus-
nahme bleiben sollte. Darüber sind wir uns aber auch ei-
nig. Ich glaube, es ist gut, dass es gerade auch mit jungen
Menschen Diskussionen in unserem Land geben wird, die
daraus etwas über das deutsch-französische Verhältnis
lernen können.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland
und Frankreich auch in Zukunft der Motor bleiben müs-
sen, äußere allerdings einen allerletzten Wunsch: Mit der

Erweiterung der Europäischen Union wird es noch
wichtiger sein, dass Deutschland und Frankreich als Mo-
tor einer europäischen Einigung auch die Fähigkeit auf-
bringen, kleine Länder ernst zu nehmen. Deutsch-franzö-
sische Kooperation darf woanders niemals so gesehen
werden, dass kleine Länder kein wirkliches Mitsprache-
recht mehr haben. Darauf müssen wir achten, auch bei den
weiteren Arbeiten im Konvent sowie in der sich ansch-
ließenden Regierungskonferenz.

Ich glaube, es ist richtig, dass unser Parlament diese
Debatte heute führt, und ich hoffe, sie ist zum Wohle des
deutsch-französischen Verhältnisses.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501900400

Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501900500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 81 Prozent

der Franzosen und 86 Prozent der Deutschen halten gute
deutsch-französische Beziehungen für wesentlich und
wichtig. Aber diese nüchternen Zahlen sagen kaum etwas
darüber aus, wie weit der Weg gewesen ist, den die ehe-
maligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich erfolg-
reich hinter sich gebracht haben. Um die Bedeutung des
Élysée-Vertrages, der die deutsch-französische Zusam-
menarbeit auf eine neue, einzigartige Grundlage gestellt
hat, tatsächlich ermessen zu können, muss man schon ei-
nen Blick auf die Zeit vor 1963 werfen. Es ist aufschluss-
reich, was de Gaulle 1944 über Deutschland sagte:

Ein großes Volk, das aber ständig auf Krieg ausge-
richtet ist, weil es nur davon träumt, zu herrschen,
das immer bereit ist, denen, die ihm Eroberungen
versprechen, bis zum Verbrechen zu folgen, das ist
das deutsche Volk.

Das ist hart, aber es macht auch den Ausgangspunkt für
die französischeAnnäherung deutlich. Es stellte sich die
Frage: Was tun mit Deutschland, in der Mitte Europas,
nach zwei verheerenden Weltkriegen und nach dem nati-
onalsozialistischen Massenmord? Diese Frage stellten
sich nicht nur die französischen Nachbarn.

Es waren interessanterweise französische und deutsche
Opfer des Nationalsozialismus, aber auch Männer wie
Jean Monnet und Robert Schuman, die noch vor de Gaulle
und noch vor Adenauer erkannten, dass die Antwort auf
diese zentrale Frage nur in der europäischen Integration
liegen konnte. Als Voraussetzung für diese Integration
sollte die enge deutsch-französische Partnerschaft dienen.
Dass wir heute auf Jahre des Friedens, der Sicherheit und
des Wohlstands in Europa zurückblicken können, ist in
erster Linie dem strategischen Weitblick, aber auch dem
politischen Mut dieser Männer zu verdanken, vor allen
Dingen unseren französischen Nachbarn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Angela Merkel




Krista Sager
Dieser strategische Weitblick, diese Vision eines verein-
ten Europas ermöglichte erst das Hineinwachsen Deutsch-
lands in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten
und Völker. Die Vision von der Integration des großen
Deutschlands in eine noch größere Gemeinschaft machte
es überhaupt erst möglich, die Angst vor Deutschland zu
überwinden, und gab außerdem eine Antwort auf die
Frage: Wie können wir die jahrhundertealte Geißel des
Nationalismus in Europa überwinden?

Mit dieser Antwort konnte man sich auch davon be-
freien, Deutschland dauerhaft schwach oder geteilt halten
zu müssen. Man konnte Deutschland als starken Partner
für Sicherheit und Wohlstand in Europa akzeptieren. Die
Unterstützung dieses Integrationsprozesses durch Frank-
reich hat letztlich überhaupt erst den Weg für die deutsche
Wiedervereinigung geebnet. Auch dafür sollten wir
heute dankbar sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nicht Nationalismus und Abschottung, sondern Ver-
söhnung und Partnerschaft sind die Kernmotive der
deutsch-französischen Beziehung. Diese Kernmotive
sind auch heute noch Richtschnur dafür, wie wir mit den
osteuropäischen Staaten nach Überwindung der Block-
konfrontation umgehen. Sie liefern uns immer noch die
Hinweise auch dafür, wie wir mit den Konflikten auf dem
Balkan umgehen, wo erneut die europäische Geißel na-
tionalistischer Auseinandersetzungen und ethnischer Ver-
folgungen mitten in Europa entflammt ist.

Frieden, Wohlstand und Sicherheit sind durch Annähe-
rung und Partnerschaft tatsächlich erreichbar. Tiefe
Antagonismen und Nationalismen können tatsächlich
überwunden werden. Das durften wir durch die deutsch-
französische Partnerschaft lernen und diese Erkenntnis
können wir heute in Europa gemeinsam in die Bewälti-
gung der anstehenden Aufgaben einbringen.

Für diese Ziele brauchen wir auch weiterhin die Ver-
tiefung und die Erweiterung des europäischen Integra-
tionsprozesses. Lassen Sie mich eines zum Thema der
Erweiterung sagen: Aus den Reihen der Opposition wird
gefordert, die Grenzen der Europäischen Union zu defi-
nieren. Ich behaupte: Niemand kann derzeit die Finalität
der EU definieren. Der Erweiterungsprozess ist nicht ab-
geschlossen. Prodi hat zu Recht in Athen formuliert: Die
Tore der EU sind offen für den Balkan. Ob der Kandidat
dann aufgenommen wird, hängt von der Erfüllung der
wirtschaftlichen Bedingungen und der politischen Grund-
werte ab.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen: Diese
Grundwerte, das, was die europäische Wertegemein-
schaft ausmacht, und nicht nur Wohlstand und Sicherheit
sind für die Beitrittsländer und -kandidaten besonders at-
traktiv. Diese Werte sind entscheidend französisch ge-
prägt. Sie beruhen auf den Werten der Französischen
Revolution, der Aufklärung, der Deklaration der Men-
schenrechte, der Tradition des französischen Geistes-
lebens und der Rechtsstaatlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dass Deutschland und Frankreich gemeinsam Motor
und Impulsgeber für diese Werte sein konnten, ist darauf
zurückzuführen, dass sie ihre Spaltung überwinden konn-
ten. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Erweite-
rung der Gemeinschaft nicht eine neue politische Spal-
tung auf unserem Kontinent hervorruft. Das sage ich
besonders all denjenigen, die jetzt nach einer Definition
der Grenzen verlangen.

Frau Merkel, Sie haben das Stichwort Türkei ange-
sprochen. Die CDU hat in ihrer Göttinger Erklärung eine
Beitrittsperspektive für die Türkei ausgeschlossen. Dazu
sage ich Ihnen: Der Geist des Élysée-Vertrages ist ein an-
derer. Der Geist des Élysée-Vertrages ist: Kooperation
und Integration statt Antagonismus. Das ist die Botschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Natürlich geht es um die Erfüllung der Beitrittskrite-
rien. Aber stellen wir uns einmal vor, wir hätten in den
frühen 60er-Jahren über den Vorschlag diskutiert, ob man
vor dem deutsch-französischen Vertrag nicht erst einmal
in Frankreich eine Abstimmung darüber durchführen
sollte, wie es die Franzosen mit den Deutschen halten.
Frau Merkel, ich bin froh, dass Sie dem Vorschlag eines
deutschen Referendums über den Beitritt der Türkei ent-
gegengetreten sind. Aber Sie hatten dafür eine falsche Be-
gründung. Sie wollen den Deutschen nicht das Recht ge-
ben, Volksentscheide und Volksbegehren durchzuführen.
Dies passt nicht in die Zeit; dies ist eine falsche Begrün-
dung. Sie hätten mit Blick auf das Jahr 1963 lernen kön-
nen, wie de Gaulle und Adenauer Ressentiments entge-
gengetreten sind, sie nicht befördert haben und wie sie
ihre Völker auf dem Weg, Antagonismen zu überwinden,
den sie für richtig erkannt haben, mitgenommen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu Recht ist hier auch das Deutsch-Französische Ju-
gendwerk besonders hervorgehoben worden. Gerade
wenn man das als besonders vorbildlich sieht, dann
müsste man heute eigentlich eher darüber nachdenken,
wie man die deutsch-türkischen Austauschbeziehungen
vertieft, nicht aber, wie man in diesem Zusammenhang
Unüberbrückbarkeiten besonders betont.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, dass die deutsch-französi-
sche Zusammenarbeit nach wie vor als Motor für den
europäischen Prozess funktioniert, haben wir gerade vor-
gestern durch die Vorschläge des deutschen Bundeskanz-
lers und des französischen Staatspräsidenten erlebt.
Natürlich geben diese Vorschläge nicht auf alle Fragen
eine Antwort – diese Fragen werden im Konvent auch
weiter diskutiert werden müssen –, aber sie sind ein Kom-
promiss, um Europa handlungsfähiger, demokratischer
und für die Bürgerinnen und Bürger transparenter zu ma-
chen.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Ich bin ganz sicher, dass wir diesen Weg weiter gehen
werden. Es gibt doch nichts Schöneres als die Vorstellung,


(A)



(B)



(C)



(D)


1430


(A)



(B)



(C)



(D)






dass der europäische Konvent in dem Jahr, in dem wir das
40-jährige Jubiläum des deutsch-französischen Vertrages
feiern, eine Verfassung und eine Grundrechtscharta vor-
legt. Das wäre doch wirklich die schönste Würdigung die-
ses deutsch-französischen Vertrages, die wir uns über-
haupt vorstellen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, die Befürchtung de Gaulles,
der deutsch-französische Vertrag führe zu einem Wider-
spruch und Frankreich könne mit den gleichzeitigen trans-
atlantischen Beziehungen nicht leben, hat sich zum Glück
nicht bewahrheitet. Alle Befürchtungen, der deutsch-fran-
zösische Vertrag schlösse aufgrund seiner Besonderheit
weitere Partner aus dem Integrationsprozess aus, haben sich
schon gar nicht bewahrheitet. Ich finde es richtig und gut,
dass gerade vorgestern Frankreich und Deutschland ihre be-
sondere Rolle auch mit Blick auf die gewachsene interna-
tionale Verantwortung Europas wahrgenommen haben.

Natürlich ist es wichtig gewesen, dass Bundeskanzler
und Staatspräsident hierbei deutlich gemacht haben, dass
wir auch eine besondere Verantwortung für den Frie-
den in der Welt haben. Dies heißt, dass die Arbeit der
Waffeninspekteure eine Chance haben muss und wir in
dieser Hinsicht jede Möglichkeit nutzen müssen, eine mi-
litärische Auseinandersetzung im Irak zu verhindern.
Auch das ist ein angemessener Beitrag Deutschlands und
Frankreichs zu einer größeren Verantwortung Europas für
den Frieden in der Welt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Merkel, Sie haben zu Recht auf den Satz von
de Gaulle hingewiesen, der deutsch-französische Vertrag
sei wie die jungen Mädchen und wie Rosen, die nur einen
Sommer blühen. Vielleicht sollte man, weil gerade die
Franzosen angeblich von Wein und Frauen besonders viel,
angeblich mehr als die Deutschen, verstehen,


(Widerspruch des Abg. Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU] – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das sind alles Experten!)


den deutsch-französischen Vertrag eher mit gutem Wein
und gereiften Frauen vergleichen: Beide wachsen mit den
Jahren in ihrer Substanz, beide werden von Jahr zu Jahr
immer gehaltvoller und besser.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501900600

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gerhardt für die

FDP-Fraktion das Wort.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1501900700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht

nur ein nüchternes Vertragswerk, über dessen Zustande-
kommen man hier diskutieren kann. Der Élysée-Vertrag
ist eine historische Leistung ohne Beispiel.


(Beifall bei der FDP)


Er erwuchs aus der unglückseligen Geschichte dieser bei-
den großen Völker mitten auf dem europäischen Konti-
nent. Diese Geschichte der unglückseligen Verkettung der
Erbfeindschaften hat Herr Müntefering sehr gut darge-
stellt; er hat dies zu Recht mit seinem persönlichen Bei-
spiel verwoben. Er ist ein Jahrgang, gar nicht weit von mir
entfernt, der beim Aufwachsen in seiner Familie das
Glück erlebte, dass sein Vater zurückkam; mein Vater ist
in Frankreich beerdigt. Daraus können wir beide wohl
schätzen, was ein solches Vertragswerk bedeutet. Es hat
die größte Friedensperiode geschaffen, die heute viele
vergessen – über die Selbstverständlichkeiten wird ja
nicht mehr geredet –; es versetzt die beiden Völker und
deren Repräsentanten in die Lage, auf europäischer Ebene
Impulse zu geben und Schritte zu realisieren, die nach
Ende der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges niemand
erwartet hatte.

Natürlich gab es Rückschläge. Nicht jede Gipfelveran-
staltung war ein großer Erfolg, aber bei den entscheiden-
den qualitativen Schritten der Europäischen Union sind
Frankreich und Deutschland die Impulsgeber gewesen.
Dabei gab es langwierige Verhandlungen, die zu schwie-
rigen Kompromissen führten. Die Ergebnisse wurden
aber von anderen als akzeptabel empfunden, weil sie wuss-
ten, dass zwischen uns, zwischen den Deutschen und den
Franzosen, oft viele psychologische nationale Unter-
schiede bestehen. Die Verhaltensweisen, die Mentalitäten
sind oft anders, aber die Anstrengungen, zu einem Kom-
promiss zu kommen, werden so respektiert, dass sie auch
für andere akzeptabel sind.

Das ist das tiefe Geheimnis vieler gemeinsamer Vor-
schläge von Deutschland und Frankreich. Gerade in der
Unterschiedlichkeit liegt die Chance, dass erreichte Ver-
ständigungen für die anderen akzeptabel sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein Grundsatz soll für uns gelten: Wir dürfen uns dabei
gegenseitig nicht überfordern und wir müssen anderen ge-
genüber sensibel sein. Es ist gelungen, dass vielen das
deutsch-französische Vertragswerk und die deutsch-fran-
zösische Freundschaft nicht nur als ein Stück diplomati-
scher Vernunft oder notwendiger Zusammenarbeit er-
scheinen. Es ist wahr, dass die Partnerschaften – die
Städtepartnerschaften, der Jugendaustausch und die viel-
fältigen Begegnungen – wirklich zu einem Fundament
unterhalb der Ebene der Begegnungen von Wirtschaft,
Verbänden und Politik geworden sind.

Trotzdem empfinden wir, dass wir einen neuen Anstoß
geben müssen. Mit Blick auf die europäischen Gipfel der
letzten Jahre muss ich für meine Fraktion und mich ohne
Vorwurf sagen, dass von ihnen schwächere Impulse als
von früheren Veranstaltungen ausgegangen sind.

Im Übrigen stehen wir nicht nur vor europäischen He-
rausforderungen: Es wird weiterhin kontrovers bleiben,
ob wir eine Ratspräsidentschaft über einen längeren Zeit-
raum wollen oder ob es nicht besser wäre, die Kommis-
sion, den Kommissionspräsidenten und das Europäische
Parlament zu stärken, um darin den entscheidenden An-
satzpunkt zu finden. Es ist natürlich auch eine Herausfor-
derung, über Staatsanwaltschaften, Grenzpolizei, Vertei-
digungspolitik und vieles andere in Europa zu reden.

Krista Sager




Dr. Wolfgang Gerhardt

Ich will aber wegen der Kürze der Zeit gleich auf das
Wesentliche zu sprechen kommen: Die Bundesregierung
hat sich bisher im Hinblick auf die Resolution 1441 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen betreffend den
Irakkonflikt und die Chance, Saddam Hussein durch In-
spektoren zur Offenlegung und gegebenenfalls zur Ver-
nichtung von Massenvernichtungswaffen zu bringen,
etwas missverständlich und in der Person des Bundes-
außenministers reichlich sibyllinisch geäußert.

Der Bundeskanzler hat – wir nehmen Sie, Herr Bun-
deskanzler, gern beim Wort – in dieser Woche erklärt, dass
die europäischen Partner auf eine zweite Entschließung
hinarbeiten müssen und er das auch für vernünftig halte.
Die gesamte Bundestagsfraktion der Freien Demokraten
stimmt Ihnen in dieser Äußerung ausdrücklich zu.


(Beifall bei der FDP)

Nach 40 Jahren Élysée-Vertrag, nach den geglückten

Erfahrungen deutsch-französischer Verständigung in be-
deutsamen qualitativen europäischen Fragen und in der
Überzeugung, die Sie nun geäußert haben, dass eine eu-
ropäische Abstimmung, zumindest aber eine gemeinsame
französisch-deutsche Bewertung des weiteren Vorgehens
in der Irakfrage nicht nur wünschenswert, sondern unver-
zichtbar ist, möchte ich Sie ausdrücklich auffordern, bei
dieser Position zu bleiben und eine enge, verantwor-
tungsbewusste Abstimmung mit Frankreich herbeizu-
führen und – das füge ich ausdrücklich hinzu – beizube-
halten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch Helmut Schmidt hat das heute Morgen vorge-
schlagen. Ich wiederhole das hier deshalb, damit wir uns
richtig öffentlich auseinander setzen und die Chance eines
solchen Freundschaftsvertrags mit Frankreich in der
Frage „Krieg oder Frieden“ – so stellen Sie es immer dar –
nutzen.

Dabei – das möchte ich ausdrücklich sagen – möchte
ich in dieser Debatte den großen Respekt aller Mitglieder
der Fraktion der Freien Demokraten hier im Bundestag
gegenüber dem französischen Staatspräsidenten erwäh-
nen. Er hat nach unserer Überzeugung durch seine Ver-
haltensweise, sein Verhandeln, seine klare Aussprache,
aber auch durch sein transatlantisches Bewusstsein stark
persönlich dafür gesorgt, dass die Entscheidung eine Auf-
gabe des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gewor-
den ist und dort auch bleibt. Diese ausdrückliche Haltung
sollten wir respektieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Diese Haltung ist nicht daraus entstanden, dass man

beiseite stand, sondern daraus, dass man sich eingemischt
hat und im Dialog geblieben ist. Deshalb sage ich: Es gibt
nicht nur europäische Herausforderungen für die deutsch-
französische Freundschaft. Es gibt heute internationale
Herausforderungen mit für unser Land und für die beiden
Völker hervorragenden Wirkungen.

Angesichts einer solchen Debatte und angesichts des
wichtigsten Punktes, des Themas „Krieg oder Frieden“,
möchte ich die Chance nutzen, dem Bundeskanzler und

der gesamten Bundesregierung zu sagen: Es sollte nichts
unversucht gelassen werden, aus der deutsch-französi-
schen Freundschaft die Kräfte zu bündeln, jetzt gemein-
same diplomatische Initiativen zu entwickeln und zu er-
greifen sowie gemeinsame Verantwortung deutlich
werden zu lassen, bis hin zu der Bereitschaft, bei einer ge-
meinsamen Verständigung dann auch entsprechend ge-
meinsam abzustimmen. Freundschaft und Klugheit ge-
bieten dies ganz einfach bei einem solchen Vertragswerk,
bei dessen Bedeutung und dessen Chancen.

Ich sage mit Dank für Ihre Aufmerksamkeit: Ich
glaube, beide Völker erwarten dies auch von uns. Damit
wäre für eine überzeugende Position der deutschen Bun-
desregierung in enger Abstimmung mit dem französi-
schen Nachbarn ein Weg zu gehen, der akzeptabel und
chancenreich wäre, der immer den Krieg als letztes Mit-
tel ansieht und vorher alles aus eigenen Kräften versucht,
ihn zu vermeiden. Sie sollten diesen Weg gehen. Dann
könnten Sie auf die Freien Demokraten hier in der Oppo-
sition bauen. Wir würden Sie dabei unterstützen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501900800

Ich erteile nun dem Bundesminister Joseph Fischer,

Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501900900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen

vor dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, eines Freund-
schaftsvertrages zwischen unserem Land und der Franzö-
sischen Republik. Es ist ein Freundschaftsvertrag, kein
Friedensvertrag, aber dieser Vertrag hat wesentlich zur
Institutionalisierung eines dauerhaften Friedens in Europa
beigetragen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Insofern stimme ich allen zu, die diesen Vertrag einen his-
torischen Vertrag, einen Jahrhundertvertrag genannt
haben, denn dies war er tatsächlich.

Franz Müntefering hat aus seiner Biografie heraus
nochmals die frühere Erbfeindschaft zwischen Deutsch-
land und Frankreich benannt. Gerade als Außenminister
begegne ich oft Gesprächspartnern, die sich noch exakt in
einer solchen Situation befinden. Erst jüngst fiel mir dies
wieder ein, als ich mit dem armenischen Staatspräsiden-
ten gesprochen habe. Dabei ging es um einen ähnlichen
Konflikt in Bergkarabach, um einen Konflikt, bei dem
zwei Völker, zwei Nachbarn um dasselbe Territorium
streiten, jeweils mit historischer Legitimität begründet.
Dabei fiel mir ein, welche Bedeutung die deutsch-franzö-
sische Freundschaft, die deutsch-französische Aussöh-
nung für den Frieden auf unserem Kontinent tatsächlich
hat.

Wir dürfen nicht vergessen – Franz Müntefering hat es
genannt, ich kann es biografisch nur unterstreichen –: In
meiner Schulzeit wurden die Lehrer noch nach Erbfeind-


(A)



(B)



(C)



(D)


1432


(A)



(B)



(C)



(D)






schaften eingeteilt. Da gab es diejenigen, die die Russen,
diejenigen, die die Angloamerikaner, und natürlich immer
wieder diejenigen, die die Franzosen als Erbfeinde be-
griffen haben. Hierauf beruhte die Einteilung. Dies klingt
heute bereits wie eine Geschichte aus einer längst vergan-
genen Zeit. Auch dies ist eine der großen Leistungen, die
der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der Ély-
sée-Vertrag, erbracht hat: die Selbstverständlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Denken wir doch einmal daran, was gerade diese
Grenze im deutschen Südwesten an Unglück für die dor-
tige Region, für Baden und für Rheinland-Pfalz und im-
mer wieder auch für das Saarland bedeutet hat und mit
welcher Selbstverständlichkeit diese Grenze staatsrecht-
lich heute noch existiert, aber faktisch die Menschen nicht
mehr trennt, sondern in einem gemeinsamen Europa
längst durchlässig geworden ist. Hierfür hat der Élysée-
Vertrag Wesentliches geleistet.

Meine Damen und Herren, die deutsch-französische
Aussöhnung war auf dem Hintergrund der Selbstzer-
störung des europäischen Staatensystems möglich. Das
Gleichgewicht der Mächte wurde in zwei großen Kriegen
im 20. Jahrhundert, die vor allen Dingen von Deutschland
und Frankreich geführt wurden, endgültig zerstört. Auf
dem Hintergrund dieser Erfahrung haben zwei großartige
Staatsmänner, nämlich Robert Schuman und Jean Monnet,
die Idee eines anderen Prinzips gehabt: gründend auf der
deutsch-französischen Aussöhnung die Integration der In-
teressen herbeizuführen.

Sie begannen mit der Wirtschaft, aber sie hatten natür-
lich auch die Kultur und vor allen Dingen die Politik im
Kopf. Das setzte voraus, dass Deutschland und Frank-
reich zusammenarbeiten, dass diese Erbfeinde gewisser-
maßen zu Erbfreunden werden. Das war und – ich unter-
streiche das – das ist bis zum heutigen Tag die Grundlage,
auch in einer erweiterten Union. Das ist der eigentliche
Charakter des deutsch-französischen Vertrages.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Diese Vision in Politik umzusetzen war von Anfang an
die große Leistung von Konrad Adenauer, von Willy
Brandt, von Helmut Schmidt, auch von Helmut Kohl und
jetzt von Gerhard Schröder, aller Bundeskanzler und aller
französischen Premierminister und Staatspräsidenten seit
Charles de Gaulle. Diese Vision in konkrete politische
Realität und gelebte gesellschaftliche Realität umzuset-
zen und dieses gemeinsame Europa zu bauen ist das obers-
te Ziel und meines Erachtens auch das oberste Interesse
beider Völker, beider Staaten.

Dies gründet mit auf dem Élysée-Vertrag. Deswegen
ist es sehr wichtig – ich freue mich, dass diese Debatte zu
Ende gegangen ist; Frau Merkel, das soll keine Selbstver-
ständlichkeit sein –, dass die beiden Parlamente sich tref-
fen. Ich habe es gestern im Ausschuss gesagt: Vielleicht
haben wir, was die Symbolik betrifft, nicht die Sensibilität
unserer französischen Freunde. Aber für mich ist die Tat-
sache, dass beide Parlamente sich zum ersten Mal wirk-
lich plenar treffen, ein ganz wichtiges symbolisches Fak-

tum für die Versöhnung unserer beiden Völker. Insofern
wird diese Initiative von der Bundesregierung voll unter-
stützt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben natürlich von Anfang an auch die kultu-
relle Dimension gehabt, die zivilgesellschaftliche Zu-
sammenarbeit vor allem der Jugend. Das ist im deutsch-
französischen Freundschaftsvertrag, im Élysée-Vertrag,
von entscheidender Bedeutung gewesen. Wir sollten die-
ses Vertragswerk nicht nur rückblickend loben; hier
müssen wir uns für die Zukunft neue Initiativen vorneh-
men.

Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die Sprachent-
wicklung, das heißt das Lernen der jeweils anderen Spra-
che, auf beiden Seiten eher rückläufig ist, um es ganz di-
plomatisch zu formulieren. Dafür gibt es Gründe: die
Globalisierung; die Tatsache, dass heute Englisch die Lin-
gua franca, die universale, die Weltsprache ist – ohne jeden
Zweifel. Aber wir würden auch und gerade in einem zu-
sammenwachsenden Europa viel an Zukunft im deutsch-
französischen Verhältnis verlieren, wenn wir nicht ver-
stärkt Wert darauf legten, dass das Lernen der jeweils
anderen Sprache für die kommende Generation wieder
auf eine breitere Grundlage gestellt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Hier müssen wir uns gemeinsam mit den Ländern – ich
denke, da gibt es überhaupt keinen Widerspruch – ver-
stärkt in die Zukunft hinein engagieren. Ich weiß, wie
schwer das ist, aber ich halte das und gemeinsame kultu-
relle Initiativen für unverzichtbar.

Sie sprechen die Agrarpolitik an. Wenn das Geld da
wäre, würde ich darüber gar nicht so diskutieren. Aber wir
müssen uns schon die Frage stellen, ob wir es uns in der
Welt des 21. Jahrhunderts auf Dauer werden erlauben
können, mehr als 40 Prozent des gemeinsamen Budgets in
der Europäischen Union für Agrarpolitik und Agrarsub-
ventionen auszugeben, während die gemeinsame Kultur-
entwicklung, Film etc., ziemlich Not leidend ist. Wenn Eu-
ropa – und das heißt auch Deutschland und Frankreich – in
der Welt von morgen, im 21. Jahrhundert seine Rolle spie-
len soll, müssen wir die Ressourcen anders einsetzen. Das
wissen Sie, Frau Merkel. Das ist der entscheidende Punkt.
Ich denke, das ist von zentraler Bedeutung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lassen Sie mich hier nochmals klipp und klar sagen:
Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Kern
und das Schwungrad der europäischen Entwicklung ge-
wesen und wird dies – so behaupte ich – auch unter den
Bedingungen der EU der 25 bleiben. Das ist die Erfah-
rung, die ich in den vergangenen vier Jahren gemacht
habe: Wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind,
ist das nie exklusiv, gegen andere gerichtet gewesen, son-
dern hat immer als Schwungrad gewirkt.

Bundesminister Joseph Fischer




Bundesminister Joseph Fischer

Wir haben vorhin Adenauer und de Gaulle und die
Schwierigkeiten, die sich aus der Präambel ergeben ha-
ben, angesprochen. Das kam mir plötzlich bekannt vor.
Da hat sich im deutsch-französischen Verhältnis nicht
sehr viel geändert: Die Kompromisse sind schwierig; aber
wenn man sie einmal erreicht hat, treiben sie die europä-
ische Entwicklung unglaublich kraftvoll voran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist das Faszinierende am deutsch-französischen Ver-
hältnis.

So nah wir als direkte Nachbarn aufgrund unserer His-
torie in vielen Bereichen auch beieinander sind, so unter-
schiedlich – das ist in einer Familie oft so – sind wir. Die-
ses Spannungsverhältnis ist seit Adenauer und de Gaulle
produktiv. Die Aufgabe des deutsch-französischen Mo-
tors ist es, diese Kompromisse für Europa voranzutreiben.

Ich freue mich über Ihre positive Bewertung des vorges-
tern erreichten Kompromisses. Es war vor allen Dingen
auch eine große Leistung des Bundeskanzlers, die integrati-
ven Elemente in einem europäischen Verfassungskompro-
miss voranzubringen. Dass die Kommission vom Europä-
ischen Parlament gewählt wird, ist natürlich eine enorme
zusätzliche demokratische Legitimation für die Kommis-
sion im Rahmen einer zukünftigen Verfassung. Zugleich
handelt es sich dabei natürlich um einen gewaltigen
Kompetenzzuwachs sowohl für das Europäische Parla-
ment als auch für die Bürgerinnen und Bürger, die dieses
Europäische Parlament aufgrund dieser verstärkten Kom-
petenz anders sehen und indirekt einen Einfluss auf die
Zusammensetzung der Kommission haben werden.

Gleichzeitig werden wir in der Frage der Ausweitung
der Rechte der Kommission einen entscheidenden Schritt
nach vorne tun. So soll zum Beispiel die Kontrolle der Ge-
neraldirektionen von der Politik – genauer gesagt: von der
Kommission – wahrgenommen werden. Das halte ich
ebenfalls für einen ganz entscheidenden Schritt nach
vorne. Wer die praktischen Verhältnisse kennt, wird mir
zustimmen. Die Ausdehnung des Mitentscheidungsver-
fahrens auf sämtliche Legislativakte der Union ist für die
zunehmenden Rechte des Europäischen Parlaments eben-
falls von sehr großer Bedeutung. Darüber hinaus haben
Sie die Frage der gemeinsamen Außenpolitik angespro-
chen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die ge-
meinsame institutionelle Vertretung der Außenpolitik in
Zukunft durch einen EU-Außenminister wahrgenommen
wird.

Frau Merkel, als genauso wichtig sehe ich es an, dass
es uns im gesamten Bereich der Gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik jetzt gelungen ist, Mehrheitsent-
scheidungen generell einzuführen. Auch darin sehe ich ei-
nen ganz wichtigen Schritt nach vorn. Das reiht sich in die
über Jahre hinweg andauernde Zusammenarbeit dieser
Regierung mit der französischen Regierung ein. Eines
möchte ich Ihnen noch sagen: An diesem Punkt freue ich
mich, dass Sie Ihre Kritik, die Sie in der Vergangenheit
immer geäußert haben, ein Stück weit zurückgenommen
haben. Sie kritisierten ständig, der Bundeskanzler würde
die deutsch-französischen Beziehungen, die europäischen
Angelegenheiten insgesamt, schleifen lassen. Ich kann

Ihnen nur sagen: Mit der Agenda 2000 haben wir unter
diesem Bundeskanzler einen fast nicht möglich erschei-
nenden Kompromiss erreicht.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das war eine Nullnummer!)


Das war die Voraussetzung dafür, dass wir in praktischen
Verhandlungen weiterkommen konnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Unter der Vorgängerregierung wurde das Jahr 2000 als
Termin für den Beitritt Polens genannt. Ein halbes Jahr,
bevor wir die Regierung übernommen haben, waren die
Verhandlungsdossiers aufgeklappt worden. Unter der
deutschen Präsidentschaft hat der Verhandlungsprozess
Schwung bekommen. In Kopenhagen haben wir den his-
torischen Prozess, nämlich die Verhandlungen mit zehn
neuen Mitgliedstaaten, abgeschlossen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Darüber hinaus haben wir unter der deutschen Präsi-
dentschaft den zweiten Teil – nicht nur die Erweiterung der
Union – begonnen. Zugleich – dies geschah, gründend auf
den Kompromiss von Berlin, immer gemeinsam mit Frank-
reich – war es aufgrund der deutschen Initiative möglich,
den Konvent zu beginnen. Es geht also nicht nur um die Er-
weiterung, sondern auch um die Verfassung Europas.

Ich stimme der Kollegin Sager völlig zu: Wenn es in
diesem Jahr, dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, ge-
lingt, im Konvent zugleich zu einer europäischen Verfas-
sung zu kommen – die Arbeiten im Konvent laufen auch
dank der Führung von Präsident Giscard d‘Estaing sehr gut
–, dann hat sich das Vermächtnis des deutsch-französischen
Freundschaftsvertrages, des Élysée-Vertrages, 40 Jahre da-
nach erfüllt. Das war und ist das politische Ziel dieser Bun-
desregierung. Das ist die Politik von Bundeskanzler
Schröder und – das füge ich hinzu – Staatspräsident Jac-
ques Chirac. Ich finde, das ist eine beachtliche Leistung,
die im Interesse Europas liegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das gilt auch für unsere Verpflichtung zum Frieden.
Ich bin gerne bereit, diese Debatte an anderer Stelle auf-
zunehmen. An einem Tag wie heute sollten wir aber keine
taktischen Debatten darüber führen, wie die Regierung ir-
gendwohin geschoben werden kann.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD] – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist schon wichtig!)


– Es ist für Sie wichtig und völlig legitim. An einem sol-
chen Tag sollten Sie das aber nicht tun. Jetzt ist nicht die
Stunde der Taktik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage Ihnen: Der deutsch-französische Vertrag ist

ein Freundschaftsvertrag, der vor allen Dingen Frieden
geschaffen hat. Wenn sich diese Bundesregierung zu et-
was verpflichtet fühlt – dabei sind wir nicht naiv –, dann
ist das die Verpflichtung zum Frieden.


(A)



(B)



(C)



(D)


1434


(A)



(B)



(C)



(D)






An diesem Punkt ist für uns eines klar: Wir sind für die
Umsetzung der Resolution 1441. Das heißt, die Inspekto-
ren sollen ihre Arbeit tun. Unserer Auffassung nach gibt es
keinen Grund, militärische Gewalt einzusetzen. Unsere
Sorge ist viel zu groß, dass ein Einsatz militärischer
Gewalt im Irak eine Folgekette auslöst, die fatale Wir-
kungen haben könnte. Aus diesem Grund haben wir uns
von Anfang an klar positioniert. Wir haben gesagt, dass wir
uns an einer militärischen Aktion im Irak nicht beteiligen
werden. Dabei bleibt es. Das ist konkrete Friedenspolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501901000

Ich erteile dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-

Fraktion, das Wort.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1501901100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Herr Bundesaußenminister, heute ist weniger die
Stunde des Selbstlobes als vielmehr die Zeit, darüber
nachzudenken, was uns der deutsch-französische Vertrag
gebracht hat und was wir aus diesem Geist, der damals die
Staatsmänner beflügelt hat, für unsere Zukunft mitneh-
men können.

Wir sind sehr dankbar, dass wir heute auf 40 Jahre Ély-
sée-Vertrag zurückblicken können und dass das erfolg-
reiche Werk der Gründerväter, die die Erbfeindschaft zwi-
schen Deutschland und Frankreich überwunden haben
und die sich die Hand zur Versöhnung gereicht haben,
auch in die Zukunft getragen werden kann. Ich glaube, das
war damals eine Leistung, die zu Recht den Namen „his-
torisch“ verdient. Damals haben die Gründerväter euro-
päische Geschichte geschrieben. Wir alle in diesem Haus
müssen uns heute bewusst sein, dass deren Handeln für
uns in Zukunft Auftrag und Verpflichtung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Frieden auf dem alten Kontinent war damals nicht un-
bedingt selbstverständlich. Wir sind sehr dankbar, dass
dies heute gerade für unsere Kinder und für die nachfol-
gende Generation vollkommen selbstverständlich gewor-
den ist. Das ist aber nicht immer automatisch so, sondern
an solchen Grundentscheidungen muss immer wieder
weitergearbeitet werden.

Die Bedeutung des Élysée-Vertrages im Einzelnen zu
würdigen hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Es ist, wie
gesagt, viel wichtiger, das Ganze in der Zukunft fortzu-
setzen. Wir wissen, dass der Geist, der damals geherrscht
hat, auch heute notwendig bleibt, um viele Krisen in der
Welt zu überwinden. Wenn zwischen den Nachbarn Miss-
trauen herrscht, dann lassen sich Krisen nicht überwin-
den. Trotz der aktuellen Diskussion, trotz der drohenden
Kriegsgefahr im Nahen Osten, trotz der Tatsache, dass es
so aussieht, als ob manches in einem nicht zu stoppenden
Automatismus abläuft, dürfen wir nie vergessen, dass sich
der Einsatz um Frieden immer lohnt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Dazu gehört immer auch das Überwinden von Miss-
trauen, weil nur dann, wenn man Misstrauen überwunden
hat, eine friedliche Nachbarschaft möglich ist. Darin liegt
der historische Kern des Élysée-Vertrages.

40 Jahre Élysée-Vertrag zeigen auch, dass sich
Deutschland Vertrauen bei seinen Nachbarn erworben
hat. Diese Nachbarn sind von Deutschland im letzten und
im vorletzten Jahrhundert nicht immer gut behandelt wor-
den. Wir freuen uns, dass wir Deutschen heute ein aner-
kannter Partner sind, sowohl bei unseren europäischen
Verbündeten als auch in der Welt überhaupt. Dazu gehört
Verlässlichkeit. Dazu gehört, dass wir Deutschen keine
Sonderwege mehr gehen, sondern dass wir unser politi-
sches Handeln für die Zukunft in diese Partnerschaft ein-
betten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn die deutsch-französische Partnerschaft für den

Fortgang der europäischen Einigung entscheidend gewor-
den ist, dann liegt das an der aufrichtigen Bereitschaft der
Menschen zur Verständigung untereinander. Es ist bereits
gewürdigt worden, dass es sehr viele Städte- und Regio-
nalpartnerschaften gibt, durch die die Menschen immer
wieder zusammenkommen. Der Herr Bundesaußenminis-
ter hat zu Recht beklagt, dass die französische Sprache
wie auch die deutsche Sprache in dem jeweils anderen
Land zu wenig gepflegt werden.

Es gibt auch heute noch sehr viele idealistisch gesinnte
Jugendliche, denen der europäische Einigungsgedanke
und die deutsch-französische Verständigung am Herzen
liegen. Ich könnte Ihnen aus meiner eigenen Familie sehr
viel darüber berichten. Mein Sohn hat in Frankreich stu-
diert und dort ein juristisches Examen abgelegt. Insofern
kann ich auch einiges über die praktischen Erfahrungen
berichten, die die jungen Leute dort machen. Er ist sehr
idealistisch gesinnt dorthin gegangen und hat auch alles
gut bewältigt, aber es war ihm nicht verständlich zu ma-
chen, warum man sich in Frankreich ein Vierteljahr von
einer Behörde zur anderen anmelden muss, wenn man
dort als Deutscher in einem gemeinsamen Europa studie-
ren will. Sicherlich gibt es immer noch viele praktische
Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen. Aber
daran muss gearbeitet werden. Es hilft nicht, mit dem Fin-
ger aufeinander zu zeigen.

Entscheidend ist sicherlich auch – wie immer, wenn et-
was vorangehen soll –, dass die handelnden Personen ein
gutes Verhältnis zueinander pflegen und dass zwischen
den Staatsmännern die Chemie stimmt, wie man so sagt.
Ich erinnere daran, dass zwischen Adenauer und de Gaulle
die Chemie gestimmt hat; sonst wäre der deutsch-franzö-
sische Freundschaftsvertrag, über den wir heute reden,
nicht möglich gewesen. Ich erinnere daran, dass auch zwi-
schen Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing die Chemie
gestimmt hat. Ich erinnere auch an das gute Verhältnis,
das zwei an sich so gegensätzlich erscheinende Personen
wie Helmut Kohl und François Mitterrand zueinander ge-
funden haben.

Die CSU, für die ich hier spreche, hat diesen Prozess
immer unterstützt und ihm auf wichtigen Etappen ihren
Stempel aufgedrückt. Ich erinnere daran, dass Dr. Josef
Müller, einer unserer Parteigründer, zu den Europäern der

Bundesminister Joseph Fischer




Michael Glos
ersten Stunde gezählt hat und dass aus der CSU bereits
1946, als es die D-Mark noch nicht gab, eine europäische
Währung gefordert wurde. Ich bin stolz darauf, dass der
damalige Vorsitzende meiner Partei, Theo Waigel, ent-
scheidenden Anteil am Zustandekommen der Europä-
ischen Währungsunion gehabt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man

den Blick nach vorne richtet, fallen einem viele aktuelle
Notwendigkeiten ein, zum Beispiel, dass Europa nur dann
stark werden und stark bleiben kann, wenn auch unsere
Wirtschaft gut funktioniert. Dabei haben wir Deutsche
eine besondere Verpflichtung. Ich will nicht alle Äuße-
rungen des französischen Premierministers Raffarin über
die mangelnden Anstrengungen der Deutschen zitieren,
den europäischen Wirtschaftsmotor flott zu machen. Wir
müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass wir Deutsche in
Europa auch deswegen beliebt und geachtet sind, weil wir
immer der wirtschaftliche Motor waren. Dass dieser Mo-
tor stottert, ist bedauerlich. Es dient der deutsch-französi-
schen Freundschaft und der europäischen Einigung, wenn
wir wieder gemeinsam daran arbeiten und wenn die Bun-
desregierung auf diesem Gebiet noch besser wird, als es
der Herr Bundesaußenminister dargestellt hat.

Der Verfassungskonvent tritt jetzt in eine entscheidende
Phase. Wir fühlen uns bisher nicht sonderlich eingebunden.
Überhaupt muss man sich nicht wundern, Herr Bundes-
kanzler, wenn vieles in unserer Gesellschaft nicht mehr zu-
sammengeht, wenn Sie die politischen Eliten – dazu müs-
sen immer noch die politischen Parteien gezählt werden –,
die vorher immer über das notwendige Vorgehen einig
waren, die Opposition nicht mehr einbinden. Früher ist es
nie vorgekommen, dass sich ein EU-Kommissar an die
Opposition gewandt hat. Auch entscheidende Erweite-
rungsschritte – vorhin ist bereits über die Türkei gespro-
chen worden – sind nicht diskutiert worden.

Ich meine, wir müssen bei dem, was wir künftig zu ge-
stalten haben, darauf achten, dass wir die Menschen auf
unserem Weg mitnehmen. Wir können ihnen keine weite-
ren Entscheidungen überstülpen. Auch gibt es gegenwär-
tig keinen nationalen Konsens, der überhaupt eine Recht-
fertigung dafür böte, etwas ohne weitere Diskussion und
ohne Mitentscheidung des Volkes durchzusetzen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Men-
schen erwarten natürlich eine Antwort auf die Frage, wo-
hin in Europa die Reise geht. Die Menschen wollen wis-
sen, welche staatsrechtlichen Ergebnisse am Ende dieses
Prozesses zu erwarten sind, welches die Grenzen des ge-
meinsamen europäischen Hauses sind und über welches
Selbstverständnis das gemeinsame Europa verfügt. Nur
dann, wenn sich Europa am Schluss als Schicksals-
gemeinschaft versteht, wird es sich dauerhaft behaupten
können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Nach wie vor befürchtet die große Mehrheit unseres
Volkes infolge des Fehlens eines echten europäischen Be-
wusstseins, Nation und Region würden auf dem Altar der
europäischen Einigung geopfert. Unter den gegenwär-

tigen Voraussetzungen sehe ich keinen anderen Weg als
den, die Rolle der Nationalstaaten noch immer als sehr
wichtig zu erachten. Der Vorschlag des französischen
Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers, den
wir prüfen werden, sagt dies ebenfalls aus: Auch in Zu-
kunft wird Europa auf einem Verbund selbstständiger Na-
tionalstaaten aufbauen, die Souveränität nur in einem be-
grenzten Ausmaß an Europa übertragen. Es ist somit
zwingend erforderlich, Föderalismus und Subsidiarität
nicht nur in Paragraphen, sondern auch in der konkreten
Politik Rechnung zu tragen. Auch darum wird es beim
Verfassungskonvent gehen.

Wir dürfen ferner nicht vergessen, dass Europa auf ei-
nem verbindenden historischen Erbe aufbaut. Die Eu-
ropäer bekennen sich zu einer gemeinsamen Werteord-
nung auf den Grundlagen des Christentums und der
Aufklärung.Nur dann, wenn wir diese uns verbindenden
Werte aufrechterhalten, kann es zu einer eigenen gemein-
samen europäischen Identität kommen. Herr Bundes-
kanzler, Folgendes kann ich Ihnen in diesem Zusammen-
hang nicht ersparen: Dass die verbindenden europäischen
Werte, die man definiert, wie man es gerade braucht – als
es um die Türkei ging, ist darüber nicht diskutiert worden –,
ausgerechnet an Österreich ausprobiert werden sollten,
war ein schlimmes Bubenstück, das wir eigentlich ver-
gessen machen sollten, an das wir als Opposition aber im-
mer wieder erinnern müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aufgabe des gemeinsamen Europas muss es sein, die

globalen Probleme mit zu gestalten, Frieden und Freiheit
in der Welt zu erhalten und den Terrorismus zu bekämp-
fen, der natürlich auch Europa bedroht. Manche Diskus-
sionen in unserem Land – auch in unseren Reihen – zei-
gen, dass das Bewusstsein der Menschen zu gering ist,
dass auch wir in der Bundesrepublik Deutschland mitten
im Herzen Europas vom internationalen Terrorismus be-
droht sind und im eigenen Interesse gegen diesen Terro-
rismus vorgehen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dazu brauchen wir ein handlungsfähiges Europa. Lassen
Sie uns auch in Zukunft daran bauen!

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501901200

Ich erteile Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPD-

Fraktion, das Wort.


Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Rede ID: ID1501901300

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Einer meiner Großväter liegt auf dem Hartmanns-
weiler Kopf, einem Bergrücken der Vogesen, begraben,
gefallen in den letzten Monaten des mörderischen Ersten
Weltkrieges. Mein Vater geriet 1945 verwundet in franzö-
sische Kriegsgefangenschaft. Meine Kindheit in Baden
war durch die französische Besatzung geprägt. Mein Va-
ter verdiente nach 1945 das Brot für seine junge Familie


(A)



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(D)


1436


(A)



(B)



(C)



(D)






als Arbeiter im Dienst des französischen Militärs. Das
sind Einzelereignisse aus einer durch Feindschaft und
blutige Auseinandersetzungen geprägten deutsch-franzö-
sischen Geschichte.

Und dann geschieht nach dieser leidvollen Geschichte
das Unglaubliche: Trotz brutaler Okkupation Frankreichs
durch die Deutschen und trotz Gestapo- und SS-Terror ha-
ben unsere Nachbarn uns nach der NS-Zeit die Hand zur
Versöhnung gereicht. Franzosen und Deutsche haben aus
Feinden Freunde gemacht. Die zwischen den beiden Zi-
vilgesellschaften und Regierungen aufgebaute Partner-
schaft wurde bereits vor 40 Jahren durch den Élysée-Ver-
trag feierlich besiegelt.

Heute fragen uns viele Menschen: Macht es denn noch
Sinn, wegen der notwendigen Versöhnung ein besonderes
Verhältnis zu Frankreich zu rechtfertigen und aufrechtzu-
erhalten? Die Versöhnung ist doch längst erledigt. Heute
geht es doch um andere Fragen in Europa. Heute muss
zum Beispiel die Aussöhnung mit Tschechien und Polen
vorangebracht bzw. vollendet werden. Heute muss die eu-
ropäische Zukunft gestaltet werden.

In der Tat ist das, was noch unsere Eltern und Groß-
eltern für undenkbar hielten, nämlich dass sie ohne jede
Schranke in das jeweils andere Land reisen und dass Fran-
zosen und Deutsche in Freundschaft miteinander leben, für
die jüngere Generation zu einer solchen Selbstverständ-
lichkeit geworden, dass sie den weiten Weg kaum ermes-
sen kann, den unsere beiden Völker aufeinander zugegan-
gen sind. Sie versteht auch kaum, dass auch noch heute
einzelne Vorfälle genügen, damit man sich bei unseren
Nachbarn des hässlichen Deutschen erinnert. Aussöhnung,
gute Nachbarschaft und Freundschaft müssen also auch
mit den Menschen unseres großen westlichen Nachbarlan-
des immer wieder neu gewonnen und gelebt werden.

Eine Bürgerin schrieb mir dieser Tage:
Ich wünsche uns, dass wir nicht ermatten in dieser
Tätigkeit, die heute vielleicht schwieriger ist, sich
mehr rechtfertigen muss als damals, wo man die Ver-
söhnung als Glück und Fortschritt erlebt hat und
nicht als etwas Gewöhnliches.

Die deutsch-französische Zusammenarbeit hatte aber
von Anfang an eine weit über die Verarbeitung der Ver-
gangenheit hinausweisende Bedeutung und Aufgabe. Aus
unterschiedlichen Motiven heraus – das ist schon ange-
sprochen worden – wollten Deutschland und Frankreich
die Westintegration der Bundesrepublik. Es war klar, dass
dies nur über den europäischen Einigungsprozess mög-
lich war. In den 50er-Jahren waren Deutschland und
Frankreich deshalb maßgeblich an der Gründung der Eu-
ropäischen Gemeinschaft beteiligt. Dabei war die Ver-
ständigung weder selbstverständlich noch einfach zu be-
werkstelligen. Es war und ist durchaus nicht so, dass sich
in Deutschland und Frankreich gesellschaftliche Ent-
wicklungen in gleicher Weise vollzogen oder sich Tradi-
tionen und Wertvorstellungen völlig identisch herauskris-
tallisierten. Daraus ergibt sich, dass unsere Länder auch
nicht von vornherein gleich gerichtete Interessen haben
und auch nicht hatten. Dafür lassen sich viele Beispiele
anführen. Eines davon ist der unterschiedliche Umgang
mit den Risiken der Nukleartechnologie.

Über den Versöhnungswillen, über den brennenden
Wunsch hinaus, unsere beiden Völker mögen aufhören,
im Generationenabstand ihre Jugend auf den Schlachtfel-
dern zu opfern, gab es drei Grundlagen für die erfolgrei-
che Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frank-
reich:

Erstens: eine Balance zwischen Partnern mit unter-
schiedlichen Stärken. Deutschland, durch den Viermächte-
status gebunden und mit eingeschränkter Souveränität,
war politisch zunächst ein Zwerg. Das deutsche Wirt-
schaftswunder hatte es aber mit sich gebracht, dass die
Bundesrepublik zur bedeutendsten europäischen Wirt-
schaftsmacht geworden war. Frankreich tat sich dagegen
schwerer, den Weg von der alten Industrienation in das
hochtechnologische Zeitalter zu finden. Politisch war
Frankreich aber gleichberechtigtes Mitglied im Kreis der
ehemaligen alliierten Kriegsgegner Deutschlands.

Zweitens: der feste Wille, Gegensätze zu überwinden
und die anstehenden Herausforderungen im Konsens zu
meistern.

Drittens: die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt,
wie es beispielsweise die Währungsunion darstellte, die
bereits von Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt als
Idee entwickelt und dann von François Mitterrand und
Helmut Kohl in die Tat umgesetzt wurde.

Trotz zeitweise auftretender Schwierigkeiten ist es im-
mer wieder zu wegweisenden deutsch-französischen Ini-
tiativen gekommen. Dabei spielte im Übrigen die politi-
sche Farbe kaum eine Rolle. Ohne den gemeinsamen
deutsch-französischen Willen hätte es weder den Binnen-
markt noch das Verschwinden der Grenzkontrollen im
Schengen-Raum gegeben.

Nun ist viel darüber spekuliert worden, ob in den 90er-
Jahren und erst recht mit Amtsantritt der rot-grünen
Regierung der deutsch-französische Motor ins Stocken
geraten sei.


(Zuruf von der FDP: Ja, ist er!)

Ich sehe das nicht so. Allerdings hatte sich die über Jahr-
zehnte existierende Balance zwischen den beiden Län-
dern nach dem 30. Geburtstag des Élysée-Vertrages ver-
ändert. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten
hat Deutschland wieder seine volle Souveränität erhalten.
Das relative politische Gewicht des größer gewordenen
Deutschland als normaler Staat ist auch im Vergleich zu
Frankreich gestiegen. Dagegen haben der Zusammen-
bruch der ostdeutschen Industriestrukturen und die Not-
wendigkeit, die neuen Länder ökonomisch und sozial
zu integrieren, zu einer wirtschaftlichen Schwächung
Deutschlands geführt. Frankreich hat den Übergang ins
Zeitalter der Globalisierung etwas besser meistern kön-
nen. Aber Frankreich sorgte sich, dass Deutschland mit
dem Fallen des Eisernen Vorhangs seine Energie nun da-
rauf richten würde, wieder Sonderbeziehungen zu osteu-
ropäischen Ländern aufzubauen und daraus besondere
Stärke zu beziehen.

Nicht zuletzt deshalb war es ein besonderer Glücksfall,
dass die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutsch-
lands, Skubiszewski, Dumas und Genscher, den Grund-
stein für das „WeimarerDreieck“ gelegt haben, das nicht

Dr. Angelica Schwall-Düren




Dr. Angelica Schwall-Düren
nur für die Heranführung Polens an die EU nützlich war,
sondern auch Frankreich neben Deutschland eine wich-
tige Rolle bei dieser Heranführungsstrategie gab. Das ist
im Übrigen ein Beleg dafür, dass die deutsch-französische
Beziehung andere Partner nicht ausschließt, sondern auf
Integration gerichtet ist.

Zum Ende der 90er-Jahre war auch das gemeinsame
Projekt Euro erfolgreich abgeschlossen, sodass ein wich-
tiger Fixpunkt für die deutsch-französische Zusammen-
arbeit wegfiel. Dies alles machte es notwendig, dass die
Partner zu einer neuen Rolle und zu neuen Projekten fan-
den.

Doch lassen Sie mich zunächst noch auf einen anderen
Punkt eingehen. Über die gesamten 40 Jahre des Beste-
hens des Élysée-Vertrags hinweg haben Kontakte und
Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft das deutsch-fran-
zösische Verhältnis wesentlich bestimmt; Frau Griefahn
wird darauf noch näher eingehen. Unzählig viele Arbeits-
und Freundschaftsbeziehungen sind entstanden. Immer
mehr dauerhafte Beziehungen sind das Ergebnis.

Wo Menschen zusammenleben, entstehen auch neue
Konflikte und nicht immer können sie von den Beteiligten
selbst gelöst werden. Auch deutsch-französische Paare
trennen sich gelegentlich und manchmal schaffen es die
Menschen nicht, ihre Trennung so zu organisieren, dass
ihre Kinder weiter regelmäßigen Kontakt zu beiden El-
ternteilen behalten. Eine unterschiedliche Rechtspraxis in
unseren Ländern kann die Konflikte noch verschärfen.

Deshalb hatten die Justizministerinnen Frankreichs
und Deutschlands 1999 eine sechsköpfige deutsch-fran-
zösische parlamentarische Mediatorengruppe ins Leben
gerufen, die zerstrittenen binationalen Paaren helfen
sollte, eine Regelung zugunsten ihrer Kinder zu finden.
Diese Einrichtung ist ein Beispiel für zahlreiche Aktivitä-
ten, die durchaus unspektakulär dazu beitragen, deutsch-
französische Anliegen gemeinsam voranzubringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei den großen europäischen Projekten erweist sich
zum wiederholten Male die Stärke der deutsch-fran-
zösischen Zusammenarbeit: Voraussetzungen für die
EU-Erweiterung mussten geschaffen werden. Mit einer
europäischen Verfassung soll in diesem Jubiläumsjahr die
Handlungsfähigkeit der EU angesichts größerer und
neuer Herausforderungen gestärkt werden.

Wegen der Notwendigkeit, den EU-Stabilitätspakt ein-
zuhalten, und angesichts weltweiter Konjunkturschwäche
ist die Finanzierung der EU-Erweiterung mit Augenmaß
zu betreiben. Dabei – das ist schon angesprochen worden –
fällt der umfangreiche Agrarhaushalt besonders ins Ge-
wicht. Hier sind die unterschiedlichen Interessen der Eu-
ropäer auch sehr deutlich: Das Agrarland Polen als wich-
tigster Vertreter der Beitrittsländer wollte für seine Bauern
wie die Altmitglieder Direktzahlungen erhalten. Deutsch-
land wollte als größter Nettozahler keine zusätzlichen
Mittel aufbringen. Frankreich mit seiner Agrarstruktur
wollte auf keinen Fall auf Mittel verzichten. Trotz
dieser schwierigen Ausgangslage haben es Deutschland
und Frankreich geschafft, auf dem Brüsseler Gipfel den

Agrarkompromiss zu schließen, dem sich die anderen
Mitglieder anschließen konnten und der die Erweiterung
möglich gemacht hat. Der deutsch-französische Motor hat
funktioniert.

Auch in Zukunft wird die Bewältigung dieser histori-
schen Erweiterungsrunde hohe Anforderungen an das
deutsch-französische Tandem stellen. Das anstehende Zu-
kunftsprojekt der Vollendung der Einigung Europas durch
die Erweiterung und die Vertiefung ist von historischer
Dimension. Das Ziel muss es sein, dass auch die erwei-
terte EU demokratisch, handlungsfähig, bürgernah, trans-
parent und solidarisch ist.

Die dafür nötigen Weichenstellungen müssen im Euro-
päischen Verfassungskonvent vorgenommen werden.
Deutschland und Frankreich – das zeigt sich wieder – wer-
den sich gemeinsam für den Erfolg des Konvents und für
die weitere Vertiefung der Europäischen Union einsetzen.
Der Außenminister und unser Fraktionsvorsitzender Franz
Müntefering haben schon den Hinweis auf die verschiede-
nen konkreten Initiativen im Hinblick auf die Konventsar-
beit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Gemein-
same Außen- und Sicherheitspolitik und den Raum der
Sicherheit, des Rechts und der Freiheit gegeben.

Die Bilanz des Élysée-Vertrages ist also nicht nur po-
sitiv, sie ist sogar hervorragend. Wir alle sollten dazu bei-
tragen, dies deutlich zu machen und Impulse für die Fort-
setzung der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu
setzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Parlamente werden diese Initiativen über das Feiern
des Geburtstages hinaus durch konkrete Arbeit begleiten.

Es macht Sinn, kommende Woche zu unseren Kollegen
nach Versailles zu fahren. Ich darf Alfred Grosser zitieren,
der in Frankfurt amMain geboren wurde und nach Frank-
reich emigrieren musste – er ist ein großer Kenner
Deutschlands –:

Wunderbar ist, dass endlich einmal die Volksvertre-
tungen spektakulär zusammenkommen; das hat
mehr Symbolkraft als jedes Treffen der Regierenden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501901400

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher,

FDP-Fraktion.


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1501901500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! 40 Jahre Élysée-Vertrag, das bedeutet Aufbau einer
tiefen und vor allem einer belastbaren Freundschaft zwi-
schen den Menschen diesseits und jenseits des Rheins.
40 Jahre Élysée-Vertrag bedeutet auch eine intensive Ko-
operation mit vielen Mechanismen zwischen Regierun-
gen und teilweise zwischen Parlamenten. Die Intensität


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dieser Kooperation war nicht immer gleich. Man muss
schon feststellen: Mit Amtsantritt der Regierung Schröder/
Fischer ist dieser Motor ins Stottern geraten und er hat lei-
der viel zu lange gestottert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Falsch! – Peter Hintze [CDU/CSU]: Stottern ist noch freundlich!)


Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass die Zu-
sammenarbeit in den vergangenen Monaten wieder besser
geworden ist. Wir begrüßen ausdrücklich, dass diese Zu-
sammenarbeit, anknüpfend an vergangene Perioden, wie-
der Erfolge zeigt. Auch das soll hier ganz deutlich gesagt
werden. Wir mahnen aber auch an, dort, wo es Konflikte
gibt, diese auszusprechen. Wir veranstalten heute keine
Feierstunde – sie findet nächste Woche statt –, sondern
wir führen eine Parlamentsdebatte durch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es beunruhigt mich schon, zu sehen, dass die Franzo-
sen heute – vor einigen Jahren hatten sie noch ein Stück
weit Angst vor der wirtschaftlichen Übermacht Deutsch-
lands – eher Angst davor haben – ich erinnere an die Aus-
sagen von Raffarin –, dass Deutschland Europa wirt-
schaftlich herunterzieht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Bundeskanzler, das beste Geburtstagsgeschenk, das
Sie nächste Woche nach Versailles mitnehmen könnten,
ist eine Änderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, da-
mit in Deutschland endlich wieder Wachstum erfolgt, wo-
durch auch die Wirtschaft in Europa wieder angekurbelt
würde.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


40 Jahre Élysée-Vertrag heißt enge Kooperation zwi-
schen den Regierungen. Ich meine, es ist jetzt höchste
Zeit, diese durch eine enge Kooperation zwischen den
Parlamenten zu ergänzen. Gemeinsame Sitzungen der
Auswärtigen Ausschüsse, der Europaausschüsse, eine
enge Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik durch die Parlamente, aber auch ein regel-
mäßiger Austausch einzelner Abgeordneter, Hospitations-
programme der Abgeordneten, das müssten wir viel mehr
initiieren; denn wir haben doch gelernt: Dort, wo Men-
schen zusammenkommen, funktioniert die Zusammenar-
beit. Diesem Motto sollten wir auch in diesem Parlament
viel mehr folgen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


40 Jahre Élysée-Vertrag heißt, die Begegnungen und
die Freundschaft zwischen den Menschen zu stärken. Und
da hat sich, verehrte Frau Kollegin Schwall-Düren – da
stimme ich Ihnen zu –, etwas verändert. Die Generation
derer, die den Krieg noch erlebt hat, tritt nach und nach
von der politischen Bühne ab. Die jungen Leute haben
diesen besonderen Bezug nicht mehr. Es ist ja so, dass das,
was wir bisher erreicht haben, nämlich dass Kooperation

selbstverständlich ist und die Versöhnung erfolgt ist, die
Raison d’être des Vertrages ein Stück weit obsolet ge-
macht hat. Deshalb müssen wir die jungen Menschen da-
von überzeugen, wie wichtig das besondere Verhältnis
zwischen Deutschland und Frankreich ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD])


Herr Außenminister, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu: Zentrale Bedeutung hat hier die Sprache. Es muss uns
schon mit Sorge erfüllen, wenn in Deutschland nur etwa
14 Prozent der jungen Menschen Französisch lernen und
in Frankreich weniger als 10 Prozent Deutsch lernen. Die
Zahl der Einschreibungen an germanistischen Instituten
in Frankreich ist in den Jahren 1999 und 2000 um mehr
als die Hälfte zurückgegangen.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist das!)


Da dürfen wir nicht einfach untätig zusehen. Meine Da-
men und Herren, wir müssen hier agieren. Hier liegt für
unsere junge Generation eine riesengroße Chance.

Nach Schätzungen des deutschen Botschafters in Paris
können derzeit zwischen 20 000 und 40 000 Stellen in
Frankreich nicht besetzt werden, weil die Bewerber über
keine deutschen Sprachkenntnisse verfügen. Das franzö-
sische Wirtschaftsministerium nennt sogar eine Zahl von
180 000. Hier muss etwas getan werden. Es dürfen nicht,
wie es in den letzten Jahren erfolgt ist, Kultureinrichtun-
gen geschlossen werden, vielmehr müssen wir Kulturein-
richtungen schaffen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen gemeinsame Projekte durchführen. Der in
Baden-Württemberg beschrittene Weg, Französisch in
Grundschulen in der Nähe zur französischen Grenze als
Pflichtfach einzuführen, ist richtig.

Ich möchte zum Schluss kommen: 40 Jahre Élysée-Ver-
trag impliziert auch, dass wir uns entsprechend verhalten.
Die Menschen schauen auch auf uns. Ich habe, ehrlich ge-
sagt, manche kleinkrämerische Reaktion in der Partei
Konrad Adenauers in Bezug auf unser Treffen nächste Wo-
che nicht verstanden. Die Freundschaft lebt von Symbolen.
Die Unterzeichnung des Vertrages war ein solches Symbol.
Das Treffen in Versailles in der nächsten Woche wird ein
weiteres Symbol sein und auch zu neuen Aufbrüchen
führen. Für die FDP-Fraktion sage ich: Wir sind stolz da-
rauf, in Versailles an diesem Prozess mitwirken zu dürfen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501901600

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1501901700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Blick

auf die deutsch-französischen Beziehungen hat für mich

Ernst Burgbacher




Dr. Gesine Lötzsch
als ostdeutsche Parlamentarierin noch mehr Aspekte, als
hier schon beschrieben wurden. Die Erfahrungen meiner
Generation sind noch durch das Frankreichbild geprägt,
das in der DDR vermittelt wurde. Dieses Bild war ambi-
valent: Auf der einen Seite wurde die Geschichte der Wi-
dersprüche und der Kriege zwischen beiden Völkern ver-
mittelt, auf der anderen Seite gab es Hochachtung vor den
französischen Beiträgen zur Aufklärung und große Sym-
pathien für die revolutionäre Tradition von 1789, für die
Tradition der Pariser Kommune und nicht zuletzt für die
Kämpfe der Résistance gegen Faschismus und Krieg. So
spiegelte sich unser Bild von Frankreich auch in den Er-
zählungen vieler Antifaschisten wider, die zusammen mit
Franzosen gegen die deutsche Invasion in der Résistance
gekämpft haben.

Der französische Botschafter in der Bundesrepublik er-
klärte 1995 gegenüber Deutschen, die in der Résistance
gegen Hitler gekämpft hatten, dass die Wurzeln der
deutsch-französischen Versöhnung in dem gemeinsamen
Kampf gegen den Faschismus liegen. Ich kenne viele
deutsche Kämpfer der Résistance, die in Frankreich mit
offenen Armen empfangen werden, aber in der Bundesre-
publik, leider auch von dieser Regierung, bisher nicht die
entsprechende Aufmerksamkeit erfahren haben. Hier gibt
es, wie ich denke, noch Nachholbedarf.

Aus all meinen persönlichen Erfahrungen speiste sich
immer ein Gefühl der Achtung und des Respekts gegen-
über dem französischen Volk, einem Volk, das sich zu An-
tifaschismus, Toleranz und gesellschaftlichem Fortschritt
bekannte. Ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik der
60er- und 70er-Jahre, wo gegen solche Leute Berufsver-
bote verhängt wurden, spielten im politischen Leben
Frankreichs Linke und Kommunisten immer eine nor-
male und geachtete Rolle. Viele Prominente und Intellek-
tuelle schlossen sich der kommunistischen und der Ge-
werkschaftsbewegung an. So kam Frankreich bei vielen
Ostdeutschen oft besser weg als die damalige Bundesre-
publik.

Ich verstehe daher auch den Beitrag der Ostdeutschen
als Träger von deutsch-französischen Beziehungen nicht
nur quantitativ, sondern auch als kulturelle Bereicherung,
die auf die Traditionen von Humanismus, Antifaschismus
und gesellschaftlicher Toleranz Bezug nimmt und die
dazu beitragen kann, die in der Geschichte entstandenen
und leider sicher auch heute noch in der einen oder ande-
ren Form vorhandenen Vorbehalte zwischen beiden Völ-
kern abzubauen und zu überwinden.

Ich möchte zum Abschluss noch einen Aspekt beson-
ders hervorheben. Die große Lehre aus der deutsch-fran-
zösischen und der europäischen Geschichte, die über
Jahrhunderte viele verheerende Kriege hervorbrachte, be-
steht in der Erkenntnis, dass sich Konflikte nicht mit
Gewalt lösen lassen. Umso mehr muss dieser Jahrestag
auch Anlass für ein gemeinsames Bekenntnis zu Frieden
und Zusammenarbeit sein. Angesichts der Gefahr eines
neuen Golfkrieges liegt es, so denke ich, auch in der be-
sonderen Verantwortung der Bundesrepublik und Frank-
reichs, sich als Mitglieder des Sicherheitsrates aktiv für
einen friedlichen Weg einzusetzen und dies auch dann zu
tun und durchzuhalten, wenn es Gegenwind gibt, statt ei-
ner falschen Doktrin zu folgen. Denn der Krieg wird die-

ser Region keine Befriedung geben, sondern zu neuem
Terror aufwiegeln.

Möge sich hier die Achse Paris–Berlin als eine verläss-
liche Stütze der europäischen und internationalen Kriegs-
gegner erweisen. Ich denke, dabei haben die politisch Ver-
antwortlichen das deutsche und das französische Volk auf
ihrer Seite.

Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501901800

Ich erteile das Wort Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1501901900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jean

Monnet hat einmal gesagt: Europa ist ein Beitrag zu einer
besseren Welt. War das nicht eigentlich das Leitmotiv, das
dem Élysée-Vertrag seinen Sinn gegeben hat und für im-
mer geben wird, nämlich – wie es darin heißt – eine alte
Rivalität zwischen den Deutschen und den Franzosen zu
beenden, damit sie solidarisch miteinander leben? Charles
de Gaulle und Konrad Adenauer haben damals als ge-
meinsames Ziel erklärt, „dass die Verstärkung der Zu-
sammenarbeit ... einen unerlässlichen Schritt auf dem
Wege zu dem vereinigten Europa bedeutet“.

Die deutsch-französische Freundschaft also muss, seit-
her jedenfalls, immer wieder neu erkämpft und erarbeitet
werden. Sie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt, wenn
sie immerfort aufgebaut wird, getragen aus der Mitte un-
serer Gesellschaften, immerzu angetrieben von einem ste-
tigen politischen Willen. Tausende von Städtepartner-
schaften, von Gemeinden, die zueinander gefunden haben,
bilden das feste Netzwerk, das wir miteinander geschaffen
haben. Dieses Netzwerk der Zivilgesellschaften, der Men-
schen, die zusammenarbeiten, ist unzerreißbar. Durch die
Instrumente, die entwickelt worden sind, haben in diesen
40 Jahren beispielsweise 6,5 Millionen Jugendliche an
Austauschprogrammen teilgenommen. Es sind noch im-
mer jährlich – Frau Merkel hat das Thema angesprochen –
140000 Jugendliche, die einander begegnen. Daran wol-
len wir festhalten, denn das ist das feste Fundament, auf
dem wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Der Élysée-Vertrag war ein Meilenstein, der Deutsch-
land einen Weg in die Europäisierung gezeigt hat. Viel-
leicht darf ich an die Kolleginnen und Kollegen von der
Union gewandt sagen – gerade als Deutscher, gerade als
Mitglied der Sozialdemokratie, die gegründet worden ist,
um die Enge des nationalen Denkens zu überwinden –: Es
war ein Glücksfall, dass Konrad Adenauer und Charles de
Gaulle, die beide aus einem eher konservativen Lager
stammten, zueinander gefunden haben. Es war auch für
die Sozialdemokratie ein glücklicher Umstand, weil da-
mit die Zeit jahrzehntelanger Gegnerschaft und Rivalität
zwischen Deutschen und Franzosen beendet werden
konnte.


(A)



(B)



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(D)


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(A)



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Denken Sie an 1871, als es im Reichstag Stimmen
– wenn auch nur wenige Stimmen, darunter die von
August Bebel – gegen den deutsch-französischen Krieg
gegeben hat. Das ist die Tradition, die die deutsche und
französische Sozialdemokratie miteinander verbindet: Es
gab den Versuch, den Ersten Weltkrieg abzuwenden. Ich
nenne ferner die Demonstrationen, an denen Léon Blum
und August Bebel in Basel teilgenommen hatten, um die
schreckliche Tragödie, die dann über Europa hereinbrach,
zu verhindern.

Denken Sie an 1925, als im Heidelberger Programm
der deutschen Sozialdemokratie gefordert wurde – dies ist
vielleicht ein verstaubter Begriff –: Wir wollen die Verei-
nigten Staaten von Europa schaffen. Was wäre geschehen,
wenn dieser Grundgedanke der Sozialdemokratie damals
Realität geworden wäre? Vielleicht wären diesem Konti-
nent die zwei Weltkriege, die ihn so zerrissen haben und
die ihn haben so bluten lassen, erspart geblieben. Dieser
Grundgedanke liegt in der Tradition der Sozialdemokra-
tie beider Länder und der europäischen Sozialdemokratie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nicht vergessen werden darf: Der Élysée-Vertrag hat
schießlich die Möglichkeit geschaffen, dass Willy Brandt
seine Ostpolitik machen konnte. Nur aufgrund der festen
Verwurzelung Deutschlands in der atlantischen Allianz
und in der Europäischen Gemeinschaft sowie der festen
Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland war
es möglich, dass es eine nach Osten gewandte Politik der
Verständigung gab. Die Politik Willy Brandts war nur
möglich – er hat das immer wieder betont –, weil es diese
feste Bindung Deutschlands an Europa gegeben hat.
Darin liegt der unendlich große historische Gewinn, den
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle für unsere bei-
den Nationen geschaffen haben. Auf diesem Fundament
stehen wir und auf diesem Fundament werden wir weiter-
arbeiten, damit – dieses Ziel wurde schon im Élysée-Ver-
trag formuliert – Europa ein Kontinent des Friedens wird.
Diesem Ziel bleiben wir verpflichtet und daran werden
wir weiterarbeiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich hat es – auch das ist heute schon angespro-
chen worden – in der Freundschaft zwischen Frankreich
und Deutschland immer wieder Verstimmungen gegeben.
Es gab auch manches Missverständnis. Vielleicht sollten
wir überlegen – Kollege Gerhardt hat es vorhin schon an-
gesprochen –, woher ein Teil dieser Missverständnisse
kommt. Ein Teil rührt sicherlich daher, dass wir unter-
schiedliche historische Erfahrungen haben. Frankreich
achtet aus seiner großen Tradition der Aufklärung und der
bürgerlichen Revolution heraus natürlich darauf, dass der
Zentralstaat das wichtigste Element der nationalen
Identität ist und bleibt. In Deutschland ist der föderale
Gedanke der wichtigste Bestandteil unseres Selbstver-
ständnisses. Die Föderation der Länder ist für uns un-
verzichtbar – aus ihr ziehen wir unsere Kraft – und wird
uns noch für lange Zeit prägen.

Aber gerade weil es diese Unterschiedlichkeiten zwi-
schen föderalem Staat und Nationalstaat, zwischen loka-

ler Autonomie und zentraler Politik gibt, besteht für das
gemeinsame Duo Deutschland und Frankreich die große
Chance, den Kerngedanken der europäischen Integration
lebendig zu halten. Den Grund dafür nennt „Le Monde“
heute in einem wunderbaren Artikel über den Vorschlag
von Jaques Chirac und Gerhard Schröder: dass wir immer
dazu verdammt sind, den Zwang des Kompromisses
selbst zu erarbeiten, aus den Logiken, die auseinander fal-
len – oder, wie Verfassungsrechtler sagen, aus der dop-
pelten Legitimation Europas –, eben aus dem Nationalen
und aus dem Regionalen heraus die Kraft zu schöpfen.
Dieses Spannungsverhältnis müssen wir produktiv nutzen
und in den gemeinsamen Prozess der Integration einbrin-
gen. Das ist das, was Europa lebendig macht und leben-
dig hält.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist vielleicht
auch der Grund dafür, dass die große Weltmacht unserer
Zeit, die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht ganz ver-
steht, was die europäische Integration bedeutet. Dieses
Spannungsverhältnis aus den Regionen und aus den Kom-
munen ist für die USA zwar etwas ganz Natürliches. Da-
raus leben die USA auch selbst. Doch die Vielfalt in den
Sprachen und in den unterschiedlichen Konzepten ver-
wirrt manche innerhalb der USA. Es ist ja auch schwie-
rig, damit umzugehen. Nur sage ich: Wenn diese unter-
schiedlichen kulturellen, sprachlichen und politischen
Herkünfte zueinander finden, wenn sie miteinander Ko-
operationsbedingungen eingehen, machen sie die wirkli-
che Modernität unserer Zeit aus – nicht die Hegemonial-
macht, sondern das, was uns in Europa miteinander
verbindet, dass wir aufeinander hören, dass wir jeden,
auch den Kleinen, ernst nehmen und ihm Respekt zollen.
Diese unterschiedlichen Herkünfte müssen wir zusam-
menbinden und zusammenführen, um aus dieser produk-
tiven Spannung heraus ein neues, integratives Europa zu
schaffen. Das ist die wirkliche Kraft Europas, das ist die
Modernität. Ich finde, in diesem Punkt hat das europä-
ische Modell eine Faszination, die stärker ist als die Fas-
zination der USA. Ich darf das so, jedenfalls für mich, sa-
gen.


(Beifall bei der SPD)

Ein letzter Aspekt, Herr Präsident, gerade auch aus Ih-

rer eigenen Vergangenheit und Geschichte heraus: Dieses
faszinierende Modell hat gerade im Osten Europas ge-
wirkt. Gestern noch hat mir Kazimierz Wojcicky, einer
der großen Denker der polnischen Dissidenz, gesagt: In
den 70er-Jahren war dieses sich integrierende Europa, der
Westen, das große faszinierende Modell dafür, wie man
sich selber entwickeln kann, wie man eine zivile Gesell-
schaft vorantreiben und von unten entwickeln kann, um
zu versuchen, dass Polen, Deutschland und Frankreich
der Kern werden für ein sich vereinigendes Europa. Ein
Gedanke, der 30 Jahre alt ist, der auf dem Élysée-Vertrag
fußen kann und der im nächsten Jahr Realität wird. Ein
wunderbarer Gedanke von Charles de Gaulle und von
Konrad Adenauer ist Realität geworden und heute kann
Europa sagen: Das hat uns vorangebracht und daran wer-
den wir festhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gert Weisskirchen (Wiesloch)







Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1501902000

Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Saar-

landes, Peter Müller.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1501902100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Der Élysée-Vertrag markierte weder den Beginn noch
den Endpunkt des Prozesses der deutsch-französischen
Aussöhnung. Aber er war sicherlich eine wichtige Weg-
marke in diesem Prozess, denn er besiegelte nach Jahr-
hunderten blutiger Auseinandersetzungen den Frieden
zwischen Deutschen und Franzosen. Der Begriff der Erb-
feindschaft, der sehr lange die Debatte geprägt hat, wurde
damit überwunden. Es ist gerade einmal 70 Jahre her, dass
ein vermeintlicher Philosoph wie Joseph Sieberger formu-
lierte: Deutsche und Franzosen markieren die jeweils
äußerste Möglichkeit des Menschseins.

Vor diesem Hintergrund war der Élysée-Vertrag, den
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterschrieben
haben, ein nicht unumstrittener Pakt, der darauf abzielte,
menschliche Begegnungen zu ermöglichen, der aber vor
allem darauf abzielte, in der Zukunft konstruktiv und
schöpferisch zusammenzuarbeiten. Er wurde Grundlage
der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Aus ihm hat
sich die Rolle Deutschlands und Frankreichs als Motor
der europäischen Integration entwickelt, ganz im Sinne
Robert Schumans, der gesagt hat: „L’Europe ne sera pos-
sible sans la France et sans l‘Allemagne.“

Gerade für ein Land wie dasjenige, aus dem ich komme,
das Saarland, das zwischen den Nationalstaaten Deutsch-
land und Frankreich immer wieder hin- und hergeworfen
wurde, ist der Élysée-Vertrag ein Vertrag von unschätz-
barem historischen Wert. Deshalb ist es richtig, den
40. Jahrestag zu feiern. Deshalb ist es richtig, dass sich die
nationalen Parlamente zu dieser Gelegenheit zu einer ge-
meinsamen Sitzung treffen. Deshalb ist es kleinkariert,
darüber ausschließlich unter Kostengesichtspunkten zu
diskutieren. Das wird der historischen Bedeutung des Ver-
trages nicht gerecht.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich freue mich, hier im Bundestag als Bevollmächtig-

ter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Ange-
legenheiten im Rahmen des Vertrages einige Sätze sagen
zu dürfen. Diese Institution wurde vor dem Hintergrund
der Kulturhoheit der Länder und vor dem Hintergrund der
Erfahrung, dass in diesen Beziehungen gerade die Kultur
eine besondere Rolle spielt, in den Vertrag mit aufgenom-
men. Jean Monnet soll auf die Frage, was er mit Blick auf
den Prozess der europäischen Integration anders machen
würde, wenn er noch einmal von vorne anfangen könnte,
gesagt haben: Wenn ich noch einmal von vorne anfangen
könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen. Das
zeigt die Bedeutung der kulturellen Beziehungen, die Be-
deutung der interkulturellen Kommunikation. Nur wenn
diese funktioniert, kann auch Freundschaft funktionieren.
Deshalb ist dies ein ganz wichtiger und zentraler Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die vermeintliche Erbfeindschaft zwischen Deutsch-
land und Frankreich war nur vor dem Hintergrund der kul-
turellen Selbstüberschätzung der jeweils eigenen Nation
und vor dem Hintergrund der kulturellen Abwertung der
jeweils anderen möglich. Die deutsche Kultur und die
„civilisation française“ galten im Selbstverständnis beider
Nationen lange als unüberbrückbare Gegensätze. Die
Überwindung dieser Gegensätze, die kulturelle Aussöh-
nung und die kulturelle Wertschätzung des jeweils ande-
ren, war die Basis für den Prozess der gesamten Aussöh-
nung. Nur auf der Basis einer Kultur der Toleranz, nur auf
der Basis gemeinsamer Werte und nur auf der Basis des
klaren Bekenntnisses zu Freiheit, Demokratie und univer-
sellen Menschenrechten konnte die deutsch-französische
Aussöhnung gedeihen. Nur auf dieser Basis und auf der
Grundlage des Élysée-Vertrages kann auch in Zukunft
weitergearbeitet werden. Ich glaube, dass gerade in die-
sem Zusammenhang auch in der heutigen Zeit der Élysée-
Vertrag Bedeutung und Aktualität hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Prozess der Aussöhnung ist sicher eine der größten
historischen Leistungen in der zweiten Hälfte des vergan-
genen Jahrhunderts. Für unsere junge Generation, für
meinen 15-jährigen Sohn, ist die Aussöhnung keine große
Errungenschaft mehr. Für ihn ist die deutsch-französische
Freundschaft eine Selbstverständlichkeit geworden. Des-
halb brauchen wir, wenn wir junge Menschen für dieses
Projekt gewinnen wollen, eine weitergehende, eine zu-
sätzliche Begründung. Diese weitergehende Begründung
sollte das klare Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und
Menschenrechten, das Eintreten für Frieden und Toleranz
überall auf der Welt sein. Auf dieser Grundlage können
wir die Rolle eines Motors in Bezug auf die europäische
Integration wahrnehmen. Mit diesem Inhalt können wir
junge Menschen für die Mitarbeit am Projekt der deutsch-
französischen Freundschaft gewinnen. Es gilt, genau an
diesem Punkt anzusetzen.

Die deutsch-französische Freundschaft kann nur ge-
deihen, wenn sie nicht nur in den Institutionen und in den
Köpfen der Politiker vorhanden ist, sondern auch in den
Herzen der Menschen verinnerlicht ist, insbesondere in
den Herzen der jungen Menschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


In der kulturellen Zusammenarbeit sind in den 40 Jah-
ren des Bestehens des Élysée-Vertrages viele Fortschritte
erzielt worden. Wir sollten diese Fortschritte nicht klein-
reden. Das Deutsch-Französische Jugendwerk ist ange-
sprochen worden. Fast 7 Millionen Menschen sind sich in
den zurückliegenden Jahren begegnet. Ich kenne keine
vergleichbare Institution, die so viele junge Menschen zu-
einander bringt, wie das Deutsch-Französische Jugend-
werk es tut.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sich
– ich habe dies selbst erfahren – junge Deutsche und junge


(A)



(B)



(C)



(D)


1442


(A)



(B)



(C)



(D)






Franzosen auch bei Zusammenkünften unter dem Dach
des Deutsch-Französischen Jugendwerkes miteinander
weder deutsch noch französisch unterhalten, sondern in
Englisch.


(Zuruf von der SPD: Na und?)

Dies ist ein Punkt, der uns nachdenklich machen muss. Es
ist bereits angesprochen worden: Die deutschen Sprach-
kenntnisse in Frankreich gehen ebenso wie die französi-
schen Sprachkenntnisse in Deutschland zurück. Ich
glaube, wir dürfen uns damit nicht abfinden. Wir sollten
uns vor falschen Frontstellungen hüten. Es ist klar, dass
Englisch in der heutigen Zeit unverzichtbar geworden ist.
Deshalb heißt die Herausforderung auch nicht Bilingua-
lität, sondern Trilingualität.

Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, ob
nicht zumindest in den grenznahen Regionen die Vermitt-
lung der Sprache des Nachbarn, die Vermittlung der fran-
zösischen Sprache nicht nur eine Aufgabe für unsere
Schulen ist, sondern ob wir nicht verstärkt damit beginnen
müssen, diese Vermittlung bereits in die vorschulischen
Einrichtungen zu tragen. Die Erfahrungen, die wir mit
Kindergärten machen, in denen französische Mutter-
sprachlerinnen und Muttersprachler beschäftigt sind, sind
höchst ermutigend. Das ist vielleicht ein Weg, um das
Zurückgehen der Französischkenntnisse in Deutschland
abzubremsen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt viele andere Bereiche, in denen wir vorange-

kommen sind: mehr als 100 Schulen mit bilingualen Klas-
senzügen, 23 Gymnasien, die das Abi-Bac, also das deut-
sche und das französische Abitur gleichzeitig, anbieten,
das deutsch-französische Sekretariat, das jedes Jahr etwa
4 000 junge Auszubildende zusammenführt, die deutsch-
französische Hochschule mit Sitz in Saarbrücken, ein Er-
folgsmodell mit mittlerweile mehr als 100 angeschlosse-
nen Universitäten und mit inzwischen mehr als 4 000
Studenten.

Wenn aber die Aufgabe Deutschlands und Frankreichs
gerade darin besteht, weiterhin Motor der europäischen
Entwicklung und der Erweiterung der Europäischen
Union zu sein, dann sollten wir darüber nachdenken, diese
Hochschule weiterzuentwickeln, uns zwar nicht nur mit
Blick auf binationale, sondern mit Blick auf trinationale,
auf multinationale Studiengänge, dann sollten wir sie zu
einer europäischen Universität weiterentwickeln, die aus
dem binationalen Erfolgsmodell ein europäisches Er-
folgsmodell macht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Neben allem, was erreicht wurde, gibt es eine Vielzahl
von Dingen, die gerade auch im Bereich des kulturellen
Austauschs noch bewältigt werden müssen: Noch immer
ist es nicht vollständig gelungen, Diplome und Ab-
schlüsse gegenseitig anzuerkennen. Die Zusammenarbeit
der Museen und der Rundfunkanstalten kann ausgebaut
werden. Über die Reichweite eines Senders wie Arte
sollte man noch einmal nachdenken. Grenzüberschrei-
tende Kulturereignisse finden immer noch in relativ be-

grenztem Umfang statt. Die Problematik der Sprach-
kenntnisse habe ich bereits angesprochen.

Ich glaube deshalb, dass der Élysée-Vertrag ein Vertrag
ist, der vieles bewirkt hat, auf den wir mit Freude blicken
können, der uns aber unverändert auch nach 40 Jahren
noch viele Aufgaben für die Zukunft stellt. Auf der Grund-
lage des Élysée-Vertrages haben Deutsche und Franzosen
zur Versöhnung gefunden und sind zum Motor der euro-
päischen Einigung geworden. Der Élysée-Vertrag ist
eine Erfolgsgeschichte, aber die letzten Kapitel sind noch
lange nicht geschrieben. Lassen Sie uns gemeinsam dafür
sorgen, dass auch die noch folgenden Kapitel zu erfolg-
reichen Kapiteln werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501902200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Griefahn,

SPD-Fraktion.


Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1501902300

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Freundschaft – das kennen Sie aus Ihren eigenen
Beziehungen – ist eben keine Selbstverständlichkeit, son-
dern muss immer wieder erarbeitet werden. Anderenfalls
hätten wir auch innerdeutsch nicht so viele Trennungen.
Das gilt auch dann, wenn der Titel einer jüngst erschiene-
nen Studie unsere Länder als „Ganz normale Freunde“ be-
schreibt, und das nach Jahrhunderten von Krieg und
Feindschaft.

Mich berührt immer noch, wenn der Konzertchor von
Canteleu – das ist eine kleine Stadt in der Normandie – mit
seinem Partner aus Buchholz in der Nordheide ein ge-
meinsames Konzertwochenende organisiert, bei dem die
Mitglieder der Chöre in den Familien wohnen, gemein-
same Aufführungen machen und gemeinsam feiern. Das
wäre vor einem halben Jahrhundert so nicht möglich ge-
wesen und zeigt mir, dass der Dialog nach Kriegen und
emotionale Nähe möglich sind. Ich glaube, das ist ein
ganz wichtiges Gut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber auch die normalste Freundschaft braucht hin und
wieder einen Anstoß, um lebendig zu bleiben. Wir hatten
öfter Stillstand zu verzeichnen, das Erstarren in Ritualen
war und ist manchmal eine Gefahr. Auch das haben wir er-
lebt. Vor allen Dingen in den 90er-Jahren schien es, als ob
die Fähigkeiten und der Wille zu gemeinsamen europapo-
litischen Projekten abnähmen.

Das hatte viele Ursachen, eines aber wurde deutlich:
Erst ein Befreiungsschlag wie die Kompromisse von Brüs-
sel Ende Oktober 2002 und – zu meinem Leidwesen als
Sozialdemokratin – das Ende der Kohabitation in Frank-
reich machten es möglich, neue Impulse für unsere Bezie-
hungen zu geben.

Ministerpräsident (Saarland) Peter Müller




Monika Griefahn

Deutlich wird immer wieder: Nur gemeinsam können
wir europäische Integrationspolitik vorantreiben, kei-
ner kommt am anderen vorbei. Das zeigt auch das Ergeb-
nis des jüngsten Gespräches zwischen Kanzler Schröder
und Präsident Chirac.

Allerdings werden in einer erweiterten Union auch zu-
sätzliche Führungsqualitäten gefragt sein. Die Fliehkräfte
in der EU werden größer und das bedeutet, dass wir eine
zusätzliche Verantwortung haben. Die Rolle unserer bei-
den Länder in Europa wird wachsen und wir müssen wie-
der Motor sein, damit Europa durch die zusätzlichen Mit-
glieder stärker und nicht schwächer wird.

Kurzfristig werden alle Blicke auf die Ausgestaltung
und Umsetzung der Arbeit im Verfassungskonvent ge-
richtet sein. Neben den Fragen der Verteidigungs- und Si-
cherheitspolitik sowie der europäischen Innenpolitik ist
ein Thema, das heute bereits mehrfach angesprochen
wurde, zentral: Wir müssen die Besonderheit der kultu-
rellen Vielfalt in Europa erhalten und gleichzeitig die
Stärke der Bürger nutzen.

Jean Monnet hat gesagt – Herr Müller hat es ausge-
führt –, dass er, wenn er das Projekt der europäischen Ei-
nigung noch einmal anfangen müsste, mit der Kultur be-
ginnen würde. In der 1443Tat: Die Kultur schien schwach
beleuchtet zu sein, aber gerade hier liegt das größte und
interessanteste Potenzial der europäischen Einigung, wie
es schon der Kollege Weisskirchen gesagt hat.

Das Potenzial ist groß, weil es so viele unterschiedli-
che Kulturen bereits in einem Land gibt, wodurch schon
sichtbar wird, wie wichtig der Erhalt und die Förderung
der kulturellen Vielfalt in Europa ist. Interessant und
schwierig ist es deshalb, weil Fragen der Sprache, der Mu-
sik, der Literatur, des Films und damit auch des Selbst-
verständnisses herausragende Ansatzpunkte für produk-
tive Auseinandersetzungen und kreative Lösungen bieten,
auf die andere Regionen der Welt schauen, um davon ler-
nen zu können. Das ist gerade für unsere Arbeit in Kri-
senregionen wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Bei der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Län-

dern geht es eben nicht um die Schaffung einer europä-
ischen Kultur, im Gegenteil: Die Beteiligung der Bürger
und besonders der unterschiedlichen Gruppen in Europa
ist ein Schlüssel für die Akzeptanz und damit auch für den
Erfolg von Europa. Solange es heißt, das passiert da hin-
ten in Brüssel, werden wir keinen Erfolg haben. Wir müs-
sen alle beteiligen.

Alle Vorschläge zu vertieften bilateralen Beziehungen
auf parlamentarischer und Regierungsebene, so sehr ich
sie begrüße und fördere – ich glaube, dass wir in der letz-
ten Legislaturperiode viele gemeinsame Schritte, auch
mit der Assemblée Nationale, gemacht haben –, reichen
nicht weit, wenn wir nicht darauf achten, das ungeheure
Interesse, das die Gesellschaften aneinander haben, wirk-
lich zu fördern und weiterzuentwickeln.

Es gibt die Städtepartnerschaften, in deren Rahmen
sich Jugendgruppen, Sportler und Ratsmitglieder treffen
und eine andere Kultur und andere Denkstrukturen direkt
kennen lernen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk

– es wurde schon mehrfach erwähnt – tauscht immer noch
wie im Jahr 1963 200 000 Jugendliche jährlich aus; ihm
stehen aber heute, nach Kaufkraft berechnet, nur noch 34
Prozent der Mittel, die es 1963 hatte, zur Verfügung. Da-
ran müssen wir sicherlich etwas ändern, wenn wir von
dem wegkommen wollen, was eine Studie des Deutsch-
Französischen Jugendwerkes vor zwei Tagen veröffent-
licht hat: Obwohl die Jugendlichen die Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Frankreich für gut halten, besteht
das Wissen übereinander immer noch aus Stereotypen,
wenn sie nicht an einem Austausch teilgenommen haben.
Diese Stereotypen lauten „Baguette“, „Eiffelturm“ und
„Käse“ auf deutscher Seite und „Zweiter Weltkrieg“,
„deutsche Automarken“ und „deutsche Küche“ auf fran-
zösischer Seite. Dies kann eigentlich nicht das Ergebnis
sein, wenn man so eng miteinander arbeitet. Hier müssen
wir nacharbeiten.

Die Sprache ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir brau-
chen die Umsetzung des Vorschlages von Jack Lang, der
gesagt hat: Wir müssen in Europa zu einem System kom-
men, dass das Abitur mit mindestens zwei Sprachen ab-
geschlossen wird, dass wir also dadurch unsere Vielfalt
erhalten, dass jeder neben Englisch noch eine zweite
Sprache lernt. Dies muss vorangebracht werden.


(Beifall bei der SPD)

Ich finde es interessant, dass die Zusammenarbeit der

Deutschen und der Franzosen auch auf dem kulturellen
Gebiet wirklich Früchte zeigt. Vor zwei oder drei Jahren
wurde die Diskussion darüber, ob man zum Beispiel eine
Quote für Film oder Musik einführen sollte, noch als voll-
kommen absurd abgetan. Heute wird dies von Musikpro-
duzenten gefordert, weil sie das französische Modell ge-
sehen haben. Sie haben zum Beispiel auch gesehen, dass
in der WTO und in den GATS-Verhandlungen die kultu-
relle Vielfalt in Europa leidet, wenn wir solche Dinge in
Europa nicht unterstützen. Hier gibt es viele Annäherun-
gen und viel Zusammenarbeit.

Wir haben viel zu tun, wir haben viele gemeinsame
Projekte. Ich werde in diesem Sinne persönlich für die
deutsch-französischen Beziehungen weiterarbeiten und
mich dafür einsetzen, dass die Stärke von Europa, die kul-
turelle Diversität, erhalten bleibt.

Ich freue mich auch auf die Begegnung der Parla-
mente in Versailles. Dies wäre noch vor einem halben
Jahrhundert undenkbar gewesen. Wenn, dann gab es Re-
gierungskontakte, aber keine Parlamentskontakte. Diese
sind etwas wirklich Neues. Das sollten wir auch als posi-
tiv beschreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Unsere Möglichkeiten, neue Kontakte mit Parlamenta-
riern auf der ganzen Welt zu knüpfen, werden gestärkt,
wenn wir sehen, dass die Parlamente auf deutsch-franzö-
sischer Ebene zusammenarbeiten.

Ich denke, es liegen noch große Aufgaben vor uns. Wir
müssen weiter zusammenarbeiten. Dazu sind auch der
persönliche Kontakt und die emotionale Nähe notwendig.
Wir sollten dies auch als solches positiv begreifen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



(A)



(B)



(C)



(D)


1444


(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501902400

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege

Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1501902500

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Wir sind uns in diesem Hause einig: Die Einigung
Europas bleibt auch in Zukunft auf das strategische
Bündnis zwischen Deutschland und Frankreich ange-
wiesen. Seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft,
die Einheitliche Europäische Akte, das Schengen-Ab-
kommen, die Wirtschafts- und Währungsunion gab es
keinen Integrationsfortschritt in der Europäischen Union,
dem nicht eine gemeinsame deutsch-französische Initia-
tive vorausgegangen wäre.

Umgekehrt zeigten die Verhandlungen des Europä-
ischen Rates in Berlin und Nizza, dass Europa nicht vor-
ankommen kann, wenn Spannungen zwischen Frankreich
und Deutschland manifest werden.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass bei den Feier-
lichkeiten am 22. Januar 2003 der Aufbau einer Europä-
ischen Sicherheits- und Verteidigungsunion ange-
stoßen werden soll.

Im „Spiegel“ dieser Woche war zu lesen:
In ihrer „Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag
des Élysée-Vertrags“ kündigen Bundeskanzler
Gerhard Schröder ... und Staatspräsident Jacques
Chirac an, „in internationalen Gremien, einschließlich
des Sicherheitsrats, gemeinsame Standpunkte zu ver-
treten und abgestimmte Strategien gegenüber Dritt-
ländern festzulegen“.

Dies wäre ein echter Fortschritt. Wir unterstützen dies mit
Nachdruck.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Am Dienstag hat nun der Bundeskanzler auf einer
Pressekonferenz betont, der deutsche Vertreter im UN-Si-
cherheitsrat habe gegen ein militärisches Vorgehen ge-
gen den Irak zu stimmen, sollte es dort zu einer Abstim-
mung kommen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, fragen wir
Sie: Haben Sie dies so mit der französischen Seite abge-
stimmt oder nicht? Das müssen Sie spätestens am 22. Ja-
nuar 2003 klipp und klar sagen. Aus Paris hören wir näm-
lich ganz andere Töne. Sie können nicht dort feierliche
Erklärungen abgeben, an die Sie sich zu Hause nicht hal-
ten.

In Fragen der Sicherheitspolitik kann sich keiner auf
unsere französischen Freunde berufen, der einen Sonder-
weg propagiert. Ganz im Gegenteil: Wenn es um den
Schutz der eigenen Bevölkerung geht – um nichts anderes
geht es ganz aktuell in der Irakkrise –, haben alle franzö-
sischen Präsidenten, egal welcher Couleur, den engen
Schulterschluss mit Amerika gesucht. Ich erinnere an die

Rede von Präsident Mitterrand zum 20. Jahrestag des Ély-
sée-Vertrages am 20. Januar 1983. In Deutschland tobte
der Streit um den NATO-Doppelbeschluss, die Linke
warnte vor amerikanischen Abenteuern und forderte einen
deutschen Sonderweg. Wie sich Geschichte doch wieder-
holt!


(Beifall bei der CDU/CSU)

In dieser Situation hat der große französische Sozialist

Mitterrand vor dem Deutschen Bundestag seinen Genos-
sen die Leviten gelesen.


(Zurufe von der CDU/CSU: So ist das! – So war es!)


Er forderte die Stationierung amerikanischer Mittel-
streckenraketen, ohne die wir den Kalten Krieg nicht
überwunden hätten. Er sprach sich vehement gegen die
Abkopplung des europäischen Kontinents von den Verei-
nigten Staaten aus und für eine enge Solidarität unter
den NATO-Staaten.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Gut, dass das einmal gesagt wird!)


Ich will eine Passage aus dieser Rede Mitterrands zitieren:
Es gibt kein vorbestimmtes Schicksal, und unsere
Völker wissen sehr wohl, dass sie heute im Frieden
das Wertvollste aller Güter haben, nachdem ihre El-
tern, ihre Großeltern so häufig an der Front, in den
Schützengräben, im Widerstand, in den Lagern, in
den Befreiungsarmeen davon geträumt haben, dass
Frankreich und Deutschland sich irgendwann einmal
gegenseitig achten und zu einem guten Einverneh-
men finden würden ...
Leider

– Herr Bundesaußenminister, gerade nach Ihren Einlas-
sungen heute möchte ich Ihnen besonders folgenden Satz
Mitterrands in Erinnerung rufen –

hilft es nicht, den Frieden wie eine unsichtbare
Macht anzurufen. Man muss den Frieden aufbauen,
jeden Tag mit eigenen Kräften neu bauen, festigen,
absichern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dazu braucht man einen kühlen Kopf und einen
festen Willen.

Der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Ver-
teidigungsunion ist eine zentrale Aufgabe der deutsch-
französischen Zusammenarbeit. Dazu brauchen wir keine
Stimmungsmache, sondern in der Tat einen kühlen Kopf
und einen festen Willen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unsere engen und freundschaftlichen Beziehungen

sind Aufgabe der Politik. Sie sind aber, so hat es bereits de
Gaulle 1962 bei seinem Deutschlandbesuch formuliert,
insbesondere das Werk der Jugend. Es ist von den Vor-
rednern auf die großartige Erfolgsbilanz des Deutsch-
Französischen Jugendwerkes hingewiesen worden, an
dem bisher knapp 7 Millionen Jugendliche teilgenommen
haben; Herr Müller, Sie haben das gerade erwähnt. Wir




Dr. Andreas Schockenhoff
wünschen uns, dass in Zukunft nicht weniger, sondern
noch mehr junge Menschen Kultur und Sprache des
Partnerlandes kennen lernen. Es ist zu Recht gesagt wor-
den: Während die wirtschaftlichen Verflechtungen immer
enger werden, sinkt die Zahl derer, die jeweils die Spra-
che des Partnerlandes lernen.

Ich will mit Nachdruck unterstreichen, was der Minis-
terpräsident des Saarlandes über die Wichtigkeit des Er-
lernens der Partnersprache als Drittsprache bereits in der
Vorschule, in der Schule, aber auch später in der Hoch-
schule gesagt hat. Herr Müller, lassen Sie mich aber er-
gänzen: Angesichts der engen wirtschaftlichen Verbin-
dungen zwischen unseren Ländern ist es auch für
Auszubildende und deren spätere berufliche Zukunft ent-
scheidend, dass sie einen Teil ihrer dualen Ausbildung im
Partnerland absolvieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Es ist meiner Ansicht nach auch überfällig, bei der Er-
arbeitung von Lehrplänen und Schulbüchern zusammen-
zuarbeiten, ganz besonders bei der Erarbeitung von
Schulbüchern für den Geschichtsunterricht.

Meine Damen und Herren, die Erklärung des
79. deutsch-französischen Gipfels in Schwerin verweist
völlig zu Recht auf die Bedeutung der Medien für die
Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit. Wir haben
seit Jahren den deutsch-französischen Fernsehsender
Arte. Ich habe überhaupt nichts gegen Arte. Allerdings
handelt es sich dabei nur um ein Programm für ein elitä-
res, intellektuelles Publikum. Wir brauchen deutsch-fran-
zösische Medien und wir brauchen ein deutsch-französi-
sches Fernsehprogramm für ein Massenpublikum,


(Beifall bei der CDU/CSU)

in dem Nachrichtensendungen, die Übertragung gesell-
schaftlicher und sportlicher Ereignisse, regionale Schwer-
punktprogramme und vor allem auch Unterhaltungspro-
gramme und Quiz-Shows, in denen die jeweilige
Lebensart und das kollektive gegenseitige Wissen zu ei-
nem Gemeinsamen werden, vorgesehen sind.

Herr Müller, ich freue mich, dass Sie als Vertreter des
Bundesrates heute an dieser Debatte über die deutsch-
französischen Beziehungen teilnehmen. Wir müssen in
den Grenzregionen der betroffenen Bundesländer noch
viel stärker zusammenarbeiten und zu modellhaften, star-
ken binationalen Räumen kommen. Wir müssen gemein-
same Verwaltungseinheiten aufbauen, eine gemeinsame
Raumordnung und Verkehrsinfrastruktur schaffen und so-
ziale Einrichtungen sowie Sportvereine grenzüberschrei-
tend anlegen.

Vor 40 Jahren hat man sich im Élysée-Vertrag damals
kaum für möglich gehaltene ehrgeizige Ziele gesetzt, die
für uns heute selbstverständlich sind. Warum sollten wir
dann nicht auch über grenzüberschreitende politische Ein-
heiten nachdenken und für die Europawahlen zum Bei-
spiel grenzüberschreitende Wahlkreise errichten und bi-
nationale Wahllisten erstellen?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Frankreich bleibt für Deutschland und Deutschland
bleibt für Frankreich der größte Nachbar, der wichtigste
Handelspartner und der wichtigste Partner innerhalb der
Europäischen Union. Die Grenze zwischen Frankreich
und Deutschland ist die längste zwischen zwei Mitglied-
staaten der Europäischen Union. Beide haben keine Al-
ternative zu dieser strategischen Partnerschaft.

Für uns sind die privilegierten Beziehungen zu Frank-
reich durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die
Einigung Europas noch existenzieller geworden. In vielen
bilateralen Fragen haben wir noch große Aufgaben vor
uns. Wir können unser Verhältnis noch viel enger ausge-
stalten. Eine aktive deutsche Außenpolitik ist nur in einer
funktionsfähigen Europäischen Union denkbar. Die inter-
nationale Handlungsfähigkeit Europas ist auf das enge
und gleichberechtigte Zusammenwirken Deutschlands
mit Frankreich angewiesen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501902600

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDPauf Drucksache 15/295 zum Ent-
wurf einer gemeinsamen Erklärung der Französischen
Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages
zur interparlamentarischen Zusammenarbeit. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Tagesordnungspunkte 3 c und 3 d: Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/200
und 15/296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Allerdings sollen diese Vorlagen
– abweichend von den in der Tagesordnung gemachten
Angaben – federführend vom Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union beraten werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
– Drucksache 14/9950 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien


(A)



(B)



(C)



(D)


1446


(A)



(B)



(C)



(D)






Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-
minister Manfred Stolpe.

Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit ist
noch kein Thema, das Begeisterungsstürme auslösen kann;
denn harte Fakten fallen zuerst ins Auge: Die jüngsten Ar-
beitsmarktzahlen weisen im Osten eine Durchschnittsar-
beitslosigkeit von 18,4 Prozent gegenüber 8,2 Prozent im
Westen aus. Die Abwanderung vor allem junger Leute dau-
ert unvermindert an. Der Wohnungsleerstand beträgt an ei-
nigen Standorten mehr als 20 Prozent und er wächst weiter.
Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Doch ist auch wahr: Die Wertschöpfung von Unter-
nehmen, speziell im verarbeitenden Gewerbe, ist seit
1996 um 30 Prozent gestiegen. Die Zuwachsraten liegen
über denen Westdeutschlands. Große Unternehmen, zum
Beispiel der Autoindustrie und der chemischen Industrie,
haben mit strategischem Blick in Ostdeutschland erheb-
lich investiert. Im Wissenschafts- und Forschungsbereich
sind neue und zukunftssichere Arbeitsplätze entstanden.
Die ostdeutschen Hochschulen und Institute haben welt-
weit einen guten Ruf. Wirtschaftliche Zentren entwickeln
sich in erfreulicher Weise. Alle Länder weisen mittler-
weile starke industrielle Kerne auf.

Die Zahl der Existenzgründungen, zum Beispiel in
Sachsen und Brandenburg, liegt, auf die Bevölkerung be-
zogen, über der in Baden-Württemberg und Nordrhein-
Westfalen. Die Angebote der Kinderbetreuung sind im
Osten des Landes hervorragend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Kampf gegen die Flut und ihre Folgen hat einmal
mehr die Tatkraft, die Belastbarkeit und die Leistungsfä-
higkeit der Menschen in Ostdeutschland gezeigt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist eindeutig: Zwölf Jahre deutsch-deutscher Soli-
darität und tatkräftiger Aufbauarbeit in den neuen Bun-
desländern haben einen gewaltigen Fortschritt gebracht.
Weitaus mehr als die Hälfte des Rückstandes ist über-
wunden. Die Menschen wollen die Angleichung der Le-
bensverhältnisse durch eigene Leistung mitgestalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir im Osten Deutschlands wollen nicht mehr länger
Bremsklotz der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern
aktive Mitgestalter eines starken und zukunftssicheren
Deutschlands sein. Das muss unser gemeinsames Inte-
resse sein.

Noch müssen wir Überbrückungs- und Stützungsmaß-
nahmen insbesondere für den Arbeitsmarkt leisten.

So werden wir bis auf weiteres Arbeitsförderungsmaß-
nahmen, Strukturanpassungsmaßnahmen und Arbeitsbe-
schaffungsmaßnahmen finanzieren müssen; denn vorerst
ist die Zahl der Arbeitswilligen weitaus größer als die
Zahl der Arbeitsplätze.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das gilt auch für Maßnahmen, die die Bundesregie-

rung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ergrif-
fen hat. In den neuen Ländern sind im Jahr 2001 rund
165 000 junge Menschen unter 25 Jahren durch gesetzli-
che Maßnahmen gefördert worden. Entsprechend groß
muss unser Engagement auch sein, wenn es um die Schaf-
fung von Ausbildungsplätzen geht. Trotz aller Anstren-
gungen sind wir weiterhin auf öffentlich finanzierte Aus-
bildungsplätze angewiesen. Im Jahr 2002 waren es fast
37 000. Auch das JUMP-Plus-Programm ist gegenwärtig
unverzichtbar.

All das reicht jedoch nicht. Zusätzlich werden wir uns
auch alle schon beschlossenen Maßnahmen vornehmen
müssen, die uns gerade in der Wirtschafts- und Arbeits-
marktpolitik helfen können. Unsere Konzeption heißt, die
wichtigsten Hebel entschlossen und beharrlich ansetzen.
Diese Hebel kennen wir. Wir müssen sie nicht erst ratlos
suchen. Mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes und der
Neuordnung des Arbeitsmarktes haben wir einen wichti-
gen Schritt getan,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das bringt für den Osten gar nichts!)


zum Beispiel werden „Kapital für Arbeit“ sowie steuerli-
che Erleichterungen für Existenzgründungen und Kleinst-
unternehmen auch im Osten Arbeitsplätze schaffen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Nicht einen einzigen!)


Ein wichtiger Hebel wird die Mittelstandsoffensive
sein; denn der Mittelstand ist das Herz der ostdeutschen
Wirtschaft. Die Mittelstandsoffensive schreibt die bishe-
rigen Hilfen fest. Neue Fördermaßnahmen kommen
hinzu. Wir wollen, dass sich der Mittelstand im industri-
ellen Dienstleistungsbereich noch besser entwickelt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Gründung einer Mittelstandsbank wird für ganz neue
Impulse bei Existenzgründern und investitionsbereiten mit-
telständischen Unternehmen sorgen. Die Mittelstandsbank
wird Förderwege vereinfachen und beschleunigen. Sie
wird Möglichkeiten für die Stärkung des Eigenkapitals der
Unternehmen schaffen. Sie wird zusätzliche Beratungsak-
tivitäten entwickeln und Unternehmen unterstützen, die
bisher Schwierigkeiten hatten, eine Hausbank zu finden.

Wir wollen, dass sich der Mittelstand in den neuen
Ländern vor Ort entwickelt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber natürlich wollen wir auch Unternehmensansied-

lungen fördern.
Denn Ostdeutschland ist ein guter Investitionsstandort.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner




Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe
Die zentrale europäische Lage, die immer besser wer-
dende Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, in der Re-
gel schnelle Verwaltungsverfahren und nicht zuletzt gute
Investitionsförderung sollten wir weltweit stärker heraus-
stellen. Wie man das macht, zeigt das Industrial Invest-
ment Council, IIC. Dieses Promotionsbüro, dessen Name
im Ausland bekannter ist als hierzulande, wurde von Bund
und Ländern, Wirtschaftsvertretern und der Deutschen
Ausgleichsbank initiiert. Es dient der Investitionswer-
bung.

Seit 1997 hat das IIC 88 Projekte mit einem Investiti-
onsvolumen von 4,1 Milliarden Euro und rund 19 000 Ar-
beitsplätzen angeworben. Es soll zunächst bis Ende 2004
weitergeführt werden. Der Kollege Clement und ich wer-
ben dafür, dass eine Weiterführung auch über diesen Ter-
min hinaus möglich wird. Ich nutze die Gelegenheit, um
auch Sie um Ihre Unterstützung zu bitten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung wird die wirtschaftlichen Rah-
menbedingungen für die neuen Länder durch eine Viel-
zahl von Maßnahmen weiter verbessern. Dazu zählt auch
der Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, eines
wichtigen Hebels der Standortentwicklung. Entsprechend
haben wir die Investitionspolitik in diesem Bereich von
Beginn an gestaltet. In den Jahren 1999 bis 2002 entfielen
mehr als die Hälfte der Mittel des Investitionsprogramms
auf die neuen Länder. So konnten dort 18 Milliarden Euro
in die Verkehrswege investiert werden. Damit haben wir
wichtige Projekte wie den Bau der Ostseeautobahn A 20
vorfristig gesichert. Auch in Zukunft werden die neuen
Länder bei den Verkehrsinvestitionen besondere Berück-
sichtigung finden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollen einen Schwerpunkt im neuen Verkehrswege-
plan bilden. Dabei wird es auch um den Neubau wichtiger
Verkehrsachsen gehen. Ich nenne in diesem Zusammen-
hang die A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin, die
A 72 zwischen Leipzig und Chemnitz und die Hochge-
schwindigkeitsstrecke der Bahn von Nürnberg über Erfurt
nach Berlin.


(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: So, wie der

Aufbau Ost eine Aufgabe im Interesse von ganz Deutsch-
land ist, werde ich mich auch für den Ausbau West ein-
setzen. Denn zum Beispiel sind überlastete und verstopfte
Verkehrswege in westlichen Entwicklungszentren auch
eine Behinderung wirtschaftlicher Entwicklung für das
gesamte Land.

In den neuen Bundesländern gibt es noch erhebliche
Rückstände in der kommunalen Infrastruktur. Straßen
und öffentliche Gebäude bedürfen dringend der Instand-
setzung. Da gibt es noch viel Arbeit und die Attraktivität
der Städte könnte erheblich verbessert werden. Doch die
Finanzkraft der Kommunen ist gering. Oft sind sie nicht
in der Lage, die Kofinanzierung für Bundes- oder Lan-
desprogramme aufzubringen. Ich setze hierbei dringend
auf die Kommission Kommunalfinanzen, damit hier Aus-

wege aufgezeigt werden können. Wenn es aber keine
schnellen Möglichkeiten zur Verbesserung der Finanzlage
gibt, sollten Krediterleichterungen ernsthaft geprüft wer-
den. Das ist jedoch bekanntlich nicht nur Aufgabe des
Bundes. Lassen Sie es mich noch einmal betonen: In der
Verbesserung der kommunalen Infrastruktur liegt ein sehr
wichtiger Hebel für den Aufbau Ost.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben uns vorgenommen, noch in diesem Jahr
Bauen in Deutschland schneller und einfacher zu machen.
Auch der Vorschlag, für ostdeutsche Länder entwick-
lungshemmende Regelungen auszusetzen, sollte ernsthaft
geprüft werden. Ich jedenfalls meine nicht, dass dieser
Weg verfassungsrechtlich unmöglich ist.

Meine Damen und Herren, Sie kennen das Programm
„Stadtumbau Ost“. Dabei geht es um die Schaffung at-
traktiver Wohn- und Lebensräume, die von Bürgern und
potenziellen Investoren gerne angenommen werden. Das
ist eine direkte Standortpolitik für die neuen Länder, die
wir massiv weiterführen werden. Die dabei gewonnen Er-
fahrungen fließen jetzt auch in das Pilotprogramm „West“
ein.

Meine Damen und Herren, wir wissen uns in der
Pflicht, gleichwertige Lebensbedingungen in Ost und
West zu schaffen. Das ist in vielen Bereichen gelungen.
Auch die schrittweise Tarifangleichung hat in diesem Zu-
sammenhang große Bedeutung. Es muss Schluss sein mit
teilungsbedingten Benachteiligungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Heute wissen wir, dass die innere Einheit bedeutet,
nicht Ost und West gleichzumachen, sondern gemein-
sam nach Perspektiven für unser Land zu suchen. In den
90er-Jahren überließen Ostdeutsche die großen gesell-
schaftlichen Diskussionen über die Rolle Deutschlands in
Europa und der Welt oft dem Westen. In Ostdeutschland
kümmerte man sich „um die wirklichen Probleme des Le-
bens“, wie es genannt wurde, nämlich Arbeitslosigkeit
und Wirtschaft.

Diese Sicht hat sich geändert; denn die Menschen in
den neuen Ländern haben sich verändert. Die Ostdeut-
schen haben begriffen, dass sie ein Teil dieses Landes sind
und Mitverantwortung tragen: ob es um das gesellschaft-
liche Zusammenleben in unserem Land geht – ich denke
dabei zum Beispiel an das Selbstbewusstsein unserer be-
rufstätigen Frauen – oder ob es um die großen Fragen von
Globalisierung, Terrorismusbekämpfung oder Erhaltung
des Friedens geht. Die Menschen in Ostdeutschland mi-
schen sich ein und werden gehört. Dabei ist es selbstver-
ständlich, dass auch dort die Meinungen auseinander ge-
hen und sich mitunter überraschende Allianzen quer
durch Deutschland bilden.

Bei anderen Fragen verläuft es entgegengesetzt. Haben
wir im Osten vor zehn Jahren zum Beispiel in der Bil-
dungspolitik noch darüber gestritten, welche Westmo-
delle am besten zu übernehmen seien, gibt es heute ein
neues Selbstbewusstsein, das durch die Suche nach ge-
meinsamen Perspektiven gekennzeichnet ist.


(A)



(B)



(C)



(D)


1448


(A)



(B)



(C)



(D)







(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [FDP]: An uns hat es nicht gelegen!)


Ostdeutschland ist auf einem guten Wege. Ich hoffe,
dass die große Herausforderung, aber auch die Chance der
Osterweiterung der Europäischen Union diesen Weg
verstärken und nicht gefährden wird. Große Wettbewer-
ber wachsen heran. Georg Milbradt sprach unlängst von
einer möglichen Sandwichsituation des Ostens zwischen
den alten Ländern und den künftigen EU-Mitgliedern. Es
wird in der Tat darauf ankommen, dass wir im Osten bes-
ser, effektiver und schneller sind. Innovation, Flexibilität
und Qualität müssen Merkmale ostdeutscher Wirtschaft
und Gesellschaft sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich wünsche mir, dass wir im Osten viele gute Beispiele
für das ganze Deutschland hervorbringen können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich nutze die
Gelegenheit, Ihnen allen für Ihre Unterstützung auf unse-
rem schwierigen, aber hoffnungsvollen Weg zu danken,
und bitte um Ihre weitere konstruktive und kritische Mit-
arbeit an dem großen Projekt deutsche Einheit.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501902700

Der nächste Redner ist der Kollege Arnold Vaatz,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Keine Vorschusslorbeeren!)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1501902800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Das letzte Jahr war ein besonderes Jahr. Es ist si-
cherlich gerechtfertigt, von diesem Pult aus darauf einzu-
gehen, wie es im Übrigen auch der Bericht tut. Es gab eine
Naturkatastrophe, wie wir sie zuvor noch nicht erlebt
hatten. Dabei haben wir nicht nur festgestellt, dass die
Flüsse Unmengen von Wasser und Schutt gebracht haben,
sondern auch eine Botschaft vernommen: Das vereinigte
Deutschland hat eine neue Belastungsprobe erfolgreich
überstanden; im Gegensatz zu dem, was diejenigen mei-
nen, die immer von der Mauer in den Köpfen reden, ist
Deutschland zusammengewachsen.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist ein Grund zur Freude. Es ist mir als sächsi-
schem Abgeordneten ein Bedürfnis, mich von diesem Pult
aus für das Ausmaß der Hilfe zu bedanken, das uns zu-
teil geworden ist: 73 000 Einsatzkräfte von Bundeswehr,
Technischem Hilfswerk, Bundesgrenzschutz, freiwilligen
Feuerwehren usw. sowie unzählige freiwillige Helfer
standen uns zur Seite. Ferner gab es eine Lawine der

Hilfsbereitschaft der deutschen Öffentlichkeit. Auch viele
Abgeordnete aus diesem Hause haben sich um die Orga-
nisation von Hilfsgütern verdient gemacht. Auch die Me-
dien haben dazu beigetragen. Ich möchte mich an dieser
Stelle ganz besonders herzlich dafür bedanken.


(Beifall im ganzen Hause – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Bei der Bundesregierung können Sie sich auch mal bedanken!)


– Des Weiteren hat die Bundesregierung – das ist richtig –
an dieser Stelle mit den betroffenen Landesregierungen
erfolgreich zusammengearbeitet und im Wesentlichen,
wie ich meine, richtig gehandelt. Auch dafür kann man
Dank sagen.

Herr Bundeskanzler, Sie haben uns sogar mit den Wor-
ten Mut gemacht, es werde niemandem nach der Flut
schlechter gehen. Ich weiß nicht genau, ob Sie das in
Kenntnis der wirklichen Sachlage gesagt haben; denn mit
der Flut ist für viele Menschen weit mehr verschwunden
als nur Hab und Gut. Aber wahlkampfwirksam war diese
Aussage. Das muss man Ihnen sicherlich zugestehen. Et-
liche Zeitungen haben damals insinuiert, dass es die Flut
gewesen sei, die diese Regierung gerettet habe.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn!)


Das ist ein Stück weit auch mein Eindruck. Es war in die-
sen Tagen leider so, dass die Frage nach der wirtschaft-
lichen und sozialen Zukunft Ostdeutschlands hinter den
schrecklichen Flutbildern für kurze Zeit zurückgetreten
ist. Wenn dies nicht geschehen wäre, dann wäre deutlich
geworden, dass Sie auf diese Frage damals – das gilt auch
heute – keine vernünftige und akzeptable Antwort gehabt
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das zeigt auch Ihr neuerlicher Bericht zum Stand der
deutschen Einheit. Wir warten eigentlich seit 1998, also
seitdem Sie regieren, auf eine in sich geschlossene Ge-
samtstrategie, die eine Perspektive eröffnet, wie und in wel-
cher Zeit der Aufholprozess in Ostdeutschland vorangehen
kann. Dieser Aufholprozess könnte ein Argument dafür lie-
fern, dass sich Firmen wieder in Ostdeutschland ansiedeln
und dass junge Menschen in Ostdeutschland bleiben. Aber
auf eine solche Gesamtstrategie warten wir bis heute ver-
geblich. Das zeigt auch wieder der neue Bericht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das liegt nicht an uns, sondern an Ihnen! – Ludwig Stiegler [SPD]: Wenn Sie so schlau sind, dann sagen Sie es doch!)


– Herr Stiegler, lassen Sie Ihre Kommentare. Hören Sie
erst einmal zu! Bei Ihnen in Bayern stehen die Dinge
glücklicherweise noch etwas besser.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ja, freilich!)

Wenn Sie aber so weitermachen, dann sieht es bei Ihnen
in Bayern bald genauso aus wie bei uns.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie uns doch Ihre Weisheit!)


Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe




Arnold Vaatz
Das versichere ich Ihnen. Herr Stiegler, alles, was in
Berlin vergeigt wird, können die Bundesländer nicht he-
rausreißen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie das doch dem Edmund!)


Diesmal liegen uns zum Glück zwei Schriftstücke vor,
über die wir diskutieren können. Das eine ist der Bericht
zum Stand der deutschen Einheit und das andere ist das
Sachverständigengutachten, das ungefähr zur selben Zeit
erschienen ist. Ein Unterschied ist festzustellen: Der
Bericht der Bundesregierung erschien am 9. September
2002, also vor den Bundestagswahlen, und das Sachver-
ständigengutachten erschien am 13. Dezember 2002, also
nach den Wahlen. Wenn man den Bericht und das Gut-
achten vergleicht, dann fühlt man sich sehr stark an Herrn
Gabriel erinnert, der gesagt hat: Die Wahrheit vor der
Wahl – das hätten Sie wohl gern.

Das Sachverständigengutachten, das sich sehr einge-
hend mit Ostdeutschland beschäftigt und das in der nüch-
ternen Sprache der Wissenschaftler geschrieben ist, ist
eigentlich – das stellt man nur fest, wenn man es genau
liest – eine vernichtende Kritik erstens an der Diagnose-
fähigkeit der Bundesregierung, zweitens an der Fähigkeit,
Bilanz zu ziehen, und drittens an der Fähigkeit, Rezepte
zu entwerfen. Der Kernsatz des Sachverständigengutach-
tens lautet: Der Konvergenzprozess der neuen Bundes-
länder ist nach einem schnellen Fortschreiten in den ers-
ten Jahren der Wiedervereinigung deutlich ins Stocken
geraten. Deutlicher kann man Ihnen nicht sagen, was
Chefsache Aufbau Ost für Ostdeutschland wirklich be-
deutet hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Die längere Zeit von den ersten Jahren haben Sie regiert, Sir!)


Die Sachverständigen fordern als Therapie ein speziel-
les Wachstumsprogramm für Ostdeutschland mit teil-
weise einschneidenden Konsequenzen. Im Übrigen ist das
derselbe Tenor, der zwar schon seit vielen Jahren von un-
serer Seite dieses Hauses vorgetragen wird, den Sie aber
Jahr für Jahr nicht befolgen.

Entsprechend nimmt das auch schon die Presse auf.
Vor kurzer Zeit war in einer deutschen Illustrierten vorn
eine Bildgeschichte abgedruckt – ich weiß nicht, ob Sie es
gesehen haben –, bei der Herr Minister Stolpe Herrn Mi-
nisterpräsidenten Steinbrück offenbar etwas Lustiges er-
zählt. Unter der Rubrik „Prominenten in den Mund ge-
schoben“ schrieb der „Stern“ dazu wie folgt: Herr Stolpe
sagt Herrn Steinbrück, er habe dem Bundeskanzler er-
zählt, der Aufbau Ost komme in diesem Jahr zum Laufen.
Daraufhin lacht Herr Steinbrück schallend. – Wenn diese
Worte es wert sind, Prominenten in den Mund geschoben
zu werden, wenn sie ein Witz sind, wenn die Leute in der
Tat darüber lachen müssen, dann bedeutet das: Die Öf-
fentlichkeit weiß schon sehr genau, was wirklich hinter
den schönfärberischen Berichten steht, die, seit Sie an der
Regierung sind, regelmäßig zum Stand der deutschen
Einheit erstattet werden.

Diese Berichte beinhalten seit 1999 etwa dasselbe, nur
mit einem Unterschied: Sie sind etwas unehrlicher ge-

worden. 1999 hieß es im Bericht zum Stand der deutschen
Einheit noch, dass sich der gesamtwirtschaftliche Auf-
holprozess der neuen Länder vorerst nicht mehr fortge-
setzt habe. Weiter haben Sie damals geschrieben: In den
letzten beiden Jahren hat sich die Schere in der wirt-
schaftlichen Leistung zwischen neuen und alten Ländern
sogar wieder leicht geöffnet.

Im Bericht 2000 hatte die Bundesregierung festgestellt
– ich muss auch das wieder zitieren, obwohl es eigentlich
bekannt ist, weil es mir darauf ankommt, diesen beschö-
nigenden Sprachgebrauch aufzuzeigen –:

1998 erreichte das gesamtwirtschaftliche Wachstum
in den neuen Ländern 2,0 Prozent und lag damit er-
neut leicht unter der westdeutschen Wachstumsrate
von 2,8 Prozent.

Damit ist das Wachstum im Osten um fast 30 Prozent
niedriger gewesen als das im Westen. So weit hatte sich
die Schere mittlerweile geöffnet. Es spricht Bände, dass
das für diese Regierung kein Alarmsignal war.

Im Jahr 2000 betrug das ostdeutsche Wirtschafts-
wachstum nur noch 1,1 Prozent gegenüber 3,3 Prozent im
Westen. Im Jahr 2001 sind wir schließlich dahin gekom-
men, dass die ostdeutsche Wirtschaft geschrumpft ist: ein
Wachstum von minus 0,1 Prozent.

Herr Stolpe, Sie haben vorhin davon gesprochen, die
Menschen in Ostdeutschland wollten nicht mehr länger
Bremsklotz der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in
Deutschland sein. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Die
Menschen in Ostdeutschland waren niemals der Brems-
klotz der Entwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es einen Bremsklotz der Entwicklung gab, dann
war er in Berlin, im Bundeskanzleramt und in den Minis-
terien.

Das zu der Bilanz der letzten vier Jahre Ihrer Regie-
rung.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Nun warten wir aber mal auf die Konzepte, die Sie vorstellen! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der einzige Bremsklotz heißt Vaatz!)


Während der ersten acht Jahre der deutschen Wieder-
vereinigung war dieser Prozess einmal anders. Da wies
die Tendenz in die andere Richtung. Es ist klar, dass es nur
ziemlich quälend und ziemlich langsam ging, aber es war
zumindest mit einer Perspektive versehen. Nicht hinzu-
nehmen ist, wenn sich diese Tendenz jetzt umkehrt, wenn
alles darauf hinweist, dass wir es in Zukunft mit einer
größeren Lücke zwischen Ost und West zu tun haben wer-
den als heute. Das werden die Menschen mit gutem Grund
nicht hinnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Kommen wir nun zu einigen Detailproblemen. Die
Sachverständigen erklären richtigerweise, das Hauptpro-
blem in Ostdeutschland sei die unbefriedigende Entwick-
lung auf dem Arbeitsmarkt. Genauso empfindet es auch
die absolute Mehrzahl der Ostdeutschen. In Ihrem Bericht


(A)



(B)



(C)



(D)


1450


(A)



(B)



(C)



(D)






müssen Sie offenbaren, dass sich die Anzahl der Arbeits-
plätze in Ostdeutschland durch Ihre Politik in den vergan-
genen vier Jahren nicht erhöht, sondern reduziert hat. Das
können Sie auf der Seite 64 Ihres Berichts nachlesen. Die
Beschäftigung in Ostdeutschland ist während Ihrer ge-
samten Regierungszeit zurückgegangen – im ersten Jahr
ungefähr um 40000, im zweiten Jahr um 110000 und im
dritten Jahr um 180000. Das ist kein kontinuierlicher, son-
dern ein progressiver Rückgang. Pro Jahr ist der Rückgang
der Arbeitsplätze gegenüber dem Vorjahr um 70000 ge-
stiegen. Stellen Sie sich diese Kurve bitte einmal weiter
für die nächsten zehn Jahre vor! Dann werden wir den
Punkt erreichen, dass es in Ostdeutschland überhaupt keine
Arbeitsplätze mehr gibt. Das ist die Situation; sie lässt
sich mit diesem Rückgang beschreiben.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Dann gibt es nur noch Sie!)


– Das ist kein Grund, Witze zu reißen. Herr Stiegler, Sie
können zwar Witze reißen; aber an dieser Stelle sind sie
ausnahmsweise einmal am falschen Platz.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Sie sind ein Zweckpessimist, der nichts getan hat! Ein Jammerlappen!)


Dennoch schreiben Sie in diesem Bericht, dass sich die
Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern seit 1998 kaum
geändert hat. Das ist, wie man diesem Bericht entnehmen
kann, wieder nur die halbe Wahrheit und demzufolge eine
halbe Lüge. Die Arbeitslosenquote spiegelt das Dilemma
der Erwerbslosigkeit in Ostdeutschland schon längst nicht
mehr adäquat wider. Das ist das Problem.

Die Arbeitslosenquote schnellt nur deshalb nicht in die
Höhe, weil altersbedingt inzwischen mehr Personen den
Arbeitsmarkt verlassen als in ihn eintreten, weil die Re-
gierung die Abwanderung gerade von jungen Leuten aus
Ostdeutschland fördert – wir haben vorhin vom JUMP-Pro-
gramm gehört; die Abwanderung der jungen Leute ist
nämlich auch eine Folge dieses Programms –


(Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!)

und weil Langzeitarbeitslose dann aus der Statistik fallen
– das ist besonders zynisch –, wenn sie nach der Teil-
nahme an einem Programm der aktiven Arbeitsmarkt-
politik erneut arbeitslos werden. Das ist die Realität.

Sie müssen berücksichtigen, was gerade der letzte Fakt
bedeutet. Er ist deshalb so schwerwiegend, weil unter den
Arbeitslosen in Ostdeutschland die Anzahl der Langzeit-
arbeitslosen – Personen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit
waren – gegenüber 1996 um fast ein Viertel gestiegen ist.

Was haben Sie denn eigentlich getan – wir haben das
lange Zeit beobachten können –, um diesen Zustand zu
verbessern? Ich muss Ihnen sagen: leider nahezu gar
nichts. Eine Reihe von Gesetzen, die Sie in diesem Hause
mit Ihrer Mehrheit gegen uns verabschiedet haben, wir-
ken bis heute asymmetrisch zulasten Ostdeutschlands.

Im Sachverständigengutachten liest man, dass die Ar-
beitslosigkeit unter den Geringqualifizierten in Ost-
deutschland von 31 Prozent in 1991 auf 50 Prozent in
2001 hochgeschnellt ist. In Ihrem Bericht halten Sie es
nicht einmal für nötig, wenigstens die Frage zu untersu-

chen, was Ihr 630-Mark-Gesetz in Bezug auf die Arbeits-
plätze für Geringqualifizierte in Ostdeutschland bewirkt
hat. Eine solche Untersuchung kann man doch einmal in
Auftrag geben! Sie haben es nicht gemacht, weil Sie ganz
genau wissen, dass dieses Gesetz besonders den Arbeits-
markt in Ostdeutschland erheblich beschädigt hat.

Auch auf die Frage, wie sich Ihr Scheinselbstständi-
gengesetz und Ihr Betriebsverfassungsgesetz auf den Ar-
beitsmarkt in Ostdeutschland ausgewirkt haben, findet
man in Ihrem Bericht keinerlei Antwort. Wo, wenn nicht
in einem solchen Bericht, wollen Sie denn darauf über-
haupt einmal eingehen? Ich kann daraus nur schlussfol-
gern, dass Sie darauf deshalb nicht eingehen, weil Sie et-
was zu verbergen haben und weil Sie nicht zugeben
wollen, dass diese Gesetzesinitiativen kontraproduktiv
waren, dass sie die Perspektiven in Ostdeutschland weiter
beschädigt und den Menschen nicht geholfen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Disproportionen zwischen Ost und West haben

sich in den letzten Jahren verschärft. Die Anzahl der Exis-
tenzgründungen in Ostdeutschland ist schon seit 1999
rückläufig. Im Jahr 2001 nahm die Anzahl der Neugrün-
dungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 9 Prozent
ab, während der Rückgang im Westen nur bei 5 Prozent
lag. Die Anzahl der Unternehmensneugründungen im
Handel ging im gleichen Zeitraum um 12 Prozent zurück,
während der Rückgang im Westen bei 5 Prozent lag. Ganz
besonders schlimm ist die Entwicklung bei den EDV-
Dienstleistungen in Ostdeutschland. Dort ist die Quote
von 2000 zu 2001 um 18 Prozent gefallen. Das sind die
traurigen Realitäten der Wirtschaft in Ostdeutschland.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Dass es aber weltweit eine Krise in dieser Branche gibt, das haben Sie zur Kenntnis genommen, ja?)


Gerade was die Wachstumsbranchen angeht, auf die wir
gesetzt haben – sie sind die einzige Hoffnung dafür, dass
es tatsächlich zu einer Annäherung kommen kann –, ist
das besonders traurig.

Die Sachverständigen weisen der Infrastruktur nach
wie vor eine Schlüsselstellung im Hinblick auf die Wachs-
tumserwartung in Ostdeutschland zu. In der Tat ist es Ih-
nen im Infrastrukturbereich an vielen Stellen gelungen,
wenigstens die langfristigen Ansätze beizubehalten, die
bereits die Vorgängerregierung geschaffen hatte. Das ver-
dient Respekt. Nur: Eine wirkliche Weiterentwicklung
des Infrastrukturprogrammes für Ostdeutschland ist leider
nicht zu sehen. Im Osten werden zwar technologische
Neuerungen eingeführt, aber eben in Schanghai und nicht
in Halle oder Leipzig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war sehr witzig, Herr Vaatz! Der Einzige, der darüber lacht, sind Sie! – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das war ein schlechter Gag! – Siegfried Scheffler [SPD]: Quatsch! Blödsinn!)


– Das ist doch so.
Während noch an den überregionalen Netzen gearbei-

tet wird, kristallisieren sich inzwischen ganz andere

Arnold Vaatz




Arnold Vaatz
Knackpunkte bei der Infrastrukturentwicklung heraus, die
Sie in Ihrem Bericht nicht genügend zur Kenntnis neh-
men. Das betrifft, wie es die Sachverständigen Ihnen in
ihrem Gutachten sehr deutlich sagen, das gesamte Thema
der öffentlichen Infrastruktur der Kommunen. Das sieht
folgendermaßen aus: Die Kommunen sind mittlerweile
durch Zahlungsverpflichtungen, die sie eigentlich nicht
mehr bewältigen können, durch Kosten, die auf sie zu-
kommen, und jetzt mittlerweile auch noch durch Tarifab-
schlüsse, die sie nicht tragen können, an einem Punkt an-
gelangt, wo sie ihre investiven Haushaltsanteile immer
weiter zurückfahren müssen; dabei ist absehbar, dass sie
nicht einmal mehr mit den Reparaturen der bestehenden
Straßennetze nachkommen werden. Das ist die Realität.
Sie sind in Ihrem Bericht gegenüber diesem Umstand lei-
der völlig blind.

Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel zu
etlichen Einzelthemen sagen,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lieber nicht! – Ludwig Stiegler [SPD]: Gehen Sie in den Keller und klagen Sie die Wand an!)


zum Beispiel auch dazu, dass Ihnen überhaupt nicht auf-
gefallen ist, dass die Themenbereiche Ärztemangel und
Wegbrechen der hausärztlichen Versorgung in Ihrem Be-
richt überhaupt nicht erwähnt werden. Die Ärzte schlagen
Alarm und beklagen, dass Sie dafür überhaupt keine Kon-
zepte haben.

Ich möchte mit einer kurzen Bemerkung schließen.
Hier geht es nicht allein um das Thema Ostdeutschland.
Vielmehr müssen wir im Kopf haben, dass wir keine für
Ostdeutschland günstige Entwicklung erwarten können,
solange in der gesamtdeutschen Wirtschaftspolitik grund-
sätzlich falsche Weichen gestellt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Hier bitte ich Sie, sich anzuschauen, was Ihnen die
Sachverständigen ins Stammbuch geschrieben haben,
nämlich dass Sie endlich einmal Nägel mit Köpfen ma-
chen sollten. Wenn Ihre Vorschläge sinnvoll sind, wer-
den Sie die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion be-
kommen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Gehen Sie lieber zur Apotheke! Ein Antidepressivum hilft Ihnen wieder auf die Beine!)


Aber machen Sie sich eines klar: Unser Land Deutschland
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – ist nicht
mehr so stark, dass es eine beliebige Zeit lang eine völlig
unfähige und neben der Mütze stehende Regierung ver-
tragen könnte. Ostdeutschland ist noch nicht stark genug
und war noch nie stark genug, als dass es ihm, wenn es
dem gesamten Deutschland schlecht geht, nicht noch
schlechter ginge.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Meinen Sie die Regierung Vogel? – Ludwig Stiegler [SPD]: Die sind alle besser als Vaatz-Trauerkloß!)


Bedenken Sie, dass die Dinge, die in Westdeutschland ne-
gativ zu Buche schlagen, in Ostdeutschland eine noch viel

verheerendere und möglicherweise sogar irreparable Wir-
kung hinterlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501902900

Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Jetzt kommt ein bisschen Therapie!)


Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind
in den zwölf Jahren deutsche Einheit, über die wir Bilanz
ziehen, trotz aller Kritik, trotz aller Unkenrufe und trotz
aller Sorgen und noch bestehenden Probleme –


(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Noch nicht untergegangen!)


einen Teil davon hat der Herr Minister Stolpe hier vorge-
stellt – ein gutes Stück vorangekommen.

Mich stört nicht, Arnold Vaatz, die schwierige Pro-
blemlage, in der wir uns befinden, sondern deren schizo-
phrene Darstellung. Es geht nicht, wenn man in Sachsen
ein Loblied auf den Aufbau Ost singt und die Aufbauleis-
tungen des eigenen Landes darstellt, aber die Rede hier in
Berlin damit nicht übereinstimmt. Das müsste sie aber,
denn der Aufbau Ost ist die Summe der Leistungen der
einzelnen Länder.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn man dauernd von einer Erfolgsgeschichte in Sach-
sen hört, die mit Biedenkopf-Milbradt überschrieben
wird, dann muss ein gutes Stück dieses Erfolges auch Ber-
lin gutgeschrieben werden.

Im Übrigen wissen das die Bürger dieses Landes
selbst; die Fortschritte sind zu sehen. Wir haben nicht nur
architektonische Schätze aus dem Grau geborgen, son-
dern man kann von Görlitz bis Usedom sehen, wie die
Leute ihre Regionen aufbauen, den Eigenwert ihrer Re-
gionen wieder entdecken und beim Standortwettbewerb
mithalten. Es hat in Ostdeutschland ein einzigartiger
Strukturwandel stattgefunden. Ökonomen nennen das
Transformationsprozess. Wenn Sie das mit dem Stein-
kohlebergbau in Westdeutschland vergleichen – der ehe-
malige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, unser
Wirtschaftsminister Clement, zitiert dieses Beispiel häu-
fig –: Dort hat vor 30 Jahren der Strukturwandel begon-
nen und er hält noch immer an.


(Cornelia Pieper [FDP]: Eben!)

Darüber kann man kritisch diskutieren. Aber in Ost-
deutschland hat man in den Bereichen Braunkohle, Textil
und Chemie nur ein Zehntel der Zeit gehabt. Dort ist in der
Industriegeschichte Europas ein wirklich einzigartiger
Wandlungsprozess erfolgt. Möglicherweise aber haben
die Lasten und die Probleme die Leistungen so verdeckt,
dass den Ostdeutschen nicht richtig bewusst werden


(A)



(B)



(C)



(D)


1452


(A)



(B)



(C)



(D)






konnte, was sie Großes vollbracht haben. Das muss hier
deutlich gesagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Arnold Vaatz, Rot-Grün ist nicht durch die Flut gerettet
worden. Mir tat es manchmal Leid, wie rettungslos verlo-
ren der Spitzenkandidat der Union im Osten war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dieses Bild haben wir doch gesehen: ein taumelnder
Mann, der nach zwölf Jahren deutscher Einheit den Osten
entdeckt und sich vor Ort ein eigenes Bild macht. Ich habe
immer gescherzt, dass er, wenn er bei Günther Jauch eine
Ostfrage für 4 000 Euro gestellt bekäme, dann schon seine
drei Joker brauchen würde, einschließlich des Telefonjo-
kers Lothar Späth.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das war der Stand der Union zwölf Jahre nach der
deutschen Einheit: Sondergebiet Ost, neue Ostzone, ob-
wohl man acht Jahre Zeit hatte, sich darauf einzustellen.
Viele unserer Probleme hängen doch auch mit einem
falschen Leitbild der Anfangsphase zusammen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Leitbild hieß: blühende Landschaften. Aber eine flo-
rierende Wirtschaft kommt nicht von allein, sondern muss
gezielt angesteuert werden, nicht nach dem Gießkannen-
prinzip, um dieses floristische Bild zu bedienen. Wir ha-
ben die Förderstrategien neu ausgerichtet. Das Konzept,
das hier angemahnt worden ist, gibt es ja. Das Ziel der
Bundesregierung ist, Nachhaltigkeit auch beim Aufbau
Ost zu erreichen. Deswegen steht Solidarität bei uns nicht
nur auf dem Papier. Die Flutkatastrophe mag als ein-
drucksvolles Beispiel dafür dienen, wie aus der Einheit
Deutschlands die Einheit der Deutschen geworden ist, wie
das Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen ist, wie
Menschen in Notsituationen geholfen haben. Aber man
muss dann bitte schön auch erwähnen, dass wir in der letz-
ten Legislaturperiode den Solidarpakt II geschaffen ha-
ben, der den ostdeutschen Ländern und Kommunen Fi-
nanzsicherheit und Planungssicherheit bis 2020 bringt. Es
werden über 150 Milliarden Euro fließen. Das ist kein
Pappenstiel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Manche westdeutsche Kommune würde sich freuen,
wenn sie für zwei Jahrzehnte Planungssicherheit hätte.
Auch das muss erwähnt werden; denn das war ein finan-
zieller Kraftakt.

Wir haben uns im Unterschied zu der Pauschalförde-
rung, die es vorher gab, vor allen Dingen auf die indus-
triellen Wachstumskerne konzentriert. Wir versuchen,
durch Innovation, zum Beispiel durch die erfolgreichen
Inno-Regio-Programme und das Pro-Inno-Programm,
Wachstumsregionen zu fördern. Diese gibt es in Ost-
deutschland mittlerweile, beispielsweise das Biocon Valley

in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich Biotechnikunter-
nehmen mit Medizintechnikunternehmen zusammengetan
haben, oder die Buna- und Leuna-Olefin-Region, wo wir
den Wiederaufbau, die Revitalisierung der Chemieindus-
trie erleben. Ein weiteres Beispiel ist der Solarverbund
Ost mit dem Kompetenzzentrum in Freiberg. Das alles
sind hervorragende Beispiele für die Entwicklung des
Ostens.

Der wirkliche Umbauprozess wird verdeckt, wenn man
sich nur die nackten Wachstumszahlen anschaut. Die
Schrumpfprozesse in der Bauindustrie sind notwendig.
Sie werden jetzt etwas gestreckt, weil die Bauindustrie
durch die nach der Flutkatastrophe nötige Wiederaufbau-
leistung Aufträge bekommen hat. Dennoch haben wir in
der Bauindustrie Überkapazitäten, die schrumpfen müs-
sen. Zweistellige Wachstumsraten zu verzeichnen sind
hingegen in den Zukunftsbranchen, in der Medizintech-
nik, Biotechnik, Elektronik, Elektrotechnik. Wir haben
nach der Deindustrialisierung Ostdeutschlands eine Re-
industrialisierung mit zweistelligen Wachstumsraten. Das
ist der eigentliche Aufholprozess.

Natürlich brauchen wir – das betone ich – eine Offen-
sive gegen die Arbeitslosigkeit. Der Aufbau Ost kommt
voran, aber er kann nicht alle gebrauchen, nicht alle errei-
chen. Es sind nicht alle eingebunden.


(Widerspruch des Abg. Jürgen Türk [FDP])

Wenn man über die Angleichung der Arbeits- und Le-
bensbedingungen spricht, gehört zur Wahrheit aber auch,
dass die Erwerbsquote in Ostdeutschland genauso hoch
ist wie in Westdeutschland und dass die Arbeitslosigkeit
Ostdeutschlands auch etwas mit der Übergangsphase zu
tun hat. Wenn aus einer Arbeitsgesellschaft plötzlich eine
postindustrielle Gesellschaft wird, dann sind solche ho-
hen Arbeitslosenquoten nicht so schnell zu reduzieren.

Dennoch dürfen wir nicht nur an der technischen, son-
dern wir müssen auch an der sozialen Infrastruktur arbei-
ten. Wir müssen bessere Bildungs- und Betreuungsan-
gebote für Kinder und Jugendliche schaffen. Von
wissenschaftlichen Einrichtungen, Kultur- und Freizeit-
angeboten hängt es ab, ob die Regionen so attraktiv sind,
dass die jungen Leute dort bleiben oder hinkommen. Des-
halb haben wir den Wettbewerb „Jugend kommt und
bleibt“ ausgerufen, für den immerhin 2,5 Millionen Euro
im Einzelplan 17 enthalten sind. Damit machen wir be-
stimmte Regionen für Jugendliche attraktiv, steigern ihren
Wert und stärken das Bindungsgefühl.

Wir werden die Chancen der EU-Osterweiterung nut-
zen.


(Jürgen Türk [FDP]: Wann denn?)

– 2004. Sie wissen doch auch, dass die EU-Osterweite-
rung 2004 stattfindet.


(Jürgen Türk [FDP]: Gucken Sie mal in die Grenzregionen! Da passiert nichts!)


– Auch für die Grenzregionen gibt es spezielle Pro-
gramme. Sie wissen, dass es dort eine höhere Investiti-
onszulage gibt.


(Jürgen Türk [FDP]: Warum hauen denn alle ab?)


Werner Schulz (Berlin)





Werner Schulz (Berlin)

– Wahrscheinlich, weil diese Menschen Sie so schreien
hören.


(Jürgen Türk [FDP]: Oh!)

Auch Frau Pieper hat einen großen Anteil daran, dass

die Menschen in Ostdeutschland enttäuscht sind.

(Widerspruch der Abg. Cornelia Pieper [FDP])


– Selbstverständlich. Sie waren doch diejenige, die so
groß aufgetrumpft hat. Wenn man so auf die Pauke haut,
indem man sagt, man sorge in Sachsen-Anhalt demnächst
für den großen Aufschwung, aber im nächsten Moment,
in dem die Verantwortung übernommen werden könnte,
verschwindet, dann löst das Enttäuschung aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ließe sich sicherlich noch vieles auch zu dem, was
Arnold Vaatz ausgeführt hat, sagen. Ich will aber zum
Schluss kommen. Es lohnt sich, dass der Bericht zum
Stand der deutschen Einheit angesichts der Chancen, die
sich aus der Osterweiterung ergeben, in den nächsten Jah-
ren in der vorliegenden Form fortgesetzt wird.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501903000

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-

legin Pieper, FDP-Fraktion.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1501903100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

dieser Argumentation zeigt sich die Schwäche der Regie-
rungskoalition beim Aufbau Ost. Die Argumente, die Herr
Werner Schulz angeführt hat, waren einfach unsachlich
und nicht richtig.

Ich stelle klar, dass das Engagement der FDP für den
Aufbau Ost von Anfang an vorhanden gewesen ist. Wir
haben zu Beginn der 90er-Jahre ein Niedrigsteuergebiet
Ost eingefordert. Sie hätten diese Forderung unterstützen
können. Dann wäre der Osten Deutschlands in einer ganz
anderen Situation.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber was tun Sie? – Sie erhöhen die Steuern und Abgaben
zulasten des Mittelstandes und des Handwerks.

Ich zitiere Ihren Kollegen aus der SPD-Bundestags-
fraktion, Stephan Hilsberg. Er kritisiert Ihre eigene Auf-
bau-Ost-Politik, indem er sagt, Sie hätten kein Konzept
für den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland, es
herrsche tiefe Ratlosigkeit in Ihren Fraktionen und Ihre
Kollegen aus dem Osten seien immer mehr frustriert, weil
ihnen niemand mehr zuhöre, wenn sie die Probleme des
Ostens erwähnen.

Wenn Sie wirklich etwas für den Osten tun wollen,
dann sollten Sie aufhören, beim Aufbau Ost, gerade bei

den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen in den
neuen Ländern – Stichwort: Leibniz-Gemeinschaft –, zu
kürzen. Die Hälfte der Institute liegt in den neuen Län-
dern. Trotz aller Versprechungen vor der Wahl kürzen Sie
hier massiv. Das bringt den Osten nicht voran, sondern be-
lastet ihn. Tun Sie etwas! Sie haben es in der Hand! Sie re-
gieren. Wir leider noch nicht.

Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Das wird so schnell auch nicht eintreten!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501903200

Herr Kollege Schulz, Sie haben die Möglichkeit zu

antworten.

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Pieper, Sie haben sich mit Ihrem Zettel gut für
diese Kurzintervention präpariert. Da Sie von Wahrheit
gesprochen haben, will ich Ihrem Wahrheitsverständnis
etwas nachhelfen.

Wahr ist zum Beispiel, dass Sie 1990 mit Ihrer Forde-
rung nach einem Niedrigsteuergebiet Ost die Unterstüt-
zung von Bündnis 90/Die Grünen gefunden haben. Wahr
ist aber auch, dass Sie damals mit Graf Lambsdorff und
Hans-Dietrich Genscher regiert haben. Sie hatten acht
Jahre Zeit, ein Niedrigsteuergebiet Ostdeutschland einzu-
führen. Das ist die Wahrheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wahr ist, dass Sie in Sachsen-Anhalt angetreten sind,
um ähnliche Versprechungen einzulösen. Wahr ist auch,
dass Sie aus diesem Land geflohen sind,


(Cornelia Pieper [FDP]: Ich bin nicht geflohen!)


weil Sie sich nicht getraut haben, die Verantwortung für
die Bildungspolitik zu übernehmen. Das ist genauso wahr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich finde es haarsträubend, wie Sie auf der einen Seite
diese Show „Wir helfen dem Osten“ abziehen und auf der
anderen Seite die anderen kritisieren. Sie sagen: Wir müs-
sen erst einmal an die Regierung kommen.


(Cornelia Pieper [FDP]: Sie lenken ab!)

Wahr ist aber, dass Sie den Soli, der Ostdeutschland zu-
gute kommt, abschaffen wollten. Das sind die Forderun-
gen der FDP.

Insofern ist es unverständlich, dass Sie ein so gutes Er-
gebnis in Sachsen-Anhalt erzielen konnten. Aber das
wurde zwischenzeitlich ins rechte Lot gerückt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: Was ist denn Ihr Konzept?)



(A)



(B)



(C)



(D)


1454


(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501903300

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther,

FDP-Fraktion.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Frau Pieper darf offensichtlich gar nicht reden! Deshalb musste sie eine Kurzintervention machen!)



Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1501903400

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Zum wiederholten Male und richtigerweise behan-
deln wir heute den Jahresbericht der Bundesregierung
zum Stand der deutschen Einheit. Und zum wiederholten
Male stelle ich verblüfft fest, dass dieser Bericht über-
wiegend Positives darstellt, obwohl die Schere zwischen
Ost und West ständig weiter auseinander geht.


(Beifall bei der FDP – Klaus Brähmig [CDU/ CSU]: So ist das! Das ist die Wahrheit!)


Das ist etwas unfair gegenüber den Bürgern in den neuen
Bundesländern, denn sie haben wesentlich schlechtere
wirtschaftliche Verhältnisse und fühlen sich durch solche
Berichte im Endeffekt verschaukelt.

Natürlich ist es legitim, positive Beispiele herauszu-
stellen, aber obwohl der Osten Chefsache gewesen ist,
sind 18,4 Prozent Arbeitslosigkeit Realität. Die Arbeits-
losigkeit ist doppelt so hoch wie in den alten Bundeslän-
dern und die Prognosen verheißen eindeutig eine Er-
höhung der Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: So wird es kommen!)


Wie toll Sie das in Ihrem Bericht zum Ausdruck brin-
gen, möchte ich mit einem Zitat beweisen:

Damit hat sich auch im Jahr 2001 die seit Beginn die-
ser Legislaturperiode zu verzeichnende positive Ent-
wicklung auf dem Frauenarbeitsmarkt in den neuen
Ländern fortgesetzt. Die Arbeitslosenquote der

(20,8 Prozent)

näherte sich der niedrigeren Arbeitslosenquote der
Männer an.

Das hört sich toll an und man denkt, die Arbeitslosigkeit
in den neuen Bundesländern geht zurück. Die Zahl sagt
eindeutig etwas anderes; Kollege Vaatz hat es in Jahres-
scheiben dargestellt. 1998 gab es im Osten 5 133 000 Be-
schäftigungsverhältnisse, nach drei Jahren Rot-Grün haben
wir noch 4 810 000. Das heißt, die Zahl der Arbeitsplätze
nimmt ständig ab.

Und was tun die Menschen? Sie wandern ab. Im Jahr
2001 verließen nach Angaben des Statistischen Landes-
amtes Sachsen 63 000 Bürger den Freistaat; das entspricht
einer mittleren Kleinstadt. Davon waren 53 Prozent jünger
als 30 Jahre und 44 Prozent verfügten über Fachhoch-
schul- oder Hochschulabschluss. Genau diese Leute brau-
chen wir aber in ein paar Jahren. Sie sind einfach notwen-
dig, um die Infrastruktur im Lande aufrechtzuerhalten.


(Beifall bei der FDP)


Ich empfehle Ihnen, diese Wanderungsanalyse sehr ge-
nau zu betrachten. Das sind nicht nur die bösen schwarzen
Zahlen, das ist die Realität, mit der man sich auseinander
setzen muss und die zum Handeln mahnt.

Herr Minister, Sie haben heute das Job-AQTIV-Gesetz
und das JUMP-Programm angesprochen. Bisher wurden
über 1 Milliarde DM – das Programm läuft ja seit 1990 –
in dieses Programm eingebracht. In Ihrem Bericht heißt
es, es seien Erfolge erreicht worden. Sie wollen das
JUMP-Plus-Programm für den Osten auflegen. Ich frage
mich, wer dieses Programm überhaupt noch in Anspruch
nehmen kann, wenn die Abwanderung so weitergeht. Die
Jugendlichen wandern aus Ostdeutschland ab. Wenn es
nicht gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, werden wir in
Ostdeutschland auch keine Ausbildungsplätze haben. Das
ist das Grundproblem, an dem wir kranken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie wissen alle sehr genau, dass ohne Wirtschafts-
wachstum keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Um die-
ses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine durchgreifende
Steuerreform mit einer Senkung der Tarife und eine Re-
form der Sozialsysteme mit einer Reduzierung der Bei-
tragslast. Hierzu gibt es viele Ansatzpunkte. Besonders
wichtig wäre für den Osten gewesen, das Gesetz gegen
Scheinselbstständigkeit zurückzunehmen. Das haben Sie
aber nicht getan. Wenn Sie den Willen zu Reformen ha-
ben, fangen Sie doch bei Kleinigkeiten an, die auf dem
Tisch liegen. Hier kann man sofort etwas umsetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was tut die Bundesregierung stattdessen? Sie erschwert
den Menschen das Leben durch steigende Steuer- und Ab-
gabenlasten, um ihren hoch verschuldeten Haushalt zu
konsolidieren. Von neuen Arbeitsplätzen weit und breit
keine Spur.

Ich bin der festen Überzeugung, dass für die neuen
Länder für eine Übergangszeit – ich finde es gut, Herr
Stolpe, dass Sie das angesprochen haben – neue Regelun-
gen und Sonderregelungen erforderlich sind. Mit seinen
„Paukenschlägen für den Osten“ hat Altkanzler Schmidt
das bereits einmal eingefordert. Das war nichts anderes
als ein Paragraphenbeseitigungsprogramm. Lange hat
man nichts gehört. Jetzt kommt wieder so etwas wie eine
Sonderförderung Ost.Die Überlegungen, die von Herrn
Clement kommen, sind zu begrüßen.

Dazu kann man noch mehr Vorschläge unterbreiten.
Damit es im Osten vorangeht, müssen die vom Westen im
Verhältnis 1 : 1 übernommenen und fest zementierten
Strukturen auf dem Arbeitsmarkt aufgebrochen werden.
Die starren bundeseinheitlichen Regelungen im Arbeits-
und im Baurecht erschweren den Aufholprozess aller wirt-
schaftsschwachen Regionen. Hier ist es Zeit zu handeln.

Wir als FDP treten für Experimentierklauseln in den
Ländern ein. Konkret wollen wir, dass der Landesgesetz-
geber im Arbeitsrecht und bei Planungsverfahren im Bau-
recht sehr schnell mehr und umfassende Spielräume erhält.
Das kürzlich vom sächsischen Wirtschaftsminister Gillo
propagierte Modellprojekt Ost entspricht im Wesentlichen




Joachim Günther (Plauen)

den Positionen der FDP. Wir werden es dementsprechend
unterstützen.

Herrn Clement – auch wenn er nicht anwesend ist –
bitte ich, dass er die Auseinandersetzungen mit den Ge-
werkschaften und Verbänden nicht scheut. Denn wir wol-
len nicht gegen die Arbeitnehmer, sondern gegen die Ar-
beitslosigkeit kämpfen. Das muss das Grundanliegen sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Schaffung von Experimentierklauseln ermöglicht
einen föderalen Wettbewerb im Sinne von Millionen
Arbeitslosen. Dann kommt wieder Bewegung in den Re-
formstau. Dann kann sich zeigen, wo mehr Arbeitsdyna-
mik entsteht und welcher Weg im Endeffekt erfolgver-
sprechend ist.

Dem von der Bundesregierung angekündigten Mas-
terplan Bürokratieabbau sehen wir mit großer Span-
nung entgegen. Ich hoffe, dass den Ankündigungen nun
auch Taten folgen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Schön wäre es!)

Wie ernst es die Bundesregierung grundsätzlich mit dem
Bürokratieabbau nimmt, das können wir feststellen, wenn
der FDP-Antrag „Abbau von Bürokratie sofort einleiten“
im Bundestag zur Abstimmung steht.


(Klaus Haupt [FDP]: Der wird stürmisch begrüßt!)


Was mich im Zusammenhang mit der Entwicklung in
den neuen Ländern besonders beschäftigt, ist die Rolle der
Kommunen, die meines Erachtens bei der Bundesregie-
rung viel zu kurz kommt. Die Kommunen haben es in
ganz Deutschland schwer; das wissen wir. Aber im Osten
Deutschlands stehen die meisten vor einem Kollaps. Da-
bei geht es nicht nur um die Orts- und Kreisstraßen, die
Sie, Herr Stolpe, vorhin angesprochen haben. Grund dafür
sind die ständig steigenden Soziallasten, die die Kommu-
nen aufgrund Ihrer Arbeitsmarktpolitik zu verkraften ha-
ben, und die sinkenden Einnahmen bei der Gewerbe-
steuer, weil der Mittelstand vor dem Ruin steht. Die
Kommunen können die Möglichkeiten der bestehenden
Förderprogramme nicht mehr ausschöpfen, weil der dazu
notwendige Eigenkapitalanteil nicht mehr vorhanden ist.
Ein weiterer Grund ist nicht zuletzt der Tarifabschluss, der
im Endeffekt eine Kündigungswelle nach sich ziehen
wird. Herr Stolpe, die Bürgermeister im Osten Deutsch-
lands wachen morgens mit Kopfschmerzen auf, weil sie
nicht mehr wissen, wie sie am nächsten Tag ihre Kom-
munen weiterführen können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich könnte viele Einzelbeispiele nennen, die den mise-

rablen Zustand in den Kommunen verdeutlichen würden;
aber dazu ist meine Redezeit zu kurz. Die Ursachen dafür
sehe ich nach wie vor darin, dass es beim Bund und in den
Ländern an einem konsequenten Abbau der überzogenen
Bürokratie fehlt und dass eine Gemeindefinanzreform
dringend erforderlich ist.

Die Kommunen werden gegenwärtig kaum entlastet,
aber ständig mit neuen Anforderungen konfrontiert.


(Cornelia Pieper [FDP]: Genau!)


Die rot-grüne Regierung hat eine Reihe von Lasten des
Bundes auf die Länder und die Kommunen verschoben.
Hierzu gehören zum Beispiel die von den Kommunen zu
erbringende Leistung für die Strukturanpassungsmaß-
nahme Ost, die Übernahme der Sozialversicherungs-
beiträge von Arbeitslosen oder die zu erbringenden Leis-
tungen im Rahmen des Langzeitarbeitslosenprogramms.
Die damit auf die Kommunen zugekommenen Pflichtauf-
gaben strangulieren diese so, dass sie aufgrund ihrer lee-
ren Kassen keinerlei andere Aufgaben mehr übernehmen
können.

Nicht nur Deutschland ist Schlusslicht in Europa. Auch
die Kommunen werden bald als Bittsteller am Ende ste-
hen. Trotzdem handeln Sie weiter nach dem Motto: Lie-
ber die rote Laterne als gar kein Licht in Deutschland!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben die rote Laterne!)


Nach vier Jahren Stillstand der Chefsache Ost und sei-
nes dafür Beauftragten setzen wir unsere Hoffnungen nun
auf Sie, Herr Minister Stolpe.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was?)

Unsere konkreten Vorschläge im Hinblick auf einen Büro-
kratieabbau, auf Steuerreformen und Sozialprogramme
liegen vor. Handeln Sie, Herr Minister, bevor Sie stol-
pern! Handeln Sie, bevor im Osten Deutschlands der
Letzte das Licht ausmacht!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501903500

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler,

SPD-Fraktion.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1501903600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Über Ihre Rede, lieber Kollege Günther, kann man meiner
Meinung nach nur den Kopf schütteln. Sie wie auch Kol-
lege Vaatz müssen doch, wenn Sie durch die neuen Län-
der oder in Ihre Wahlkreise fahren, reinste Bretterwände
vor dem Kopf haben. Ich halte es nicht für angemessen,
den Menschen in Ost und West angesichts der Aufbauleis-
tungen in den neuen Ländern und der Solidarität klarma-
chen zu wollen, dass in diesen zwölf Jahren nichts passiert
sei. Sie haben ja acht Jahre in Sachsen regiert, Herr Vaatz.
Das, was Sie heute hier vorgetragen haben, ist dem wirklich
nicht angemessen. Sie sprachen von vier Jahren Stillstand.
Kollege Günther, Sie dürften teilweise Einreiseverbot be-
kommen, wenn Sie in Regionen von Mecklenburg-Vor-
pommern bis nach Sachsen kommen, die durch innovative
Arbeitsplätze nicht nur zarte Blüten getrieben, sondern sich
wirklich hervorragend zu Technologie- und Hightechstand-
orten entwickelt haben.

Minister Stolpe hat vorhin die Programme Stadtumbau
Ost bzw. Soziale Stadt angesprochen. Es kann doch nicht
sein, dass einerseits die von Ihren Parteien gestellten Bür-
germeister und Landräte und auch Ihre Länderminister
mit diesen Programmen arbeiten, hierzu Wettbewerbe


(A)



(B)



(C)



(D)


1456


(A)



(B)



(C)



(D)






ausloben, tolle Veranstaltungen inszenieren und sich sel-
ber an die Brust klopfen, während andererseits Sie als
Bundestagsabgeordnete hier alles in Bausch und Bogen
verdammen. Das ist dieser Modernisierung und insbeson-
dere dem Aufbauwillen und der Leistungskraft der Men-
schen in den neuen Ländern wirklich nicht angemessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Offensichtlich wollen Sie nicht sehen oder sehen Sie
nicht, dass wirklich Millionen wettbewerbsfähige Arbeits-
plätze entstanden sind. Es ist das Problem von Statistiken,
dass ihre Zahlen nichts darüber aussagen, in welcher Weise
Arbeitsplätze umgewandelt wurden. Natürlich sind
Arbeitsplätze verloren gegangen, aber dies waren keine zu-
kunftsfähigen Arbeitsplätze. Das erfahre ich nicht nur in
meinem Wahlkreis hier in Berlin oder in Brandenburg; das
müssen Sie doch auch feststellen. Hier sind Millionen in-
novativer neuer Arbeitsplätze bei kleinen und mittleren Un-
ternehmen entstanden. Nur diese haben eine tragfähige
Substanz und sind letztendlich zukunftsfähig.

Hinzu kommt, dass im Technologiebereich 80 Prozent
aller betrieblichen Anlagen in diesen Unternehmen neu-
wertig sind. Das ist doch eine enorme Leistung, die sich
sowohl in den Haushalten der Kohl-Regierung, aber ins-
besondere seit 1998 in den Haushalten der rot-grünen Re-
gierung niedergeschlagen hat und die Wirtschaftskraft
von Hightechregionen in den neuen Ländern von Nord
nach Süd widerspiegelt. Besonders erfreulich ist – das ha-
ben Sie überhaupt nicht erwähnt –, dass das verarbeitende
Gewerbe hier doppelt so schnell gewachsen ist wie in den
alten Bundesländern und teilweise wie in vergleichbaren
Ländern in der Europäischen Union. Weiterhin ist erfreu-
lich – auch das haben Sie nicht erwähnt –, dass die Ex-
portquote sich dabei mehr als verdoppelt hat.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Von welchem Ausgangspunkt denn?)


Hiervon konnten wir zu Ihren Zeiten doch nur träumen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Sie können doch erwähnen, dass wir mittlerweile die mo-
dernste technische Infrastruktur der Welt haben und dass
wir technische Infrastruktur und Technologie weltweit ex-
portieren.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Nach Shanghai!)

Auch das war Ihnen hier keine Silbe wert.

Mehr als die Hälfte des vorhandenen Wohnungsbe-
standes wurde modernisiert; Verbesserungen im Wohn-
umfeld schlossen sich an. Das waren Maßnahmen, die die
Bürgerinnen und Bürger zum Bleiben bewegt haben. Zu-
dem hat sich die Wohneigentumsquote deutlich erhöht.
Sie sollten auch einmal darauf eingehen, dass sich der we-
sentlich höhere Stellenwert der natürlichen Lebensgrund-
lagen im Abbau von Umweltbelastungen manifestiert.
Auch das ist in den neuen Ländern festzustellen.

Es ist bitter und wir beschönigen es überhaupt nicht
– deshalb spreche ich es an –, dass aufgrund der hohen Ar-
beitslosigkeit auch unter den Jugendlichen Wanderungs-

bewegungen stattgefunden haben und weiter stattfinden.
Aber wenn Sie seriös analysieren, dann können Sie dane-
ben auch ein Nord-Süd-Gefälle bzw. Wanderungsbewe-
gungen in den alten Bundesländern und Wanderungsbe-
wegungen von den alten in die neuen Bundesländer
feststellen. Auch das gehört zur Wahrheit, die Sie darstel-
len müssen, wenn Sie hier redlich argumentieren wollen.
Anderenfalls könnte ich Ihnen detaillierte Zahlen aus
Bayern vortragen, der Region, die Sie als beispielhaft an-
führen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)

Mehrere konkrete Ziele lassen sich aus der Problem-

analyse herauskristallisieren und werden von der Bundes-
regierung und den sie tragenden Fraktionen prioritär ver-
folgt. Dazu gehören natürlich die Schaffung zusätzlicher
Arbeitsplätze und die Angleichung der Einkommen, die
aber nur – das sage ich ganz deutlich – in Abhängigkeit
von der wirtschaftlichen Entwicklung stattfinden kann.
Dazu gehören auch der Abbau der Transferabhängigkeit
– darauf ist Kollege Schulz schon eingegangen – und die
Stärkung der Wirtschaftskraft sowie die Angleichung der
Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an das Westniveau.
Das ist ein Prozess, den wir seit Jahren fordern. Er stand
natürlich schon zu Ihren Zeiten immer wieder auf der
Agenda, aber mit den jetzigen Tarifabschlüssen wird
Licht am Ende des Tunnels sichtbar.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501903700

Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kretschmer?


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1501903800

Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Schon mit der Bundestagswahl wurden neue, in die Zu-

kunft gerichtete Impulse gesetzt; auch das hat Kollege
Schulz bereits angesprochen. Wir setzen nicht auf kurz-
fristige Effekte – das haben Sie zu Ihrer Zeit mit der kurz-
fristigen Ausweitung der ABM getan –, uns geht es um
Nachhaltigkeit. Darauf sind die Programme der Bundes-
regierung ausgerichtet. Wir haben ein umfassendes Pro-
gramm für den Aufbau und den Ausbau der neuen Bun-
desländer aufgelegt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?)

– Sie können das zusammen durcharbeiten.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Ich komme darauf noch detailliert zu sprechen, wenn ich
mich dem Bereich Bildung und Forschung zuwende, des-
sen Haushalt Ihr Superminister Rüttgers bis 1998 – ich
will es locker formulieren – in den Keller gefahren hat. Ih-
nen müssten jeden Tag die Ohren klingen.

Heute reden wir über innovative Arbeitsplätze und
Hightechstandorte für Technologien. Wir müssen Sie da-
ran erinnern, dass Sie seit Beginn der deutschen Einheit
acht Jahre lang – bis 1998 – für diesen Prozess verant-
wortlich waren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Siegfried Scheffler




Siegfried Scheffler
Sie könnten Ihre Reden hier halten, wenn wir 1998 am
Beginn der deutschen Einheit gestanden hätten. Aber Ihre
verkorkste Politik hat dazu geführt, dass Millionen von
Ausbildungsplätzen gefehlt haben. Selbst Ihr Kanzler
Kohl hat diese nicht schaffen können. Erst mit der rot-grü-
nen Bundesregierung 1998


(Lachen bei der CDU/CSU)

wurden entsprechende Programme zum Abbau der Ju-
gendarbeitslosigkeit aufgelegt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das JUMP- und das JUMP-Plus-Programm wurden be-
reits angesprochen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501903900

Herr Kollege Scheffler, der Kollege Kolbe würde gern

eine Zwischenfrage stellen.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1501904000

Nein, die Kollegen hatten schon Gelegenheit, ihre

Standpunkte vorzutragen. Sie können ja nachher ein paar
Kurzinterventionen machen.

1998 waren die Jugendarbeitslosigkeit und die Situa-
tion der Ausbildungsplätze in den neuen Ländern kata-
strophal. Ich möchte Ihnen einige Programme, die wir zur
Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt ha-
ben, nennen: Förderung überbetrieblicher Berufsbil-
dungsstätten, Zukunftsinitiative für Berufliche Schulen,
das Projekt „Schulen ans Netz“ und die Ausbildungsför-
derung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-
rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Wir hätten zu
Oppositionszeiten davon geträumt, dass diese Programme
aufgelegt und die Mittel im Haushalt für die Beseitigung
der Jugendarbeitslosigkeit und die Verbesserung der Aus-
bildungssituation der jungen Leute in den neuen Ländern
bereit gestellt würden.

Nichts von dem haben Sie vorgetragen und das ist das
Problem. Ich finde es perfide, dass Sie so tun, als hätte
1998 jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz gehabt.
Genau das Gegenteil war der Fall.

Wenn ich von einem Modernisierungsprozess spreche,
der eingeleitet wurde, muss ich auch die Programme Inno-
Regio und EXIST für Existenzgründer nennen. Wir haben
in den letzten Jahren Umgestaltungen vorgenommen, da-
mit der Mittelstand durch die Förderprogramme finanzi-
elle Unterstützung erhält und die Innovation auch in den
neuen Ländern greifen kann.

Vom Minister bzw. vom Kollegen Schulz wurden hier
schon einige Standorte angesprochen. Ich kann Ihnen
aber noch einige nennen, so zum Beispiel den Bereich
Jena. Hier hat sich aufgrund einer enormen Gründungs-
dynamik bei der Biotechnologie eine regelrechte Biore-
gion entwickelt.


(Volkmar Uwe Vogel [CDU/CSU]: Wann?)

Wenn Sie einmal nach Jena und zu Herrn Späth kommen
und Sie vor den Menschen und den Arbeitskräften dort

diese Jammerarie, die Sie hier vor dem Deutschen Bun-
destag halten, von sich geben würden,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das sind alles schwarze Jammerlappen!)


würden Sie dort kein weiteres Mal Zugang bekommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Oder schauen Sie in die Region Leipzig/Halle/Bitter-

feld: Hier hat sich eines der international führenden Zen-
tren für Umwelttechnik etabliert. Gleiches gilt für die Re-
gion Thüringen/Sachsen in Bezug auf die Elektronik.
Sachsen-Anhalt und Sachsen machen sich zurzeit als Zu-
lieferer für die Automobilindustrie unentbehrlich. In
Mecklenburg-Vorpommern bilden sich Allianzen für eine
innovative maritime Wirtschaft heraus.

Es kann doch nicht sein, dass uns auf der einen Seite
vor Ort – da ich hier den lieben Kollegen Werner Kuhn
sehe: zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern –,


(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Du kannst dich gleich auf etwas gefasst machen!)


die wunderbaren Aufbauleistungen vorgeführt werden,
die durch Programme der jetzigen Bundesregierung seit
1998 finanziert werden, man aber auf der anderen Seite
hier ein Zerrbild schafft und so tut,


(Cornelia Pieper [FDP]: Aber die Arbeitslosigkeit steigt doch!)


als habe es diese Entwicklung in den neuen Bundeslän-
dern und Berlin überhaupt nicht gegeben.

Genau diese Innovationsnetzwerke müssen wir ver-
stärkt fördern und finanzieren. Ich denke, mit dem Pro-
gramm Inno-Regio, mit dem Programm Innovationskom-
petenz mittelständiger Unternehmen oder mit dem
Programm Inno-Net ist dies bereits jetzt erfolgreich ein-
geleitet. Ich behaupte gar nicht, dass dies alles vollkom-
men sei; ich denke, wir sind uns alle darüber einig – auch
der Herr Minister hat es vorgetragen –, dass wir erst die
Hälfte der Wegstrecke geschafft haben.

Wir können uns alle hier hinstellen und darüber la-
mentieren, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Ich
sage: Seit 1990 haben wir gemeinsam mit den Menschen
Gewaltiges vollbracht. Insofern ist das Glas halb voll.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Vorher war es halb leer! Das ist eine seltsame Wandlung!)


Wir sind auch mit dem Kraftakt Solidarpakt II, den Sie
überhaupt nicht erwähnt haben und wahrscheinlich am
liebsten verschweigen würden, auf einem guten Weg. Ihre
Länderministerpräsidenten sind doch glücklich und zu-
frieden darüber, dass im Rahmen des Solidarpaktes II die
kommunalen Infrastrukturen, insbesondere die verkehrli-
chen Infrastrukturen, verbessert werden.

Ich freue mich jetzt schon darauf, mit Ihnen über den
Bundesverkehrswegeplan zu diskutieren, wo Sie alle
wieder die Wünsche aus Ihrem Wahlkreis vortragen, sei
es eine Ortsumgehung, eine Kommunalstraße, eine Bun-
desfernstraße oder eine Autobahn. Dann werden Sie nach


(A)



(B)



(C)



(D)


1458


(A)



(B)



(C)



(D)






Hause kommen, sich hinstellen und sagen, Sie hätten dies
hier geschafft und mit Unterstützung des Bundes bei der
Finanzierung und der Sicherung im Haushalt würden Sie
dazu beitragen, dass vor Ort alles besser und schöner
wird.

Zu DDR-Zeiten gab es den Wettbewerb „Schöner un-
sere Städte und Gemeinden“. Nach diesem Slogan ver-
fahren Sie vor Ort. Aber hier im Deutschen Bundestag
und für die Menschen vor den Bildschirmen tun Sie so, als
wenn alles grau in grau wäre. Ich denke, Sie werden der
Wirklichkeit damit überhaupt nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD)

Ich könnte noch weitere Programme vortragen. Von Ih-

nen, Frau Pieper, obwohl Sie ja im Bildungs- und For-
schungsausschuss sind,


(Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!)

kam zum Beispiel kein Wort zum Programm EXIST, wo-
durch sich 430 Unternehmen aus Hochschulen – was bis
1998 überhaupt nicht der Fall war – ausgegründet haben
und das dazu beigetragen hat, dass sich die Zahl der Spin-
offs auf einem Niveau von über 150 pro Jahr stabil eta-
bliert hat.


(Abg. Cornelia Pieper [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501904100

Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Pieper?


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1501904200

Nein. – Dazu kam von Ihnen kein Wort. Dies gilt auch

für das Programm „Zentrum für Innovationskompetenz“,
das versucht, universitäres Wissen in die Wirtschaft zu
transferieren.

Auch ich möchte mich noch einmal an den Minister
wenden: Es steht jetzt in der Öffentlichkeit und hier im
Raume, dass für die neuen Bundesländer Bundesgesetze
teilweise außer Kraft gesetzt werden, damit wir gerade im
öffentlichen Bereich, bei PPP, beim Hochbau und in der
Verkehrsinfrastruktur, schneller vorankommen. Gepaart
mit der Entbürokratisierung sollte dies der Dynamik beim
Zurücklegen der nächsten Hälfte des Weges dienlich sein.

Ich denke, auch das sinnvolle Instrument des Bundes-
verkehrswegeplans, das Verkehrswegeplanungsbeschleu-
nigungsgesetz, wäre eine gute Möglichkeit, um deutsch-
landweit ein Zeichen zu setzen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das habt ihr doch abgelehnt!)


– Mein lieber Kollege Friedrich, das ist weder in den alten
noch in den neuen Bundesländern abgelehnt worden. –
Wir werden uns darüber im Rahmen der Diskussion um
den Bundesverkehrswegeplan unterhalten. Mit diesem In-
strument werden wir, wie ich denke, in der Zukunft wei-
ter vorankommen.

Wir sollten aufhören, hier nur herumzujammern; viel-
mehr sollten wir, vor allem hinsichtlich der EU-Osterwei-

terung, einmal zur Kenntnis nehmen, was erfolgreich ent-
standen ist. Herr Minister, Sie sprachen gerade von „Sand-
wich“. Das Beste bei einem Sandwich ist die Mitte. Es sind
die neuen Länder, die in der Mitte Europas liegen. Von den
neuen Ländern werden positive Signale ausgehen. Ich
denke, dass wir in einigen Jahren von starken Wachstums-
regionen in den neuen Ländern sprechen können.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501904300

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kol-

legen Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.


Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1501904400

Herr Kollege, Ihre Rede passt in der Tat in die Zeit von

„Schöner unsere Städte und Gemeinden“. Es ist schofelig,
die Abwanderung aus den neuen Bundesländern mit Ab-
wanderungsbewegungen in anderen Teilen Deutschlands
zu vergleichen. Ich weiß, wie die Leute darunter zu leiden
haben, wie es bei uns in Görlitz und in Dresden aussieht.
Es steht außer Frage, dass wir beim Aufbau Ost und bei
der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundes-
ländern Fortschritte gemacht haben. Aber das, was er-
reicht worden ist, sind höchstens kleine Pflänzchen.

Was wir heute kritisiert haben, ist, dass Sie keinen Weg
aufgezeigt haben. Ich hätte von Ihnen heute ein Konzept
erwartet: Wie schaffen wir den Anschluss an die alten
Bundesländer? Was ist Ihr Weg? Die Jugendarbeitslosig-
keit steigt. Die Unternehmensdichte und die Forschungs-
intensität sind wesentlich geringer als in den alten Län-
dern. Beim Projekt Inno-Regio wie bei anderen Projekten
zur Wachstumsförderung wird gekürzt. Die Kaufkraft ist
geringer und sinkt. Die Frage ist, wie Ihr Konzept aus-
sieht. Aussagen hierzu fehlen uns. Diese hätten wir von
Ihnen erwartet. Darauf haben Sie keine Antwort gegeben.
Es ist vollkommen richtig: Der Bericht, der vorliegt, ist
nicht das Papier wert, auf dem er steht. Er ist eine Belei-
digung für die Menschen in den neuen Bundesländern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501904500

Herr Kollege Scheffler, Sie haben die Möglichkeit zu

antworten.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1501904600

Ja, ich möchte darauf antworten. Ich habe davon ge-

sprochen, dass die Abwanderungsbewegungen sehr diffe-
renziert betrachtet werden müssen und nicht pauschali-
siert werden dürfen.


(Cornelia Pieper [FDP]: Drastisch ist sie!)

Ich habe kritisch angesprochen, dass wir die Abwande-
rungsbewegung insbesondere der jungen Menschen stop-
pen müssen.

Siegfried Scheffler




Siegfried Scheffler

Was Sie überhaupt nicht beachten, ist Folgendes: Se-
hen Sie sich einmal den Forschungs- und Bildungshaus-
halt seit 1998 an. Jedes Jahr haben wir draufgesattelt. Die
Mittel weisen ungeahnte Höhen auf. Noch nie war der
Haushalt der Bundesrepublik Deutschland in diesem Be-
reich so groß wie im Jahr 2002 und er wird es auch im
Jahre 2003 sein.


(Cornelia Pieper [FDP]: Sie kürzen doch bei den Forschungseinrichtungen!)


Noch nie war er so hoch wie heute, obwohl Sie für die Bil-
dung einen so genannten Superminister, nämlich Herrn
Rüttgers, hatten.

Sehen Sie sich einmal die Zahlen bei der Erstausbil-
dung, beim Studium und bei der Weiterbildung, beim er-
wähnten BAföG und beim Meister-BAföG an! Sie alle
weisen ungeahnte Höhen auf. Zu Ihren Zeiten war das
Image von BAföG derart negativ, dass Sie davon nur träu-
men konnten. In den letzten beiden Jahren haben wir bei
der Zahl der Studienbeginner richtige Sprünge zu ver-
zeichnen. Das Gleiche trifft übrigens auch auf das
Meister-BAföG zu.

Sehen Sie sich einmal den Verkehrshaushalt an! Wir
sprachen von Verkehrsinfrastruktur als Voraussetzung für
die wirtschaftliche Entwicklung. Die Verkehrsinfrastruk-
tur wird in den neuen Ländern seit 1998 so berücksichtigt
wie noch nie. Auch dieser Einzelplan war in den Jahren
2000, 2001 und 2002 so hoch wie nie zuvor seit der Wie-
dervereinigung. Auch das müssen Sie anerkennen. Das ist
das Programm der Bundesregierung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da sieht die Wirklichkeit aber anders aus!)


Ich frage mich, wo Sie bis 1998 waren. Dabei denke
ich gerade an diese zwei wichtigen Komplexe für die
neuen Länder: Bildung und Forschung sowie Auf- und
Ausbau der Verkehrsinfrastruktur als grundsätzliche Vo-
raussetzung für Ansiedlungen des Gewerbes und für re-
gionales, aber auch bundesweites Wachstum. Ihre Län-
derminister sind offensichtlich schon viel weiter; denn sie
loben die Bundesregierung immer wieder für die aufge-
legten Programme


(Lachen bei der CDU/CSU)

und deren Finanzierung. Sie bitten händeringend darum,
die Finanzierung so, wie wir sie mit dem Haushalt 2003
angedacht haben, zu sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wo leben Sie denn?)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501904700

Der nächste Redner ist der Kollege Werner Kuhn,

CDU/CSU-Fraktion.


Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1501904800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich halte es nach wie vor für richtig und wichtig,
dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in

diesem Hohen Hause alljährlich zu einer Generaldebatte
über den Stand der deutschen Einheit versammeln.

Der diesbezügliche Bericht der Bundesregierung liegt
uns vor. Wir müssen gemeinsam um einen vernünftigen
Weg ringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die jetzigen Koalitionsparteien dürfen dabei nicht be-
haupten, dass der Aufbau Ost erst seit 1998 richtig in An-
griff genommen wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zuerst gab es die Chefsache Ost, dann gab es die ruhige
Hand und jetzt gibt es Herrn Stolpe, der alles regeln soll.
Verehrter Herr Kollege Stolpe, ich muss Ihnen sagen, dass
die Botschaften, die Sie uns vermitteln wollten, doch sehr
dürftig waren. Es reicht einfach nicht aus, dem Mittel-
stand nur mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Hier müs-
sen konkrete Konzepte her.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In den neuen Bundesländern gibt es die schwierigste

Arbeitsmarktsituation seit der Wiedervereinigung. Die
Arbeitslosigkeit liegt im Jahresdurchschnitt bei 20 Pro-
zent, wobei die verdeckte Arbeitslosigkeit noch gar nicht
berücksichtigt wurde. In strukturschwachen Gebieten
liegt sie bei 30, 40 oder gar 50 Prozent.

Ich komme zur Infrastrukturlücke. Ich finde es in Ord-
nung, dass die jetzige Bundesregierung um einen lückenlo-
sen Übergang im Bereich der Infrastruktur, so wie wir ihn
im Bundesverkehrswegeplan mit den Verkehrsprojekten
„Deutsche Einheit“ seinerzeit angelegt haben, bemüht ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gibt aber immer noch eine Infrastrukturlücke in einer
Größenordnung von 150 Milliarden Euro. Dabei geht es
nicht nur um Schienen, Straßen und Wasserstraßen, son-
dern da müssen auch die weichen Standortfaktoren
berücksichtigt werden.

Der Städteumbau ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt.
Durch den Städteumbau sollen unsere Städte und Ge-
meinden, die zu DDR-Zeiten mit einer völlig verfehlten
Wohnungsbaupolitik verschandelt worden sind, neu ge-
ordnet werden. Dazu gehört auch der Abriss der leer ste-
henden Wohnungen. Es gibt einen Wohnungsleerstand
von 1 Million Wohnungen. Verehrter Herr Minister
Stolpe, diese müssen abgerissen werden und es muss zu
einer Entschuldung kommen. Es kann nicht sein, dass
wirtschaftlich einigermaßen intakte Wohnungsbauunter-
nehmen keine Entschuldung erhalten, während dies bei
denjenigen, die in Insolvenz geraten sind, der Fall ist. Ich
bitte Sie: Das ist doch der völlig falsche Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es könnte passieren, dass eine gesunde Wohnungsbauge-
nossenschaft Wohnungen nicht abreißt, sodass es sozusa-
gen zu einem nicht vertretbaren Lückengefüge kommt.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Herr Waigel hat das Altschuldenhilfe-Gesetz doch durchgesetzt! Das ist die Ursache davon! Es kann doch nicht sein, dass hier solch ein Blödsinn erzählt wird!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1460


(A)



(B)



(C)



(D)






Vonseiten der Bundesregierung muss hierzu unbedingt
ein vernünftiges Konzept vorgelegt werden.

Ich komme zur Unternehmens- und Unternehmer-
lücke. Wir haben gehört, dass die Zahl der Unterneh-
mensgründungen in Ostdeutschland vergleichbar mit der
in Baden-Württemberg sei. Die allgemeine wirtschaftli-
che Situation zeigt etwas anderes. Wenn Sie den Aus-
führungen des Statistischen Bundesamtes heute richtig
zugehört haben, dann wissen Sie, dass das Wirtschafts-
wachstum im Jahre 2002 in ganz Deutschland nur 0,2 Pro-
zent betrug. Das heißt, dass die Wirtschaft in Ostdeutsch-
land geschrumpft ist.

Im ersten Halbjahr 2002 gab es 5 500 Unternehmens-
pleiten in Ostdeutschland. Damit gingen 30 Prozent der
Unternehmenszusammenbrüche auf das Konto der neuen
Bundesländer. Das sind die wahren Zahlen! Das ist die
wahre Situation! Das ist die wahre Beschreibung der
Wirtschaft in Ostdeutschland!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Obwohl dies nach meiner Auffassung das zentrale Thema
ist, enthält dieser Bericht gerade einmal eineinhalb Seiten
dazu, wie es mit der Wirtschaft weitergehen soll.

Ich komme nun zum Thema Schulen ans Netz. Herr
Kollege Scheffler, dies ist sicherlich eine interessante pe-
riphere Erscheinung für bessere Bildungsprogramme. Wir
müssen unsere Leute aber in Arbeit bringen, damit sie
wieder Zuversicht haben und die deutsche Einheit positiv
sehen. Diese Zuversicht haben die Menschen durch diese
Bundesregierung verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das zeigen auch die Abwanderungszahlen. Im letzten Jahr
sind 2,5 Prozent der 15- bis 30-Jährigen aus Mecklen-
burg-Vorpommern weggezogen und haben sich in den
Ballungsgebieten eine neue Existenz gesucht.
Sagen Sie mir: Mit wem wollen wir den Aufbau Ost rea-
lisieren? Wir brauchen die gut ausgebildeten und hoch
qualifizierten Facharbeiter. Diese werden am Markt ge-
sucht, aber sie ziehen aus Ostdeutschland weg. Zurück
bleibt eine Bevölkerung mit einer demographischen Ver-
werfung. Diesem Problem müssen wir uns stellen. Dafür
müssen Konzepte her.

Die Wirtschaft in Ostdeutschland muss wieder in Gang
gebracht werden. Existenzgründerinitiativen, Small Busi-
ness Act, Mittelstandsbank – all das haben wir von Herrn
Minister Stolpe gehört. Übrigens vermisse ich den Bun-
deskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er hat ge-
sagt: Der Aufbau Ost ist Chefsache, ich will der Kanzler
aller Deutschen sein. – Er ist heute bei der Debatte nicht
dabei. Das muss man einmal knallhart sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Siegfried Scheffler [SPD]: Wo ist denn Ihre Fraktionsvorsitzende?)


Wir leben im wiedervereinigten Deutschland, zu dem wir
alle stehen.

Viel wichtiger ist, die Bestandspflege der noch beste-
henden Unternehmen in Angriff zu nehmen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Genau!)


Das heißt, dass wir potenzielle Auftraggeber finanziell in
die Lage versetzen müssen, einen Auftrag an ein Unter-
nehmen zu vergeben, um zum Beispiel im Investitions-
güterbereich Maschinen und Anlagen zu bestellen. Da-
durch würde die Binnenkonjunktur verbessert und die
Auftragslage günstiger. Aber von all dem ist zum gegen-
wärtigen Zeitpunkt überhaupt nichts zu spüren.

Die Privathaushalte sind mit Ökosteuerreform, Abga-
ben und Steuern derart stranguliert, dass sie beim Konsum
sehr zurückhaltend geworden sind. Der Einzelhandel do-
kumentiert das ebenfalls. Dort sind die Umsätze massiv
zurückgegangen. Hier würde eine Steuerentlastung helfen.
Die Flutkatastrophe – das haben wir gehört – war ein
schlimmes Ereignis. Sie hat einen Schaden von insgesamt
9,2 Milliarden Euro angerichtet, der finanziert werden
musste. Die Versicherungen übernehmen – bei denjenigen,
die gegen Elementarschäden versichert sind – 2 Milliarden
Euro. Der Bundeskanzler hat angekündigt, dass wir für
den Wiederaufbau in Ostdeutschland von der Europä-
ischen Union 2,5 Milliarden Euro erhalten. Jetzt bleiben
noch etwa 4,5 Milliarden Euro übrig. Das sind, über drei
Jahre verteilt, jeweils 1,5 Milliarden Euro; denn mehr
kann man in einem Jahr kaum verbauen. Dafür haben Sie
die Steuerreform verschoben! In Wirklichkeit war das nur
das Stopfen von Finanzlöchern, weil Sie weder ein noch
aus wussten und vor der Bundestagswahl die wahren Zah-
len verschleiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Binnenkonjunktur hätte auch in Ostdeutschland
schon längst angekurbelt werden können: Wenn die Men-
schen mehr Geld zwischen den Fingern hätten und damit
mehr einkaufen würden, hätte der Unternehmer Aufträge
und von diesen Investitionen würde dann auch die Indus-
trie profitieren, sodass das Schwungrad der Wirtschaft
wieder in Gang käme. Es reicht nicht, Herr Schulz, in
feuilletonistischer Art eine Ist-Beschreibung vorzuneh-
men, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Auftrag-
geber wieder Geld in der Kasse haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dazu gehören auch die Städte und Gemeinden. Ich

will, dass die Bürgermeister und Landräte im Osten end-
lich wieder eine kommunale Investitionspauschale be-
kommen, damit sie sich um ihre Schulen, Kindertages-
stätten und Krankenhäuser kümmern können, die
streckenweise in einem noch sehr jämmerlichen Zu-
stand sind. Dabei muss die Vergabepraxis – das hat da-
mals schon Lothar Späth gesagt – so funktionieren, dass
die örtlichen Handwerksbetriebe davon profitieren;
denn nur so werden sie vor der Pleite bewahrt. Das ist
für die kommunale Infrastruktur ein ganz wichtiger
Punkt.

Herr Minister Stolpe, Sie haben einen Punkt angespro-
chen, in dem ich Ihnen Recht gebe – wir wollen schließ-
lich konstruktiv zusammenarbeiten –: Teilung kann nur
durch Teilen überwunden werden. Über dieses große Wort
wird immer wieder gesprochen. Aber schauen wir uns ein-
mal die öffentliche Auftragslage des Bundes bei der
Wehrtechnik an. Dort ist es zu großen Verwerfungen ge-
kommen, die wir einfach nicht hinnehmen dürfen.

Werner Kuhn (Zingst)





Werner Kuhn (Zingst)


Ich erinnere an die Korvette K130 mit einem Investiti-
onsvolumen von 1,2 Milliarden Euro. Es ist Usus gewe-
sen, dass sich die fünf norddeutschen Küstenländer diesen
Auftrag mit allen Unteraufträgen so aufteilen, dass alle
gleichmäßig partizipieren: Jeder bekommt 20 Prozent.
Mecklenburg-Vorpommern – ich frage mich: Wo sind die
Kämpfer für Mecklenburg-Vorpommern auf der Bundes-
ratsbank? – hat nur einen Anteil von 10 Prozent erhalten.
Dies kann ich weiterrechnen.

Eine weitere Anschaffung ist der große Transportflie-
ger A400M mit einem Auftragsvolumen von 9 Milliarden
Euro. Welches Unternehmen in Ostdeutschland, zum Bei-
spiel ein Metall verarbeitender Betrieb, ein GFK-Betrieb
oder ein Elektrobetrieb, ist überhaupt in der Lage, dort als
Zulieferer gelistet zu werden? Sie sind luftfahrttechnisch
überhaupt nicht zertifiziert. Herr Minister Stolpe, ich ma-
che Ihnen einen Vorschlag. Nehmen Sie Geld in die Hand
– diese Zertifizierung kostet vielleicht 60 000 Euro – und
legen Sie ein Programm auf, damit unsere Unternehmen
in Ostdeutschland an diesem Projekt partizipieren kön-
nen. Das ist ein ganz konkreter Vorschlag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Gleiche wird beim Schienenfahrzeugbau deutlich.

Es gibt nicht nur Bombardier in Halle, das kurz vor einer
Bundestagswahl sozusagen durch die schützende Hand
des Bundeskanzlers gerettet wurde, sondern in Pankow
zum Beispiel gibt es ein Unternehmen, das sich wie viele
andere Unternehmen auch um die Aufträge bewirbt. Wir
können durchaus alle Unternehmen, bei denen wir hun-
dertprozentige Gesellschafter sind, fit machen, sodass
eine gleichmäßige Verteilung gewährleistet wird. Dann
gäbe es erst einmal eine Grundauslastung.

Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Ich
freue mich sehr, Herr Minister Stolpe, dass Sie wieder Ihr
Herz für die Magnetschwebebahn zwischen Hamburg
und Berlin entdeckt haben. Ich hätte mich aber noch viel
mehr gefreut, wenn wir beide gemeinsam in zwei Jahren
in Perleberg das Wagenumlaufwerk für die Magnet-
schwebetechnik in Brandenburg und Mecklenburg-Vor-
pommern hätten eröffnen und damit in dieser extrem
strukturschwachen Gegend 400 Menschen Arbeit hätten
bieten können. Sie aber haben die vier Jahre verstreichen
lassen und einen Stillstand produziert. Damit werden wir
uns als Opposition nicht abfinden!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Aufgabenverteilung zwischen Opposition und Re-

gierungskoalition darf nicht einseitig erfolgen. Wir sind
durchaus bereit, unsere Ideen einzubringen – das ist auch
vonseiten der FDP eindeutig signalisiert worden – und
Lösungen und Strategien für die Umsetzung zu ent-
wickeln. Es kann aber nicht sein, dass wir die Arbeit ma-
chen, während für den Verkauf die Bundesregierung zu-
ständig ist, die sich darüber freut, dass sie eine Idee
kopieren kann.

Zum Beispiel erscheint mir die Idee, die Ministerien
für Wirtschaft und Arbeit in einem großen Ministerium
zusammenzufassen, vernünftig. Das haben wir im Wahl-
kampf immer wieder bestätigt; denn diese Ressorts
gehören nun einmal zusammen. Über die Minijobs ha-
ben wir im Vermittlungsausschuss vernünftig verhandelt.

Das sind erste Ansätze, die deutlich machen, dass wir
Deutschland gemeinsam fit machen können, wenn wir das
wollen. Aber es handelt sich dabei um unsere Ideen und
Aktivitäten, die wir als Oppositionspartei entwickelt haben.

Diese Ansätze können Sie weiterverfolgen. Unserer
Mitarbeit können Sie sich dabei sicher sein. Ich bin aber
nicht damit einverstanden, dass Sie immer weiter dazu
neigen, Investoren durch Regulierungen, Gesetze und
Durchführungsbestimmungen abzuschrecken. Was soll
ich einem potenziellen Investor aus Mecklenburg-Vor-
pommern, Brandenburg oder Berlin antworten, der sich
bei mir meldet und sagt: Sie haben im Bundestag eine in-
teressante Rede gehalten, Herr Kuhn, ich möchte bei Ih-
nen investieren?


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn er mich fragt, wie denn die Investitionsförderung
im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“, wie denn die Investi-
tionszulage, der Mittelstandskredit und das Programm
Kapital für Arbeit funktionieren, muss ich ihm antworten:
Kommen Sie her; ich habe alle Fragebögen dabei – bis hin
zum Formblatt zur Offenlegung Ihrer persönlichen Ver-
hältnisse, zu der Sie verpflichtet sind. Sie haben 135 For-
mulare auszufüllen. Der potenzielle Investor erwidert
dann sicherlich: Verehrter Herr Abgeordneter, ich wollte
nicht zum Ausfüllen von Fragebögen kommen,

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann macht das Herr Kuhn!)

sondern um mein Kerngeschäft zu erledigen, Leute ein-
zustellen, mein Produkt zu verkaufen und Geld zu verdie-
nen. – Dem müssen wir uns wieder annähern!


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501904900

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit?


Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1501905000

Es geht nicht an, dass die Bundesregierung letztendlich

dazu neigt, jedem, der Geld verdienen will, im Prinzip nur
die Aufgabe in unserer Gesellschaft zuzuweisen, einen
Solidarbeitrag zu leisten. Wir müssen vielmehr dazu kom-
men, dass diejenigen, die Leistungen bringen, auch selber
etwas davon haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Deutsch-
land wird es wirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich nur
dann wieder aufwärts gehen, wenn der Osten auf die Beine
kommt. Das ist nicht nur die Überzeugung der CDU/CSU-
Fraktion, sondern das sind Tatsachen. Der Osten hat eine
zu schwache Lobby und zu wenig Fürsprache in der Bun-
desregierung. Viele Menschen in Ostdeutschland wün-
schen sich wieder einen Kanzler aller Deutschen wie den,
mit dem dieser Sessel bis 1998 besetzt war.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Helmut lebt!)



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Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501905100

Herr Kollege Kuhn, ich darf Sie noch einmal eindring-

lich an Ihre Redezeit erinnern.


Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1501905200

Erlauben Sie mir einen letzten Satz. Wenn es in weni-

gen Wochen um die Entscheidung für die Olympiabewer-
bung Deutschlands geht, dann hätte die Stadt Leipzig, von
der 1989 der Funke der Freiheit auf ganz Deutschland
übergesprungen ist, einen prominenten Fürsprecher.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501905300

Herr Kollege Kuhn!


Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1501905400

Das wäre der Altbundeskanzler!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Helmut lebt!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501905500

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter

Hettlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.


Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501905600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Trotz aller Redebeiträge, die ich heute von der
Opposition gehört habe, kann es sich sehen lassen, was
Rot-Grün in den vergangenen vier Jahren für die ostdeut-
schen Bundesländer geleistet hat; darauf können wir stolz
sein. Die Kollegen Scheffler und Schulz haben dies ein-
deutig klargestellt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


An diese Erfolge werden wir anknüpfen. Wir kämpfen
für eine Angleichung der Lebensbedingungen der Men-
schen in Ost und West. Deswegen sehe ich auch im jüngs-
ten Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst ein deut-
liches Signal in diese Richtung.


(Jürgen Türk [FDP]: Was?!)

Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die unteren Einkom-
mensgruppen in den neuen Ländern bis 2007 an das West-
niveau angeglichen werden – so haben wir es auch im Ko-
alitionsvertrag festgeschrieben –, denn nach so vielen
Jahren der deutschen Einheit ist gleicher Lohn für gleiche
Arbeit ein Gebot der Fairness.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unter den Punk-
ten, die Kollege Kuhn eben angesprochen hat, waren auch
das Programm Stadtumbau Ost und die Altschuldenhilfe
für die Wohnungsunternehmen. Ich frage mich, ob er ges-
tern nicht im Ausschuss gewesen ist. Wir haben gestern
über diese Themen gesprochen.

Das Erfolgsprogramm Stadtumbau Ost, das in den
letzten vier Jahren auf den Weg gebracht worden ist, kann
sich doch sehen lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Werner Kuhn [Zingst] [CDU/ CSU]: 15 Millionen im vorletzten Jahr und 8 Millionen im letzten Jahr! Das ist doch kein Erfolg!)


– 1,1 Milliarden Euro stellt allein der Bund bis 2009 dafür
zur Verfügung. Zusammen mit den Finanzmitteln von
Ländern und Kommunen summiert sich dies auf 2,7 Mil-
liarden Euro. Diese riesige Summe beruht maßgeblich auf
den Initiativen der letzten Wahlperiode. Dass das Pro-
gramm erfolgreich ist, zeigt sich auch daran, dass sich
über 250 ostdeutsche Kommunen an diesem Wettbewerb
beteiligt haben. Das Engagement ist deutlich höher, als
wir alle es erwartet haben.

Das Thema Altschuldenhilfe haben wir ebenfalls
angepackt. Hier hat der Bund seine Mittel um fast 50 Pro-
zent aufgestockt; wir stellen dafür fast 700 Millio-
nen Euro zur Verfügung. Das kann man nicht einfach un-
ter den Tisch reden. Hier tun wir etwas, um das verfehlte
Förderprogramm der ersten acht Jahre zu korrigieren und
die großen Leerstände zu beseitigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Wohnungsunternehmen im Osten brauchen unsere
Unterstützung. Sie brauchen Bewegungsfreiheit; denn die
leer stehenden Wohnungen kosten nur Geld und bringen
keine Mieteinnahmen. Dadurch bedrohen sie letztendlich
die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen.

Besonders stolz können wir auf das sein, was wir in der
Forschung geschafft haben. Ich freue mich sehr, dass
Kollege Scheffler dies noch einmal ausdrücklich aufge-
zeigt hat. Wir haben hier über 660 Millionen Euro in die
institutionelle Förderung gesteckt. Das ist zukunftsträch-
tig, das bezeichnen wir Grüne als nachhaltige Politik. Mit
diesen Forschungsstandorten schaffen wir die Arbeits-
plätze von morgen. Diese attraktiven Standorte tragen
dazu bei, dass junge Leute im Osten bleiben bzw. wieder
in den Osten zurückkehren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Ich weise hier nur auf die Schiene Thüringen – Sachsen hin,
wo mittlerweile einer der führenden Elektronikstandorte
entstanden ist. Auch dies ist ein Resultat unserer Arbeit.

Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Arbeitslosig-
keit das größte und belastendste Problem ist. Ich bin vor
zwölf Jahren nach Sachsen gezogen. Sie können mir glau-
ben, es belastet mich genauso wie jemanden, der dort ge-
boren ist. Allerdings ist es nicht sinnvoll, jetzt wieder mit
der Gießkanne über das Land zu gehen. Vielmehr müssen
unsere Programme den Unternehmen gezielt Rahmen-
bedingungen und Anreize bieten, Arbeitsplätze zu schaf-
fen. Es ist besser ein Licht anzuzünden, als über die Dun-
kelheit zu klagen.

Neben der Beseitigung der Flutschäden, die immer
noch im Gang ist, stehen drei wichtige Punkte auf der




Peter Hettlich
politischen Tagesordnung. Das eine ist der Bundesver-
kehrswegeplan. Ich halte es für sehr wichtig, dass die In-
frastruktur in den neuen Bundesländern noch einmal sehr
stark gefördert wird. Wir werden von unserer Seite darauf
achten, dass der Nachhaltigkeitsaspekt berücksichtigt
wird und darüber nachgedacht wird, welches Verkehrs-
und Infrastruktursystem geeignet ist. Wir bemühen uns
intensiv darum, dass auf diesem Gebiet der Osten nicht
hinten herunterfällt.

Ganz wichtig ist für mich der Mittelstand. Im Osten
gibt es kaum noch große Unternehmen. Daher müssen die
kleinen und mittelständischen Unternehmen gefördert
werden. Ich stimme dem Kollegen Kuhn zu, dass es wich-
tiger, einfacher und mit geringeren finanziellen Mitteln
möglich ist, bestehende Arbeitsplätze zu sichern. In der
Bauindustrie wurde schon 1994/95 damit begonnen, die
Überkapazitäten abzubauen, die durch eine verfehlte För-
derpolitik entstanden sind.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Steuern sparen!)

– Richtig, das war Steuersparpolitik. – Diese Konsequen-
zen müssen wir heute leider ausbaden.

Die neue Mittelstandsoffensive der Bundesregierung
ist hier der richtige Weg und gibt die richtigen Ziele vor.
So können neue Arbeitsplätze entstehen. Intelligente
Wirtschaftsförderung hilft auch, die Größennachteile der
ostdeutschen Unternehmen auszugleichen. Wir wollen
die Bildung von regionalen Netzwerken unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501905700

Herr Kollege Hettlich, denken Sie bitte an Ihre Rede-

zeit.


Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501905800

Ja, Frau Präsidentin. – Ich möchte zu guter Letzt nur

noch ganz kurz auf die Gemeindefinanzreform einge-
hen. Sie ist ein ganz wichtiger Meilenstein auf dem Weg
zur Gesundung der Finanzlage der ostdeutschen Kommu-
nen. Sie wissen, dass die ostdeutschen Kommunen seit
1999 einen größeren Anteil für Zinsen und Tilgung aus-
geben als die westdeutschen. Dieses Dilemma soll der
Vergangenheit angehören. Dafür werden wir uns unter be-
sonderer Berücksichtigung der ostdeutschen Kommunen
in starkem Maße einsetzen.

Wir reklamieren als Politiker gern den Erfolg für uns.
Aber ich sage ganz deutlich – Werner Schulz und der
Minister haben das bereits in ihren Reden getan –: Den
großen Fortschritt, den die neuen Bundesländer in den
letzten Jahren erreicht haben, haben wir den dort lebenden
Menschen zu verdanken. Das sollte man an dieser Stelle
ganz ausdrücklich sagen. Den Transformationsprozess
müssen wir über die Fraktionsgrenzen hinweg mit aller
Kraft unterstützen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501905900

Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Petra Pau, fraktionslos.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1501906000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren heute über die Lage in den so genannten
neuen Bundesländern. Dazu liegt ein über 100-seitiger
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen
Einheit vor. Ich möchte zwei Sätze aus diesem Bericht zi-
tieren. Das erste Zitat:

Die nach der Wiedervereinigung weit verbreitete An-
nahme eines schnellen Aufbaus in den neuen Län-
dern hatte sich als Illusion erwiesen.

Das stimmt. Noch schlimmer: Wie zur Auszeit der DDR
suchen viel zu viele Jugendliche ihre Zukunft in der
Ferne. Sie verlassen also die neuen Bundesländer. Der
Berliner Schriftsteller Wolfgang Engler fasste seinen Be-
fund so zusammen:

Weil der Hoffnung die Arbeit fehlte, kam die Arbeit
an der Hoffnung (in den neuen Ländern) zum Erlie-
gen.

Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist längst mehr
als ein massenhaftes Schicksal. Sie führt zum nachhalti-
gen Aderlass.

Vor diesem Hintergrund komme ich zum zweiten an-
gekündigten Zitat aus dem Bericht der Bundesregierung:

Als eine weitere Fehlorientierung erwies sich die Vor-
stellung, der Aufbau Ost sei durch das bloße Übertra-
gen westdeutscher Erfolgsmuster zu bewältigen.

Natürlich ist dieser Satz ein Seitenhieb auf die Kohl-Ära.
Aber er stimmt, zumal nicht nur die Erfolgsmuster, son-
dern auch die Misserfolgsmuster übertragen wurden, und
zwar koste es, was es wolle.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Wir könnten das jetzt im Bildungs- und im Gesundheits-
wesen, im Steuerrecht sowie in der Umwelt- und in der
Verkehrspolitik durchgehen. Allerdings, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, wer ein Hartz-Konzept hei-
ligt und dieses ohne Rücksicht auf Verluste auch noch 1 : 1
auf die neuen Bundesländer überträgt, der ist kein Deut
klüger und auch kein Deut besser, der betreibt vielmehr die
Fortsetzung einer falschen Politik mit neuen Mitteln.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Zwei weitere aktuelle Beispiele: Sie verweigern die
Wiedereinführung einer Vermögensteuer und befürwor-
ten stattdessen einen Ablasshandel für Steuerflüchtlinge.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Das ist fatal, und zwar nicht nur, weil schon Luther, übri-
gens ein Ossi,


(Lachen des Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



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den erkauften Ablass als unmoralisch geächtet hat. Vor al-
lem verweigern Sie damit jenen Entlastung, die finanziell
am meisten gebeutelt sind, nämlich den Ländern und
Kommunen im Osten.

Ähnlich verhält es sich mit den jüngsten Tarifverein-
barungen im öffentlichen Dienst. Man mag ja das Er-
gebnis so oder so bewerten. Nur, eines ist auffällig: Hin-
tenherum wurde die Angleichung der Einkommen im
Osten an die im Westen um zwei weitere Jahre verscho-
ben. Das halte ich nicht nur Innenminister Schily vor; das
ist offensichtlich auch Verdi-Politik. Ich sage, es ist
falsche Gewerkschaftspolitik.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Es straft aber auch die rot-grüne Regierung Lügen; denn
Sie haben im Wahlkampf und in der Koalitionsvereinba-
rung anderes versprochen.

Nun wurde ich in dieser Woche von Journalisten ge-
fragt, warum ich zu Ihnen, Herr Minister Stolpe, so
garstig sei. Das bin ich mitnichten. Ich bin kritisch und
auch skeptisch. Ganz persönlich gesagt: Als Hoff-
nungsminister sind Sie nicht gestartet. Ich will nicht,
weder für Sie persönlich noch für die neuen Länder,
dass aus dem roten Adler irgendwann eine graue Maus
wird.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] – Ludwig Stiegler [SPD]: Der rote Adler wird die grauen Mäuse der PDS fressen!)


Es war der Kollege Schulz vom Bündnis 90/Die Grü-
nen, der jüngst öffentlich bedauert hat, dass drängende
Ostthemen im Bundestag kaum noch eine Rolle spielen,
seit es die PDS hier nicht mehr als Fraktion gibt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Das bedaure natürlich auch ich. Nur, Kollege Schulz – da-
mit wende ich mich auch an den Kollegen Hilsberg –, es
gibt zuweilen so etwas wie eine Delegierungskultur. Ich
kenne das auch aus meiner eigenen Partei. Das Thema
„neue Bundesländer“ können Sie aber nicht delegieren.
Rot-Grün steht in der Verantwortung.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist wahr und das ist gut so!)


Sie können diese Verantwortung nur teilen, wenn Sie
nicht von oben, sondern mit den Betroffenen regieren.

Deshalb möchte ich Ihnen von Rot-Grün zum Ab-
schluss auch noch einen Tipp geben. Bisher war der
Osten der Osten und für viele, für viele von Ihnen hier
im Hause, gar der ferne Osten. Mit der EU-Osterwei-
terung verschieben sich nun die Koordinaten. Die
neuen Bundesländer werden zur neuen Mitte. Wenigs-
tens das sollte doch die SPD anspornen, den Osten
Deutschlands endlich neu zu begreifen und auch erns-
ter zu nehmen.

Danke schön.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501906100

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika

Krüger-Leißner von der SPD-Fraktion das Wort.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1501906200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und

Herren! Die Diskussion um den Jahresbericht 2002 zeigt
wieder einmal ganz deutlich, wie die Opposition mit dem
erreichten Stand der deutschen Einheit umgeht. Es wer-
den wieder Vorurteile bedient. Leistungen werden mies
gemacht oder sogar ignoriert. Sie merken gar nicht, dass
Sie den Handelnden in den neuen Ländern damit unrecht
tun und dass Sie durch Ihre Miesmacherei auch das Anse-
hen Ostdeutschlands schädigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei möchte ich der Bundesregierung gerade für die-
sen aussagekräftigen Bericht danken.


(Lachen des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU])

Sie finden in diesem Bericht alle Maßnahmen. Sie können
sie klar erkennen. Sie können sie bewerten. Sie finden
dort unsere Zielrichtung und auch unsere Schwerpunkt-
setzung für den Aufbau Ost.

Zwei Ereignisse haben die Bemühungen der Regie-
rungskoalition im letzten Jahr deutlich gehemmt und dazu
geführt, dass viele Programme, die aufgelegt worden wa-
ren, noch nicht richtig greifen konnten. Das eine – das ist
auch schon erwähnt worden – war die Hochwasserkata-
strophe. Eine Reihe von Fortschritten bei der Infrastruk-
tur und beim Wirtschaftsaufbau in den neuen Ländern
wurde durch diese Naturkatastrophe zunichte gemacht.
Das hat uns tief getroffen. Die Bundesregierung hat
schnell und auch politisch richtig gehandelt. Die Wieder-
aufbauhilfen wurden durch die Verschiebung der Steuer-
reform um ein Jahr finanziert. Ich möchte noch einmal be-
tonen: Das war der richtige Weg.


(Jürgen Türk [FDP]: Woher wissen Sie denn das?)


Die von der Opposition damals geforderte Finanzierung
über Schulden hätte katastrophale Folgen für unser Ziel
der Konsolidierung des Haushalts, aber letztlich auch für
den Aufbau Ost bedeutet.

Es war imponierend und mitreißend, zu beobachten,
wie durch solidarisches Helfen bei der Flutkatastrophe
eine große Einigkeit der Bürgerinnen und Bürger gezeigt
wurde. Bei all den schlimmen Folgen für die Städte, für
die Gemeinden, aber auch für die einzelnen betroffenen
Menschen gab es doch eine gute Seite. Wir konnten näm-
lich erleben, dass es um die innere Einheit gar nicht so
schlecht bestellt ist.

Das zweite Ereignis war die Krise der Weltwirt-
schaft, die die neuen Länder besonders trifft. Es ist eine
Binsenwahrheit, aber es ist so: In einer Marktwirtschaft
hat die Politik nur begrenzt Einfluss auf die Konjunktur.
Wir können Rahmenbedingungen schaffen, wir können
sie verändern; den Hauptanteil an der konjunkturellen
Entwicklung hat die Wirtschaft aber selbst zu erbringen.

Petra Pau




Angelika Krüger-Leißner

Was unsere Aufgabe angeht, so haben wir – das kön-
nen Sie nachlesen – einiges auf den Weg gebracht. Der
Solidarpakt II gibt uns Planungssicherheit für 15 Jahre.
Die Programme zur Verbesserung der Infrastruktur vom
Stadtumbau bis hin zu den Verkehrsprojekten – Minister
Stolpe hat sie erwähnt – bringen uns voran.

Dennoch klaffen strukturelle Unterschiede in der Wirt-
schafts- und Infrastruktur zu den alten Bundesländern.
Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Ost-
deutschland liegt weiter hinter dem im Westen zurück.
Angesichts der Tatsache, dass das Wohlstandsniveau bei
nur 60 Prozent des Westniveaus liegt, erscheint dies dra-
matisch.

Wenn wir genauer hinschauen, dann stellen wir auch
fest, dass ein Hauptgrund für diese Tatsache die Krise der
Bauindustrie ist. Rechnet man die die Bauindustrie be-
treffenden Daten heraus, so zeigt sich, dass die Wachs-
tumsraten des Bruttoinlandsproduktes in den neuen Län-
dern immer noch doppelt so hoch wie im Westen sind.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)


Das beste Beispiel ist – das haben wir gehört – das verar-
beitende Gewerbe. Zur Wahrheit gehört auch: Die Pro-
duktivität in den neuen Ländern wächst kontinuierlich.
Sie liegt jetzt bei 70 Prozent des Westniveaus. Auch die
Exportquote hat sich seit 1995 verdoppelt.

Die Krise der Bauindustrie macht aber diese – an sich
positiven – Werte zunichte. Gerade die Kollegen der Op-
position müssten eigentlich wissen, dass dieses Problem
hausgemacht ist. Die einseitige Förderung der Bauindus-
trie durch die Regierung Kohl hat auf diesem Gebiet
enorme Überkapazitäten geschaffen. Meine Damen und
Herren auf der rechten Seite dieses Hauses, das geht auf
Ihr Konto.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es! Schwarze Steuergeschenkpolitik!)


Wie stark diese Auswirkung ist, belegen auch einige
Zahlen. Die Bruttowertschöpfung im ostdeutschen Bau-
gewerbe sinkt seit 1996 jährlich um 8,5 Prozent. Auch die
Beschäftigungszahlen sind seit 1996 halbiert. Genau
diese Zahlen hat Herr Vaatz erwähnt, als er über die ver-
lorenen Arbeitsplätze sprach. Die Auswirkungen auf die
Wirtschaftsentwicklung und auf den Arbeitsmarkt sind
deutlich sichtbar. Eines ist aber auch klar: Die Umstellung
der Förderung durch die Bundesregierung seit 1998 war
richtig und notwendig.

Abgesehen von den mit diesen Daten zum wirtschaft-
lichen Aufholprozess verbundenen Schwierigkeiten gibt
es ein ganz großes Problem im Osten, das wir angehen
müssen: den dramatischen Mangel an produktiven Ar-
beitsplätzen und die hohe Arbeitslosigkeit. Gerade in die-
sem Bereich ist das Erreichen des Westniveaus wichtiger
als irgendwo sonst. Nichts trägt zur Verwirklichung der
inneren Einheit mehr bei als Arbeitsplätze.

Das von der Opposition immer wieder gescholtene
Hartz-Konzept geht hierbei in die richtige Richtung.
Durch die Gesetze zur Umsetzung des Hartz-Konzeptes

und die Mittelstandsoffensive der Bundesregierung eröff-
nen sich in der Tat viele Chancen, die Arbeitslosigkeit zu
verringern. Ich denke dabei an die Kompetenzcenter, die
den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftspolitik vernetzen
werden. Wir werden regional intelligente Strategien um-
setzen können, um Arbeit und Beschäftigung zu schaffen.
Ich denke auch an den Aufbau von Clustern in struktur-
schwachen Regionen in Ostdeutschland.

Aber wir werden auch die Förderung von Existenz-
gründungen verstärken und damit neue Unternehmen
schaffen. Die Ich-AGs bieten Raum für Kleinstunterneh-
men und das Programm „Kapital für Arbeit“ verbindet In-
vestitionsförderung mit Beschäftigungswirksamkeit. Das
wird auch in den neuen Ländern angenommen.

Darüber hinaus hat die Hartz-Kommission die eigentli-
che Misere des Ostens erkannt und auf ein kommunales
Infrastrukturprogramm gesetzt. Das schafft wichtige
Voraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmen und
fördert gezielt die Wirtschaft. Es wird auch in beschäfti-
gungsintensiven Bereichen neue Arbeitsplätze bringen.

Die vorgeschlagene Finanzierung über Betreibermo-
delle und langfristige Kommunaldarlehen werden die
kommunalen Haushalte entlasten. Diese Vorschläge wer-
den wir prüfen und deren Umsetzung werden wir ermög-
lichen.

Ich könnte noch eine Reihe anderer Punkte nennen.
Klar ist: Das Hartz-Konzept stellt auch einen wichtigen
Beitrag zum Aufbau Ost dar. Es schafft mittelfristig die
richtigen Impulse für den Arbeitsmarkt. Wir werden es
vollständig umsetzen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Prozess
des Aufbaus Ost schreitet weiter voran. Der Bericht hat es
deutlich belegt. Wir haben die richtigen Instrumente und
wir haben die Weichen in der Wirtschafts- und Arbeits-
marktpolitik richtig gestellt.


(Jürgen Türk [FDP]: Die Sachverständigen sehen das ganz anders!)


Wie weit wir damit schon der Einheit von Ost und West,
der alten und neuen Bundesländer


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Entfernt sind!)


nahe gekommen sind, weiß wohl keiner so genau zu sagen.
Aber ich sehe Ähnlichkeiten mit einem Marathonlauf: Wir
haben das Ziel vor Augen. Auch ein Läufer muss in der
zweiten Hälfte hart mit sich kämpfen und durchhalten.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Vor allem muss er wissen, wo er ist!)


Wir sind auf der zweiten Wegstrecke und wir alle müssen
mitziehen.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501906300

Das Wort hat der Kollege Volkmar Uwe Vogel von der

CDU/CSU-Fraktion.


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Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1501906400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Die Bundesregierung hat ihren Jahresbericht 2002
vorgelegt. Richtigerweise hat sie in diesem Zusammen-
hang darauf hingewiesen, dass eine belastbare Infrastruk-
tur die Grundlage für einen zukunftsfähigen Wirtschafts-
standort Deutschland ist. Die Grundlage jedoch, meine
sehr verehrten Damen und Herren, auf der Sie aufbauen,
ist der Bundesverkehrswegeplan, den die Regierung
Helmut Kohl erarbeitet hat. Bei Berichten und bei Ankün-
digungspolitik allein darf es nicht bleiben. Wir brauchen
keine Berichte. Wir brauchen Taten!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Siegfried Scheffler [SPD]: Wo 100 Milliarden gefehlt haben!)


Dass der Aufbau Ost wegen Ihrer Wirtschaftspolitik ins
Stocken geraten ist, erwähnen Sie in Ihrem Bericht nicht.
Das erfahren wir von den Sachverständigen. Es ist dabei
eine Zumutung, dass die Bedingungen für eine vitale In-
frastruktur der neuen Länder und dringend notwendige
Verbesserungen insgesamt auf nur zwei – ich wiederhole:
auf nur zwei – Seiten beschrieben worden sind. Für die
Landwirtschaft – das kam an dieser Stelle überhaupt
noch nicht zur Sprache – hatte man auch nur gerade vier
Seiten übrig. Hinweise auf die bestehenden Infrastruktur-
lücken fehlen in Ihrem Bericht ganz. Der Vorrang der
neuen Länder beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
scheint Ihnen allein durch die prozentuale Zuordnung von
Haushaltsmitteln sichergestellt zu sein. Ob diese Mittel
aber auch tatsächlich zur Verfügung stehen,


(Siegfried Scheffler [SPD]: Schauen Sie in unser Investitionsprogramm!)


bleibt wie vieles in Ihrem Bericht unklar.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Straßen,

Schienen, Leitungsnetze, also unsere gesamte Infrastruk-
tur, machen nicht vor Verwaltungsgrenzen Halt. Mobilität
für alle Bürger ist notwendiger denn je, und das ganz be-
sonders im Osten unseres Landes. Mobilität ist auch immer
ein Ausdruck von Freiheit – Freiheit, die den Menschen in
40 Jahren DDR verwehrt wurde. Durch Beschränkung der
Mobilität und Kontrolle der Kommunikation wurde die
Freiheit der Menschen bewusst begrenzt.

Wer zwölf Jahre nach der Einheit ehrlichen Herzens
die Angleichung der Lebens- und Lohnverhältnisse
zwischen den alten und neuen Bundesländern erreichen
will, muss Entscheidendes auch bei der Infrastruktur tun.
Gerade hier gibt es noch die größten Unterschiede zwi-
schen Ost und West. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass
die Menschen in meiner Heimat genauso fleißig wie in an-
deren Teilen unseres Landes arbeiten. Die Unterschiede in
der Produktivität, die es ja leider immer noch gibt


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Die Thüringer brauchen sich über Infrastruktur nicht zu beklagen! – Siegfried Scheffler [SPD]: Sie müssen mit Minister Schuster sprechen!)


– ich spreche hier nicht über Thüringen, sondern über den
gesamten Osten; aber auch in Thüringen besteht natürlich
noch ein enormer Nachholbedarf –,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

sind vor allem auf schlechtere Standort- und natürlich In-
frastrukturbedingungen in den neuen Ländern zurückzu-
führen. Diese Defizite führen zu erheblichen Zeit- und
Produktivitätsverlusten im Osten.


(Jürgen Türk [FDP]: Schlechtere Rahmenbedingungen werden immer weiter verschlechtert!)


Das Gebiet zwischen Halle/Leipzig, Gera, Jena und
Chemnitz bezeichnet man als den mitteldeutschen Wirt-
schaftsraum, der vor dem Zweiten Weltkrieg zu den
stärksten Wirtschaftsregionen in Deutschland und in ganz
Europa zählte. Was Krieg und Sozialismus zerstörten, gilt
es wieder zu aktivieren und dabei in die gesamteuropä-
ische Entwicklung einzubetten. Effektive, aber auch at-
traktive und moderne Verkehrsanbindungen sind standort-
entscheidend für Investoren und damit für Arbeitsplätze
in unserem Land. Daher plädiere ich für die Durchführung
aller wichtigen Verkehrsprojekte, so das Verkehrsprojekt
„Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2,


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das hat der Minister genannt!)


das Sie fortführen wollen. Allerdings fehlt jeglicher Hin-
weis, ob die gesamte Finanzierung gesichert ist und in
welchem Umfang die Deutsche Bahn an dieser Stelle Ver-
antwortung übernehmen will und auch wirklich kann.

Ebenso wichtig ist es, die Vollendung der Mitte-
Deutschland-Schienenverbindung in Angriff zu nehmen,
damit diese Strecke bis spätestens 2015 zweigleisig und
elektrifiziert zur Verfügung steht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein weiteres wichtiges Verkehrsprojekt ist der Ausbau
der A 72, die wichtige Oberzentren in Mitteldeutschland
miteinander verbindet. Der Nutzen wird die Kosten um
das Elffache übersteigen. Im Hinblick auf die Fuß-
ball-WM 2006 in Leipzig, die Bundesgartenschau 2007,
die in Gera und Ronneburg stattfinden wird, und Leipzigs
Olympiabewerbung für 2012 – Kollege Kuhn hat das ein-
drucksvoll beschrieben – ist es dringend erforderlich,
dieses Projekt rasch in die Tat umzusetzen und in den vor-
dringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufzu-
nehmen.

Dies sind nur unvollständige Beispiele für wichtige
überregionale Projekte, die in den letzten vier Jahren nicht
vorankamen. Fatal ist, dass damit die begleitende kom-
munale Infrastruktur ins Stocken kam.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501906500

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1501906600

Ja, ich bin gleich fertig. – Brücken, Autobahnan-

schlüsse, Umgehungsstraßen und Erschließungen blieben
liegen. Jetzt fehlt den Kommunen das Geld für deren Rea-
lisierung. Über den Ausbau der Bundesstraßen darf die




Volkmar Uwe Vogel
Ertüchtigung der kommunalen Infrastruktur in den nächs-
ten Jahren auf keinen Fall vergessen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, beleben Sie den stockenden
Ausbau der Infrastruktur im Osten unseres Landes! Ma-
chen Sie den Osten wirklich zur Chefsache – auch wenn
der Chef heute wieder nicht da ist! Bei allen finanziellen
Schwierigkeiten: Bedenken Sie die Langzeitfolgen! Se-
hen Sie diese Investitionen als Teil eines Generationen-
vertrages, als Investition auch für unsere Nachkommen,
so wie wir heute von vielen weitsichtigen Verkehrspla-
nungen früherer Zeiten profitieren.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501906700

Herr Kollege Vogel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-

ten Rede im Deutschen Bundestag. Ich habe deshalb bei
der Redezeit beide Augen zugedrückt.


(Beifall)

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 14/9950 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Zusätzlich soll sie
aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung an den
Tourismusausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang

(Heilbronn)

der CDU/CSU
Deutschland wirksam vor Terroristen und Ex-
tremisten schützen
– Drucksache 15/218 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner zu die-
sem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Wolfgang
Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1501906800

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Bundesminister Schily, Sie haben vor kurzem
gesagt:

Die Bedrohung durch den internationalen islamis-
tisch-fundamentalistischen Terrorismus – das ist eine
realistische Einschätzung – hat zugenommen. Wir se-
hen die breite Blutspur des Terrors und wir müssen lei-
der voraussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird.

Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes sagt:
Wir sehen zurzeit keine Entwarnung. Wir sehen eher
ein Anwachsen dieser Aktivitäten ... Es finden Re-
krutierungen statt.

Der renommierte Terrorismusforscher Tophoven
meint:

Trotz der Zerschlagung der al-Qaida-Basen in Af-
ghanistan ist der Terror durch diese Gruppe noch
lange nicht gebannt. Im Gegenteil: Die Kommandos
formieren sich gerade neu und sind weltweit ver-
streut ...

Es gibt leider keinen Grund zu der Annahme, dass
diese Sicherheitsanalysen, die Darstellungen dieser Be-
drohungsszenarien falsch sind. Gerade weil wir Grund zur
Annahme haben, dass die Bedrohungsanalysen zutreffend
sind, ist die standhafte Weigerung der rot-grünen Koali-
tion, offensichtliche Schutzlücken zu schließen, unver-
antwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Vermutlich werden heute die Rednerinnen und Redner

der Koalition von dieser Stelle aus behaupten, man habe
ja alles getan, was nach den Ereignissen vom 11. Septem-
ber habe getan werden müssen. Diese Argumentation ist
ebenso richtig wie falsch. Es ist richtig, dass zwei Anti-
terrorpakete geschnürt worden sind und auch Maßnah-
men – zum Teil längst überfällige – beschlossen wurden.
Wir haben diese Maßnahmen mitgetragen. Richtig ist aber
auch, dass Sie nur das beschlossen haben, worauf Sie sich
mit Mühe und Not einigen konnten, und nicht etwa das,
was im Interesse der Sicherheit unseres Landes dringend
hätte getan werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Die Gefahren, die vom internationalen Terrorismus
ausgehen, kann man nicht mit halber Kraft und nicht mit
angezogener Handbremse bekämpfen. Was wir brauchen,
ist Entschlossenheit. Wir brauchen aber keine Kompro-
misse zulasten der Sicherheit unseres Landes. Aber genau
solche Kompromisse haben Sie geschlossen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unser Sicherheitsnetz hat nach wie vor eine ganze

Reihe von Lücken. Diese Lücken müssen wir schließen,
eher heute als morgen. Wir belassen es aber nicht bei die-
ser Kritik, sondern wir unterbreiten ganz konkrete Vor-
schläge.

Sie rühmen sich beispielsweise, eine Strafbarkeits-
lücke geschlossen zu haben. Seit einiger Zeit ist die in-


(A)



(B)



(C)



(D)


1468


(A)



(B)



(C)



(D)






ländische Unterstützung einer ausländischen Terror-
gruppe nach § 129 b StGB strafbar. Das war aber nur Zug
um Zug gegen Erfüllung eines uralten Wunsches der Grü-
nen möglich, nämlich die Sympathiewerbung für terro-
ristische Vereinigungen endlich straflos zu stellen. Das
führt zu dem absurden Ergebnis, dass es zwar vor dem
11. September 2001 strafbar war, beispielsweise für das
Terrornetzwerk al-Qaida Werbung zu machen, dass es
aber nach den mörderischen Anschlägen straflos ist. Das
ist für uns ein unerträglicher Zustand, der geändert wer-
den muss.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir dürfen niemanden einbürgern, von dem wir wis-

sen, dass er extremistischen Organisationen angehört oder
gar terroristische Aktivitäten unterstützt. Ich möchte nur
ein einziges Zitat aus der Originalurteilsbegründung des
Oberlandesgerichts Düsseldorf im so genannten Kaplan-
Prozess anführen:

Was aber der besonderen Erwähnung bedarf, ist Fol-
gendes: Nahezu mit Verblüffung musste der Senat
zur Kenntnis nehmen, dass eine Vielzahl von Zeugen
aus den Reihen des Kaplan-Verbandes, und davon
nicht wenige mit inzwischen deutscher Staatsan-
gehörigkeit, mit einer kaum zu glaubenden Unver-
blümtheit oder besser Unverfrorenheit erklärten,
dass für sie auch hier in Deutschland nicht die deut-
schen Gesetze, ja nicht einmal die deutsche Verfas-
sung, sondern das islamische Recht, die Scharia,
maßgeblich sei.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Der Kollege Beckstein hat gesagt, eine Regelanfrage
beim Verfassungsschutz ist zwingend notwendig. Wenn
dort Erkenntnisse vorliegen, dass jemand terroristische
Aktivitäten unterstützt, dann dürfen wir ihn nicht einbür-
gern. In der Sendung von Sabine Christiansen sagte Herr
Schily, dass in diesem Punkt Herr Beckstein völlig Recht
habe. Daraufhin fällt Claudia Roth in Ohnmacht und sagt:
Unmöglich!

Also sucht man nach einem Kompromiss. Wir fragen:
Wie steht es in Sachen Verhinderung der Einbürgerung
von Extremisten und Terroristen? Antwort der Bundesre-
gierung – noch druckfrisch vom 9. Januar 2003 –:

Nach dem 11. September haben alle Innenminister
und alle Innensenatoren der Länder von sich aus ob-
ligatorische Regelanfragen eingeführt.

Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Was heißt „Rhabarber“? Tatsachen sind das!)


Diese Antwort ist in dreifacher Hinsicht interessant.
Erstens. Offensichtlich kennt die Bundesregierung die
Rechtslage, jedenfalls die Verwaltungspraxis der Länder,
selber nicht. Zweitens. Es gibt Länder – allesamt unions-
regiert –, die bereits vor dem 11. September von sich aus
solche Regelanfragen eingeführt haben. Drittens. Es er-
gibt sich ein buntes Bild. Einige Länder gehen nur nach
bestimmten Staatenlisten vor; andere werden nur aktiv,
wenn sich ein Verdacht ergibt. Wiederum andere differen-

zieren bei der Einbürgerung zwischen Rechtsanspruch
und Ermessen. Die originellste Regelung hat das Land
Schleswig-Holstein. Dort gibt es Anfragen nämlich nur
dann, wenn der betroffene Einbürgerungsbewerber seine
Zustimmung erteilt.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Das ist doch absurd. Was wir brauchen, ist eine bun-

deseinheitliche Regelanfrage. Wenn nur ein einziges Land
eine Schutzlücke aufweist, dann wirkt sich das auf alle an-
deren Bundesländer aus, auch auf solche, die eine Regel-
anfrage haben. Denn wir können nicht verhindern, dass es
in unserem Land Wanderungsbewegungen gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nächster Punkt: Kronzeugenregelung.Gerade bei der

Bekämpfung von ethnisch geschlossenen Tätergruppen,
wo wir keine Erkenntnisse mit dem klassischen Instru-
mentarium verdeckter Ermittler gewinnen können, sind
wir nun einmal leider auf Aussagen von Täterzeugen an-
gewiesen, um Straftaten aufzuklären und neue Straftaten
zu verhindern.

Otto Schily sagte an dieser Stelle am 15. November 2001
unter Bezugnahme auf diese Forderung von mir:

Ich stimme Ihnen aber insoweit zu, als wir dort etwas
zustande bringen müssen. Das ist ein Appell an die
Grünen, sich in dieser Frage etwas hurtiger zu bewe-
gen, als dies bisher der Fall war.

Dann tut sich erst einmal ein Jahr lang nichts und dann
kommt es zu einem Koalitionsvertrag mit einer nebulö-
sen Formulierung. In der Pressekonferenz wird der
Bundesinnenminister gefragt: Heißt das, es gibt eine
neue Kronzeugenregelung? – Antwort: Ja. – Dann wird
der Rechtsexperte der Grünen gefragt: Ist das die neue
Kronzeugenregelung? – Er sagt: Nein.

So kann man sich über Parteitage retten, aber so kann
man den Terrorismus nicht bekämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn es Ihnen so unendlich schwer fällt, der Union

Recht zu geben, hören Sie doch wenigstens auf die Ex-
perten. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter: Islamisten
lachen über Rasterfahndung; Kronzeugenregelung gefor-
dert. Bundeskriminalamt fordert neue Kronzeugenrege-
lung. Kersten, der Präsident des BKA: So können wir Ter-
rornetzwerke aufdecken.

Hören wir auf diejenigen, denen wir unsere Sicherheit
anvertrauen. Die Experten, die Praktiker werden am ehes-
ten wissen, was sie brauchen, um Kriminellen und Terro-
risten das Handwerk zu legen.

Die so genannte Verdachtsausweisung ist auch ein
originelles Kapitel. Wir müssen im Ausländerrecht die
Voraussetzungen dafür schaffen, bei begründetem Terror-
verdacht – wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme
rechtfertigen, dass jemand einer terroristischen Vereini-
gung angehört oder diese unterstützt – die Einreise zu ver-
hindern und den weiteren Aufenthalt im Lande zu been-
den, und zwar eher heute als morgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wolfgang Bosbach




Wolfgang Bosbach
Sagen Sie bitte nicht: Genau das steht im Gesetz. Genau
das steht nämlich nicht im Gesetz. Ich zitiere aus einem
Antrag des Landes Niedersachsen, SPD-regiert, wenn
auch nur noch 17 Tage.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Das haben Sie im September auch geglaubt! – Weiterer Zuruf von der SPD: Die Sprüche kennen wir!)


– Apropos Niedersachsen. Ich zitiere aus einer druckfri-
schen Pressemeldung der Niedersachsen-Kampa der SPD
vom 15. Januar:

Niemand soll uns vorwerfen, wie hätten nicht vor
Wulff gewarnt. Wulff ist nicht nur der blasse Leise-
treter und Warmduscher, als der er gemeinhin im
Lande gilt, er ist ein strammer Konservativer, der das
Rad der Geschichte zurückdrehen will. Er will einen
Polizei- und Überwachungsstaat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine Unverschämt heit!)

Wie verzweifelt und geistig verwirrt muss man eigentlich
sein, um einen solchen Text in der Bevölkerung zu ver-
breiten? Diese Frage müssen Sie mir einmal beantworten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Recht hat er!)


Ich zitiere aus der Bundesratsinitiative:
Ausweisung, wenn Tatsachen die Annahme rechtfer-
tigen, dass er einer Vereinigung angehört, die den in-
ternationalen Terrorismus unterstützt.

Diesen Vorschlag haben Sie abgelehnt. Sie haben statt-
dessen in das Gesetz den Begriff „Beleg“ aufgenommen.
Ein Beleg ist nichts anderes als ein Beweis. Wir reden
nicht von Gerüchten, wir reden nicht von übler Nachrede,
sondern wir reden von Tatsachen. Wenn Tatsachen vorlie-
gen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Belegte Tatsachen!)


die die Annahme rechtfertigen, dass jemand einer terroris-
tischen Vereinigung angehört, dann muss das Interesse
des Landes an der Beendigung des Aufenthalts zum
Schutz der Bevölkerung Vorrang haben vor dem Aufent-
haltsinteresse des betroffenen Ausländers.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst wenn die Annahme irrig ist! Selbst wenn alles Unsinn ist!)


Letzter Punkt: Einsatz der Bundeswehr im Innern.
Es geht uns nicht darum, die Bundeswehr zu einer Art
zweiter Bereitschaftspolizei zu machen. Wenn wir Defi-
zite bei der Bekämpfung der Kriminalität haben, dann
müssen wir die Polizei des Bundes und der Länder perso-
nell und technisch in die Lage versetzen, die Gefahren ab-
zuwehren. Es geht uns nur um die Fallkonstellation, bei
der erkennbar nur die Bundeswehr die technischen und
personellen Fähigkeiten hat, um eine Gefahr abzuwehren,
ganz gleich, ob sie auf dem Boden oder aus der Luft droht.
Das gilt nicht nur im Bereich des Luftangriffes, des Air Po-

licing. Das kann auch bei der Abwehr von ABC-Gefahren
und dem Schutz ziviler Objekte, beispielsweise dem Schutz
von Flughäfen, Atomkraftwerken und Trinkwassertalsper-
ren, gelten.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Aufgabe der Polizei!)


Wir können auf diesen Schutz nicht verzichten, wenn
wir eine besondere Gefährdungssituation haben, die we-
der einen Spannungsfall noch einen Verteidigungsfall
noch eine Naturkatastrophe darstellt. Wenn man sagt:
„Wir können ja die Regelung der Amtshilfe oder die des
übergesetzlichen Notstands heranziehen“, dann wird da-
mit die Verfassung überdehnt, was nur so lange gut geht,
wie sich alle Beteiligten darüber einig sind, dass so ver-
fahren werden soll. In dem Augenblick, in dem ein Scha-
densfall eintritt – möglicherweise in einer Dimension, die
wir uns alle weder wünschen noch vorstellen –, wird es zu
einer verfassungsrechtlichen Überprüfung kommen und
dann werden sich zig Juristen monatelang über diese
Frage beugen, die die Praktiker in wenigen Sekunden ha-
ben entscheiden müssen, ohne dass es hierfür irgendeine
rechtliche oder praktische Regelung gibt. Für uns ist das
ein unerträglicher Zustand.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich kann den Bundesminister der Verteidigung nur da-

rum bitten, bei seiner Haltung zu bleiben. Denn er als In-
haber der Befehls- und Kommandogewalt muss in einer
Gefahrenlage in Bruchteilen von Sekunden entscheiden,
was zu geschehen hat. Die Entscheidung kann grausam
falsch sein, egal wie sie fällt, ob Abschuss ja oder nein. Es
kann richtig und unabwendbar sein; es kann aber auch
falsch sein. In diesem Fall hat man aber keine Zeit für lange
verfassungsrechtliche Erörterungen oder zur Regelung von
Verfahren. Dafür muss es ein klares Regelwerk geben.

Lieber Hans-Peter Kemper, du sagst: Wir wollen die
klassische Trennung von Polizei und Bundeswehr nicht
aufheben, es soll bei der derzeit im Grundgesetz festge-
legten Trennung bleiben.


(Hans-Peter Kemper [SPD]: So ist es!)

Hast du irgendeinen Grund zu der Annahme, dass sich die
Terroristen danach richten? Ich habe die große Befürch-
tung, dass diesen die Kompetenzverteilung im Grundge-
setz egal ist.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Blödsinn!)


Wir wissen, dass mit militärischen Mitteln im Inland an-
gegriffen werden kann. Deswegen wollen wir die Bevöl-
kerung nicht schutzlos lassen, wenn nur die Bundeswehr
einen Schutz bieten kann.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dem ist aber auch alles recht! Schmutzig!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501906900

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Kemper von

der SPD-Fraktion.


(A)



(B)



(C)



(D)


1470


(A)



(B)



(C)



(D)







Hans-Peter Kemper (SPD):
Rede ID: ID1501907000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Lieber Wolfgang Bosbach, ich bin froh, dass ich be-
reits durch den Redner der Union angekündigt worden
bin. Das überbrückt aber nicht die Gegensätze, die wir in
dieser grundlegenden Frage haben. Die Gewährleistung
der inneren Sicherheit ist Aufgabe der Polizei und der
dafür in der Verfassung benannten Dienste – und nicht der
Bundeswehr. Die ist dafür nicht ausgerüstet. Die hat dafür
auch keine entsprechende Ausbildung und keinen Verfas-
sungsauftrag.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin aber froh – deswegen möchte ich erst einmal
meinen Dank an die Opposition richten –, dass Sie und
Ihre Partei den vorliegenden Antrag gestellt haben – nicht,
weil er so gut ist. Mitnichten! Das ist klar. Aber Sie haben
endlich dafür gesorgt, dass das wichtige Thema der inne-
ren Sicherheit, worüber wir in den vergangenen zehn Jah-
ren immer nur in den Abend- und Nachtstunden diskutiert
haben, zur Kernzeit und damit öffentlich debattiert wird.
Sie haben dafür gesorgt, dass wir die Möglichkeit haben,
unsere gute Innenpolitik und besonders die gute Politik,
die wir seit Jahren im Bereich der inneren Sicherheit er-
folgreich praktizieren, darzustellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr überzeugend!)


Es ist gute sozialdemokratische Politik, dafür zu sor-
gen, dass die Menschen in unserem Land ohne Angst le-
ben können. Denn ein Leben in Sicherheit, ein Leben
ohne Angst ist ein Stück Lebensqualität. Das ist die
Überzeugung der Sozialdemokraten und dafür stehen
dieser Innenminister, diese Regierung und diese Koali-
tion.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigen
eindeutig die Richtigkeit unserer Innen- und Sicherheits-
politik. Die Bundesrepublik gehört im internationalen
Vergleich zu den sichersten Staaten der Welt. Der Anteil
der Schwerstkriminalität geht zurück. Diese Debatte wird
deutlich machen, dass die innere Sicherheit bei der Koali-
tion und der Regierung in guten Händen ist, auch wenn
die Opposition mit ihrem Antrag krampfhaft versucht, ei-
nen anderen Eindruck zu erwecken.

Wir haben engagierte und motivierte Sicherheitsdiens-
te, angefangen von den Länderpolizeien über den Bun-
desgrenzschutz und die Verfassungsschutzorgane bis hin
zu den Katastrophenschutzeinrichtungen. Sie alle haben
in der Vergangenheit, besonders aber nach dem 11. Sep-
tember gezeigt, dass sie bereit sind, ein Höchstmaß an Si-
cherheit zu produzieren. Auf das gesamte Sicherheitspa-
ket der Bundesregierung, das Herr Bosbach gerade
angesprochen hat, will ich nicht eingehen. Vielmehr will
ich mich, weil Sie mit Ihrem Antrag auf die Zeit nach dem
11. September abzielen, nur auf diesen Zeitraum be-
schränken.

Nach den fürchterlichen Anschlägen vom 11. Septem-
ber haben wir in mehreren Antiterrorgesetzen den recht-
lichen und finanziellen Rahmen für zusätzliche und in-
tensivere Maßnahmen zur Terrorbekämpfung geschaffen.
Ich will nur stichpunktartig darauf eingehen.

Unter strenger Beachtung der Rechtsstaatlichkeit haben
wir der Polizei, dem Bundesgrenzschutz, dem BKA, Eu-
ropol, den Diensten und hier ganz besonders dem Verfas-
sungsschutz in den Bereichen Post, Luftfahrtunternehmen,
Telekommunikationsunternehmen und Dienstleistungsun-
ternehmen zusätzliche und bessere Kompetenzen gege-
ben.

Wir haben den rechtlichen Rahmen für bessere und si-
cherere Personenidentifizierungen geschaffen. Wir haben
die Bereitschaftspolizeien der Länder erheblich verstärkt.
Wir haben gerade im Bereich der Luftsicherheit viele
Dinge auf den Weg gebracht, die längst überfällig waren, so
die bessere Bestreifung der Flughäfen, bessere Zugangs-
kontrollen und bessere Gepäckkontrollen. Seit dem 1. Ja-
nuar sind diese besseren Kontrollen auch auf europäischer
Ebene bestätigt, denn nunmehr wird jedes Gepäckstück
lückenlos kontrolliert. Wir kontrollieren die Fluggäste
besser, aber auch das Personal, das auf den Flughäfen be-
schäftigt ist.

Wir haben eine Flugbegleitung organisiert, qualifiziert
und motiviert. Die so genannten Skymarshals gewährleis-
ten auf bestimmten Flügen eine deutliche Steigerung der
Flugsicherheit. Wir haben – ebenfalls unter strenger Be-
achtung der Rechtsstaatlichkeit – den Datenaustausch zwi-
schen den Behörden verbessert.

Das alles waren Maßnahmen, die längst überfällig wa-
ren.

Wir haben das Vereinsgesetz verändert; damit wurde
unter bestimmten Voraussetzungen auch das Religions-
privileg abgeschafft. Ich will gar nicht verhehlen, dass es
auch mich geärgert hat, wenn Kaplan oder andere auftra-
ten und unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit oder
des Religionsprivilegs ihre Parolen verkündeten.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das kann man so sagen!)


Aber wir haben Abhilfe geschaffen. Im Gegensatz zu Ih-
nen haben wir die Gesetze verändert; die Situation war in
den 16 Jahren zuvor nicht anders. Kaplan war vorher auch
da. Aber diese Regierung, dieser Innenminister hat es
geändert. Als Konsequenz aus dieser Maßnahme sind in
der Zwischenzeit entsprechende Vereinsverbote ergan-
gen, auch im Hinblick auf Gruppen, die seit langem hier
tätig waren.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben Vorkehrungen getroffen, die die Einreise
von Terroristen in die Bundesrepublik verhindern bzw. die
es ermöglichen, solchen Gruppen zugehörige Personen
wieder auszuweisen, wenn sie denn schon hier sind.

Nun komme ich kurz auf den Antrag der CDU/CSU zu
sprechen. Sie fordern, die Einreise von Terroristen zu
verhindern. Da frage ich mich: Wer will das denn nicht?




Hans-Peter Kemper
Glauben Sie, Sie allein wollten das? Das, was Sie in dem
Antrag fordern, ist doch längst Realität.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Nein!)

Nach dem Ausländergesetz werden Personen, die die frei-
heitlich-demokratische Grundordnung oder die Sicherheit
der Bundesrepublik gefährden, sich an Gewalttätigkeiten
beteiligen, zu Gewaltanwendungen aufrufen, mit Gewalt-
anwendung drohen oder einer Vereinigung angehören, die
den internationalen Terrorismus oder derartige Vereini-
gungen unterstützt, gar nicht ins Land gelassen bzw. wie-
der ausgewiesen, wenn sie sich im Land befinden.

Ich führe ein anderes Beispiel an; Herr Bosbach hat die
Regelanfrage angesprochen. Die Regelanfrage wird in
den Bundesländern längst praktiziert,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Was ist denn mit Schleswig-Holstein?)


und zwar von allen Bundesländern. Genauso ist es mög-
lich, erkennungsdienstliche Behandlungen im Rahmen
des jetzt geltenden Ausländerrechts durchzuführen. Wir
hatten im Zuwanderungsgesetz einige Verstärkungen und
Verschärfungen vorgesehen, die auch in Ihrem Sinne ge-
wesen wären. Sie haben dieses Zuwanderungsgesetz zu
Fall gebracht.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Weil wir ein besseres wollen!)


Die von Ihnen jetzt beklagte Situation – fehlende Integra-
tion, unkontrollierte und ungesteuerte Zuwanderung – ist
auf der Basis des alten Rechtszustandes, den Sie lange
Jahre zu vertreten hatten, entstanden.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Verfassungsbrecher Wowereit!)


Wir wollten das ändern, Sie haben es verhindert. Bejam-
mern Sie also nicht die Ergebnisse Ihrer eigenen Politik!


(Beifall bei der SPD)

Da ich mich nicht zu lange mit Ihrem Antrag aufhalten

will, nenne ich nur noch ein letztes Beispiel.

(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist der Tagesordnungspunkt!)

Die Union behauptet in ihrem Antrag, dass es Defizite im
Katastrophenschutz gibt. Ich will nicht bestreiten, dass
es da eine Menge zu verbessern gibt, aber es gehört auch
zur historischen Wahrheit, dass es die Vorgängerregierung
unter Ihrem Innenminister Kanther war, die den Katastro-
phenschutz massiv zurückgefahren hat.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Mit Ihrer Zustimmung!)


Das war ein Innenminister, von dem Sie heute nicht mehr
so viel wissen wollen, weil er sich im Dunstkreis der or-
ganisierten Kriminalität bewegt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Und ihr wart dagegen!)


Ich habe die Worte des Innenministers noch genau im
Ohr. Er hat gesagt: Wir haben nach der deutschen Einheit

und den Veränderungen in Europa eine veränderte Bedro-
hungslage, wir müssen den Katastrophenschutz zurück-
führen. Sie haben den BVS platt gemacht und hoch qua-
lifizierte und engagierte Leute auf die Straße geschickt
bzw. völlig unsinnig im Langen Eugen Feuerstreife laufen
lassen. Sie haben den Sirenenalarm ohne adäquaten Er-
satz abgeschafft. Sie haben das THWdrastisch verringert.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wo ist der Ersatz?)


Ich habe noch genau vor Augen, wie die Ortsverbände
des THW in Nordrhein-Westfalen um ihre Existenz
gekämpft und verloren haben, weil Sie und der Innenmi-
nister es nicht wollten. Wir sind diesen Weg – da haben Sie
Recht – zu großen Teilen mitgegangen. Das ist überhaupt
keine Frage,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie wollen noch mehr kürzen!)


aber wir stehen auch heute noch dazu, während Sie in
Ihrem Antrag den Eindruck erwecken, als ob wir das zu
verantworten hätten.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Wo steht das denn?)


Sie bejammern die Früchte Ihrer eigenen Politik und Ih-
res eigenen Fehlverhaltens.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben die Notwendigkeit funktionierender Kata-
strophenschutzeinrichtungen erkannt und umgesteuert.
Wir haben in diesem Bereich dafür gesorgt, dass die fi-
nanzielle Ausstattung und die Akzeptanz der Katastro-
phenschutzeinrichtungen wieder so ist, wie es sich gehört.
Gestern haben wir im Innenausschuss den Einzelplan 06
beraten. Herr Bosbach, Sie waren nicht dabei, aber Sie
wissen das auch so.

Dabei müsste Ihnen aufgefallen sein, wie die Auf-
wüchse im Bereich der inneren Sicherheit sind.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Dafür haben Sie die Steuern erhöht!)


Ich will Ihnen nur einige Beispiele nennen: Aufwuchs im
Bereich des THW gegenüber dem letzten Jahr 21,3 Pro-
zent, Aufwuchs im Zivilschutz gegenüber dem letzten
Jahr 37,78 Prozent, Aufwuchs im Bundesgrenzschutz
12,31 Prozent, Aufwuchs beim Bundeskriminalamt
20 Prozent und beim Bundesamt für Verfassungsschutz
22 Prozent.

Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihre Regierung je-
mals so viel für funktionierende Sicherheitseinrichtungen
und damit für die innere Sicherheit getan hat.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich behaupte nicht, dass wir ein Patentrezept haben.
Das hat keiner. Kein Gesetz dieser Welt und keine Verfas-
sungsänderung hätten die Anschläge vom 11. September
verhindern können. Es gehört aber auch zur Ehrlichkeit,
den Menschen zu sagen, dass es eine absolute Sicherheit
und den absoluten Schutz vor Kriminalität nicht gibt.


(A)



(B)



(C)



(D)


1472


(A)



(B)



(C)



(D)






Deswegen sage ich Ihnen, die CDU sollte ihren Antrag
zurückziehen. Er ist ein Sammelsurium von überholten
und populistischen Behauptungen und Einzelstücken. Sie
sollten mit uns zusammen den Weg weitergehen. Das ist
ein guter Weg für die innere Sicherheit und wir hätten ge-
meinsam Erfolg.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501907100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der

FDP-Fraktion.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1501907200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Unionsfraktion will Deutschland wirksam vor Terroristen
und Extremisten schützen. Nach Auffassung der FDP-
Fraktion bedarf es dazu keiner neuen Gesetze und schon
gar nicht der von Ihnen vorgeschlagenen.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bevor sich die SPD zu früh freut: Herr Kemper, das wird
kein Lob für Sie.

Sicherheit ist der Schutzwall der Freiheit unserer Ge-
sellschaft und jedes Einzelnen. Ohne Zweifel hat dieser
Wall Risse und Löcher, doch wird man diese nicht da-
durch stopfen, dass immer neue Gesetze den Schutzwall
immer höher werden lassen. Wir müssen die bestehenden
Schutzmechanismen stärken, indem wir Vollzugsdefizite
abbauen und nicht die Freiheit in blindem Aktionismus
einmauern.


(Beifall bei der FDP)

Unsere Aufgabe ist es, die Ängste und Sorgen der Bür-

gerinnen und Bürger ernst zu nehmen und ihren berech-
tigten Anspruch auf Sicherheit einzulösen. Unredlich ist
es, vorzugaukeln – wie Sie dies tun –, dass die Sicherheit
allein durch neue und schärfere Gesetze gewährleistet
werden kann.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schon das Sicherheitspaket II der Bundesregierung hat
die FDP-Fraktion abgelehnt,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

weil die Verhältnismäßigkeit zwischen Freiheit und Si-
cherheit nicht gewahrt war.


(Beifall bei der FDP)

Dass Sie von der CDU/CSU dies nicht nachvollziehen
können, ist mir völlig klar. Nun aber in gesetzgeberischen
Aktionismus zu verfallen, wie von Ihnen gefordert, ist der
falsche Weg.

Die Unionsfraktion stellt in ihrem Antrag jeden Aus-
länder, der die Grenzen Deutschlands zu überqueren

sucht, unter den Generalverdacht des Terrorismus und
des Extremismus,


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Wo steht das?)


insbesondere wenn der Ausländer muslimischen Glau-
bens ist. Die Religionszugehörigkeit allein ist kein po-
tenzielles Gefahrenmerkmal. Die Sudanesin, die vor der
Scharia flieht, ist ebenso Muslimin wie die von der Stei-
nigung bedrohte Nigerianerin. Gleiches gilt für den reli-
gionskritischen Schriftsteller aus einem arabischen Land.
Nicht die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft,
sondern die innere Gesinnung ist entscheidend für mög-
liche Gefahren.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dies können Sie aber nicht durch eine einfache Abfrage
des Glaubens erfahren.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Wer will das denn?)


Daher wird mit der verpflichtenden Speicherung im Aus-
länderzentralregister – wie von Ihnen im Antrag gefor-
dert – kein Plus an Sicherheit gewonnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber nach Ihrer Vorstellung, liebe Kollegen von der

CDU/CSU, soll der Staat ohnehin zum sammelwütigen
Datenjäger werden. Biometrische Daten sollen nicht nur
in den Ausweispapieren von Ausländern gespeichert wer-
den – dies könnte noch eine sinnvolle Maßnahme sein –,
sondern Sie wollen auch noch biometrische Daten, die Sie
nicht näher spezifizieren, in verschlüsselter Form grund-
sätzlich in allen Ausweispapieren und für Behörden ab-
rufbar speichern.

Heißt dies im Klartext, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, Sie wollen den verschlüsselten gläsernen Bürger,
auslesbar für die Behörden, unverständlich für den Bürger
selbst? Dies wird die FDP nicht mitmachen.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Folgt man dem hier vorgelegten Entwurf der CDU/CSU,
so soll der Staat auch nicht vor einer Ausweitung der
Wohnraumüberwachung Halt machen. Gerade hier, wo
es um einen besonders intensiven Eingriff in die Privat-
sphäre der Menschen geht, muss sehr sorgfältig abgewo-
gen werden.


(Beifall bei der FDP)

Eine verdachts- und gefahrunabhängige Überwachung
von Wohnräumen durch Sender oder Video darf es nicht
geben. Die Position der FDP-Fraktion ist und bleibt klar
und eindeutig: Es muss immer der begründete Verdacht
einer schweren Straftat vorliegen, wenn in den durch
Art. 13 des Grundgesetzes geschützten Raum eingegrif-
fen wird.


(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die FDP-Fraktion teilt

allerdings die Kritik an der Bundesregierung bezüglich

Hans-Peter Kemper




Gisela Piltz
einer verfehlten Europapolitik. Statt konsequent mit den
europäischen Partnern zusammenzuarbeiten, geht die
Bundesrepublik einen eigenen Weg. Weder wirkt die Bun-
desrepublik auf die Partner ein, sich an die eigenen Be-
schlüsse zu halten, zum Beispiel wenn es um die Schaf-
fung eines einheitlichen digitalen Funknetzes für die
Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben
geht, noch kümmert sie sich aus unserer Sicht ausreichend
um die Umsetzung gemeinsamer europäischer Alarm-
pläne für Katastrophenfälle. Dies ist aus meiner Sicht der
falsche eigene deutsche Weg.


(Beifall bei der FDP)

Weder Naturkatastrophen noch Terroristen machen an

nationalen Grenzen halt. Die Kleinstaaterei, die auch von
der deutschen Regierung in Europa betrieben wird, be-
hindert eine effektive grenzüberschreitende Bekämp-
fung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt ja nun wirklich nicht!)


– Dass Sie das nicht so sehen, ist mir auch klar.
In den vergangenen Tagen hat uns der versuchte Flug-

zeugangriff auf die Frankfurter Banktürme beschäftigt.
Die dadurch aufgeworfenen Fragen des Umgangs mit ei-
nem möglichen Terrorangriff im Luftraum riefen bei
CDU/CSU, aber auch bei der SPD die reflexartige Forde-
rung nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern her-
vor.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die wurde in Frankfurt doch eingesetzt!)


Die Bundeswehr soll nun nach dem vorgelegten Ent-
wurf mehr Kompetenzen im Innern erhalten, um den Zi-
vil- und Katastrophenschutz zu verstärken. Die Hürden,
die das Grundgesetz aufstellt, sollen nach Ihrer Forderung
fallen. Dies haben Sie vorhin hier auch selber gesagt. Die
Sicherungsmechanismen, die davor bewahren sollen, dass
eine deutsche Armee jemals wieder gegen ihre eigenen
Bürger eingesetzt wird, sollen einem gesetzgeberischen
Aktionismus weichen. Zu derartigen Plänen kann ich für
die FDP-Fraktion nur erklären: Nicht mit uns!


(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen alles da-

ran setzen, um unsere Freiheit zu bewahren, auch wenn
das in mancherlei Hinsicht verwundbar macht. Nach un-
serer Auffassung ist unsere Freiheit das aber wert. Neue
und schärfere Gesetze sind gerade in den vergangenen
Jahren zur Genüge in Kraft getreten. Sie strapazieren die
Freiheit unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen aus un-
serer Sicht schon genug. Belassen wir es dabei! Setzen wir
konsequent um, was uns der Rechtsstaat an die Hand gibt,
und vergessen wir dabei nie, dass es die Freiheit ist, um
die wir kämpfen!

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wir
stimmen sicherlich Ihrer Überschrift zu, aber auf gar kei-
nen Fall Ihrem Antrag.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501907300

Frau Kollegin Piltz, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten Rede

im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren.

(Beifall)


Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das kriegen Sie nicht getoppt, Herr Beck!)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501907400

Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Piltz, ich

möchte Ihnen zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Sie war,
zumindest im ersten Teil, sehr erfreulich. Ich bitte Sie aber
– vielleicht könnten die Gratulanten aus der eigenen Frak-
tion das Zuhören ermöglichen –, Ihren Redetext den Mit-
gliedern Ihrer Landesregierungen zuzuschicken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Denn ich entsinne mich noch an die Beratungen des Si-
cherheitspaketes: Gerade die von CDU und FDP regierten
Länder haben Verschärfungsanträge in den Bundesrat ein-
gebracht.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die Praktiker der FDP in der Landespolitik sind auch klüger, Herr Beck!)


Die FDP im Bundestag vertritt die gegenteilige Linie. Mal
sehen, was Herr Bouffier, ein christlich-liberaler Innen-
minister, nachher zu diesen Fragen zu sagen hat.

Die rot-grüne Bundesregierung bekämpft den Terroris-
mus in Deutschland mit allen legitimen Mitteln und mit
großem Erfolg. Unser zügig umgesetztes Antiterrorgesetz
greift in der Praxis. Die Festnahmen der letzten Tage zei-
gen eindeutig: Deutschland ist kein Platz, an dem sich
mutmaßliche Terroristen sicher fühlen können.


(Beifall bei der SPD)

Im Gegenteil: Sie müssen mit dem energischen Zugriff
unserer Sicherheitsbehörden rechnen. Das ist gut so; denn
auf diese Weise reduzieren wir die Gefährdung durch ter-
roristische Aktivitäten in unserem Land enorm. Wir ma-
chen es also nicht mit halber Kraft, wie Sie behauptet ha-
ben, Herr Bosbach, wir machen es mit klarem Verstand.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Mit gebremstem Schaum!)


Honoriert wird unser erfolgreicher Kampf gegen den
Terrorismus von unserem wichtigsten Bündnispartner,
den USA. Ich erinnere nur an die in den letzten Tagen
gefallene Äußerung des amerikanischen Innenministers
Ashcroft, der sich unmittelbar nach dem Zugriff auf die
al-Qaida-Mitglieder bei der Bundesregierung für die gute
Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus be-
dankt hat – zu Recht.

Lassen Sie sich gesagt sein und nehmen Sie endlich zur
Kenntnis, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU: Rot-Grün handelt im Kampf gegen den Ter-
ror erkennbar erfolgreich und verlässlich. Sie dagegen re-


(A)



(B)



(C)



(D)


1474


(A)



(B)



(C)



(D)






den nur und versuchen, mit Anträgen, teilweise unaus-
gegorenem Zeug und mit Dingen, die mit der Sache über-
haupt nichts zu tun haben, die Bevölkerung und die in-
nenpolitische Debatte zu irritieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn zu lesen ist, dass selbst der Doppelpass eines der
zentralen Sicherheitsrisiken beim Kampf gegen den Ter-
rorismus ist,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin also ein Sicherheitsrisiko?)


dann sieht man, dass es dem Antrag wirklich an Ernst-
haftigkeit fehlt. Sie versuchen nach alter Manier, so wie
immer zwei Wochen vor einer Landtagswahl, das Thema
innere Sicherheit zu instrumentalisieren. Herr Koch
wird diese Debatte bestellt haben. Sie wollen Ängste
schüren. Sie verunsichern die Bevölkerung und stellen
Bedrohungsszenarien auf, die es nicht gibt. Das ist Wahl-
kampf à la CDU/CSU, wie wir ihn schon lange kennen:
substanzlos, polemisch und gegen Minderheiten gerich-
tet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Kollegin von der FDP, es war richtig, dass die
Koalition in der letzten Wahlperiode die beiden Antiter-
rorpakete auf den Weg gebracht hat. Viele Instrumente
waren notwendig, um unser Land sicher zu machen. Wir
haben, um nur ein Beispiel zu nennen, von der alten Bun-
desregierung eine Visadatei übernommen, die reiner Da-
tenschrott war. In ihr wurde noch nicht einmal verzeich-
net, ob der Antragsteller ein Visum bekommen hatte oder
ob wir Erkenntnisse hatten, dass wir es ihm verweigern
mussten. Da das nicht festgehalten worden ist, konnte der-
jenige, dem das Visum verweigert worden ist, am nächs-
ten Tag im nächsten Land zu einer anderen Botschaft ge-
hen, es bestellen und einreisen. Das kann es doch wirklich
nicht sein. Solche Dinge mussten wir ändern und wir ha-
ben sie geändert. Damit haben wir unser Land sicherer ge-
macht, ohne die Freiheitsrechte in diesem Land zu be-
schädigen oder zu gefährden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir haben dafür gesorgt – das wurde schon angespro-
chen –, dass sich Vereine nicht hinter dem Religionspri-
vileg verstecken können und dadurch gegen Minderheiten
hetzen, zu Gewalt aufrufen und Terroranschläge finanzie-
ren oder selbst vorbereiten können. In der Vergangenheit
hat es schon zwei Verbote gegeben, nämlich das des
Aachener Vereins Al-Aqsa und das des radikal-islami-
schen Kalifatstaats. Das war richtig, vernünftig und gut.
Gestern hat der Bundesinnenminister Hizb ut-Tahrir, die
Partei der Befreiung, verboten.

Wenn man ins Internet schaut – weil die Internetseiten
aus dem Ausland kommen, gibt es sie noch –, findet man
grässliches Zeug. Trotzdem wird man dort in den nächs-
ten Tagen – auch das habe ich auf einer Seite gelesen –
einen Brief finden können, in dem sie sich als brave und
unschuldige, gewaltfreie Lämmer gerieren. Unter der

Überschrift „Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt ...“
steht dort: „Ihr sollt das hässliche Judengebilde vernich-
ten ...“ und dergleichen mehr. Selbstverständlich ist das
untragbar. Solche Leute dürfen in unserem Land nicht
agitieren, sich nicht organisieren und für ihre Ziele nicht
werben.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sie sind auszuweisen!)


Herr Innenminister, meine Fraktion unterstützt Ihr ener-
gisches und entschlossenes Vorgehen ausdrücklich. Diese
Maßnahme war dringend überfällig. Es ist gut, dass wir
die Rechtsgrundlage für solche notwendigen Maßnahmen
geschaffen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Überfällig war sie in der Tat!)


Der 11. September hat uns eine neue schreckliche Di-
mension des internationalen Terrorismus vor Augen ge-
führt. Selbstverständlich hat sich der Kampf gegen diese
Strukturen mit unseren beiden Sicherheitspaketen nicht
erledigt. Im Bereich des Vollzugs und der Umsetzung gibt
es noch viel zu tun. Wir meinen – dies haben wir uns in
der Koalitionsvereinbarung auch vorgenommen –, dass
die Arbeit der Geheimdienste dringend auf ihre Effizienz
hin, auf die Effizienz der Kontrolle und auf die Effizienz
der Zusammenarbeit der verschiedenen Dienste von Bund
und Ländern, überprüft werden muss. Wenn wir dabei
feststellen werden, dass es bei der Zusammenarbeit Ver-
besserungsmöglichkeiten gibt, dann werden wir sie sicher-
lich genauso auf den Weg bringen wie bei den Verbesse-
rungen der Kontrollmöglichkeiten. Hier wird Rot-Grün
das Notwendige tun.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Trotz der vielen Fortschritte, die wir in der letzten Wahl-
periode bereits erreicht haben, werden wir ein ambitio-
niertes Programm vorlegen.

Schauen Sie sich einmal an, was wir in der letzten
Wahlperiode getan haben. Das Innenministerium hat die
Einzelmaßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismus
auf vier eng beschriebenen Seiten mit Spiegelstrichen
aufgeschrieben. All diese Maßnahmen atmen den Hauch
der Verhältnismäßigkeit.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ein Hauch!)


Dabei wurde zwischen dem, was notwendig ist, und dem,
was für die Bürgerrechte und die Rechtsstaatlichkeit un-
seres Landes verträglich ist, abgewogen.

Der heutige Antrag der Union ist das glatte Gegenteil;
er ist voller Ladenhüter. Auch wenn Sie die Debatte über
die Fragen der Kompetenzen der Bundeswehr hier erneut
aufflammen lassen, werden Sie bei uns nicht auf offene
Türen stoßen. Art. 35 des Grundgesetzes ermöglicht es
uns, immer dann, wenn wir zur Aufrechterhaltung der in-
neren Sicherheit zwingend auf die Fähigkeiten der Bun-
deswehr zurückgreifen müssen, im Rahmen der Amtshilfe
das Notwendige zu tun. Dafür gibt es hinreichende ver-
fassungsrechtliche Grundlagen.

Volker Beck (Köln)





Volker Beck (Köln)


Es mag aber sein, dass es auch unterhalb der Ebene der
Verfassungsänderung die Notwendigkeit gibt, Verfahrens-
abläufe zwischen Bund und Ländern zu klären. Das kann
man nicht erst tun, wenn die Gefahr vor der Tür steht.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Wir müssen schauen, ob wir im Gesetz eine Präzisierung
bezüglich der Anwendung des unmittelbaren Zwangs
brauchen, um Rechtsklarheit für die Soldatinnen und Sol-
daten zu schaffen. Der Verteidigungsminister hat völlig
Recht: Er engagiert sich als Anwalt für die Soldatinnen
und Soldaten, um Rechtsklarheit bezüglich der Grundla-
gen zu schaffen. Ich bin trotzdem froh, dass der Bundes-
kanzler gesagt hat, dass es hierzu keine Grundgesetz-
änderung geben wird,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das heißt noch gar nichts, Herr Beck!)


weil es keine Lücken gibt. Sie wollen diese Fragen ja auch
nicht klären.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Doch, wir wollen sie klären!)


Sie wollen einen Schritt in Richtung Militarisierung der
Innenpolitik gehen.


(Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Herr Struck will das!)


Deshalb führen Sie hier diese ideologische Debatte. Um
das tun zu können, was wir tun wollen, brauchen wir sie
nicht.

Herr Bosbach, genauso abwegig

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: „Abwegig“ ist das richtige Wort!)

war vorhin Ihre Einlassung zum Thema Kronzeugen-
regelung. Selbstverständlich haben wir in unserem Ko-
alitionsvertrag vereinbart, eine allgemeine Strafmilde-
rungsvorschrift, unter anderem für Präventions- und
Aufklärungsgehilfen, unter bestimmten Voraussetzungen
zu ermöglichen.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Ist das eine Kronzeugenregelung? – Das ist nicht der Weg zurück zur alten Kronzeugenregelung, dem schmutzigen Deal des Rechtsstaats mit Schwerverbrechern, bei dem Mörder straffrei ausgehen, obwohl sie möglicherweise noch nicht einmal eine richtige Aussage gemacht und andere fälschlicherweise belastet haben. Diesen schmutzigen Deal wird es nicht geben. Sie werden sehen: Wir werden etwas Vernünftiges, Praktikables (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Und mit Sicherheit hundertprozentig Wirkungsloses!)


und rechtsstaatlich Verantwortbares vorlegen, auch wenn
es Ihnen nicht gefällt.

Herr Kollege Bosbach, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede
gesagt, man brauche unbedingt mehr Rasterfahndung,
was auch die Sicherheitsbehörden forderten.


(Widerspruch des Abg. Wolfgang Bosbach [CDU/CSU])


– Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie dabei ei-
nen Sicherheitspolitiker zitiert haben. Ich meine, die
Union sollte, wenn ein hessischer Innenminister anwe-
send ist, besonders ruhig sein. Es war die Rasterfahn-
dung in Hessen, die von den entsprechenden Gerichts-
höfen wegen ihrer Rechtswidrigkeit außer Kraft gesetzt
wurde.

Erledigen Sie erst einmal Ihre Hausaufgaben. Machen
Sie die Sicherheitspolitik vor allen Dingen genauso
rechtsstaatlich wie diese Bundesregierung. Dann spre-
chen wir uns wieder.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Am besten – da schließe ich mich Herrn Kemper völlig
an – packen Sie diesen Antrag am 3. Februar, wenn der
Wahlkampf vorbei ist und wir ihn für diese Auseinander-
setzung nicht mehr brauchen, einfach wieder ein. Seriöse
Substanz ist darin einfach nicht zu finden. Schließen Sie
sich den Initiativen dieser Koalition an. Dann sind Sie vor
allem in der Innenpolitik gut beraten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501907500

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von

der CDU/CSU-Fraktion.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1501907600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr

Kollege Beck, die bisherigen Maßnahmen von Rot-Grün
bei der Terrorismusbekämpfung atmen nicht, wie Sie uns
einreden wollen, den Hauch der Verhältnismäßigkeit, son-
dern die kalte Brise rot-grüner Uneinigkeit und Hand-
lungsunfähigkeit wird in jeder Zeile der bisherigen Si-
cherheitspakete deutlich. Im Gegensatz zur FDP haben
wir sie übrigens mitgetragen. Aber wir haben bei der Ver-
abschiedung immer deutlich gemacht, dass wir sie für un-
zureichend halten.

Wir wissen – darüber dürfen wir unsere Bevölkerung
nicht im Unklaren lassen –: Absoluten Schutz vor terro-
ristischer Bedrohung kann und wird es nicht geben.
Aber es ist und bleibt Aufgabe verantwortungsvoller
Politik, alle Vorkehrungen für einen bestmöglichen
Schutz unserer Bevölkerung vor terroristischen Angrif-
fen zu treffen.


(Hans-Peter Kemper [SPD]: Darin stimmen wir überein!)


Welche Aktualität unser heute vorgelegter Antrag hat, hat
nicht zuletzt die Frankfurter Flugzeugentführung, aber
auch die Verhaftung mutmaßlich hochrangiger jemeniti-
scher Mitglieder des Terrornetzes al-Qaida in Frankfurt
gezeigt. Beide Ereignisse belegen: Der Abwehrkampf ge-
gen den Terrorismus in Deutschland hat gravierende Si-
cherheitslücken. Wir meinen, dass die Bundesregierung


(A)



(B)



(C)



(D)


1476


(A)



(B)



(C)



(D)






bislang noch nicht alle notwendigen Konsequenzen aus
den Ereignissen des 11. September gezogen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Frankfurter Flugzeugentführung belegt, dass

die Bundesregierung auf einen derartigen Fall äußerst
dürftig vorbereitet ist: Uneinigkeit und Kompetenzstreit
statt sicherer Handlungsgrundlagen. In einem so wichti-
gen Bereich geht das so nicht. Herr Bundesinnenminister,
die Innenministerkonferenz hat bereits im Dezember 2001
wegen des Gefährdungspotenzials von Kleinflugzeugen
die Bundesregierung zu Aktivitäten aufgefordert. Wenn
ich gestern bei dem, was Herr Staatssekretär Körper in der
Fragestunde gesagt hat, richtig zugehört habe, dann muss
ich feststellen, dass außer der Umsetzung der EU-Richtli-
nie in diesem Bereich bislang zu wenig passiert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Streit zwischen Ihnen, Herr Minister Schily, und

Herrn Verteidigungsminister Struck zeigt, dass selbst ein-
einviertel Jahre nach den Anschlägen vom 11. September
keine klaren Regelungen für den Einsatz der Bundes-
wehr bei einerGefahr im Innern getroffen worden sind,
wie wir sie in unserem vorliegenden Antrag fordern. Es
reicht nicht, dass die Bundesregierung nach dem 11. Sep-
tember über ein Jahr braucht, um zu diesem Sachverhalt
erst einmal eine Arbeitsgruppe einzusetzen.

Wir meinen, dass die rechtlichen Grauzonen beseitigt
werden müssen und dass Art. 35 des Grundgesetzes geän-
dert werden muss. Denn letztlich muss klar sein, wer in ei-
ner Krisenlage die Entscheidungsbefugnis besitzt, not-
falls auch ein gefährliches Flugziel abschießen lassen zu
können. Solche Entscheidungen können nicht erst in der
Stunde der Gefahr getroffen werden.

Herr Minister Struck, wir teilen mit Ihnen die Auffas-
sung, dass Soldaten, die in solchen Fällen auf Ihren Be-
fehl hin unter Umständen auch Flugzeuge abschießen
müssten, nach der derzeitigen Rechtslage weder vor Straf-
verfolgung wegen vorsätzlicher Tötung noch vor Scha-
densersatzklagen geschützt sind. In den Medien wurde
heute darüber berichtet, dass Sie sich in diesem Sinne
geäußert haben.

Wir teilen Ihre Auffassung voll und ganz, auch dahin
gehend, dass die Verantwortlichkeit geklärt werden muss.
Denn wenn etwa bei dem jüngsten Zwischenfall der hes-
sische Ministerpräsident die Zuständigkeit des Verteidi-
gungsministers nicht akzeptiert hätte, dann wäre diese
Frage rechtlich umstritten gewesen. Eine verantwortliche
politische Führung erfordert Einigkeit, um handlungs-
fähig zu sein. Deshalb bieten wir Ihnen an: Wir treten
gerne mit Ihnen in Gespräche über die Beseitigung dieser
rechtlichen Grauzone und darüber ein, wie wir auch in der
Verfassung einwandfreie rechtliche Grundlagen für sol-
che Fälle – auf die wir uns einstellen müssen; das hat der
Vorfall in Frankfurt deutlich gezeigt – schaffen können,
um zu klären, wie wir in dieser Frage zu einem politischen
Konsens kommen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein Wort zu der Verhaftung der zwei mutmaßlichen

al-Qaida-Mitglieder aus dem Jemen. In der Presse wurde

der Eindruck von Schlagkraft erweckt. Dieser Eindruck
hält aber einer ernsten Prüfung nicht stand. Bislang wurde
der Innenausschuss des Bundestages noch nicht über alle
Zusammenhänge der Verhaftung informiert, aber schon
die Berichterstattung in den Medien macht deutlich, dass
der Zugriff nicht auf eigene Initiative hin erfolgte, son-
dern lediglich auf Ersuchen der Amerikaner.


(Otto Schily, Bundesminister: Was heißt „lediglich“?)


Die verhafteten Männer waren von den Amerikanern als
hochrangige al-Qaida-Mitglieder identifiziert worden; die
deutschen Behörden hatten offensichtlich keine eigenen
Erkenntnisse über die beiden. Das heißt, ohne Warnung
und Ersuchen der Amerikaner hätten sich die beiden in
Deutschland aufgehalten. Sie haben auch von den deut-
schen Behörden problemlos ein Visum erhalten, und zwar
obwohl der Jemen ein so genannter Problemstaat ist, bei
dem nach einer durch das Sicherheitspaket II eigens ge-
schaffenen Vorschrift besondere Sicherheitsschranken
gelten sollen.

Es muss auch zu denken geben, dass die Bundesregie-
rung nach eigenen Angaben in der Fragestunde des Bun-
destags allein im vergangenen Jahr 300 000 Visa für An-
gehörige aus so genannten Problemstaaten erteilt hat.

Das alles zeugt nicht von Schlagkraft, sondern es
macht deutlich, dass es Sicherheitslücken gibt, die drin-
gend und schnell geschlossen werden müssen. Weil wir in
der Analyse der Sicherheitslage einig sind, müsste es doch
möglich sein, auch einmal vorbehaltlos über unsere Vor-
schläge und Anregungen zu diskutieren. Die alte Spielre-
gel „Die Konkurrenz hat immer Unrecht, auch wenn sie
Recht hat“ sollte bei einem so wichtigen Thema nicht gel-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen mit unserem Antrag zwei Ziele erreichen.

Zum einen wollen wir den notwendigen Sicherheitsge-
winn ermöglichen. Die Schutzlücken müssen beseitigt
werden. Wir wollen aber zum anderen auch eine gesell-
schaftliche Debatte über die Grenzen von Toleranz an-
stoßen; denn wir sind überzeugt, dass der Kampf gegen
den Terrorismus nicht nur Angelegenheit von Polizei, Si-
cherheitsdiensten und schärferen Gesetzen ist, sondern
wir müssen auch über die gesellschaftspolitische Dimen-
sion dieses Themas diskutieren.

Ich will noch auf das eingehen, was Sie zum Thema
Regelanfrage beim Verfassungsschutz im Einbürge-
rungsverfahren ausgeführt haben, Herr Kemper. Sind Sie
nicht mit mir einer Meinung, dass es keinen Sinn macht,
wenn wie in Schleswig-Holstein eine solche Anfrage nur
mit Zustimmung des Betroffenen erfolgen kann? Das ist
doch weiße Salbe.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Weniger als weiße Salbe!)


Weil die bisherigen Verbotsverfahren gezeigt haben, dass
es sich nicht mehr nur um ein Ausländer-, sondern auch
um ein Inländerproblem handelt, ist auch im Einbürge-
rungsverfahren die Regelanfrage notwendig, damit wir
doppelt hinsehen, wer aus einem solchen Bereich deut-
scher Staatsbürger wird.

Hartmut Koschyk




Hartmut Koschyk

Lieber Herr Bundesinnenminister, es fällt schon auf,
dass die Verbotsverfahren immer kurz vor Wahlen erfol-
gen. Wir begrüßen diese Verbotsverfahren. Aber die bei-
den ersten fanden kurz vor der Bundestagswahl statt.
Zwei Tage vor der Bundestagswahl haben Sie die Aus-
weisung von Kaplan zu einem großen Thema gemacht.
Jetzt, kurz vor den Wahlen Anfang Februar, erfolgt wie-
der ein Verbotsverfahren und wird das Thema Kaplan
wieder hochgezogen. Wir wollen, dass unabhängig von
Wahlterminen und möglichst in einem großen politischen
und gesellschaftlichen Konsens entschieden gegen terro-
ristische Gefahren in unserem Land vorgegangen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich noch einen Satz zur gesellschaftlichen

Dimension dieses Themas sagen. Wir müssen uns fragen,
wie viel Unterschiedlichkeit ein Land verträgt und wie
viel Gemeinsamkeit es braucht, um seine innere Bin-
dungskraft und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber ex-
tremistischen Strömungen zu behaupten. Wir wissen bzw.
müssen zur Kenntnis nehmen, dass es bei Zuwanderern
aus fremden Kulturkreisen eine deutliche Tendenz zu Pa-
rallelgesellschaften gibt, in denen sie sich von unserer
Werte- und Gesellschaftsordnung abschotten, ja, sie sogar
massiv bekämpfen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Was hat das mit dem Terrorismus zu tun?)


Darin zeigt sich, Herr Kollege Veit, auch die ganze Pro-
blematik der rot-grünen Zuwanderungspolitik, die die In-
tegration der bereits hier lebenden Ausländer vernachläs-
sigt und die Zuwanderung trotzdem massiv ausweiten
will.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Unsinn!)


Deshalb müssen wir die neu eröffnete Zuwanderungs-
debatte nicht nur unter dem Gesichtspunkt ökonomischer
und sozialer Verträglichkeit von Zuwanderung nach
Deutschland führen, sondern bei dieser Debatte auch dem
Sicherheitsaspekt und der Frage des inneren Friedens in
unserem Land eine zentrale Bedeutung beimessen. Im In-
teresse der Sicherheit unserer Bürger müssen wir dafür
Sorge tragen, dass unser Zuwanderungs- und Ausländer-
recht nicht auch weiterhin dazu führt, dass Deutschland
Ruhe- und Aktionsraum für islamistische Terroristen ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Wer hat das Ausländerrecht gemacht?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501907700

Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelie Sonntag-

Wolgast von der SPD-Fraktion.


Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD):
Rede ID: ID1501907800

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es

gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass der vornehm-
lich islamistisch geprägte internationale Terrorismus auch
unser Land bedroht. Es gibt ebenso wenig Zweifel daran,
dass nicht nur die Sicherheitsdienste, sondern auch die

Parlamentarier zu äußerster Wachsamkeit aufgerufen
sind. Es ist richtig, dass sich die Lage seit dem 11. Sep-
tember 2001 nicht entspannt hat. Wir haben also keinen
Anlass, das Problem zu verharmlosen, aber, meine Damen
und Herren, auch keinen Anlass zu Panik und Psychose.

Diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen ha-
ben umfassende Maßnahmen eingeleitet, um die Gefah-
ren durch Gesetze sowie durch operative und organisato-
rische Vorkehrungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft
einzudämmen. Personen, Gebäude und sensible Einrich-
tungen werden stärker bewacht, Kontrollen wurden
verschärft, BGS-Beamte als Sky Marshalls geschult,
mögliche Kommunikationswege des internationalen Ver-
brechens unter die Lupe genommen, das Vereinsrecht
wurde geändert und die Befugnisse der Sicherheitsbehör-
den mit ihren Kooperationsmöglichkeiten untereinander
haben wir erweitert. Der Haushalt des Bundesministeri-
ums des Innern weist trotz der angespannten Finanzlage
deutliche Steigerungsraten auf; mein Kollege Kemper ist
darauf eingegangen. All dies und vieles mehr dient der
Wahrung und Stärkung der Sicherheit und insbesondere
dem Kampf gegen den Terrorismus.

Meine Damen und Herren, wenn man sich nun den um-
fangreichen Antrag der Unionsfraktion anschaut, muss
man streckenweise den Eindruck gewinnen, ihre Verfasser
lebten in einem anderen Staat. Offenbar wollen Sie, liebe
Kollegen und Kolleginnen, einfach nicht wahrhaben, was
alles geschehen ist, was weiter geschieht und was wir in
der zurückliegenden Legislaturperiode gemeinsam be-
schlossen haben. Sie wollen offensichtlich nicht eingeste-
hen, dass diese Regierung entschlossen handelt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich gebe gern zu, dass uns diese Art des Terrorismus
immer wieder vor unvorhergesehene Fragen stellt, mit de-
nen wir nicht gerechnet haben. Freilich geht es zuweilen
auch um Themen mit ganz anderem Hintergrund, die aber
Assoziationen zu den schrecklichen Anschlägen auf das
World Trade Center und das Pentagon erwecken, wie wir
es kürzlich erlebten, als ein vermutlich geistesgestörter
Mann über das Frankfurter Bankenviertel flog. Abgese-
hen von der Frage nach der verfassungsrechtlichen Legi-
timation möglicher Bundeswehreinsätze, die ich durch
Art. 35 des Grundgesetzes gedeckt sehe, sollten wir uns
darüber einig sein, dass es eine schleichende Durchmi-
schung bei der Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr im
Inland nicht geben darf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Kehren wir zum – leider – real existierenden Terroris-
mus zurück und halten wir fest: Die beiden Gesetzes-
werke, die so genannten Antiterrorpakete I und II, die
wir beschlossen haben, bieten, Frau Kollegin Piltz, ein
breit gefächertes Instrumentarium und sie greifen – das
haben Sie richtig dargestellt – auch in sensible Bereiche
des Datenschutzes und der persönlichen Rechte ein. Sie
sind so umfassend, dass wir in Teilen eine Befristung be-
schlossen haben. Wir werden also nach einer gewissen
Zeit die Tauglichkeit und die Tragfähigkeit dieser Gesetze


(A)



(B)



(C)



(D)


1478


(A)



(B)



(C)



(D)






überprüfen. Sie müssen jetzt ihre Wirkung entfalten, das
heißt, von den Sicherheitsorganen und ihren Mitarbeitern
ausgeschöpft werden. Das geschieht beispielsweise auch
mit den jüngst ergangenen Verboten.

Herr Kollege Koschyk, schade, dass Sie gerade telefo-
nieren, aber ich muss in diesem Moment sagen: Sie kön-
nen doch unseren Sicherheitskräften nicht unterstellen,
dass sie möglicherweise bis zu Wahlen oder zum Weih-
nachtsfest abwarteten oder nach irgendwelchen Erfolgen
bzw. nach irgendwelchem Applaus schielten, wenn sie sich
genötigt fühlten, eine Festnahme im Sinne dieser Gesetze
vorzunehmen. Das kann doch wohl nicht sein. Sie müssen
eine solche Behauptung bzw. Vermutung zurücknehmen.
Das hat nun wirklich nichts mit Wahlen zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie bei Ihrem
Antrag auf der Suche nach möglichen Lücken oder Män-
geln vorgegangen sind wie jemand, der sich in eine ei-
gentlich gut gepflegte Grünanlage begibt und nun müh-
sam nach irgendwelchen Abfallresten Ausschau hält.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt wissen wir endlich, was Sie am Wochenende machen!)


Der Wortreichtum, den Sie entfalten, ersetzt freilich nicht
die gebotene Überzeugungskraft und Stringenz. Was be-
zwecken Sie eigentlich mit Ihrer kampagnenartigen
Schelte der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, das
angeblich – ich betone das – kriminellen Ausländern den
Zugang in die Bundesrepublik ebnet? Gerade das refor-
mierte Einbürgerungsrecht – Herr Grindel, das wissen Sie
ganz genau; jedenfalls sollten Sie es wissen – fordert ein
klares Bekenntnis zum Grundgesetz und zum friedferti-
gen Leben hier und verschließt sich denjenigen, die die
Normen unseres Rechtsstaates unterlaufen, und zwar kla-
rer, als es die alten Vorschriften verlangten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Noch einmal ein Grünanlagenbeispiel!)


Sie ignorieren die integrationsfördernde und Frieden stif-
tende Wirkung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts. Es
hat doch eine ganz andere Wirkung, als Sie es darstellen.

Des Weiteren fordern Sie die konsequente Abschie-
bung derer, die nach abgelehntem Asylantrag unseren
Schutz nicht brauchen, schärferes Vorgehen gegen solche,
die ihre Ausweisung mit Tricks und Täuschungen verhin-
dern, sowie ein genaueres Hinsehen, wer in unser Land
kommt. All das enthält unser Entwurf eines Zuwande-
rungsgesetzes, den Sie mit finsterer Entschlossenheit ab-
lehnen und bekämpfen. Herr Kollege Koschyk, Sie haben
Ihre Kritik an den geplanten Regelungen – das wurde eben
in Ihrer Rede deutlich – mit einer pauschalen Fremden-
feindlichkeit verbunden.


(Zurufe von der CDU/CSU: Was?)

Wir wenden uns konsequent dagegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So inkonsequent, wie Sie vorgehen, so bar jeder besseren
Einsicht – diese müssten Sie eigenlich haben; denn Sie
kennen ja die Gesetze – kann nur eine Partei handeln, die
sich vergeblich bemüht, die Kompetenz in Fragen der in-
neren Sicherheit zurückzugewinnen.

Sie verlangen die Aufnahme biometrischer Daten in
Legitimationspapiere. Ich möchte Ihnen dazu sagen
– Frau Piltz hat das bereits angesprochen –: Kaum eine an-
dere Regierung bemüht sich so beharrlich um einheitliche
europäische Regelungen wie die Bundesregierung. Ein
weiteres Beispiel: Die Einführung eines bundesweit ein-
heitlichen Digitalfunks für die Sicherheitsbehörden und
-verbände wird mit Nachdruck betrieben, muss aber tech-
nisch organisiert und gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen auch in ihren finanziellen Auswirkungen be-
wältigt werden. Es sollte Ihrer Aufmerksamkeit ebenso
wenig entgangen sein, dass seit Jahresbeginn – Kollege
Kemper ist schon kurz darauf eingegangen – die Koffer in
den Verkehrsflughäfen vollständig und mit modernen
technischen Methoden kontrolliert werden. Auch das ist
ein wichtiger Schritt zur Vorbeugung krimineller Über-
griffe auf Flugzeuge.

Der Kampf gegen den Terrorismus ist nun wahrhaftig
eine langwierige Aufgabe. Sie fordert Fantasie und den
Willen zur Verbesserung; das ist ganz klar. Er lebt auch
vom reibungslosen Zusammenspiel der Sicherheitskräfte.
Er verlangt engste Kooperation und Kommunikation.
Doch die strikte Aufgabenteilung zwischen den Diensten
und bei der Gefahrenabwehr hat sich im Wesentlichen be-
währt. Die Menschen haben Anspruch auf bestmöglichen
Schutz und Vorsorge, aber auch auf ein Vorgehen unse-
rerseits mit Augenmaß, mit Besonnenheit und mit Sach-
lichkeit. Verstörte, verschreckte und unsichere Menschen
handeln unkontrolliert. Sie büßen das ein, was wir ihnen
in unserem Rechtsstaat nun wirklich garantieren wollen:
die Freiheit von Angst. Deswegen gilt: Nachhilfestunden
in Wachsamkeit gegenüber dem Terrorismus haben wir
nun wahrhaftig nicht nötig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501907900

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der

FDP-Fraktion.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1501908000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es

um Gesetzesvorhaben geht, die zur Bekämpfung des Ter-
rorismus erforderlich sind, wird die FDP-Fraktion ihre
Zustimmung sicherlich nicht verweigern. Maßnahmen,
die zur Verbesserung der inneren Sicherheit wirklich ge-
boten sind, werden von uns natürlich mitgetragen. Das
war in der Vergangenheit auch nie anders.

Beim Sicherheitspaket Schily II waren wir allerdings
kritisch. Bis heute ist die Effizienz der damals beschlos-
senen Maßnahmen nicht hinreichend belegt.


(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, Sie alle haben hoffentlich
ein gutes Gedächtnis. Das Verfahren bei Schily II

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast




Rainer Funke
konnte auf keinen Fall rechtsstaatlichen Gesichtspunk-
ten genügen.

Bevor man überhaupt über weitere Verschärfungen
nachdenken darf, müssen zunächst einmal die Auswir-
kungen der Sicherheitspakete I und II auf die Arbeit der
Sicherheitsbehörden richtig untersucht werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig! Sehr klug!)


Vor der Ausweitung der Befugnisse von Sicherheits-
behörden im Bereich der Terrorismusbekämpfung muss
auch eine wissenschaftliche Bewertung der bestehenden
Kompetenzen und deren Auswirkungen auf die Grund-
rechte erfolgen. Hierzu – jetzt ist der Bundesinnenminis-
ter leider nicht hier –


(Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Der ist aber hier draußen!)


wäre ein Bericht der Bundesregierung sicherlich wün-
schenswert. Der Bundestag sollte einen solchen Bericht
auch einfordern.


(Beifall bei der FDP)

Jeder, der neue gesetzliche Maßnahmen fordert, ist auch
in der Pflicht, deren Notwendigkeit zu beweisen.

Ein Staat, der die Freiheit seiner Bürger wirkungsvoll
schützen will, braucht leistungsfähige Instrumente im
Kampf gegen Terroristen, die sich mit ihren Aktivitäten ja
immer auch gegen die freiheitlich-demokratische Grund-
ordnung richten. Primat dabei hat aber immer die opti-
male Ausnutzung der bereits vorhandenen Möglichkeiten
und Mittel. Wir brauchen eine personell und technisch op-
timale Ausstattung von Polizei, Justiz und Nachrichten-
diensten. Die Instrumente dürfen nicht aufgrund von finan-
ziellen Erwägungen in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt
werden, wie dies unter dem Diktat der leeren Kassen ja lei-
der allzu häufig passiert. Bezüglich der besseren Koordi-
nierung der Polizeiarbeit besteht weiterhin Handlungsbe-
darf. In diesem Bereich müssen Doppelzuständigkeiten
vermieden und die Effizienz gesteigert werden, sowohl
auf nationaler Ebene als auch bei der Zusammenarbeit mit
unseren europäischen Partnern; darauf hat meine Kolle-
gin Frau Piltz schon hingewiesen.

Wo es darum geht, bestehende Instrumente polizeili-
chen Vorgehens rechtsstaatlich auszugestalten, werden wir
uns einer konstruktiven Diskussion nicht verschließen.

Die Rasterfahndung beispielsweise kann als Mittel der
Terrorismusbekämpfung durchaus erforderlich sein. Aber
ohne richterliche Anordnung und ohne die Möglichkeit
nachträglicher gerichtlicher Kontrolle wird sie den An-
forderungen eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens nicht
gerecht.


(Beifall bei der FDP)

Auch bei dem Einsatz verdeckter Ermittler besteht weite-
rer Handlungsbedarf.

Wir haben in Deutschland in erster Linie ein Vollzugs-
defizit. Dies gilt nicht nur für die Polizei und die Ermitt-
lungsbehörden, sondern auch hinsichtlich der Zügigkeit
von Verhandlungen und Ermittlungen. Natürlich soll un-

ter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gegen Terrorismus
ermittelt werden. Es gibt jedoch ein altes deutsches
Sprichwort, das heißt: Wer schnell gibt, gibt doppelt. Das
gilt natürlich auch für unser Justizwesen. Das Vertrauen in
unseren Rechtsstaat wird beim Bürger nicht dadurch ge-
stärkt, dass sich die Ermittlungen über Monate, manchmal
über Jahre erstrecken und sich die Gerichtsverfahren
ebenfalls über Monate und Jahre hinziehen.

Wir müssen die Justiz auch personell so ausstatten,
dass zur Bekämpfung des Terrorismus ausreichend
Staatsanwälte und Richter vorhanden sind. Dies darf aber
nicht in der Weise geschehen, dass man wieder irgend-
welche Löcher dadurch stopft, dass man zum Beispiel
Richter in Terrorismusbekämpfungsabteilungen versetzt
und dadurch die Abteilungen, in denen sie bisher tätig wa-
ren, schwächt. Vielmehr sollte man zusätzliche Mittel zur
Bekämpfung des Terrorismus bereitstellen. Die innere
und äußere Sicherheit sind Kernaufgaben des Staates. Da
kann und darf nicht gespart werden.

Die hier von der CDU/CSU vorgeschlagenen Regelun-
gen sind zum großen Teil bereits Gegenstand der Bera-
tungen über das Sicherheitspaket II im Jahre 2001 gewe-
sen. Bei einer Expertenanhörung im Innenausschuss im
Jahre 2001, Herr Bosbach, sind Ihre Vorschläge von fast
allen Experten verworfen worden.

Bei jeglichem Vorgehen gegen terroristische Aktivitä-
ten steht für uns eine grundrechtsorientierte Politik im
Mittelpunkt. Das bedeutet, dass jedes staatliche Handeln
rechtsstaatlichen Anforderungen genügen muss. Ein
grundrechtssensibles Tun der Sicherheitsbehörden bedarf
dabei grundsätzlich der vorherigen richterlichen Geneh-
migung. Für den Betroffenen muss eine nachträgliche ge-
richtliche Kontrolle möglich sein. Das setzt eine Mittei-
lung an ihn voraus.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501908100

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Silke

Stokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die span-
nendste Frage im bisherigen Verlauf dieser Debatte lautet:
Wo steht eigentlich die FDP? Viele FDP-Abgeordnete
sind ja nicht mehr anwesend. Der erste Redebeitrag hat
mir natürlich sehr gefallen. Herzlichen Glückwunsch! Ich
habe schon gedacht: Das ist ja fast meine Rede.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Vielleicht sollten Sie klären, in welche Richtung die FDP-
Bundestagsfraktion gehen will.


(Birgit Homburger [FDP]: Das war absolut deckungsgleich!)


Wir können und wollen mit der Bedrohung durch den
internationalen Terrorismus nicht dauerhaft leben. Unsere


(A)



(B)



(C)



(D)


1480


(A)



(B)



(C)



(D)






Gesellschaft, unsere Demokratie können dies auf Dauer
nicht aushalten. Die Auseinandersetzung mit dem inter-
nationalen Terrorismus hat für uns in der Innen- und
Außenpolitik oberste Priorität. Ich setze diesen Satz be-
wusst an den Anfang, weil die Mitglieder der CDU/CSU-
Fraktion hier immer wieder versuchen, den Eindruck zu
erwecken, sie seien die Einzigen, die sich darüber Gedan-
ken machen, wie man für die Sicherheit der Bürgerinnen
und Bürger in unserem Lande sorgen kann.

Ich sage aber auch: Ich wünsche mir in dieser innen-
politischen Debatte genauso viel Nachdenklichkeit und
Verantwortungsbewusstsein wie in der Debatte über
Krieg und Frieden. Wir entscheiden über die Anwendung
staatlicher Gewalt, über den Bestand von Werten und
Normen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. In an-
deren Debatten erheben Sie auch immer wieder die For-
derung nach Anwendung staatlicher Gewalt. Der Umgang
mit den höchsten Grundwerten unserer Verfassung ist mir
zu leichtfertig. Ich wünsche mir hier gerade von den
Volksparteien CDU und CSU etwas mehr Verfassungspa-
triotismus.

Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,
Sie versuchen mit Ihrem Antrag den Eindruck zu erwecken,
man könne mit immer neuen Gesetzesverschärfungen den
Terrorismus ausrotten. Diese Suche nach Sicherheit im
Recht hat längst die Grenzen effektiver Wirksamkeit
überschritten.


(Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie überfordert unsere Verfassung und gefährdet die
Werte, die Sie vorgeben verteidigen zu wollen.

Meine Damen und Herren, es ist in den vergangenen
Tagen im Zusammenhang mit dem Frankfurter Luftzwi-
schenfall viel über formale Zuständigkeiten und über Be-
fehlsketten diskutiert worden. Zu wenig wurde mir über
politische und persönliche Verantwortung in Grenzsitua-
tionen diskutiert. Mir war die offensichtliche Unsicher-
heit unseres Verteidigungsministers Peter Struck in dieser
Grenzsituation sympathisch. Die Frage, ob ein Flugzeug
über Deutschland abgeschossen werden darf oder nicht,
kann nicht durch eine Grundgesetzänderung beantwor-
tet werden.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sondern?)

In so einer Lage muss abgewägt werden, wie viele un-
schuldige Menschen geopfert werden dürfen, um viel-
leicht eine noch höhere Anzahl von Opfern zu verhindern;
diese Güterabwägung wirft für mich erst einmal ethische
und moralische Fragen auf, die sich nicht durch eine for-
male Rechtsdiskussion beantworten lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Debatte nach dem Motto: „Schaff mir die Rechts-

grundlage, dann mache ich alles!“, ist für mich typisch
deutsch. Die legitimen Mittel eines demokratischen
Rechtsstaates sind begrenzt. Dies muss man gerade den
Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion immer wieder sagen.
Es war Gerhard Schröder – ich meine jetzt nicht unseren
hochgeschätzten Bundeskanzler, sondern den damaligen
CDU-Innenminister –, der 1958 den ersten Entwurf zum

Einsatz der Armee im Innern vorlegte. Danach war der
CDU völlig willkürlich jeder Anlass recht – seien es die
großen Streiks, die RAF oder sogar der angeblich für
Deutschland gefährliche Zustrom von Bürgerkriegs-
flüchtlingen –, um aus ihren Reihen den Einsatz derBun-
deswehr im Innern zu fordern.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist dummes Zeug! Wer hat das wann gefordert?)


– Nein, das ist kein dummes Zeug. Ich habe diese Debatte
verfolgt. Schon damals, in der Auseinandersetzung um
die Notstandsgesetze, war das Kernpunkt Ihrer Politik.
Ihre Innenminister sagten: Wir wollen den Einsatz der
Bundeswehr im Innern.

Diese Grundgesetzbestimmung, die Trennung von Po-
lizei und Militär, ist aus guten historischen Gründen eine
Grundlage unserer Verfassung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501908200

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Bosbach?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident, ich erlaube keine Zwischenfrage, da
ich nur sieben Minuten Redezeit habe.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Meine Damen und Herren, Sie sprechen in Ihrem An-

trag von einer neuen Sicherheitsarchitektur. Aber auf die
wirklichen Herausforderungen, die neu sind, gehen Sie
mit keinem Satz ein. Sie bringen wirklich nicht einen ein-
zigen neuen Aspekt in die Debatte ein. In der Frage der
Einreise von Terroristen gehen Sie immer noch davon aus,
als ob Deutschland komplett von eigenen Außengrenzen
umgeben wäre. Wir leben in einem europäischen Rechts-
raum und haben europäische Außengrenzen. Es ist völ-
lig absurd, zu glauben, dass man mit dem Schließen der
vielen von Ihnen entdeckten – angeblichen – Gesetzes-
lücken die europäischen Grenzen dicht machen könnte.
Dies ist eine absurde Vorstellung.

Wir in Deutschland müssen Konzepte – ich sehe, dass
die rot-grüne Bundesregierung diese Aufgabe angepackt
hat – für diesen neuen europäischen Raum entwickeln.
Das heißt, wir müssen uns ganz konkret Gedanken da-
rüber machen, wie eine europäische Grenzpolizei konzi-
piert sein könnte und welche weiteren Veränderungen in
diesem Zusammenhang auf den Bundesgrenzschutz zu-
kommen. Über diese Dinge würde ich mit Ihnen ganz
gerne streiten.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Lassen Sie doch Zwischenfragen zu, wenn Sie so gerne streiten!)


Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie
schränken die Debatte unzulässig ein, wenn Sie glauben,
dass in einer permanenten Erweiterung der Eingriffsbe-
fugnisse der Weg zu mehr Sicherheit bestehe. Wir sind

Silke Stokar von Neuforn




Silke Stokar von Neuforn
längst an einem Punkt, wo wir eine Strukturdebatte über
den Aufbau von Sicherheitsbehörden in Deutschland und
eine Debatte über Qualitäts- und Effektivitätsverbesse-
rungen bei diesen brauchen. Es geht nicht mehr um eine
Erweiterung von Eingriffsbefugnissen.

Aber lassen Sie mich auch dies zum Schluss sagen,
meine Damen und Herren: Wir können Demokratie nicht
allein in Europa durchsetzen. Vielmehr müssen wir einen
Beitrag dazu leisten, dass unsere Werte wie Menschen-
rechte, Demokratie und Rechtsstaat global und weltweit
Gültigkeit bekommen. Wir dürfen diese Grundwerte nicht
in unserem eigenen Land zerstören, sondern müssen ih-
nen weltweit Geltung verschaffen.

Ich denke – mein letzter Satz, Herr Präsident –, der
beste Beitrag, den Deutschland zu mehr Sicherheit leisten
kann, ist die Unterstützung von friedlichen Lösungen im
Irakkonflikt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hier wünsche ich mir die Geschlossenheit aller Fraktio-
nen im Bundestag.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501908300

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kol-

legen Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion.

(Zurufe von der SPD: Oh!)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1501908400

Ich mache diese Kurzintervention nur, weil die Kolle-

gin – was ihr Recht ist – keine Zwischenfrage zugelassen
hat.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Daraus ergibt sich aber nicht das Recht auf eine Kurzintervention!)


Sie haben in Ihrer Rede behauptet, Repräsentanten der
Union hätten in der Vergangenheit den Einsatz der Bun-
deswehr im Innern gefordert, um unter anderem den Zu-
strom von Bürgerkriegsflüchtlingen verhindern zu kön-
nen. Das ist nicht nur frei erfunden und glatt erlogen,
sondern diese Behauptung ist auch infam.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Eine Lüge!)


Ich fordere Sie auf, Frau Kollegin, in Ihrer Replik entwe-
der sofort den Beweis für diese Behauptung anzutreten
und zu sagen, wer wann wo was gefordert hat, oder sich
von dieser Behauptung zu distanzieren. Ich meine, da
wäre auch ein Ausdruck des Bedauerns angebracht.

Bei allem, was wir hier kontrovers austragen, sind zwei
Dinge immer wichtig: Erstens müssen Tatsachenbehaup-
tungen, die aufgestellt werden, stimmen.


(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das gilt für Sie allerdings auch! Da seien Sie vorsichtig!)


Zweitens sollte man sich, wenn man den politischen Geg-
ner attackiert, zumindest darum bemühen, oberhalb der
Gürtellinie zu bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Das ist eine gute Idee! Wir werden Sie daran messen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501908500

Frau Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben das

Recht zur Erwiderung.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Bosbach, ich muss Sie sehr enttäuschen:

(Zuruf von der CDU/CSU: Kein Anstand!)


Ich bin nicht bereit, die Äußerung, die Sie im Protokoll
nachlesen können, zurückzunehmen. Ich habe in meiner
Rede gesagt, dass aus den Reihen der CDU/CSU-Innen-
politiker der Einsatz der Bundeswehr im Innern gefordert
wurde, auch im Zusammenhang mit der Debatte um den
Zuzug von Bürgerkriegsflüchtlingen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Völlig unwahr und unsinnig! – Wolfgang Bosbach [CDU/ CSU]: Das ist unwahr! Wer hat das gesagt?)


– Herr Kollege Bosbach, Sie haben keinen Anspruch auf
einen Sofortbeweis.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Ach Gott! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Dann dürfen Sie so etwas aber auch nicht sagen!)


Ich werde Ihnen das gerne aus dem Internet holen. Ich habe
gestern Abend dazu eine umfangreiche Recherche durch-
geführt und bin gerne bereit, Ihnen das Material zu geben.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Unanständig!)


Aber stellen Sie sich nicht hier hin und machen solche
Äußerungen. Gehen Sie selbst einmal ins Internet und ge-
ben Sie in eine Suchmaschine – falls Sie damit umgehen
können – die Wörter „CDU“, „Einsatz der Bundeswehr
im Innern“ und „Notstandsgesetze“ ein und schauen Sie,
was seit 1958 vonseiten der CDU/CSU zu diesem Thema
gesagt wurde.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie sollten sich wirklich schämen! Schämen Sie sich für diesen Beitrag!)


Sie werden überrascht sein, was Sie dort alles finden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Da klatschen die noch!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501908600

Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Herrmann von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Unruhe bei der CDU/CSU und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



(A)



(B)



(C)



(D)


1482


(A)



(B)



(C)



(D)






– Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat der Kollege
Herrmann das Wort.

Bitte schön.


Jürgen Herrmann (CDU):
Rede ID: ID1501908700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Die Welt hat sich nach den Anschlägen
in den USA drastisch verändert. Die gestiegene Bedro-
hung der Bevölkerung durch extremistische und terroris-
tische Aktionen hat alle Sicherheitsbehörden auf den Plan
gerufen. Eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen
wurde bereits verabschiedet und hat dazu beigetragen,
dass erste Fahndungserfolge erzielt werden konnten.

Für mich steht jedoch außer Frage, dass wir noch nicht
ausreichend auf die Bekämpfung bereits heute bestehen-
der, aber auch künftiger Gefahren vorbereitet sind. Der
von der CDU/CSU eingebrachte Antrag zur Bekämpfung
von Terrorismus und Extremismus leistet hier einen wich-
tigen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgabe. Kollege
Kemper und Kollegin Piltz, Sie haben über innere Sicher-
heit gesprochen. Aber wir, die CDU/CSU, sorgen dafür,
dass die rechtlichen Möglichkeiten dafür geschaffen
werden.


(Beifall der Abg. Dorothee Mantel [CDU/CSU])


Zielorientiert, praxisnah und konsequent zeigt unser
Antrag auf, wie die globale Gefahr von Extremismus und
Terrorismus bekämpft werden kann. Insbesondere die Zu-
sammenarbeit der verschiedenen Behörden wird ange-
sprochen und gestärkt. Denn eines ist uns in den zurück-
liegenden Monaten sicherlich klar geworden: Innere und
äußere Sicherheit lassen sich nicht mehr voneinander ge-
trennt betrachten. Die Handlungsfelder Inneres und
Äußeres sowie Verteidigung müssen jetzt und heute sinn-
voll miteinander vernetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sind gefordert, eine neue Sicherheitsarchitektur

für Deutschland im internationalen Kontext zu entwerfen.
Dabei kommt es darauf an, den größtmöglichen Schutz
unserer Bevölkerung zu gewährleisten und gleichzeitig
allen staatlichen Organen entsprechende rechtliche In-
strumente an die Hand zu geben. Ich begrüße es daher
ausdrücklich, dass mit den von uns eingebrachten Vor-
schlägen praxisnahe Lösungen ermöglicht werden. Herr
Kollege Bosbach hat dies in seiner Rede anschaulich dar-
gestellt. Diese Vorschläge ermöglichen operative Maß-
nahmen, die sich am Erforderlichen orientieren. Die Wie-
dereinführung der Kronzeugenregelung in diesem
Zusammenhang ist zwingend erforderlich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Oh!)


– Sie brauchen gar nicht darüber zu schimpfen. Sie soll-
ten sich lieber einmal die Praxis anschauen. Der Einsatz
verdeckter Ermittler im terroristischen Bereich – das sage
ich hier ganz deutlich – bringt keinerlei Erfolg.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie das immer gemacht?)


– Der verdeckte Ermittler im Bereich der Kriminalitäts-
bekämpfung kann effektiv eingesetzt werden, Herr
Ströbele. Aber der Einsatz des verdeckten Ermittlers im
terroristischen Bereich ist nicht effektiv. Es wäre das-
selbe, als wenn man versuchen würde, Sie unserer Frak-
tion unterzuschieben. Das würde sofort auffallen.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das wäre aber unverhältnismäßig!)


– Dem stimme ich zu. Außerdem würde es keinen Erfolg
zeigen.

Sicherlich ist es auch erforderlich, dass biometrische
Daten in Ausweispapieren verwendet werden. Außerdem
ist der verstärkte Austausch von Erkenntnissen zwischen
den Diensten sehr wichtig, damit es keine Reibungsverlus-
te gibt. Falsch verstandener Liberalismus und inkonse-
quentes Vorgehen gegen Extremisten und Terroristen wer-
den dazu beitragen, dass sich die so genannten Schläfer
auch weiterhin in Deutschland heimisch fühlen. Verbre-
cher wie Atta müssen aufgespürt, von unseren Polizeikräf-
ten verfolgt und durch die zuständigen Behörden ausge-
wiesen werden. In der Bevölkerung herrscht mittlerweile
der Eindruck vor, dass erst etwas Gravierendes passieren
muss, damit der Staat entschieden gegen Rechtsbrecher
vorgehen kann bzw. dazu in die Lage versetzt wird.

Gestern, Herr Innenminister, wurde die bundesweit
operierende Vereinigung „Hizb ut-Tahrir el Islami“ ver-
boten. Das ist der richtige Weg. Aber damit ist nur ein Teil
der Arbeit getan. Bei begründetem Terrorismusverdacht
sollten die Täter sofort ausgewiesen werden. Das wäre
konsequent.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Täter auszuweisen ist doch kein Problem!)


Ansonsten bildet sich im Anschluss an das Verbot eine
neue Gruppierung, die unter einem anderen Namen auf-
tritt. Herr Ströbele, es ist aus der polizeilichen Praxis be-
kannt, dass sich Organisationen, die verboten werden, auf
anderen Feldern betätigen. Das Ausweisungsgebot auch
für einen Großteil der rund 60 000 in Deutschland leben-
den Personen, die als Mitglieder extremistischer Organi-
sationen bekannt sind, wäre letztendlich folgerichtig.

Die Ereignisse in Frankfurt, als ein geistig verwirrter
Mann die Metropole in Angst und Schrecken versetzte,
haben gezeigt, wie dringend erforderlich die enge Zu-
sammenarbeit der verschiedenen staatlichen Institutionen
ist. Die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im
Inland wird uns noch beschäftigen müssen, nicht nur aus
einsatztaktischer, sondern auch aus verfassungsrecht-
licher Sicht. Es freut mich daher besonders, dass sich der
Verteidigungsminister in der Frage einer Grundgesetzän-
derung bezüglich eines Einsatzes der Bundeswehr im In-
land der CDU/CSU-Position deutlich genähert hat.

Ziel der sich nun anschließenden Diskussion muss eine
klare gesetzliche Regelung sein, die den Verantwortlichen
uneingeschränkte Planentscheidungen ermöglicht. Es darf
keinen Kompetenzstreit oder keine zeitlichen Verzöge-
rungen bei der Lagebewältigung geben. Wir dürfen Poli-
zeiführer oder Kommandeure von Bundeswehreinheiten
bei ihren weitreichenden Entscheidungen nicht im Regen

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms




Jürgen Herrmann
stehen lassen. Die Politik muss sich daher als zuverläs-
siger Partner an ihrer Seite befinden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits bei der Terro-
rismusbekämpfung in den vergangenen Jahrzehnten – ich
erinnere hier insbesondere an die Zerschlagung der RAF –
war Deutschland immer bemüht, konsequent und mit aller
Härte gegen die Urheber der Gewalt vorzugehen. Auch in
der heutigen Zeit ist dies der einzig gangbare Weg. Null
Toleranz gegen all diejenigen, die terroristische Aktivitä-
ten unterstützen, die Menschen als „weiche Ziele“ für ihre
Anschläge auswählen oder extremistisches Gedankengut
verbreiten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501908800

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Jürgen Herrmann (CDU):
Rede ID: ID1501908900

Meine Damen und Herren, wir sind es den Bürgern un-

seres Landes schuldig, rechtzeitig und umfassend gegen
die Geißel des Terrorismus und Extremismus vorzugehen.
Die CDU/CSU-Fraktion leistet ihren Beitrag dazu.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1501909000

Herr Kollege Herrmann, ich gratuliere Ihnen herzlich

zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.

(Beifall)


Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.


Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1501909100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Reden

haben gezeigt, dass wir uns darin einig sind, dass wir die
Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft
durch Terrorismus, egal von welcher Seite er kommt, sehr
ernst nehmen und dass wir dafür alle Mittel, die unser
Rechtssystem bietet, auch ausschöpfen müssen. In der
Anwendung und in der Auslegung gehen dann die Mei-
nungen etwas auseinander.

Ich möchte mir die Mühe machen, zu dem, was Sie in
Ihrem Antrag vorschlagen, en détail etwas zu sagen. Man
hat ja ein bisschen den Eindruck, als gäbe es all das, was
Sie vorschlagen, überhaupt nicht. Wir, die rot-grüne Bun-
desregierung und die sie tragenden Fraktionen, haben bei
der Terrorbekämpfung in Europa zum Teil sogar eine Vor-
reiterrolle übernommen. Das wird in Ihrem Antrag über-
haupt nicht berücksichtigt, muss aber einmal deutlich ge-
sagt werden.

Einen Punkt vermisse ich in Ihrem Antrag völlig. Es
wird gar nicht wahrgenommen, dass Deutschland als ers-
ter Staat in der Europäischen Union ein Gesetz zur kon-
sequenten Bekämpfung von Geldwäsche und zur Auf-
deckung von Finanzflüssen terroristischer Organisationen
in Kraft gesetzt hat. Damit haben wir einen Sumpf
trockengelegt, der die Grundlage für Terrorismus ist. Ich
kann mich noch an den Tanz in diesem Haus erinnern, bis

Sie sich dazu durchringen konnten, diesem Geldwäsche-
bekämpfungsgesetz zuzustimmen. Das war ein ganz lan-
ger Kampf. Das Gesetz ist ein wirksames Mittel.


(Beifall bei der SPD)

Es ist uns bei den Sicherheitspaketen I und II zur Ter-

rorbekämpfung gelungen – das ist bereits angesprochen
worden –, einige Maßnahmen auch mit Teilen der Oppo-
sition zu beschließen. Ich denke, das Thema, um das es
hier geht, ist schlicht zu wichtig, als dass man es für
durchsichtige Wahlkampfmanöver missbrauchen sollte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wesentliche Teile Ihres Antrages, vor allem die zu justiz-
politischen Themen, zu denen ich Stellung nehmen
möchte, beinhalten aber genau das.

Die rechtspolitischen Elemente Ihres Antrages enthal-
ten – das muss man wirklich deutlich sagen – ein Sam-
melsurium von unnötigen und überflüssigen Regelun-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So ist zum Beispiel der Vorschlag für eine Terrorismus-
verdachtslösung nicht nur von der rechtlichen Seite her
höchst fragwürdig, sondern im Kern auch völlig unnötig.

Selbst wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen,
ist nach § 8 des Ausländergesetzes die Aufenthaltsgeneh-
migung zu versagen, falls der Antragsteller – es ist schon
ausgeführt worden – die freiheitliche Grundordnung oder
die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.
Gleiches gilt, wenn sich die Person an politisch motivier-
ten Gewalttätigkeiten beteiligt oder dazu aufruft oder ent-
sprechende Vereinigungen unterstützt. Hier gilt der alte
Spruch, dass ein Blick ins Gesetz die Rechtskenntnis ver-
tieft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Genauso unnötig ist das Wiederaufwärmen der Regel-

anfrage beim Verfassungsschutz. Auch dazu ist hier eini-
ges gesagt worden. Aus der Praxis nur noch einmal der
Hinweis: In der Regel wissen die Ausländerbehörden
durchaus mehr als das, was sie bei den Diensten in Erfah-
rung bringen können. Von daher ist das, was im Gesetz
steht, nicht immer zielführend.

Nun zu einigen konkreten Punkten. Sie wissen genau,
dass über die Aufnahme so genannter biometrischer
Merkmale zur Identitätssicherung, wie Sie sie fordern,
längst im internationalen Rahmen – das ist die Ebene, auf
der darüber gesprochen werden muss – diskutiert wird.
Antragsteller eines Visums aus Staaten wie zum Beispiel
dem Sudan oder Jemen müssen schon heute – das ist
längst der Fall – bei den deutschen Konsularbehörden ei-
nen Fingerabdruck abgeben. Auch in diesem Bereich ha-
ben Sie also das Rad nicht neu erfunden. Das ist nur ein
Beispiel für die alten Hüte, die Sie, passend zum Wahl-
kampf, aus der Mottenkiste holen.

Folgendes an Ihrem Antrag ruft wirklich Kopfschüt-
teln hervor: Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken,
als würde auf Bundesebene nicht alles dafür getan, Si-


(A)



(B)



(C)



(D)


1484


(A)



(B)



(C)



(D)






cherheitslücken aufzuspüren und diese dann auch zu
schließen.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Genau das stimmt!)


Das möchte ich an zwei Punkten deutlich machen.
Sie sind sich nicht zu schade, einen Zusammenhang

herzustellen, aus dem man folgern könnte, das neue Staats-
bürgerschaftsrecht begünstige die Einbürgerung von
Terroristen.


(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: So ein Quatsch!)


Ich will das belegen. Schauen Sie sich einmal Ihren An-
trag an! Da finden Sie die Überschrift „Kein deutscher
Pass für Extremisten und Terroristen“.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Völlig d’accord im ganzen Hause; darüber brauchen wir
nicht zu sprechen. Aber etwas unterhalb dieser Über-
schrift versuchen Sie, den Eindruck zu erwecken, als ob
Rot-Grün genau diese Politik unterstützen würde. Da
steht nämlich, „eine leichtfertige Einbürgerungspolitik“
– genau das machen wir nicht; es wird geprüft, bevor ein-
gebürgert wird – sei ein Schritt in die falsche Richtung.
Dann listen Sie auf, dass es durch die Neuregelung des
Staatsangehörigkeitsrechts zu einer Zunahme der Zahl der
Einbürgerungen gekommen ist.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nein, nein!)

Das ist ganz geschickt, was ich aber eigentlich gar nicht
sagen möchte. Diesen Satz verquicken Sie mit der Über-
schrift. Die Überschrift und das, was folgt, müssen Sie im
Kontext sehen. Das Verwerfliche an diesem Antrag ist,
dass Sie so agieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ähnlich unkonkret und ohne Zusammenhang ist Ihre
Forderung nach einer zwingenden Angabe der Religions-
zugehörigkeit. Hier findet man das gleiche Muster, wie
ich es soeben beschrieben habe. Die Überschrift lautet:
„Extremisten und Terroristen sicher und frühzeitig identi-
fizieren“. Völlig d’accord hier im Hause. Eine weitere
Überschrift lautet: „Sicherheitslücken schließen“. Eben-
falls völlig d’accord in Bezug darauf, wo Sicherheits-
lücken bestehen. Jetzt fordern Sie aber, um diese angeb-
lichen Sicherheitslücken zu schließen, eine lückenlose
Erfassung der Religionszugehörigkeit. Das steht in dem
Text unter diesen Überschriften. Das ist die von Ihnen so-
eben genannte „praxisnahe und zielorientierte Ausle-
gung“, um das Schließen der Sicherheitslücken zu errei-
chen. Die Folge soll sein – auch das zitiere ich wörtlich
aus Ihrem Antrag –, dass „auf diese Weise ... das Risiko
bei der Einreise wesentlich besser abgeschätzt werden“
könne.

Jetzt stellen Sie sich das einmal vor: Sie fordern zwin-
gend die Angabe der Religionszugehörigkeit, um so das
Risiko bei einer Einreise besser abschätzen zu können.
Was soll denn da das Risiko sein? Ist es ein Risiko, dass
jemand irgendein Glaubensbekenntnis abgegeben hat?
Besteht dadurch ein Verdacht? Haben Sie sich das gut

überlegt? Was haben Sie hier gemacht? Sie haben die Re-
ligionszugehörigkeit als Anknüpfungspunkt für Sicher-
heitsrisiken genannt. Haben Sie dieses Recht? Aus wel-
chem anderen Grund haben Sie die Forderung erhoben,
die Angehörigen einer Religion im Zusammenhang mit
Sicherheitsrisiken zu nennen? Was ist mit denjenigen, die
kein Glaubensbekenntnis abgeben? Sind die per se kein
Sicherheitsrisiko? Schützt die Angabe der Religions-
zugehörigkeit vor irgendwelchen Risiken? Ich glaube, Sie
sind zu kurz gesprungen und haben Ihren Vorschlag nicht
zu Ende gedacht. Deswegen sollten Sie noch einmal in
Klausur gehen.


(Beifall bei der SPD)

Genauso unterstellen Sie, dass das Zuwanderungs-

gesetz, das wir verabschiedet haben, eine Verschlechte-
rung der Sicherheitssituation in Deutschland bewirken
würde.


(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das Gegenteil ist richtig!)


Wann legen Sie endlich Ihre Scheuklappen ab? Lesen Sie
das Zuwanderungsgesetz zumindest einmal durch! Denn
dann würden Sie feststellen, dass es eine Reihe von Re-
gelungen enthält, die es den zuständigen Behörden erst-
mals ermöglicht, zu kontrollieren, wer in unser Land
kommt und was er hier will. Das ist in diesem Zuwande-
rungsgesetz geregelt. Sie aber blockieren es mit Ihrer
Bundesratsmehrheit. Wenn Sie wirklich etwas für die in-
nere Sicherheit tun wollen, dann stimmen Sie endlich dem
Zuwanderungsgesetz zu! Denn da ist das geregelt, was Sie
angeblich wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Antrag – man muss es sagen – ist relativ geschickt
aufgebaut. Ich habe es deutlich gemacht: Es wird viel
Wahres und Unwahres miteinander vermischt. Er strotzt
aber vor Ideologie. Das wurde auch in einigen Re-
debeiträgen deutlich. Es werden Zusammenhänge in den
Raum gestellt, für die die Beweisführung nicht gelingt.
Da, wo es konkret wird, versagen Sie.

Meine Damen und Herren, verschonen Sie uns in Zu-
kunft mit solchen Schaufensteranträgen kurz vor Wahl-
terminen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ich glaube, diese Rede hat jetzt in Hessen die Wende gebracht!)


Handeln Sie lieber, wo es nötig ist.
Ein Punkt, der zur Wahrheit gehört, muss hier auch ein-

mal angesprochen werden: Absolute Sicherheit, wie Sie
sie mit solchen Anträgen suggerieren, kann es nicht ge-
ben,


(Zuruf von der CDU/CSU: Ich glaube, der Bökel ist mächtig stolz auf Sie!)


schon gar nicht in einer offenen Gesellschaft wie der un-
seren, zu der wir uns alle bekennen. Denken Sie an den
Mann, der vor ein paar Tagen nicht nur Frankfurt, nicht
nur Hessen in Atem gehalten hat, sondern die ganze Re-
publik. Der Mann war Deutscher, er hatte keine doppelte

Christine Lambrecht




Christine Lambrecht
Staatsangehörigkeit und hat vorher wahrscheinlich auch
nicht seine Religionszugehörigkeit angegeben. Dies zeigt,
dass es Sicherheitsrisiken gibt, die nicht ausgeschlossen
werden können.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es hätte auch jemand anderes in dem Flugzeug sitzen können!)


Es geht nicht darum, den Menschen vermeintliche Si-
cherheit zu suggerieren, sondern darum, Strukturen zu
schaffen, die dann, wenn es zu einem solchen Fall kommt,
funktionieren. Sie haben im Zusammenspiel von Land
und Bund funktioniert. Das ist richtig so.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ein Lob der hessischen Landesregierung!)


– Ich habe ja keine Scheuklappen auf, Herr von Klaeden.

(Oh-Rufe von der CDU/CSU)


Diese Zusammenarbeit hat über Jahre und Jahrzehnte
hinweg funktioniert; es wird sie auch in Zukunft geben.
Es wird keinen Landesminister geben – egal, welcher Par-
tei er angehört –, der sich über Kompetenzen im Hinblick
auf so bedeutende Fragen der inneren Sicherheit streitet,
wie sie sich an diesem Tag stellten.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokratinnen

und Sozialdemokraten wollen Sicherheit für alle sowie
Recht und Gerechtigkeit für den Einzelnen. Wir wissen
aber auch – das muss man ganz deutlich sagen –, dass der-
jenige, der sich nur auf die Sicherheit konzentriert, am
Ende beides verliert, Freiheit und Sicherheit. Das sind
Grundlagen unserer Rechtspolitik. Darin werden wir uns
nicht beirren lassen, schon gar nicht von solchen Anträ-
gen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501909200

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1501909300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der

Terrorismus ist eine Herausforderung an den Rechtsstaat.
Terrorismus bedroht nicht nur einzelne Menschen, nicht
nur einzelne Rechtsgüter; vielmehr ist Terrorismus eine
Aggression gegen unsere Zivilisation, gegen ihre Werte
und gegen unsere Art zu leben. Das ist die Dimension des
Angriffs.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Daher ist es die Aufgabe des Staates und seine Pflicht, die
Bevölkerung so gut wie möglich zu schützen; kein
Mensch suggeriert doch absoluten Schutz.

In einem Rechtsstaat liegt das Besondere und die He-
rausforderung dieser Aufgabe darin, dass wir in der Art
und Weise der Bekämpfung des Terrorismus das verteidi-

gen, was die Terroristen angreifen, nämlich die Freiheit
des Einzelnen und die Freiheitlichkeit der Gesellschaft.
Nicht auf Kosten der Freiheit, sondern um der Freiheit
willen bekämpfen wir den Terrorismus. Das ist der in-
haltliche Maßstab unseres Antrags.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch das wollen Sie ändern!)


– Ich komme gleich zu den ganz konkreten Punkten.
Ein erstes Verdienst unseres Antrages liegt in der Wahl

des Zeitpunktes,

(Christine Lambrecht [SPD]: Ah ja!)


der keinen Zusammenhang mit einem aktuellen terroris-
tischen Anschlag hat. Das hat zwei Vorteile.

Erstens können wir diese schwierigen Abwägungsfra-
gen, die sich in einem Rechtsstaat im Hinblick auf die
Bekämpfung des Terrorismus stellen, am besten dann be-
antworten, wenn wir nicht durch Emotionalität und
Empörung aufgrund eines terroristischen Anschlags be-
lastet sind. Es ist ein Verdienst, dass wir außerhalb einer
solchen Aktualität diskutieren.

Zweitens ist Terrorismusbekämpfung eine Dauerauf-
gabe. Wahrscheinlich – so ist zu befürchten – werden wir
uns auf Jahre mit diesem Thema beschäftigen müssen.
Darum reicht es nicht aus, dass wir reaktiv-ereignishaft
handeln; darum reicht es nicht aus, dass Politiker und Re-
gierungen immer erst am Tag nach dem Anschlag, aber
dann in Form eines Zehn-Punkte-Programms ganz genau
wissen, was zu tun ist. Wir brauchen eine Strategie und
planmäßiges Handeln. Wir geben eine Anleitung für eine
Strategie in der Auseinandersetzung mit Terrorismus;
nicht ereignishaft-reaktiv, sondern strategisch müssen wir
vorgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Ereignis sind die kommenden Wahlen!)


Nun komme ich zu vier Punkten, die im Bundesjus-
tizministerium ressortieren, denn innere Sicherheit ist
auch eine Aufgabe der Rechtspolitik. Das glaubt man
fast gar nicht mehr, wenn man das Handeln der Regie-
rung auf diesem Gebiet sieht. Die innere Sicherheit ist
als Aufgabe und Thema der Rechtspolitik seit Jahren va-
kant und wird nicht wahrgenommen. Auch heute finden
wir leider wieder Gelegenheit, dies nachweisen zu kön-
nen.

Ich nenne vier konkrete Punkte der Notwendigkeit ab-
gewogenen rechtsstaatlichen Handelns. Ich wiederhole
den Vorschlag der unbedingten Notwendigkeit, Sympa-
thie- und Unterstützungswerbung für terroristische
Vereinigungen wieder als Straftatbestand einzuführen.
Sie haben das geändert.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe im Bericht des Rechtsausschusses die Bera-

tungen zur Abschaffung der Strafbarkeit nachgelesen. Der
Rechtsausschuss hat mit Ihren Stimmen festgestellt, wie
die Rechtslage vor der Abschaffung der Strafbarkeit war.
Ich zitiere:


(A)



(B)



(C)



(D)


1486


(A)



(B)



(C)



(D)






Im Blick auf das Grundrecht aus Artikel 5 Abs. 1 GG
stellen die Gerichte hohe Anforderungen an die An-
nahme strafbarer Sympathie- oder Unterstützungs-
werbung; nur Äußerungen mit werbend auffor-
dernder Tendenz, die eindeutig auf die Stärkung oder
auf die Unterstützung einer bestimmten Vereinigung
angelegt sind, sollen danach in den Bereich des Straf-
baren fallen.

Es gab also immer hohe Hürden, aber auch das, was über
diese Hürden hinaus in den Bereich des Strafbaren gelangt
ist, haben Sie abgeschafft.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Unterstützung ist nach wie vor strafbar!)


Bezüglich Ihrer Intention zitiere ich weiter:
Damit

– mit der Abschaffung der Strafbarkeit –
soll insbesondere verdeutlicht werden, dass die wer-
bende Tätigkeit von sog. Solidaritätsbüros nicht vom
Merkmal des Werbens erfasst wird.

Ich frage Sie: Welches Interesse haben wir in Deutschland
an der Tätigkeit von Solidaritätsbüros terroristischer Ver-
einigungen? Welches Interesse haben wir daran?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es kann doch kein Zweifel daran bestehen – das ist die

Abwägung von Freiheiten –, dass das Werben für
Terroristen und terroristische Vereinigungen nicht die
Wahrnehmung grundrechtlich geschützter Meinungsfrei-
heit ist. Es ist doch die Bekämpfung der Freiheit des an-
deren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist die Bekämpfung einer Rechtsordnung, die Grund-
rechte garantiert.

Die Abschaffung der Strafbarkeit terroristischer Sym-
pathiewerbung ist die Legalisierung geistiger Brandstif-
tung, die Sie zu verantworten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP– HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Blödsinn!)


Bei einem zweiten konkreten Punkt ist rechtsstaat-
liches Handeln erforderlich. Wir brauchen die Auswei-
tung der Untersuchungshaft, die der Vorbeugung dient.
Diese gibt es schon im geltenden Recht. Es gibt die Un-
tersuchungshaft, die der Durchführung und Sicherstel-
lung der Hauptverhandlung dient. Wir brauchen sie aber
auch mit präventivem Charakter. Hier gibt es eine Lücke
in der Abwehr der Gefahr, die von so genannten terroris-
tischen Schläfern ausgeht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wie in den USA, ohne Verfahren! So hätten Sie es am liebsten!)


– Nein, ich möchte eine deutsche Regelung.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind doch Ihre Vorbilder!)


– Nein, ich sage Ihnen, was wir wollen. Sie haben es hier
mit den deutschen Christdemokraten und mit konkreten
Vorschlägen zu tun.

Ich nenne Ihnen einen konkreten Fall: Es gibt eine Per-
son, die der Unterstützung einer terroristischen Vereini-
gung verdächtigt wird. Die Person ist dringend verdäch-
tig und die Ermittlungen dauern an. Gleichzeitig besteht
die Gefahr, dass der Unterstützer, der noch schläft, er-
wacht und einen terroristischen Anschlag verübt. Wir ha-
ben den dringenden Tatverdacht der Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung und gleichzeitig besteht die
konkrete Gefahr der Begehung terroristischer Taten.

Dem Staat sind bis heute die Hände gebunden. Wir als
Gesetzgeber binden ihm die Hände; er kann nicht ein-
schreiten. Darum muss es die Untersuchungshaft auch zur
Abwehr von Straftaten geben; sie darf nicht erst möglich
sein, wenn Straftaten schon begangen worden sind.

Wir müssen die präventive Untersuchungshaft ein-
führen, denn sonst bleibt die Lücke in der Abwehr.
Rechtspolitik muss auch präventiv und darf nicht nur re-
pressiv arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie doch einen Fall, wo das so gewesen ist! Einen einzigen!)


– Wenn Sie es bestreiten, müssen Sie den konkreten Nach-
weis liefern. Es ist eine unbestrittene Rechtslage in dem
Fall, den ich konstruiert habe.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einen Fall!)


Die beiden weiteren Vorschläge, die wir konkret ma-
chen, sehen vor, dass wir das Eindringen durch verdeckte
Ermittler in terroristische Strukturen und das Aufbrechen
terroristischer Organisationen durch Kronzeugen auf
eine sichere rechtsstaatliche Grundlage stellen. Das ist ge-
radezu ein Rechtsstaatsgebot.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Unter Billigung milieugerechter Straftaten!)


– Dann müssen Sie auch sagen, dass Sie die Instrumente
nicht wollen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Dann müssen Sie als SPD sagen: Wir sind gegen den Ein-
satz verdeckter Ermittler.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist heute doch ständige Praxis! Wovon reden Sie eigentlich?)


Dann müssen Sie – anders als in der Koalitionsverein-
barung festgehalten – sagen: Wir sind gegen eine Kron-
zeugenregelung.

Sie können sich aber nicht im Rahmen Ihrer Image-
werbung als Sheriff der Republik dieser Instrumente rüh-
men, gleichzeitig aber die Schaffung der rechtsstaatlichen
Grundlage dieser Tätigkeit verweigern. Es ist unverant-
wortlich, wenn der Staat seine Beamten als verdeckte

Dr. Norbert Röttgen




Dr. Norbert Röttgen
Ermittler einsetzt, ihnen aber die rechtliche Grundlage
verwehrt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihre politische Schwäche in der Koalition wird auf dem
Rücken der verdeckten Ermittler, der Polizisten, ausge-
tragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Verdeckte Ermittler und Kronzeugen sind keine

Wunschinstrumente des Rechtsstaates, es sind Kompro-
missentscheidungen. Sie sind aber im Interesse der
Prävention gerechtfertigt. Wir nehmen es hin, weil es um
die Abwehr schwerster Verbrechen, in ihren Dimensionen
möglicherweise nicht absehbarer Verbrechen und An-
griffe auf unseren Rechtsstaat geht. Eine nüchterne
rechtsstaatliche Folgenabwägung stellt die Grundlage un-
serer Befürwortung der Instrumente verdeckter Ermittler
und Kronzeuge dar.

Ich habe hier nur vier konkrete Punkte aus dem Bereich
der Rechtspolitik, der Zuständigkeit der Bundesjustizmi-
nisterin, dargestellt, vier konkrete Punkte, die Ergebnis
nüchterner rechtsstaatlicher Abwägung sind, die das Ziel
haben, die Bevölkerung zu schützen, die freiheitswahrend
sind, die Ausdruck rationaler rechtsstaatlicher Politik
sind. Verweigern Sie sich nicht mit pauschaler Zurück-
weisung und falschen Argumenten unserer nüchternen
Strategie zur Bekämpfung der Terrorismus. Wir haben
eine Strategie vorgestellt. Folgen Sie ihr, dann tun wir ge-
meinsam etwas gegen den Terrorismus. Es geht um die
Bedrohung unseres Landes, unseres Rechtsstaates. Ent-
ziehen Sie sich unseren Vorstößen nicht aus kleinem par-
teipolitischen Denken!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501909400

Das Wort hat jetzt der Herr Minister des Innern und für

Sport des Landes Hessen, Volker Bouffier.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1501909500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte

gerne zuerst Ihnen, Herr Kollege Schily, zugehört. Jetzt
aber haben Sie darum gebeten, zuerst mir zuzuhören. Ich
habe dann gesagt: Lasst uns nicht darüber streiten, wer die
Debatte abräumt. Entscheidend ist, dass wir in der Sache
vorankommen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So großzügig sind wir!)


– Ja, so großzügig sind wir.
Ich will mich auf einen Punkt konzentrieren, der mir

besonders am Herzen liegt. Ich verhehle nicht, dass mich
ein Teil der Debatte erstaunt hat. Es geht um die Frage:
Wie organisieren wir in unserem Land die Gefahrenab-
wehr so, dass wir alles tun, was wir können, was wir müs-
sen, was rechtsstaatlich geboten ist, um den Bürgerinnen
und Bürgern in diesem Lande den Schutz zu geben, den
sie brauchen?

Damit bin ich bei dem Thema „Einsatz der Bundes-
wehr“. Ich spreche zu Ihnen als Innenminister eines Bun-
deslandes, also der staatlichen Einheit, die nach unserem
Verfassungsgefüge für die Polizei der Länder zuständig
ist und die Gefahrenabwehr organisiert. Ich spreche auch
zu Ihnen als der zuständige Innenminister, der mit dem
Frankfurter Flughafen den mit Abstand größten Flug-
hafen mit den mit Abstand meisten Flugbewegungen auf
dem Kontinent zu betreuen hat. In der Summe sind dies
teilweise über 170 000 Passagiere am Tag.

Ich spreche zu Ihnen als derjenige, der für eine Hoch-
hauskulisse und eine in Europa einmalige Skyline in
Frankfurt am Main zuständig ist. Man braucht kein Si-
cherheitsexperte zu sein, um zu verstehen, dass damit be-
sondere Anforderungen verknüpft sind. Ich spreche vor
allen Dingen als einer zu Ihnen, den am 5. Januar 2003,
also am Sonntag vor acht Tagen, ein Mann, der nicht nur
die Stadt Frankfurt am Main, sondern auch das ganze
Land in Atem gehalten hat, als er ein Flugzeug entführte,
mit großem Schrecken, aber auch mit Handlungsaufgaben
versehen hat.

Wenn ich von besonderen Aufgaben spreche, spreche
ich nicht von Theorie, sondern von praktisch Erlebtem.
Ich habe das Geschehen an diesem Tag zu einem guten
Teil im Lagezentrum der Frankfurter Polizei miterlebt.
Bevor ich dazu einige Bemerkungen mache, halte ich es
für angebracht, auch heute noch einmal denjenigen Res-
pekt und Anerkennung auszusprechen sowie Dank zu sa-
gen, die bei der Polizei, bei der Feuerwehr, bei der Bun-
deswehr und bei all den anderen Organisationen, die dort
eingesetzt waren, so großartige Arbeit geleistet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir verdanken es letztlich deren Können und deren Ge-
schick, dass dieses Ereignis am Schluss glücklich ausge-
gangen ist.

Ich stelle mir vor, wie die Debatte heute verlaufen
würde, wenn es uns nicht gelungen wäre, diesen Täter von
seinem Vorhaben abzubringen: Wie hätten wir handeln
können und handeln müssen? Was hätten die Flieger der
Bundeswehr tun können und gegebenenfalls tun dürfen?


(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!)

Angenommen, an diesem Sonntag Nachmittag hätte im

Waldstadion in Frankfurt am Main ein großes Spiel statt-
gefunden, dann hätten sich dort viele Tausend Menschen
aufgehalten und es hätte furchtbar viele Opfer geben kön-
nen. Wenn denkbarerweise das Eingreifen der Bundes-
wehr zu einem Verlust von wesentlich weniger Men-
schenleben und zu wesentlich geringeren Schäden geführt
hätte – das kann ich nicht beweisen; ich bin auch kein Ex-
perte –, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass wir heute
völlig anders über die Frage diskutieren würden, wann ein
solcher Einsatz vernünftig und erforderlich ist. Wir hätten
anders über die Frage diskutiert – das Wort Vorbeugung
ist mehrfach genannt worden; ich komme später darauf
zurück –, wann die Bundeswehr im Rahmen eines inte-
grierten Sicherheitskonzeptes auch in unserem Land
selbst eingesetzt werden kann, wenn die Polizei objektiv
nicht helfen kann, die Bürgerinnen und Bürger aber von


(A)



(B)



(C)



(D)


1488


(A)



(B)



(C)



(D)






uns meines Erachtens völlig zu Recht erwarten, dass wir
alles tun, was wir können und was rechtsstaatlich geboten
ist, um Gefahren zu beseitigen.

Meine Damen und Herren, damit wir uns nicht miss-
verstehen – der Kollege Bosbach hat schon darauf hinge-
wiesen –: Niemand denkt daran, die Bundeswehr zu einer
Art zweiter Bereitschaftspolizei des Bundes zu machen.
Wenn aber, wie im konkreten Fall, die Polizei die Gefahr
nicht beseitigen kann, dann kann unsere Antwort doch
nicht sein, gar nichts zu tun.


(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Nein, das ist auch nicht unsere Antwort!)


Wir müssen dann etwas tun. 100-prozentige Sicherheit
gibt es nicht; das weiß jeder. Aber das kann doch nicht be-
deuten, dass wir gar nichts tun.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch keiner verlangt!)


– Wenn Sie sagen, das hätte niemand verlangt, dann frage
ich Sie, nach welchen Regeln wir in einer solchen Situa-
tion arbeiten. Es geht vor allem um die Gefahr aus der
Luft; darauf will ich mich konzentrieren. Wer weiß vor-
her, wer für was befugt ist und wie wir miteinander reden?
Ich kann Ihnen aus praktischem Erleben sagen: Dies ist
nicht geregelt. Das Grundgesetz bietet dafür nach meiner
Überzeugung auch keine eindeutige Regelung. Ich komme
auf diesen Punkt später zurück.

Ich will ins Gedächtnis zurückrufen: Es war in diesem
Fall kein terroristischer Angriff. Es war „bloß“ ein offen-
kundig geistig verwirrter Mensch. Den Opfern ist es aber
relativ gleichgültig, ob sie Opfer eines Terroristen oder ei-
nes geistig Verwirrten werden. Die Frage, die uns die
Menschen stellen, ist doch, was wir tun, wenn dort ein
Flugzeug kreist und der Täter ankündigt, was er vorhat.
Dann kann man es doch nicht dem Zufall überlassen, wer
in dieser Situation wen erreicht. Was wäre gewesen, wenn
an diesem Sonntag der hessische Ministerpräsident und
ich den Kollegen Struck nicht relativ schnell erreicht hät-
ten, weil er irgendwo in der Welt unterwegs gewesen
wäre? Hätten wir die Entscheidung dann dem Polizeifüh-
rer vor Ort oder dem Piloten der Bundeswehr je nach de-
ren Einschätzung und Gusto überlassen sollen?


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1501909600

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Veit? Wir stoppen auch Ihre Redezeit.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1501909700

Nein, ich will in der Redezeit bleiben. Ich bitte um

Nachsicht. Ich will im Zusammenhang vortragen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieser Fall ist ein ganz schlechtes Beispiel!)


– Herr Kollege Ströbele, dieser Fall ist kein schlechtes
Beispiel.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte ein Polizeihubschrauber genauso machen können!)


Er ist sogar im Gegensatz zu dem, was hier über weite
Strecken diskutiert worden ist, nicht Theorie, sondern
praktisch und wirklich.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Realität!)

Deshalb dürfen wir uns nicht in theoretischen Debatten
verlieren. Wir müssen eine Antwort geben, und zwar vor-
her.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Nach meiner Überzeugung ist es notwendig, ein klares

eindeutiges Regelwerk auszuarbeiten. Wir brauchen eine
klare Rechtsgrundlage.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Darüber hinaus brauchen wir klare Regelungen, wie wir
miteinander arbeiten. Da hilft mir mit Verlaub eine juris-
tische Debatte, ob Art. 35 des Grundgesetzes und der Be-
griff des Unglücks das noch abdeckt, sehr wenig. Ich halte
das juristisch auch nicht für richtig. Selbst in der Literatur
habe ich wenig gefunden, was Ihre Position unterstützt,
Herr Kollege Schily. Aber selbst wenn, Sie könnten dann
vielleicht für den einzelnen Fall eine Rechtsgrundlage
schaffen; das nützt uns aber nichts. Wir brauchen vorher
verlässliche Grundlagen.

Damit es nicht so theoretisch ist, sage ich Folgendes:
Es liegt doch auf der Hand, dass ein Polizeiführer vor
Ort, der zur Beseitigung einer Gefahr auf die Bundes-
wehr zurückgreifen will – welche Einzelheiten dabei
auch immer zu beachten sind –, aufgrund eines geregel-
ten Verfahrens wissen muss, wie lange sie braucht, bis
sie da ist. Er muss wissen, was die Piloten dürfen und
was nicht. Er muss wissen, welche Wege der Kommuni-
kation es gibt. Er muss zum Beispiel wissen, wie er mit
dem Piloten kommunizieren kann. Dies alles gibt es
nicht.

In der Gefahrenabwehr gibt es – in diesem Punkt wird
mir niemand widersprechen – einen Grundsatz: Die Ge-
fahrenabwehr funktioniert besonders gut, wenn man sie
vorher übt. Es ist notwendig, mit allen Stellen zu üben,
sich entsprechend abzustimmen und ein Konzept zu ha-
ben. Glauben Sie doch nicht im Ernst, dass man die Türme
in Frankfurt, ohne eine Panik auszulösen, in 20 Minuten
räumen kann, wenn man das vorher nicht übt.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wer hindert Sie daran? – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen Sie sich einmal hin und erstellen Sie ein Konzept!)


– Ich trage ein Konzept vor. – Wenn die Gefahr auftritt, ist
es zu spät. Das haben alle gesagt. Man kann in einer Ge-
fahrenlage nicht proben, ob alle rechtzeitig da sind und ob
man diese oder jene Maßnahme ergreift. Das muss vorher
klar sein.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wann haben Sie das getan?)


Wer nicht bereit ist, hier eine klare Grundlage zu schaffen,
der lässt die Polizei, den Polizeiführer und den Piloten
schlussendlich allein.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: So ist es!)


Staatsminister Volker Bouffier (Hessen)





Staatsminister Volker Bouffier (Hessen)

Sie lassen die Leute im Stich. Eine solche Politik halte ich
für feige und verantwortungslos.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, jeder, der in der Praxis mit

Gefahrenabwehr zu tun hat, weiß, dass eine Abfolge
glücklicher Umstände wie an dem fraglichen Sonntag auf
Dauer nicht ausreichend ist, um Herausforderungen, die
eben nicht nur theoretisch sind, angemessen begegnen zu
können. Vor fast eineinhalb Jahren fand das Ereignis in
New York statt. Seit eineinhalb Jahren ist uns allen das
grundsätzliche Problem bekannt.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was haben Sie in Hessen getan, um das Problem zu lösen?)


– Wir haben in der konkreten Situation in Hessen eine
Menge Gutes getan; ich habe vorhin nicht umsonst ge-
dankt. Ich nehme den Dank nicht für mich in Anspruch,
aber eines möchte ich auch einmal sagen: Wenn Sie in
einem Lagezentrum sitzen und innerhalb weniger Mi-
nuten entscheiden müssen, ob Sie ganze Plätze räumen
und ob Sie die Menschen mit Gewaltanwendung ir-
gendwo wegholen, damit der Täter kein Ziel hat, um
eine furchtbare Ernte halten zu können, dann wissen
Sie, dass diesen Polizeibeamten mit allgemeinen, theo-
retischen und vor allem polemischen Bemerkungen we-
nig gedient ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber mit dem Grundgesetz überhaupt nichts zu tun! Was soll das mit der Grundgesetzänderung zu tun haben? – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat dieser Polizist von dem Antrag der Opposition? Nichts!)


Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Schily, und dem Deut-
schen Bundestag ausdrücklich deshalb anbieten – das
Bundesland Hessen ist dazu bereit –, dass wir uns sehr
rasch zusammensetzen, um zu klären, wie wir diese ein-
deutige Grundlage und ein geregeltes Verfahren im Inte-
resse aller erhalten können.

Herr Kollege Schily, ich bitte um Nachsicht: Sie spre-
chen nach mir, weshalb ich Sie persönlich ansprechen
will. Wir beide tragen in unserem Amt in besonderer
Weise Verantwortung – ich für Hessen und Sie für
Deutschland. Es kann doch eigentlich überhaupt keinen
Zweifel daran geben, dass wir uns darin einig sind, dass
wir alles tun müssen, um Gefahren abzuwenden. Wenn
die Polizei dies objektiv aber nicht kann, dann müssten
wir uns doch eigentlich auch darin einig sein, dass diese
Aufgabe eine Einrichtung wahrnehmen muss, die dies ge-
gebenenfalls kann, die die Gefahr vielleicht beseitigen,
zumindest aber erheblich mindern kann. Wir dürfen dann
keinen Streit führen, der sich nach meinem Dafürhalten
sehr stark im Theoretischen bewegt.

Ich habe dafür wenig Verständnis und bitte darum, dass
wir möglichst bald zu einem Ergebnis kommen. Ein Streit
um diese Frage entlang den Mauern fester Ideologien
nützt niemandem. Das zu tun, was nötig und nach meiner
Überzeugung rechtsstaatlich auch möglich ist, um Gefah-
ren von den Menschen abzuwenden, hilft uns allen.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501909800

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Veit das

Wort.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1501909900

Da ich nicht Gelegenheit hatte, meine Einlassung in

Gestalt einer Zwischenfrage vorzubringen, will ich es nun
in einer Kurzintervention tun. Ihrem letzten Satz, lieber
Herr Kollege Bouffier, der wenigstens zum Teil diesen
langen Beifall provoziert hat, kann ich nur ausdrücklich
zustimmen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Warum haben Sie dann nicht geklatscht?)


Aber ich gebe zweierlei zu bedenken.
Erstens. Ist es nicht abwegig, zu glauben, der Abschuss

eines Motorseglers über dicht besiedeltem Frankfurter
Stadtgebiet,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es hätte auch ein anderes Flugzeug sein können!)


zum Beispiel über der Zeil, beinhalte ein geringeres Ge-
fährdungspotenzial, als wenn der Betreffende seine ur-
sprüngliche Absicht wahr gemacht hätte?


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie reden einen Stuss daher!)


Zweitens. Ist es nicht von Mogadischu bis zu dem Vor-
fall, über den wir jetzt reden, in dieser Republik immer
guter Brauch gewesen, dass bei Fällen dieser Art über Par-
teigrenzen und die Frage, wer wo wann in welcher Kon-
stellation regiert hat, hinweg sowohl die Polizei als auch
der Bundesgrenzschutz als auch gegebenenfalls die Bun-
deswehr in beispielhafter Weise gut zusammengearbeitet
haben? Kann es nicht deswegen auch so bleiben, ohne
eine Verfassungsänderung vorzunehmen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501910000

Herr Minister Bouffier, Sie haben drei Minuten Zeit,

darauf zu antworten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1501910100

Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen.
Herr Kollege Veit, wir kennen uns seit vielen Jahren.

Es ging nicht nur um den Abschuss. Es ging konkret um
die Frage: Kann ein Fluggerät aus der Innenstadt abge-
drängt werden? Das können Sie nicht entscheiden, wenn
Sie das erste Mal in einer solchen Situation sind. Das kann
man üben.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das ist keine Rechtsfrage! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Bosbach [CDU/ CSU]: Selbstverständlich ist das eine Rechtsfrage!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1490


(A)



(B)



(C)



(D)






– Das ist eine Rechts- und Tatsachenfrage. Deshalb sage
ich Ihnen: Ihre Einlassung ist zu kurz gesprungen. Ich
biete Ihnen an, dass wir dieses Problem entre nous en
détail diskutieren.

Man darf nicht immer nur vom Abschuss reden. Das ist
die Ultima Ratio. Davor gibt es viele andere Möglichkei-
ten, was wir gemeinsam erörtern und tun können. Ob wir
es in der konkreten Gefahrenlage tun können, müssen die
Gefahrenexperten vor Ort entscheiden. Die müssen die
Gefahr beseitigen. Sie dürfen sich dabei aber nicht mit der
Frage herumquälen, ob ihr Handeln, egal ob sie etwas tun
oder unterlassen, danach Gegenstand staatsanwaltschaft-
licher Ermittlungen sein wird.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist bei Notsituationen immer das Risiko!)


Ich will mit folgendem Satz abschließen: Ich empfinde
es als unbefriedigend – ich glaube, damit stehe ich nicht
alleine da –, wenn sonntags etwas passiert und am darauf
folgenden Montag inklusive der deutschen Bundesregie-
rung alle darüber diskutieren, ob man die Bundeswehr
überhaupt hätte einsetzen dürfen und gegebenenfalls für
was. Gut wäre, wenn in der Frage der konkreten Gefah-
renabwehr alle wüssten, dass wir am Sonntag schon ge-
nauso schlau sind wie am Montag.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU– Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bitte noch eine Kurzintervention!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501910200

Es spricht jetzt der Herr Minister des Innern, Otto

Schily.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1501910300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen!

In der Beurteilung der Gefahrenlage sind wir uns einig.
Der Herr Kollege Bosbach hat einen Satz von mir zitiert,
der nach wie vor Gültigkeit hat.


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Herr Kollege, ich weiß nicht, was daran jetzt so komisch
ist. – Deshalb erfordert der internationale Terrorismus
weiterhin unsere anhaltende und konzentrierte Wachsam-
keit.

Nach der zwischen den Sicherheitsbehörden, Bundes-
kriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz, BND,
aber auch den Landesbehörden abgestimmten Lageein-
schätzung besteht innerhalb wie auch außerhalb unseres
Landes eine unverändert hohe Gefährdung für bestimmte
Einrichtungen, insbesondere amerikanische, israelische,
jüdische und britische Einrichtungen.

In den Gesprächen, die ich vor einiger Zeit mit den
Chefs der CIA und des FBI geführt habe, sind wir ge-
meinsam zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Be-
drohungslage gegenüber der Situation vor dem 11. Sep-
tember eher noch verschärft hat. Wir werden diese

intensive und vertrauensvolle Abstimmung auch in Zu-
kunft fortsetzen. Ich werde in Kürze noch einmal in die
Vereinigten Staaten von Amerika reisen, um gemeinsam
mit meinen Kollegen die Situation zu beurteilen.

Ich meine, wir sollten besonders beachten, dass die
Mehrzahl der Anschläge gegen so genannte weiche Ziele
gerichtet war. Das beweist die abscheuliche, menschen-
verachtende Brutalität der Terroristen und das Ausmaß der
Gefahr. Die sehr ernst zu nehmende globale Bedrohung
durch den islamistisch-fundamentalistischen Terroris-
mus nimmt uns daher gemeinsam – früher gab es den Be-
griff der Gemeinsamkeit der Demokraten; diese sollten wir
bekräftigen – in die Pflicht, alle nur denkbaren Anstren-
gungen zum Schutz der Menschen zu unternehmen.

Gleichzeitig will ich aber noch einmal deutlich vor Pa-
nikmache warnen; denn wenn wir Panik verbreiten, dann
haben die Terroristen schon gewonnen. Ich bin den In-
nenministern der Länder – dabei schließe ich Herrn Kol-
legen Bouffier ausdrücklich ein – dankbar dafür, dass sie
sich in gleicher Weise äußern. Das ist vielleicht auch das
Ergebnis der sehr guten Sitzung der Innenministerkonfe-
renz vor einigen Wochen in Bremen, in der wir noch ein-
mal gemeinsam die Sicherheitslage beurteilt und in der
Beurteilung Übereinstimmung erzielt haben.

In dem vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion
ist folgender Satz enthalten:

Jeder Staat, der den Terror wirksam bekämpfen will,
hat ... zum Schutz aller seiner Bürgerinnen und Bür-
ger die Verpflichtung, ein umfassendes rechtliches
und administratives Sicherheitsnetz zu schaffen, so-
dass Schritt für Schritt hieraus ein weltweites Sicher-
heitsnetz entsteht.

Diesem Satz kann ich mich anschließen. Wir haben das
darin formulierte Ziel bereits weitgehend verwirklicht.
Deutschland kann sich im internationalen Vergleich wahr-
lich sehen lassen. Wir haben sowohl auf nationaler wie
auch auf internationaler Ebene eine Vielzahl von Maß-
nahmen eingeleitet und durchgeführt, die wirksam und
sehr rasch den Schutz vor Aktionen des internationalen
Terrorismus verbessert haben und weiter stärken werden.
Das wird auch bei der bevorstehenden Konferenz der
Außenminister in New York erkennbar werden, in der auf
der Basis der Resolution 1373 des UN-Sicherheitsrats da-
rüber zu sprechen sein wird, wer in der Zwischenzeit was
getan hat.

Besonders hervorheben will ich die enge und vertrau-
ensvolle Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten
Staaten von Amerika und der Bundesrepublik
Deutschland. Diese Zusammenarbeit wird in kaum zu
übertreffender Form vom amerikanischen Präsidenten,
aber auch von dem amerikanischen Justizminister Ashcroft
und dem neuen Minister für Homeland Security beson-
ders gelobt.

Herr Kollege Koschyk, auch die jüngsten Festnahmen
in Frankfurt sind Ausdruck dieser sehr guten Zusammen-
arbeit.


(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Ashcroft hat mich deshalb angerufen und
gebeten, ich solle der deutschen Öffentlichkeit mitteilen,

Staatsminister Volker Bouffier (Hessen)





Bundesminister Otto Schily
dass dies das Ergebnis einer besonders guten amerika-
nisch-deutschen Zusammenarbeit ist. Weil Sie, Herr
Koschyk, in diesem Zusammenhang einen bestimmten
Soupçon zum Ausdruck gebracht haben, gebe ich Ihnen
einen guten Rat oder verbinde damit eine Bitte, um es
freundlich auszudrücken: Seien Sie in der Beurteilung
dieses Vorgangs in der Öffentlichkeit vorsichtig! Alles
kann man über solche Ermittlungsverfahren in der Öf-
fentlichkeit nicht darstellen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig, Herr Koschyk!)


Ich bin aber gern bereit, Ihnen in einem vertraulichen Ge-
spräch etwas darüber zu sagen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Auch im Ausschuss!)


– Auch im Ausschuss, wenn Sie den Wunsch haben. Wenn
Sie allerdings glauben, wir könnten Ermittlungsverfahren
immer erst mit dem Innenausschuss absprechen, dann ir-
ren Sie sich gewaltig.


(Beifall bei der SPD – Hartmut Koschyk [CDU/ CSU]: Aber Sie müssen uns einmal informieren, Herr Minister!)


– Ich mache Ihnen doch ein freundliches Angebot. Neh-
men Sie das doch einmal zur Kenntnis und seien Sie lie-
ber dankbar dafür, als schon wieder Ihre Stimme zu erhe-
ben. Herr Koschyk, ich habe diesen Vorgang jetzt sehr
höflich und freundlich kommentiert – ganz im Gegensatz
zu einigen demagogischen Äußerungen aus Ihren Krei-
sen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


– Ja, das sollten Sie ruhig einmal zur Kenntnis nehmen.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es war bisher eine ruhige Debatte!)

Meine Damen und Herren, deshalb ist die CDU/CSU-

Forderung nach Vorlage eines ressortübergreifenden Terro-
rismusbekämpfungskonzeptes überholt, das „die Aspekte
von polizeilicher und sonstiger Gefahrenabwehr, Strafver-
folgung und Vorfeldermittlung, Außen- und Sicherheits-
politik, Katastrophen- und Zivilschutz sowie Außenwirt-
schaft und Entwicklungshilfe miteinander verbindet“. Im
Rahmen der bestehenden Kompetenzordnung zwischen
Bund und Ländern wurde mit den Antiterrorpaketen I
und II das erforderliche Konzept bereits vor über einem
Jahr vorgelegt. Dieses Konzept bewährt sich. Sie kommen
also ein bisschen spät.


(Beifall bei der SPD)

Die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutsch-

land haben damit erheblich verbesserte Möglichkeiten zur
Früherkennung terroristischer Gefahren sowie zur Ver-
brechensbekämpfung gewonnen. Ihnen wurden umfang-
reiche Befugnisse eröffnet, die sie in enger nationaler und
internationaler Kooperation wahrnehmen. Die Erfolge
dieser Arbeit sind durch eine Reihe operativer Maßnah-
men und Ermittlungsverfahren sichtbar geworden. Es ist
auch kein Zufall, dass sich viele ausländische Besucher

– heute war der kanadische Justizminister bei mir zu
Gast – immer wieder danach erkundigen, was wir gemacht
haben. Sie interessieren sich dafür, weil sie Ähnliches
zum Teil erst noch nachholen müssen.

Im Gegensatz zu dem verengten Blickwinkel der
CDU/CSU-Fraktion ist es auch Ziel des Konzeptes, nicht
nur weitere Anschläge durch polizeiliche und andere
Maßnahmen zu verhindern, sondern darüber hinaus die
Ursachen des internationalen Terrorismus im Rahmen ei-
ner langfristigen Bekämpfungsstrategie zu beseitigen. In
dieser umfassenden Sicherheitspolitik greifen polizeili-
che, nachrichtendienstliche und militärische Elemente in-
einander. Die Beispiele Afghanistan und Balkan belegen,
dass die Gefahren des internationalen Terrorismus nicht
zuletzt aus zerfallenden Staaten hervorgehen, in denen
sich der Terrorismus weitgehend ungestört und unbeob-
achtet entwickeln kann.

Deshalb leistet die Bundesregierung aktive Hilfe beim
Aufbau stabiler Staatswesen und bei der Lösung gesell-
schaftlicher Konflikte. Ein Beispiel für die herausragen-
den Leistungen der Bundesregierung und der Bundes-
wehr sowie anderer Organisationen sind die Erfolge beim
Wiederaufbau staatlicher Strukturen in Afghanistan.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist Terrorbekämpfung!)


Die Leistungen der deutschen Polizeiexperten beim Auf-
bau der afghanischen Polizei werden weltweit gelobt. Den
Polizeibeamtinnen und -beamten, die dort unter Hin-
nahme großer Gefahren diese Arbeit leisten, spreche ich
hier vor dem Hohen Hause meinen ganz besonderen Dank
aus.


(Beifall im ganzen Hause)

Besonders hebe ich die Leistungen eines ehemaligen Ab-
teilungsleiters aus meinem Hause, Herrn Rupprecht, her-
vor, der dort die erste Mission geleitet hat.

Die Bundesregierung hat sich im Übrigen vom Beginn
ihrer Amtszeit an mit großer Entschlossenheit der Verbes-
serung des Schutzes vor Terrorismus, Extremismus und
religiösem Fundamentalismus gewidmet. Aus der Er-
kenntnis, dass diese extreme Form der Intoleranz eine
neuartige Bedrohung für unsere freiheitlich-demokrati-
sche Grundordnung insgesamt darstellt, dürfen wir nicht
zögern, die neu geschaffenen rechtsstaatlichen Instru-
mente gegen verfassungsfeindliche und Gewalt verherrli-
chende Organisationen auch mit der gebotenen Härte ein-
zusetzen. Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche
Bekämpfung des Terrorismus ist selbstverständlich eine
angemessene Ausstattung unserer Sicherheitsbehörden
mit Personal und Sachmitteln. Ich möchte den Hinweis
wiederholen: Der Bund hat trotz angespannter Haushalts-
lage für den angemessenen Ausbau der finanziellen, per-
sonellen und sachlichen Ausstattung der Sicherheits-
behörden umfassend Sorge getragen. So wurden in der
Zeit von 1998 bis 2002 die Ausgaben im Bereich der in-
neren Sicherheit um über 22 Prozent erhöht.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hin-
weisen – das gehört zwar nicht unmittelbar zu unserem
Thema, aber zur aktuellen Diskussion –: Es wird ja sehr
kontrovers über die Tarife im öffentlichen Dienst gespro-


(A)



(B)



(C)



(D)


1492


(A)



(B)



(C)



(D)






chen. Eines muss man aber auch sagen: Wenn wir über die
Sicherheitspolitik reden, dann müssen wir auch den
Grundsatz befolgen, dass unsere Polizeibeamten genauso
eine Leistung erbringen wie die Beschäftigten im Ban-
kensektor oder in anderen Branchen und deshalb einen
Anspruch auf angemessene Vergütung haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist wirklich aber nun unstreitig!)


Die Unterstellung von Sicherheitslücken im Antrag der
CDU/CSU-Fraktion entbehrt jeder Grundlage.


(Beifall bei der SPD)

Sie ist auch verantwortungslos, weil Sie mit ihr in der Öf-
fentlichkeit für Verunsicherung sorgen wollen. Auch die
Forderungen, die in diesem Antrag gerade im Bereich des
Ausländer- und Asylrechts erhoben werden, sind in der
Sache nicht nachvollziehbar. Selbstverständlich hat die
Bundesregierung unmittelbar nach dem 11. September
2001 geprüft, mit welchen gesetzlichen Änderungen das
geltende Recht an die Bedrohungslage angepasst werden
kann. Eine Vielzahl wirkungsvoller Rechtsänderungen im
Ausländer- und Asylrecht sowie im Ausländerzentralregis-
ter wurden mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz zügig
in Kraft gesetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Weiter gehende Rechtsänderungen, wie sie von der Op-
position gefordert werden, sind nicht erforderlich und da-
her abzulehnen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


wobei ich anmerken möchte, dass es ein Widerspruch ist,
wenn Sie uns auf der einen Seite eine Gesetzesflut vor-
werfen und auf der anderen Seite immer wieder neue Ge-
setze fordern.

Es beginnt schon mit der Behauptung in Ihrem Antrag,
dass das Ausländerrecht nicht ausreichend abschrecke.
Dieses Verständnis des Ausländerrechts ist ziemlich selt-
sam.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Ausländerrecht soll nämlich nicht generell abschre-
cken, sondern den zuständigen Behörden das notwendige
Instrumentarium bereitstellen, das es ihnen ermöglicht,
ihre Aufgaben differenziert und unter Berücksichtigung
der deutschen Sicherheitsinteressen wahrzunehmen.
Den Sicherheitsinteressen haben wir bei der Neufassung
der ausländerrechtlichen Vorschriften entsprochen. Lei-
der muss ich aber beklagen – das hat eine Umfrage bei
den Ländern ergeben; dabei ist es egal, wer in den ein-
zelnen Ländern gerade regiert –, dass beim Vollzug noch
erhebliche Lücken festzustellen sind. Die Defizite liegen
also eher im Vollzug als in den Formulierungen des Ge-
setzes.

Herr Kollege Bosbach, Sie weigern sich beharrlich
– wenn ich einen Moment Ihre Aufmerksamkeit in An-
spruch nehmen darf –, den Unterschied anzuerkennen, der

zwischen strafprozessualen Kriterien und polizeirechtli-
chen Bestimmungen besteht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Beim Polizeirecht geht es um Gefahrenabwehr. Dort
müssen wir die Kriterien festlegen, die deutlich machen,
unter welchen Voraussetzungen eine Gefahrenlage be-
steht und welche Maßnahmen gegebenenfalls getroffen
werden können. Das hat auch seinen Platz im Ausländer-
recht.


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha! Aha!)

– Das ist der Hintergrund.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das steht im Gesetz drin!)


– Ja, im Gesetz steht: wenn Tatsachen belegen, dass eine
Gefahr besteht. Sie lesen leider das Gesetz nicht. Sie wei-
gern sich beharrlich, das zu tun.


(Abg. Wolfgang Bosbach [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Nein, Herr Bosbach, ich erlaube jetzt keine Zwi-
schenfragen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha! Aha!)

Das tun Sie ja auch nicht.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Doch!)

– Nein, auch der Kollege Bouffier hat keine Zwischenfra-
gen zugelassen. Das wissen Sie doch. Ein so schlechtes
Gedächtnis sollten Sie nicht haben. Aber das haben Sie ja
auch bei anderen Fragen.

Sie wollen mit dem Begriff des Verdachts arbeiten.
Das ist aber Sache des Strafprozesses. In diesem Zusam-
menhang muss ich sagen: Herr Röttgen, ich war – Sie
können ja die Debatte noch einmal mit Frau Zypries
führen – über Ihre Ausführungen entsetzt, insbesondere
darüber, dass Sie sozusagen vorläufig vollstreckbare
Strafurteile fordern, also die Untersuchungshaft nutzen
wollen, um eine strafrechtliche Verurteilung vorwegzu-
nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Da haben Sie sich aber wirklich vergaloppiert. Darüber
müssen Sie noch einmal nachdenken und dazu müssen Sie
die entsprechenden Kommentare nachlesen. Dann wer-
den Sie selbst ins Grübeln kommen.

Die darüber hinausgehenden Forderungen der CDU/
CSU-Fraktion sind nicht geeignet, die Sicherheitslage zu
verbessern, und lassen leider auch die notwendige Sorg-
falt, die bei derartigen Forderungen unerlässlich ist, weit-
gehend vermissen. Sonst wäre Ihnen ja zum Beispiel auf-
gefallen, dass Ihre Forderung nach Herabsetzung der
Strafhöhe von drei Jahren als Voraussetzung für die Re-
gelausweisung völlig ins Leere geht. Die Regelauswei-
sung nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 des Ausländergesetzes setzt
nach geltendem Recht nur die Verurteilung zu einer Frei-
heitsstrafe ohne Bewährung voraus; eine Mindeststraf-
höhe wird nicht gefordert. Jetzt muss ich die Frage an Sie
richten: Wollen Sie die Ausweisung von Straftätern wieder

Bundesminister Otto Schily




Bundesminister Otto Schily
erschweren? Die Frage müssen Sie beantworten, wenn
Sie so etwas in Ihren Antrag hineinschreiben.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie sind ein Sicherheitsrisiko, jawohl!)


Insbesondere im Bereich der Regelungen zur Auswei-
sung und Abschiebung hat das Terrorismusbekämpfungs-
gesetz erhebliche sachgerechte Änderungen des Auslän-
dergesetzes bewirkt.

Des Weiteren wurden das Ausländergesetz um Rege-
lungen zur Ermöglichung zusätzlicher identitätssichern-
der Maßnahmen erweitert und eine enge Zusammenarbeit
von Ausländerbehörden, Auslandsvertretungen und Sicher-
heitsbehörden durch Regelungen zum Datenaustausch si-
chergestellt.

Auch die im Terrorismusbekämpfungsgesetz vorge-
nommenen Änderungen des Ausländerzentralregister-
gesetzes, insbesondere der Aufbau der AZR-Visa-Datei
zu einer Visa-Entscheidungsdatei – sonst macht sie gar
keinen Sinn –, verbessern die Kontrolle der einreisenden
Ausländer und erleichtern eine rasche Feststellung in der
Frage, ob ein in Deutschland lebender Ausländer über ein
gültiges Aufenthaltsrecht verfügt.

Ich habe eine Bitte an die Präsidentschaft. Ich habe nur
noch relativ wenig Redezeit.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Ich werde von meinem Recht als Mitglied der Bundesre-
gierung Gebrauch machen, meine Redezeit auszudehnen.
Es tut mir Leid. Aber nachdem hier so viel gesprochen
worden ist,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ein bisschen konzentrieren!)


werde ich heute einmal ausnahmsweise davon Gebrauch
machen; ich hoffe, ich komme an der Stelle nicht mit mei-
ner Fraktion in Konflikt.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Einverstanden!)


– Sie sind einverstanden. Ich bedanke mich bei der Op-
position.


(Zuruf von der CDU/CSU: Neue Runde!)

– Ja, dann machen wir eine neue Runde.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das Thema ist wichtig! Jawohl!)


Nicht nur unsere nationalen Maßnahmen entsprechen
den aktuellen Notwendigkeiten. Deutschland nimmt
auch innerhalb der Europäischen Union eine Vorreiter-
rolle bei der Sicherung gegen terroristische Gewalttäter
ein. So haben sich die Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union auf Initiative Deutschlands hin verpflich-
tet, innerhalb der nächsten fünf Jahre einheitliche Licht-
bildvisa einzuführen. Damit wird der schon heute hohe
Sicherheitsstandard des EU-Visums noch weiter verbes-
sert.

Deutschland forciert darüber hinaus auf Ebene der EU
die Aufnahme weiterer biometrischer Merkmale von Fin-
gern, Händen und Gesicht der Inhaber in Dokumenten.

Diese Merkmale sollen in verschlüsselter Form in die
Visa- und Aufenthaltstitel eingebracht werden.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das wollen wir doch auch!)


– Wenn Sie es auch wollen, ist es ja gut; dann können Sie
mich ja unterstützen. – Erste Schritte zur Einrichtung ei-
ner EU-Visa-Datenbank, die Deutschland maßgeblich
vorangetrieben hat, sind von der EU bereits eingeleitet
worden.

Mit der Neuregelung des Asylverfahrens durch das
Terrorismusbekämpfungsgesetz erfüllt Deutschland seine
völkerrechtlichen Verpflichtungen aus den Resolutionen
des UN-Sicherheitsrats, ohne dabei den humanitären Cha-
rakter des Asylrechts zu beeinträchtigen. Durch die Nor-
mierung des automatisierten Abgleichs der Fingerabdrücke
von Asylbewerbern gegen polizeiliche Tatortspuren, aber
auch durch die Einführung der Nutzungsmöglichkeit der
identitätssichernden Sprachanalyse zur Bestimmung der
Herkunftsregion, auf die auch Sicherheitsbehörden bei
Bedarf zurückgreifen können, trägt Deutschland dem ge-
steigerten Sicherheitsbedürfnis auch beim Schutz poli-
tisch Verfolgter hinreichend Rechnung.

Die von der Union vorgeschlagene Modifizierung des
Abschiebungsschutzes ist ebenfalls weder erforderlich
noch geboten. Gewährung und Ausschluss des Abschie-
bungsschutzes für politisch Verfolgte stehen in Deutsch-
land im Einklang mit den Vorgaben des internationalen
Rechts. Da die Resolution 1373 aus dem Jahr 2001 selbst
keinen über die Genfer Flüchtlingskonvention hinausge-
henden Anschlusstatbestand zum Abschiebungsschutz
enthält, ist die von der CDU/CSU geforderte Implemen-
tierung in die entsprechende Vorschrift des Ausländerge-
setzes ein völlig ungeeigneter Vorschlag.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Weiterhin wird verkannt, dass die höchstrichterliche

Rechtsprechung die Verpflichtung aus der Genfer Flücht-
lingskonvention keinesfalls infrage stellt. Die Anwen-
dung des Ausschlusstatbestandes bei ausländischen Ter-
roristen erfordert demnach stets eine Einzelfallprüfung
unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprin-
zips. Auch und gerade bei der Terrorismusbekämpfung
sind die Rechte von politisch Verfolgten mit den legitimen
Sicherheitsinteressen des Staates sehr sorgfältig abzuwä-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die von der Union vorgeschlagenen pauschalen Wertun-
gen bieten keinen Ansatz zu einer verantwortungsbewuss-
ten Politik und zu einer sachgerechten Lösung solcher In-
teressenkonflikte.

Ich will auch auf Ihre Vorhalte zum Staatsangehörig-
keitsrecht eingehen. Alles das, was Sie da vorschlagen,
führt überhaupt nicht weiter. Wir sind es gewesen, die im
Staatsangehörigkeitsrecht – § 86Abs. 1 Nr. 2 des Auslän-
dergesetzes – erstmals eine Extremistenklausel einge-
führt haben.


(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Bosbach, Sie haben in diesem Zusam-

menhang aus dem Kaplan-Urteil zitiert und auf einige


(A)



(B)



(C)



(D)


1494


(A)



(B)



(C)



(D)






eingebürgerte Personen verwiesen. Ich kann Sie nur da-
rauf hinweisen: Diese Personen sind im Rahmen des
Rechts, das Sie zu vertreten haben, eingebürgert worden
und nicht im Rahmen des neuen Rechts.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Bosbach [CDU/ CSU]: Dann muss man es doch jetzt besser machen!)


– Deshalb machen wir es jetzt besser und deshalb werden
diese Überprüfungen selbstverständlich vorgenommen.

Sie haben Schleswig-Holstein erwähnt. Diesbezüglich
haben Sie in einem Punkt Recht: Man hatte dort eine
falsche Formulierung. Inzwischen hat man das aber be-
hoben. Offenbar sind Sie da nicht auf dem neuesten Stand.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Gestern war es noch nicht behoben! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Dann ist das heute über Nacht passiert!)


– Nein, das ist falsch. Sie haben hier behauptet, das sei nur
noch mit Zustimmung möglich. Das ist falsch. Ich habe
mich erkundigt: Das geht inzwischen anders, ohne Zu-
stimmung. Da haben Sie auf das falsche Pferd gesetzt.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das war gestern noch anders!)


– Nein, gestern nicht. Erkundigen Sie sich! Ich teile Ihnen
jetzt gerne den neuesten Stand mit.

Ich will ferner auf einen anderen wichtigen Punkt zu
sprechen kommen, der in der Öffentlichkeit in der letzten
Zeit eine immer größere Rolle gespielt hat: das System
des Zivil- und Katastrophenschutzes. Die Union zeich-
net in ihrem Antrag ein Bild, das den Eindruck nahe legt,
dass bei der – in der Tat notwendigen – Umstrukturierung
dieses Bereiches bei null begonnen werden müsse.

Richtig ist, dass schon seit den Anschlägen am 11. Sep-
tember offener als bisher – das müssen wir uns gegensei-
tig bestätigen – über mögliche Schwachstellen gespro-
chen wird, die das Ergebnis einer durch die veränderte
Sicherheitslage bedingten Rückführung des Zivilschutzes
zu Beginn der 90er-Jahre sind.

Der Kritik aus den Reihen der CDU/CSU könnte ich
jetzt mit dem Hinweis begegnen – darüber haben wir
schon gesprochen –, dass der massive Abbau der Zivil-
schutzkapazitäten unter ihrer Regierungsverantwortung
durchgeführt wurde. Aber der Hinweis auf Versäumnisse
in der Vergangenheit bringt uns alle nicht weiter, zumal
ich nicht bestreiten kann, dass auch wir diesen Duktus
nach der Regierungsübernahme eine Weile fortgesetzt ha-
ben. Lassen wir die Vorwürfe an beide Adressen einmal
beiseite und kümmern wir uns lieber um das, was jetzt zu
tun ist, und um die Zukunft. Das ist die vernünftigere Ein-
stellung zu diesem Problem.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich halte es deshalb für angemessen, diese Frage nunmehr
sachlich zu diskutieren.

Derzeit stehen auf der einen Seite der drohende mi-
litärische Angriff als Grundlage für die Zivilschutzauf-

gabe in der Zuständigkeit des Bundes, auf der anderen
Seite die so genannte friedensmäßige Katastrophe in der
Zuständigkeit der Länder. Vor wenigen Jahren war diese
Regelung noch stimmig. Allerdings passt die asymmetri-
sche Bedrohung durch den internationalen Terrorismus
nicht mehr ohne weiteres in die tradierte Zuständigkeits-
verteilung. Auch mancher Ablauf bei der Bewältigung der
Flutkatastrophe stellt die herkömmlich sehr strenge Zwei-
teilung der Zuständigkeiten infrage.

Wir haben jetzt die Chance, eine neue Strategie zum
Schutz der Bevölkerung in Deutschland durchzusetzen.
Daran arbeiten wir bereits. Mit den Ländern habe ich mich
im vergangenen Jahr in der Ständigen Konferenz der In-
nenminister und Innensenatoren auf eine neue Rahmen-
konzeption für den Zivil- und Katastrophenschutz ver-
ständigt. Lesen Sie das doch einfach einmal nach und
lesen Sie auch, was auf dem Gebiet in der Zwischenzeit
alles geschehen ist. Wegen der Kürze der Redezeit ver-
zichte ich auf eine Aufzählung, welche Maßnahmen wir
– übrigens schon vor dem 11. September – in die Wege ge-
leitet haben.

Eines möchte ich doch erwähnen: Wenn wir die sich in
diesem Zusammenhang stellenden Fragen ernst nehmen,
müssen wir uns auch für einen modernen Digitalfunk ein-
setzen; den braucht Deutschland dann nämlich dringend.
Daran sollten nun wahrlich alle mitwirken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bitte Sie aber auch, einmal im Land Hessen nachzu-
fragen, warum es sich in dieser Frage so zögerlich verhält.
Sie sollten dann vielleicht noch einmal mit Herrn Minis-
terpräsidenten Koch sprechen. Ich wäre Ihnen, Herr
Koschyk, für jede Unterstützung in diesem Zusammen-
hang dankbar.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bei der IMK ist die Zuständigkeit!)


– Ja, auch bei der IMK; aber es geht ja leider nicht nur
diese an, sondern auch die Finanzminister. Da habe ich
auch einige Probleme mit sozialdemokratisch regierten
Ländern. Ich bin da ganz ehrlich.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Auf Ihrer Seite auch!)


– Ja, natürlich. Deshalb meine Bitte: Reden Sie mit Ihren
Leuten, ich rede mit unseren Leuten. Dann kommen wir
vielleicht gemeinsam ein Stückchen voran. Im Rahmen
unserer internationalen Aktivitäten haben wir uns auch
um diese Fragen gekümmert. Ich will es hier nur in dieser
gerafften Form vortragen.

Ich könnte jetzt noch über die Frage des Vereinsver-
botes sprechen. Da ist Ihnen, Herr Koschyk, ein Lapsus
bezüglich des Zeitpunktes unterlaufen. Ich buche das ein-
mal auf das Konto des Wahlkampfes. Ich kann mich nicht
an solchen Daten orientieren. Ich mache das dann, wenn
ich in Abstimmung mit Bund und Ländern den richtigen
Zeitpunkt für gekommen halte. Ich bin gerne bereit, Ihnen
in einem Vieraugengespräch die Hintergründe hierfür zu
erläutern. Was Sie dort als Soupçon untergebracht haben,
sollten Sie lieber lassen. Ich finde das nicht fair. Ich wäre

Bundesminister Otto Schily




Bundesminister Otto Schily
Ihnen wirklich dankbar, wenn wir uns nicht auf dieses Ni-
veau begäben.

Ich könnte auch noch etwas zur Kronzeugenregelung
sagen, Herr Röttgen. Das, was wir vorhaben, stellt den
richtigen Ansatz dar. Sie haben da offensichtlich immer
noch die alte Formel im Kopf.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Wenn Sie sie nicht mehr im Kopf haben, ist es ja gut;
dann sind wir uns ein Stückchen näher gekommen.

Wir können das auch etwas umständlich Aufklärungs-
gehilfe nennen, wie Herr Kollege Beck es vorschlägt –
vielleicht ist das sogar ein ganz guter Ausdruck, der der
Sache näher kommt als der Begriff Kronzeuge.


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Ich will Ihnen erklären, warum er der Sache näher
kommt: weil es nicht darum geht, einen Handel bezüglich
einer Aussage und einer Vergünstigung zu machen. Das
führt in die Irre. Das Modell der „pentiti“ in Italien – das
ist ja das Thema – hat übrigens auch in die Sackgasse ge-
führt. Es kommt vielmehr darauf an, ein rechtliches Instru-
mentarium zu finden, das den Personen, die in objektiv
nachvollziehbarer Weise zur Aufklärung von schwersten
Verbrechen beitragen, Vergünstigungen in Aussicht stellt.
Das ist der eigentliche Punkt. Darüber können wir uns
verständigen, auch mit den Grünen, die da eine klare Li-
nie verfolgen; da bin ich sicher.


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Doch, das ist der Punkt. Deshalb hoffe ich, dass hier die
Vernunft siegt.

Lassen Sie mich zum Schluss, weil das ja von Herrn
Kollegen Bouffier sehr ausführlich angesprochen worden
ist, auf den jüngsten Vorfall in Frankfurt und auf die
grundsätzliche Frage des Einsatzes der Bundeswehr im
Innern eingehen. Mein Standpunkt ist nach wie vor, dass
die verfassungsrechtlichen Grundlagen, wie sie im
Grundgesetz stehen, dafür ausreichen, dass das Militär da,
wo es als Ultima Ratio notwendig ist, eingreifen kann. Ich
habe aber auch Verständnis dafür, dass einige Fragen im
Zusammenhang mit dem Air Policing auftreten, wie es so
schön heißt. Deshalb hat das Innenministerium auch ge-
meinsam mit dem Verteidigungsministerium und dem
Verkehrsministerium eine Arbeitsgruppe gegründet, die
sich mit diesen Fragen beschäftigt.

Lassen Sie uns doch diese Debatte ergebnisoffen
führen. Wenn jeder mit fliegenden Fahnen in die Debatte
hineingeht und dort sein fest gefügtes Urteil durchsetzen
will, kommen wir kein Stück weiter. Sie wissen, dass wir
eine strikte Trennung zwischen polizeilicher und militäri-
scher Tätigkeit wollen. Darüber gibt es, wie ich glaube
– Herr Koschyk nickt –, im Grundsatz eigentlich keine
Meinungsunterschiede.

Bei dem konkreten Fall lag ein Abschuss völlig außer-
halb dessen, was man in Betracht ziehen konnte. Übrigens
hat sich Herr Kollege Bouffier nicht rechtswidrig verhal-
ten, sondern aufgrund der bestehenden Verfassungslage
völlig korrekt gehandelt, als er sich an Herrn Struck ge-

wandt und um Hilfe der Bundeswehr gebeten hat. Auch
der Kollege Struck hat sich korrekt verhalten. In dieser Si-
tuation wäre ein Abschuss das Dümmste gewesen, was
man hätte tun können. Man hatte die Hochhäuser ja
geräumt und wenn der Pilot mit der entführten Maschine
in diese Häuser hineingeflogen wäre, hätte er nur sich
selbst umgebracht. Wenn der Motorsegler aber abge-
schossen worden wäre, hätte das einen unabsehbaren
Schaden verursacht.

Der Abschuss wäre also nicht das geeignete Mittel ge-
wesen, auch aus polizeilicher Sicht nicht.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Deswegen hat er ja auch nicht stattgefunden!)


In einer anderen Situation könnte er vielleicht das letzte
Mittel sein. Man müsste einmal sehr genau überlegen, ob
es eine solche Situation geben könnte. Aber wir müssen
– da wiederhole ich mich – eher versuchen, zu verhindern,
dass Maschinen entführt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Da ist noch einiges zu tun, auch vonseiten der Länder.
Wer mir in diesem Zusammenhang Vorwürfe macht,

liegt falsch, lieber Herr Koschyk. Wir haben den Ländern
sogar im Vorgriff auf die EU-Luftsicherheitsverordnung
Empfehlungen gegeben, obwohl die Flugplätze der allge-
meinen Luftfahrt in die Zuständigkeit der Länder fal-
len. Das sage ich Ihnen nur, damit Sie uns nicht immer
wieder den schwarzen Peter zuschieben.

Ich bin dafür, dass wir die Dinge nüchtern diskutieren.
Wenn Sie einen Gesprächswunsch haben, werde ich mich
dem nicht verweigern. Wir werden Sie auch in Kenntnis
darüber setzen, was die eingesetzte Arbeitsgruppe erar-
beitet. Aber lassen Sie uns nicht an der falschen Stelle an-
setzen und Bestrebungen wieder aufleben lassen, gegen
die sich seinerzeit interessanterweise auch der Kollege
Rühe zu Recht gewehrt hat.


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Damals hat Herr Schäuble eine allgemeine Öffnung des
Militärs für die polizeiliche Arbeit gefordert. Herr Rühe
hat das zu Recht abgelehnt und gesagt: Die Bundeswehr
ist mit ihren militärischen Aufgaben voll ausgelastet. Sie
wird sich auch in Zukunft auf diese Aufgaben konzentrie-
ren. Zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen
Armee und Polizei sollte auch in Zukunft unterschieden
werden. – Wie wahr, Herr Rühe! Dabei werden wir blei-
ben, meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und was sagen Sie dazu Herrn Struck?)


– Dem sage ich dasselbe. Ich habe Ihnen doch berichtet,
dass wir eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben.

Es tut mir sehr Leid, dass ich meine Redezeit so aus-
gedehnt habe. Die Fraktionsgeschäftsführer sind inzwi-
schen in heller Aufregung.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Nur die eigenen!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1496


(A)



(B)



(C)



(D)






Ich gelobe Besserung und werde mir eine solche Über-
ziehung der Redezeit nicht mehr erlauben, obwohl das
nach der Geschäftsordnung ja möglich ist.

Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen, meine
Damen und Herren: Dieses Thema ist viel zu ernst, als
dass es irgendeine Seite als taugliches Instrument für par-
teipolitische Profilierung ansehen sollte. Das ist meine
volle Überzeugung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin absolut gesprächsoffen. Lassen Sie uns diese Fra-
gen so behandeln, dass wieder etwas an gemeinsamer
Verantwortung der Demokraten für die Sicherheit der
Menschen in Deutschland und außerhalb unseres Landes
spürbar wird. Dann kommen wir einen Schritt voran. Wir
sollten auf diese Weise eine konstruktive Debatte führen.
Niemand sollte sich auf ein erhöhtes Podest stellen und
behaupten, er habe die Weisheit für alle Zeiten gepachtet.
Das ist erfahrungsgemäß nie der Fall. Meine Bitte ist
wirklich, dass wir konstruktiv diskutieren und diese Fra-
gen nicht für Polemik instrumentalisieren. Dafür taugt
dieses Thema am allerwenigsten.

Ich bedanke mich für Ihre Geduld.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501910400

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Röttgen

das Wort.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1501910500

Herr Minister Schily, ich melde mich zu Wort, weil ich

den Appell, den Sie am Ende Ihrer Rede ausgesprochen
haben, sehr ernst nehme. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede
an die Gemeinsamkeit der Demokraten appelliert. Dieser
Appell setzt sicherlich zunächst die Bereitschaft zur sach-
lichen Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der poli-
tischen Gegenseite voraus.

Am Ende einer langen Debatte möchte ich einen Punkt
nennen, auf den Sie mich konkret angesprochen haben
und der leider beispielhaft für eine Reihe von Fällen steht,
in denen Sie sich nicht sachgerecht mit unseren Vorschlä-
gen auseinander gesetzt haben. Ich will das am Beispiel
dieses Punktes ganz konkret nachweisen.

Wir haben vorgeschlagen – darauf haben Sie sich be-
zogen –, bei dringendem Tatverdacht zur Abwehr von ter-
roristischen Taten eine präventive Untersuchungshaft
einzuführen. Sie haben sich generell gegen dieses Instru-
ment gewandt und haben es der Sache nach als rechts-
staatswidrig bezeichnet, indem Sie von einer vorläufigen
Vollstreckung im Strafrecht gesprochen haben.

Ich möchte anregen, dass Sie sich § 112 a der Strafpro-
zessordnung ansehen. Sie werden dann feststellen, dass es
dieses Instrument, das Sie als solches für rechtsstaatswid-
rig halten, im geltenden Strafprozessrecht etwa zur Ab-
wehr von Sexualstraftaten und anderen schweren Verbre-
chen gibt. Dieses Instrument ist also geltendes Recht.

Wir sind der Auffassung, dass es bei konkretem Ver-
dacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung
und der Begehung terroristischer Straftaten wegen der
möglicherweise nicht absehbaren Dimension der drohen-
den Verbrechen gerechtfertigt ist, die präventive Untersu-
chungshaft auch in diesem Fall anzuwenden. Wie gesagt,
in anderen Fällen gibt es sie bereits. Dieses Instrument ist
in unserem Strafprozessrecht bekannt.

Wenn Sie sich und wenn sich Ihr Haus ernsthaft mit un-
serem Vorschlag auseinander gesetzt hätten, hätten Sie
diesen Vorwurf uns gegenüber nicht erhoben. Die Bereit-
schaft der Mehrheit, die Gesetze beschließen kann, sich
mit Argumenten der Gegenseite, also der Minderheit, aus-
einander zu setzen, ist sicherlich geboten, wenn wir die-
ses Thema in der von Ihnen beschriebenen Art und Weise
gemeinsam behandeln wollen. Um dies zu verdeutlichen,
habe ich mich zu Wort gemeldet.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1501910600

Herr Kollege Röttgen, es ist gut, dass wir in diesem

sachlichen Ton miteinander reden. Das begrüße ich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das hätten Sie schon eben machen können! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Herr Röttgen hat es auch sachlich gemacht!)


– Sie müssen doch nicht gleich protestieren, wenn ich et-
was Nettes sage, Herr Koschyk.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es protestiert doch keiner!)


Wir müssen zwei Aspekte unterscheiden. Die Untersu-
chungshaft dient in erster Linie der Sicherung des Verfah-
rens. Dafür werden bestimmte Kriterien vorgegeben:
Wenn Fluchtgefahr, zum Beispiel wegen der Höhe der
drohenden Strafe, oder wenn Verdunklungsgefahr be-
steht, kann Untersuchungshaft angeordnet werden. Den
anderen Gesichtspunkt, die polizeiliche Gefahrenabwehr,
können Sie im Polizeirecht finden. In manchen Fällen soll
die Haft Menschen daran hindern, sich an Straftaten zu
beteiligen.

Herr Kollege Röttgen, diese Unterscheidung sollten
wir aufrechterhalten. Das ist geltendes Recht. Sie dürfen
die Dinge nicht durcheinander bringen. Bei einer drohen-
den Verurteilung liegt der Fall anders als beim Vorliegen
einer Wiederholungsgefahr. In diesem Fall spielt der Ab-
wehrcharakter im Strafrecht eine Rolle. Natürlich gibt es
da eine Schnittstelle.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!)

– Ja, aber nur an der Stelle. Wenn Sie eine Wiederho-
lungsgefahr befürchten, dann können Sie auf Grundlage
der geltenden Vorschriften, wie Sie es selber gesagt ha-
ben, entsprechend eingreifen.

Ich biete Ihnen an, dass wir einmal ein gemeinsames
Gespräch darüber führen. Staatssekretär Hartenbach
scharrt schon mit den Hufen, weil auch er gerne in die De-
batte eingreifen will. Ich mache Ihnen dieses Angebot, ob-
wohl dieser Bereich mehr in die Zuständigkeit meiner

Bundesminister Otto Schily




Bundesminister Otto Schily
ehemaligen Staatssekretärin fällt. Sie ist eine sehr gute Ju-
ristin; auch sie wird in dieser Frage gerne ihre Meinung
mit Ihnen austauschen. Wenn wir das in dem Stil tun, in
dem Sie eben Ihre Kurzintervention gehalten haben, dann
kommen wir ein Stück weiter.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501910700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach § 35 Abs. 2 der

Geschäftsordnung kann die Fraktion, die eine abwei-
chende Meinung vortragen lassen will, für einen ihrer
Redner eine entsprechende Redezeit verlangen, wenn ein
Mitglied der Bundesregierung länger als 20 Minuten ge-
sprochen hat. Herr Kollege Binninger, Sie haben jetzt die
Möglichkeit, 16 Minuten – Sie müssen natürlich nicht so
lange reden – zu sprechen.


(Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU])



Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1501910800

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Eine spontane Rede von 16 Minuten wird Ihnen er-
spart bleiben. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen,
an das anzuknüpfen, was der Herr Innenminister zum
Schluss gesagt hat. Er hat gesagt, das Thema der terroris-
tischen Bedrohung sei viel zu ernst, als dass es sich für
parteipolitische Polemik eignen würde, und an die Ge-
meinsamkeit der Demokraten appelliert. Das kann ich
nur unterstützen. Nur waren davor etwa 28 Minuten Ihrer
Rede – Herr Minister, die Kritik muss ich direkt anbrin-
gen – genau das Gegenteil von Gemeinsamkeit der De-
mokraten. Das war nur oberlehrerhaft. Auf unsere Posi-
tion sind Sie mit keinem Wort eingegangen.

Sie hatten mit Herrn Minister Bouffier Ihr Rederecht
getauscht, weil Sie ihm zuhören wollten. Damit hatte ich
die Hoffnung verbunden, dass Sie auf diesen sehr sach-
lichen Vortrag von Herrn Bouffier – –


(Zurufe von der SPD: Oh! – Christine Lambrecht [SPD]: Zur Sache hat er nichts gesagt!)


– Ich unternehme einen weiteren Versuch. Herr Bouffier
hat, wie ich finde, das Problem des Bundeswehreinsatzes
bei einem entführten Flugzeug in sehr sachlicher Weise
beleuchtet. Dazu haben Sie so gut wie nichts gesagt, nur
am Schluss einige wenige Sätze.

Ich habe selber 23 Jahre im Sicherheitsbereich gear-
beitet. Wenn Sie in der Diskussion sagen, es sei ja alles ge-
regelt, lassen Sie die Menschen, die im konkreten Mo-
ment Verantwortung tragen, ganz allein, und das kann
nicht sein. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, damit
wir Handlungssicherheit für alle haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch Unsinn! Blanker Unsinn! Sie bauen einen Popanz auf! Wieder Verunsicherung verbreiten, das ist doch Ihr Ziel!)


– Herr Schmidt, wir können uns nicht immer vorhalten,
was wir Ende der 80er- oder Anfang der 90er-Jahre ent-

schieden und wie wir die Situation bewertet haben. Wir
sind uns doch einig – das wird aus den Beiträgen auch im-
mer deutlich –, dass sich die Bedrohungslage nach dem
11. September 2001 verändert hat. Das heißt, wir können
die Bewertungen, die wir vorher vorgenommen haben,
nicht mehr als Beleg für irgendwelche Fehlentscheidun-
gen heranziehen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Aber das Grundgesetz hat sich bewährt!)


Wenn wir in diesen Tagen das Land darauf vorbereiten,
dass wir möglicherweise die ganze Bevölkerung gegen
Pocken impfen müssen, weil ein terroristischer Angriff
drohen könnte – ich formuliere es ganz vorsichtig, aber
Frau Schmidt bereitet ja die Bevölkerung darauf vor –,
kann man, glaube ich, nicht von Popanz sprechen. Wenn
wir damit rechnen müssen, dass leider auch Flugzeuge
entführt und in so genannte weiche Ziele gelenkt werden
können, ist das kein Popanz, Herr Schmidt. Damit müssen
wir uns auseinander setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will ganz konkret noch einmal auf die vier Punkte

eingehen, die der Kollege Bosbach in der ersten Rede zu
unserem Antrag angesprochen hat. Er hat etwas gesagt zur
Regelanfrage beim Verfassungsschutz vor der Einbürge-
rung, zur Kronzeugenregelung, zur Verdachtsausweisung
bei Terrorismusverdacht und zum Einsatz der Bundeswehr.

Herr Minister Schily, Sie haben gestern eine extremis-
tische Organisation völlig zu Recht verboten und auch
ganz klar die Konsequenzen aufgezeigt. Das unterstützen
wir, wie wir ja auch vieles andere unterstützen. Man sollte
nicht vergessen, dass wir uns in vielen Bereichen einig
sind. Der Unterschied besteht darin, dass wir sagen: Wir
müssen noch mehr tun. An bestimmten Stellen hören Sie
zu früh auf.

Ich weiß nicht, meine Damen und Herren von der SPD
und von den Grünen, warum Sie sich so schwer tun, Per-
sonen auszuweisen, die nachweislich terroristische Be-
strebungen unterstützen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nachweislich! Darum geht es doch überhaupt nicht!)


– Danke, Herr Ströbele. – Ich nehme das Beispiel von ges-
tern. Die Organisation, die der Herr Innenminister verbo-
ten hat, führt – so war es zumindest gestern Abend den
Medien zu entnehmen und so ist es zu lesen – auf Ihrer
Website die Fatwa von Bin Laden und al-Quaida aus 1998
auf. Ich will sie gar nicht zitieren, weil sie wirklich wi-
derwärtig ist. Gegen diese Gruppe gehört vorgegangen.
Die Vereinigung ist nun verboten, aber die Funktionäre
sitzen noch hier. Wir sagen, auch solche Funktionäre müs-
sen abgeschoben werden. Warum tun Sie sich da so
schwer? Das verstehe ich nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn das gestern verboten worden ist, wie soll das denn heute passieren?)


– Herr Schmidt, es wäre ja schon ein Ansatz, wenn es nur
an der Zeit liegt. Damit kommen Sie uns entgegen.


(A)



(B)



(C)



(D)


1498


(A)



(B)



(C)



(D)






Wir müssen auch darüber sprechen, was wir mit den
Funktionären von solchen extremistischen Organisatio-
nen tun. Aus dem Verfassungsschutzbericht wissen wir
– auch das ist eine Zahl, die uns zu denken geben sollte –,
dass es in Deutschland etwa 60 000 ausländische Extre-
misten gibt. Die Mehrzahl davon sind islamistische
Extremisten. Erzählen Sie einmal der deutschen Bevöl-
kerung, warum wir nicht mit allen zur Verfügung ste-
henden Mitteln gegen diese Personen, die bereits hier
sind, vorgehen! Das können wir uns auf Dauer nicht leis-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Minister Schily, Sie haben eine sachliche Ausei-

nandersetzung angemahnt. Genau das haben wir heute
versucht. Da es in der heutigen Debatte – warum auch im-
mer – offensichtlich nicht möglich war, sich mit unseren
Punkten auseinander zu setzen, ist meine Bitte, dass wir
uns im Ausschuss ausführlich über dieses Thema unter-
halten. Wir sollten einfach einmal das Pro und Kontra ab-
wägen.

Wir sind uns doch einig darin, dass wir die deutsche
Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen, wie sie am
11. September 2001 passiert sind, schützen müssen. Es
kann doch nicht so schwer sein, über all die Maßnahmen,
die in diesem Zusammenhang notwendig wären, zu dis-
kutieren. Man sollte nicht immer von vornherein sagen
– genau das haben Sie heute getan –: All das, was die
CDU/CSU empfiehlt, kommt aus der Mottenkiste. Das
wollen wir nicht; das ist Wahlkampf. – Das ist keine
Auseinandersetzung, wie ich sie hier im Parlament er-
warte.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte mit einem Appell schließen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Du hast noch zehn Minuten!)


– Vielen Dank.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wir hören dich gerne!)

Wir alle – Herr Beck, ich möchte Sie ausnahmsweise

kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten –, die wir hier sitzen,
tragen die Verantwortung für unser Land. Wir haben alles
dafür zu tun, dass sich bei uns keine Terroranschläge er-
eignen. Wir haben alles dafür zu tun, dass es gelingt, un-
sere Bevölkerung davor zu schützen. Wenn wir das ernst
meinen, dann sollten wir auch bereit sein, über das Pro
und Kontra eines jeden Vorschlages zu diskutieren. Wenn
Sie hinterher die besseren Argumente haben, dann
schließen wir uns Ihnen an. Das haben wir auch bei den
Sicherheitspaketen getan.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es! Wir haben im Gegensatz zur FDP zugestimmt!)


Wir haben uns Ihnen angeschlossen. Den Anspruch aber,
dass wir Ihnen immer Recht geben und dass all das, was
wir vorschlagen, falsch ist, sollten Sie nicht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine entscheidende Weichenstellung wird sein: Die

Menschen in unserem Land zu schützen, das werden wir

nur dann erreichen, wenn wir vorbeugend handeln. Wol-
len Sie warten, bis wieder etwas passiert? Deshalb müs-
sen wir über alle Eventualitäten nachdenken. – Herr
Schmidt, da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn Sie solchen Unsinn erzählen, dann muss man wenigstens den Kopf schütteln dürfen!)


– Herr Schmidt, ich habe gerade gesagt, dass wir für alle
Menschen in unserem Land die Verantwortung haben, sie
vor terroristischen Anschlägen zu schützen. Wenn Sie das
als Unsinn bezeichnen, dann ist das zwar Ihre Meinung.
Aber die ist bedenklich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU], zu Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD] gewandt: Das ist kein anständiger Umgang!)


Wenn Sie den Schutz der Bevölkerung als Unsinn be-
zeichnen, ist das bedenklich.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre Aussage ist Unsinn!)


Wenn Sie jemandem vor dem 11. September

(Zurufe von der SPD)


– zwei Sätze noch, dann haben Sie es überstanden –

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sparen Sie sich einmal Ihre Arroganz!)


gesagt hätten, es passiere ein Terroranschlag in der Form,
dass Flugzeuge in das World Trade Center gelenkt wer-
den, hätte jeder gesagt: Das ist Unsinn; das ist Popanz.
Heute wissen wir, dass wir leider jeden Anschlag für mög-
lich halten müssen. Deshalb haben wir alle zusammen die
Pflicht, alles dafür zu tun, um solche Anschläge zu ver-
hindern.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501910900

Weitere Redemeldungen liegen nicht vor.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/218 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowie
die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
18. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau
von Steuervergünstigungen und Ausnahmerege-

(Steuervergünstigungsabbaugesetz – StVergAbG)

– Drucksachen 15/287, 15/312 –

Clemens Binninger




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(19. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung (TA)

Beratungskapazität Technikfolgenabschätzung
beim Deutschen Bundestag – ein Erfahrungs-
bericht
– Drucksache 14/9919 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich
Adam, Ilse Aigner, Dietrich Austermann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Transatlantische Beziehungen stärken – Pots-
dam Center fördern
– Drucksache 15/194 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk
Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Georg
Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfern-
straßenfinanzierungs- und Managementgesell-

(Bundesfernstraßenfinanzierungsund Managementgesellschaftsgesetz – BFFuMGG)

– Drucksache 15/299 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Haushaltsausschuss

ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

(6. StU-ÄndG)

– Drucksache 15/313 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/287
soll – abweichend von der ursprünglichen Tagesordnung –
nicht an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit überwiesen werden. Zu dem Gesetzent-
wurf liegt inzwischen auf Drucksache 15/312 die Ge-
genäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme
des Bundesrates vor, die wie der Gesetzentwurf überwie-
sen werden soll. Sind Sie einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 18. Februar 2002zwischen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der RepublikPolen über die Zusammenarbeit der Polizei-behörden und der Grenzschutzbehörden inden Grenzgebieten
– Drucksache 15/11 –

(Erste Beratung 12. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses

(4. Ausschuss)

– Drucksache 15/240 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Tobias Marhold
Günter Baumann
Dr. Max Stadler
Silke Stokar von Neuforn

Es handelt sich um die Beschlussfassung zu einer Vor-
lage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.

Damit kommen wir zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Stimmt jemand dagegen? – Enthaltungen? – Das ist nicht
der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit auch in der dritten
Lesung einstimmig angenommen worden.


(A)



(B)



(C)



(D)


1500


(A)



(B)



(C)



(D)






Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:

6. Wahlen zu Gremien
a) Programmbeirat (Sonderpostwertzeichen)


beim Bundesministerium der Finanzen
– Drucksache 15/206 –

b) Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Ge-
setzes
– Drucksache 15/303 –

ZP 4 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsen-
denden Mitglieder des Kuratoriums der Stif-
tung „Haus derGeschichte der Bundesrepublik
Deutschland“
– Drucksache 15/304 –

Ich weise darauf hin, dass diese Wahlen mittels Hand-
zeichen durchgeführt werden.

Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Programm-
beirats beim Bundesministerium der Finanzen. Dazu liegt
ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/
CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf
Drucksache 15/206 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvor-
schlag? – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltun-
gen? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen
worden.

Wir kommen zur Nachwahl von Mitgliedern des Bei-
rats nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Dazu liegt
ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/303 vor.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen
der Regierungskoalition und der Fraktion der CDU/CSU
bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen worden.

Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Kuratoriums
der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland“. Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktio-
nen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/304 vor. Wer stimmt für die-
sen Wahlvorschlag? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Auch dieser Wahlvorschlag ist mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU
angenommen worden; die FDP hat sich enthalten.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Straßenbaubericht 2001
– Drucksache 14/8754 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-
spruch dagegen höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Petra Weis. Da es ihre erste Rede hier ist,
warten wir, bis Ruhe eingekehrt ist.

Sie haben das Wort, Frau Kollegin.


Petra Weis (SPD):
Rede ID: ID1501911000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei
dem uns vorliegenden Straßenbaubericht 2001 handelt es
sich wie bei seinen Vorgängern um eine überaus umfas-
sende Darstellung der aktuellen Entwicklungen und Rah-
menbedingungen in Sachen Fernstraßenbau, der sicher-
lich eine ausführlichere Würdigung verdient hätte, als es
im Rahmen unserer heutigen Debatte oder schon gar im
Rahmen meines Beitrages möglich ist. Ich will deswegen
sofort zur Sache kommen.

Der Bericht konfrontiert uns gleich auf der zweiten
Textseite mit der politischen Herausforderung, vor der wir
bei diesem Thema stehen. Die Zahlen zur Verkehrsent-
wicklung auf den Bundesfernstraßen zeigen nämlich – ich
zitiere den Bericht – „erstmalig eine Stagnation der mitt-
leren Verkehrsstärken auf den Bundesautobahnen sowie
leichte Abnahmen auf den Bundesstraßen, ein Effekt, der
sich auch dämpfend auf die Entwicklung der Jahresfahr-
leistungen ... ausgewirkt hat“.

Wer daraus voreilig den Schluss ziehen wollte, dass es
im Hinblick auf dieses Thema Zeit zur Entspannung oder
zum Durchatmen sei, wird allerdings noch im selben Ab-
satz aller Illusionen beraubt; denn es heißt dort weiter:

Die seit langem beobachtete Konzentration des
Straßenverkehrs auf den Autobahnen blieb davon
unberührt.

Weiter heißt es sinngemäß: Die verkehrliche Bedeutung
der Bundesfernstraßen besteht nach wie vor in ihren über-
proportional hohen Anteilen an den Verkehrsleistungen
im Straßenverkehr. Ich füge hinzu: Das gilt vor allem im
Hinblick auf den Güterverkehr.

Ungeachtet des Realitätsgehalts aller Prognosen und
Szenarien werden wir uns also auch in Zukunft darauf
einstellen müssen, unser Augenmerk darauf zu richten,
das Fernstraßennetz – zumindest bis auf Weiteres – als
Rückgrat der Verkehrsinfrastruktur in der Bundesrepublik
zu begreifen und dafür zu sorgen, dass es in den kom-
menden Jahren nachhaltig funktionsfähig bleibt und – so
füge ich hinzu – dort wieder funktionsfähig wird, wo es in
den letzten Jahrzehnten – ich sage bewusst „Jahrzehnte“
und nicht „Jahre“ – gelitten hat.


(Beifall bei der SPD)

Obwohl wir in der Verkehrspolitik über den nach wie

vor größten Investitionshaushalt reden, gehört es meines
Erachtens zur Wahrheit und zur Klarheit, festzuhalten, dass
die Bäume auch hier nicht in den Himmel wachsen. Neubau,
Betrieb, Erhaltung und Modernisierung unserer Straßen
konkurrieren um begrenzte Haushaltsmittel. Insofern ist es

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer




Petra Weis
von ganz besonderer Bedeutung, welche politischen
Schwerpunkte wir setzen.

Es ist zweifellos eine Binsenweisheit, dass wir den
Straßenbau nicht unbegrenzt ausdehnen können, sondern
alles daran setzen müssen, die Verkehrsprobleme unseres
Landes zu lösen, und zwar am besten dadurch, dass wir
die bestehenden Systeme effizienter und sicherer machen.
Die Erhaltung und die Modernisierung des bestehenden
Straßennetzes ist – das möchte ich an dieser Stelle ganz
ausdrücklich betonen – für uns weit mehr als eine Ver-
waltungsaufgabe, die allein deshalb nicht mit mehr Herz-
blut betrieben werde, weil sie den politisch Verantwortli-
chen so wenig Möglichkeiten biete, Spatenstiche oder
andere publikumswirksame Eröffnungen zu zelebrieren,
wie es der BUND neulich in einem Text vermutet hat. Das
Gegenteil ist der Fall: Neben den notwendigen Mitteln für
Neubau und Erweiterung der Bundesfernstraßen müssen
wir die ebenso notwendigen Mittel für die Erhaltung und
Modernisierung des bestehenden Netzes aufbringen.

Der Straßenbaubericht 2001 erfüllt im Grunde genom-
men zwei Funktionen: Er markiert auf der einen Seite eine
Leistungsbilanz der Bundesregierung im Straßenbau und
ist auf der anderen Seite gewissermaßen unser Lehrplan
für das laufende Jahr und die kommenden Jahre. So er-
läutert er beispielsweise die Grundlagen für die im Gang
befindliche Überarbeitung des Bundesverkehrswege-
plans, der uns in der kommenden Zeit noch ausführlich
beschäftigen wird. Er beschreibt nachdrücklich die Not-
wendigkeit und die Vorzüge der Einführung der strecken-
bezogenen LKW-Maut. Beide Themen bieten uns in der
Folgezeit, wie ich denke, noch ausreichend Gelegenheit
zum Austausch von Meinungen oder auch zu Kontrover-
sen. Daher will ich es an dieser Stelle bei zwei ganz kur-
zen Anmerkungen bewenden lassen.

Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir
den Straßenbau auf drei Schwerpunkte konzentrieren: ers-
tens auf die gezielte Engpassbeseitigung sowie die not-
wendige Sanierung des bestehenden Straßennetzes, zwei-
tens auf den beschleunigten Bau von Ortsumgehungen,
um die Sicherheit und die Lebensqualität der Anwohne-
rinnen und Anwohner zu erhöhen und den Verkehrsfluss
auf den Bundesstraßen zu verbessern, und drittens, aber
nicht zuletzt, auf den weiteren gezielten Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern.

Mit der LKW-Maut und dem daraus zu finanzierenden
Anti-Stau-Programm werden wir noch in diesem Jahr
weitere Akzente zur Entlastung vor allem der Bundesau-
tobahnen setzen. Diese Entlastung muss in Zukunft eines
unserer vordringlichsten Ziele sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesfern-
straßenbau in der Bundesrepublik ist kein Stiefkind der
Verkehrspolitik dieser Koalition, wie gelegentlich be-
hauptet wird.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Doch!)

Gegen diese Annahme spricht nicht nur die Tatsache, dass
die Bundesregierung in den letzten vier Jahren die Aus-
gaben im Straßenbau auf ein bis dahin nicht erreichtes Ni-
veau geschraubt hat, sondern auch der Realisierungsgrad
der einzelnen Projekte, die der Straßenbaubericht anführt.

Ich will nur einige wenige Beispiele nennen: Bei der
Autobahnerweiterung auf sechs und mehr Fahrspuren
wurde das Längenziel vollständig erreicht. Dass hieran
vorrangig finanzierte Abschnitte der Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ einen außerordentlich hohen Anteil
haben, ist weit mehr als nur ein politisches Symbol.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Beim Autobahn- und Bundesstraßenneubau spricht der
Straßenbaubericht von, wie ich meine, beachtlichen Fer-
tigstellungsgraden von 90 bzw. 87 Prozent. Schließlich
wurde beim Bau von Ortsumgehungen im Zuge von Bun-
desstraßen ein Erfüllungsgrad von 82 Prozent erreicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesfern-
straßenbau ordnet sich in ein verkehrspolitisches Gesamt-
konzept ein, das vom Leitbild einer nachhaltigen Ent-
wicklung als der sicherlich wichtigsten Antwort auf die
gegenwärtigen Herausforderungen bestimmt wird und
– das ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig –
das die Bedeutung der Mobilität für nahezu alle Bereiche
unserer Gesellschaft anerkennt. Es sucht nach Wegen, un-
ser aller Mobilitätsbedürfnis, das sich im privaten wie im
öffentlichen Straßenverkehr auf letztlich unverändert ho-
hem Niveau ausdrückt, mit einem verantwortungsvollen
Ressourcenumgang zu kombinieren.

Ich möchte in diesem Zusammenhang kurz auf ein De-
tail des Straßenbauberichts eingehen, indem ich auf das
„verkehrstechnische Konzept der Zuflussregelung zur
Verbesserung des Verkehrsablaufes auf ausgewählten
Bundesautobahnabschnitten“ zu sprechen komme. Ich
gebe zu, dieser Titel ist auch mir ein wenig lang und kom-
pliziert, deswegen habe ich ihn abgelesen. Es handelt sich
hierbei um eine der intelligentesten Problemlösungen hin-
sichtlich der Verkehrslenkung in Ballungsgebieten
überhaupt. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versi-
chern, dass die dargestellten erheblichen Verbesserungen
auf der A 40, also dem Ruhrschnellweg zwischen Duis-
burg und Dortmund, auf der ganzen Linie eingetroffen
sind und – lassen Sie mich dies durchaus eingestehen –
dass ich es mir als regelmäßige Nutzerin dieser wirklich
viel befahrenen Autobahnstrecke im Leben nicht hätte
träumen lassen, dass es mir eines Tages wieder Spaß ma-
chen wird, diese Strecke zu befahren, die ich jahrzehnte-
lang gemieden habe wie der Teufel das Weihwasser.

Zum Schluss lassen Sie mich noch auf ein Thema des
Berichtes zu sprechen kommen, das die Verkehrspolitik
im Allgemeinen und die Straßenverkehrspolitik im Be-
sonderen in den kommenden Jahren erheblich beeinflus-
sen dürfte: Durch die Osterweiterung der Europäischen
Union wird sich der Verkehr auf der Ost-West-Relation
verstärken. Angesichts der historischen Größe dieses
Schrittes bin ich allerdings geneigt zu sagen: Dies ist si-
cherlich auch gut so. Dieser Prozess muss allerdings für
Deutschland als Transitland weit reichende Konsequen-
zen nach sich ziehen. Angesichts der Kürze der Zeit
möchte ich es aber bei dem allgemeinen Appell bewenden
lassen, dass wir uns weiterhin mit großer Intensität am
Prozess des Auf- und Ausbaus einer passgenauen Ver-
kehrsinfrastruktur in der Europäischen Union beteiligen
müssen.


(A)



(B)



(C)



(D)


1502


(A)



(B)



(C)



(D)






Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Sie nicht
wundern, wenn ich sage, dass auch der Straßenbaube-
richt 2001 eine zuverlässige und wertvolle Grundlage für
die Verkehrsplanung ist, denn er vermittelt uns eine ehrli-
che und realistische Bestandsaufnahme der vor uns lie-
genden Probleme, die zu lösen wir in der Lage sein müs-
sen, wenn wir den Lebens- und Wirtschaftsstandort
Deutschland zukunftsgerecht weiterentwickeln wollen.

Aus meiner Sicht macht der Bericht eines ganz deut-
lich: Wir sind auf dem Weg zu einer integrierten Ge-
samtverkehrsplanung, die dazu beitragen kann, ja, dazu
beitragen muss, ein zukunftsfähiges Mobilitätssystem
aufzubauen, das den vielfältigen Ansprüchen in ökonomi-
scher, ökologischer, sozialer und soziokultureller Hin-
sicht gerecht wird. Ich weiß, dass dies ein hoher Anspruch
ist, aber wer sagt denn, dass wir uns – auch in der Straßen-
baupolitik – keine ehrgeizigen Ziel mehr setzen können
und sollen?

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501911100

Liebe Frau Kollegin Weis, ich möchte Ihnen im Namen

des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Sie
zeigten nicht nur große Kompetenz, sondern Sie sind auch
auf die Sekunde genau in der Zeit geblieben. Dies schaf-
fen die allerwenigsten.


(Beifall – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Noch nicht einmal der Innenminister!)


Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Blank.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1501911200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin

Weis, lassen Sie mich einige Worte zu Ihrer Rede sagen:
Natürlich kann Straßenbau nicht unbegrenzt stattfinden,
aber wir unterhalten uns eigentlich über den Anbau von
dritten Streifen auf den Autobahnen. Für die neuen Bun-
desländer geht es vor allen Dingen darum, überhaupt erst
Verkehrswege zu schaffen. Diese brauchen nämlich den
Verkehrswegebau dringend,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

auch damit dort Arbeitsplätze entstehen können und es zu
Wirtschaftswachstum kommen kann.

Natürlich kritisieren wir den falschen Einsatz der
Mittel durch die LKW-Maut. Sie können nicht auf der
einen Seite den LKW im Straßenverkehr so belasten,
dass viele Speditionen ausflaggen und sich in anderen
Ländern niederlassen, auf der anderen Seite aber die
Mittel aus der LKW-Maut nicht in den Straßenverkehr
fließen lassen. Sie verteilen diese Mittel auf Straße,
Schiene und Wasser. Dies ist aus unserer Sicht der
falsche Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU – Karin RehbockZureich [SPD]: Zukunftspolitik!)


Noch ein Wort zu Ihren Ausführungen bezüglich der
Mittel im Straßenbau: Ich kann Ihnen nachweisen – die
Zahlen belegen dies –, dass die Ausgaben für den
Straßenbau bis zum Jahr 2000 kontinuierlich gesenkt
wurden. Noch in den Jahren 1998 und 1999 beliefen sich
die Mittel für den Straßenbau auf etwa 8,6Milliarden DM.
Ich habe das jetzt aus dem Gedächtnis genannt, weil ich
den Zettel, auf dem die Zahlen stehen, an meinem Platz
liegen gelassen habe; ich kann Ihnen die genauen Zahlen
aber gerne nachreichen. Sie haben diese Mittel im
Jahr 2000 – wir unterhalten uns ja über den Straßenbau-
bericht 2001, dessen Berichtszeitraum das Jahr 2000 ist –
auf 8,1 Milliarden DM reduziert. Es ist also effektiv we-
niger Geld für den Straßenbau ausgegeben worden als zu
unseren Zeiten.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist leider wahr!)


Ich bedauere sehr, dass Minister Stolpe heute nicht
anwesend ist. Ihn persönlich kann ich natürlich nicht für
die miserable Verkehrspolitik der letzten vier Jahre ver-
antwortlich machen. Kollegin Mertens, Sie aber kann
ich nicht aus der Verantwortung hierfür entlassen. Das
gilt auch für die drei Vorgänger des Ministers, nämlich
für Herrn Müntefering, Herrn Klimmt und Herrn
Bodewig, die Verwirrung in die Infrastrukturplanung ge-
bracht haben, aber leider keinen Pfennig – damals gab es
ja noch den Pfennig – mehr für den Straßenbau erwirkt
haben.

Ich spreche auch deshalb von Verwirrung, Frau Staats-
sekretärin, weil uns weder der Bundesverkehrswegeplan,
der für das Jahr 1999 versprochen worden ist, noch ein
Fernstraßenausbaugesetz noch ein Fünfjahresplan vorge-
legt wurde; es gab nur Programme über Programme, mit
denen die Kürzung der Straßenbaumittel verschleiert wer-
den sollte.

Das Investitionsprogramm, das Planungssicherheit
bringen sollte, ist Ende 2002 ausgelaufen. Erst bis weit
über das Jahr 2010 hinaus hätten alle darin enthaltenen
Maßnahmen abgearbeitet werden können. Alleine dies
zeigt, dass das Investitionsprogramm falsch angelegt
war.

Das Anti-Stau-Programm aus dem Jahr 2000 war ei-
gentlich eine Wahlkampfhilfe für Nordrhein-Westfalen,


(Lachen der Abg. Petra Weis [SPD])

vor allen Dingen, da jeder wusste, dass es erst ab dem
Jahr 2003 gültig werden konnte. Mit diesem Anti-Stau-
Programm, das auf die Einnahmen aus der LKW-Maut an-
gewiesen ist, konnte bisher noch kein Meter Straße reali-
siert werden; denn Sie waren nicht in der Lage, die
LKW-Maut rechtzeitig einzuführen.


(Zuruf der Abg. Petra Weis [SPD])

– Auch die Umstellung von der zeit- auf die streckenbe-
zogene LKW-Maut, Frau Kollegin Weis, lässt auf sich
warten. Wahrscheinlich wäre es schneller gegangen
– vielleicht sind wir uns darin einig –, wenn das Parlament
beteiligt worden wäre. So trägt alleine die Bundesregie-
rung die Verantwortung für die Verzögerung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Petra Weis




Renate Blank
Man hätte das Parlament damit befassen können. Ich
glaube, wir hätten das schneller und geschickter gelöst.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])


Die Gelder aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm,
gültig für die Jahre 2001 bis 2003, sollten insbesondere
für den Bau von Ortsumgehungen eingesetzt werden.
Wie wichtig das ist – Frau Kollegin Weis, auch Sie haben
das erwähnt –, zeigt der Straßenbaubericht auf. Darin
steht, dass bei Ortsumgehungen der geringste Erfüllungs-
grad erreicht wurde. Es ist also wichtig, Ortsumgehungen
zu bauen. Ich bin froh, dass auch Sie heute darauf hinge-
wiesen haben; denn unsere ständigen Hinweise, dass Orts-
umgehungen Menschen- und Umweltschutz sind, fruch-
ten jetzt hoffentlich und werden hoffentlich von Ihnen
ernst genommen.

Das Maßnahmenpaket „Bauen jetzt – Investitionen be-
schleunigen“ versucht, private Finanzmittel für den
Straßenbau zu aktivieren. Früher wurde diese Art der Fi-
nanzierung zwar massiv bekämpft, doch grundsätzlich
wäre das ein richtiger und wichtiger Schritt. Denn dem
Straßenbaubericht ist eindeutig zu entnehmen – das können
Sie alle nachlesen –, dass die privaten Vorfinanzierungs-
modelle, immerhin 27 Projekte, rasch verwirklicht werden
konnten. Planung und Bau gingen sehr rasch vonstatten.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt werden die Länder gestraft!)


Ob allerdings Ihr Konzept der geplanten Verkehrsinfra-
strukturfinanzierungsgesellschaft richtig ist, wird sich
zeigen. Wir jedenfalls stellen uns diese Gesellschaft an-
ders vor und werden dazu einen eigenen Antrag einbrin-
gen.

Kollege Schmidt, Sie haben in den Anträgen bis 1998
immer gefordert – ich hoffe, Sie haben ein gutes Ge-
dächtnis und erinnern sich daran –, die Refinanzierungs-
kosten für Konzessionsmodelle aus dem allgemeinen
Haushalt und nicht aus dem Verkehrshaushalt zu finan-
zieren, damit der Verkehrshaushalt auf Dauer nicht belas-
tet wird. Sie haben Ihre Meinung anscheinend geändert;
denn als wir Ihren Antrag im Jahre 1999 übernommen ha-
ben, um den Verkehrshaushalt zu entlasten und die Refi-
nanzierungskosten im allgemeinen Haushalt zu veran-
schlagen, haben Sie unseren Antrag abgelehnt. Ich bitte
Sie, einmal darüber nachzudenken, ob nicht die Möglich-
keit besteht, dass das Geld aus dem allgemeinen Haushalt
genommen wird. Ihre Idee war ja gar nicht so schlecht. Sie
sehen, wir haben sie aufgegriffen. Eine schnelle Realisie-
rung von Verkehrsprojekten bedeutet auch einen volks-
wirtschaftlichen Nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist eine wichtige Angelegenheit. Sie dürfen also auf
Ihre früheren Ideen und Vorschläge zurückgreifen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das werde ich gleich tun!)


Meine Damen und Herren, im Straßenbaubericht wird
auch über die neuen Bewertungskriterien zum Bundes-

verkehrswegeplan berichtet. Was nützt uns aber das Wis-
sen, dass bei den Verkehrsprognosen ein Schwerpunkt auf
das so genannte Integrationsszenario gelegt werden soll?
Dabei handelt es sich um den Versuch, die ökonomischen,
ökologischen und sozialen Anforderungen in Übereinstim-
mung zu bringen und monetäre und nicht monetäre Bewer-
tungsverfahren zukünftig zusammenzuführen. Ich wieder-
hole: Was nützt uns das Wissen, wenn uns kein vom
Kabinett beschlossener Bundesverkehrswegeplan vorliegt?

Auf die Kosten-Nutzen-Analyse der einzelnen Pro-
jekte sind wir schon sehr gespannt, genauso wie darauf
– Kollege Schmidt, ich schaue ganz besonders Sie an –,
wie Sie den Konflikt zwischen dem notwendigen Straßen-
bau, der ja auch von den rot-grün regierten Bundesländern
gefordert wird, und grüner Ideologie lösen werden.


(Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär: Die Schwarzen haben keine Ideologie!)


Eine neue Bewertungsmethode ist aus unserer Sicht
falsch, nämlich jene, die lediglich die volkswirtschaftli-
chen und ökologischen Schäden, die durch den Verkehr
entstehen, betrachtet. Der Verkehr bringt aber auch einen
volkswirtschaftlichen Nutzen. Seriöse Zahlen aus der
Wissenschaft beziffern diesen Nutzen auf das Doppelte
der Kosten. Vor Jahren wurde ein verkehrlich bedingter
volkswirtschaftlicher Schaden von 200 Milliarden DM
genannt. Der Nutzen aus dem Straßenverkehr lag aber
beim Doppelten, also bei 400 Milliarden DM. Eine Be-
wertungsmethode sollte also auch den volkswirtschaftli-
chen Nutzen berücksichtigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige An-

merkungen zum Zustand der Bundesfernstraßen ma-
chen. Die volle Gebrauchsfähigkeit nimmt insbesondere
in den alten Bundesländern immer mehr ab. Die Schlag-
löcher werden immer zahlreicher. Dabei denke ich vor al-
len Dingen an das Land Baden-Württemberg und an eine
ganz bekannte und viel befahrene Strecke um Mannheim.
Dort wird es sehr kritisch, wenn man mit mehr als
60 Stundenkilometern fährt.

Was ist zu tun? Die Bundesregierung muss für die In-
standhaltung mehr Geld zur Verfügung stellen, damit wir
nicht eines Tages vor einem total maroden Straßensystem
stehen; denn der Substanzverlust schreitet immer mehr
voran. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, Mittel, die
die Bahn nicht verbauen kann, zu nutzen. Es wurde
von einem Betrag in Höhe von 2 Milliarden DM gespro-
chen; im vergangenen Jahr waren es offiziell 151 Milli-
onen Euro, wobei einige Mittel noch im Haushalt ver-
steckt waren. Wir gehen davon aus, dass die Deutsche
Bahn AG im vergangenen Jahr rund 600 Millionen Euro
nicht verbauen konnte.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dieser Vorwurf ist ebenso alt wie falsch!)


– Sitzen Sie noch im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn
AG, Kollege Schmidt? Dann könnten Sie das nachher ja
schriftlich belegen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Um das zu lesen, muss man 1504 nicht im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG sitzen!)


(A)


(B)


(C)


(D)


(A)


(B)


(C)


(D)





Eine Möglichkeit bestünde also darin, Mittel, die die
Bahn nicht verbauen kann, für Instandhaltungsmaßnah-
men zu verwenden und nicht im Topf des Finanzministers
verschwinden zu lassen.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Von den Restmitteln des letzten Jahres ist nichts beim Finanzminister gelandet!)


– Sie dürfen das nachher aufklären. – Auf jeden Fall soll-
ten die künftig anfallenden Mittel aus der LKW-Maut in
den Straßenbau fließen, da sie ja auch aus dem Straßen-
verkehr stammen, und nicht auf weitere Verkehrsträger
aufgeteilt werden.

Leistungsfähige Verkehrswege sind die Grundvoraus-
setzung für Wirtschaftswachstum. Deshalb ist eine leis-
tungsfähige Infrastruktur für den Standort Deutschland
und auch für die Mobilität unserer Bürger ungemein wich-
tig.

Ich darf aus einem Interview zitieren, bei dem Minis-
ter Stolpe ausgeführt hat:

Nach meiner festen Überzeugung ist Mobilität eine
Haupttriebkraft für gesellschaftliche Entwicklung
und Fortschritt. Sie ist außerdem Ausdruck von Frei-
heit! Mobilität ist ja auch ein Element der Revolution
im Osten gewesen.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das habe ich auch schon gesagt! – Gegenruf des Abg. Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Herr Schmidt hat das Interview aber noch nicht freigegeben!)


Ich kann ihm nur zustimmen. Aufgrund dieser Aussage
fordern wir Sie auf, mehr Geld für den Straßenbau zur
Verfügung zu stellen. Es gibt in Deutschland baureife Pro-
jekte mit einem Volumen von mehr als 2 Milliarden Euro,
die Mehrzahl davon in Baden-Württemberg und Bayern,
die mit höheren Finanzmitteln sofort in Angriff genom-
m
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1501911300
Er wird
sich an seiner Aussage, neben dem Aufbau Ost den Aus-
bau West nicht zu vergessen, messen lassen müssen. Wir
werden ihn nach einiger Zeit daran erinnern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Minister Stolpe hat mit seinem Amtsantritt eine gute

Chance, von allen verwirrenden Programmen Abstand zu
nehmen und zur Klarheit und Wahrheit in der Verkehrs-
politik zurückzukehren. Er soll uns baldmöglichst einen
neuen stimmigen Bundesverkehrswegeplan vorlegen, der
als Bedarfsplan die dringend notwendigen Projekte ent-
hält. Ich erinnere auch an die Verkehrsprojekte Deutsche
Einheit, die zügig umgesetzt werden müssen. Der Bun-
desverkehrswegeplan muss auch das Thema EU-Ost-
erweiterung berücksichtigen; denn – das habe ich vorher
schon ausgeführt – die neuen Bundesländer brauchen
dringend Verkehrswege, damit dort Wirtschaftswachstum
entsteht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1501911400
Nehmen Sie Ab-
schied von Programmen; denn diese haben nur eine be-
grenzte Wirksamkeit und ermöglichen keine gesicherte,
solide und langfristige Finanzplanung. Erteilen Sie der
einseitigen Verteilung der Mittel eine Absage. Kehren Sie
zur bewährten Aufteilung der Mittel im Rahmen der Län-
derquoten zurück, wodurch eine Benachteiligung Bay-
erns oder anderer Bundesländer vermieden wird. Legen
Sie auch in Zukunft Wert auf die Mitsprache der Länder
bei Festlegung einzelner Maßnahmen! Bisher wurde über
die Maßnahmen in den Programmen über die Köpfe der
Länder hinweg entschieden. Es kann nicht sein, dass die
Länder in einem Programm mit einer Maßnahme kon-
frontiert werden, die für sie nicht erste Priorität hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Am 6. August 1932 wurde mit der Kraftwagenstraße

Köln–Bonn die erste Autobahn Europas eingeweiht.
Diese Anfänge des Autobahnbaus in Deutschland waren
für die damalige Zeit hoch visionär. Gleiches gilt für den
Plan von 1927 für den Bau eines 22 500 Kilometer langen
Fernstraßennetzes. Heute gibt es in Deutschland rund
11 000 Kilometer Autobahn und 41 000 Kilometer Bun-
desstraßen. Übrigens begann der Autobahnbau in Deutsch-
land bereits in einer Zeit, in der das Auto in der Gesell-
schaft als individuelles Fortbewegungsmittel kaum
verbreitet war. Heute haben wir circa 44 Millionen PKW.
Sie sehen daran, wie visionär die Entscheidung aus dem
Jahr 1927 damals war.

Aus diesen Anfängen entwickelten sich die heutigen
Hauptschlagadern der Verkehrsinfrastruktur in Deutsch-
land. Auch heute sind wieder Visionen gefragt und Ideen
gefordert, um eine weiträumige Mobilität sicherzustellen
und Deutschland aus dem Stau herauszuführen. Wir, die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, helfen dem neuen Ver-
kehrsminister sehr gerne dabei, damit wieder Ordnung in
die deutsche Verkehrspolitik kommt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501911500

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Frau Kollegin Blank, es freut mich zwar sehr,
dass Sie sich so genau an unsere Anträge aus der Zeit vor
1998 erinnern,


(Renate Blank [CDU/CSU]: Natürlich! Das war 1995 bis 1998!)


aber Ihre Darstellung des Themas Privatfinanzierung hat
den Punkt nicht ganz getroffen.

Ich will Ihnen noch einmal präzise in Erinnerung rufen,
was wir an der privaten Vorfinanzierung von Straßen-
bau immer wieder kritisiert haben und vor welchen Fol-
gen wir gewarnt haben. Das ist in dem Straßenbau-
bericht 2001 zu finden.

Renate Blank




Albert Schmidt (Ingolstadt)


Wir haben Folgendes kritisiert: Weil die damalige Bun-
desregierung nicht die Mittel hatte, noch mehr Straßen zu
bauen, hat sie diese Straßen privat vorfinanziert. Dabei
weiß jedes Kind – nur der damalige Bundesfinanzminister
wollte es nicht wissen –, dass Straßen, die auf Pump ge-
kauft werden – wie alles, was auf Pump gekauft wird –,
letztlich teurer werden. Ein Rückkauf dieser Straßen zu-
lasten der jetzigen Bundeshaushalte ist sehr viel teurer, als
es bei einer Haushaltsfinanzierung der Fall gewesen wäre.
Darauf bezog sich unsere Kritik. Deswegen haben wir
1998 mit dem Beginn der rot-grünen Koalition dieses
unmögliche Modell der privaten Vorfinanzierung von
Straßenbau gestoppt. Das ist auch gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein Blick nach Baden-Württemberg – dort ist nämlich
die Hinterlassenschaft von Waigel und Wissmann am
deutlichsten zu besichtigen – zeigt, dass die Hauptbau-
quote Baden-Württembergs zu einem großen Teil von
Rückzahlungen für Straßen aufgefressen wird, die schon
längst in Betrieb sind. Dort rührt sich keine Schaufel und
fährt kein einziger Bagger mehr. Damit wird kein einziger
Arbeitsplatz gesichert. Obwohl die Straßen bereits vor-
handen sind, verursachen sie immer höhere Kosten. Die-
sen Fehler haben Sie gemacht.


(Renate Blank [CDU/CSU]: So stimmt das nicht, Herr Schmidt!)


Dieses Modell haben wir gestoppt und wir werden es auch
in Zukunft nicht wieder beleben. Darin sind wir uns völ-
lig treu geblieben: Was vor 1998 richtig war, haben wir
nach 1998 umgesetzt.

Es gibt übrigens noch eine zweite Hinterlassenschaft,
verehrte Frau Kollegin, die Sie auch angesprochen haben;
auch dafür ist Baden-Württemberg ein Musterbeispiel:
die Vorratsplanung. Sie haben nämlich im Bundesver-
kehrswegeplan Straßen noch und noch in den vordring-
lichen Bedarf hineingeschrieben.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Schau‘n wir mal, wie Ihrer ausschaut!)


Damit haben Sie eine Planungstätigkeit der Straßenbau-
behörden ausgelöst, die wie die Weltmeister planen. Aber
Sie haben nicht die erforderlichen Mittel zur Verfügung
gestellt, sodass derzeit baureife Projekte in Milliarden-
höhe in den Schubladen vergammeln. Planfeststellungs-
beschlüsse verfallen und können nicht umgesetzt werden,
weil Sie eine unsittliche Vorratsplanung betrieben haben.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wer konnte mit Ihrer Unfähigkeit rechnen, Herr Schmidt? Niemand konnte doch mit einer so unfähigen Bundesregierung rechnen!)


Auch dies werden wir mit dem neuen Bundesverkehrs-
wegeplan stoppen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich nun aber zum Straßenbaubericht 2001
im engeren Sinne kommen. Er weist aus, dass für die Bun-
desfernstraßen im Jahr 2000 9,9 Milliarden DM aufge-

wendet wurden, davon 8,2 Milliarden DM investiv. Sie
können zwar einwenden, dass dieser Betrag um irgend-
eine Zahl hinter dem Komma niedriger war als vielleicht
ein oder zwei Jahre vorher.


(Renate Blank [CDU/CSU]: 500 000!)

Aber der Unterschied zu Ihrer Investitionspolitik liegt
darin, dass wir nicht nur die Straße nicht vernachlässigt
haben, sondern parallel dazu von Jahr zu Jahr schrittweise
die Schieneninvestitionen angehoben haben, die inzwi-
schen auf demselben Niveau wie beim Straßenbau liegen.
Das ist der Unterschied zwischen unserer und Ihrer Poli-
tik: Wir behandeln alle Verkehrsträger von der Straße bis
zur Schiene gleich. Auch das war überfällig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: Warum hat denn die Schiene immer so viel Geld zurückgegeben?)


– Dieses Märchen wird nicht wahrer, wenn Sie es immer
wieder wiederholen. Hätten Sie gestern den Parlamenta-
rischen Abend der Parlamentsgruppe Schiene besucht,
dann hätten Sie aus dem Munde des Vorstandsvorsitzen-
den zum wiederholten Male gehört,


(Renate Blank [CDU/CSU]: Dem glauben wir wirklich nicht!)


dass im vergangenen Jahr bis auf einen Rest von unter
3 Prozent alle Mittel verausgabt worden sind.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Mit 3 Prozent kann man alles erklären!)


Erzählen Sie deshalb nicht immer wieder dieses Märchen!
Interessant ist es aber, einen Blick auf die Verteilung

der Straßenbauinvestitionen zu werfen. Dabei ist festzu-
stellen, dass die Erhaltungsinvestitionen, also die Auf-
wendungen für den schieren Erhalt der Substanz, 4,4 Mil-
liarden DM – das ist die Zahl für 2000 – und damit mehr
als die Hälfte der Investitionen ausmachen. Das heißt,
dass wir auch in Zukunft unser Augenmerk viel stärker
darauf werden richten müssen, den Bestand eines derart
dichten Netzes zu sichern und immer wieder zu erneuern
und zu modernisieren. Das bedeutet im Klartext, dass
nicht alle Wünsche nach Neu- und Ausbau in Erfüllung
gehen können. Vielmehr müssen wir im Straßennetz, in
dem insbesondere die Ingenieurbauwerke, die Brücken
und Tunnels, in ein kritisches Alter gekommen sind, viel
höhere Mittel für die Sanierung aufwenden. Auch das ist
ein Stück Haushaltswahrheit und Planungsehrlichkeit, die
wir mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan herstellen
müssen.

Wir werden uns des Weiteren darauf einzustellen ha-
ben, in viel stärkerem Maße auch Kompromisse und
Zwischenlösungen, zum Beispiel reduzierte Quer-
schnitte, in den Blick zu nehmen. Es müssen nicht im-
mer vier Spuren sein, sondern es kommen durchaus auch
zwei Spuren mit einer Überholspur am Berg infrage. Wir
müssen wirtschaftlich darstellbare und bezahlbare Lö-
sungen suchen. Wir müssen sogar Zwischenlösungen ins
Auge fassen, zum Beispiel die Freigabe eines Stückes
Standspur, wenn es aus Sicherheitsgründen möglich er-
scheint, weil wir den Bau einer dritten Spur nicht sofort
bezahlen können.


(A)



(B)



(C)



(D)


1506


(A)



(B)



(C)



(D)







(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Renate Blank [CDU/CSU]: Dagegen habt ihr euch doch lange gewehrt! Das war ein Vorschlag aus Bayern, gegen den Sie sich ständig gewehrt haben!)


Interessant ist es aber auch, in dem Straßenbaubericht
nachzulesen, wie viel Geld wir inzwischen für den Schutz
der Bevölkerung vor Verkehrslärm aufwenden. Die we-
nigsten wissen, dass die Straßenbautitel nicht nur den rei-
nen Straßenbau, sondern auch eine Menge Lärmvorsorge
und -sanierung enthalten. Im Jahr 2000 waren es 244 Mil-
lionen DM. Für Naturschutz und Landschaftspflege, für
Grünflächen- und Biotoppflege sind im Zusammenhang
mit Straßenbaumaßnahmen 440 Millionen DM aufge-
wendet worden.

Des Weiteren sind 74 Ortsumfahrungen ganz oder teil-
weise in Betrieb genommen worden. Hier hat es sicher-
lich im Einzelfall Konflikte vor Ort gegeben. Aber in vie-
len Fällen bringen Ortsumfahrungen Entlastung für die
Ortskerne.

Ich mache zum Schluss noch auf eine weitere interes-
sante Zahl aufmerksam: Der Straßenbaubericht referiert,
dass erstmals im Jahr 2000 die Verkehrsleistung auf
Deutschlands Straßen stagnierend bis leicht rückläufig
war. Bezogen auf das gesamte Straßennetz waren es mi-
nus 2,5 Prozent; Kollegin Petra Weis hat bereits darauf
hingewiesen. Dies bedeutet, dass wir mit unseren Pro-
gnosen eines immer währenden Verkehrswachstums vor-
sichtig sein müssen. Im Gegenteil, wir haben zu registrie-
ren, dass verkehrspolitische Rahmenbedingungen – zu
ihnen gehört beispielsweise die Ökosteuer – und die wirt-
schaftliche Entwicklung das Verkehrsverhalten beeinflus-
sen. Im selben Zeitraum ist nämlich die Leistung des öf-
fentlichen Verkehrs in etwa derselben Größenordnung
gewachsen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Aber nicht der Schienenverkehr!)


Im Klartext heißt dies, dass Themen wie Verkehrsver-
lagerung und -vermeidung zu einer vorausschauenden
Verkehrspolitik gehören. Sie können sicher sein, dass wir
in Zukunft beides tun werden: das Verkehrsnetz verkehrs-
trägerübergreifend erneuern, modernisieren und in der
Substanz erhalten und zugleich die verkehrspolitischen
Rahmenbedingungen so setzen, dass der Verkehr umwelt-
verträglich wird bzw. bleibt, die Menschen nicht mit Lärm
und sonstigen Belastungen überzieht und auch die öffent-
lichen Kassen schont; denn das Geld ist nicht beliebig ver-
mehrbar, auch dann nicht, wenn die LKW-Maut kommen
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501911600

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1501911700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nur ein Satz zum Kollegen Schmidt: Die von ihm viel kri-

tisierte Vorratsplanung im Straßenbau hat immerhin dazu
geführt, dass im Gegensatz zur Schiene bei der Straße
noch nie Investitionsmittel an den Finanzminister zurück-
gegeben werden mussten. Das Geld, das der Straßenbau-
abteilung zur Verfügung stand, ist immer ausgegeben
worden.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber das Geld, das die Verwaltungen verbraucht haben, war vergeudet!)


Im Hinblick auf den Straßenbaubericht 2001, der im
Wesentlichen die Bauleistungen des Jahres 2000 doku-
mentiert, kann man nun trefflich darüber streiten, wer
mehr und wer weniger Recht gehabt hat. Damit die vor-
liegenden 130 Seiten wirklich Sinn machen, sollte man
sich mit zwei Aussagen befassen, die heute nur begrenzt
oder noch gar nicht angesprochen worden sind, aus mei-
ner Sicht aber auf längere Sicht wichtig sind: der Zustand
des Straßennetzes und insbesondere der Brücken.

Erstens. Wir werden uns langsam damit anfreunden
müssen, dass wir bei der Infrastruktur zu einer Zwei Drit-
tel-ein Drittel-Gesellschaft werden. Schaut man sich auf
Seite 9 den Gebrauchswert der Bundesstraßen an, wird
man feststellen, dass in Deutschland nur knapp 69 Prozent
aller Fernstraßen uneingeschränkt gebrauchsfähig sind,
während der Rest leicht eingeschränkt oder sogar schwer
eingeschränkt zu nutzen ist, was sich wahrscheinlich ir-
gendwann einmal in der Verkehrssicherheit niederschla-
gen wird.

Der zweite kritische Punkt, den man ansprechen muss,
ist der Zustand der Brücken.Nur knapp 34 Prozent aller
Brückenbauwerke in Deutschland sind von ihrer Klassifi-
zierung her noch in sehr gutem oder gutem Bauzustand.
Der Rest ist in einem maximal befriedigendem Zustand;
knapp 3 Prozent sind bereits in einem ungenügenden Bau-
zustand.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Wer mit offenen Augen auf Deutschlands Fernstraßen un-
terwegs ist, sieht vor Autobahnbrücken Geschwindig-
keitsbegrenzungen, Abstandsvorschriften für LKWs und
Ähnliches.

Welche politischen Konsequenzen sind für die Zukunft
daraus zu ziehen? Über eine Konsequenz werden wir si-
cherlich politisch streiten: In einer Zeit, in der der Auto-
fahrer in Deutschland Abgaben in absoluter Rekordhöhe
zu tragen hat, ist es aus meiner Sicht nicht hinzunehmen,
dass regelmäßig erklärt wird, dass etwas nicht mehr ge-
baut werden könne, oder auf mangelnden Bauzustand von
Brücken oder Straßen ausschließlich damit reagiert wird,
dass ein Verkehrsschild mit einer Geschwindigkeits-
begrenzung wegen schlechten Fahrbahnzustandes aufge-
stellt wird. Das kann, wie gesagt, auf Dauer nicht mehr
hingenommen werden. Das ist der erste Punkt. Man muss
sich also Gedanken darüber machen, ob und wie man Fi-
nanzierungsmechanismen konsequent umstellen kann.
Das, was wir bisher über den Entwurf eines Gesetzes zur so
genannten Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft
von Rot-Grün gehört haben – darüber werden wir ja dem-
nächst diskutieren –, ist nichts weiter als ein Deckmantel
einer ausgelagerten Abteilung des Verkehrsministeriums,

Albert Schmidt (Ingolstadt)





Horst Friedrich (Bayreuth)

bei der GmbH dahinter steht. Im Endeffekt wird aber nur
das Geld verteilt, das der Finanzminister vorher freige-
geben hat. Wir müssen aber eine echte Finanzierungsum-
stellung mit einer Zweckbindung der Mittel vorneh-
men, damit wir dem Autofahrer nichts mehr erklären
müssen.

Der Kollege Schmidt hat in seiner Rede auf einen Vor-
trag von Herrn Mehdorn hingewiesen, den dieser gestern
Abend bei der Parlamentsgruppe „Schienenverkehr“ ge-
halten hat. Ich möchte das Thema „Verlagerung von der
Schiene auf die Straße“ vor dem Hintergrund der EU-
Osterweiterung nur kurz streifen. Die Kommission geht
davon aus, dass der Verkehr insgesamt um 64 Prozent und
auf der Straße sogar um 80 Prozent zunehmen wird. Die
Antwort darauf lautet: Der Verkehr muss auf die Schiene!
Herr Mehdorn hat gestern Abend relativ unverblümt er-
klärt: Vergessen Sie die Schiene! Niemand im Osten denkt
daran, auch nur einen Güterwagen zu beladen. Das
kommt alles über die Straße. – Wenn das zu den Belas-
tungen dazukommt, die wir bereits haben, dann können
Sie zwar jetzt konstatieren, dass im Jahr 2000 die Ver-
kehrsleistungen zurückgegangen seien. Aber diese wer-
den spätestens im Jahr 2004 in einem Umfang zunehmen,
dem wir dann nicht mehr gewachsen sein werden und mit
dem wir mit dem Geld, das derzeit im Haushalt zur Ver-
fügung steht, überhaupt nicht mehr klarkommen werden.
Das heißt, dass auch hier umgedacht werden muss. Das
erfordert aus Ihrer Sicht unpopuläre Maßnahmen.

Man muss darüber nachdenken, wie man die Einnah-
meströme aus dem Verkehr, die schätzungsweise 120 Mil-
liarden Euro betragen, besser in die Ausgabenströme um-
lenken kann; denn bestenfalls 30 Milliarden bis
35 Milliarden Euro bekommt man auf dieser Ebene aus
den einzelnen Haushalten zurück. Das ist, glaube ich, auf
Dauer nicht ausreichend. Wenn das die Konsequenz ist,
die wir aus dem Straßenbaubericht 2001 ziehen, dann ha-
ben seine 130 Seiten Sinn gehabt. Ansonsten sollten wir
ihn zur Kenntnis nehmen; denn die Bauleistungen sind ja
bereits erbracht.

Danke sehr.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501911800

Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretä-

rin Angelika Mertens.

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1501911900


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Frau Blank, ich bin noch ein bisschen ratlos, wie ich
auf Sie reagieren soll; denn Ihre Art der selektiven Wahr-
nehmung ist sehr schwer zu kommentieren. Wenn es um
Ihre Vergangenheit als Verkehrspolitikerin geht, fallen Sie
praktisch immer jungfräulich vom Himmel.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das kann nicht sein! Das wäre unbefleckte Empfängnis!)


Ich möchte mich auf zwei Dinge beschränken. Das
eine ist der Bundesverkehrswegeplan. Ich weiß nicht,
wer Ihnen diesen für 1999 versprochen hat. Wir sind zwar
ziemlich gut, aber zaubern können wir nicht. Das andere
ist Folgendes: Sie wissen ganz genau, dass der alte Bun-
desverkehrswegeplan gilt, bis der neue da ist. Wenn Sie
behaupten, wir hätten eine Straße bauen lassen, die das
betreffende Land gar nicht haben wollte, dann kann ich
nur darauf hinweisen, dass sich dieses Land durchaus
hätte melden und sagen können: Diese Straße wollen wir
nicht. Bitte nehmt sie zurück! Das ist aber nicht gesche-
hen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine Infrastruktur, zumal eine Verkehrsinfrastruktur,
ist die Voraussetzung für das Funktionieren einer Volks-
wirtschaft. Quantität und Qualität sagen einiges über den
Erfolg einer Volkswirtschaft aus. Obwohl wir heute über
den Straßenbaubericht 2001 beraten, möchte ich deut-
lich machen: Wer eine erfolgreiche Verkehrspolitik ma-
chen will, muss eine integrierte Verkehrspolitik betreiben.
Alle anderen Forderungen sind Anachronismen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Forderungen nach außerordentlichen Verstärkungen
eines Verkehrsträgers – das gilt übrigens gleichermaßen
für die Schienen- wie für die Straßenfreunde – sind ver-
kehrspolitisches Mittelalter, um das einmal deutlich zu sa-
gen. Mittelfristiges Ziel unserer Verkehrspolitik kann also
nur sein, die Stärken der einzelnen Verkehrsträger zu op-
timieren, die Schwächen zu minimieren und eine Vernet-
zung aller Verkehrsträger zu forcieren.

Wir haben – um auf den Straßenbaubericht 2001
zurückzukommen – seit 1971 den Auftrag, jedes Jahr Bi-
lanz zu ziehen. Ich will die Aufmerksamkeit noch einmal
auf die Seite 9 – Gebrauchswert der Fahrbahnen – und
auf die Seite 10 – Zustandsbewertung der Brückenbau-
werke – lenken. Herr Friedrich hat das schon sehr ein-
drucksvoll geschildert und damit auch auf die Versäum-
nisse der Vergangenheit hingewiesen, an denen er
vielleicht gar nicht so unbeteiligt war.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie zeigen, dass Sie politikunfähig sind, Frau Staatssekretärin! Ich habe niemandem einen Vorwurf gemacht! Ich habe einen Zustand beschrieben! So ein Unsinn! So kleinkariert kann man doch gar nicht antworten!)


Beide Abbildungen zeigen uns einen Handlungsbedarf
im Bestand auf, dem wir in Zukunft nachkommen müs-
sen. Allein die Bundesfernstraßen stellen ein Anlagever-
mögen von – in altem Geld – 340 bis 350 Milliarden DM
dar. Wer die Substanz bewahren will, muss kräftig in die
Tasche greifen. Die Ausgabennotwendigkeit – das wissen
wir schon heute – wird mit den Jahren stetig größer. Ich
werbe wirklich sehr dafür, dass wir das stärker als bisher
nach draußen vermitteln. Straßenbau ist eben nicht nur
Neubau. Wir müssen den Gebrauchswert unserer Straßen
steigern. Auch das zeigt die Abbildung auf Seite 9 sehr
deutlich.


(A)



(B)



(C)



(D)


1508


(A)



(B)



(C)



(D)






Herr Friedrich, ich will die Versäumnisse der Vergan-
genheit überhaupt nicht groß kommentieren.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Dann machen Sie es doch auch nicht!)


Jeder steht in der Situation, die Mark oder jetzt den Euro
nur einmal ausgeben zu können. Das war in Ihrer Zeit so
und das ist auch in unserer Zeit so.

An dieser Abbildung können wir die Probleme der
neuen Länder sehr deutlich ablesen. Ein Straßennetz be-
steht eben nicht nur aus Autobahnen. Deshalb – die Kol-
legin Weis hat das auch schon gesagt – ist eine Konzen-
tration der Mittel auf die Bereiche mit dem größten
Nutzen, vor allem mit dem größten volkswirtschaftlichen
Nutzen, sehr hilfreich. Die Kollegin Weis hat die Engpas-
sbeseitigung und die Ortsumgehung genannt. Ich will ei-
nen dritten Schwerpunkt hinzufügen: die Zulaufstrecken
zu den maritimen Standorten. Die Küstenländer sind in
unserem Land traditionell strukturschwach. Die Häfen
stellen deshalb einen wichtigen Wirtschaftszweig dar.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was noch wichtiger ist und was viele Binnenländer
einfach immer wieder vergessen, ist, dass die Wertschöp-
fungsketten letztlich bis nach Passau, Stuttgart oder In-
golstadt reichen. Sicherlich ist wichtig, wo ein Container
umgeschlagen wird; noch wichtiger ist, wo er beladen
wird. Das Wichtigste ist, wie er von dort an die Nordsee
oder an die Ostsee kommt. Ich denke da natürlich an die
Häfen in Mecklenburg-Vorpommern, in Schleswig-Hol-
stein, in Niedersachsen, aber auch an Bremen, Bremerha-
ven und natürlich nicht zuletzt an Hamburg. Die Anbin-
dung muss besser werden als bisher. Auf der maritimen
Konferenz in Rostock haben wir das ja auch beschlossen.
Wir werden die Hinterlandanbindung für die Seehäfen
realisieren.

Über die neuen Bundesländer ist bereits gesprochen
worden. Die vordergründig gute Ausstattung mit neuen
Autobahnen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir
in vielen Bereichen einen Zustand vorfinden, wie er schon
vor der Vereinigung bestanden hat. Das gilt besonders für
die Ortsumgehungen.

Frau Weis hat schon etwas zu den Verkehrsbeeinflus-
sungsanlagen gesagt. Ich werbe dafür, dass wir uns das
noch einmal genauer ansehen. Wir haben in der Vergan-
genheit eigentlich vornehmlich mit dem Sicherheits-
aspekt argumentiert. Jetzt nutzen wir diese Verkehrs-
beeinflussungsanlagen immer häufiger dazu, eine
Verkehrslenkung und eine bessere Ausnutzung der In-
frastruktur zu erzielen.

Das hat zum Beispiel bei der A 40 dazu geführt, dass
die Zahl der Staus und Unfälle um 50 Prozent zurückge-
gangen und die mittlere Geschwindigkeit um 10 km/h ge-
stiegen ist, dass es eine bessere Ausnutzung der Autobahn-
kapazität und keine Verschlechterung im nachgeordneten
Netz sowie – das finde ich sehr erstaunlich, weil es dort
auch Ampelregelungen gibt – eine hohe Akzeptanz bei
den Verkehrsteilnehmern gibt.

Ein Fazit aus dem Straßenbaubericht ist, dass wir uns
mit dem so genannten A-Modell, dem Betreibermodell,
auf einen neuen Weg begeben haben, was, wie ich finde,
fast überfällig war. Das gibt der Bauindustrie und den vie-
len mittelständischen Betrieben die Möglichkeit, ihr Kön-
nen zu beweisen und zu zeigen, dass sie so etwas bauen
können. Es gibt uns die Möglichkeit, schneller und preis-
werter an Infrastruktur zu kommen. Das ist eine klassi-
sche Win-Win-Situation.

Von den Vorrednern, gerade aus der Koalition, ist
schon sehr viel gesagt worden. Ich will deshalb mit einem
Wort an die Opposition schließen – Sie haben dieses Ver-
halten auch heute wieder gezeigt –: Opposition ist die
Kunst, etwas zu versprechen, was die Regierung nicht
halten kann. Das ist schon richtig. Die große Frage lautet
allerdings: Was ist Kunst? Das Leben ist kurz, die Kunst
ist lang, die Gelegenheit ist flüchtig, der Versuch ist ge-
fährlich und die Entscheidung ist schwer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501912000

Ich schließe die Aussprache, die mit dem zutreffenden

Hinweis auf die Zusammenhänge zwischen Politik und
Kunst nicht zugunsten einer weiteren Aussprache über
das Kunstverständnis des Deutschen Bundestages verlän-
gert wird.


(Heiterkeit)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 14/8754 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist ganz offenkundig der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP:
Eigenheimerwerb nicht erschweren – weitere
Belastungen für Beschäftigte und Betriebe der
Bauwirtschaft und für Familien vermeiden
– Drucksache 15/33 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. – Auch dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Eberhard
Otto, FDP-Fraktion, das Wort.


Eberhard Otto (FDP):
Rede ID: ID1501912100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Ak-

tuellen Stunde am 7. November des vergangenen Jahres

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens




Eberhard Otto (Godern)

hat sich der Deutsche Bundestag schon einmal mit der
Thematik Eigenheimzulage befasst. Die FDP hat seiner-
zeit die verheerenden Auswirkungen für die Bau- und
Volkswirtschaft dargelegt. Mehrere Wochen sind seitdem
vergangen; aber die Bundesregierung hält trotz umfang-
reicher Kritiken bezüglich der negativen Auswirkungen
an ihren Vorhaben, die von der Baubranche als „Giftliste“
bezeichnet werden, ungerührt fest.

Allen hier Anwesenden dürfte bekannt sein, dass
Wohneigentum einer der wichtigsten Faktoren zur Stabi-
lisierung von Staat und Gesellschaft ist. Es sichert und
verbessert eine möglichst breite Streuung des Vermögens
in privaten Händen, es sorgt für einen sicheren und wert-
beständigen Vermögensstamm, es deckt einen Teil der
notwendigen privaten Altersvorsorge ab und es sichert ein
vielfältiges und marktgerechtes Wohnraumangebot.
Selbst genutztes Wohneigentum ist eines der bedeutends-
ten gesellschafts- und familienpolitischen Instrumente.

Die rot-grüne Regierung ist jedoch weiter auf gutem
Wege, sowohl die letzten konjunkturellen Säulen in der
Bauwirtschaft systematisch zu zerstören als auch diese
wichtige gesellschaftliche Aufgabe des Wohneigentums
zu demontieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die inzwischen in Kraft getretenen Gesetze waren die

ersten Schritte in diese schlimme Richtung. Sie bedeuten
für die privaten Haushalte neben steigenden Rentenversi-
cherungsbeiträgen weitere Belastungen, unter anderem
wegen der Erhöhung der Mietnebenkosten, und für die
Bauwirtschaft Investitionsausfälle, was den Abbau von
Arbeitsplätzen mit sich bringt.

Was die sich ständig verschlechternden Rahmenbedin-
gungen und die daraus resultierende ständig schlechter
werdende Auftragslage für die Bau- und Wohnungswirt-
schaft, insbesondere für den Sanierungsbereich, bedeu-
ten, kann ich am eigenen Beispiel aufzeigen. Ich habe auf
diesem Gebiet in den 90er-Jahren, insbesondere bis 1997,
in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 250 Arbeitsplätze ge-
sichert. Leider habe ich aus den genannten Gründen die
Anzahl der Arbeitsplätze bis heute auf durchschnittlich 50
– so viel sind es immerhin noch, wie ich betonen muss –
reduzieren müssen.

Die öffentliche und private Nachfrage nach Bauleis-
tungen geht zurück, insbesondere in den ostdeutschen
Ländern. Die verheerenden Auswirkungen auf die Be-
triebe der Bau- und Wohnungswirtschaft und ihre Arbeit-
nehmer sind absehbar. Die Pläne der Koalition werden
durch sinkende Umsätze, ein geringeres Steueraufkom-
men sowie durch die Zunahme der Arbeitslosigkeit weni-
ger Sozialversicherungsbeiträge und höhere staatliche
Transferleistungen zur Folge haben.

Meine Damen und Herren, im Oktober 1995 wurde die
Eigenheimzulage beschlossen, damals auch unter Zu-
stimmung der SPD. Ich möchte zitieren:

Heute erleben wir ein kleines Wunder: …
Und weiter:

Die starke Benachteiligung der Menschen in den
neuen Bundesländern ist ab heute beendet; denn die

einkommensunabhängige Förderung wird dazu
führen, dass viele Menschen, die von Eigentum bis-
her nur träumen konnten, diesen Traum verwirkli-
chen können.

Wissen Sie, wer das gesagt hat? Herr Großmann am
27. Oktober 1995; und heute ist das alles nicht mehr wahr.


(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Ich muss Ihnen sagen: Wer mittelfristig eine negative
Entwicklung im Haus- und Wohnungsbereich herbeiführt,
wird eines Tages ein böses Erwachen erleben. Die Ein-
schränkung bei der Eigenheimzulage bzw. der für die
Eigentumswohnung und die Senkung der Einkommens-
grenzen sind keineswegs – wie von der Bundesregierung
behauptet – kinder- und familienfreundliche Maßnahmen.
Fast alle Familien werden erheblich schlechter gestellt.
Im Neubaubereich wären nur Familien mit sechs Kindern
und im Altbaubereich nur Familien mit mehr als drei Kin-
dern nicht benachteiligt. Die Beschränkung der Förde-
rung auf Familien mit Kindern blendet zudem kinderlose
Ehepaare und Singles aus. Dem stadtentwicklungspoli-
tisch erwünschten Bestandserwerb durch die Mieter, ins-
besondere in den Innenstädten, vor allen Dingen im Zuge
des Stadtumbaus Ost, droht dadurch das generelle Aus.
Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass die Kürzung der
Eigenheimzulage allein fiskalisch bedingt und keine
Maßnahme zugunsten von Familien ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich will, damit keine Missverständnisse entstehen, klar

sagen, dass sich die FDP grundsätzlich auch für den Ab-
bau von Subventionen einsetzt. Diese müssen aber mit
einer deutlichen steuerlichen Gesamtentlastung und Ver-
einfachung des Steuersystems einhergehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501912200

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.


Eberhard Otto (FDP):
Rede ID: ID1501912300

Der Abbau von Förderinstrumenten ohne gleichzeitige

Steuerentlastung ist faktisch eine Steuererhöhung, die in
diesem Fall die Familien hart trifft.

Ich fordere Sie auf: Helfen Sie unseren Menschen!
Helfen Sie unseren Familien! Helfen Sie der Bau- und
Wohnungswirtschaft!

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501912400

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Hilsberg,

SPD-Fraktion.

(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Keine leichte Aufgabe!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1510


(A)



(B)



(C)



(D)







Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1501912500

Eine absolut leichte Aufgabe ist es, meine Damen und

Herren, sehr geehrter Herr Präsident, auf diesen FDP-An-
trag zu reagieren. Nachdem ich der Rede meines verehrten
Vorredners, Herrn Otto, aufmerksam zugehört habe, muss
ich sagen, dass sie vielleicht auf vieles einging, aber mit
der Reformbedürftigkeit der Eigenheimzulage – vor
dieser Situation stehen wir – nichts zu tun hatte. Dieser An-
trag ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist.

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, wie reform-
bedürftig die Eigenheimzulage inzwischen ist. Sie lachen,
Herr Fischer, aber Sie waren selber an der Diskussion da-
rüber beteiligt. Wir haben darüber in der letzten Legisla-
turperiode intensiv im Verkehrs- und Bauausschuss dis-
kutiert.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ich habe einem Kollegen nur freundlich guten Abend gesagt! Hier handelt es sich um ein Missverständnis!)


– Auch nicht schlecht. Es ist ja gut, wenn man freundlich
miteinander umgeht, aber hier muss man einmal Tacheles
reden. Dieser Antrag spricht vielleicht Bände hinsichtlich
der Situation und des Zustandes der FDP; ein Beitrag zur
Reform der Eigenheimzulage ist er sicher nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die FDP nennt sich ja eine liberale Partei. Liberal hat
etwas mit Freiheit, Beweglichkeit und Verantwortung zu
tun; es bedeutet, auf veränderte gesellschaftliche Verhält-
nisse einzugehen. Aber das finden wir in diesem Antrag
nicht. Plötzlich wird das Alte bewahrt. Das zeugt nicht
von Liberalität, sondern von Orthodoxie,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So sind sie immer!)


vom reinen Festhalten am Alten, und das nicht einmal,
weil es sich bewährt hat, sondern wider besseres Wissen
und bessere Einsicht. Bezüglich der Forderungen in Ihrem
Antrag waren Sie beispielsweise in den Petersberger Be-
schlüssen zur Steuerreform schon viel weiter. Auch das
muss man einmal festhalten.

Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Da war die
FDPdoch überhaupt nicht dabei! Das haben wir
doch gemacht!)

Ist das Populismus? Ist das einer dieser Anträge, in de-
nen die FDP aus dem Füllhorn schüttet? Ich frage mich
immer: Wie passt das in ein Gesamtkonzept? Wir haben
in diesem Hohen Hause schon viele Anträge von der FDP
auf den Tisch bekommen, bei denen ich den Eindruck
hatte, dass jedem alles geschenkt werden soll.


(Widerspruch bei der FDP)

Gleichzeitig tut man so, als könnten die Steuersätze ge-
senkt und auf 15, 25 und 35 Prozent festgesetzt werden.
Wie soll das zusammenpassen? Der Staat, dem man auf
der einen Seite die Einnahmen so maßlos kürzt, dass er
weder aus noch ein weiß, soll auf der anderen Seite ein un-
erschöpfliches Füllhorn ausgießen. Das hat mit einem
Konzept nichts zu tun.

Aber der Antrag spricht in der Tat Bände, weil er den
eigentlichen Charakter Ihrer Partei zeigt, die noch nie so
weit davon entfernt war, eine Volkspartei zu werden, wie
Herr Westerwelle es wünscht, sondern im Grunde ge-
nommen doch die Partei der Besserverdienenden ist. Um
nichts anderes geht es an dieser Stelle.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Jetzt reden Sie doch mal zum Inhalt! Sie haben noch kein Wort zum Inhalt gesagt!)


Sie als FDP sind ja nicht ganz unbeteiligt an der beste-
henden Konstruktion der Eigenheimzulage, die wir jetzt
nur reformieren und anpassen, weil das notwendig ist,
weil die Bedingungen unserer Zeit und die schwierige
Haushaltslage es erfordern.

Ihr eigentliches Projekt, meine Damen und Herren von
der FDP, war seinerzeit doch der reine Freibetrag. Sie
wussten ganz genau, dass ein solcher Freibetrag nur den
Besserverdienenden zugute kommt. Nur diejenigen, die
viel Steuern zahlen, konnten auf diese Art und Weise spa-
ren. Die Leute mit geringeren Einkommen haben nie et-
was davon gehabt. Das war Ihr eigentliches Projekt. Die
Eigenheimzulage hat an dieser Stelle soziale Gerechtig-
keit geschaffen und mehr Menschen die Möglichkeit ge-
boten zu bauen, als das vorher der Fall war.

Es ist gelungen, und zwar wesentlich unter der Feder-
führung der SPD, auch mithilfe des damaligen Bundes-
rats, mithilfe des Landes Rheinland-Pfalz und mit der per-
sönlichen Hilfe unseres jetzigen Staatssekretärs, der
damals Sprecher der Bauarbeitsgruppe meiner Fraktion
war, diesen völlig neuen Typ der Eigenheimzulage zu in-
stallieren. Plötzlich ging es nicht mehr um das Sparen von
Steuern, sondern um eine echte Zulage, wie das Kinder-
geld. Die Folge war, dass die Zahl der Anträge enorm in
die Höhe geschnellt ist; es hat, Herr Otto, einen echten
Bauboom gegeben. Viele Familien, die bauen wollten, es
bis dahin aber nicht konnten, waren plötzlich dazu in der
Lage. Diese Bugwelle ist inzwischen abgeklungen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501912600

Herr Kollege Hilsberg, würden Sie freundlicherweise

eine Zwischenfrage des Kollegen Meister gestatten?


Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1501912700

Ja. Wir wollen ihn nicht länger warten lassen.


Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1501912800

Vielen Dank, Herr Kollege Hilsberg. Ich frage Sie, da

Sie die Notwendigkeit der Reform der Eigenheimzulage
hier so massiv vertreten, wie Sie das in Einklang bringen
mit dem Interview des Bundeskanzlers Gerhard Schröder
im August letzten Jahres in der Zeitschrift „Familie und
Garten“, in dem er ausdrücklich dargelegt hat, dass er der
Meinung sei, dass die Eigenheimzulage in der laufenden
Wahlperiode so bleiben solle, wie sie ausgestaltet sei.


(Zuruf von der FDP: Das war aber vor der Wahl!)







Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1501912900

Unter der Voraussetzung, dass Sie ihn richtig zitieren

– ich will aber nicht in seinem Namen sprechen –, hat er
gesagt: in der laufenden Legislaturperiode. Das war ja
auch der Fall. Es war übrigens von Anfang an klar – auch
im Ausschuss, dem Sie damals angehört haben –, dass Re-
formen an dieser Stelle bitter notwendig sind. Ich erinnere
daran, dass die Leerstandskommission seinerzeit bei-
spielsweise die komplette Streichung der Eigenheimzu-
lage gefordert hat, weil wir in den ostdeutschen Städten
einen Leerstand von bis zu 40 Prozent haben. Das können
Sie doch nicht übersehen. Wenn Sie jetzt über dieses
Thema lamentieren, dann zeigt das, dass Sie die ostdeut-
schen Probleme in keiner Weise zur Kenntnis nehmen und
dazu auch nicht gewillt sind.

Wir haben ähnliche Probleme in den alten Ländern. Ich
denke beispielsweise an die Frage der Zersiedelung. In
den Grünbüchern der Europäischen Kommission zur Ver-
kehrspolitik steht beispielsweise, dass nicht weiterhin
eine Politik betrieben werden dürfe, durch die täglich über
100 Hektar an Naturbestand gewissermaßen zersiedelt
werden. An dieser Stelle muss man ansetzen. Aber das ist
nur ein Punkt.

Es gibt noch einen anderen, der meines Erachtens noch
wichtiger ist. Die Eigenheimzulage hat gewiss etwas mit
sozialer Gerechtigkeit zu tun. Aber sie muss an die realen
Bedingungen angepasst sein. Das Wichtigste ist: Eine Ei-
genheimzulage schafft nur dann soziale Sicherheit für die
Menschen, wenn sie gleichzeitig unter den Bedingungen
gesunder Staatsfinanzen leben können. Generationenge-
rechtigkeit und Eigenheimzulage gehören zusammen.
Wenn Sie das eine zulasten des anderen verändern, kann
es nicht funktionieren. Deswegen war es notwendig, auch
an dieser Stelle zu sparen.

Ich sage ganz ernsthaft: Wir wissen, dass wir Opfer
verlangen. Wir wissen, dass der bisherige Besitzstand,
was die öffentliche Förderung angeht, durch die Reform
der Eigenheimzulage eingeschränkt wird. Wir haben die
verschiedenen Varianten geprüft. Die Reform der Ei-
genheimzulage kann nicht isoliert, sondern sie muss in
einem Gesamtkonzept betrachtet werden. Auch eine ge-
sunde Volkswirtschaft, die Sie zu Recht einfordern, kann
nur funktionieren, wenn die Staatsfinanzen intakt sind.
Deshalb kann man das eine nicht von dem anderen tren-
nen.

Ich glaube, es war richtig, die Eigenheimzulage zu re-
formieren. Wir konzentrieren Sie in Zukunft auf Familien
mit Kindern. Der Kinderanteil bei der Eigenheimzulage
wird sogar erhöht. Es ist doch überhaupt nicht der Fall,
dass an dieser Stelle eingespart wird. Der Familiengrund-
betrag wird zwar in Zukunft niedriger sein, aber die För-
derung für Kinder wird erhöht, was angesichts des demo-
graphischen Wandels wichtig ist.


(Ina Lenke [FDP]: Reden Sie doch nicht so einen Quatsch! Das ist ja furchtbar!)


Wir müssen eine Politik machen, die den demographi-
schen Wandel im Blick hat und ein Signal an Familien mit
Kindern ist. Auch Sie kommen nicht darum herum, diese
Punkte zu beachten.

Ich möchte noch an Folgendes erinnern: Es gibt keinen
Zusammenhang mit der Baukonjunktur; denn die Zahl
der Anträge ist bereits unter den Bedingungen des alten
Rechts zurückgegangen, obwohl die ausgeschüttete
Summe gestiegen ist. Das hängt aber mit dem achtjähri-
gen Förderzeitraum zusammen. Eine Baufirma wird in
den nächsten Jahren nicht merken, dass wir an dieser
Stelle etwas geändert haben, weil es in den letzten Mona-
ten noch einen Boom gegeben hat, was man an der Zahl
der abgegebenen Anträge erkennen kann.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Danach will überhaupt niemand mehr bauen! Da haben Sie Recht!)


Die Baukonjunktur ist also nicht abhängig von der Eigen-
heimzulage.

Ich komme zum Schluss. Es wird sicherlich noch
einige Diskussionen über diese Frage geben. Sie wird Ge-
genstand im Bundesrat und mit Sicherheit auch im Ver-
mittlungsausschuss sein. Es müssen hierzu sehr differen-
zierte Diskussionen geführt werden. Aber man muss
aufpassen. Ab und zu wird der Vorwurf gemacht, dass die
Bemessungsgrundlage zu hoch gewählt sei, obwohl wir
sie von 80 000 auf 70 000 Euro – das sind 140 000 Euro
für ein Ehepaar – gesenkt haben. Es gibt aber einen einfa-
chen Grund, weshalb die Bemessungsgrundlage in dieser
Höhe gewählt wurde. Wenn man nämlich, wie von eini-
gen Ländern gefordert, noch weiter heruntergehen würde,
könnte es sein, dass auf diese Art und Weise Alleinerzie-
hende so benachteiligt würden, dass sie nicht mehr in den
Genuss des Bauens kämen. Das kann nicht im Sinne des
Erfinders sein. Deshalb muss man an dieser Stelle vor-
sichtig und differenziert an die Sache herangehen.

Wir erwarten spannende Diskussionen. Die Eigen-
heimzulage muss im Interesse der Aufrechterhaltung un-
seres Sozialstaates reformiert werden. Wer den Sozial-
staat und soziale Gerechtigkeit auch in Zukunft will, der
kann nicht, wie die FDP es tut, aus dem Füllhorn schütten.
Er muss an das Gesamtwohl denken und er braucht ein
Gesamtkonzept; denn ohne ein solches werden wir keine
der Aufgaben lösen können, für deren Erledigung wir ge-
wählt wurden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das waren neun Minuten heiße Luft aus Brandenburg!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501913000

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Minkel,

CDU/CSU-Fraktion.

(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Bürgermeister, mach mal ein bisschen Dampf!)



Klaus Minkel (CDU):
Rede ID: ID1501913100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Hilsberg, Sie haben mich mit Ihrem Beitrag sehr
enttäuscht. Wenn man bei der Eigenheimzulage den Fa-


(A)



(B)



(C)



(D)


1512


(A)



(B)



(C)



(D)






milien ohne Kindern 100 Prozent und den Familien mit
Kindern über 60 Prozent wegnimmt, dann ist das keine
Reform und verdient diese Bezeichnung auch nicht. Es ist
vielmehr eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme
und nichts anderes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es war nicht allein der Bundeskanzler, der sich im letz-

ten Jahr mit salbungsvollen Worten für die Eigenheimzu-
lage eingesetzt hat. Es waren auch die Fraktionen von
SPD und Grünen. Ich zitiere aus einem rot-grünen Antrag
im Bundestag im Juni:

Die Förderung des selbst genutzten Wohneigentums
hat gesellschaftpolitisch einen hohen Stellenwert.
Wir messen der Eigenheimzulage einen hohen Stel-
lenwert zu.

Es heißt weiter:
Deshalb ist klar, dass die SPD keinesfalls an die
Streichung der Eigenheimzulage denkt. Aus woh-
nungspolitischer Sicht halten wir auch die derzeitige
Höhe des Fördervolumens für sinnvoll.

Oder die Grünen:
Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode
aktiv dafür einsetzen, dass der Erwerb von Wohn-
eigentum weiter erleichtert wird.

So die wohnungspolitische Sprecherin der Grünen, Frau
Eichstädt-Bohlig.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Alles vor den Lügenausschuss!)


Wenn das, was Sie vor der Wahl erklärt haben, wahr ge-
wesen sein soll, dann sind alle Hilfs- und Stützargumente,
die Sie jetzt anbringen, um die Streichungen zu rechtfer-
tigen, nicht wahrhaft. Die einzige Verbesserung, die Sie
anführen können, ist die bescheidene Erhöhung des Kin-
derzuschlages um 33 Euro pro Kind und Jahr. Dem muss
man die Kürzung des Grundbetrages von 1 556 Euro ent-
gegenhalten. Nach Adam Riese bedeutet das immer noch,
dass man 48 Kinder in die Welt setzen muss, um die Kür-
zungen beim Grundbetrag ausgleichen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Hilsberg, Sie werden also mit dieser Reform nie-
manden in diesem Lande glücklich machen können.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Das schaffen Sie nicht einmal mit vier Ehefrauen!)


In diesem Zusammenhang ist mir einzig August der
Starke mit seinen 360 Kindern eingefallen. Aber der ist
schon 250 Jahre tot.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501913200

Er hat auch, glaube ich, keine Eigenheimzulage be-

kommen, Herr Kollege.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das kann doch niemand ernst nehmen! – Lachen bei der SPD)



Klaus Minkel (CDU):
Rede ID: ID1501913300

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes-

regierung ist bekanntlich an nichts schuld. Wenn die
Wirtschaft in diesem Jahr genauso schlecht wie im letz-
ten Jahr läuft, dann liegt das wie immer an der Weltwirt-
schaft. Wir sehen das freilich ganz anders, denn es lahmt
die Binnenkonjunktur. Diese Bundesregierung hat
durch ihre Politik die Binnenkonjunktur im Allgemeinen
und die Bauwirtschaft im Besonderen auf ihrem Gewis-
sen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es fing schon 1998 mit der Ökosteuer an. Aus dieser

6-Pfennig-Steuer sind mit EEG-Abgabe und KWK-Ab-
gabe inzwischen Mehrbelastungen für unsere Bevölke-
rung von über 20 Milliarden Euro entstanden. Diese
Geldbeschaffungsmaßnahmen werden durch Ihren unse-
ligen Gesetzentwurf vom 2. Dezember fortgesetzt, über
den wir hier heute zu reden haben. Durch diesen Gesetz-
entwurf sollen unserer Bevölkerung jedes Jahr weitere
17 Milliarden Euro aus der Tasche gezogen werden. Sie
nehmen der Bevölkerung die Kaufkraft, die Umsätze bre-
chen weg. Sie produzieren dadurch mehr Arbeitslosigkeit,
die anschließend von der Allgemeinheit teuer finanziert
werden muss, wofür Sie dann wiederum tiefer in das
Fleisch des deutschen Volkes schneiden werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die deutsche Bauwirtschaft ist sterbenskrank. In dieser

Lage traktieren Sie die Bauwirtschaft in ihrem Überle-
benskampf prozyklisch. Die Bauwirtschaft ruft SOS und
Sie starten durch Ihren jüngsten Gesetzesvorschlag einen
Fächerangriff auf die deutsche Bauwirtschaft, als ob es
um ein fröhliches Schiffeversenken ginge.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Begrenzung der Verlustverrechnung betrifft ins-

besondere die Bauwirtschaft, weil die Bauwirtschaft bei
ihren Arbeitsgemeinschaften und Projektgesellschaften
auf die Verlustverrechnung angewiesen ist. Die gestrige
Anhörung hat zweifelsfrei erwiesen, dass die Bauwirt-
schaft künftig bei dieser Verlustbegrenzung Scheinge-
winne wird versteuern müssen. Das ist unredlich. Zu sol-
chen Maßnahmen greift nur ein Räuberstaat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aus gutem Grund gibt es seit Jahrzehnten in diesem

Lande die degressive Abschreibung. Sie soll Investitio-
nen anregen und erleichtern. Wenn die degressive Ab-
schreibung künftig wegfallen soll, dann bedeutet das für
den privaten Wohnungsbau, dass eine Finanzierungs-
lücke von 8 Prozent entsteht, die durch mehr Zinsen be-
dient werden muss, was unmittelbar zu höheren Mieten
führen wird.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: So ist es!)

Wenn sich diese höheren Mieten nicht am Markt durch-
setzen lassen, dann bedeutet das, dass noch mehr auf pri-
vaten Wohnungsbau verzichtet wird. Aber auch das führt

Klaus Minkel




Klaus Minkel
zu höheren Mieten. Als Draufgabe werden Sie zusätzliche
Arbeitslose geschenkt bekommen.


(Zuruf von der SPD: Schwarzmaler!)

Am schlimmsten sind Ihre Eingriffe bei der Eigen-

heimzulage; das habe ich schon zu Beginn meiner Aus-
führungen geschildert. Hier werden insbesondere die
Schwellenhaushalte geschädigt, nicht die Reichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das betrifft die jungen Familien, die einkommens- und
kapitalschwach sind und die auf diese Starthilfe angewie-
sen sind. Sie helfen mit dieser Kürzung niemandem. Sie
helfen vor allen Dingen sich selbst und dem Finanzminis-
ter nicht. Die Eigenheimzulage hat bei den Neubauten ei-
nen enormen Hebeleffekt, weil sie erhebliche private In-
vestitionen auslöst.

Wenn diese privaten Investitionen künftig wegfallen,
dann bedeutet das, dass die öffentliche Hand in Höhe von
etwa 50 Prozent dieser Wertschöpfung über weniger Ein-
nahmen bei Steuern und der Sozialversicherung verfügen
wird. Zusätzlich kommen für jede Wohneinheit, die nicht
gebaut wird, einige Arbeitslose hinzu, die wir alle dann
wieder zu finanzieren haben.

Es ist äußerst unredlich gewesen, wie Sie dieses Thema
vor der Bundestagswahl behandelt haben. Wenn die Bau-
arbeiter, die Handwerker, die ihr Brot hart verdienen müs-
sen, gewusst hätten, was ihnen nach der Wahl blüht, dann
wäre das Wahlergebnis mit Sicherheit anders ausgefallen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das gilt ebenso für die jungen Familien, die sich auf diese
Regierung verlassen haben.

Das Eigentum verschafft unserer Bevölkerung Frei-
heit. Es steht auf der Wunschliste unserer Bevölkerung
nach Essen und Trinken ganz weit oben. Die Eigentums-
quote in unserem Land ist sowieso die niedrigste in der
ganzen Europäischen Union.


(Karin Rehbock-Zureich [SPD]: In der Schweiz ist sie niedriger!)


– Die Schweiz ist bekanntlich kein Mitglied der Europä-
ischen Union, verehrte Kollegin.


(Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Sie liegt aber in Europa!)


Die Eigentumsquote ist in den neuen Bundesländern
besonders niedrig. Dort besteht ein hoher Nachholbedarf.
Sie nehmen den Menschen in den neuen Bundesländern
die Chance, diesen Bedarf zu befriedigen.

Ich möchte mit einem Wort von Tucholsky schließen,
das besonders den Vertretern der SPD zu denken geben
sollte.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aus Ihrem Munde wird uns das aber schwer fallen!)


Tucholsky hat gesagt: Man kann mit einer Wohnung einen
Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt.


(Stephan Hilsberg [SPD]: Das war Zille! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir wuss ten schon immer, dass Sie mit Tucholsky nichts anfangen können!)


Wir haben in diesem Lande immer noch Wohnungen, die
nicht marktgerecht sind und nicht den Bedürfnissen unse-
rer Bevölkerung entsprechen. Besinnen Sie sich auf eine
moderne Wohnungsbaupolitik und betreiben Sie endlich
wieder eine Politik für und nicht gegen die Menschen!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501913400

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
verehrter Herr Kollege Minkel, als Erstes muss ich fest-
stellen: Wenn die Eigenheimzulage den Effekt hat, dass
unsere jungen Leute pro Haushalt und Familie 48 Kinder
in die Welt setzen, dann brauchen wir hier nicht mehr über
den demographischen Wandel und über bestimmte
Wachstumsprobleme zu diskutieren. Dann hätten wir
wirklich den Joker getroffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber ich glaube, das hat auch die bisherige Eigenheimzu-
lage nicht geschafft.

Als Zweites ein sehr ernstes Wort: Sie haben Ihren Bei-
trag mit dem großen Satz angefangen, das wäre eine ver-
zweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme und nichts anderes.


(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!)

Dazu kann ich nur sagen: Sie sprechen mit gespaltener
Zunge, vielleicht nicht Sie persönlich, aber Ihre Fraktion
ebenso wie die FDP. Auf der einen Seite beantragen Sie
einen Lügenausschuss, weil Sie uns vorwerfen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben doch gelogen!)


wir sagten der Bevölkerung nicht deutlich genug, dass wir
dann, wenn wir Steuermindereinnahmen in großem Um-
fang haben, ernsthaft sparen müssen. Wenn wir dieses
Sparen dann ernsthaft in Angriff nehmen und prüfen, wo
und an welcher Stelle wir das verantwortlich machen kön-
nen, dann beschweren Sie sich auf der anderen Seite, das
sei eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme.

Sie haben einfach noch nicht kapiert, was die Stunde
geschlagen hat. Sie haben noch nicht einmal die aktuelle
Vorausschau auf die Entwicklung unseres Bruttoinlands-
produktes verinnerlicht; sonst müssten Sie endlich verste-
hen, dass auch Sie sich der Verantwortung des Sparens
endlich stellen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das gilt sowohl für die FDP, die es überhaupt nicht kapiert
hat und immer Steuersenkungen und sämtliche Ge-


(A)



(B)



(C)



(D)


1514


(A)



(B)



(C)



(D)






schenke gleichzeitig verspricht. Sie hat gerade eben im
Haushaltsausschuss so viel versprochen, dass man eigent-
lich überhaupt niemandem erzählen darf, wo sie überall
draufsatteln wollen; gleichzeitig aber rufen Sie immer
nach dem schlanken Staat.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Kommen wir konkret zu dem gesamten Antrag. – Kol-

lege Brunnhuber, stellen Sie gegebenenfalls eine Frage!
Jetzt will ich erst einmal meine Gedanken äußern.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Geben Sie zu, dass Sie vor der Wahl gelogen haben!)


– Nein, wir geben zu, dass wir vor der Wahl

(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Die Un wahrheit gesagt haben!)

gesagt haben, wir müssen sparen, und nach der Wahl ge-
lernt haben, dass wir noch mehr sparen müssen, Herr Kol-
lege Brunnhuber. Das machen wir auch, weil wir die Auf-
gaben im Interesse unseres Landes lösen, nicht aber
dumme Sprüche machen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Als ersten wichtigen Satz zu dem Antrag der FDPmuss
man wirklich sagen: Es geht um zwei grundsätzliche Pro-
bleme. In den Zeiten, in denen wir inzwischen in weiten
Teilen Deutschlands eine auskömmliche Versorgung mit
Wohnraum haben, kann man der Wohnungs- und Immo-
bilienwirtschaft, die jahrzehntelang direkt und indirekt
gut subventioniert worden ist, Subventionskürzungen ein-
deutig zumuten. Das sage ich mit großer Deutlichkeit; das
habe ich übrigens auch vor der Wahl gesagt, Herr Kollege
Minkel.

Zweitens bin ich schon der Meinung, dass die Woh-
nungswirtschaft, die wirklich über Jahre gutes Geld be-
kommen hat, in diesen Zeiten ihren Beitrag zum Sub-
ventionsabbau, das heißt zum Sparen leisten muss. Das
gilt beispielsweise für die AfA. Übrigens muss man in Be-
zug auf die Spekulationsfrist deutlich sagen: Die jetzt von
uns in das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufgenom-
mene Besteuerung für die Veräußerung von Immobilien
stellt diejenigen, die von der 10-jährigen Spekulationsfrist
betroffen sind, eigentlich sogar günstiger als bisher, aber
offenbar begreifen Sie so etwas noch nicht einmal.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Fragen Sie einmal!)


Nun konkret zur Eigenheimzulage: Kollege Minkel,
hier muss ich Sie aufklären. Eine aktuelle Untersuchung,
die so genannte Färber-Studie, kommt zu einem genau
entgegengesetzten Ergebnis. Danach profitieren bislang
nicht die Schwellenhaushalte von der Eigenheimförde-
rung, sondern fast ausschließlich die Bezieher mittlerer
und höherer Einkommen. Etwa die Hälfte aller Bezieher
von Eigenheimzulage gehört zu den 20 Prozent der reichs-
ten Haushalte, während lediglich 3 Prozent der Bezieher
von Eigenheimzulage zu den 20 Prozent der ärmsten
Haushalte gehören. Die Förderung erreicht also über-
wiegend Haushalte, die aus eigener Kraft Eigentum bil-
den können. Mitnahmeeffekte sind eines der großen

Probleme der bisherigen Eigenheimzulage. Das sollte
man endlich ernst nehmen, insbesondere in diesen Zei-
ten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich frage Sie konkret: Wieso wollen Sie einem wenig
verdienenden Mieterhaushalt zumuten, dass er die von
ihm erwirtschafteten Steuergelder dafür bereitstellt, dass
ein anderer, besser verdienender Haushalt Eigentum bil-
det? Das ist vielen Schichten unserer Bevölkerung in die-
sen Zeiten eindeutig nicht vermittelbar.

Zum zweiten Ziel, zur Förderung der Altersvor-
sorge, sage ich ganz deutlich: Ich werde mich weiterhin
nachdrücklich dafür einsetzen, dass wir eine bessere Ver-
zahnung der von uns neu umgestalteten Form der Eigen-
heimzulage mit der Altersvorsorge nach der Riester-Rente
erreichen. Diese wichtige Aufgabe werden wir Grünen
weiterhin aktiv unterstützen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So wie bisher!)

Der dritte Punkt – es geht nicht nur um die Bauwirt-

schaft –: das Ziel Wohnversorgung. SPD und Grüne ha-
ben von hier aus Ihren beiden Fraktionen oft genug ge-
sagt, dass Wohnungsengpässe in München, Stuttgart und
Frankfurt bestehen, also in den Ländern, die Wachstum
haben und vergleichsweise gut betucht und reich sind.
Diese Länder sollten sich für eine Lösung der Wohnver-
sorgungsprobleme in ihren wirtschaftsstarken Städten
und Ballungsräumen engagieren und nicht ihrerseits Sub-
ventionen abbauen, sondern ihr Geld in die Hand nehmen
und da aufsatteln. In einer Gesellschaft, die für gleich-
wertige Lebensverhältnisse eintritt, erwarte ich, dass die
Länder, die es sich leisten können, die Subventionen leis-
ten, die sie für notwendig halten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vorletzter Punkt: Städtebauförderung. Wir Grüne wer-
den uns immer dafür einsetzen, dass diese Förderung so
gestaltet wird, dass auch die Kernstädte davon einen Vor-
teil haben.

Herr Präsident, lassen Sie mich bitte einen letzten Satz
zur Bauwirtschaft sagen. Wir sind sehr für die Förderung
der Bauwirtschaft, aber da, wo es inhaltlich sinnvoll ist.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Wo? Stimmt doch überhaupt nicht!)


Deswegen fördern wir die Bauwirtschaft mit Program-
men zur CO2-Minderung und Altbausanierung. Wir habenbereits ein Altbausanierungsprogramm mit jährlich
200 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Wir satteln im
aktuellen Haushaltsverfahren und mit der Verabschiedung
des letzten Ökosteuergesetzes noch einmal 150 Millionen
Euro im Jahr auf. Da sollten Sie einmal sehen, was Sie bis-
her geleistet haben.

Insofern fördern wir die Bauwirtschaft, wo es nötig
und sinnvoll ist. Wir fördern nicht einfach den Bau von
Eigenheimen, die aufgrund der demographischen Ent-
wicklung im Osten und auch in Teilen des Westens even-
tuell schon in 20 Jahren nicht mehr verwertbar sein

Franziska Eichstädt-Bohlig




Franziska Eichstädt-Bohlig
könnten. Von daher betreiben wir Wirtschaftsförderung
mit Sinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501913500

Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Georg Fahrenschon (CSU):
Rede ID: ID1501913600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Hilsberg! Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig! Die Wahr-
heit ist: Sie haben ein falsches Instrument gewählt. Wir
haben in Deutschland tatsächlich ein Finanzierungspro-
blem. Der Staatshaushalt ist in einer Schieflage. Aber das
Instrument, das Sie gewählt haben, nämlich die Kürzung
der Eigenheimzulage, ist schlicht und einfach das falsche
Instrument zur Lösung unserer Finanzprobleme.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das zeigen auch die Überschriften der Kommentare: ar-
beitsmarktpolitisch verheerend, familienpolitisch schlicht-
weg falsch und finanzpolitisch nicht einmal zu Ende ge-
dacht.

Erstens. Jede neue Wohnung schafft ein Jahr lang
zwei neue Arbeitsplätze im regionalen Baugewerbe und
zwei weitere in den vor- und nachgelagerten Bereichen.

Zweitens. 10 000 neue Wohnungen führen über Steu-
ern und Sozialabgaben zu Einnahmen von 1Milliarde Euro
im Eigenheimbau bzw. von rund 600 Millionen Euro im
Mehrfamilienhausbau. Denn dort gilt, was für die Volks-
wirte das Wichtigste ist, der Multiplikatoreffekt. Auf
10 Euro, die vom Staat in die Hand genommen werden,
legen die privaten Haushalte 100 Euro drauf. Diesen Ef-
fekt und nicht die Kürzung der Eigenheimzulage brau-
chen wir.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Drittens. Hausbau ist Vertrauenssache. Bauherren und

Investoren müssen auf weitgehend stabile Rahmenbe-
dingungen bauen können. Was Sie tun, ist das genaue
Gegenteil davon und deshalb verheerend. Der Generalse-
kretär der SPD, Scholz, erklärt den Kompromiss, der im
November gefunden wurde, sofort für sankrosankt.
Bundesbauminister Stolpe spricht dagegen von einem
Schnellschuss. Der Ministerpräsident auf Abruf, Gabriel,
verweigert seine Zustimmung im Bundesrat und wendet
sich, weil er ein mutiger Ministerpräsident ist, mit einer
Prüfbitte an die Bundesregierung: Man möge prüfen, ob
man den Kompromiss nicht noch ändern könnte. Der
Bundesfinanzminister verschließt die Augen vor den fi-
nanz- und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen und
geht stattdessen einfach auf Tauchstation. Heute betritt
der grüne Koalitionspartner in Person der Vorsitzenden
des Finanzausschusses die Bühne und lässt uns über die
Presse mitteilen, dass die Kürzung der Eigenheimzulage
im Detail noch vollkommen offen ist. Meine Damen und
Herren, worüber debattieren wir denn heute?


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Fragen Sie doch einmal die FDP!)


Spannend wird, was Sie heute Abend in Ihrer Koalitions-
runde zu diesem Thema sagen. Ich will Ihnen mit auf den
Weg geben: Ich habe mir die Mühe gemacht, die Stellung-
nahmen von Verdi und DGB zum Thema Eigenheimzu-
lage zu lesen. In Ihren Reihen ist das wohl unter den Tisch
gefallen.

Wir könnten uns über die vollkommen verquere Situa-
tion in der Regierung eigentlich freuen; angesichts der
wirtschaftspolitischen Gesamtlage und der speziellen Si-
tuation im Bau- und Wohnungsbereich ist das aber nicht
der Fall. Familien und Investoren bauen im besten Sinne
des Wortes auf stabile Rahmenbedingungen. Sie brauchen
für ihre Investitionsentscheidungen transparente und ver-
lässliche Grundlagen. Ihr Hin und Her bezüglich der künf-
tigen Konditionen ist verheerend für das Investitions-
klima und Gift für die dringend notwendige Belebung der
Konjunktur und des Arbeitsmarktes. Für den einstigen
Beschäftigungsmotor Bauwirtschaft müssen die Rahmen-
bedingungen endlich verbessert werden: sie dürfen nicht
erneut verschlechtert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, das Rheinisch-Westfälische

Institut für Wirtschaftsforschung hat in seiner gestrigen
Stellungnahme in der Anhörung des Finanzausschusses
folgende Daten in die Debatte eingebracht. Stichwort Ei-
genheimbau: Bei Ihrer Kürzung kommt es zu einem
Nachfrageausfall von 7,5 Milliarden Euro, verbunden
mit einem Beschäftigungsabbau von 90 000 Arbeitsplät-
zen, davon 45 000 allein im Baugewerbe. Stichwort
Mehrfamilienhausbau: Hier kommt es zu einem Nachfra-
geausfall von weiteren 4 Milliarden Euro, verbunden mit
einem Beschäftigungsabbau von weiteren 50 000Arbeits-
plätzen, davon wiederum 25 000 im Baugewerbe. Den ge-
planten Einsparungen von 5,8 Milliarden Euro innerhalb
der kommenden acht Jahre steht nach Schätzungen des
Bundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungs-
unternehmen ein Rückgang des Investitionsvolumens um
fast 29 Milliarden Euro gegenüber. Für den Fiskus – das
ist der Teufelskreis – bedeutet das weniger Steuereinnah-
men, steigende Sozialabgaben in Höhe von mehr als
10 Milliarden Euro und, nicht zu vergessen, Mehrbelas-
tungen bei der Arbeitslosenunterstützung.

Die Kürzung der Eigenheimzulage, wie Sie sie vor-
schlagen, ist ein Schuss in den Ofen – viel schlimmer: Sie
ist ein Schuss ins eigene Knie. Die Kürzung ist aber nicht
nur arbeitsmarkt- und finanzpolitisch fatal, sie ist auch fa-
milienpolitisch vollkommen falsch. Durch die Absenkung
der Einkommensgrenzen und den Ausschluss kinderloser
Haushalte in der Kerngruppe der 30- bis 39-jährigen hal-
biert sich der Anteil der grundsätzlich Anspruchsberech-
tigten von bisher 7,4 Millionen Haushalten auf 4,3 Mil-
lionen Haushalte. Meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, das ist keine Reform. Das ist ein fa-
milienpolitischer Kahlschlag.

Gleichzeitig wird den so genannten Schwellenhaus-
halten, die mit ihrem Geld gerade so über die Runden
kommen, der Einzug in die eigenen vier Wände erheblich
erschwert; denn die Eigenheimzulage ist ein entscheiden-


(A)



(B)



(C)



(D)


1516


(A)



(B)



(C)



(D)






der Baustein des Eigenkapitals und wird direkt in den Fi-
nanzierungsplan der eigenen Wohnung oder des eigenen
Hauses eingestellt. Bei einem nur 25-prozentigen Eigen-
kapitalanteil eines durchschnittlichen Familienhauses im
Wert von 150 000 Euro fehlt dem kinderlosen Haushalt
gegenüber dem bisherigen Recht in Zukunft mehr als die
Hälfte und, wenn es nach Rot-Grün geht, einer Familie
mit Kindern ein Drittel dieser Finanzierung. Es ist nicht
zu vergessen, dass sich bei einem geringen Eigenkapital
die Kreditkosten automatisch erhöhen.

Bau- und Kaufwillige in Deutschland werden durch
Ihren Vorschlag also doppelt belastet. Neben jedem
Schlafzimmer der kinderlosen Familien tickt in Zukunft
die Stoppuhr; denn nach vier Jahren muss sich der Nach-
wuchs einstellen, sonst bricht die gesamte Finanzierung
zusammen und der Anspruch ist hinüber bzw. verringert
sich. Es ist geschmacklos, so Familienpolitik zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dem Bundesfinanzminister und auch Ihnen muss

schon noch einmal mit auf den Weg gegeben werden, dass
Sie einen zentralen sachlichen Denkfehler gemacht ha-
ben. Die sachliche Begründung zur Kürzung lautet aus der
Sicht des BMF – ich zitiere aus dem offiziellen Pressedo-
kument vom 17. November –:

Wir können es uns nicht mehr leisten, flächen-
deckend, auch in Gebieten, in denen ein Wohnungs-
leerstand herrscht, den Neubau massiv zu fördern.

Das ist deshalb falsch, weil Bundesfinanzminister Eichel
einfach ignoriert, dass 70 Prozent der Bundesbürger keine
Mietwohnung suchen, sondern ihre eigene Immobilie fin-
den wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Zusammenhang, den Sie hier herstellen, geht an der
Realität vorbei. Herr Eichel, wachen Sie auf: Leere Miet-
wohnungen haben nichts mit Eigenheimen zu tun!

Ich darf zusammenfassen und beziehe mich dabei aus-
drücklich auf die dem Parlament vorliegenden Stellung-
nahmen des DGB und des Verdi-Bundesvorstandes: Die
Kürzung der Eigenheimzulage zerschlägt die Zukunfts-
pläne vieler Arbeitnehmerhaushalte. Die Kürzung hat ne-
gative Rückwirkungen auf die sowieso schon stark ge-
schwächte Bauwirtschaft. Die Arbeitsplatzvernichtung in
Deutschland wird sich weiter verstärken, weil als Folge
der Zulagenkürzung weitere 50 000Wohnungen nicht ge-
baut werden. Ausgerechnet in einer Phase, in der die Ei-
genversorgung aufgrund der demographischen Entwick-
lung immer mehr an Bedeutung gewinnt, schwächt
Rot-Grün das selbst genutzte Wohnungseigentum. Wir
dürfen erwarten, dass im Abschlussbericht der Rürup-
Kommission stehen wird, wir sollten das alte Gesetz wie-
der herstellen; denn Rot-Grün hat mit der Kürzung der Ei-
genheimzulage auch in diesem Bereich versagt.

Last, but not least: Gerechnet für 25 000 Wohnungen
übersteigen die Ausfälle an Steuer- und Abgabenein-
nahmen sowie die Mehrbelastungen der öffentlichen
Haushalte durch die erhöhten Aufwendungen bei Arbeits-
losigkeit nach Zahlen des DGB die Einsparungen an Zu-
lagen erheblich: Über acht Jahre hinweg stehen 2,5 Mil-

liarden Euro an höheren Ausgaben 0,6 Milliarden Euro an
Einsparungen gegenüber.

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Ko-
alition, mit der Kürzung der Eigenheimzulage sind Sie ar-
beitsmarktpolitisch, wirtschaftspolitisch und familien-
politisch auf dem Holzweg. Stoppen Sie Ihre Geisterfahrt
so schnell wie möglich, am besten noch heute in Ihrem
Koalitionsausschuss!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501913700

Letzte Rednerin in der Aussprache zu diesem Tages-

ordnungspunkt ist die Kollegin Gabriele Groneberg,
SPD-Fraktion.


Gabriele Groneberg (SPD):
Rede ID: ID1501913800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst habe

ich bei Ihren Reden, Herr Otto und Herr Minkel, noch ge-
lacht. Es war sehr amüsant. Aber langsam ist mir das La-
chen vergangen. Wenn ich in meinem Leben so viel ge-
jammert und so viel mies gemacht hätte, dann hätte ich
meine Chancen nicht wahren können. Ich wäre als Al-
leinerziehende mit zwei Kindern rettungslos untergegan-
gen.


(Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Schauen Sie sich einmal die Fakten an! Sie würden keine Zulage mehr bekommen!)


Und gnade Gott, ich bin froh, dass die Wähler uns das Vo-
tum gegeben haben und nicht Ihnen. Mit Ihrer Miesma-
cherei sind Sie es, die diesen Staat in den Ruin treiben,
und nicht wir mit unserer vernünftigen Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Georg Fahrenschon [CDU/ CSU]: Sie würden keinen Euro mehr bekommen! – Ina Lenke [FDP]: Das ist familienfeindlich, was Sie machen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Frak-
tion, ich muss feststellen, dass Sie sich bei Ihrem Antrag
nicht viel Mühe gemacht haben. Den Antrag kann man in
zwei Punkte zusammenfassen. Erstens: Es bleibt alles so,
wie es ist. Zweitens: Es bleibt sowieso alles so, wie es
war. Für einen vernünftigen Antrag und für eine vernünf-
tige Politik hätte ich mir bessere Vorschläge gewünscht,
über die wir diskutieren, über die wir reden können. Das
wäre für uns alle der vernünftigste Weg gewesen. Aber
warum sollten Sie bessere Vorschläge machen? Sie sind
schließlich nicht in der Regierungsverantwortung. Ich
hätte es trotzdem gut gefunden.

Sie hätten den allgemein herrschenden Rahmenbedin-
gungen, an denen auch Sie nicht vorbeikommen, etwas
mehr Aufmerksamkeit schenken können. Sie lassen nämlich
außer Acht, dass sich der Wohnungsmarkt verändert hat und
dass wir mit einer immer älter werdenden Gesellschaft zu
rechnen haben. Damit haben wir es natürlich auch mit sich
verändernden Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt zu
tun. Wir werden keine steigenden Bevölkerungszahlen

Georg Fahrenschon




Gabriele Groneberg
mehr haben. Deshalb müssen wir auch im Wohnungsbau
der demographischen Entwicklung Rechnung tragen.

Mit Ihren Feststellungen im ersten Absatz sind Sie zu
kurz gesprungen, obwohl ich mit der Kollegin Eichstädt-
Bohlig durchaus darin einig bin, dass man über die Ein-
beziehung von Eigentum in die Riester-Rente reden
sollte. Das ist aber eine andere Geschichte.

Wenn wir über die Situation auf dem Wohnungsmarkt
sprechen, müssen wir uns folgende Tatsachen vergegen-
wärtigen. Wir haben im statistischen Durchschnitt in
Deutschland eine Versorgung mit Wohnraum, die so gut
ist wie noch nie zuvor. Das Problem dabei ist, dass sie
nicht überall gleich gut ist. In einigen Ballungsräumen ha-
ben wir ein knappes Angebot; das ist richtig. In anderen
Gebieten, übrigens nicht nur in den größeren Städten, gibt
es gewaltige Leerstände. Dies trifft vor allen Dingen auf
den Osten zu; ich kenne aber auch Beispiele aus West-
deutschland. Da wir nicht überall die gleichen Bedingun-
gen haben, eignet sich die Eigenheimzulage nicht zum
Ausgleich der regionalen Unterschiede, die wir auf dem
Wohnungsmarkt haben. Im Übrigen muss ich generell
feststellen: Die Eigenheimzulage ist nicht die einzige
Maßnahme zur Förderung des Wohnungsbaus. Hinzu
kommen noch andere Förderinstrumente.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nun geplante Re-
form der Eigenheimzulage ist von uns nicht freiwillig in
Angriff genommen worden. Sie ist letztendlich unter den
finanzpolitischen Bedingungen, denen wir unterliegen,
geboten. Es ist Ihnen durchaus bekannt – Sie können es
nicht leugnen –, dass die Gestaltung der Eigenheimzulage
schon seit einiger Zeit reformbedürftig ist. Herr Hilsberg
hat dazu ausführlich ausgeführt.

Generell ist es gar nicht mehr witzig, dass Sie den Sub-
ventionsabbau hier auch heute noch gefordert haben. Die-
ser soll grundsätzlich nur bei anderen und sowieso nur
dort, wo es Ihnen gerade passt, vorgenommen werden.


(Ina Lenke [FDP]: Das ist eine sozialpolitische Forderung von uns!)


Wir tun etwas anderes: Wir werden eine der größten Sub-
ventionen im Bundeshaushalt verändern.


(Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Sie werden sie atomisieren!)


Dadurch wird sie gleichzeitig eine andere wohnungspoli-
tische Komponente erhalten. Das ist in Ihren Reden über-
haupt nicht zum Tragen gekommen. Sie haben nicht
erwähnt, wie sich die Eigenheimzulage auf die Woh-
nungsbau- und Städtepolitik auswirken wird. Sie haben
nur auf einen bestimmten Fokus geschaut


(Ina Lenke [FDP]: Ja, auf die Familien!)

und alles andere vollkommen außer Acht gelassen.

Ich gebe zu, dass wir die ersten Überlegungen, die nach
Abschluss des Koalitionsvertrages im Raum gestanden
haben, auch nicht „pralle“ fanden.


(Ina Lenke [FDP]: Jetzt kommt es!)

In unseren Beratungen sind wir zu einem Kompromiss
gekommen, den wir durchaus tragen können. Letztend-

lich haben wir damit den zuerst geplanten massiven Rück-
bau der Förderung verhindert. Die Konzentration der För-
derung auf die Familien mit Kindern halte ich gerade auch
in unserer haushaltspolitischen Situation für äußerst sinn-
voll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Georg Fahrenschon [CDU/ CSU]: Funktioniert aber nicht!)


Eine Familie und Alleinerziehende mit zwei Kindern er-
halten bei einem Bestandserwerb nahezu die gleiche För-
derung wie zuvor. Ich denke, eine Einbuße von rund
17 Euro im Monat ist angesichts der schwierigen Lage der
öffentlichen Haushalte durchaus zu verkraften.

Herr Fahrenschon, die Kollegin von den Grünen hat
zum Stichwort „Schwellenhaushalte“ schon einiges aus-
geführt. Sie argumentieren damit, dass diese Haushalte
geradeso über die Runden kommen. Ganz ehrlich, ich
frage mich, was sie nach Ablauf des Förderzeitraums von
acht Jahren machen. Dann greift ihnen die Eigenheimzu-
lage nämlich nicht mehr unter die Arme. Dann muss die
Belastung voll selbst getragen werden.


(Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Das ist doch Teil des Finanzierungskonzepts!)


Ich kann Ihnen sagen, was dann passiert. Das weiß ich
nämlich aufgrund meiner Erfahrungen im Landtag und
aufgrund der Petitionen, die wir erhalten haben. Dann ste-
hen diese Familien vor dem Problem, dass sie das Haus
nicht mehr halten können. Bei den Schwellenhaushalten
gibt es wirklich ein Problem. Das lösen Sie mit Ihrer Po-
litik überhaupt nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Sie verweigern es den Menschen einfach!)


Ich habe nach der PISA-Studie immer gedacht, dass
eher die jüngere Generation zu leiden hat. Herr Minkel,
dass Sie bei den Berechnungen auf 48 Kinder kommen,
kann ich ehrlich gesagt einfach nicht verstehen.


(Klaus Minkel [CDU/CSU]: Sie sagen es: PISA!)


Ich weiß nicht, wie Sie auf diese Zahl gekommen sind.
Vielleicht können Sie mir Nachhilfeunterricht geben.
Diese Rechnung kann ich absolut nicht nachvollziehen.

Mit der Gleichbehandlung von Alt- und Neubauför-
derungwollen wir den Anreiz erhöhen, in den Bestand zu
investieren. Damit erreichen wir, dass der Erwerb in den
Städten, in den Stadtvierteln, interessanter wird. Damit
komme ich zu den wohnungsbaupolitischen Komponen-
ten. Wenn es Ihnen auch schwer fällt: Seien Sie doch ein-
mal ehrlich.


(Zuruf von der CDU/CSU: Man sollte nicht von sich auf andere schließen!)


Wir können doch nicht gleichzeitig den zunehmenden
Leerstand in vielen Regionen unseres Landes beklagen
und gleichzeitig die Stadtflucht ins Umland auch noch mit
einer besseren Förderung unterstützen. Das geht nicht,
das kann man doch nicht machen.


(A)



(B)



(C)



(D)


1518


(A)



(B)



(C)



(D)







(Ina Lenke [FDP]: Das haben wir doch gar nicht getan!)


Vor sechs, sieben Jahren gab es andere Bedingungen; es
gab einen Bauboom. Wir müssen uns den veränderten Er-
fordernissen anpassen.


(Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Die Menschen suchen aber ihr Eigenheim!)


Wollen Sie daran, dass wir mit der Senkung der Ein-
kommensgrenzen gleichzeitig Mitnahmeeffekte verhin-
dern wollen, ernsthaft Kritik üben? Das kann doch wohl
nicht wahr sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schließlich kann und muss die Gesamtheit der Steuerzah-
ler doch nicht die Menschen subventionieren, die es ganz
gut aus eigener Kraft, also ohne staatliche Förderung,
schaffen können, ein Haus zu bauen oder zu kaufen.

An dieser Stelle will ich überhaupt nicht ausschließen,
dass man sich noch weitere Maßnahmen vorstellen kann,
um den Bestand intensiver zu fördern und damit das zu er-
reichen, was wir wirklich wollen, nämlich den Leerstand
in den Städten zu verhindern. Im Übrigen kann der Fami-
liengrundbetrag bei einem Neubau oder bei einer energe-
tischen Sanierung des Altbaus durch eine Ökozulage um
bis zum 300 Euro aufgestockt werden. Davon habe ich
von Ihnen vorhin auch nichts gehört.


(Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Wir müssen ja nicht Ihr Gesetz erklären!)


Ich denke, das ist eine gute umweltpolitische und städte-
bauliche Komponente. Dazu haben wir von Ihnen wirk-
lich nichts gehört.

Wir wollen, dass es für die Familien in unserem Land
einfach ist, Eigentum zu bilden. In dieser Haushaltssitua-
tion werden wir aber nicht diejenigen unterstützen, die das
auch alleine schaffen können. Es ist klar, dass man an der
Rückführung der Förderung für Neubauten Kritik äußern
kann. Das ist keine Frage. Unter den eben geschilderten
finanzpolitischen Bedingungen müssen wir aber darüber
reden. Wir haben unsere Konsequenzen gezogen.

Dennoch hat auch die Verringerung der Förderung ei-
nen städtebaulich nicht zu vernachlässigenden Aspekt,
weil wir hoffen, damit die Tendenz, dass die Menschen
von den Städten aufs Land ziehen und dort ihr Eigenheim
bauen, zu stoppen. Selbstverständlich ist es interessant,
aufs Land zu ziehen, wenn die Neubauförderung a) bes-
ser ist, b) das Bauen auf dem Land billiger ist und c) dies
die Kommunen gerne sehen.

Diese Entwicklung führt aber dazu, dass in einigen Tei-
len unseres Landes die Innenstädte buchstäblich entvöl-
kert werden. Deshalb muss man darüber nachdenken, ob
man die weitere Zersiedlung der Landschaft wirklich will.
Die Kommunen im ländlichen Raum setzen mit ihrem
Angebot natürlich darauf, die Menschen aus den Städten
aufs Land zu holen. Ich weiß, wie wünschenswert es ist,
die Entwicklung vor Ort mit mehr Bürgern gestalten zu
können. Dennoch führt es dazu, dass das Problem des
Leerstandes in den Städten verschärft wird.

Warum wird dadurch der Leerstand verschärft? Das
ist ganz einfach. Ich habe zu Anfang über die demogra-
phische Entwicklung geredet. In diesem Land wird die
Bevölkerung nicht wachsen. Daher werden wir darauf
achten müssen, dass wir Wohnraum dort schaffen, wo die
Menschen sind. Wir können nicht nur auf dem Land Neu-
bauten anbieten, sondern wir müssen auch den Bestand in
den Städten – dies gilt auch für kleine Städte, nicht nur für
Großstädte – fördern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage Sie allen Ernstes: Was soll es für eine Poli-
tik sein, die zusieht, wie am Rand der Städte und Ge-
meinden immer mehr gebaut wird und in den Innenstäd-
ten die Leerstandsquote steigt? Gehen Sie doch einmal
durch die Quartiere. Oder waren Sie noch nie vor Ort ge-
wesen?


(Tanja Gönner [CDU/CSU]: Im Gegensatz zu Ihnen viel mehr!)


Schauen Sie sich die leeren Fenster an. Hören Sie sich die
Probleme der Wohnungsgesellschaften mit ihren hohen
Leerstandsquoten an. Was passiert denn ansonsten noch in
diesen Gebieten? Die Leute ziehen weg, die Läden folgen,
womit auch die Infrastruktur zerstört wird. Auch die Mie-
ten sinken, was manchmal ganz angenehm ist. Aber was
passiert dann? Die Bausubstanz verkommt, weshalb wie-
derum immer mehr Leute wegziehen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das nennt sich doch Bewegungsfreiheit)


Neben der dann entstehenden Unattraktivität der Wohn-
städte nehmen die sozialen Probleme zu. Das können Sie
doch nicht ernsthaft wollen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501913900

Frau Kollegin Groneberg, bitte berücksichtigen Sie

Ihre Redezeit.


Gabriele Groneberg (SPD):
Rede ID: ID1501914000

Ja, ich komme zum Ende. – Unsere Politik ist das je-

denfalls nicht. Wir setzen Neubau und Bestandsförderung
auf dieselbe Stufe.

Ein ganz kurzes Wort zur Bauwirtschaft. Es ist uns
selbstverständlich nicht egal, was mit der Bauwirtschaft
passiert. Wir wollen, dass die deutsche Bauwirtschaft
weiterhin Marktführer in Europa bleibt. Wir werden der
Bauwirtschaft mit unseren Instrumenten helfen. Ich ver-
weise in diesem Zusammenhang auf unsere Offensive für
den Mittelstand.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren von der FDP, nach meinen

Ausführungen können Sie wirklich nicht erwarten, dass
wir Ihrem Antrag zustimmen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gabriele Groneberg






Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501914100

Frau Kollegin Groneberg, ich darf Ihnen zu Ihrer ers-

ten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren,
verbunden mit allen guten Wünschen für die parlamenta-
rische Arbeit.


(Beifall)

Mit der eigenmächtigen Verlängerung Ihrer angemeldeten
Redezeit haben Sie sich gegenüber dem Präsidium erfol-
greich durchgesetzt.


(Heiterkeit)

Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tages-

ordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/33 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich stelle dazu Einver-
ständnis fest. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des internationalen Insolvenz-
rechts
– Drucksache 15/16 –

(Erste Beratung 12. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 15/323 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Tanja Gönner
Jerzy Montag
Rainer Funke

Dazu haben die Kollegen Dirk Manzewski, SPD, Tanja
Gönner, CDU/CSU, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grü-
nen, Rainer Funke, FDP, sowie der Parlamentarische
Staatssekretär Alfred Hartenbach Reden vorbereitet, die
sie jeweils zu Protokoll geben wollen.1 – Ich stelle fest,
dass darüber Einverständnis besteht. Ich eröffne damit die
Aussprache und schließe sie gleich wieder.

Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neu-
regelung des internationalen Insolvenzrechts auf Druck-
sache 15/16. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/323, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Da ich
nicht vermute, dass sich der größere Teil der Mitglieder
des Bundestages enthalten will, weise ich noch einmal auf
den Beschlussgegenstand hin.

Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses ab, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Wer will diesem Vorschlag

folgen und dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen? – Das ist eine spektakuläre Erhöhung der Zu-
stimmungsrate. Stimmt jemand dagegen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –


(Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Darf ich auch aufstehen?)


Stimmt jemand dagegen? –

(Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: Ich bin dabei zu gehen!)

– Sie merken, Herr Hartenbach, wie klug es war, dass ich
Sie nicht zum Aufstehen aufgefordert habe, weil sonst das
Missverständnis entstanden wäre, dass Ihre Nachbarin ge-
gen den Gesetzentwurf stimmt, was sie sofort dementie-
ren würde. – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Da-
mit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.

Ich rufe nun Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem
Zwölften Gesetz zur Änderung des Fünften Bu-

(Zwölftes SGB-V-Änderungsgesetz – 12. SGB-V-ÄndG)

– Drucksachen 15/27, 15/74, 15/76, 15/120,
15/298 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPD-Fraktion, das Wort.


Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1501914200

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kol-

legen! Der Bundesrat hat dem zustimmungspflichtigen
Zwölften SGB-V-Änderungsgesetz seine Zustimmung
verweigert. Dieses Gesetz ist Teil des Maßnahmekatalogs
zur Stabilisierung der Ausgaben im Gesundheitswesen.
Diese Zustimmungsverweigerung ist vollkommen unlo-
gisch, da zu diesem Zeitpunkt schon klar war, dass die
nicht zustimmungspflichtigen Teile des Maßnahmekata-
logs zu Beginn des Jahres 2003 in Kraft treten würden.

Ohne den zustimmungspflichtigen Teil des Kosten-
stoppgesetzes ergeben sich jetzt aber Chancenungleich-
heiten im Bereich der Krankenhäuser. Außerdem müssten
wir auf ein Einsparpotenzial von etwa 700 Millionen Euro
verzichten. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bringen deshalb heute einen Antrag zur nochma-
ligen Anrufung des Vermittlungsausschusses ein.

Worum geht es im Einzelnen? Ein wesentlicher Schritt
zur notwendigen stärkeren Leistungsorientierung in den
Krankenhäusern ist die Einführung eines neuen Vergü-
tungssystems, des DRG-Systems, des Systems der Ver-


(A)



(B)



(C)



(D)


1520

1 Anlage 2


(A)



(B)



(C)



(D)






gütung nach Fallpauschalen. Das ist ein bedeutender
Schritt in Richtung Wirtschaftlichkeit und Transparenz.


(Beifall bei der SPD)

Es ist der endgültige Abschied von einer Bezahlung nach
der bloßen Belegung eines Krankenhausbettes hin zur Be-
zahlung der erbrachten Leistung.

Die Einführung des DRG-Systems erfolgt seit dem
1. Januar dieses Jahres auf freiwilliger Basis. Ab 2004 ist
die Anwendung des neuen Vergütungssystems verpflich-
tend. Bis zum 31. Oktober vergangenen Jahres sollten
sich die Krankenhäuser entscheiden, ob sie schon in die-
sem Jahr nach dem neuen Vergütungssystem abrechnen
wollen. Immerhin hatten zu diesem Zeitpunkt 530 der
insgesamt 2 200 deutschen Krankenhäuser dafür votiert.
Diese Krankenhäuser, die sich zu dem leistungsgerechte-
ren Vergütungssystem und einer größeren Transparenz
bekennen, haben wir ausdrücklich von der so genannten
Nullrunde ausgenommen.

Für alle Krankenhäuser, die ab 2003 nach dem DRG-
System abrechnen, wird es eine volle Grundlohnanpas-
sung ihrer verfügbaren Mittel geben. In den neuen Bun-
desländern bedeutet das eine Steigerung um 2,09 Prozent,
in den alten Bundesländern von 0,81 Prozent.

Die Meldefrist für die freiwillige Teilnahme am neuen
Vergütungssystem wurde im Verlauf des Gesetzgebungs-
verfahrens bis zum 31. Dezember 2002 verlängert. Um
genau diese Option geht es im vorliegenden Gesetz. In-
zwischen hat sich eine größere Zahl von Krankenhäusern
nachgemeldet, die ebenfalls freiwillig umsteigen wollen.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Freiwillig ist übertrieben! Das ist mehr finanzieller Druck!)


Allein in Sachsen sind es 34 Krankenhäuser. Damit neh-
men 55 von 89 Krankenhäusern am neuen Vergütungssys-
tem teil.


(Zuruf des Abg. Dr. Hans Georg Faust [CDU/CSU])


– Ich bin sehr gespannt, was Sie nachher zu sagen haben,
und werde mich anschließend vielleicht noch einmal dazu
äußern. Ich bin davon überzeugt, Herr Faust, dass diese
Häuser auch über die notwendigen Voraussetzungen ver-
fügen, nach DRGs abzurechnen.


(Dr. Hans Georg Faust [CDU/CSU]: Dann hätten sie sich schon vorher gemeldet!)


Ich kann wirklich nicht nachvollziehen, warum sich der
Bundesrat einer Verlängerung der Frist für die Meldung
zur Teilnahme am Optionsmodell in den Weg gestellt hat.
Noch Anfang letzten Jahres waren sich alle einig, dass wir
von starren, grundlohngedeckelten Budgets abkommen
und zu einer leistungsgerechten Vergütung gelangen müs-
sen. Ich gehe davon aus, dass sich an der Haltung der
Union im letzten Dreivierteljahr nichts geändert hat.

Wir wollen den Verantwortlichen und Beschäftigten in
den Krankenhäusern, die umsteigen wollen, Sicherheit
geben und wir wollen Chancengleichheit herstellen. Des-
wegen muss die Fristverlängerung für das Optionsmodell
bis zum 31. Dezember anerkannt werden. Auch deshalb
rufen wir den Vermittlungsausschuss an. Blockieren Sie

diese wichtige Maßnahme im Krankenhausbereich jetzt
nicht!

Eines der drängendsten Probleme in der gesetzlichen
Krankenversicherung ist die verstärkte Verordnung von
teuren Analogpräparaten mit nur geringem Zusatznut-
zen. Besonders diese Scheininnovationen haben zur über-
proportionalen Ausgabensteigerung im Arzneimittelsek-
tor geführt. Die Arzneimittelausgaben in der gesetzlichen
Krankenversicherung stiegen in den letzten zwei Jahren
um rund 15 Prozent je Mitglied. Dieser erhebliche Aus-
gabenzuwachs ist allein medizinisch nicht zu begründen.
Der Anstieg der Verordnung teurer, patentgeschützter
Analogpräparate spielte dabei eine große Rolle.

Zu Beginn des letzten Jahres haben die Krankenkassen
und Ärzte vereinbart, die Arzneimittelausgaben im Jahr
2002 um 4,9 Prozent zu senken. Tatsache ist: Nach den
ersten drei Quartalen hatten wir stattdessen ein Plus von
4,9 Prozent zu verzeichnen. Das sind fast 10 Prozent Un-
terschied.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Warum denn?)

Deshalb ist es völlig gerechtfertigt, wenn wir als Gesetz-
geber hier eingreifen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Niemand bezweifelt, dass Innovationen Mehrkosten
verursachen. Aber nicht alles, was teuer ist, ist auch
tatsächlich besser als die hergebrachten Produkte. Nicht
alle Präparate, die mit großem Werbeaufwand auf den
Markt gebracht werden, sind wirksamer als kostengünsti-
gere Alternativen. Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall.

Damit das Geld für echte Innovationen auch in Zukunft
vorhanden ist, beziehen wir Analogpräparate, die gegen-
über vorhandenen Medikamenten nur einen geringen Zu-
satznutzen haben, in die Festbetragsregelung ein. Festbe-
träge für Arzneimittel sind ein wirkungsvolles Instrument
zur Begrenzung der Ausgaben. Durch die Einbeziehung
von nach dem 31. Dezember 1995 zugelassenen patentge-
schützten Arzneimitteln in die Festbetragsregelung können
schätzungsweise 400 Millionen Euro eingespart werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat vor Weihnachten
festgestellt, dass die Selbstverwaltung legitimiert ist, eine
wirtschaftliche Verordnung über Festbeträge durchzu-
setzen. Das war ein großer Erfolg für die rot-grüne Regie-
rung. Diese Möglichkeit einer Festsetzung der Festbeträge
muss im Interesse der Versicherten, der Beitragszahler, ge-
nutzt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, deren
Wirkungsweise neuartig ist und die zum Beispiel wegen
geringerer Nebenwirkungen eine therapeutische Verbes-
serung mit sich bringen, bleiben weiterhin von der Fest-
betragsregelung ausgenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur defizitären Ent-
wicklung innerhalb der gesetzlichen Krankenversiche-
rung hat auch der überproportionale Anstieg der Verwal-
tungsausgaben der Krankenkassen beigetragen. In den
letzten fünf Jahren lag der Zuwachs durchschnittlich bei
gut 3 Prozent. 2001 waren es rund 5 Prozent, im ersten

Dr. Marlies Volkmer




Dr. Marlies Volkmer
Halbjahr 2002 rund 4 Prozent. Zwar war die Ausgaben-
entwicklung der letzten Jahre auch durch verschiedene
Sonderfaktoren, wie zum Beispiel Investitionen in ver-
besserte EDV-Ausstattungen und Einführung von Con-
trollingsystemen, geprägt. Aber Rationalisierungsan-
strengungen in anderen Verwaltungsbereichen waren
unzureichend. Deshalb werden auch die Krankenkassen
zu einem besonderen Solidarbeitrag herangezogen. Die
Verwaltungsausgaben werden 2003 auf die Höhe des Jah-
res 2002 begrenzt. Damit ergibt sich für die gesetzliche
Krankenversicherung im Jahr 2003 eine geschätzte finan-
zielle Entlastung von circa 200 Millionen bis 300 Milli-
onen Euro. Mitgliederzuwächse können aber unabhängig
davon berücksichtigt werden und für Disease-Manage-
ment-Programme wird es Ausnahmen geben.

Ich appelliere an Sie, der Anrufung des Vermittlungs-
ausschusses zuzustimmen. Es ist in unser aller Interesse,
die Verwaltungskosten der Krankenkassen und die Arz-
neimittelpreise zu begrenzen. Wir wollen den Beschäftig-
ten der Krankenhäuser, die sich zwischen dem 31. Oktober
und dem 31. Dezember 2002 für das neue leistungsorien-
tierte Vergütungssystem entschieden haben, Sicherheit
und Chancengleichheit geben. Deswegen wollen wir die
Umstiegsoption bis zum 31. Dezember 2002 verlängern.
Wer heute mit Tränen im Auge die so genannte Nullrunde
in den Krankenhäusern beklagt, kann sich dieser Argu-
mentation nicht verschließen; denn die Krankenhäuser,
die nach DRGs abrechnen, sind von der Nullrunde ausge-
nommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, laufend äußern Sie Ihre Sorge um die Sozialkassen.
Konsequenterweise müssen Sie deshalb der Anrufung des
Vermittlungsausschusses zustimmen. Das sind Sie den
Menschen im Land schuldig!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501914300

Ich möchte auch Ihnen, Frau Kollegin Dr. Volkmer, zu

Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gra-
tulieren und alles Gute für Ihre weitere Arbeit wünschen.


(Beifall)

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Michael Henn-

rich, CDU/CSU-Fraktion.


Michael Hennrich (CDU):
Rede ID: ID1501914400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Als neu gewählter Abgeordneter, der heute seine erste
Rede im Deutschen Bundestag hält, gehe ich mit viel Ide-
alismus und viel gutem Willen an meine Tätigkeit heran.
Ich will etwas für die Menschen bewegen, die mich ge-
wählt haben, und an Gesetzen mitarbeiten, die von Dauer
sind und die unser Land in eine sichere Zukunft führen.
Vielleicht kann ich meinen beiden Kindern in ein paar
Jahren erzählen, an welchen wichtigen Gesetzen ich mit-
gearbeitet habe. Noch habe ich diese Hoffnung.

Vom Zwölften Gesetz zur Änderung des SGBVwerde
ich meinen beiden Kindern sicherlich nichts erzählen.
Oder beeindruckt es Sie, wenn von großen Reformen im
Gesundheitswesen gesprochen wird, wir dann aber Arz-
neimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen in die Fest-
betragsregelung einbeziehen, festlegen, dass sich die Ver-
waltungsausgaben der einzelnen Krankenkassen im Jahr
2003 im Vergleich zum Jahr 2002 nicht erhöhen dürfen
und eine Nullrunde für Krankenhäuser verordnen, von der
es Ausnahmen gibt, die aber nicht für alle gelten sollen?
Seit über vier Jahren ist Rot-Grün an der Regierung. Sie
haben genügend Zeit gehabt, die Weichen für eine mo-
derne, zukunftsorientierte Gesundheitspolitik zu stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erika Lotz [SPD]: 16!)


Stattdessen präsentieren Sie uns ein Gesetzeswerk, von
dem Sie wissen, dass es die finanziellen Probleme im Ge-
sundheitswesen nur noch weiter verschärft und in punkto
Qualität der medizinischen Versorgung zu einem Risiko-
faktor wird.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das ist aber höflich ausgedrückt!)


Das Gesetz, mit dem Sie die Beiträge in der gesetzli-
chen Krankenkasse stabilisieren wollen, hat das Gegenteil
bewirkt. Die Kassen mussten in den letzten Wochen die
Beiträge teilweise massiv erhöhen und kündigen trotz
Beitragserhöhungsstopp weitere Beitragserhöhungen
an. Waren vor einigen Wochen Beitragssätze von 15 Pro-
zent bei den gesetzlichen Krankenkassen so etwas wie ein
schwer vorstellbares Schreckensszenario, so sind sie mitt-
lerweile bittere Realität geworden.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das muss man sich vorstellen!)


Ich kann Ihnen versichern: Andere Krankenkassen wer-
den in den nächsten Wochen folgen. Stabilisiert werden
damit allenfalls Verunsicherung und Unmut all derjeni-
gen, die im Gesundheitswesen tätig sind.

Nehmen wir doch zum Beispiel die Änderungen des
Krankenhausfinanzierungsgesetzes! Zunächst war eine
Nullrunde vorgesehen, die angeblich Einsparungen in
Höhe von 340 Millionen Euro erbringen sollte. Nach Ver-
handlungen, unter anderem mit dem Marburger Bund und
Verdi, hat das Bundesgesundheitsministerium entschie-
den, dass die Frist zur Anmeldung zum DRG-Optionsmo-
dell bis zum 31. Dezember 2002 verlängert wird. Damit
sollen die Krankenhäuser, die an dem DRG-Modell teil-
nehmen, nicht von der Nullrunde betroffen sein.

Allein mit einer Entscheidung haben Sie drei zusätzli-
che Probleme geschaffen: Zum Ersten erreichen Sie nicht
die gewünschten Einsparungen. Ich verweise insoweit auf
die Ausführungen der Vertreter der gesetzlichen Kranken-
kassen in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für
Gesundheit und Soziale Sicherung. Zum Zweiten treiben
Sie viele Krankenhäuser wegen finanzieller Not in ein
System, auf welches sie sich nicht ausreichend vorberei-
ten konnten. Das stört interne Betriebsabläufe und führt
zu Verschlechterungen in der Patientenversorgung.


(Beifall bei der CDU/CSU)



(A)



(B)



(C)



(D)


1522


(A)



(B)



(C)



(D)






Zum Dritten bleiben psychiatrische Krankenhäuser und
Einrichtungen der neurologischen Frührehabilitation auf
der Strecke. Sie haben keine Möglichkeit, der Nullrunde
zu entgehen.

Wie sollen Krankenhäuser, die nicht am DRG-Opti-
onsmodell teilnehmen, die Mehrkosten, die zum Beispiel
durch den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst anfallen,
auffangen? In der Konsequenz werden die Krankenhäuser
gar nicht anders können, als auf Kosten der Patienten und
der medizinischen Qualität zu sparen.

Im Übrigen müsste Ihnen zu denken geben, dass sich
bis zum 31. Oktober 2002 – das ist der Zeitpunkt, bis zu
dem sich die Krankenhäuser ursprünglich entscheiden
sollten – gerade einmal 55 Krankenhäuser für dieses Op-
tionsmodell entschieden hatten. Wenn die Union heute zur
Anrufung des Vermittlungsausschusses Nein sagt, so
schützt sie damit die Krankenhäuser vor weiteren unab-
sehbaren Gefahren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Dieter Thomae [FDP])


Aber das ist nicht der einzige Kritikpunkt. Nehmen Sie
die Deckelung der Verwaltungsausgaben bei den Kran-
kenkassen! Da gibt es Krankenkassen, die in den letzten
Jahren sehr gut gewirtschaftet haben und bei denen der
Anteil der Verwaltungskosten eher als gering einzustufen
ist. Dies ist zum Beispiel bei den Betriebskrankenkassen
der Fall. Die von der Regierung jetzt vorgesehene Rege-
lung bestraft gerade die Krankenkassen, die in den letzten
Jahren wirtschaftlich gearbeitet haben, während sich sol-
che, die in der Vergangenheit aus dem Vollen geschöpft
haben, keine größeren Sorgen machen müssen. Ist das ge-
recht?

Dann zum Thema: Festbetragsregelung für Arznei-
mittel. Im Gesetzentwurf heißt es so schön:

Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, de-
ren Wirkungsweise neuartig ist und die eine thera-
peutische Verbesserung, auch wegen geringerer Ne-
benwirkungen, bedeuten, bleiben weiterhin von der
Festbetragsregelung ausgenommen.

Auch hier gilt der altbekannte Grundsatz: Eine Rege-
lung schafft drei Probleme. Erstens. Die Pharmaunter-
nehmen werden ihre Forschungsanstrengungen zurück-
schrauben. Wer garantiert denn schon, dass es sich um
eine echte Innovation und nicht um eine Scheininnova-
tion handelt? Zweitens. Es entsteht ein zusätzlicher büro-
kratischer Aufwand zur Prüfung von echten Innovatio-
nen. Wie wollen Sie das definieren und wo nehmen Sie
die Abgrenzung vor? Drittens. Für die ohnehin überla-
stete Justiz haben Sie ein neues Betätigungsfeld gefun-
den.

Frau Schmidt, Sie und die Bundesregierung haben es
zu verantworten, wenn international tätige Pharmakon-
zerne nicht mehr in Deutschland investieren


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das tun die heute schon nicht mehr!)


und am Pharma- und Forschungsstandort Deutschland
langsam die Lichter ausgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Für ein solches Gesetz mit den geschilderten Un-
zulänglichkeiten können und wollen wir Ihnen nicht die
Hand reichen. Dazu brauchen wir auch keinen Vermitt-
lungsausschuss. Legen Sie uns ein tragfähiges und schlüs-
siges Konzept dazu vor, wie Sie das Gesundheitswesen
reformieren wollen! Dann werden wir uns auch einigen
und brauchen keinen Vermittlungsausschuss.

Das Dilemma, in dem Sie von Rot-Grün stecken, ist
doch, dass Sie keinerlei Ideen haben, wie Sie die Struktur-
probleme im Gesundheitswesen in den Griff bekommen
können. Da Sie keine Ideen haben, berufen Sie – ähnlich
dem Modell der Hartz-Kommission – eine Kommission
ein, die es richten soll. Während Sie, was die Vorschläge
der Hartz-Kommission angeht, noch von einer Umset-
zung im Verhältnis eins zu eins sprachen, demontieren Sie
die neue Kommission, bevor sie ihre eigentliche Arbeit
aufgenommen hat. Die einen sehen auf mehrere Jahre hi-
naus keinen Reformbedarf im Hinblick auf unsere sozia-
len Sicherungssysteme – Herr Scholz lässt grüßen –,
während andere von „Professorengequatsche“ reden und
mit vermeintlichen Lateinkenntnissen – Herr Stiegler
lässt grüßen – glänzen. Wenn wir schon von Einsparungen
reden: Die 1Million Euro, die uns diese Kommission kos-
tet, könnten wir uns wirklich sparen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie dürfen sich nicht wundern, dass immer mehr Leis-

tungserbringer aus dem Gesundheitswesen zu Protestak-
tionen rufen. Erstens die Ärzte.Wenn man sich die Aus-
gabenentwicklung im dritten Quartal 2002 anschaut, dann
fällt einem auf, dass die höchsten Steigerungsraten nicht
bei den Honoraren für Ärzte und Zahnärzte liegen, son-
dern bei den Arzneimittelausgaben, den Heilmittelausga-
ben und den Krankenhauskosten. Trotzdem verordnen Sie
den Ärzten eine Nullrunde, und das, obwohl die Honorare
der Ärzte ohnehin schon budgetiert sind.

Zweitens die Apotheker. Sie werden gleich aus meh-
reren Richtungen angegriffen. Da droht der Versandhan-
del und jetzt sollen sie auch als Inkassounternehmen für
die Krankenkassen arbeiten. Apotheker sollen nicht nur
die eigenen Rabatte abführen, sondern auch die der
Großunternehmen.

Drittens die Zahntechniker. Deren Leistungen kürzen
Sie um 5 Prozent. Gleichzeitig wird der Mehrwertsteuer-
satz aber von 7 Prozent auf 16 Prozent angehoben. Das
führt zu keiner Entlastung der Kassen, sondern zu zusätz-
lichen Belastungen in Höhe von 150 Millionen Euro.

Als Neuling im Deutschen Bundestag wäre es vermes-
sen, Ihnen zu sagen, wie eine vernünftige Gesundheits-
reform aussehen sollte.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Versuchen Sie es mal!)


In den ersten Monaten meiner Tätigkeit habe ich aber viel
über Transparenz, über Wettbewerb und über Eigenver-
antwortung gelernt. Wenn Sie sich bei den nun anstehen-
den Reformen an diesen Maßstäben orientierten, dann
wären wir ein gutes Stück weiter und dann könnten Sie
auch mit unserer Unterstützung rechnen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Michael Hennrich






Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501914500

Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Hennrich, zu

Ihrer ersten Rede. Ich verbinde damit den Dank des Prä-
sidiums, dass Sie die vorhin großzügig eingeräumte zu-
sätzliche Redezeit Ihrerseits eingespart haben, wodurch
wir wieder im Zeitplan sind.


(Heiterkeit und Beifall)

Ich hoffe, dass Ihnen das bei Ihren künftigen Reden in
ähnlicher Weise gelingt.

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Selg, Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501914600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und

Herren! Herr Hennrich, natürlich gratuliere auch ich Ih-
nen recht herzlich. Ich muss Ihnen allerdings sagen: Wir
haben mit unserer Gesundheitsreform in den vergange-
nen viereinhalb Jahren mehr als Sie in 16 Jahren be-
wegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Das von der schwarz-gelben Bundesratsmehrheit vor
kurzem abgelehnte Zwölfte SGB-V-Änderungsgesetz be-
inhaltet drei Regelungen, denen Sie nicht zustimmen kön-
nen: erstens die Einbeziehung von Analogpräparaten in
die Festbetragsregelung; zweitens die Fristverlängerung
für Krankenhäuser bei der Anmeldung zur DRG-Ein-
führung; drittens die Festschreibung der Verwaltungskos-
ten der Krankenkassen auf dem Niveau von 2002.

Roland Koch hat diese Regelungen mit dem Argument
abgelehnt, dass eine Deckelung der Finanzierung von
patentgeschützten Medikamenten den Forschungsstan-
dard massiv gefährden werde.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Da hat er völlig Recht!)


– Da hat er leider nicht Recht. Es geht nicht um eine
Deckelung der Finanzierung aller patentgeschützten Me-
dikamente, sondern nur um die Deckelung der Finanzie-
rung der so genannten Analogpräparate.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Ja, ja, das wissen Sie!)


Das sind Medikamente, die gegenüber bereits existieren-
den Medikamenten überhaupt keinen Zusatznutzen auf-
weisen.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das können Sie beurteilen?)


Denn häufig werden nur bestimmte Molekülstrukturen
geringfügig manipuliert – wahrscheinlich weiß das nicht
jeder –, um dies patentieren zu lassen und das Patent für
viel Geld verkaufen zu können. Es handelt sich sehr wohl
um Scheininnovationen. Echte therapeutische Innovatio-
nen werden dagegen auch zukünftig nicht von der Fest-
betragsregelung erfasst.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Da steht die Fachfrau!)


Eine Schädigung des Forschungsstandorts Deutsch-
land wollen auch wir von der Koalition nicht. Wir wollen
aber, dass Forschung, die von den Versicherten über hohe
Beitragssätze bezahlt werden muss, den Versicherten
auch zusätzlichen Nutzen stiftet. Bei Scheininnovationen
ist dies nicht der Fall. Sie nutzen lediglich der Pharmain-
dustrie, die auf diese Weise ihre Profite auf Kosten der
Versicherten erhöht. Deshalb sagen wir zwar Ja zu inno-
vativer Forschung, aber Nein zu nutzlosen Scheininnova-
tionen auf Kosten der Versicherten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt, zu dem Sie
Nein sagten: Fristverlängerung für die DRG-Einfüh-
rung. Ein Argument von Roland Koch hierfür im Bun-
desrat lautete, die Fristverlängerung sei nicht fair. Eine
Begründung, warum dies der Fall sei, gab er nicht. Das ist
auch kein Wunder, weil es nämlich keine gibt.

Außerdem behauptete er, dass die Regelung zu einer
Nachmeldung von Krankenhäusern führen würde, die für
die DRG-Einführung noch nicht bereit seien. Auch hier
stelle ich klar: Herr Koch liegt völlig falsch, wenn er die
Fristverlängerung als unfair hinstellt. Das Gegenteil ist
nämlich der Fall. Es wäre unfair gewesen, wenn wir die
Frist nicht verlängert hätten. Die ursprüngliche Frist en-
dete nämlich am 31. Oktober, also bevor die Regelungen
des Beitragssatzsicherungsgesetzes bekannt wurden.
Viele Kliniken hatten sich, obwohl sie dazu in der Lage
gewesen wären, nicht angemeldet, da sie keinen unmittel-
baren Anlass gesehen hatten.


(Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Es war nämlich geplant, es 2003 nur freiwillig, ohne Ver-
günstigungen zu gewähren, einzuführen. Durch das Bei-
tragssatzsicherungsgesetz wurde ein neuer Sachverhalt
geschaffen, die Frist war aber bereits verstrichen. Deshalb
war und ist eine Fristverlängerung gerade aus Fairness-
gründen zwingend notwendig.

Die Behauptung von Herrn Koch, nachmeldende Kli-
niken seien für die DRG-Einführung noch gar nicht bereit,
beinhaltet eine Unterstellung, die durch nichts belegt ist.
Wäre es den Kliniken möglich, völlig unvorbereitet diese
Ausnahmeregelung in Anspruch zu nehmen, dann hätten
sich doch alle deutschen Krankenhäuser gemeldet. Sie
sagten vorhin, es hätten sich bis Oktober 50 angemeldet.
Es waren aber 500. Die eine Null hätte ich da gerne noch
angefügt. 800 Kliniken haben nachgemeldet, das heißt
also, von 2 000 Krankenhäusern werden jetzt 1 300 an
dieser wirklich innovativen und reformorientierten Um-
stellung teilnehmen. Das belegt, dass die Kliniken sehr
wohl sorgfältig abgewägt haben, ob sie die DRG-Ein-
führung 2003 bewältigen können oder nicht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Bei den Verhandlungen über das Beitragssatzsiche-
rungsgesetz war es ein wichtiges Ziel für uns, dass der von
Rot-Grün auf den Weg gebrachte Strukturwandel im
Krankenhausbereich nicht verhindert wird. Die Blockade-
haltung der schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat be-


(A)



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(A)



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wirkt genau das Gegenteil: Der für unser Gesundheitswe-
sen so wichtige Strukturwandel im Krankenhausbereich
wird blockiert, weil die Krankenhäuser nicht wissen, ob
und wann ihnen die CDU/CSU-regierten Länder endlich
die Möglichkeit eröffnen, die Ausnahmeregelung in An-
spruch zu nehmen. Hier zeigt sich im Übrigen die ganze
Schizophrenie der kochschen Argumentation: Einerseits
wettert er gegen die Nullrunde, andererseits verhindert er
aber, dass reformorientierte Krankenhäuser davon ausge-
nommen werden.

Bezüglich des Einfrierens der Verwaltungskosten auf
dem Stand von 2002 hat Herr Koch dagegen signalisiert,
dass man über die Deckelung der Verwaltungskosten der
Krankenkassen reden könne. Anscheinend sieht er durch-
aus Sinn in einer solchen Regelung. Zumindest hier
scheint sich eine Einigkeit zwischen Bundestagsmehrheit
und Bundesratsmehrheit abzuzeichnen.

Bezüglich der zwei strittigen Punkte möchte ich aber
noch einmal sagen: Hierbei handelt es sich um sinnvolle
und zielführende Maßnahmen. Meine Befürchtung ist,
dass Herr Koch und seine Konsorten dies genau wissen,
aber diese aus wahlkampftaktischen Gründen weiterhin
blockieren werden.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Junge, Junge!)


Mein Wunsch für die anstehenden Verhandlungen im
Vermittlungsausschuss lautet deshalb: Möge die Vernunft
über Ihr wahlkampftaktisches Kalkül siegen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501914700

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Dieter

Thomae, FDP-Fraktion.


Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1501914800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die rot-

grüne Koalition befindet sich in einem großen Dilemma.
Das stellt sie gegenwärtig fest;


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann man wohl sagen!)


denn sie versucht zum zweiten Mal, diesen Gesetzentwurf
in den Vermittlungsausschuss einzubringen. Es war si-
cherlich ein großer Fehler von Ihnen, Ihre Vorhaben auf
einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichti-
gen Gesetzentwurf aufzuteilen, denn jetzt müssen Sie
schauen, wie Sie vorankommen.

Ich möchte Ihnen ehrlicherweise auch sehr deutlich sa-
gen: Ich bin froh, dass Baden-Württemberg auf Initiative
der FDPdas Bundesverfassungsgericht angerufen hat, um
prüfen zu lassen, ob der zustimmungsfreie Teil des Ge-
setzes tatsächlich zustimmungsfrei ist.


(Peter Dreßen [SPD]: Nein, das war der Teufel selber!)


Wir sind der Auffassung, dass auch dieser zustim-
mungspflichtig ist. Dann werden wir sehen, was Sie dort
fabriziert haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Warten wir mal ab!)


– Ich weiß besser Bescheid als Sie; da können Sie sicher
sein.


(Widerspruch bei der SPD)

In der Tat ist das eine schwierige Situation für die

Krankenhäuser. Ich bin der Meinung, dass das DRG-Sys-
tem eingeführt werden muss, denn das benötigen wir für
wettbewerbliche Strukturen im Krankenhaus.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Da schau an!)


Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Krankenhäuser als
diejenigen, die sich bisher dafür entschieden haben, diese
Möglichkeit in Anspruch nehmen können. Sie sehen: Wir
wollen ein Vermittlungsverfahren.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es! – Zuruf von der SPD: Weiter so!)


Der zweite wichtige Punkt. Sie wollen die Verwal-
tungskosten dämpfen. Sie dürfen aber nicht vergessen,
dass Sie den Krankenkassen in den letzten vier Jahren so
viel Bürokratie aufgeladen haben, dass man sich nicht
wundern muss, wenn die Verwaltungskosten ansteigen.
Es wäre besser, Sie würden die bürokratischen Regelun-
gen abbauen. Dann hätten die Krankenkassen im Verwal-
tungsbereich sicherlich viel mehr Spielraum und könnten
auf diese Weise Kosten sparen.


(Beifall bei der FDP)

Diese Vielzahl von bürokratischen Regelungen war Ihr
entscheidender Fehler bei der Reform.

Sie wissen doch,

(Ute Kumpf [SPD]: Wir wissen viel!)


wie viel Stellen in den letzten Jahren bei den Kranken-
kassen zusätzlich geschaffen worden sind: mehr als
3 000 Stellen. Das bedeutet immense Personalkosten.
Dafür haben Sie 15 000 Pflegekräfte abgebaut. Das muss
einmal deutlich gesagt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unglaublich ist das!)


Das ist Ihr Fehler. Mit dieser Begrenzung, Budgetierung
und Nullrunde werden Sie auf Dauer keine Gesundheits-
politik machen können. Das sind Instrumente aus der
Mottenkiste; das ist Planwirtschaft bis zur höchsten Kom-
petenz.

Hinzu kommt Ihre Vorstellung, Sie könnten bei den
Me-too-Präparaten unterscheiden, welche Präparate auf
Dauer innovationsfähig sind. Wir haben aus der Praxis
viele Beispiele dafür, dass Präparate, die auf den Markt
gekommen sind, zunächst nicht den großen Durchbruch

Petra Selg




Dr. Dieter Thomae
erlebten und erst später festgestellt wurde, dass diese
Arzneimittel für schwierige Indikationen eingesetzt wer-
den können. Ich weiß nicht, woher Sie den Mut nehmen,
zu entscheiden, was Me-too-Präparate sind und was
nicht.


(Peter Dreßen [SPD]: Machen doch nicht wir!)

– Halten Sie doch den Mund! – Das sollten Sie den Fach-
leuten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-
produkte bei der Zulassung überlassen; denn die sind in
der Lage, zu entscheiden, welche innovativen Präparate
auf den Markt gebracht werden sollen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ganz genau! Die wissen das besser!)


Dafür sollten nicht neue bürokratische Strukturen ge-
schaffen werden.

Mit dieser Konzeption werden Sie bei uns keine Zu-
stimmung finden. Dennoch sind wir der Meinung: Der
Vermittlungsausschuss soll noch einmal versuchen, ge-
rade im Krankenhausbereich einen Kompromiss zu erzie-
len. Dazu sind wir als Liberale bereit. Ich hoffe, dass wir
dann eine vernünftige Basis finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501914900

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Zwölften
Gesetz zur Änderung des Fünften Buches des Sozialge-
setzbuches auf Drucksache 15/298. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Enthaltun-
gen? – Dann ist der Antrag mit den Stimmen der SPD-
Fraktion, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSU-
Fraktion angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker
Beck (Köln), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentli-
ches Gut und kulturelle Vielfalt sichern
– Drucksache 15/224 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Zeit von 45Minuten vorgesehen. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
zunächst der Kollegin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion.


Ulla Burchardt (SPD):
Rede ID: ID1501915000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Verhandlungen über die Weiterentwicklung des
1995 geschlossenen Abkommens über den internationa-
len Handel mit Dienstleistungen gewinnen an Dynamik
und kommen in eine entscheidende Phase. Die Forderun-
gen der anderen Mitgliedstaaten liegen vor. In den nächs-
ten Tagen wird die Vorlage des Verhandlungsangebotes
seitens der EU erwartet. Bis Ende März dieses Jahres soll
die Abstimmung darüber erfolgt sein.

Zu den zwölf Dienstleistungssektoren, über die ver-
handelt wird, gehören auch kulturelle und audiovisuelle
sowie Bildungsdienstleistungen. Grundsätzlich – lassen
Sie mich das sagen – ist für uns die Ausweitung des Han-
dels mit Dienstleistungen eine große Chance für die ex-
port- und dienstleistungsstarke deutsche Wirtschaft. Doch
geht es bei Bildung und Kultur um etwas grundsätzlich
anderes als zum Beispiel bei Telekommunikations- und
Transportdienstleistungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schon vor Monaten haben alle relevanten Institutionen
und Verbände, die Hochschulrektorenkonferenz, die
Bund-Länder-Kommission und – das muss man sagen –
als Erste die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft,


(Willi Brase [SPD]: Sehr gut!)

über Implikationen beraten, Forderungen formuliert und
Positionen beschlossen. Angesichts des vorliegenden
Zeitplans halten wir es für überfällig, dass sich auch der
Deutsche Bundestag positioniert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen mit unserem Antrag der Bundesregierung ei-
nen klaren Verhandlungsauftrag für die Formulierung der
gemeinsamen Position der EU geben.

Alle Bildungsexperten, und zwar ausnahmslos, äußern
die Sorge, dass weitere Liberalisierungszugeständnisse
im Ergebnis zu einer Kommerzialisierung des Bildungs-
sektors, einer Erosion des öffentlichen Bildungswesens
und der staatlichen Verantwortung – sprich: der von Bund
und Ländern – und somit zu Qualitätsdumping führen
könnten.

Die SPD-Bundestagsfraktion – ich kann sagen, auch
das Bundesministerium für Bildung und Forschung – teilt
die Grundsatzposition von HRK, BLK und GEW. Diese
sind erstens: Öffentlich verantwortete Bildung und somit
auch Hochschulbildung sind kein gewöhnliches Handels-
gut wie sonstige Waren oder Dienstleistungen. Bildungs-
politik darf nicht dem Primat der Handelspolitik unterge-
ordnet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Auch nicht durch die FDP!)



(A)



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1526


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(C)



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Zweitens. Die Gewährleistung von Chancengleichheit
beim Zugang zu Bildung und Wissen und die Sicherstel-
lung hoher Qualitätsstandards im Bildungswesen gehören
zum Kernbereich staatlicher Daseinsvorsorge. Qualitäts-
sicherung darf sich dabei nicht allein auf die staatlichen
Angebote beschränken, sondern muss alle in- und auslän-
dischen privaten einbeziehen.

Drittens. Es besteht kein Anlass, über die 1995 einge-
gangenen und im Vergleich zu anderen international im
Bildungsbereich aktiven Staaten wie den USA, Australien
oder Japan relativ weitgehenden Verpflichtungen hinaus-
zugehen.

Sind die vielfach geäußerten Befürchtungen und Sor-
gen gerechtfertigt? Angesichts der teilweise diffusen Vor-
behalte gegenüber internationalen Institutionen und Ab-
kommen, insbesondere wenn es um Handelsfragen geht,
ist es für mich wichtig, Folgendes klarzustellen. Das
GATS lässt den einzelnen Mitgliedstaaten erhebliche
Freiheiten bei der Übernahme von Verpflichtungen zur
Marktöffnung. Jeder Staat entscheidet selbst, welche bila-
teral für welche Dienstleistungssektoren übernommen
werden. Es liegt also allein in der Hand der WTO-Mit-
glieder, welche Zugeständnisse gemacht und welche kon-
kreten Verpflichtungen übernommen werden.

Ich hatte im Dezember des letzten Jahres die Gelegen-
heit genutzt, mich in Genf bei der WTO mit dem Gene-
raldirektor Dr. Supachai und den Mitarbeitern des Sekre-
tariats, insbesondere mit denen, die den Bereich Bildung
betreuen, über den Sachstand, über Hintergründe und über
Abläufe zu informieren. Ich habe von dort den Eindruck
mitgenommen, dass in Genf nicht erwartet wird, dass
vonseiten anderer Staaten, zum Beispiel von den USA, er-
heblicher Druck ausgeübt wird, den Bildungsbereich wei-
ter zu liberalisieren; denn gerade die USAmüssten im Ge-
genzug ihren Bildungsmarkt sehr viel weiter öffnen. Man
hat in Genf den Eindruck, dass die USAgerade daran kein
Interesse haben.

Aber ich habe von dort auch eine bemerkenswerte Er-
kenntnis mitgebracht. Die WTO hat nämlich die Erfah-
rung gemacht, dass seitens der Europäischen Union, wenn
es um die Verhandlungsführerschaft durch die Handels-
politik geht, diese Kompetenz genutzt wird, um auf und in
andere Fachbereiche – sprich: Fachpolitiken – Zugriff zu
haben. Das macht hellhörig und vor diesem Hintergrund
scheinen Sorgen nicht ganz unberechtigt zu sein.

Die Erfahrungen vergangener Verhandlungsrunden
zeigen, dass in wichtigen Streitfällen zwischen den Han-
delspartnern Vereinbarungen erst in letzter Minute erzielt
wurden, und zwar als Paketlösungen. Bildungsdienstleis-
tungen könnten so – das ist zumindest theoretisch denk-
bar – als Tauschobjekt einbezogen werden für Zugeständ-
nisse seitens der EU, die in anderen Bereichen nicht
gemacht werden, also verweigert werden.

Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregie-
rung auf, gegenüber der EU bei der Formulierung von An-
geboten sicherzustellen, dass der bestehende Regulie-
rungsvorbehalt und damit die öffentliche Aufsicht über
das Bildungswesen inklusive aller Fragen, die die Qua-
litätssicherung betreffen, beibehalten wird. Wir fordern
sie auf, auch den Subventionsvorbehalt beizubehalten,

damit die staatliche Finanzierung von Bildungseinrich-
tungen keine Rechtsansprüche für ausländische Bildungs-
anbieter auslöst.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind allerdings der Auffassung, dass die Verhand-
lungen zu einer Klarstellung des Begriffs der Govern-
mental Services genutzt werden sollten, der hoheitlich
erbrachten Dienstleistungen, die von den Bestimmungen
des GATS ausgenommen sind. Wir fordern Klarstellun-
gen dahin gehend, dass sich der Begriff des Wettbewerbs
in Art. I des Abkommens allein auf den Wettbewerb zwi-
schen überwiegend privat finanzierten Anbietern bezieht.
Was den Bereich der audiovisuellen und kulturellen
Dienstleistungen angeht sind wir der Auffassung, dass auf
Liberalisierungsforderungen gegenüber Drittstaaten ver-
zichtet werden sollte.

Dies alles schließt im Übrigen den internationalen Aus-
tausch und Wettbewerb im Bildungsbereich überhaupt
nicht aus. Ich sage ganz deutlich: Der ist uns wichtig. Das
Bundesministerium für Bildung und Forschung hat auch
in dieser Beziehung vieles auf den Weg gebracht. Aus
Zeitgründen ist es nicht möglich, auf Einzelheiten einzu-
gehen. Alle, die es interessiert, verweise ich auf die sehr
aufschlussreiche Dokumentation „Bildung und For-
schung weltoffen“, die seit dem Sommer letzten Jahres
vorliegt und allgemein zugänglich ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Und sehr gut ist!)

Schließlich ist unsere Forderung nach regelmäßiger

und detaillierter Einbeziehung derFachausschüsse bzw.
der Berichterstatter so selbstverständlich, wie sie überfäl-
lig war. Mit der Einladung der Fachberichterstatter zu ei-
nem Gespräch am Montag hat das Bundesministerium für
Wirtschaft und Arbeit den Ball aufgegriffen. Das halte ich
für einen guten Anfang, der allerdings ausbaufähig ist.
Wir sollten das noch viel nachdrücklicher fordern. Wenn
dort gesagt worden ist, die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages seien mit Abstand die wichtigsten Ge-
sprächspartner, dann gehe ich auch davon aus, dass die
Abgeordneten in Zukunft eher und detaillierter über den
Verhandlungsstand informiert werden als beispielsweise
Nichtregierungsorganisationen, wie das leider in der Ver-
gangenheit der Fall gewesen ist. Aber ich sehe uns insge-
samt auf einem guten Wege.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit Freude habe ich in dem Gespräch am Montag
gehört – einige Kollegen, die heute Abend anwesend sind,
waren dabei –, dass im Bereich Bildung die deutsche Po-
sition sattelfest vertreten wird und die Bundesregierung
auf eine uneingeschränkte Beibehaltung der bisherigen
Position hinarbeitet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unter dem Strich ist mein Eindruck, dass es hinsichtlich
der stärkeren Parlamentsbeteiligung einen fraktionsüber-
greifenden Konsens gibt und dass es einen großen gesell-
schaftlichen Konsens gibt in Bezug auf den besonderen

Ulla Burchard




Ulla Burchard
Charakter von Bildungs- und Kulturdienstleistungen.
Deshalb werbe ich hoffentlich nicht vergebens, sondern
mit großem Optimismus um die Zustimmung des gesam-
ten Hauses zu unserem Antrag, auch um der deutschen Po-
sition international und innerhalb Europas den entspre-
chenden Nachdruck zu verleihen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501915100

Das Wort hat der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Frak-
tion.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1501915200

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 1995

ist das so genannte GATS-Abkommen in Kraft getreten.
Deutschland und die Europäische Union haben sich ver-
pflichtet, weitere Liberalisierungen des Dienstleistungs-
sektors voranzutreiben. Wir begrüßen diese Liberalisie-
rung des Welthandels, der nun auch im Bereich des
Handels mit Dienstleistungen konkrete Formen annimmt.

Die Bildungsdienstleistungen sind in das GATS-Ab-
kommen als einer von zwölf Dienstleistungssektoren ein-
bezogen worden. Bildung und der Handel mit Bildung
können ein bedeutsamer volkswirtschaftlicher Faktor sein.


(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])

Dies zeigen die Vereinigten Staaten von Amerika. Die
USA erwirtschaften auf dem internationalen Bildungs-
markt pro Jahr einen Erlös von 12 bis 18 Milliarden US-
Dollar und damit mehr als die ganze amerikanische Film-
industrie.

Was hat uns der internationale Vergleich im Rahmen
der PISA-Studie gelehrt? – Die Lehre von PISA ist, dass
wir von anderen Ländern auch in der Schul- und Bil-
dungspolitik lernen können.


(Ulrike Flach [FDP]: Wie wahr!)

Der rot-grüne Antrag zum Thema GATS-Verhandlungen
offenbart dagegen in manchen Teilen Ängstlichkeit vor
privater und ausländischer Konkurrenz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wir und ängstlich? Das passt nicht zusammen!)


Wir dagegen begrüßen die Liberalisierung im Dienstleis-
tungsbereich. Sie trägt zu Wettbewerb zwischen den Bil-
dungsanbietern und damit zu mehr Leistungsorientierung
und Qualitätssteigerung bei.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Allerdings gilt es, bei den konkreten GATS-Verhand-
lungen einige Aspekte zu berücksichtigen. Bildung ist in
seinem Grundangebot in Deutschland ein öffentliches
Gut. Die Struktur des öffentlich finanzierten Bildungssys-
tems in Deutschland darf deshalb nicht generell zur Dis-
position gestellt werden.


(Jörg Tauss [SPD]: Ah ja!)


Aber ergänzende private ausländische Bildungsangebote
sollten sehr wohl möglich sein, wenn sie bestimmte Be-
dingungen erfüllen, vor allem vom Staat überprüfte Qua-
litätsstandards.


(Jörg Tauss [SPD]: Ah ja!)

Die Sicherstellung eines solchen Qualitätsstandards bei
in- und ausländischen Anbietern im Bildungswesen
gehört zum Kernbereich der staatlichen Daseinsvorsorge,
übrigens auch in der globalisierten Wissensgesellschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir als Unionsfraktion unterstützen die Stellung-

nahme, die der Ausschuss für Bildungsplanung der BLK
als gemeinsame Position von Bund und Ländern erarbei-
tet hat. Folgende Gesichtspunkte müssen berücksichtigt
werden:

Erstens. Die von den Ländern und dem Bund in
Deutschland wahrgenommene öffentliche Aufsicht über
das Bildungswesen muss erhalten bleiben.

Zweitens. Die Setzung und Sicherung von Qualitäts-
standards sowie die Akkreditierung und die Anerkennung
von Hochschulabschlüssen müssen weiterhin in der Re-
gelungsbefugnis des Staates bleiben.

Drittens. Die Gleichbehandlung ausländischer An-
bieter darf nicht zu weit gehen. Die Regeln zur Inländer-
behandlung gemäß Art. XII des GATS-Vertrages dürfen
keineswegs so ausgelegt werden, dass eine generelle Ver-
pflichtung zur staatlichen Subventionierung auch privater
Anbieter entsteht. Anders formuliert: Die staatliche Fi-
nanzierung von Bildungseinrichtungen in Deutschland
darf keine Subventionsansprüche ausländischer privater
Bildungsanbieter auslösen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Flach [FDP]: Aber wenn sie besser sind als unsere, Herr Rachel?)


– Auch dann sollen sie keine Subventionen bekommen.
Sie sollen sich auf dem privaten Markt selber beweisen.

Viertens. Die rot-grüne Koalition fordert in ihrem An-
trag, „dass Deutschland und die EU ... keine weiteren Li-
beralisierungsverpflichtungen für den Bereich der Bil-
dungsdienstleistungen übernehmen, die über die bereits
bei Aushandlung des GATS-Abkommens 1994 eingegan-
genen Verpflichtungen hinausreichen“. Diese Auffassung
teilt die Unionsfraktion nicht. Der Antrag zeigt, dass die
rot-grünen Koalitionsfraktionen die GATS-Liberalisie-
rungsverhandlungen mit angezogener Handbremse
führen wollen.


(Jörg Tauss [SPD]: Was denn? Was für eine Handbremse?)


Wir Christdemokraten sind nicht grundsätzlich gegen
eine weitere Liberalisierung. Wir machen sie allerdings
von Bedingungen abhängig. So reichen die bisherigen
Verpflichtungen der EU und ihrer Mitglieder erheblich
weiter als die anderer Mitgliedstaaten der WTO, insbe-
sondere die der USA und Australiens.

Deshalb ist es nach Meinung der CDU/CSU-Fraktion
wichtig, dass vor weiteren Liberalisierungszugeständnis-


(A)



(B)



(C)



(D)


1528


(A)



(B)



(C)



(D)






sen der europäischen Seite eine Angleichung im Ver-
pflichtungsniveau der wichtigsten Verhandlungspartner
angestrebt wird. Wir befürworten die weitere Liberalisie-
rung; sie muss aber auf Gegenseitigkeit beruhen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine Liberalisierung und Öffnung des deutschen Bil-
dungsmarktes, ohne dass umgekehrt die anderen Länder
ihren Bildungsmarkt gleichzeitig, in gleicher Weise und
in gleicher Intensität öffnen, kann es mit uns nicht ge-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die GATS-Verhandlungen sind eine vernünftige Sa-

che. Dass Griechenland die griechische Staatsangehörig-
keit als Erfordernis für Lehrer postuliert, ist einfach nicht
mehr zeitgemäß. Das Erfordernis der dänischen Staatsan-
gehörigkeit für Professoren in Dänemark ist ein Anachro-
nismus.


(Jörg Tauss [SPD]: Zuwanderungsgesetz!)

Das passt nicht in eine internationale Wissensgesellschaft.
Abschließend nenne ich ein anderes Beispiel: In Frank-
reich ist die Gründung von Privatschulen grundsätzlich
französischen Staatsbürgern vorbehalten.

Diese alten Zöpfe gehören abgeschnitten. Sie passen
nicht in das 21. Jahrhundert. Dies wollen wir ändern.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1501915300

Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen, das Wort.


Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501915400

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Globalisierung der Weltwirtschaft und die welt-
weit zunehmende Privatisierung von Dienstleistungen
führen dazu, dass wir uns mit völlig neuen Fragestellun-
gen internationaler Bildungspolitik beschäftigen müs-
sen. So lautet zum Beispiel eine Frage, die im Hinblick
auf die Verteilung von Wissen beantwortet werden muss:
Wem gehört das Wissen? Eine weitere, gerade hinsicht-
lich der zunehmenden Kommerzialisierung des Bildungs-
sektors zentrale Fragestellung lautet: Wem gehört die Bil-
dung?

Mit In-Kraft-Treten des so genannten GATS-Abkom-
mens im Jahre 1995 hat die EU weitreichende Verpflich-
tungen zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors
übernommen. Seit Anfang 2000 wird nun im Rahmen der
WTO über eine Weiterentwicklung des GATS verhan-
delt. Ziel der Beratungen ist es, ein höheres Liberalisie-
rungsniveau aller WTO-Mitglieder beim Welthandel mit
Dienstleistungen zu erreichen. Diese Verhandlungen er-
strecken sich, wie von meinen Vorrednerinnen und Vor-
rednern bereits dargelegt, auf alle von GATS erfassten
Dienstleistungssektoren. Darunter fallen natürlich auch
die weltweiten Bildungsdienstleistungen. Im Mittelpunkt
dieser Verhandlungen stehen Forderungen, die die staat-

lichen Subventionen zur Unterstützung öffentlicher und
privater Bildungsträger infrage stellen.

Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sind mit der be-
rechtigten Sorge an uns herangetreten, die Verhandlungen
könnten im Endergebnis zu einer umfassenden Kommer-
zialisierung des Bildungssektors führen. Ebenso wird
befürchtet, dass es zu einer Aushöhlung des öffentlichen
Bildungswesens und der staatlichen Aufsicht über das
Bildungswesen kommt.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklung

darf nicht eintreten. Die Rolle des Staates als Wächter
über die Chancengleichheit und die Qualität im Bildungs-
wesen darf zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Herstellung von Chancengleichheit beim Zugang
zu Bildung und Wissen und die Sicherstellung eines ho-
hen Qualitätsstandards im Bildungswesen gehören
zum Kernbereich staatlicher Aufgaben. Dies gilt auch und
gerade in einer globalisierten Wissensgesellschaft. Qua-
litätssicherung darf sich dabei nicht allein auf die staat-
lichen Angebote beschränken, sondern muss auch alle in-
und ausländischen privaten Angebote einbeziehen.

Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Bemühungen
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, bil-
dungspolitischen Interessen und Standpunkten in den
GATS-Verhandlungen den notwendigen Stellenwert zu
geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber wir wissen auch: Die Bundesregierung ist kein di-
rekter Verhandlungspartner. Sie kann ihren Einfluss nur
mittelbar geltend machen. Verhandlungspartner ist die EU
insgesamt.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hat Herr Schröder da keinen Einfluss?)


Umso wichtiger ist es, die deutschen Interessen zu bün-
deln. Um der Sache willen sollten wir dabei alle an einem
Strang ziehen.

Es gibt immer noch Politikerinnen und Politiker, die
ernsthaft glauben, Bildung stehe jenseits wirtschaftlicher
Einflussnahme und nur im Dienste der Bevölkerung. Da-
bei tobt in der Bildungspolitik schon seit geraumer Zeit
ein heftiges weltweites Ringen nicht etwa um Inhalte oder
Didaktik, sondern um Marktanteile der weltweiten Bil-
dungsdienstleister.

Unsere Verhandlungspartner jenseits des Atlantiks ha-
ben es bereits deutlich formuliert. Die amerikanischen
Bildungskonzerne erhoffen sich beispielsweise die Auf-
nahme einer neuen Kategorie namens Training in die
Liste der frei handelbaren Bildungsangebote. Gemeint
ist damit nichts anderes als der lukrative Markt der un-
ternehmensbezogenen Weiterbildungen. Bildung wird
zum weltweiten Exportschlager. Schon jetzt nimmt der
amerikanische Bildungssektor mit rund 10 Milliarden
Dollar den fünften Rang in der US-Exportwirtschaft ein.

Thomas Rachel




Grietje Bettin

Aber auch wir wollen keinen abgeschotteten Bildungs-
markt und sehen durchaus die positiven Effekte einer
Internationalisierung von Bildung


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aha!)

wie zum Beispiel die Öffnung der Bildungseinrichtungen
für ausländische Studierende und die Erschließung neuer
Märkte und neuer Kooperationschancen für inländische
Dienstleister.

Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass ein globa-
ler Bildungsmarkt entsteht, der sich nur noch über die
Profitmaximierung definiert. Eine Privatisierung des Bil-
dungswesens durch immer mehr Gebühren und einen da-
mit verbundenen Rückzug aus der öffentlichen Verant-
wortung wird es unter Rot-Grün nicht geben.

Grundsätzlich teilen wir Grünen die Bedenken der
Globalisierungskritikerinnen und -kritiker. Die Verhand-
lungen werden bis jetzt viel zu wenig transparent geführt.
Weder das Parlament noch die betroffene Öffentlichkeit
wurden ausreichend informiert. Dies muss sich schnells-
tens ändern.

Unsere Forderungen sind daher eindeutig: Im Rahmen
der nächsten Freihandelsrunde darf Bildung nicht unter
„ferner liefen“ verhandelt werden. Bildung ist nun einmal
keine Ware wie jede andere, sondern muss gesondert ver-
und auch behandelt werden. Wir setzen zur Verbesserung
des Gesamtangebots auf dem Bildungssektor auch auf
neue internationale Angebote und Ansätze. Deshalb treten
wir grundsätzlich für die Öffnung des Bildungssektors für
private Anbieter ein, um zusätzliche Innovationen im deut-
schen Bildungssystem zu ermöglichen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Na bravo! Endlich!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein qua-
litativ hochwertiges Bildungssystem erreichen, zu dem
alle Bürgerinnen und Bürger gleichen Zugang erhalten,
unabhängig von ihrer sozialen, kulturellen oder ge-
schlechtlichen Zugehörigkeit. Dafür brauchen wir eine in-
ternational offene und vielfältige Bildungslandschaft ge-
nauso wie eine staatliche Qualitätskontrolle. Staat und
Politik setzen die Ziele und garantieren die Qualität. Den
Weg und die Umsetzung bestimmen die Einrichtungen
und Anbieter selbst.

Zusammenfassend muss für GATS gelten, was wir
auch für das deutsche Bildungssystem insgesamt wollen:
die Freiheit der Bildungswege bei staatlicher Qualitäts-
garantie und die Festlegung von Bildungszielen durch po-
litische Beteiligung der Öffentlichkeit.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501915500

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1501915600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Un-

recht hat das Thema „GATS plus Bildung“ bislang kaum

öffentliche Beachtung gefunden. Dabei ist der Bildungs-
markt, wie dies Herr Rachel eben so plastisch dargestellt
hat, im Augenblick einer der am schnellsten wachsenden
Märkte. Es geht darum, wie ausländische Bildungsanbie-
ter zukünftig in Deutschland auftreten können, aber auch
darum, wie wir in Zukunft auf ausländischen Märkten
präsent sein werden.

Frau Burchardt, Ihr Antrag fokussiert vor allen Din-
gen auf den ersten Bereich. Mir fehlen – das sage ich
für die Liberalen ganz klar – Aussagen dazu, wie wir
die Möglichkeiten, für unsere Bildungsträger Zugang
zu Märkten zu bekommen, nutzen wollen. Mir fehlen
Aussagen darüber, was Liberalisierung für die Verbes-
serung der Qualität von Bildung in Deutschland be-
deutet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulla Burchardt [SPD]: Wo ist denn der FDP-Antrag?)


Warum sollten wir zum Beispiel nicht bereit sein, den
Bereich Testing in den internationalen Wettbewerb zu
stellen? Warum soll nicht ein ausländischer Anbieter die
Überprüfung der Qualität deutscher Bildungseinrichtun-
gen übernehmen, wenn er sich an staatliche Qualitätsvor-
gaben hält?


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer das Protokoll der Expertenanhörung vom
24. Januar 2002 liest, der findet darin den bezeichnenden
Satz des BMBF-Vertreters, dass Deutschland im Rahmen
des WTO-Prozesses die Chance verpasst habe, Forderun-
gen für den Bildungsbereich zu benennen. Warum? – Ich
zitiere aus dem Protokoll:

Weil wir eine mangelnde Koordination zwischen der
federführenden Wirtschaftsseite und der für Bil-
dungswesen zuständigen Seite hatten.

Meine Damen und Herren, dies prägt dieses Thema, dies
prägt „GATS plus Bildung“: kleinliche Rivalitäten zwi-
schen den Ministerien und – ganz offensichtlich damit
verbunden – öffentliche Missachtung.

Ich weiß, dass es im Rahmen der BLK eine Verständi-
gung gegeben hat und dass viele Punkte daraus in Ihren
Antrag eingeflossen sind. Trotzdem oder vielleicht gerade
deswegen atmet der Antrag deutliche Angst und nicht Zu-
versicht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die FDP sagt nicht: Liberalisierung auf Teufel komm
raus. Den Gefallen tun wir Ihnen nicht. Vielmehr muss
das Niveau der Marktöffnung – da stimme ich Ihnen zu,
Herr Rachel – gleichmäßig ansteigen. Die EU ist hier wei-
ter als andere Regionen. Wir sagen aber auch: Wir wollen
keinen Closedshop.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dies sagen wir auch vor den Vertretern der entsprechen-
den Organisationen. Unsere oberste Priorität ist eben
nicht die Bestandsgarantie für die heutigen Strukturen.


(A)



(B)



(C)



(D)


1530


(A)



(B)



(C)



(D)






Unser Maßstab ist Qualitätsverbesserung, nicht Arten-
schutz.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gerade vor dem Hintergrund der Diskussionen gestern
im Ausschuss möchte ich Sie fragen: Wie setzen Sie sich
denn im Augenblick hinsichtlich der Ausgaben für Bil-
dung in diesem Lande durch? Was für Prügel bekommen
Sie denn von den eigenen Leuten? Gerade vor diesem
Hintergrund müssen wir aufpassen, dass wir unseren
Markt durch ausländische Konkurrenz verbessern, und
dürfen keine Angst haben.


(Beifall bei der FDP)

Dennoch sind wir uns der wichtigen Fragen durchaus

bewusst: Können wir bei einer weiteren Marktöffnung
wichtige Initiativen, wie zum Beispiel GATE, weiter
staatlich finanzieren? Wir müssen bei GATS den Grund-
satz beachten: Was wir von den anderen fordern, müssen
wir natürlich auch uns selbst abverlangen. Wenn wir staat-
liche Subventionen vornehmen, können wir sie anderen
auf unserem Markt nicht verbieten – das ist uns klar.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ach was?)

Nur ein Beispiel: Wir müssen Klarheit darüber haben, wie
es mit der Hochschulbauförderung für ausländische An-
bieter aussieht, die sich in Deutschland niederlassen.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das wird aber teuer!)


Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür,
dass diejenigen, mit denen Sie sich offensichtlich intensiv
unterhalten haben, Angst haben, dass der staatliche Ku-
chen eben auch unter anderen Mitessern aufgeteilt wird,


(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Mitesser ist gut! Parasiten!)


zumal die Kuchenstücke zurzeit nicht größer werden.
Aber das ist eben nicht die einhellige Meinung. So spricht
sich zum Beispiel der Generalsekretär des Stifterverban-
des für die Deutsche Wissenschaft durchaus dafür aus,
auch ausländischen Hochschulen im Wettbewerb um
staatliche Fördermittel eine Chance zu geben. Das soll al-
lerdings unter drei Bedingungen geschehen: Studi-
engänge müssen akkreditiert sein, die Hochschule muss
nach § 70 HRG anerkannt sein und es muss eine Eva-
luierung der Qualität, zum Beispiel durch den Wissen-
schaftsrat, stattfinden. Wenn diese Bedingungen erfüllt
werden, warum sollten wir dann Angst haben?

Wir sind für den internationalen Wettbewerb bisher
unzureichend gerüstet, das stimmt. Das liegt aber nicht an
der Opposition in diesem Hause,


(Widerspruch bei der SPD)

sondern das liegt an Ihnen, die Sie gerade in der Vergan-
genheit nicht dafür gesorgt haben, das wir für Wettbewerb
offen sind. Wo ist denn das Verbot von Studiengebühren?
Mit den jetzigen Bedingungen machen Sie es unseren
Universitäten natürlich schwer.


(Jörg Tauss [SPD]: Und wo bleibt dann die Internationalisierung?)


Wo sind denn die Möglichkeiten, Studenten auszusuchen?
Diese Möglichkeiten haben wir zurzeit nicht. Die Regie-
rung hat die Universitäten hier entsprechend beschränkt
und dafür gesorgt, dass wir international nicht wettbe-
werbsfähig sind.


(Jörg Tauss [SPD]: Na, na!)

Wir können aber den deutschen Bildungsmarkt nicht

abschotten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich doch ein-
mal sagen: Gerade weil wir Schwierigkeiten bezüglich
des Etats haben, können wir das nicht tun. Zusätzliche An-
bieter werden Kapital, Qualität und Wettbewerbsdruck in
unseren geschlossenen Markt bringen. Die FDP steht
dafür. Frau Burchardt, die FDP wird im Ausschuss einen
Antrag einbringen, damit Sie sich mit unseren Forderun-
gen im Detail auseinander setzen können.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501915700

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib.


Marion Seib (CSU):
Rede ID: ID1501915800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Durch die heutige Aussprache wird deutlich:
Die Fragen der Bildungspolitik haben nichts von ihrer
Brisanz verloren. Letzes Jahr hielten uns die Ergebnisse
der PISA-Studie in Atem. 2003 wird die Nachfolgekonfe-
renz des Bologna-Prozesses hier in Berlin stattfinden und
sicherlich zu einer weiteren kontroversen Debatte führen.
In diesem Zusammenhang ist es natürlich gut, dass wir
schon zu Beginn des Jahres über den Antrag der SPD und
der Grünen zu den GATS-Verhandlungen diskutieren.

Verehrte Kollegen, um es vorwegzunehmen: In der
Grundaussage stimme ich dem Antrag in weiten Teilen zu.
Bewährte Strukturen der öffentlichen Bildungs- und Kul-
turförderung in Deutschland sollten eben nicht durch
GATS infrage gestellt werden. Ich denke aber, wir dürfen
es uns nicht zu einfach machen.

In Deutschland ist es Mode geworden, sich gegen die
Globalisierung in toto zu wenden. Man hört immer die
gleichen Schlagworte: gegen Kommerzialisierung; kontra
Neoliberalisierung. Aus der Globalisierung heraus ergeben
sich zweifelsohne Risiken, die beachtet werden müssen.
Auch für die Bildungs- und Kultureinrichtungen können
sich aus den geplanten GATS-Vereinbarungen zahlreiche
Gefahren ergeben.

Die meisten Szenarien sind in Ihrem Antrag – wie ich
finde zu Recht – bereits angesprochen worden. Auch wir
wollen nicht – lassen Sie mich das übertrieben darstellen –,
dass ein US-amerikanischer Testing Service über ein
Kontingent an Hochschulplätzen in Deutschland verfügen
kann oder dass ein australischer Bildungskonzern hier ein
mit Steuermitteln bezuschusstes Privatgymnasium be-
treibt, das mit ausländischem Lehrmaterial arbeitet und zu
einer Studienberechtigung an deutschen Universitäten
führen kann.

Auch wenn diese Beispiele sicherlich spekulativ sind:
Wir Christlich-Sozialen sorgen uns um die kulturelle

Ulrike Flach




Marion Seib
Vielfalt und ihre Bewahrung. Die Subventionierung aus-
ländischer Bildungsanbieter oder der Wegfall der
staatlichen Aufsicht über das Bildungssystem wäre in
der Tat eine gefährliche Entwicklung, die dem föderalen
Bildungssystem in Deutschland schweren Schaden zufü-
gen könnte.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Doch trotz aller Risiken dürfen wir uns nicht dazu ver-

leiten lassen, alle Entwicklungen der GATS-Runde im
Bereich der Bildung zu blockieren. Hinter GATS verber-
gen sich für die Bildungseinrichtungen nämlich nicht nur
Risiken, sondern auch erhebliche Chancen im In- und
Ausland. Gerade in den letzten Jahren haben mehrere
deutsche Universitäten den Schritt ins Ausland gewagt
und haben dort alleine oder mit Kooperationspartnern
neue Hochschuleinrichtungen gegründet. In Bayern ha-
ben alleine die Schulen 60 000 internationale Kontakte
gepflegt. 15 000 Kooperationsvereinbarungen zwischen
deutschen Hochschulen und ausländischen Einrichtungen
wurden abgeschlossen, so unter anderem das „German
Institute of Science and Technology“ der TU München in
Singapur.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: So sind Zehetmair und Hohlmeier!)


Die Fakultät für Chemie der TU München bietet dort den
Studiengang „Industrial Chemistry“ an. In einem staat-
lichen Programm wurde die TU München neben weiteren
zehn Top-Universitäten der Welt ausgewählt. Ich bin zu-
versichtlich, dass diese Entwicklung in den nächsten Jah-
ren anhalten und sich noch verstärken wird.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was hat das mit GATS zu tun?)


Durch den Bologna-Prozess entsteht ein europä-
ischer Hochschulraum, der sich vor der Konkurrenz in
den Vereinigten Staaten, in Australien oder in Neusee-
land nicht zu verstecken braucht. In der Zukunft wird es
zudem durch die Zunahme der weltweiten elektroni-
schen Vernetzung ein verstärktes Angebot an virtuellen
Ausbildungsmöglichkeiten geben. Deutsche Hochschu-
len können sich mit eigenen Angeboten dem internatio-
nalen Wettbewerb erfolgreich stellen. Das müssen wir
sehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die EU-Länder haben bereits große Vorleistungen er-

bracht, andere Länder müssen mit weiteren Verpflichtun-
gen erst noch nachziehen. Grundkonsens muss sein, dass
Bildung und Kultur zu den Kernaufgaben einer demo-
kratischen Gesellschaft zählen. Sie dürfen nicht einfach
kommerziellen Gesichtspunkten untergeordnet werden.
Ausländische Anbieter können die staatlichen Systeme
ergänzen, dürfen diese aber nicht unterminieren. Unter
diesem Blickwinkel müssen die GATS-Verhandlungen
aufmerksam verfolgt und Verbesserungen angeregt wer-
den.

Ich möchte nun auf den Antrag direkt eingehen. In die-
sem Antrag hätten die Länder etwas mehr Aufmerksam-
keit verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bildung ist und bleibt überwiegend Ländersache.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das haben die noch nicht kapiert!)

Nicht nur Frau Bulmahn, sondern auch die europäischen
Regionalminister für Kultur und Bildung haben mit der
Brixener Erklärung vom 18. Oktober 2002 europaweit auf
die Risiken der geplanten GATS-Vereinbarungen hin-
gewiesen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das weiß der Tauss nicht!)


In Ihrem Antrag ist weiter die Rede davon, dass die
neuen GATS-Vereinbarungen im Ergebnis zu einer Aus-
höhlung des öffentlichen Bildungswesens führen würden.
Mit Blick auf PISA und einige Bundesländer könnte man
meinen, die Aushöhlung schreitet auch ohne GATS
schnell voran.

Hinsichtlich der audiovisuellen und kulturellen
Dienstleistungen möchte ich darauf aufmerksam ma-
chen, dass gerade auch in Frankreich – wir haben heute
Morgen zu diesem Punkt debattiert – die Diskussion da-
rüber im Gange ist, wie den Besonderheiten der kulturel-
len Dienstleistungen in den jeweiligen Ländern bei den
GATS-Verhandlungen am besten Rechnung getragen
werden kann. Vielleicht ergibt sich ja für Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsseite, in
der nächsten Woche bei der Feier zum 40. Jahrestag des
Élysée-Vertrages die Möglichkeit des Gedankenaustau-
sches hierüber mit den französischen Parlamentskollegen.


(Jörg Tauss [SPD]: Kommen Sie nicht mit?)

Es ist zu begrüßen, dass die einzelnen Bundestagsaus-

schüsse umfassend informiert werden sollen. Denn in der
Öffentlichkeit wird häufig die fehlende Transparenz be-
klagt. Sicherlich hängt das auch damit zusammen, dass
die EU-Kommission für alle Mitglieder die Verhandlun-
gen führt und die Positionen nur in einem gesonderten
Ausschuss auf europäischer Ebene abgestimmt werden.
Regelmäßige und umfassende Informationen der Aus-
schüsse und Absprachen mit den Ländern bieten Mög-
lichkeiten, mit entsprechenden Anträgen in den Aus-
schüssen auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Damit
könnte dem Unverständnis in der Öffentlichkeit entge-
gengewirkt werden.

Wir können uns der Globalisierung unserer Welt
nicht entziehen. Unsere Aufgabe ist es, unsere kulturellen
und bildungspolitischen Besonderheiten in diese Ent-
wicklung einzubringen und abzusichern. Lassen Sie uns
diese Aufgabe gemeinsam gestalten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501915900

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk.


Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD):
Rede ID: ID1501916000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Das allgemeine Handelsab-


(A)



(B)



(C)



(D)


1532


(A)



(B)



(C)



(D)






kommen GATS ist ohne Zweifel eine der wichtigsten in-
ternationalen Verpflichtungen, die die Europäische Union
und damit auch die Bundesrepublik Deutschland einge-
gangen ist.

Allgemeine Dienstleistungen, nicht Bildungsdienst-
leistungen, sind der weltweit dynamischste Bereich des
Handels. Allein 1999 erwirtschaftete der Dienstleistungs-
sektor 1,34 Billionen Dollar – mit steigender Tendenz –
und damit ein Fünftel des Welthandels. Dienstleistungen
tragen in den großen Industrieländern mittlerweile 60 bis
70 Prozent zum jeweiligen Bruttosozialprodukt bei.
64 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind
in diesem Bereich beschäftigt. Deswegen ist es wichtig,
dass wir uns bei internationalen Vereinbarungen über
Dienstleistungen mit großer Sorgfalt mit diesem Bereich
befassen und uns genau überlegen, welche Auswirkungen
sie haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dienstleistungen sind nicht nur im Rahmen der staat-
lichen Organisation und öffentlichen Daseinsvorsorge
wichtig. Sie begleiten uns im wahrsten Sinne des Wortes
von der Wiege bis zur Bahre. Sie sind unverzichtbar und
der wichtigste und aussichtsreichste Wachstumsbereich.
Für wen, in welchem Umfang, in welcher Qualität und zu
welchem Preis sie zur Verfügung stehen, bestimmt in ho-
hem Maße über Wohlstand und Lebensqualität, Leben
und Gesundheit, aber auch über Chancengleichheit, so-
zialen Zusammenhalt und zu einem nicht geringen Teil,
Frau Flach, über das, was wir als nationale Identität, aber
auch als Heimat definieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Daher ist es unverständlich, wie wenig wir bisher in

Deutschland und Europa in der Öffentlichkeit und im Par-
lament über das GATS diskutiert haben. Ist es uns wirk-
lich gleichgültig, dass über eine Weiterentwicklung
des GATS weitgehend hinter verschlossenen Türen der
EU-Kommission und der Welthandelsorganisation ver-
handelt wird?


(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Ist es nicht!)


Herr Kollege Fritz, Sie erinnern sich: Sie haben das
schöne Beispiel gebracht, dass die Angebote und Über-
legungen der EU eher mit einem Krabbelsack zu ver-
gleichen seien, dessen Inhalt man vorsichtig abtaste, um
festzustellen, was wohl darin sei. Gegenüber einem Ab-
kommen, das wir ratifizieren sollen, müssen wir uns wohl
anders verhalten als gegenüber einem Krabbelsack; denn,
Frau Kollegin Flach, es geht nicht nur um den öffentlichen
Bereich, sondern auch um wirtschaftsnahe Dienstleis-
tungen wie freie Berufe, Datenverarbeitung und Kommu-
nikation, Post und Telekom, Werbung, Bau, Montage-
leistungen und vieles mehr.


(Ulrike Flach [FDP]: Dabei haben wir doch gute Erfahrungen gesammelt!)


Es geht aber auch um Bildung, um medizinische und so-
ziale Dienstleistungen vom Krankenhaus bis zur Alten-
pflege, um Umweltdienste vom Wasser und Abwasser bis

zur Müllabfuhr, um Erholung, Kultur und Sport. Dies war
noch keine vollständige Aufzählung all dessen, was in
diesem GATS in 16 Bereichen geklärt werden soll.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Da gibt es Unterschiede!)


Nur die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachten
Dienstleistungen sind ausgenommen. Aber auch dies be-
sagt nicht viel, weil dieser hoheitliche Bereich nicht ge-
nau definiert ist. Sie wissen, dass es Länder gibt, in denen
selbst Gefängnisse und Sicherheitsdienstleistungen privat
organisiert und nach Profitprinzipien geleitet werden.
Deswegen geht es bei den Leistungen entscheidend da-
rum, welche Leistungen künftig öffentlich erbracht wer-
den bzw. öffentlich erbracht werden dürfen und nach wel-
chen Kriterien – außer denen der Gewinnerzielung – dies
geschieht.

Gerade in der Daseinsvorsorge, die von unseren Städ-
ten und Gemeinden erbracht wird, sind folgende Fragen
existenziell: Wie viel Gestaltungsspielraum wird die öf-
fentliche Hand noch haben? Wie viele Zuschüsse sind
noch erlaubt? Hat jeder private und ausländische Anbie-
ter ebenso Anspruch auf öffentliche Subventionen wie ge-
meinnützige Organisationen?


(Ulrike Flach [FDP]: Hatten Sie bisher den Eindruck, dass die staatlichen Organisationen es gut gemacht haben?)


Es geht nicht darum, dass diese Anbieter keinen Zutritt
zum deutschen Markt bekommen. Das ist in dieser De-
batte nicht der Punkt. Diesen Unternehmen geht es darum,
dieselben Subventionen zu bekommen. Das heißt, sie sind
Nachfrager um knappe öffentliche Ressourcen und Mittel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht beim GATS nicht nur um eine neue internatio-
nale Marktordnung für Dienstleistungen, nicht nur um
eine neue Ordnung des globalen Arbeitsmarktes. Es wird
eine neue globale und soziale Ordnung vorgezeichnet,
die tief in die bisher vorhandenen politischen, sozialen
und kulturellen Wertvorstellungen und Ordnungssysteme
der meisten Nationalstaaten eingreift und ihre Hand-
lungsspielräume für politische Gestaltung erheblich ein-
schränken kann. Das ist für Parlamente wichtig. Schließen
wir auch internationale Abkommen ab, die künftig die
Entscheidungsspielräume der Parlamente dramatisch ein-
engen, oder haben wir künftig noch Möglichkeiten, eine
andere Generation nach neuen Erfahrungen etwas anderes
entscheiden zu lassen?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Über diese tiefen Einschnitte und Strukturverände-
rungen soll es in unseren Ländern keine umfassende öf-
fentliche Diskussion geben, geschweige denn einen auf
Mehrheitsbeschlüssen fußenden Konsens in den demo-
kratischen Gremien, im Europäischen Parlament und im
Deutschen Bundestag. Dies ist eigentlich unerträglich.
Die Kommission in Brüssel sollte zur Kenntnis nehmen,
dass das am 12. November 2000 auf der Website der Ge-
neraldirektion Handel vorliegende Konsultationspapier

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk




Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
– ich sage es einmal so – in seiner kryptischen Erhaben-
heit keine ausreichende Information von Öffentlich-
keit und Parlament bietet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Dies war ein Satz von erhabener Belanglosigkeit!)


Wir haben uns den Text gemeinsam mit Ihnen mehr-
fach durchgelesen und sind nicht darauf gekommen, was
damit nun konkret gemeint ist. Wenn eine Reihe von klu-
gen Abgeordneten des deutschen Volkes, die intensiv mit
dieser Sache befasst sind und Mitglieder der Enquete-
Kommission oder Vorsitzende des Unterausschusses Glo-
balisierung waren, nicht ersehen kann, welche Forderun-
gen real gestellt werden, welche Auswirkungen das auf
die einzelnen Sektoren hat, was das für die Staatshaus-
halte bedeutet, welche Handlungsspielräume wir noch ha-
ben werden, dann ist die Information von Öffentlichkeit
und Parlament unzureichend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Noch haben wir als Staat ein Entscheidungsrecht in
der Europäischen Union. Diesen Entscheidungsspielraum
sollten wir uns ohne genaue Information und Kenntnis
nicht nehmen lassen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Dann macht der Regierung mal Dampf!)


–Wir müssen der Europäischen Union gemeinsam Dampf
machen. Da haben Sie Recht, Herr Rachel. Wir werden
uns freuen, wenn wir in Brüssel sagen können: Dies ist
eine gemeinsame Haltung der Bundesrepublik Deutsch-
land und des gesamten deutschen Parlaments.


(Ulrike Flach [FDP]: Das würde ich so nicht sagen!)


Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der mich
beim GATS besonders irritiert. Im Rahmen der Welthan-
delsordnung ist es bisher so, dass bei der Herstellung von
Gütern die Art und Weise, auf die sie produziert werden,
völlig unwichtig ist. Dies soll beim GATS genauso gelten.
Wir als Sozialdemokraten haben auch bisher schon dage-
gen gekämpft, dass es egal ist, ob ein Gut unter Schädi-
gung der Umwelt, unter Ausbeutung von Kindern, unter
Lohnsklaverei oder gesundheitsgefährdenden Umständen
erstellt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch beim GATS wird nicht darüber diskutiert, unter
welchen Bedingungen die Dienstleistungen, die mögli-
cherweise in unser Land geliefert werden, erbracht wer-
den.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das haben wir doch in nationaler Kompetenz!)


Die Frage ist, warum wir – das sage ich sehr nachdrück-
lich – und die Europäische Kommission nicht verlangen,
dass im GATS zumindest die ILO-Kernarbeitsnormen
verankert werden. Bei dieser Frage wünschen wir uns
wirklich die Unterstützung der CDU/CSU.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Bei der FDP haben wir die Hoffnung schon aufgegeben! – Gegenruf der Abg. Ulrike Flach [FDP]: Das hoffe ich!)


Wir müssen – das möchte ich betonen – deutlich ma-
chen, dass sich die EU bei einer Neuordnung der grenz-
überschreitenden Dienstleistungen im GATS das Recht
vorbehalten muss, den Marktzugang im Bereich öffent-
licher Aufgaben einzuschränken. Ich sehe, dass – mit
Ausnahme der FDP – alle Mitglieder dieses Hauses un-
serer Meinung sind. Ferner muss gesichert sein, dass bei
den horizontalen Verpflichtungen das Fortbestehen der
öffentlichen Daseinsvorsorge in den Kommunen und an-
derwärts nicht eingeschränkt oder gefährdet wird.

Zielsetzungen wie die Sicherung einer sauberen Um-
welt, der Gesundheit der Bevölkerung, der Chancen-
gleichheit, des sozialen Zusammenhalts und des Erhalts
der traditionellen kulturellen Werte sind zentrale Fragen
unserer Gesellschaft und können nicht im Vorbeigehen
über ein internationales Abkommen mit einem neuen
Rahmen oder neuen Einschränkungen der künftigen poli-
tischen Gestaltungsfreiheit versehen werden. Wir sind
schließlich Gesetzgeber und nicht politische Notare für
Vorhaben, die auf einer anderen Ebene, in internationalen
Abkommen, beschlossen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich deswegen zum Abschluss eines anmer-
ken: Die Europäische Union führt derzeit mit der europä-
ischen Dienstleistungsrichtlinie ein kühnes und weltweit
einmaliges Unternehmen durch: qualifiziert, systematisch,
verbunden mit dem Aufbau eines europäischen Binnen-
marktes für Dienstleistungen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501916100

Frau Kollegin, jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss

kommen.


Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD):
Rede ID: ID1501916200

Wir sollten versuchen, die einzelnen Schritte dieses

Unternehmens sorgfältig zu erarbeiten und sie auf das
GATS zu übertragen. Das wäre lohnend und sicherlich
besser als eine Übereilung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501916300

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1501916400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese

Debatte freut mich deshalb, weil ich mich über jede De-
batte zur WTO freue. Denn ich bin der Meinung, dass sich
das Parlament häufiger und frühzeitiger mit diesen Fragen
befassen muss, als wir es tun


(Beifall bei der CDU/CSU)



(A)



(B)



(C)



(D)


1534


(A)



(B)



(C)



(D)






und – das muss ich hinzufügen – auch tun können, weil
die Prozedur nun einmal bekanntermaßen wie folgt ab-
läuft: abgestuft Richtung Brüssel und dann multilateral.

Bei dieser Debatte beschleicht mich noch ein Verdacht,
den die Redebeiträge der Regierungskoalition bestärkt
haben, nämlich dass es bei dem vorliegenden Antrag im
Wesentlichen darum geht, „gutes Wetter“ gegenüber der
von Venro, Attac und dem DGB gestarteten Kampagne zu
machen.


(Ulla Burchardt [SPD]: Gehört die HRK auch dazu, Herr Fritz?)


Das kann man durchaus tun. In der Kampagne werden For-
derungen formuliert und der WTO wird vorgeworfen, dass
mit dem GATS die Privatisierung der öffentlichen Wasser-
versorgung oder der Hochschulausbildung vorangetrieben
werden soll und dass in den Bereichen Bildung, Gesund-
heit, Umwelt und Wasser unmittelbar bevorstehe, öffentli-
che Monopole durch private Monopole zu ersetzen.


(René Röspel [SPD]: Das ist nicht ausgeschlossen!)


Wenn Sie diese Argumente in Ihrer Rede wiederholen,
Frau Burchardt, wie Sie es eingangs getan haben


(Ulla Burchardt [SPD]: Das habe ich ja nicht, Herr Fritz!)


– natürlich haben Sie das eingangs so dargestellt –, müs-
sen Sie auch im weiteren Verlauf Ihrer Rede festhalten,
dass sie nicht zutreffen. Ich meine, dass wir uns sachlich
damit auseinander setzen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Zuhören!)


– Das habe ich getan. Das hat mich ja veranlasst, das zu
erwähnen.

Die von zahlreichen Kritikern im Lager der Nichtregie-
rungsorganisationen angestellte Vermutung, dass mithilfe
von GATS die nationale Gesetzgebung der Parlamente
ausgehebelt wird, trifft nicht zu. Denn entgegen den Be-
fürchtungen der NGOs hat die EU die Daseinsvorsorge
nicht in die GATS-Verhandlungen mit aufgenommen.
Vielmehr wird in den EU-Forderungen ausdrücklich klar-
gestellt, dass sie weder auf eine Beeinträchtigung von
Dienstleistungen der Daseinsvorsorge noch auf Privati-
sierung zielen. Es gibt nur eine Ausnahme, und zwar die
an die USA gerichtete Forderung nach privat finanzierten
Dienstleistungen der höheren Bildung. Ansonsten sind
Bildungsdienstleistungen von den EU-Forderungen nicht
umfasst, genauso wenig wie Gesundheits- und soziale
Dienstleistungen, Kultur und audiovisuelle Dienstleistun-
gen.

Zwar gibt es Forderungen an die EU, aber sie muss ih-
nen schließlich nicht nachkommen. Vielmehr kann sie
nach eigenen Vorstellungen prüfen, worauf sie eingeht.
Dabei gibt es, soweit ich sehe, keine großen Diskrepanzen
zwischen der Bundesregierung und dem Parlament.

Auch die Sorge vieler NGOs, die EU gelange bei den
laufenden Dienstleistungsverhandlungen unter Druck,
ihre bisherigen horizontalen Ausnahmen aufzugeben oder
einzuschränken, ist unbegründet.

Die bei der Europäischen Union eingegangenen For-
derungen in dem zur Rede stehenden Bereich richten sich
nicht in erster Linie an Deutschland, sondern an diejeni-
gen, die die von der Europäischen Union im Bereich der
Dienstleistungen bereits gefassten Liberalisierungsbe-
schlüsse nicht umsetzen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Richtig! Das ist das Problem!)


Das ist das Entscheidende. Deshalb sind die Befürchtun-
gen in Deutschland überhaupt nicht gerechtfertigt. Im Ge-
genteil, wir dürfen bei dieser Diskussion nicht vergessen,
welche Chancen bei Dienstleistungen für deutsche Unter-
nehmen bestehen. Hier müssen wir uns an das durchgän-
gige WTO-Prinzip halten: Wenn wir uns dazu entschlie-
ßen, bestimmte Bereiche in Deutschland oder in der
Europäischen Union privat zu organisieren, dann müssen
für diese Bereiche gleiche Bedingungen für alle gelten.
Nichtdiskriminierung bedeutet, alle gleich zu behandeln,
ob Inländer oder Ausländer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, nichts deutet darauf hin, dass

Deutschland nach dieser Runde der Dienstleistungsver-
handlungen bei der Sicherung der Qualitätsstandards etwas
aufgeben müsste. Deshalb tun wir alle gut daran, in unse-
ren öffentlichen Diskussionen und Darstellungen deutlich
zu machen, dass es sehr wohl darum geht, genau zu prüfen,
wo es Chancen für die private Erbringung von Dienstleis-
tungen gibt, und dass es überhaupt keinen Grund für Ängs-
te gibt, hier stünden dramatische Veränderungen bevor.

Wir sollten diese Debatte nicht vorbeigehen lassen,
ohne Wert darauf zu legen, dass die Bundesregierung all
das, was sie in den nächsten Wochen mit Blick auf die
GATS-Verhandlungen tut, auch gegenüber Parlament und
Bevölkerung transparent macht. Deshalb wiederhole ich
an dieser Stelle den Vorschlag, den ich am Montag im Be-
richterstattergespräch gemacht habe: Wenn die Europä-
ische Union, die hinsichtlich der GATS-Verhandlungen
bisher nur die Anforderungen an sie selbst kennt, aber
noch nicht beschlossen hat, was sie ihrerseits verlangt,
Ende Februar ihre Forderungen beschlossen haben wird
und die Bundesregierung ihren Beitrag dazu geleistet ha-
ben wird, dann sollte die Bundesregierung in diesem
Hause sofort eine Regierungserklärung abgeben und dem
Parlament Gelegenheit geben, zu den dann feststehenden
Vorstellungen Stellung zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das wäre ein wesentlicher Beitrag zu der Transparenz,

die nicht nur das Parlament verlangen kann, sondern die
auch die Öffentlichkeit mit Recht erwartet. Nichts wäre
bei diesen Verhandlungen schlimmer, als würden Vermu-
tungen ins Kraut schießen, irgendjemand hecke mit fins-
terer Absicht in dunklen Sälen etwas aus, was in Wirk-
lichkeit gegen die Bevölkerung gerichtet sei.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501916500

Ich danke auch. – Ich schließe damit die Aussprache.

Erich G. Fritz




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/224 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Vierzehntes Hauptgutachten derMonopolkom-
mission 2000/2001
– Drucksachen 14/9903, 14/9904 (Anlagenband)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeord-
nete Hubertus Heil.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1501916600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundes-

wirtschaftsminister Clement hat gestern beim Jahresemp-
fang des BDI deutlich gemacht, was wir in diesem Jahr
vorhaben. 2003 wird das Jahr der nachhaltigen Wirt-
schaftsreformen in Deutschland. Unser Ziel ist klar: Wir
wollen trotz der schwierigen weltwirtschaftlichen Rah-
menbedingungen unseren Beitrag zu mehr wirtschaftli-
cher Dynamik und zu einem beschäftigungswirksameren
Wachstum in Deutschland leisten.

Das Vierzehnte Hauptgutachten der Monopolkommis-
sion gibt uns Gelegenheit, heute einen Blick auf die aktu-
elle Wettbewerbspolitik zu werfen. Ich möchte anhand
von drei Schwerpunkten, die wir uns in der Wettbewerbs-
politik für dieses Jahr gesetzt haben, verdeutlichen, wie
wir den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem
Wachstum und Wettbewerbspolitik sehen.

Unser erster Schwerpunkt: Wir werden das deutsche
Kartellrecht modernisieren. Wir sind uns dabei der Tatsa-
che bewusst, dass das deutsche GWB so etwas wie das
Grundgesetz unserer Marktwirtschaft ist, das wir fortent-
wickeln müssen. Wir wollen das deutsche Kartellrecht
erstens entbürokratisieren, zweitens dezentralisieren und
drittens vor allen Dingen europatauglich und europakom-
patibel machen.

Unser zweiter Schwerpunkt: Wir werden den einge-
schlagenen Weg zur Auflösung früherer Monopole hin
zu funktionierendem Wettbewerb konsequent und mit Au-
genmaß fortsetzen.


(Gudrun Kopp [FDP]: Fangen Sie an!)

Dies gilt vor allem für die netzgebundenen Bereiche in
den Sektoren Strom, Gas, Schiene und Telekommunika-
tion. Hier gilt es, im Prozess der Liberalisierung dafür zu
sorgen, dass sich durch geeignete Formen der Regulie-

rung Wettbewerb entfalten kann. In diesen netzgebunde-
nen Bereichen ist es dabei besonders wichtig, für einen
diskriminierungsfreien Netzzugang zu sorgen und/oder
dort, wo dies möglich und sinnvoll erscheint, den Aufbau
einer alternativen Infrastruktur zu unterstützen. Uns ist
bewusst, dass jeder dieser Exmonopolsektoren aufgrund
seiner spezifischen Bedingungen beim Prozess hin zu
funktionierendem Wettbewerb seine ihm angemessene
Form der Regulierung benötigt. Das ist ganz unabhängig
davon – lassen Sie mich das deutlich sagen –, ob das
Ganze auf Basis wirtschaftlicher Selbstregulierung wie
bei der Verbändevereinbarung im Energiebereich oder
mittels einer Regulierungsbehörde wie im Telekommuni-
kationsbereich organisiert wird. Es geht in jedem Fall
nicht um Regulierungen, die gegen den Markt gerichtet
sind, sondern um Regulierungen für einen begrenzten
Zeitraum, damit funktionierende Märkte entstehen kön-
nen.

Mit diesem Ansatz waren und sind wir auf dem richti-
gen Weg, gar keine Frage. Heute müssen wir uns allerdings
fragen, was wir erreicht haben und in welchen Bereichen
noch Handlungsbedarf besteht. Die Monopolkommission
hat in ihrem Vierzehnten Hauptgutachten festgestellt, dass
weitere Schritte zu einem noch intensiveren Wettbewerb
notwendig seien. Lassen Sie mich aufgrund der knappen
Zeit an dieser Stelle lediglich auf den Telekommunika-
tionssektor zu sprechen kommen. In diesem Bereich sind
wir mit dem Telekommunikationsgesetz seit 1998 weit
gekommen. Trotzdem besteht weiterhin großer Hand-
lungsbedarf. Dieser leitet sich nicht nur aus den Vorgaben
aus Brüssel ab. Das Telekommunikationsgesetz, das sich
grundsätzlich durchaus bewährt hat, muss und wird auch
fortentwickelt werden. Dafür werden wir in diesem Jahr
mit der großen TKG-Reform sorgen.

Ich möchte im Folgenden einige Elemente nennen, die
wir in diesem Zusammenhang als wichtig erachten:

Erstens. Wir werden selbstverständlich die europä-
ischen Vorgaben in diesem Bereich umsetzen. Wir werden
uns darauf aber nicht beschränken, sondern unseren Spiel-
raum für unsere eigenen Wettbewerbsvorstellungen nut-
zen.

Zweitens. Wir werden den vorhandenen Rechtsrahmen
verbessern. Dazu gehört auch, dass wir überflüssige Re-
gulierungen abbauen.

Drittens. Wir werden einen Ordnungsrahmen ent-
wickeln, der die Entfaltung neuer und innovativer Kom-
munikationstechnologien fördert.

Viertens. Dort, wo Regulierung im Telekommunika-
tionsbereich nach wie vor notwendig ist, darf sie auf kei-
nen Fall zu früh zurückgeführt werden. Im Gegenteil: Wir
werden vor allem dafür sorgen, dass sie wirksamer wird.
Es geht darum, die Effektivität der Regulierung zu ver-
bessern sowie die Verwaltungs- und Gerichtswege so
stark wie möglich zu straffen.

Ich möchte Ihnen den dritten wettbewerbspolitischen
Schwerpunkt nennen, den wir noch in diesem Jahr auf den
Weg bringen und in dem wir für Dynamik sorgen werden:
den Abbau wettbewerbsbehindernder Regulierungen,
also die Beseitigung von Regulierungen, die gegen den


(A)



(B)



(C)



(D)


1536


(A)



(B)



(C)



(D)






Markt gerichtet sind. Hiermit haben wir bereits im ver-
gangenen Jahr mit der Abschaffung des Rabattgesetzes
und der Zugabeverordnung begonnen. Wir werden diesen
Weg in Bezug auf Sonderverkaufsveranstaltungen fort-
setzen. Noch in diesem Jahr werden wir dafür sorgen, dass
§ 7 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, der
im Moment Sonderverkaufsveranstaltungen verbietet
– wir haben das ja bei der Diskussion über C &Aerlebt –,
komplett gestrichen wird. Wir werden zukünftig in die-
sem Bereich stärker auf den mündigen Verbraucher set-
zen. Die Monopolkommission unterstützt uns dabei. We-
der befürchtet sie, dass der Handel die Preise in diesem
Fall künstlich hochsetzen wird, noch verstoßen nach Auf-
fassung der Monopolkommission diese Maßnahmen des
Preiswettbewerbs gegen die guten Sitten.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir brauchen mehr
Wettbewerb in Deutschland, weil Wettbewerb der effizi-
enteste wirtschaftliche Mechanismus ist. Vernünftig ent-
wickelt, steigert er die Wohlfahrt und dient dem Gemein-
wohl. Wettbewerb ist für uns Sozialdemokraten – das
unterscheidet uns vielleicht von einigen in diesem Haus –
jedoch kein Selbstzweck, sondern ein notwendiges und
vernünftiges Mittel, Verbraucherinteressen zu vertreten
und Wachstum zu entfalten. Zugleich gilt: Ebenso wie es
in bestimmten Bereichen einleuchtende Gründe für mehr
Wettbewerb gibt, so tragen wir auch die soziale Verant-
wortung, gewisse Bereiche vom totalen Wettbewerb aus-
zunehmen. Das folgt aus dem Sozialstaatsgebot unseres
Grundgesetzes. Bei der solidarischen Absicherung der
großen Lebensrisiken setzen wir im Gegensatz zur FDP
und zu Teilen der CDU nicht auf den totalen Markt. Wir
unterstützen den Bundespräsidenten, wenn er formuliert:
Wir wollen soziale Marktwirtschaft. Was wir nicht wol-
len, ist eine Marktgesellschaft, in der jeder von allem den
Preis, aber von nichts mehr den Wert kennt.

Allerdings werden wir uns innerhalb der sozialen und
solidarischen Sicherungssysteme verstärkt auch wettbe-
werblicher Elemente bedienen. Es gilt, dadurch für mehr
Effizienz zu sorgen, um damit einen Beitrag zur Begren-
zung der Lohnnebenkosten zu leisten. So brauchen wir
beispielsweise im Gesundheitswesen nicht nur den Wett-
bewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, son-
dern auch mehr Wettbewerb zwischen den Anbietern me-
dizinischer Leistungen. Ich finde es ganz interessant,
dass die Opposition zu diesem Bereich immer relativ we-
nig sagt. Das mag etwas mit Klientelinteressen zu tun ha-
ben.


(Gudrun Kopp [FDP]: Das ist totale Marktwirtschaft!)


Funktionierender Wettbewerb ist eine gemeinsame
Aufgabe, die von allen getragen werden muss – nicht nur
vom Staat. Soziale Marktwirtschaft heißt immer auch
Eigenverantwortung und Mitverantwortung, übrigens
auch der Unternehmen. Das beinhaltet die Pflicht zur An-
strengung und nicht die Flucht in Räume der Protektion.
Wenn jeder nur seine eigenen Pfründe sichert, werden wir
in Deutschland in diesem Bereich in jedem Fall nicht vor-
ankommen.

Wir werden in diesem Jahr – ich habe es mit den drei
Punkten angedeutet –vorankommen, sowohl bei der Mo-

dernisierung des GWB als auch bei den in den letzten Jah-
ren angestoßenen Liberalisierungsprozessen als auch
dort, wo es darum geht, gegen Regulierungen anzugehen,
die gegen den Markt gerichtet sind. Wir werden für mehr
Wettbewerb sorgen – mit Augenmaß und Vernunft. Ich bin
mir sicher, dass wir damit einen wichtigen Beitrag zur Er-
neuerung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland
leisten werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501916700

Das Wort hat jetzt der Kollege Schauerte.


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1501916800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Wir diskutieren heute den Monopolbericht.
Zu dem habe ich von Ihnen, Herr Heil, kein einziges Wort
gehört.


(Hubertus Heil [SPD]: Da haben Sie nicht zugehört, Herr Kollege!)


Sie haben darüber gesprochen, was Sie tun wollen, aber
zum Thema selbst haben Sie nichts gesagt. Ich kann das
auch verstehen; denn dieser Monopolbericht ist heftig.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Eine Ohrfeige!)

Er legt den Finger in die Wunde und zieht eine sehr nega-
tive Bilanz zur Lage des Wettbewerbs und zur Konzen-
tration bzw. zur Monopolbildung in der deutschen Wirt-
schaft. In dieser Deutlichkeit habe ich das noch bei
keinem Monopolbericht gesehen.


(Jörg Tauss [SPD]: Oh!)

Ich will das an einem Zitat verdeutlichen. Es geht um

die Konzentration. Darüber wissen wir immer noch zu
wenig. Die statistischen Daten sind nicht da. Die Mitar-
beit ist nicht geregelt. Die Stellen, die das erfassen sollen,
sind nicht bereitgestellt worden. Seit zwei Jahren warten
wir auf das, was das Gesetz vorsieht und vorschreibt. Wir
wissen jetzt nur, dass 450 000 Unternehmen von der Kon-
zentration im weitesten Sinne betroffen sind. Das sind
15 Prozent. Das ist nicht sehr viel, aber gemessen an der
Bruttowertschöpfung der deutschen Volkswirtschaft sind
es 30 bis 40 Prozent.

Dazu darf ich Ihnen jetzt ein Zitat vorhalten:
In der Gesamtschau

– so die Monopolkommission –
ist im Berichtszeitraum hinsichtlich der verschiede-
nen untersuchten Größenmerkmale ein weiterer An-
stieg der Konzentration zu verzeichnen.

Schon das ist nicht gut. Aber jetzt kommt noch der Grund
dafür, dass das schlecht ist:

Lediglich die Anzahl der von den betrachteten Groß-
unternehmen zur Verfügung gestellten Arbeitsplätze

Hubertus Heil




Hartmut Schauerte

hat sich im Vergleich zum gesamtwirtschaftlichen
Trend unterproportional entwickelt.

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Siehe da! – Gudrun Kopp [FDP]: Das ist doch kein Wunder!)


Das ist bittere Ironie. Oder wie soll man das sonst be-
schreiben?

Wir wissen es. Die Monopolkommission schreibt es.
Der Konzentrationsprozess ist für die Arbeitsplätze
schädlich. Sie haben zu diesem Prozess kein einziges
Wort gesagt. Er ist nicht nur wettbewerbsrechtlich und
ordnungspolitisch schädlich, sondern er wirkt sich auch
hinsichtlich der Erreichung unseres Hauptziels, Arbeits-
plätze zu schaffen, absolut negativ aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist vornehm und zurückhaltend, doch auch deutlich
formuliert.

Tendenziell rückläufig sind hingegen
– da kommt noch ein anderer Gesichtspunkt ins Spiel –

die personellen Verflechtungen sowie die Beteili-
gungsverflechtungen unter den „100 Größten“. Dies
ist jedoch weniger auf Entflechtungsvorgänge als auf
Fusionen ... der „100 Größten“ ... zurückzuführen.


(Heiterkeit der Abg. Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch das ist voller Ironie. Es geht da um „Machtwirt-
schaft“ und nicht um Marktwirtschaft. Es geht da um eine
Verschiebung der Gewichte, die zulasten von Arbeits-
platzpotenzialen geht. Das ist ein Vorgang, der uns große
Sorgen bereiten muss.

Durch den ganzen Bericht zieht sich wie ein roter Fa-
den die kritische Frage: Sind wir im Hinblick auf die Ziele
„mehr Wettbewerb“, „weniger Konzentration“ und „Ab-
bau von Monopolen“ weitergekommen? Die Antwort lau-
tet: Nein, wir haben in den letzten Jahren Rückschritte ge-
macht.

Wirtschaftsminister Müller war ein Monopolminister.
Übrigens, es ist erstaunlich, wie wenig man noch von ihm
spricht.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Wer war das noch einmal?)


Ich kenne ihn gar nicht mehr.

(Hubertus Heil [SPD]: Das ist Ihr Problem!)


Er ist im Nebel der Großkonzerne der Ruhrschiene ver-
schwunden. Er ist nicht mehr zu sehen.

Wo sind wir denn in der Bedrouille? – Ich nenne die
Liberalisierung der Energiemärkte. Es ist doch ein
Jammer, was wir da erleben. Die Konzentration nimmt zu,
die „Machtwirtschaft“ explodiert und die Verbraucher
zahlen hohe Zechen. Man konnte vor kurzem in einer Zei-
tung lesen, dass ein Vorstand eines großen Energieunter-
nehmens – ohne sich bewusst zu sein, was er da sagt – er-
klärte, man sei zu Beginn dieses Jahres – obwohl der
Gewinn gegenüber dem Vorjahr schon um etwa 50 Pro-

zent gestiegen war – wieder in der Lage, die Preise deut-
lich zu erhöhen, weil der Wettbewerbsdruck nachlasse.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Der wusste schon, was er sagt!)


Das muss man sich einmal vorstellen: Aufgrund der
Politik nimmt der Wettbewerbsdruck ab. Als Reaktion
machen die Unternehmen natürlich das, was möglich ist:
Sie erhöhen die Preise. Obwohl diese Unternehmen dies
öffentlich sagen, ist von Ihnen kein Wort dazu zu hören.


(Hubertus Heil [SPD]: Ich habe über Telekommunikation gesprochen!)


Sie sagen: Der gesamte Wettbewerb in Deutschland ist
gut; wir wollen uns noch ein bisschen modernisieren; aber
grundsätzliche Probleme haben wir nicht. Also: Was eine
Verbesserung der Situation auf den Energiemärkten an-
geht – Fehlanzeige.

Die Monopolkommission schreibt, dass die vertikalen
Verflechtungen zunehmen. Die vom Kartellamt festge-
legte Grenze sah bisher so aus: Alle Beteiligungen über
20 Prozent sind kritisch; alle Beteiligungen unter 20 Pro-
zent sind ungefährlich. Die Anzahl der Beteiligungen un-
ter 20 Prozent steigt explosionsartig an. Wer schaut denn
in die Verträge hinein? Wir erleben im Moment eine „Ver-
machtung“ der Energiemärkte, die unerträglich ist. Nichts
davon können Sie bestreiten, nichts davon können Sie er-
klären und nichts davon wollen Sie ändern.

Was ist bei der Telekommunikation passiert? – Man
macht eine Regulierungspolitik im Interesse des Großak-
tionärs, aber keine Regulierungspolitik im Interesse der
Unternehmen,


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Und schon gar nicht im Sinne der Kunden!)


die sich – das wollten wir so – in die Telekommunikati-
onsmärkte hineinbegeben haben. Diese Unternehmen
sterben im Moment reihenweise. Sie haben dazu kein ein-
ziges Wort gesagt. Von einer wirklichen Verbesserung der
Wettbewerbslage sind wir weit entfernt.

Was machen wir im Hinblick auf die Fusion von Eon
und Ruhrgas? Ich darf an diese ganz unglückliche Ge-
schichte erinnern. Einem Unternehmen mit einem Markt-
anteil von 60 Prozent bescheinigt man zu Beginn der De-
batte über die Liberalisierung des Gasmarktes, es sei zu
klein. Deswegen hilft man ihm mit einer Ministererlaub-
nis und das verkündet man ihm schon zu einem Zeitpunkt,
zu dem die Auswirkungen seines Vorhabens vom Kartell-
amt noch nicht einmal überprüft worden sind.

Ich bin dankbar dafür, dass wir Gerichte haben, die ei-
nen solchen Vorgang nicht durchgehen lassen. Das war
Machtpolitik pur, ohne jedes ernsthafte Bemühen, Markt
herzustellen. Das ist unerträglich, wen immer es betrifft.
Ich vermute, die Sache wird scheitern. Ich hoffe, man fin-
det dann neue Ansätze, um positive Dinge, die mit diesem
Vorhaben verbunden sind, organisieren zu können.

Die Wirtschaftspolitik, die Sie zu vertreten haben, hin-
terlässt eigentlich nur Verletzte auf dem Schlachtfeld: Der
Markt hat verloren, die beteiligten Unternehmen haben
verloren,


(A)



(B)



(C)



(D)


1538


(A)



(B)



(C)



(D)







(Ludwig Stiegler [SPD]: Die CDU hat verloren!)


Zeit ging verloren, Geld wurde verbraten – nichts ist in
diesem Bereich gelungen. Was Erfolge angeht, nichts als
Fehlanzeige.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Um einen weiteren Punkt der Energiepolitik anzuspre-

chen, über den wir noch einmal nachdenken und reden müs-
sen, möchte ich auf die Verbändevereinbarungen zu spre-
chen kommen. Verbändevereinbarungen dürfen nicht zu
rechtsfreien Räumen führen. Auch Verbändevereinbarun-
gen müssen mit dem Kartellrecht und mit Wettbewerbsre-
geln in Einklang stehen. Das ist durch die von Ihnen gutge-
heißene Verbändevereinbarung nicht mehr gesichert. Es gibt
rechtsfreie Räume. Sie kennen die ärgerliche Reaktion des
Kartellamts auf das, was da passiert. Das Kartellamt hat in
dieser Frage genauso Recht wie bei der Beurteilung des Eon-
Ruhrgas-Vorgangs. Sie werden es erleben.

Ich sage Ihnen: Wenn die Verbändevereinbarung so et-
was wie ein Selbstbedienungsladen der Beteiligten wird,
die ohne Rücksicht auf Außenstehende und ohne Rück-
sicht auf die Verbraucher nur ihr Eigeninteresse intelligent
verfolgen können, und zwar möglichst unauffällig, dann
hat man etwas falsch verstanden. Wenn in diese Verbän-
devereinbarungen nicht Verantwortung für eine wirkliche
Marktöffnung hineinkommt, dann werden wir die Politik
der Verbändevereinbarungen nicht fortsetzen können. Das
ist bedauerlich. Ich möchte eigentlich an der Politik der
Verbändevereinbarungen festhalten, weil es immer besser
ist, wenn sich die Beteiligten selber organisieren, als wenn
der Staat eingreift. So, wie es läuft, mit den negativen Er-
gebnissen, die es zeitigt, mit den Verzögerungen und den
Behinderungen beim Netzzugang, kann es nicht weiter-
gehen. Entweder bekommen wir eine Verbändevereinba-
rung, die wirklich zur Marktöffnung beiträgt, oder auch
wir in der CDU müssen unsere Position überdenken und
sagen – andere werden das dann auch tun –: Wir müssen
es einer Regulierungsbehörde übertragen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das können Sie nicht weiter auf die lange Bank schieben.
Die Dinge sind nun wirklich reif. Das, was die Koalitions-
regierung in der Moderation der Verbändevereinbarung
geleistet hat, war ein Trauerspiel.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Ich komme zum Schluss: Es steht schlecht um den

Wettbewerb und gut um Monopole in unserem Land. Hel-
fen wir mit, auch in den anstehenden Haushaltsberatun-
gen, dass die Behörden, die wir dafür eingerichtet haben,
nämlich das Kartellamt und die Monopolkommission, so
ausgestattet werden, dass sie ihre Wächterfunktion wirk-
sam wahrnehmen können. Es gibt genug zu tun. Ich habe
mich gewundert, dass Ihnen dazu nichts eingefallen ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501916900

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501917000

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-

ren! Die Monopolkommission hat aus meiner Sicht ein
sehr interessantes Gutachten mit sehr vielfältigen Anre-
gungen vorgelegt. Dafür möchte ich der Monopolkommis-
sion ganz ausdrücklich von dieser Stelle aus Dank sagen.

Angesichts der Kürze der Redezeit muss ich mich auf
den Hauptteil beschränken. Da geht es um die Einführung
und die Stärkung von funktionierendem Wettbewerb in
den ehemaligen Monopolmärkten Post, Telekommunika-
tion, Strom, Gas und auch Bahn.

Bezüglich des Postbereiches wird kritisiert, dass wir
nur mit Trippelschritten vorankommen. Ich teile diese
Auffassung. Das hat auch mit der EU zu tun. Dass aber
das Porto in Deutschland erst auf Druck der EU-Kom-
mission gesenkt wurde, ist schon kritikwürdig; diesen
Schuh müssen wir uns anziehen.


(Gudrun Kopp [FDP]: Traurig!)

Besser sieht es im Bereich der Telekommunikation

aus. Die Monopolkommission sagt ausdrücklich, dass der
Wettbewerb hier in weiten Teilen funktioniert. Zugleich
warnt sie davor – über diesen Punkt müssen wir, Hubertus
Heil, nachdenken –, jetzt schon bei der anstehenden
großen Novelle des Telekommunikationsrechts Regulie-
rungen zurückzunehmen. Die These ist, dass die Markt-
teilnehmer eine gewisse Stetigkeit des regulativen Rah-
mens brauchen und sich auch erst einmal eine verlässliche
Rechtspraxis entwickeln muss. Deswegen sollte man die
Regulierungen in diesem Bereich noch nicht zurück-
schrauben. Zugleich wird ja auch zugestanden, dass in be-
stimmten Bereichen tatsächlich eine Wettbewerbssitua-
tion hergestellt wurde. Ich finde, wir sollten das mit
bedenken, wenn wir an die große Novelle herangehen.

Ganz problematisch sieht die Monopolkommission die
Bereiche Energie und Bahn. Zuerst zum Energiesektor:
Die Kritik am Energiewirtschaftsgesetz, das wir jetzt auf
den Weg gebracht haben, kann man relativieren, weil die
Verrechtlichung der Verbändevereinbarung auf 2003 be-
fristet ist, aber der Sofortvollzug des Kartellamtes, der
hier ausdrücklich gelobt wird, in dieser neuen Novelle
ohne Fristsetzung festgeschrieben wurde. Unterm Strich
ist das also wirklich ein Fortschritt.

Allerdings muss man die Kritik an der Ministererlaub-
nis schon deswegen ernst nehmen, weil sie sich in der Pra-
xis tatsächlich als Problem herausstellt. In dem Verfahren,
das jetzt bezüglich des bekannten Fusionsvorhabens an-
hängig ist, wird genau dieser Punkt aufgegriffen, dass
Minister Müller die Verantwortung nicht auf Staatssekre-
tär Tacke hätte übertragen dürfen, sondern sie auf Finanz-
minister Eichel hätte übertragen müssen. Das ist ein
Grund, warum diese Fusion jetzt hängt. Ich persönlich
bin, wie Sie wissen, kein Freund dieser Fusion. Man muss
aber sehr bedauern, dass für RAG, Ruhrgas und Degussa
dadurch eine sehr problematische Situation entstanden
ist: Sie hängen nämlich völlig handlungsunfähig zwi-
schen Baum und Borke, und das seit Monaten.

Ich glaube, dass diese Situation entscheidend dadurch
verursacht wurde, dass Eon ungeheuer arrogant auf die
Ministererlaubnis gesetzt hat und das Kartellamt, aber

Hartmut Schauerte




Michaele Hustedt
auch die Monopolkommission damit vor den Kopf ge-
stoßen hat.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Die Monopolkommission warnt in dem Gutachten

deutlich vor Konzentrationsprozessen in diesem Bereich.
Hinter der Aufkaufpraxis der Stadtwerke – schon eine Be-
teiligung von unter 20 Prozent wird als problematisch an-
gesehen – vermutet die Monopolkommission eine Strate-
gie der großen Verbundunternehmen, um Wettbewerber
abzuschrecken, wodurch wir im Energiebereich im End-
effekt bei einem Duopol landen werden. Dass so kein
Wettbewerb entsteht, ist klar. Wir müssen diese Entwick-
lung sehr aufmerksam betrachten. Wir brauchen eigen-
ständige, aktive, selbstständige, unabhängige Stadtwerke
im Markt.

Ganz spannend wird das Gutachten an dem Punkt, an
dem die Monopolkommission selbst ihre Meinung ändert:
beim Thema Regulierung. Die Monopolkommission
meint, dass sie früher sehr wohl für den verhandelten
Netzzugang gewesen sei, dass sie aber im Lichte der Er-
fahrung, ob sich unter diesen Bedingungen Wettbewerb
entwickelt, ihre Position ändern müsse. Das gilt für
Strom, Gas und die Bahn. Sie sagt, eine gemeinsame Re-
gulierungsbehörde für alle Bereiche würde die Kosten für
die Regulierung durch die Synergieeffekte senken, auch
im Telekommunikationsbereich, und dadurch gleichzeitig
ein gutes Maß an Branchendistanz schaffen, also einen
unabhängigen Regulierer. Das wäre aus Sicht der Mono-
polkommission neuerdings das richtige Instrument.

Bei der Bahn schlägt sie allerdings – das ist eine alte
grüne Forderung – als besseres Instrument die Trennung
von Netz und Betrieb vor.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir das noch wollen, drängt jedoch die Zeit – auch
darauf weist die Monopolkommission hin –; denn nach
der Privatisierung ist uns dieser Weg versperrt. Das muss
vor dem Börsengang der Bahn, der ja ansteht, geschehen.
Hier müssen wir schnell zu einer Entscheidung kommen.

Die Monopolkommission bemängelt, dass die Netz-
nutzungsentgelte im Strom- und Gasbereich noch immer
zu hoch seien und die Konkurrenten beim Netzzugang be-
hindert würden. – Das Kartellamt hat gestern auf der
„Handelsblatt“-Tagung, bei der wir vertreten waren, sehr
deutlich bestätigt, dass es diese Problematik sieht. – Sie
sagt, bei Verbändevereinbarungen bestehe das Problem,
dass sich die Verbände, die gemeinsam am Tisch sitzen,
häufig zulasten Dritter einigten. Am Tisch sitzen nicht die
mittelständische Industrie, die neuen, unabhängigen An-
bieter und die Verbraucher, sodass die Einigung zu deren
Lasten geht.

Deswegen meint die Monopolkommission – das finde
ich interessant und das müssen sich vor allen Dingen die
FDP und die CDU/CSU mit ihrem teilweise ideologi-
schen Marktbild hinter die Ohren schreiben –:

Insofern führt die vielfach verwendete Gegensatzbil-
dung zwischen Liberalisierung und Regulierung in
diesem Zusammenhang in die Irre!

Diese Position teile ich. Regulierung kann unter Umstän-
den erst zu einem funktionierenden Wettbewerb führen.

Wir sollten in der nächsten Zeit sehr aufmerksam ver-
folgen, was die neuen Verbändevereinbarungen brin-
gen. Wenn sie nicht deutliche – ich betone: deutliche –
Fortschritte bringen und wenn nicht zu erwarten ist, dass
der rückläufige Wettbewerb wieder dynamischer wird –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501917100

Denken Sie bitte an die Zeit.


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501917200

– ich bin beim letzten Satz –, dann müssen wir die Ar-

gumente der Monopolkommission sehr ernst nehmen und
eine neue Debatte darüber beginnen, ob wir für diese Be-
reiche nicht doch eine Regulierungsbehörde brauchen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501917300

Das Wort hat die Abgeordnete Gudrun Kopp.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1501917400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! In

der Tat: Dieses Hauptgutachten der Monopolkommission
macht uns alle sehr nachdenklich. Es ist ein Werk, das wir
im Ausschuss sicher sehr detailliert diskutieren müssen;
denn es gibt eine große Ansammlung von Kritikpunkten.

Ich nenne zum Beispiel – das hat niemand meiner Vor-
redner erwähnt, aber das ist ein sehr wichtiger Punkt – den
Beitrag der Monopolkommission zum Thema Tariftreue-
gesetz. Auch hier erhält Rot-Grün eine schallende Ohr-
feige.


(Beifall bei der FDP)

Weiterhin nenne ich das Gesetz gegen den unlauteren

Wettbewerb. Ich finde es schlimm, dass Äußerungen von
Ministern dieser Regierung am Standort Deutschland
wiederum für Verwirrung sorgen. Ich sage Ihnen gleich,
warum ich dieser Meinung bin.

Bundesjustizministerin Zypries hat vor wenigen Tagen
verkündet, es werde in aller Kürze einen Gesetzentwurf zur
Änderung des UWG geben – das betrifft die §§7 und 8 –,
damit Sonderverkäufe und Rabattaktionen künftig zuge-
lassen werden können. Heute nimmt Verbraucherschutz-
ministerin Künast zu diesem von ihr entdeckten angebli-
chen Preisdumping Stellung und verkündet, sie werde
dafür sorgen, dass es künftig wieder mehr Beschränkun-
gen und weniger Freiheit geben werde. Das ist ein Dissens
innerhalb des Kabinetts. Dieses Signal finde ich verhee-
rend.


(Beifall bei der FDP)

Sie sollten sich dringend einmal intern darüber verständi-
gen, was Sie nun wirklich wollen.


(A)



(B)



(C)



(D)


1540


(A)



(B)



(C)



(D)






Ich bringe noch ein Beispiel: Das Gutachten der Mo-
nopolkommission sagt, dass wir einen sehr großen Bedarf
an Förderung von Wettbewerb – das ist von meinen Kol-
legen mehrfach gesagt worden – bei Post und Telekom-
munikation haben. Aber auch bei der Abfall- und Wasser-
wirtschaft sind Deregulierung und Privatisierung dringend
erforderlich. Ich unterstütze ausdrücklich – das hat auch
die Kollegin Hustedt eben gesagt – die von der FDP seit
langem geforderte Trennung von Netz und Betrieb bei
der Bahn AG . Es ist in der Tat dringend erforderlich, in
diesem Bereich weiterzukommen. Wir sehen doch, was
bei der Bahn passiert: Transparenz beim Preis- und Tarif-
system und die Servicebereitschaft nehmen doch immer
weiter ab. Die Kundenfreundlichkeit ist beschämend ge-
ring. Das beste Rezept dagegen ist die Schaffung von
mehr Wettbewerb.


(Beifall bei der FDP)

Ein Thema ist in diesem Zusammenhang auch die Li-

beralisierung der Energiemärkte. Ich gehe einmal auf
die Energierechtsnovelle von 1998 ein. Es war die frühere
Bundesregierung unter Beteiligung der FDP, die die Vo-
raussetzungen zur Liberalisierung und Deregulierung der
deutschen Energiemärkte geschaffen hat. Wir haben da-
mit erstmals Monopolmärkte geknackt und im Gegenzug
Monopolrenditen abgeschafft. Wir waren nicht rundum
erfolgreich. Aber es war ein erster wichtiger Schritt in
diese Richtung.

Für die Verbraucher und insbesondere für die Wirt-
schaft als Sondertarifkunden hatte sich eine Kostenredu-
zierung von 7,5 Milliarden Euro ergeben. Das war ein her-
vorragender Erfolg. Inzwischen ist durch die zunehmende
Reregulierung durch das EEG und das KWK-Gesetz, von
Rot-Grün initiiert, dieser Milliardenvorteil schon fast
wieder verfrühstückt. Das ist sehr traurig.


(Beifall bei der FDP)

Ich komme zu dem wirklich spannenden Punkt

Verbändevereinbarungen Strom I und II sowie Verbän-
devereinbarung Gas. Es ist eben gesagt worden, wir
bräuchten eine Regulierungsbehörde. Wir als FDP-Bun-
destagsfraktion sind ausdrücklich nicht dieser Meinung.
Wir setzen hier nicht auf staatliche Regulierung.


(Beifall bei der FDP)

Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von SPD

und Bündnis 90/Die Grünen einen zweiten Dissens zwi-
schen ihnen und einem Minister darstellen. Bundeswirt-
schaftsminister Clement hat vorgestern bei der „Handels-
blatt“-Tagung ausdrücklich gesagt, dass auch er sich
gegen eine Regulierungsbehörde in dem Bereich aus-
spricht. Vielleicht sollten Sie sich darüber einmal austau-
schen. Er hat ferner gesagt, er ziehe eine freiwillige Ver-
bändevereinbarung vor.

Wir wollen – das ist der Knackpunkt, Frau Kollegin
Hustedt – die freiwillige Verbändevereinbarung mit einer
Stärkung des Kartellamts koppeln. Das heißt, dort muss
es mehr Personal geben. Dieses Personal muss in der Lage
sein, den Mangel an Wettbewerb zu beseitigen. Wenn Sie
diese Kombination ins Auge fassen, kommen Sie sehr
schnell zu dem Schluss, dass die freiwillige Vereinbarung
plus Kontrolle durch das Kartellamt ausreichen. Auf diese

Weise kann mehr Wettbewerb auf dem Markt geschaffen
werden. Unter dem Strich können wir dann sagen, dass
eine weitere Deregulierung und Liberalisierung zu mehr
Wettbewerb und damit zu mehr Chancen für Wirtschaft
und Verbraucher in unserem Land führen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501917500

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär

Ditmar Staffelt.

D
Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1501917600


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin in einer etwas schwierigen Situation vor
dem Hintergrund der Tatsache, dass die Bundesregierung
ihre Stellungnahme zum 14. Hauptgutachten der Mono-
polkommission, wie angekündigt, erst im April/Mai vor-
legen wird. Das heißt, ich sehe mich außerstande, zu den
einzelnen hier aufgeworfenen Fragen im Detail die Posi-
tion der Bundesregierung wiederzugeben.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Da sind Sie in guter Tradition!)


In einigen sehr sachlichen Beiträgen ist freundlicherweise
darauf hingewiesen worden, dass dieses Gutachten, für
das wir der Monopolkommission ausdrücklich danken,
sehr differenziert und sehr breit angelegt ist. Ich denke,
die Monopolkommission hat es verdient, dass die Bun-
desregierung dieses Gutachten wirklich durcharbeitet und
erst danach eine umfassende Stellungnahme abgibt und
ihre Position dazu vorträgt. Darüber werden wir dann im
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und gegebenenfalls
auch hier im Plenum noch einmal gesondert diskutieren
müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, eines steht sicherlich fest:
Da, wo wir weniger Staat benötigen, werden wir auf staat-
liche Regelungen verzichten. Der Kurs der Bundesregie-
rung ist auf den Abbau von Bürokratie angelegt. Im
Übrigen möchte ich feststellen, weil einige ja immer be-
haupten, das sei alles nur an einer ganz bestimmten poli-
tischen Stelle gewachsen, dass Bürokratie über die letzten
Jahrzehnte überall im Lande fröhlich gewachsen ist, im
Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten dieser Re-
publik. Wir sind gehalten, sie in einer gemeinschaftlichen
Anstrengung überall, wo nur irgend möglich, abzubauen.

Wir brauchen also einen leistungsfähigen Ordnungs-
rahmen für alle Wirtschaftssektoren. Wir brauchen die
Offenheit für funktionierenden Wettbewerb. Das ist der
Ansatz der Bundesregierung. Ein solcher Ordnungsrah-
men hat überragende Bedeutung für die Unternehmen und
für die Verbraucher. Nur ein solcher Ordnungsrahmen ga-
rantiert am Ende Wettbewerbsfähigkeit und damit auch
Sicherheit für Arbeitsplätze in Deutschland. Ein solcher
Ordnungsrahmen ist die Voraussetzung für eine funktio-
nierende soziale Marktwirtschaft.

Gudrun Kopp




Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt

Ich sage hier ganz ausdrücklich: Aus der Sicht der
Bundesregierung heißt das nicht blinde Privatisierung. Es
heißt nicht die Verehrung des Wettbewerbs an sich. Es
geht nicht um den Abbau von staatlichem Schutz, wo er
erforderlich ist, sei es zugunsten der Umwelt, sei es zu-
gunsten der Arbeitnehmer eines einzelnen Betriebes, und
nicht um die Auslieferung der Schwachen an die Starken.
Im Gegenteil, funktionierender Wettbewerb ist das natür-
liche Instrument zur Begrenzung privater Macht. Wo
Wettbewerb nicht funktionieren kann, bedarf es selbst-
verständlich intelligenter, flexibler staatlicher Rahmenbe-
dingungen.

Die Bundesregierung hat in der vergangenen Wahlpe-
riode auf diesem Felde einiges vorzuweisen. Auf das
Energiewirtschaftsgesetz, das wir erneut eingebracht ha-
ben, wurde bereits hingewiesen. In diesem Sinne werden
wir das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen,
das Grundgesetz der Marktwirtschaft, reformieren. Das
GWB diente zahlreichen ausländischen Staaten und dem
EWG-Vertrag als Vorbild. Heute müssen wir es dem un-
längst reformierten Kartellverfahrensrecht der Europä-
ischen Union anpassen und das werden wir tun.

Kartelle sind nach EU-Wettbewerbsrecht jetzt kraft
Gesetzes und ohne eine behördliche Entscheidung er-
laubt, wenn ein Freistellungstatbestand erfüllt ist. Für die
Unternehmen bedeutet dies mehr Verantwortung, auf der
anderen Seite aber auch mehr Freiheit. Sie müssen selbst
sicherstellen, dass ihre Kooperationen kartellrechtskon-
form sind.

Nach Auffassung der Bundesregierung ist es gerade im
Interesse der deutschen mittelständischen Wirtschaft er-
forderlich, auch das GWB im Sinne des europäischen Mo-
dells zukunftsfähig zu machen. Noch in diesem Jahr
– Sie haben zu Recht darauf verwiesen – wird ein ent-
sprechender Referentenentwurf vorgelegt werden.

Eine umfassende Reform ist auch im Recht des un-
lauteren Wettbewerbs geplant. Der Kollege Heil hat auf
das Dilemma des Falles C &A, das vor einigen Monaten
aktuell war, hingewiesen. Die Bundesregierung wird im
Lauterkeitsrecht noch wesentlich mehr tun. Sie setzt sich
auf europäischer Ebene für eine Harmonisierung dieses
Rechtsgebietes ein und erfüllt damit eine langjährige For-
derung dieses Parlaments.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das wird ja eine ganz kurzfristige Maßnahme sein!)


Ziel ist ein europäisches Lauterkeitsrecht, das sowohl die
Interessen der Unternehmen als auch die Interessen der
Verbraucher zu schützen in der Lage ist. Erfolg werden
wir aber nur haben, wenn wir unser UWG insgesamt so
reformieren, dass wir mit ihm in Europa für unsere Vor-
stellungen werben können. Dieser Gesetzentwurf wird
noch in diesem Monat vorgelegt werden.

Lassen Sie mich noch ein Beispiel anführen: das Te-
lekommunikationsgesetz.Wir werden natürlich die ent-
sprechenden EU-Richtlinien umsetzen und sind in un-
serer Politik zu folgenden Leitsätzen verpflichtet: zur
Optimierung und Konkretisierung des vorhandenen
Rechtsrahmens, zur Rückführung überflüssiger Regulie-
rung und zur Optimierung der im Telekommunikations-

gesetz definierten Rahmenbedingungen dergestalt, dass
sie der Entwicklung von Zukunftstechnologien Raum ge-
ben.

Hauptziel bleibt die Herstellung und Gewährleistung
eines funktionierenden Wettbewerbs auf den Telekommu-
nikationsmärkten. Ich will hier ganz ausdrücklich fest-
stellen, dass ich den Beschreibungen, die hier zum Teil im
Hinblick auf die Telekommunikationsmärkte abgegeben
worden sind, in keiner Form folgen kann.


(Beifall bei der SPD)

Die Regulierungsbehörde hat gemeinsam mit der Bundes-
regierung sehr viel dafür getan, dass in diesem Lande zahl-
reiche kleine Unternehmen auf den Feldern der Telekom-
munikation eine Chance erhalten haben und sich als
Wettbewerber der großen Telekom entpuppt haben. Ver-
gessen Sie das bitte nicht! Die Gründe dafür, dass Tele-
kommunikationsunternehmen heute in eine Schieflage ge-
raten sind, liegen nicht in der bestehenden Ordnungspolitik.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Na ja, darüber können wir streiten!)


– Wir sind hier im Parlament, um gediegen und gepflegt
miteinander zu streiten und den bestmöglichen Lösungen
zum Durchbruch zu verhelfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, diese Tour d’Horizon zeigt:

Wir haben in der Wettbewerbspolitik auch in dieser Wahl-
periode einiges vor. Ich möchte an dieser Stelle sagen,
dass ich, auch was die Energiepolitik betrifft, ganz d’ac-
cord mit der Auffassung bin, sich nicht auf Regulierungs-
behörden zu konzentrieren.


(Gudrun Kopp [FDP]: Sehr gut!)

An einer Stelle bin ich ganz entschieden anderer Auf-

fassung als die Monopolkommission, und zwar, wenn sie
vorschlägt, über das ganze Land hinweg in allen leitungs-
gebundenen Bereichen mit Regulierungsbehörden zu
arbeiten. Nein, wir wollen ausdrücklich auch die Verant-
wortung der Unternehmen abrufen. Nur dann, wenn sich
herausstellen sollte, dass solche Unternehmen offensicht-
lich nicht bereit sind, diese Verantwortung zu überneh-
men, würden wir mit einer Regulierungsbehörde arbeiten.


(Gudrun Kopp [FDP]: Sehr vernünftig!)

Ich finde, dass auch dies ein Teil politischen Handelns ist,
das sich sehr wohl und sehr gut in ein marktwirtschaft-
liches Gefüge einbinden lässt, dem wir uns als Bundes-
regierung ganz ausdrücklich verpflichtet fühlen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sehen sehr wohl – lassen Sie mich das als letzten
Gedanken sagen –, dass wir alle auf der Hut sein müssen,
um Konzentrationen dort, wo sie den Markt und den Wett-
bewerb beschädigen, zu vermeiden. – Im Übrigen müssen
Sie, Herr Schauerte, zugeben: Die Meinungen in Ihrer
Fraktion zu den von Ihnen angesprochenen Themen wa-
ren sehr unterschiedlich und sehr breit gefächert. – Wir se-
hen aber auch, dass wir einer europäischen Herausfor-
derung gegenüberstehen, die bestimmte Fusionen und


(A)



(B)



(C)



(D)


1542


(A)



(B)



(C)



(D)






Unternehmenskonzentrationen zur Grundlage für weite-
res wirtschaftliches Bestehen am Markt macht. Dies ist
ein Spannungsfeld, mit dem wir uns auseinander setzen
müssen. Ich glaube, wir sind uns in Folgendem einig:
Diese Auseinandersetzung muss sich am Interesse der
Unternehmen, also an der Marktfähigkeit und an der
Wettbewerbsfähigkeit, daneben aber immer auch am Ver-
braucher orientieren.

In diesem Sinne bedanke ich mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501917700

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1501917800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Viel Richtungweisendes wurde von den Vorrednern schon
gesagt. Am meisten konnte ich den von Kollegen
Schauerte und Frau Kollegin Kopp hier vorgetragenen
Ausführungen abgewinnen. Sie haben nämlich den Kern
der Sache getroffen,


(Hubertus Heil [SPD]: Die haben das richtige Parteibuch!)


was ich in Bezug auf die anderen nicht hinsichtlich aller
angesprochenen Bereiche sagen kann.

Wir behandeln heute das 744 Seiten starke 14. Haupt-
gutachten der Monopolkommission 2000/2001. Als wich-
tigste Erkenntnis aus diesem Monopolgutachten stelle ich
fest, dass die Monopolkommission der Bundesregierung
zu Recht ins Stammbuch geschrieben hat: Die Konzen-
trationsprozesse nehmen in allen Branchen zu. Die Gro-
ßen werden immer größer und die Kleinen, also Mittel-
stand und Handwerk, verschwinden nach und nach.
Konkursverwalter haben Hochkonjunktur. Für das, was
hier zu Recht festgestellt wurde, gab die EU-Kommission
der Bundesregierung eine schallende Ohrfeige. Deutliche
Mängel bei der Wirtschaftspolitik, so lautet das vernich-
tende Urteil, Herr Kollege Stiegler.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bedaure sehr, dass Sie heute nicht sprechen konnten,
aber Ihre Genossen werden schon wissen, warum Sie
heute nicht nochmals reden dürfen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Das Statistische Bundesamt hat bekannt gegeben, dass

das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal 2002 völ-
lig zum Erliegen gekommen ist. Im gesamten Jahr ist die
Wirtschaft nur um 0,2 Prozent gewachsen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: In welcher Veranstaltung bist du eigentlich?)


Das ist der niedrigste Wert seit 1993, also seit zehn Jah-
ren, verehrter Kollege Stiegler.

Dass dieses geringe Wachstum nicht noch schlechter
ist, liegt ausschließlich daran, dass der Export noch mit
1,5 Prozent Zuwachs läuft; die Binnenkonjunktur liegt im

Argen. Diese Zahlen sind ein Schlag ins Gesicht der Bun-
desregierung, die seit Jahr und Tag durch die Lande zieht
und den Bürgern den Bären aufbinden will, unsere
schwierige Lage sei rein weltwirtschaftlich bedingt.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Hast du wirklich die richtige Rede dabei?)


– Herr Kollege Stiegler, Ihnen empfehle ich, einmal ge-
nau aufzupassen, um Zusammenhänge zu kapieren, sie
dann auch global herüberzubringen und mit fundierten
Zahlen Rede und Antwort stehen zu können. Anderenfalls
muss ich Sie genauso falscher Zahlen bezichtigen, wie ich
das bei meiner letzten Rede vor drei Wochen bei der Ein-
bringung des Haushalts bereits tun musste.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt immer, Ernst!)


Meine Damen und Herren, es ist nicht von der Hand zu
weisen, dass die wichtigste Ursache für die Wachstums-
schwäche eine falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozial-
politik ist. Sie hat zu diesem katastrophalen Ergebnis ge-
führt, dass wir zurzeit vier Millionen Arbeitslose zu
verzeichnen haben.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Frau Präsidentin, haben wir eine Tagesordnung?)


Die SPD und die Grünen, die sich im Würgegriff der
Gewerkschaften befinden, hatten leider nur die großen
Unternehmen im Blick. Die so genannte Jahrhundertsteu-
erreform von Hans Eichel hat die Großen noch reicher ge-
macht und dem Mittelstand alle Lasten aufgebürdet. Ich
verweise auch hier auf das Monopolgutachten. Darin
kann man nämlich lesen, dass die hundert größten Unter-
nehmen in Deutschland im Jahr 2000 eine Wertschöpfung
von 274 Milliarden Euro aufweisen; das ist gegenüber
1998 eine Steigerung von 11,58 Prozent.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ist das die letzte Rede aus der Zeit des Wahlkampfs?)


Die Wertschöpfung aller Unternehmen erhöhte sich dage-
gen nur um 4,19 Prozent. Der Anteil der hundert größten
Unternehmen an der Wertschöpfung aller Unternehmen in
der Bundesrepublik Deutschland überschritt somit erst-
mals ein Fünftel und lag bei 20,01 Prozent. 1998 waren es
noch 18,6 Prozent. Wenn solche Zahlen nicht zur Beun-
ruhigung Anlass geben, dann weiß ich es wirklich nicht.
Wir sollten uns der Sache wegen mit diesem Monopol-
gutachten intensiv auseinander setzen und die notwen-
digen Schlüsse ziehen.

Niemand will die Großunternehmen, die für den Stand-
ort Deutschland unverzichtbar sind, benachteiligen. Der
Staat darf deren Wachstum aber nicht auf Kosten des Mit-
telstandes beschleunigen; denn sonst lässt sich die Ar-
beitslosigkeit nicht abbauen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501917900

Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Heil?


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1501918000

Ja, selbstverständlich. Bitte schön.

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt






Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1501918100

Herr Kollege Hinsken, meine Frage geht in folgende

Richtung: Wenn ich es richtig sehe, werfen Sie uns vor,
wir nähmen das Monopolgutachten nicht ernst. Wir haben
vorhin deutlich gemacht, dass wir es in vielen Bereichen
sehr ernst nehmen. Aber geben Sie mir Recht, dass man
nicht immer alles genauso sehen muss wie die Monopol-
kommission? Wenn das nämlich so wäre, dann müssten
Sie, die Sie das 13. Gutachten gelesen haben, beispiels-
weise die Liberalisierung der Handwerksordnung
fordern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wol-
len.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1501918200

Ich komme auf die Handwerksordnung selbstverständ-

lich noch zu sprechen. Das habe ich mir fest vorgenom-
men. Es muss Ihnen aber zu denken geben, wenn im Mo-
nopolgutachten steht, dass die Bundesregierung eine
Politik nur für die großen und nicht für die kleinen und die
mittleren Betriebe gemacht hat. Lesen Sie das einmal ge-
nau nach!

Ich darf bei dieser Gelegenheit darauf verweisen, dass
nur über eine Förderung des Mittelstandes und der klei-
nen Betriebe Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Es kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass
allein von 1980 bis 2000 hier in der Bundesrepublik
Deutschland über 1 Million Stellen in der Großwirtschaft
abgebaut wurden, während im Mittelstand über 2,9 Mil-
lionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Das
steht auch im Gutachten.


(Klaus Brandner [SPD]: Wer hat denn während dieser Zeit fast ausschließlich regiert?)


Deshalb meine ich sagen zu müssen, dass hier vieles ge-
tan werden muss.

Frau Präsidentin, der Kollege hat mich gefragt. Nun
setzt er sich nieder und Sie lassen einfach die Uhr weiter
laufen. Da kann ich doch keine Frage mehr zulassen.


(Hubertus Heil [SPD]: Als Sie geantwortet haben, habe ich gestanden!)


– Ich bin noch dabei, die Frage zu beantworten.

(Klaus Brandner [SPD]: Das sehe ich anders!)


Ich bitte um Verständnis dafür.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Vielleicht sagst du auch noch den Wetterbericht!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501918300

Lieber Herr Kollege, ich habe die Frage als beantwor-

tet angesehen, der Kollege auch. Es ist vielleicht auch im
Interesse aller, heute Abend einmal die Redezeiten einzu-
halten. Wir sind schon weit über eine Stunde über die ge-
plante Zeit hinaus. Ich bitte um Verständnis.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1501918400

Ich gehe davon aus, dass viele Kolleginnen und Kolle-

gen, die heute Abend hier sitzen, das Monopolgutachten

nicht einmal quer gelesen haben. Zu denen gehört sicher-
lich auch der Kollege Stiegler.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Du hast es ausweislich deiner Rede noch nicht einmal gesehen!)


Ansonsten hätte er zur Kenntnis nehmen müssen, dass die
100 größten Unternehmen im Jahr 2000 circa 3,8 Mil-
lionen Mitarbeiter beschäftigt haben, wobei es zwei Jahre
vorher noch 40 000 mehr waren. Das Hauptgutachten
weist auch aus, dass die nach Beschäftigen zehn größten
Unternehmen im Jahr 2000 die folgenden waren: Deut-
sche Post mit 270 000, Deutsche Bahn mit 220 000, Daim-
ler-Chrysler mit 202 000, Siemens mit 180 000, Deutsche
Telekom mit 179 000, Volkswagen mit 164 000, Metro mit
114 000, RWE mit 109 000, Thyssen-Krupp mit 107 000
und Karstadt-Quelle mit 104 000 Beschäftigten. Das sind
1,65 Millionen Arbeitsplätze.

Meine Damen und Herren, Ihnen ist ins Stammbuch zu
schreiben: Wenn der Bundeskanzler oder führende Leute
Ihrer Regierung nur rennen, wenn Firmen wie Holzmann,
Babcock oder Mobilcom in Schwierigkeiten kommen,
dann ist das falsche Politik. Man muss auch den Inhaber
eines kleinen oder mittleren Betriebes mit seinen Sorgen
und Nöten sehen und ihn in die Lage versetzen, weiterhin
existieren zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Alte Wahlkampfreden!)


Wenn die 5 000 Großunternehmen in der Bundesrepu-
blik Deutschland jeweils 100 Arbeitsplätze neu schaffen,
dann steht das in jeder Zeitung, wie sie auch heißt. Wenn
aber von den 3 Millionen Kleinunternehmern, die wir ha-
ben, nur die Hälfte in die Lage versetzt werden würde, je-
weils einen einzigen Arbeitsplatz zu schaffen, dann ergä-
ben sich nicht, wie im Beispiel mit den Großunternehmen,
500 000 zusätzliche Arbeitsplätze, sondern 1,5 Millionen
neue Arbeitsplätze.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Bist du dir sicher, dass du richtig gerechnet hast?)


Darum meine ich, dass es nötig ist, gerade denen beson-
ders das Wort zu reden. Ich darf deshalb nochmals darauf
verweisen, dass es meines Erachtens ein Irrweg ist, wenn die
Monopolkommission – jetzt komme ich zu Ihrer Frage – ei-
ner Abschaffung des großen Befähigungsnachweises im
Handwerk das Wort redet. So kommen wir wirtschaftlich
gesehen in Deutschland nicht voran.

Wenn Sie von Rot-Grün meinen, durch die Abschaf-
fung des Meisterbriefes zu Mehrbeschäftigung zu kom-
men, dann irren Sie sich.


(Hubertus Heil [SPD]: Das will doch niemand!)


– Aber sicher. Lesen Sie einmal die Koalitionsvereinba-
rung durch! –


(Hubertus Heil [SPD]: Nein, nein! Da steht nichts von Abschaffung!)


Beschäftigung entsteht nur, wenn die Rahmenbedingun-
gen bei Steuern und Abgaben, wenn Aufträge und Inves-


(A)



(B)



(C)



(D)


1544


(A)



(B)



(C)



(D)






titionen für die Unternehmen stimmen, und nicht, wenn
der Meisterbrief wegfällt.


(Hubertus Heil [SPD]: Sonst wollen Sie alles regulieren!)


Ein Wegfall des Meisterbriefes führt zu Qualitäts-
einbußen und zu einem erheblichen Nachlassen der Aus-
bildungsleistung. Daran kann doch nun wirklich niemand
Interesse haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Da rennen Sie bei uns offene Türen ein!)


Darum möchte ich das, was in diesem Monopolgut-
achten steht, zurückweisen. Fortentwicklung der Hand-
werksordnung? – Ja. Modernisieren? – Ebenfalls ja. Eine
derartige Behandlung des Ganzen aber bedeutete, das
Kind mit dem Bade auszuschütten. Das wäre ein völlig
falscher Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb meine ich, dass es gilt, alles zu tun und die
Grundlage dafür zu schaffen – ob das die Eigenkapital-
ausstattung ist, ob das die Betriebsnachfolge ist oder ob
das verschiedene andere Dinge sind, die auf den Nägeln
brennen –, dass, wie es in diesem Monopolgutachten
angemahnt wird, eine bessere Aussage bezüglich der
Erwartungshaltung an die Zukunft gemacht werden
kann.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501918500

Herr Kollege, das war ein schöner Schlusssatz.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1501918600

Ja. – Wir ziehen die notwendigen Schlüsse aus diesem

Monopolgutachten. Wir nehmen uns das, was wir für rich-
tig empfinden, auch gerne zu Herzen und sind bereit, dies
in die parlamentarische Diskussion einzubringen. Wir
hoffen und setzen auf die Vernunft, die anscheinend auf
der linken Seite dieses Hauses leider noch nicht vorhan-
den ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [SPD]: Amen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501918700

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell

wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache
14/9903 und 14/9904 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuss)

gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung

Hier: TA-Projekt: Tourismus in Großschutz-
gebieten – Wechselwirkungen und Ko-
operationsmöglichkeiten zwischen Na-
turschutz und regionalem Tourismus –

– Drucksache 14/9952 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1501918800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Schön, dass Sie hier sind – wir haben noch einen wichti-
gen Tagesordnungspunkt abzuarbeiten.

Der vorliegende Bericht zum Thema Tourismus in
Großschutzgebieten wurde von der SPD-Fraktion im Tou-
rismusausschuss in der letzen Legislaturperiode auf den
Weg gebracht. Ich bedanke mich bei den Verfassern für
ihre aufschlussreichen Arbeitsergebnisse. Der Bericht
gibt uns nicht nur eine umfassende Sachstandsbeschrei-
bung, sondern zeigt auch konkrete Handlungsstrategien
auf.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Dimension, über
die wir hier reden, uns allen eigentlich deutlich ist. Oder
wussten Sie, dass die deutschen Großschutzgebiete – das
sind Nationalparke, Naturparke und Biosphärenreservate –
zusammen eine Fläche von fast 9 Millionen Hektar und
damit etwa ein Viertel der Gesamtfläche der Bundesrepu-
blik einnehmen? Das hohe Ansehen der Großschutzge-
biete in der deutschen Öffentlichkeit bildet eine gute
Grundlage für die sensible Erschließung durch den Tou-
rismus. Laut einer Befragung des WWF halten 95 Prozent
der Bevölkerung die Einrichtung von Schutzgebieten für
wichtig, 70 Prozent sprechen sich sogar für eine Auswei-
tung der geschützten Fläche aus. Im Reiseverhalten
schlägt sich das positive Image ebenfalls nieder: 72 Pro-
zent der Bundesbürger legen bei der Wahl ihres Ur-
laubszieles wert auf konsequenten Naturschutz in der
Zielregion.

Folgerichtig haben sich die erschlossenen Schutzge-
biete inzwischen zu Publikumsmagneten entwickelt.
Bereits Mitte der 90er-Jahre fanden, wenn man den Städ-
tetourismus ausklammert, rund 80 Prozent aller Über-
nachtungen in Deutschland in oder am Rande dieser Ge-
biete statt. Millionen von Menschen strömen jedes Jahr in
die Parke und Reservate. So verzeichnete der Nationalpark
Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer – darüber bin ich
als Schleswig-Holsteinerin besonders glücklich – Ende
der 90er-Jahre mehr als 15 Millionen Übernachtungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ernst Hinsken




Gabriele Hiller-Ohm
Die beiden Nationalparke des Harzes wurden von über
20 Millionen Tagesgästen besucht. Mehr als die Hälfte der
Verantwortlichen der Schutzgebiete gaben an, dass der
Übernachtungstourismus bei ihnen von großer Wichtig-
keit sei. Vom Tagesausflugsverkehr sagten das sogar
85 Prozent.

Eine Erkenntnis ist inzwischen unumstritten: Der Tou-
rismus profitiert von der Attraktivität einer intakten Na-
turlandschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb sollten die touristisch bislang noch nicht in dem
Maße erschlossenen Großschutzgebiete als wirtschaftli-
che Chance begriffen und natürlich auch genutzt werden.

Wie müssen unsere Strategien zur Förderung des
Tourismus aussehen? – Was wir brauchen, sind Strate-
gien, die tragfähig und zukunftsweisend sind; denn Na-
turschutz und Tourismus sind zwei Komponenten, die aus
sich heraus nicht leicht miteinander in Einklang zu brin-
gen sind.

In der Vergangenheit wurden durch einseitige Gewich-
tung schwerste Fehler begangen. Wirtschaftliche Interes-
sen rangierten ganz klar vor Naturschutzbelangen. Durch
den Massentourismus des aufblühenden Wirtschaftswun-
derlandes Deutschland und seiner europäischen Nachbarn
wurden nicht nur in den südlichen Ländern Europas, son-
dern auch hier bei uns in Deutschland katastrophale Fehl-
entscheidungen getroffen, die zur Folge hatten, dass Na-
turräume rücksichtslos und unwiederbringlich zerstört
wurden. Wir müssen nicht erst an die Küsten Italiens oder
Spaniens fahren – ich denke auch an die Ferieninsel Mal-
lorca –, um die Auswirkungen zu sehen. Bei uns in
Deutschland wurden ganze Hänge des damals westdeut-
schen Harzes und der Alpen dem Massentourismus geop-
fert. Auch an Nord- und Ostsee stößt man auf Sünden ei-
nes einseitig ausgelegten Tourismusverständnisses.

Zum Glück haben sich die Einstellungen zum Natur-
schutz und auch das Freizeit- und Urlaubsverhalten der
Menschen in den letzten Jahren verändert. Zwar streben
noch immer viele Menschen Mallorca-Urlaub mit Bal-
lermann-Romantik an, die Zahl der Urlauber, die Erho-
lung in intakter Natur wünschen, wächst jedoch bestän-
dig,


(Beifall bei der SPD)

wie wir am Beispiel der Großschutzgebiete Wattenmeer
und Harz, den Rennern unter den Großschutzgebieten, er-
kennen können. Hier liegt die große Chance, Ökologie
und Ökonomie im Tourismus zusammenzubringen. Was
wir brauchen, meine Damen und Herren, ist ein auf Nach-
haltigkeit ausgerichteter Tourismus, ein Tourismus mit
Konzepten, die Naturräume nicht als störende und profit-
mindernde Drangsal begreifen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die touristische Nutzung von Naturräumen erfordert
grundlegende verkehrspolitische Weichenstellungen.
Denn wie gelangen wir in die Erholungsparadiese? Die
Bewältigung derVerkehrsprobleme, die sich aus touris-

tischen Wachstumsraten in diesen Gebieten ergeben, stel-
len alle Akteure oft vor geradezu unlösbare Probleme.

Wir setzen auf die umweltverträglicheren, auf die öf-
fentlichen Verkehrsträger. Vor allem die Bahn ist gefor-
dert, akzeptable Strategien für Touristen zu erarbeiten, die
zum Beispiel auch dem Fahrradurlauber einen angemes-
senen Platz bieten.


(Beifall bei der SPD)

Der Rückzug der öffentlichen Verkehrsmittel aus den
ländlichen Räumen muss gestoppt werden, damit sich
Tourismus gerade dort entfalten kann.


(Beifall bei der SPD)

Die Chancen für die regionale Wirtschaftsentwicklung,
die sich durch die Großschutzgebieten mit ihrer intakten
Natur bieten, müssen in Deutschland weiter ausgebaut
werden. Dieser Schritt ist vor allem auch aus arbeits-
marktpolitischen Überlegungen unverzichtbar; denn ge-
rade im Dienstleistungsbereich können neue Arbeits-
plätze geschaffen werden, die ländlichen Räumen mit
hohen Arbeitslosenzahlen zugute kommen.

Wir setzen uns dafür ein, dass auch in Zukunft ausrei-
chende Fördermittel zur Schaffung neuer Arbeitsplätze
in die Schutzgebietsregionen fließen. Durch ihren Be-
kanntheitsgrad und ihre Anziehungskraft eröffnen die
Schutzgebiete für Kommunen und Regionen die Mög-
lichkeit, sich im nationalen, aber vor allem auch im inter-
nationalen Wettbewerb als unverwechselbares Reiseziel
zu präsentieren. Schutzgebiete sind keine isolierten In-
seln, sondern immer auch in die Region eingebettet. Da-
mit die umliegenden Gemeinden und die Regionen von
ihren geschützten Arealen stärker als bisher profitieren
können, sind künftig eine verstärkte Vernetzung zwischen
touristischen Angeboten, Marketing und Akteuren in und
außerhalb des jeweiligen Schutzgebietes sowie eine kon-
tinuierliche Beteiligung aller Betroffenen unverzichtbar.

Von großer Bedeutung für den nachhaltigen Tourismus
ist das neue Umweltmarkenzeichen Viabono, das auf
Initiative der SPD-Bundestagsfraktion im Jahre 2001 ein-
geführt wurde. Dafür gilt an dieser Stelle mein Dank.


(Beifall bei der SPD)

Es dient nicht nur der Förderung des umweltfreundlichen
Reisens, sondern auch der Vereinheitlichung des noch
unübersichtlichen Marktes der Ökosiegel. Für die Groß-
schutzgebiete, die die Kriterien des Markenzeichens er-
füllen, wurde auf den Seiten der Deutschen Zentrale für
Tourismus eine gemeinsame Vermarktungsplattform ge-
schaffen. Auch das ist übrigens auf die Initiative der SPD
zurückzuführen.


(Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]: Jetzt sagen Sie noch einmal Danke!)


Es ist unbestreitbar, dass wir in Deutschland wirt-
schaftliches Wachstum brauchen.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt! Da können Sie der SPD aber keinen Dank aussprechen!)


Durch den vorliegenden Bericht wird deutlich, dass die
Potenziale des Tourismus als wichtiger Wirtschaftsfaktor


(A)



(B)



(C)



(D)


1546


(A)



(B)



(C)



(D)






in und um Großschutzgebiete noch lange nicht ausge-
schöpft sind.

Was also ist zu tun?

(Gudrun Kopp [FDP]: Ja! – Jürgen Koppelin [FDP]: Jetzt kommt es!)

Eine bundesweite Vernetzung und gemeinsame Vermark-
tung der Schutzgebiete stärkt ihre Chancen auf dem inter-
nationalen Markt. Wir werden uns deshalb dafür einset-
zen, dass die Netzwerkbildung vorangetrieben wird.


(Beifall bei der SPD)

Die Großschutzgebiete übernehmen eine Vorreiterrolle
für den nachhaltigen Umbau der Reisebranche. Die Er-
fahrungen, die dort gesammelt werden, müssen deshalb
sorgfältig ausgewertet und den Akteuren des Fremden-
verkehrs zur Verfügung gestellt werden.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Ich fürchte, die glaubt das auch noch!)


Naturverträglicher Tourismus schließt eine umweltscho-
nende Verkehrsinfrastruktur ein. Hier sind die SPD-Frak-
tion und die Regierung mit ihrem Bekenntnis zur Ver-
kehrswende auf dem richtigen Weg.


(Beifall bei der SPD)

Rot-Grün steht auch in den kommenden Jahren für

den Umbau hin zu einer Gesellschaft, die den Schutz
unserer Lebensgrundlagen und den Schutz einer sozia-
len Gesellschaft zum Ziel hat. Dieses Ziel werden wir
auch in unserer Tourismuspolitik stets fest im Auge be-
halten.

Übrigens: Nichts spricht dagegen, dass sich auch die
Opposition dieser sinnvollen Zielsetzung anschließt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Das schafft der Ernst nie! – Jürgen Koppelin [FDP]: Furchtbar! Elf Minuten Redezeit können sehr lang sein!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501918900

Ich bekomme gerade signalisiert, dass dies die erste

Rede der Kollegin war. Ist das richtig?

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Nein, ich habe schon eine Rede im Tourismusausschuss gehalten!)


– Das war eine Information aus Ihren Reihen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1501919000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit dem Auftrag zur Erstellung des vorliegenden Berich-
tes haben wir als Tourismusausschuss des Deutschen
Bundestag in der 14. Legislaturperiode ein Thema weiter-
bearbeitet, welches in den nächsten Jahren zunehmend an
Bedeutung gewinnen wird. Der heute diskutierte Bericht
war nicht der erste und – das kann ich Ihnen versichern –

wird auch nicht der letzte sein, der sich mit dem Thema
beschäftigt.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wenn wir wieder dran sind, kommt das öfter!)


Der Nationalparkgedanke ist weit über 100 Jahre alt
und dennoch aktuell und attraktiv wie nie zuvor. In den
USA ins Leben gerufen, gab es auch in Deutschland, wie
in meiner Heimat, dem Elbsandsteingebirge, in den 30er-
Jahren des letzten Jahrhunderts erste Überlegungen, die-
sen einzigartigen Landschaftsraum mit seiner charakteris-
tischen Tier- und Pflanzenwelt zu einem Nationalpark zu
erklären. Leider hat der Zweite Weltkrieg verhindert, dass
dieser Gedanke in die Realität umgesetzt werden konnte.
Nach Ende des Krieges und der Teilung unseres Vaterlan-
des gab es in den 50er-Jahren erneut Bestrebungen, das
Elbsandsteingebirge zum Nationalpark zu erklären. Je-
doch war der Begriff „national“ den SED-Ideologen ein
Dorn im Auge. Deshalb wurde das Projekt „Landschafts-
schutzgebiete in Mitteldeutschland“ initiiert.

Mit der deutschen Einheit kamen dann zu den beste-
henden fünf westdeutschen Nationalparks fünf weitere in
den neuen Bundesländern sowie eine Vielzahl von Natur-
parks und anderen Großschutzgebieten hinzu. Nicht um-
sonst sprach Klaus Töpfer vom Tafelsilber der deutschen
Wiedervereinigung und meinte die Nationalparks, Städte
und Kulturvielfalt im größer gewordenen Deutschland.
Diese Aussage galt vor 13 Jahren und sie hat auch noch
heute ihre Gültigkeit.

Durch die Nationalparks sind wichtige Grundlagen für
die nachhaltige touristische Entwicklung in ganz
Deutschland gelegt worden. Naturerlebnis wird ein im-
mer wichtigeres Reisemotiv und deshalb ist eine ver-
stärkte touristische Nutzung und Vermarktung von Natio-
nalparks eine große Chance für den Tourismusstandort
Deutschland. Das Forschungsinstitut BAT hat vor einiger
Zeit ermittelt, welche Gründe den Urlauber animieren,
eine Reise anzutreten. Und siehe da! Immerhin 71 Pro-
zent – das ist in den Angaben der führende Platz – ver-
weisen auf schöne Landschaften.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der
erste deutsche Nationalpark im Jahre 1970 im Bayeri-
schen Wald vom bayerischen CSU-Ministerpräsidenten
Dr. Alfons Goppel und seinem Landwirtschaftsminister
Dr. Hans Eisenmann und als Folge der zweite im Berch-
tesgadener Land gegründet wurden. Kein Geringerer als
der heutige bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund
Stoiber hat den Mut gehabt, den Nationalpark Bayerischer
Wald – unser Kollege Ernst Hinsken hat dort seinen Wahl-
kreis – gegen den Widerstand vieler lokaler Kritiker
flächenmäßig erheblich zu vergrößern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Der Ernst hat die Wölfe und Uhus dort selber ausgesetzt! – Gegenruf des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dort wird der Kollege Stiegler ausgesetzt!)


– Ich wusste nicht, dass der Kollege Stiegler seinen Wahl-
kreis ebenfalls im Bayerischen Wald hat.

Sie sehen: Umwelt, Natur und Landschaftsschutz wa-
ren bei CDU und CSU schon lange in guten Händen, und

Gabriele Hiller-Ohm




Klaus Brähmig
zwar bevor ideologisch geprägte Umweltdebatten statt-
fanden. Bei uns in Sachsen steht die Staatsregierung zu
ihrem Nationalpark. Allein in diesem Jahr sind 20 Ranger
von der Forstverwaltung für die neuen Aufgaben der Be-
sucherführung, Information und Landschaftspflege frei-
gestellt worden. Mit der richtigen Landesregierung kann
auch der Osten Deutschlands Vorreiter sein.

Ich habe mich ganz besonders gefreut, dass Frau
Staatssekretärin Probst – auch jetzt ist sie anwesend –
persönlich mit mir und vielen anderen im vergangenen
Jahr bei einer Veranstaltung des Nationalparks zugegen
war und dadurch auch ihrem Einsatz für die Bewahrung
des Elbflusslaufes in meiner Heimat, der Sächsischen
und der Böhmischen Schweiz, Nachdruck verliehen hat.
Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedan-
ken.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist eine ganz vernünftige Kollegin! Aber von Ihnen wird nicht einmal geklatscht! – Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])


Das sowohl für den nationalen wie für den internatio-
nalen Markt touristische Vermarktungspotenzial hat auf
Initiative der CDU/CSU-Fraktion nun auch die Deutsche
Zentrale für Tourismus erkannt und bezieht dies in ihre
Publikationen ein. Das ist der richtige Weg. Warum sollen
wir nicht mit Pfunden wuchern, die uns die Natur ge-
schenkt hat? Trotz dieser positiven Entwicklung gibt es
allerdings Defizite, die die Politik in den nächsten Jahren
beherzt angehen muss.

In der Bundesrepublik Deutschland haben wir in der
Zuständigkeit für Nationalparks und Großschutzgebiete
eine Besonderheit. Die Zuständigkeit liegt nicht beim
Bund, sondern bei den Ländern. Damit nehmen wir welt-
weit eine Sonderstellung ein. So hat zum Beispiel unser
Nachbar Österreich trotz seines ebenfalls föderalen Auf-
baus die Dachmarke „Nationalparks Austria“ ins Leben
gerufen, die vom Bund finanziert und zentral beworben
wird. Daran könnten wir anknüpfen. Ich habe ein Exem-
plar der Broschüre mitgebracht.

Ich würde mich freuen, wenn die Kollegen, vor allem
der SPD und der Grünen, unseren Antrag, den wir in einer
der nächsten Sitzungen einbringen werden und in dem es
um die Erhöhung der Mittel für die Deutsche Zentrale für
Tourismus geht, unterstützen würden, damit auch solche
intelligenten Projekte zur Vermarktung des Wirtschafts-
standorts Deutschland gefördert werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der festen

Überzeugung, dass wir zur Stärkung der Nationalparks
eine Nationalparkstiftung gründen sollten, in der sich
Bund, Länder und Parks organisatorisch neu ausrichten.
Eine einheitliche Ausbildung und Ausstattung des Perso-
nals, eine gemeinsame nationale und internationale Ver-
marktung, die Entwicklung eines gemeinsamen touristi-
schen Leitbildes und eine gemeinsam abgestimmte
Investitionsplanung sollten meiner Auffassung nach die
Zukunft des Nationalparkgedankens bestimmen. Dann
können wir den Naturschutzgedanken besser im Bewusst-
sein unserer Bevölkerung verankern und gleichzeitig den

Tourismusstandort Deutschland stärken. Lassen Sie uns
hierfür gemeinsame Anstrengungen unternehmen!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501919100

Jetzt hat eine Abgeordnete zu Ihrer ersten Rede das

Wort, nämlich die Abgeordnete Undine Kurth.

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu dieser zugegebenermaßen etwas späten
Stunde und in einem doch ziemlich intimen Kreis möchte
ich zuerst, auch im Namen meiner Fraktion, den Autoren
dieses Berichts danken, weil sie uns konkrete Aussagen zu
dem liefern, was wir alle, zumindest diejenigen, die sich
intensiver mit diesem Thema befassen, schon lange ver-
mutet haben.

Der Umfang der Nutzung touristischer Angebote im
Zusammenhang mit Großschutzgebieten, also National-
parken, Biosphärenreservaten und Naturparken, ist be-
reits jetzt beachtlich und liefert einen nicht zu unterschät-
zenden Beitrag zum Schutz der Natur auf der einen
Seite, aber auch zur Stärkung des Binnentourismus auf
der anderen Seite. Den Kommunen und Regionen bietet
sich die Chance, sich im Wettbewerb als unverwechsel-
bare Destination für spezifische Zielgruppen attraktiv zu
positionieren und damit Grundlagen für eine solide wirt-
schaftliche Entwicklung zu schaffen.

Wichtig ist uns auch der Aspekt, dass der Tourismus in
Großschutzgebieten eine Alternative zu flächen- und in-
frastrukturintensiven Freizeitnutzungen, zum Beispiel
Freizeitparks, darstellt. Das ist angesichts des fortschrei-
tenden Flächenverbrauchs in unserem Land, den wir alle
zu Recht wahrnehmen und mit Sorge sehen, von nicht zu
unterschätzender Bedeutung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um die genannten positiven Effekte zu erreichen,

müssen Tourismus und Naturschutz allerdings eine Part-
nerschaft eingehen. Die Perspektive einer solchen pro-
duktiven Partnerschaft gründet auf der Möglichkeit so
genannter Win-win-Effekte, um es auf Neudeutsch zu
sagen. Man kann es auch viel simpler ausdrücken: Es
müssen schlicht beide etwas davon haben; der Natur-
schutz auf der einen Seite, die Tourismuswirtschaft auf
der anderen Seite.

Diese Effekte ergeben sich nicht von selbst. Ein Inte-
ressenausgleich kann nur durch sorgfältige Planung, die
Einbeziehung aller Betroffenen und durch flankierende
Maßnahmen erreicht werden.


(Beifall der Abg. Brunhilde Irber [SPD])

Es wird sich aber mit Sicherheit lohnen – davon sind

wir fest überzeugt –, die Praxis eines Zusammenwirkens
von Tourismus, Naturschutz und Regionalentwicklung im
Kontext von Großschutzgebieten als ein sowohl ökolo-


(A)



(B)



(C)



(D)


1548


(A)



(B)



(C)



(D)






gisch als auch ökonomisch attraktives Konzept weiterzu-
verfolgen und auszubauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Brunhilde Irber [SPD])


Die vorliegende TAB-Studie bestärkt uns in dieser Hal-
tung.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Für den Natio-
nalpark Bayerischer Wald hat der von der Kommission in
Brüssel herausgegebene „Euro-Brief“ für Ende der 90er-
Jahre eine tourismusinduzierte wirtschaftliche Wert-
schöpfung von immerhin 4 460 DM je Hektar und Jahr er-
rechnet. Das ist eine beachtliche Zahl, die man manchen
immer wieder vorhalten sollte. Hinter dem Tourismus in
oder mit Großschutzgebieten steht also ein nennenswerter
wirtschaftlicher Wert, und zwar bundesweit wie auch
weltweit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Brunhilde Irber [SPD])


Bedacht werden muss dabei in jedem Fall, dass die
Verbindung zwischen Naturschutz und Tourismus sowohl
durch gegensätzliche als auch durch übereinstimmende
Interessen gekennzeichnet ist. So profitiert der Tourismus
zwar einerseits von der intakten Natur; andererseits kann
er aber durch einen unbedachten Umgang mit dieser in-
takten Natur seine eigenen Grundlagen zerstören.

Leider gilt der Naturschutz – das ist immer noch so und
stellt keine ideologische Sichtweise dar – als vermeint-
liche Bremse für eine touristische Entwicklung; anderer-
seits soll er aber die für den Tourismus so wichtigen in-
takten landschaftsbezogenen Grundlagen sichern. Hier
kann man eigentlich nur von angewandtem Spaltungs-
irresein reden. Man muss in jedem Fall beide Aspekte
gleichzeitig beachten.

Für die Lösung dieser Konflikte ist die Akzeptanz
durch die lokale Bevölkerung wesentlich, die zumeist
von Nutzungseinschränkungen am ehesten und unmittel-
bar betroffen ist. Es gelingt zwar immer besser, Gäste,
Touristen und Ausflügler in die naturgeschützte Region zu
holen. Aber wir müssen wesentlich mehr Anstrengungen
darauf verwenden, bei der Bevölkerung vor Ort Akzep-
tanz zu wecken.


(Beifall der Abg. Brunhilde Irber [SPD] – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Die Kunst besteht also darin, die vor Ort lebenden
Menschen für die Naturschutzidee zu gewinnen. Bei Pla-
nung, Erweiterung und Veränderungen von Naturschutz-
gebieten, die auch zu Veränderungen im unmittelbaren
Umfeld der betroffenen Bevölkerung führen, muss diese
einbezogen, frühzeitig informiert und nach ihrer Meinung
gefragt werden. Ansonsten fühlen sich diese Menschen
wie Besucher. Sie sind dann auf dem gleichen Informati-
onsstand wie Gäste, was verständlicherweise zu Unbeha-
gen führt.

In der Wirtschaft gibt es viele hochinteressante Moni-
toringprogramme, um Vertreter gegensätzlicher Interes-
senlagen miteinander ins Gespräch zu bringen und zwi-
schen ihnen einen Ausgleich herzustellen. Wir sollten sehr
darauf drängen, dass Monitoring auch hier systematisch

eingesetzt wird, damit man dort zu besseren Ergebnissen
kommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aufgeräumt werden muss mit dem Irrglauben, dass
Nationalparke und Biosphärenreservate oder sogar Natur-
parke nur mit Einschränkungen und Verboten verbunden
seien. Bei Beachtung aller Dimensionen des Tourismus in
Großschutzgebieten kann die ganze Region, wie wir alle
wissen, nachweislich von dieser Verbindung profitieren.
Es entstehen neue Wirtschaftszweige, alte Wirtschafts-
zweige werden wiederbelebt. Es gibt viele Effekte, die die
Region voranbringen.

Mit bislang 13 Gebieten – ich hoffe, dass es mehr wer-
den – sind Nationalparke in unserem Land ein knappes
wirtschaftliches Gut. 95 Prozent der deutschen Bevölke-
rung – das wurde vorhin schon erwähnt – halten die Ein-
richtung von National- und Naturparken für richtig.
70 Prozent meinen, es sollten sogar noch mehr Flächen
unter Naturschutz gestellt werden. Das können nicht nur
grüne Wählerinnen und Wähler sein; das muss darüber
hinausgehen. Hier sollten sich in den Ländern noch mehr
parteienübergreifende Bündnisse für die Einrichtung von
Großschutzgebieten bilden. Das ist ein wunderbares An-
gebot für eine gute Zusammenarbeit auf diesem Gebiet,
die in unser aller Interesse liegen muss.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Aber keine schwarzgrünen Koalitionen!)


– Ich sagte, dass wir Naturparke auf den Weg bringen wol-
len.

Es war eine gute Entscheidung, dass auf Initiative mei-
ner Fraktion das TA-Projekt „Tourismus in Großschutz-
gebieten“ beschlossen wurde; denn der vorgelegte End-
bericht zeigt auf, dass die Konflikte zwischen Naturschutz
und Tourismus zum Nutzen für beide Seiten gestaltbar
sind. Wenn wir diese berücksichtigen, werden wir auf die-
sem Gebiet auch zu guten Ergebnissen kommen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501919200

Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer erste Rede in diesem Ho-

hen Haus.

(Beifall)


Seine erste Rede hält jetzt auch der Abgeordnete
Jürgen Klimke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1501919300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-

ben jetzt vieles zu dem Bericht gehört, insbesondere von
Rot-Grün. Meine lieben Kolleginnen, der Worte habe ich
viele gehört, allein mir fehlt der Glaube. Lasst jetzt Taten

Undine Kurth (Quedlinburg)





Jürgen Klimke
folgen! Wir wollen jetzt den Bericht nicht lange prüfen,
wir wollen nicht fordern und nicht appellieren, sondern
wir müssen die Chancen aufgreifen, die uns dieser Bericht
gibt. Es geht darum – das ist hier gesagt worden –, zwei
Komponenten miteinander zu verbinden: wirtschaftliches
Wachstum und Naturbewusstsein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir sollten die Konsequen-

zen rasch ziehen und nicht so lange warten, wie die Er-
stellung des Berichts gedauert hat, nämlich drei Jahre.
Wenn wir rasch Konsequenzen ziehen, werden Sie uns an
Ihrer Seite haben. Schließlich sind wir schon seit langem
an der Seite der Natur: CDU und CSU als Gralshüter der
Natur, als diejenigen, die der Bundesrepublik den grünen
Daumen gebracht haben!


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Wir haben hierfür zwei Beispiele gehört. 1985 wurde
der Nationalpark Wattenmeer von der CDU-Regierung in
Schleswig-Holstein initiiert. Der Nationalpark Bayeri-
scher Wald wurde 1970 ins Leben gerufen. Zu dieser Zeit
wusste die SPD noch nicht einmal, wie man Naturschutz
schreibt. Der Naturbezug der Grünen bestand im Steine-
werfen.


(Brunhilde Irber [SPD]: Aber nicht aus grünen Gedanken heraus!)


Meine Damen und Herren, nachhaltiger Tourismus
wird also schon sehr lange und nicht erst seit Rot-Grün
praktiziert – das muss man noch einmal betonen –,


(Beifall bei der CDU/CSU)

weil wir schon frühzeitig erkannt haben, dass er das not-
wendige Vitamin B für strukturschwache Regionen ist,
um wirtschaftliche Prosperität zu stärken und die regio-
nale Kultur und Identität zu schützen. Es geht also um die
friedliche Koexistenz von Krabbenfischer und Wattwurm,
von Almbauer und Alpenveilchen.

Wir wissen, dass der Bericht – auch das ist schon ge-
sagt worden – das Rad nicht neu erfindet und dass Juist
und Amrum nicht erst seit Rot-Grün autofrei sind. Wir
wissen auch, dass das Konzept des nachhaltigen Touris-
mus inzwischen von Flensburg bis Garmisch und von
Duisburg bis Bitterfeld umgesetzt wird. Wenn aber von
der SPD-Kollegin „Viabono“ sozusagen als ein Parade-
pferd genannt wird, dann kann ich nur warnen. Statt die-
ses zu bejubeln, sollten Sie lieber aufpassen, dass es nicht
floppt. „Viabono“ hatte zum Ziel, bis Mitte dieses Jahres
1 000 Hotels und 100 Gemeinden unter seinem Label zu
vereinen. Wo sind wir jetzt? Gerade bei 10 Prozent! Stren-
gen Sie sich also ein bisschen an, wenn Sie sich mit die-
sem Punkt weiter identifizieren wollen.


(Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])

Wie soll ein Konzept für einen – nennen wir es ruhig

so – Naturtourismus im Jahre 2010 aussehen? Die dop-
pelte Zielsetzung sind die Sicherung des Natur- und Um-
weltschutzes in den ausgewiesenen Gebieten und die
Möglichkeit der regionalen Wertschöpfung durch touris-
tische Nutzung. Die betroffenen Regionen – darauf wird

auch im Bericht hingewiesen – brauchen Umweltma-
nagementsysteme, um den Spagat zwischen Wirtschaft
und Naturschutz zu schaffen. Wir brauchen vor allen Din-
gen einen sanften Urlaubstourismus mit Kultur, Sport und
Bewegung, Urlaub auf dem Bauernhof sowie mit Ange-
boten für Familien, sozial Schwache und die Jugend. Ge-
rade diese Konkretisierung liegt uns am Herzen.

Nachhaltiger Tourismus – das ist ganz wichtig; das darf
ich Ihnen vielleicht noch einmal sagen – muss aus unse-
rer Sicht auch eine soziale Funktion haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Intakte Natur darf nicht ein Gut sein, das sich nur Vermö-
gende leisten können. Natur hat auch eine gesellschaft-
liche Funktion über alle Grenzen hinweg. Das müssen wir
immer wieder deutlich machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie kann die Politik hier helfen? Es gibt sicherlich die
Möglichkeit gesetzlicher Steuerungsmaßnahmen. Es sollte
aber nicht zu viel Dirigismus geben; denn das Miteinan-
der ist hier das Entscheidende. Wir können sicherlich auch
über Steuererleichterungen sprechen; das werden wir im
Ausschuss auch tun. Aber eines ist mir ganz besonders
wichtig: Wir müssen bedenken, dass Naturschutz nicht an
unseren Grenzen Halt macht. Der Nationalpark Watten-
meer erstreckt sich auch über die Grenzen Deutschlands
hinweg nach Dänemark. Die Boddengewässer hören nicht
vor Polen auf und die Alpen, Herr Kollege Hinsken, en-
den nicht an der Zugspitze.

Was will ich damit sagen? Wir müssen versuchen, un-
sere europäischen Nachbarn einzubinden und das Kon-
zept des nachhaltigen Tourismus zu exportieren. Wir soll-
ten darüber hinaus auch versuchen, zumindest diese Idee
in die Entwicklungsländer zu exportieren; denn dort ist
der Tourismus eine dynamische Wachstumsbranche und
ein Wirtschaftsfaktor mit großem Entwicklungspotenzial.
Hier müssen wir, die politisch Verantwortlichen, den Un-
ternehmen und der Reisebranche deutlich machen, dass
eine ungebremste touristische Entwicklung irreversible
Schäden und dauerhaften Verlust von Ökosystemen nach
sich zieht. Wir sollten den Tourismus nicht nur konsumie-
ren, sondern auch versuchen, mit dem Tourismus, wie wir
ihn definieren, etwas zu lehren. Wir müssen national das
vorleben, was wir von anderen einfordern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Albert Schweitzer hat einmal gesagt:
Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der
Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat,
sich selbst zu beherrschen.

Wir sollten zeigen, dass wir dies als Hoffnung und He-
rausforderung und nicht als Risiko begreifen. Mit dem
vorliegenden Bericht haben wir die entsprechenden
Werkzeuge in die Hand bekommen. Nutzen wir sie
gemeinsam!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



(A)



(B)



(C)



(D)


1550


(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501919400

Danke schön. Auch Ihnen herzlichen Glückwunsch zu

Ihrer ersten Rede in diesem Haus.

(Beifall)


Der Abgeordnete Christian Eberl hat darum gebeten,
seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen1). Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind wir damit am
Schluss der Redeliste zu diesem Punkt.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache14/9952 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss)

zu dem Änderungsantrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht
– Drucksachen 15/1, 15/2, 15/178 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Eckart von Klaeden
Ekin Deligöz

Interfraktionell ist eine Aussprache vereinbart worden.
Der Abgeordnete Küster soll für die Darstellung des
Standpunktes aller Fraktionen fünf Minuten Redezeit er-
halten. Die Abgeordnete Lötzsch soll ebenfalls fünf Mi-
nuten Redezeit erhalten. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Uwe Küster.


Dr. Uwe Küster (SPD):
Rede ID: ID1501919500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Die Wählerinnen und Wähler haben am 22. Sep-
tember vergangenen Jahres einen neuen Deutschen Bun-
destag gewählt. Die PDS verfehlte damals die 5-Prozent-
Hürde und konnte auch keine drei Direktmandate in den
Wahlkreisen gewinnen. Die Zweitstimmen der PDS konn-
ten damit gemäß unserem Wahlrecht bei der Konstitu-
ierung des Deutschen Bundestages nicht berücksichtigt
werden.

Die fraktionslosen Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch
schafften als PDS-Direktkandidatinnen in ihren Wahl-
kreisen den Direkteinzug in den Deutschen Bundestag.
Auf Frau Pau kamen gut 53 000 und auf Frau Dr. Lötzsch
rund 57 000 Wählerstimmen.

Die Abgeordneten Pau und Dr. Lötzsch haben eine Än-
derung der Geschäftsordnung beantragt. Ich zitiere:

Mitglieder des Bundestages, die sich zusammen-
schließen, ohne Fraktionsmindeststärke zu erreichen,
sind eine Gruppe.

Aufgrund dieses Änderungsantrags könnten sich zwei
Abgeordnete automatisch zu einer Gruppe zusammen-
schließen. Durch diesen Automatismus würde ein Be-
schluss des Parlaments über seine eigene innere Organi-
sation in dieser Frage unmöglich werden.

Laut erstem PDS-Urteil des Bundesverfassungsge-
richts aus dem Jahr 1991 ist eine Anerkennung als Gruppe
nur zwingend, falls der Zusammenschluss von Abgeord-
neten der gleichen Partei oder einem Wahlbündnis so mit-
gliederstark ist, dass auf ihn unter Berücksichtigung der
Größe der Ausschüsse und des angewandten Berech-
nungsschlüssels, des Zählverfahrens, ein Ausschusssitz
oder mehrere Ausschusssitze entfallen würden. Das dürfte
in der 15., also der jetzigen, Wahlperiode mindestens acht
Mitglieder voraussetzen. Dieses Quorum wird von den
beiden fraktionslosen Abgeordneten deutlich verfehlt.

Insbesondere aus diesem Grund hat der 1. Ausschuss
den Änderungsantrag der beiden Kolleginnen einstimmig
abgelehnt. Alle Fraktionen sind der gemeinsamen Auffas-
sung, dass dem Plenum auch zukünftig die ausdrückliche
Entscheidungskompetenz in dieser Frage vorbehalten
bleiben muss. Nur so kann die Funktionsfähigkeit des
Bundestages als Arbeitsparlament sichergestellt werden.

Nach der geltenden Geschäftsordnung ist auch nur das
Plenum legitimiert, einer neu gebildeten Gruppe be-
stimmte Rechte zuzuerkennen. Das betrifft unter anderem
Art und Umfang an Ausstattung in finanzieller und säch-
licher Hinsicht.

Die Fraktionen lehnen den vorgeschlagenen Automa-
tismus bei der Gruppenbildung ab. Abgeordnete könnten
sonst Zweckbündnisse eingehen, um in einer Gruppe die
ihnen dann zustehenden Rechte zu nutzen. Kleine Grup-
pen könnten die parlamentarische Arbeit unseres Plenums
allerdings deutlich behindern.

Nach der geltenden Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages stehen fraktionslosen Abgeordneten eine be-
ratende Mitwirkung und Rederecht in einem Bundes-
tagsausschuss zu. Darüber hinaus haben sie Zutritts- und
Informationsrecht in allen anderen Ausschüssen des
Deutschen Bundestages. Fraktionslose Abgeordnete sind
zudem bei der Möglichkeit, im Plenum zu Wort zu kom-
men, deutlich besser gestellt als Abgeordnete der Frak-
tionen. Letztlich ist den fraktionslosen Abgeordneten eine
Nutzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen
Bundestages möglich.

Die Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch können also an
der politischen Willensbildung im Parlament und an der
Entscheidungsfindung des Bundestages teilnehmen. Ihre
parlamentarischen Mitwirkungsrechte sind vollauf ge-
währleistet. Aus diesem Grunde lehnen die Fraktionen den
Änderungsantrag der Kolleginnen Pau und Lötzsch ab.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE 1)







Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501919600

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1501919700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst ein-

mal möchte ich eine Bemerkung in eigener Sache ma-
chen. Ich heiße Gesine Lötzsch. Ich bitte darum, meinen
Namen mit einem langen ö auszusprechen. Auch wenn
sich das bei drei Phonemen und sieben Graphemen nicht
zwingend ergibt und ein gewisser Widerspruch zu sein
scheint, ist es ein langes ö.

Es hat sich eine ganz große Koalition aller Fraktionen
gegen unseren Antrag zusammengefunden. Das ist wirk-
lich bemerkenswert. Wenn es Schule macht, dass bei je-
dem Tagesordnungspunkt nur noch ein Vertreter für alle
Fraktionen spricht und dann eine PDS-Abgeordnete das
Wort bekommt, dann werden unsere Bundestagsdebatten
übersichtlicher und Sie müssen hier nicht mehr so lange
sitzen.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Wie ist die Einheit und Geschlossenheit aller Fraktio-

nen zu erklären? Es geht in dieser zehnminütigen Debatte
um die Stellung von direkt gewählten Abgeordneten im
Deutschen Bundestag. Frau Pau und ich – das wurde hier
bereits anhand von Zahlen ausgeführt – wurden in unse-
ren beiden Wahlkreisen direkt in den Deutschen Bundes-
tag gewählt. Damit verbindet sich ein Wählerauftrag, den
wir gern erfüllen wollen. Doch die ersten 100 Tage hier,
im Bundestag, haben gezeigt, dass alles unternommen
wird, um gerade das zu verhindern.

Wie schon ausgeführt wurde, besteht eine große Ein-
mütigkeit in diesem Haus darüber, dass wir keine weite-
ren Rechte erhalten sollen. Allerdings ist völlig klar, dass
wir mit den Rechten, die wir haben, die Bundesregierung
nur sehr eingeschränkt kontrollieren können. In der Kon-
trolle der Regierung aber – das schreibt die Verfassung
so vor – besteht eine wesentliche Aufgabe von Volksver-
tretern.

Wir haben als fraktionslose Abgeordnete nicht das
Recht, Kleine Anfragen an die Bundesregierung zu stel-
len. Jeder andere Abgeordnete, ob direkt oder über die
Liste gewählt, hat dieses Recht. Einmal im Monat ist es
uns gestattet, maximal vier Fragen an die Bundesregie-
rung zu stellen. Das Antragsrecht ist auf Anträge in zwei-
ter oder dritter Lesung beschränkt und damit so gut wie
wertlos; denn die Diskussionen sind abgeschlossen und
die Anträge erleiden das Schicksal der Ablehnung.

Warum fordern wir in unserem Antrag also den Grup-
penstatus?Wir wollen nicht mehr, sondern nur die glei-
chen Rechte, die alle anderen Abgeordneten im Deut-
schen Bundestag haben. Das betrifft das Fragerecht und
das Antragsrecht. Aber es geht auch um die konkreten
Arbeitsbedingungen. Die unendliche Geschichte mit
dem fehlenden Tisch und dem abgeklemmten Telefon
kennt mittlerweile fast jedes Kind in dieser Republik. Der
Bundestagspräsident muss einen guten Teil seiner Ar-
beitszeit darauf verwenden, Bürgerinnen und Bürgern zu
erklären, warum wir im Parlament keinen Tisch bekom-

men. Auch der Petitionsausschuss ist mit dieser Angele-
genheit befasst. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die materielle und finanzielle Ausstattung eines Abge-
ordneten in einer Fraktion ist um ein Vielfaches besser als
die Ausstattung eines Einzelabgeordneten.

Nun hat Herr Thierse, der leider nicht anwesend ist

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Thierse! Langes i!)


– gleiches Recht für alle –, zu seiner Verteidigung erklärt,
dass die Wählerinnen und Wähler nun einmal so ent-
schieden haben; die PDS sei vom Wähler, nicht vom Bun-
destag abgestraft worden. Doch bei den Wahlen wurde
meiner Meinung nach nicht darüber entschieden, dass es
Abgeordnete erster und zweiter Klasse geben soll. Es
wurde auch nicht darüber entschieden, ob man die Rechte
direkt gewählter Abgeordneter einschränken soll. Auf
meinem Wahlzettel stand das jedenfalls nicht. Ich denke,
es stand auch nicht auf Ihrem.

Wir würden auf den Gruppenstatus verzichten, wenn
sich die anderen Parteien darauf einigen könnten, die
Rechte der Abgeordneten zu stärken. Damit würden sie
auch die Demokratie in diesem Lande stärken. Doch da-
ran haben die Spitzen aller Fraktionen kein Interesse. Die
Stellung der Fraktionsvorsitzenden ist im Gegensatz zu
der der Abgeordneten nicht im Grundgesetz verankert;
doch sie haben mit der Geschäftsordnung und vielen Gre-
mien die Macht auf sich konzentriert und sie haben auch
dafür gesorgt, dass einzelne Abgeordnete häufig zu Klein-
darstellern in ihren Fraktionen verkommen.

In diesem Sinne ist unser Antrag ein Antrag für alle
Abgeordneten, die ständig unter Fraktionszwängen zu lei-
den haben und deren Kompetenzen immer mehr einge-
schränkt werden. Ich empfehle Ihnen also dringend, die-
sen Antrag anzunehmen; denn Sie würden dadurch mehr
gewinnen als verlieren.

Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1501919800

Ich danke auch und schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-

ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu
dem Änderungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch
und Petra Pau zu dem interfraktionellen Antrag zur Wei-
tergeltung von Geschäftsordnungsrecht. Der Ausschuss
empfiehlt, den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die
Stimmen der beiden Abgeordneten Lötzsch und Pau an-
genommen worden. Der Antrag zur Änderung der Ge-
schäftsordnung ist damit abgelehnt.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-

tages auf morgen, Freitag, den 17. Januar, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.