Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Da wir uns das erste Mal in diesem Jahr sehen, wün-sche ich Ihnen allen ein freundliches, gutes und fried-liches neues Jahr.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der ehema-lige Kollege Gerhard Scheu aus dem Stiftungsrat der Stif-tung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infi-zierte Personen“ ausscheidet. Als seine Nachfolgerin wirddie Kollegin Dorothee Mantel vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist die Kollegin Mantel für den Stiftungsrat der Stif-tung „Humanitäre Hilfe“ benannt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltungder Bundesregierung zu ihren verschlechterten Prognosenfür das Wirtschaftswachstum in Deutschland im Jahr 2003und der daraus geforderten Erhöhung der Neuverschul-dung für den Bundeshaushalt
Dirk Fischer , Eduard Oswald, Georg Brunnhuber,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bun-desfernstraßenfinanzierungs- und Managementgesellschaft
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss3. Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, DanielBahr , Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines SechstenGesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
– Drucksache 15/313 –
Überweisungsvorschlag:Innenausschuss4. Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wahl der vom DeutschenBundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriumsder Stiftung „Haus der Geschichte der BundesrepublikDeutschland“ – Drucksache 15/304 –5. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Anrufung des Vermitt-lungsausschusses zu dem Zwölften Gesetz zur Änderung
15/74, 15/76, 15/120, 15/298 –6. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be-richt der Bundesregierung über die Beschäftigung schwer-behinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes– Drucksache 15/227 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.Weiterhin wurde vereinbart, Tagesordnungspunkt 10– internationales Insolvenzrecht – vor Tagesordnungs-punkt 9 – GATS-Verhandlungen – aufzurufen und überdie bisher ohne Debatte vorgesehene Beschlussempfeh-lung zur Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht – Ta-gesordnungspunkt 19 b – heute als letzten Punkt der Ta-gesordnung zu beraten.Darüber hinaus mache ich auf nachträgliche Über-weisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk-sam:Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU: Seesicherheit optimieren – na-tionaler und europäischer Handlungsbedarfnach Tankeruntergang der „Prestige“ – Druck-sache 15/192 –
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003
Präsident Wolfgang Thierseüberwiesen:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDer in der 12. Sitzung des Deutschen Bundestages über-wiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demRechtsausschuss zurMitberatung überwiesen werden.Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Abbau vonSteuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen
– Drucksache 15/119 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAussschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOSind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:a) Vereinbarte Debatte40 Jahre Élysée-Vertrag – Zusammenarbeitund gemeinsame Verantwortung für die Zu-kunft Europasb) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, derCDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENund der FDPEntwurf einer gemeinsamen Erklärung derFranzösischen Nationalversammlung und desDeutschen Bundestages zur interparlamentari-schen Zusammenarbeit– Drucksache 15/295 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Andreas Schockenhoff, Dr. Friedbert Pflüger,Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU40 Jahre deutsch-französischer Freundschafts-vertrag – für eine neue Qualität und Dynamikder deutsch-französischen Beziehungen– Drucksache 15/200 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten derEuropäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund EntwicklungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN40 Jahre Élysée-Vertrag – Die deutsch-franzö-sische Zusammenarbeit fortentwickeln und ingemeinsamer Verantwortung für Europa dieZukunft mitgestalten– Drucksache 15/296 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten derEuropäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenFranz Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am22. Januar 1963, also vor fast genau 40 Jahren, unter-zeichneten ein Franzose, Präsident Charles de Gaulle, undein Deutscher, Bundeskanzler Konrad Adenauer, den Ver-trag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, denÉlysée-Vertrag. Heute würdigen wir dieses Jubiläum ineiner Debatte im Deutschen Bundestag. Aus dem damali-gen Vertrag der Aussöhnung und über Zusammenarbeit istein Dokument der Freundschaft zwischen unseren Völ-kern geworden.
Am Jahrestag in der kommenden Woche werden derDeutsche Bundestag und die Französische Nationalver-sammlung, also die frei gewählten Abgeordneten als Ver-treter ihrer Völker, gemeinsam das Ereignis würdigen undin Versailles beieinander sein. Wir werden gerne dort seinund freuen uns darauf.
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Dass sich die beiden Parlamente treffen, habe es nochnie gegeben; das haben manche in Deutschland in großenBuchstaben reklamiert. Richtig, das gab es noch nie. Ge-rade deshalb ist es so wichtig. Das sei vor allen DingenSymbolik, wurde geschrieben. Richtig, das ist ein Sym-bol, aber ein gutes.
Das koste viel Geld, wurde beanstandet. Richtig, das kos-tet viel Geld. Was für eine glückliche Zeit, in der sichMenschen über die Kosten eines gemeinsamen freund-schaftlichen Jubiläums Deutschlands und Frankreichs er-regen können und nicht über die Milliarden klagen müs-sen, die für Kriege zwischen unseren Völkern ausgegebenwurden!
Ich bin Jahrgang 1940. Ich habe noch als Kind gelernt,dass Franzosen unsere Feinde seien. Sie standen im Kriegmeinem Vater gegenüber. Er kam Gott sei Dank heilzurück. Meine Generation hat dann gelernt, dass Franzo-sen, Briten, Amerikaner und all die anderen, die im Zwei-ten Weltkrieg Nazideutschland gegenüberstanden, nichtunsere Feinde sind, dass wir sogar Freunde werden kön-nen. Nun haben wir seit bald 58 Jahren Frieden an dieserStelle in Europa. Das gab es an dieser Stelle in Europanoch nie, zumindest über Jahrhunderte nicht. Wenn es die-sen Frieden seit 58 Jahren nicht gäbe, dann würden wirheute nicht über Wohlstand und nicht über einen Sozial-staat auf hohem Niveau sprechen; wir hätten ganz andereSorgen.Wir müssen uns daran erinnern, wie dieser Friede inEuropa und der Wohlstand in Europa möglich wurden,und daran, dass diese Entwicklung kein Zufall ist, dasskluge, weitsichtige Menschen, auch verantwortliche Poli-tiker, dabei eine große Rolle spielten. Nicht Politik allein,aber eben doch auch und im Wesentlichen Politik hat dasbewirkt.Das gilt auch für die großen Herausforderungen, vordenen wir in dieser Zeit stehen. Politik kann nicht alles undes gelingt ihr nicht alles. Aber sie hat die Macht und die Kraft,Weichen zu stellen, zum Beispiel was die gute ZukunftEuropas angeht, und daran wollen wir mitwirken.
Wir wissen, dass dieses Europa mehr als Deutschlandund Frankreich und deren Freundschaft ist, dass aberdiese Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreichder unverzichtbare Fokus für diese historische Entwick-lung war und bleibt. Diese Freundschaft ist nichts Exklu-sives; aber sie ist exemplarisch. Die deutsch-französischeZusammenarbeit bleibt für die Entwicklung Europas we-sentlich.Im Frühjahr 1961, noch vor dem Élysée-Vertrag, war ichbei einem der ersten Bataillone der deutschen Bundeswehr,die in Frankreich zu Gast sein durften, in Mourmelon. Vielehaben damals noch gezweifelt, ob das trägt und ob das geht:Deutsche in Uniform in Frankreich. Manche, auch inFrankreich, haben nicht klatschen mögen. Wir haben dasverstanden, besonders als wir an den riesigen Feldern mitden vielen, vielen Kriegsgräbern der Opfer gedachten. Aberdie Zeichen standen überall auf Freundschaft.Edith Piaf, Juliette Gréco, Jacques Brel fasziniertenuns, auch wenn wir ihre Sprache nicht verstanden. Exis-tenzialismus war Mode, aber auch viel mehr. Albert Camusund Jean-Paul Sartre beeindruckten und beeinflusstenuns. Camus‘ „Der Mensch in der Revolte“ und „DerMythos von Sisyphos“ haben eine ganze Generation deut-scher Jugendlicher mit geprägt.Die deutsche und die französische Jugend standen bei-einander und nicht mehr gegeneinander. Das Deutsch-Französische Jugendwerk hat diese große Idee in festeForm gebracht. Mehr als 7 Millionen Jugendliche habenim Rahmen dieses Jugendwerks seitdem das jeweils an-dere Land kennen gelernt. Diese Idee braucht immer wie-der neue Impulse. Jede Generation muss das neu lernenund erleben: die anderen zu kennen und gute Nachbarnnach innen und nach außen zu sein.
Am 23. Januar, nächste Woche, am Tag nach dem Zu-sammentreffen von Bundestag und Nationalversammlungin Versailles, werden Bundeskanzler Gerhard Schröderund Präsident Chirac hier in Berlin mit jungen Menschenaus Frankreich und aus Deutschland über die gemeinsameZukunft diskutieren. Eine solche Veranstaltung ist längstnicht mehr sensationell; aber sie ist ein gutes Zeichendafür, dass die Jugend und die Politik den Mut und dieAusdauer haben, die Freundschaft zwischen unseren Völ-kern zu festigen und auszubauen.
Ich will für meine Fraktion ein Dankeschön sagen andie vielen großen und kleinen Kommunen in Deutschlandund Frankreich, etwa 5 000 insgesamt, die lebendigeStädtepartnerschaften pflegen.
Da wird ganz unspektakulär Frieden, Freundschaft undWohlstand sicherer gemacht. Diese inzwischen gute Tra-dition darf nicht zur Routine werden. Dieses Jubiliäums-jahr des Élysée-Vertrages ist eine gute Gelegenheit, derIdee der Städtepartnerschaften neue Impulse zu geben unddie enge Verflechtung der zivilen Gesellschaften und auchder Wirtschaft zu stärken.Wir würdigen heute einen Vertrag, der in vielem dieZiele der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor-weggenommen hat. 1963 verpflichteten sich beide Staa-ten auf die Koordinierung ihrer Außen-, Sicherheits-, Ju-gend- und Kulturpolitik. 1988 wurde diese Kooperationauf die Wirtschafts- und Währungspolitik erweitert. Ganzselbstverständlich haben sofort nach der deutschen Ein-heit Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl be-kräftigt, dass der Élysée-Vertrag auch für das vereinteDeutschland Gültigkeit und großes Gewicht hat.Kernstück des Élysée-Vertrages war damals, eine ge-meinsame Konzeption in der Außen- und SicherheitspolitikFranz Müntefering
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Franz Münteferingzu entwerfen. Heute haben wir längst ein deutsch-fran-zösisches Korps, in dem eng und regelmäßig zusammen-gearbeitet wird.Wir sind darüber hinaus bei der gemeinsamen Europä-ischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorange-kommen, auch wenn wir noch nicht am Ziel sind. Das giltauch für die Wirtschafts-, Innen- und Rechtspolitik sowiefür andere Politikbereiche.Im Dezember 2002 hat der Europäische Rat inKopenhagen den Beitritt von zehn weiteren Ländern be-schlossen – eine historische Entscheidung. Wir sind stolz,dass die deutsche Bundesregierung unter Führung vonBundeskanzler Gerhard Schröder einen so entscheidendenBeitrag dazu geleistet hat.
Aber auch das große Engagement der EU-Kommissionund besonders des zuständigen Kommissars GünterVerheugen hat eine besondere Anerkennung verdient. Esist gerade heute wichtig, daran zu erinnern, dass GünterVerheugen wegen seiner Verdienste um die Erweiterungam 9. Januar in Polen als Mann des Jahres ausgezeichnetwurde. Das wurde in Deutschland kaum registriert. Wirgratulieren ihm zu diesem außerordentlichen Ereignisganz herzlich.
Jetzt beginnt der Abschluss des großen europäischenProjekts: die endgültige Überwindung der Teilung Europas.Zusammen mit Frankreich wollen wir dafür sorgen, dassdas größer werdende Europa politisch erfolgreich geführtwerden kann. Wir wollen eine europäische Verfassung, dieDemokratie, Transparenz und Entscheidungsfähigkeit ga-rantiert.Der EU-Konvent ist mitten in der Arbeit. Vor wenigenTagen hat der Präsident des Konvents in der „SüddeutschenZeitung“ über die zukünftige Verfassung für Europa ge-schrieben und einen Vorschlag für den Art. 1 einer solchenVerfassung gemacht:... eine Union von Staaten und Völkern, die ihre Poli-tiken eng miteinander abstimmen und auf föderaleWeise bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahr-nehmen.Sie alle wissen: Vieles wird noch zu konkretisieren sein;aber die Dinge kommen in Bewegung. Das gilt auch für dieFrage nach den neuen Führungsstrukturen der EU.Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac habensich verständigt und gemeinsam ihren Vorschlag unterbrei-tet für die Wahl des Präsidenten des Europäischen Ratesdurch den Rat und für die Wahl des Präsidenten der Kom-mission durch das Europäische Parlament. Es kann unsAbgeordnete nur freuen, dass das Europäische Parlamentauch insofern an Kompetenz gewinnen soll.
Von herausragender Bedeutung wird auch sein, dierichtige und belastbare Lösung der mit der Bündelung deraußen- und sicherheitspolitischen Aufgaben verbundenenProbleme zu finden. Auch dazu gibt es einen VorschlagDeutschlands und Frankreichs.Europa, seine neue Dimension, seine neue Verfassung,Europa als Voraussetzung für dauerhaften Frieden und fürWohlstand, all das wird eines der großen Themen deut-scher Politik in den kommenden Monaten und auch in denkommenden Jahren sein und sein müssen.Keines der europäischen Länder wird seinen Wohl-stand allein dauerhaft sichern können. Auch die größe-ren Länder in Europa, zum Beispiel Frankreich undDeutschland, werden dazu nicht in der Lage sein. Mitanderen Worten: Dieses Europa mit seinen rund500 Millionen Menschen, mit seinen großartigen Poten-zialen ist eine gewaltige Chance für die Zukunftsfähig-keit dieses Teils der Welt und eine Hoffnung weit darü-ber hinaus. Die gute Erfahrung, die wir Deutschen unddie Franzosen mit dem Élysée-Vertrag gemacht haben,soll dabei Ansporn sein.Die bewährte Freundschaft zwischen Sozialdemokra-ten aus Deutschland und Sozialdemokraten und Sozialis-ten aus Frankreich wird dabei helfen. Die Spitzen unsererFraktionen haben gestern hier, in Berlin, konferiert undnoch einmal festgestellt: Keiner der beiden Staaten, keineder verschiedenen Nationen Europas konnte vor 40 Jah-ren vor den Herausforderungen einer Welt, die dem Gebotder damaligen Supermächte unterworfen war, im Allein-gang bestehen. Das ist insgesamt auch heute so und eswird auch in Zukunft so sein. Die vielfältigen Anforde-rungen einer von scharfem Wettbewerb und dem Verlustpolitischer und ethischer Maßstäbe gekennzeichnetenWelt machen das freundschaftliche und enge Zusammen-wirken von Deutschland und Frankreich und allen euro-päischen Nationen unverzichtbar.Frieden und Demokratie zu bewahren, Wohlstand zuentwickeln, das europäische Sozialstaatsmodell zu erhal-ten, Chancengerechtigkeit zu gewährleisten, den Ärmstender Welt zu helfen, das sind unsere gemeinsamen Aufga-ben. Wir sehen die Europäische Union in einer Mitver-antwortung für den Frieden in der Welt. Wir Abgeordne-ten verleihen unserer Hoffnung Ausdruck, dass es derinternationalen Gemeinschaft gelingt, den Irakkonfliktfriedlich zu lösen. Wir begrüßen die Aussagen, die Bun-deskanzler Schröder dazu in diesen Tagen noch einmalgemacht hat.
Am 22. Januar werden der Deutsche Bundestag und diefranzösische Nationalversammlung in Versailles gemein-sam und feierlich ihren Willen und ihre Entschlossenheitbekunden, unsere beiden Länder miteinander in eine guteZukunft zu führen. Zwischen all den Sorgen und Aufga-ben, die dort in Frankreich und hier in Deutschland auf derpolitischen Tagesordnung stehen, ist das eine Nachricht,die Anlass für viel Zuversicht gibt.Vielen Dank.
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Lieber Kollege Müntefering, da Sie uns das Vergnügen
bereitet haben, an Ihrem Geburtstag hier eine Rede zu hal-
ten, möchte ich Ihnen sehr herzlich, wie ich denke, auch
im Namen des Hauses, zu Ihrem Geburtstag gratulieren.
Ich erteile nun das Wort Kollegin Angela Merkel,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Wir feiern und debattieren heute über den 40. Jahres-tag des Élysée-Vertrages und werden aus diesem Anlassauch in wenigen Tagen in Paris sein. Wir können feststel-len: Er hat sich als das wichtigste Fundament der deutsch-französischen Zusammenarbeit nach dem Zweiten Welt-krieg und zugleich als eine der wichtigsten Grundlagenfür Versöhnung, Zusammenarbeit und Frieden auf demeuropäischen Kontinent erwiesen.Fünf Seiten schlichten Papiers – dennoch war es einpolitisches Programm für die bilateralen Beziehungenzwischen Deutschland und Frankreich. Wenn man sichdie einzelnen Punkte noch einmal anschaut, stellt manvielleicht nichts Ungewöhnliches fest: Im ersten Teil gehtes um Abstimmung in den wichtigen Fragen der Außen-politik einschließlich der Europapolitik, der Ost-West-Be-ziehungen, der NATO- und der UNO-Fragen – damalsschon alles so aufgeschlüsselt – sowie der Entwicklungs-politik, in einem zweiten Teil um gemeinsame Ziele aufdem Gebiet der Verteidigungs-, der Rüstungspolitik unddes Zivilschutzes. Also insgesamt ein Programm, dasüberschaubar ist.Für mich war es sehr interessant, dass von Anfang anals dritter Schwerpunkt auch die Förderung der deutsch-französischen Jugendarbeit und einer entsprechendenZusammenarbeit beinhaltet war. Ich denke, der Jugend-austausch muss auch für die Zukunft der Kraftquell sein,aus dem heraus sich jede Generation das deutsch-franzö-sische Verhältnis wieder neu erarbeiten kann.
Wichtiger vielleicht als die einzelnen Punkte erschie-nen Adenauer und de Gaulle damals schon die dahinterstehenden politischen Überzeugungen zu sein, die in einergemeinsamen Erklärung zu dem Vertrag dann auch sicht-bar wurden:… in der Überzeugung, dass die Versöhnung zwi-schen dem deutschen und dem französischen Volk,die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein ge-schichtliches Ereignis darstellt, das das Verhältnisder beiden Volker zueinander von Grund auf neu ge-staltet …Und weiter:... in der Erkenntnis, dass die Verstärkung der Zu-sammenarbeit zwischen den beiden Ländern einenunerlässlichen Schritt auf dem Wege zu dem verei-nigten Europa bedeutet, welches das Ziel beider Völ-ker ist …Auf der Basis dieser Grundüberzeugungen hat sich diedeutsch-französische Kooperation in allen Partei- undRegierungsstrukturen der letzten Jahre bewährt und im-mer wieder entwickelt sowie alle Häme und alle Frage-zeichen überwunden. Deshalb ist es unsere Aufgabe,diesen Jahrhundertvertrag auch weiter am Leben zu er-halten.
Nun habe ich noch einmal nachgelesen: Damals wardie Debatte um diesen deutsch-französischen Vertrag, deruns heute so einleuchtend erscheint, gar nicht so unkon-trovers; denn eingebettet in eine konkrete weltpolitischeLage wurde natürlich durchaus und von allen Fraktionengleichermaßen die Frage gestellt: Ist es richtig, dass wir ineiner solchen weltpolitischen Situation einen bilateralenVertrag zwischen Deutschland und Frankreich abschlie-ßen, oder geben wir damit vielleicht dem Bilateralismuszu viel Gewicht, sodass die atlantische Partnerschaftzurücktreten könnte? – Das ist ein Thema, das auch in derheutigen weltpolitischen Lage immer wieder eine Rollespielt.Es war damals so, dass sich die französische Armee ausder militärischen Zusammenarbeit in der NATO zurück-gezogen hatte; außerdem gab es das französische Vetogegen den Beitritt Großbritanniens zur EuropäischenWirtschaftsgemeinschaft – zwei Vorgänge, die die Parla-mentarier in Deutschland mit Recht beunruhigten.Adenauer mit seinem Sinn fürs Praktische ließ sich nichtbeirren. Er stellte dem Ratifikationsgesetz flugs einePräambel voraus, die die Dinge klarstellte – sehr zumMissfallen von Charles de Gaulle.Nun hatten diese historischen Kontroversen sicherlichihre Bedeutung; aber heute haben sie nur noch den Werteiner Fußnote der Geschichte. Uns steht die Frage vor Au-gen: Welche Bedeutung hat dieser Vertrag für die Zukunftund wie können wir ihn immer wieder mit Leben erfüllen?Meine Damen und Herren, es ist unstrittig, dass es eineVielzahl interessanter deutsch-französischer Kooperatio-nen gibt. Als Beispiel nenne ich das Jugendwerk. Ich ver-binde das mit der Bitte, dass dieses Jugendwerk nicht fi-nanziell ausgezehrt wird; denn jede Generation muss sichdie Kontakte neu erarbeiten.
– Das Klatschen von Herrn Müntefering stimmt michhoffnungsfroh; ich hoffe, dass wir das Gleiche darunterverstehen. Dieses Deutsch-Französische Jugendwerk istnämlich außerordentlich wichtig, um immer wieder jungeMenschen zusammenzubringen. In einer Welt, die vieler-lei Faszinationen, gerade kultureller Art, aus dem anglo-amerikanischen Raum bietet, ist es von Bedeutung, dasswir sowohl in Bezug auf die Sprachfähigkeit als auch dasgegenseitige Verständnis, wie es Herr Müntefering ebenfür seine Jugendzeit dargestellt hat, stets deutsch-franzö-sische Impulse setzen.
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Dr. Angela MerkelWir haben den FernsehsenderArte,wir haben deutsch-französische Hochschulen, wir haben die deutsch-franzö-sische Brigade. Es gibt also eine Vielzahl von Koopera-tionen. Unsere Volkswirtschaften sind stark miteinanderverflochten. Das ist allerdings mit der Aufgabe verbun-den, dafür zu sorgen, dass die deutsch-französische Ko-operation Motor und nicht Bremser der europäischen Ent-wicklung ist und dass das gemeinsame Grundbekenntniszur sozialen Marktwirtschaft nicht in schönen Vereinba-rungen zur Verlangsamung von Privatisierungen undStaatseinflüssen genutzt wird. Dafür gab es in der Ver-gangenheit ungute Beispiele.
Deshalb müssen wir, wenn wir lebendige Beziehungenhaben wollen, immer wieder kritisch schauen, ob diedeutsch-französischen Beziehungen in Ordnung sind. Derfranzösische Botschafter in Deutschland hat einmal ge-sagt, die Beziehungen hätten einen Teil ihres emotionalenCharakters verloren. Es ist wichtig, dass wir diesen emo-tionalen Charakter stets deutlich machen und mit Lebenerfüllen.Weil sich Charles de Gaulle damals bei der Unter-zeichnung der Präambel außerordentlich geärgert hatte,hat er, als er Deutschland im Juli 1963 besuchte, gesagt,dass Verträge wie Rosen und junge Mädchen seien, sieblühten nur einen Morgen und deshalb dürfe man an ih-nen nicht herummachen.
– Ich dachte, als Frau kann ich mir leisten, das zu sagen.
Adenauer griff diese Worte auf und antwortete: „Rosenund junge Mädchen, natürlich haben sie ihre Zeit; aber dieRose – davon verstehe ich nun wirklich etwas – überdau-ert jeden Winter.“ Der deutsch-französische Vertrag hatsich mehr als Rose denn als junges Mädchen erwiesen.
Meine Damen und Herren, inzwischen – auch das willich anmerken – ist es manchmal so, dass wir, gerade inEuropa, froh sind, dass wir die französische Regierunghaben. Als Beispiel aus jüngster Zeit will ich den Agrar-kompromiss nennen. Er wäre sicher nicht so gut gewor-den, wenn nicht der französische Staatspräsident ein et-was besseres Herz für die Bauern hätte als der deutscheBundeskanzler.
Alfred Grosser hat auf die Frage, ob der Élysée-Vertragneu geschrieben werden sollte, geantwortet: Um Gotteswillen, nicht neu schreiben! Aber er hat auch gesagt, dasser sich vorstellen könne, dass man einen Satz hinzufügt,nämlich: Wir, der französische Präsident und der deutscheKanzler, erkennen an, dass unser hauptsächliches natio-nales Interesse die Vertiefung der Europäischen Gemein-schaft ist. Ich glaube, dieser Satz ist von außerordentlicherBedeutung. Ich teile ihn uneingeschränkt.Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, hängt natür-lich von Deutschland und Frankreich ab. Ich bin sehrdafür, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister,dass Sie immer wieder versuchen, gerade zusammen mitFrankreich Motor der europäischen Einigung zu sein.Da gab es schlechtere Zeiten. Im Augenblick haben wirwieder etwas fruchtvollere Zeiten. Ich bitte Sie aber auch,dass die Schicksalsfragen im Zusammenhang mit der Ent-wicklung der Europäischen Union wieder vorher imüberparteilichen Konsens geklärt werden. Diese Traditionscheint in letzter Zeit verloren gegangen zu sein.
Wir sind bereit, diese Dinge im Vorfeld zu klären. Aberman muss auch mit uns sprechen.Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich mit denKonventmitgliedern der Bundesrepublik Deutschland– natürlich gibt es keinen Zwang, sich zu einigen – einmaldarüber austauschen, in welcher Art und Weise wir einmöglichst großes Stück des gemeinsamen Weges gehenkönnten, was die Konventvorschläge anbelangt. Dasselbehätte für die Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei ge-golten. Da ist das Kind aber leider bereits in den Brunnengefallen.
Die Geschichte des deutsch-französischen Vertragesist die Geschichte von Charles de Gaulle und KonradAdenauer. Es ist die Geschichte von Helmut Schmidt undGiscard d’Estaing. Es ist die Geschichte von Helmut Kohlund François Mitterrand. Es ist die Geschichte, die immerauf einem breiten Konsens in unseren beiden Völkernberuht hat. Damit es auch weiterhin eine gute Geschichteist, sollte dieses Bemühen um eine gemeinsame, breiteGrundlage nicht verloren gehen.
Lassen Sie mich das, was Sie in Bezug auf den Konventvereinbart haben, von meiner Seite kurz kommentieren.Erster Punkt. Es ist zu begrüßen, dass der zukünftigeKommissionspräsident vom Parlament gewählt werdensoll. Das ist eine Forderung, die wir seit langem aufge-stellt haben. Ich möchte an dieser Stelle nur die Anmer-kung machen, dass man aufpassen muss, dass dasQuorum für die Wahl durch das Parlament nicht so hochgesetzt wird, dass letztendlich die Entscheidung der Bür-gerinnen und Bürger bei der Europawahl, auf der die Zu-sammensetzung des Parlaments beruht, völlig nivelliertwird; denn ein sehr hohes Quorum würde sozusagen einegemeinschaftliche Regelung bewirken.Zweiter Punkt. Wir waren erstaunt, dass der Vorschlag,nämlich einen ständigen Ratspräsidenten zu installie-ren, den Sie bisher mit relativ großer Skepsis betrachtethaben, nun ein gemeinsamer Vorschlag ist. Ich will an die-ser Stelle aber sagen, dass wir aufpassen müssen, dass einsolcher ständiger Ratspräsident nicht der heimliche Herr-scher über alle Institutionen Europas wird, und dass wirdafür sorgen müssen, dass das Verhältnis zum Kommis-
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sionspräsidenten auf festgelegten Zuständigkeiten beruht.Denn der Sinn des Konvents besteht darin – das darf beiDiskussion über die Institutionen nicht vergessen werden –,die Zuständigkeiten zwischen Europa und den National-staaten insgesamt klar zu regeln. Es gilt also, die neuenÜberlegungen in das Gesamtkonzept für die Neuordnungder EU-Institutionen einzubetten. Es darf deshalb nichtsein, dass der ständige Ratspräsident Dinge außerhalb sei-ner Zuständigkeit entscheidet und so den Kommissions-präsidenten in seiner Arbeit behindert.Es ist auch erfreulich, dass die Kommissare offen-sichtlich Weisungsrechte bezüglich ihrer Generaldirek-tion bekommen sollen. Ich begrüße das außerordentlich,weil damit klarere Verhältnisse geschaffen werden. Aberbeim ständigen Ratspräsidenten stelle ich mir die prakti-sche Umsetzung relativ schwierig vor, weil er natürlichschnell sozusagen ein Herrscher ohne Unterbau seinkönnte. Man muss sich fragen, woher er diesen Unterbaunimmt: entweder durch eine Aufblähung des Ratssekre-tariats, was ich nicht begrüßen würde, oder durch ein Hi-neinregieren in die Kommission, was ich für genausofalsch hielte. Über diese Fragen sollten wir ehrlich spre-chen, damit wir später sowohl geklärte Zuständigkeiten,was die Sachaufgaben angeht, als auch geklärte Zustän-digkeiten, was die Institutionen anbelangt, haben.
Wir begrüßen es, dass es nunmehr eine deutsch-fran-zösische Gemeinsamkeit in der Frage der Außenvertre-tungen der Europäischen Union gibt. Allerdings sageich auch: Bei allem intergouvernementalen Charakter derAußen- und Sicherheitspolitik wird es wichtig sein, dassdie Persönlichkeit, die diese Funktion ausübt, auch dieChance hat, in der Kommission Einfluss zu haben, dassder Kommissionspräsident weiterhin die Außenvertre-tung der Europäischen Union übernimmt und dass dieseZuständigkeit nicht klammheimlich Richtung Rat wan-dert. Auch das wird ganz wichtig sein.Meine Damen und Herren, deshalb hoffen wir, dasswir in die Diskussionen der deutschen und der französi-schen Regierungen in Zukunft besser mit einbezogenwerden. Ich glaube, es kann der Arbeit im Konvent nichtschaden. Es ist in anderen Ländern Usus, dass man ver-sucht, die nationalen Interessen durch gemeinschaftlicheKonsultationen vorher zu regeln. Deshalb möchte ich an-gesichts von 40 Jahren erfolgreicher deutsch-französi-scher Kooperation diesen Wunsch hier in aller Klarheitanmelden.Wir werden in der nächsten Woche nach Paris fahren.Ich glaube, dass angesichts des besonderen Charaktersdes deutsch-französischen Verhältnisses diese Reise desParlaments angemessen ist, wenngleich sie eine Aus-nahme bleiben sollte. Darüber sind wir uns aber auch ei-nig. Ich glaube, es ist gut, dass es gerade auch mit jungenMenschen Diskussionen in unserem Land geben wird, diedaraus etwas über das deutsch-französische Verhältnislernen können.Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschlandund Frankreich auch in Zukunft der Motor bleiben müs-sen, äußere allerdings einen allerletzten Wunsch: Mit derErweiterung der Europäischen Union wird es nochwichtiger sein, dass Deutschland und Frankreich als Mo-tor einer europäischen Einigung auch die Fähigkeit auf-bringen, kleine Länder ernst zu nehmen. Deutsch-franzö-sische Kooperation darf woanders niemals so gesehenwerden, dass kleine Länder kein wirkliches Mitsprache-recht mehr haben. Darauf müssen wir achten, auch bei denweiteren Arbeiten im Konvent sowie in der sich ansch-ließenden Regierungskonferenz.Ich glaube, es ist richtig, dass unser Parlament dieseDebatte heute führt, und ich hoffe, sie ist zum Wohle desdeutsch-französischen Verhältnisses.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 81 Prozentder Franzosen und 86 Prozent der Deutschen halten gutedeutsch-französische Beziehungen für wesentlich undwichtig. Aber diese nüchternen Zahlen sagen kaum etwasdarüber aus, wie weit der Weg gewesen ist, den die ehe-maligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich erfolg-reich hinter sich gebracht haben. Um die Bedeutung desÉlysée-Vertrages, der die deutsch-französische Zusam-menarbeit auf eine neue, einzigartige Grundlage gestellthat, tatsächlich ermessen zu können, muss man schon ei-nen Blick auf die Zeit vor 1963 werfen. Es ist aufschluss-reich, was de Gaulle 1944 über Deutschland sagte:Ein großes Volk, das aber ständig auf Krieg ausge-richtet ist, weil es nur davon träumt, zu herrschen,das immer bereit ist, denen, die ihm Eroberungenversprechen, bis zum Verbrechen zu folgen, das istdas deutsche Volk.Das ist hart, aber es macht auch den Ausgangspunkt fürdie französischeAnnäherung deutlich. Es stellte sich dieFrage: Was tun mit Deutschland, in der Mitte Europas,nach zwei verheerenden Weltkriegen und nach dem nati-onalsozialistischen Massenmord? Diese Frage stelltensich nicht nur die französischen Nachbarn.Es waren interessanterweise französische und deutscheOpfer des Nationalsozialismus, aber auch Männer wieJean Monnet und Robert Schuman, die noch vor de Gaulleund noch vor Adenauer erkannten, dass die Antwort aufdiese zentrale Frage nur in der europäischen Integrationliegen konnte. Als Voraussetzung für diese Integrationsollte die enge deutsch-französische Partnerschaft dienen.Dass wir heute auf Jahre des Friedens, der Sicherheit unddes Wohlstands in Europa zurückblicken können, ist inerster Linie dem strategischen Weitblick, aber auch dempolitischen Mut dieser Männer zu verdanken, vor allenDingen unseren französischen Nachbarn.
Dr. Angela Merkel
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003
Krista SagerDieser strategische Weitblick, diese Vision eines verein-ten Europas ermöglichte erst das Hineinwachsen Deutsch-lands in die Gemeinschaft der demokratischen Staatenund Völker. Die Vision von der Integration des großenDeutschlands in eine noch größere Gemeinschaft machtees überhaupt erst möglich, die Angst vor Deutschland zuüberwinden, und gab außerdem eine Antwort auf dieFrage: Wie können wir die jahrhundertealte Geißel desNationalismus in Europa überwinden?Mit dieser Antwort konnte man sich auch davon be-freien, Deutschland dauerhaft schwach oder geteilt haltenzu müssen. Man konnte Deutschland als starken Partnerfür Sicherheit und Wohlstand in Europa akzeptieren. DieUnterstützung dieses Integrationsprozesses durch Frank-reich hat letztlich überhaupt erst den Weg für die deutscheWiedervereinigung geebnet. Auch dafür sollten wirheute dankbar sein.
Nicht Nationalismus und Abschottung, sondern Ver-söhnung und Partnerschaft sind die Kernmotive derdeutsch-französischen Beziehung. Diese Kernmotivesind auch heute noch Richtschnur dafür, wie wir mit denosteuropäischen Staaten nach Überwindung der Block-konfrontation umgehen. Sie liefern uns immer noch dieHinweise auch dafür, wie wir mit den Konflikten auf demBalkan umgehen, wo erneut die europäische Geißel na-tionalistischer Auseinandersetzungen und ethnischer Ver-folgungen mitten in Europa entflammt ist.Frieden, Wohlstand und Sicherheit sind durch Annähe-rung und Partnerschaft tatsächlich erreichbar. TiefeAntagonismen und Nationalismen können tatsächlichüberwunden werden. Das durften wir durch die deutsch-französische Partnerschaft lernen und diese Erkenntniskönnen wir heute in Europa gemeinsam in die Bewälti-gung der anstehenden Aufgaben einbringen.Für diese Ziele brauchen wir auch weiterhin die Ver-tiefung und die Erweiterung des europäischen Integra-tionsprozesses. Lassen Sie mich eines zum Thema derErweiterung sagen: Aus den Reihen der Opposition wirdgefordert, die Grenzen der Europäischen Union zu defi-nieren. Ich behaupte: Niemand kann derzeit die Finalitätder EU definieren. Der Erweiterungsprozess ist nicht ab-geschlossen. Prodi hat zu Recht in Athen formuliert: DieTore der EU sind offen für den Balkan. Ob der Kandidatdann aufgenommen wird, hängt von der Erfüllung derwirtschaftlichen Bedingungen und der politischen Grund-werte ab.Lassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen: DieseGrundwerte, das, was die europäische Wertegemein-schaft ausmacht, und nicht nur Wohlstand und Sicherheitsind für die Beitrittsländer und -kandidaten besonders at-traktiv. Diese Werte sind entscheidend französisch ge-prägt. Sie beruhen auf den Werten der FranzösischenRevolution, der Aufklärung, der Deklaration der Men-schenrechte, der Tradition des französischen Geistes-lebens und der Rechtsstaatlichkeit.
Dass Deutschland und Frankreich gemeinsam Motorund Impulsgeber für diese Werte sein konnten, ist daraufzurückzuführen, dass sie ihre Spaltung überwinden konn-ten. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Erweite-rung der Gemeinschaft nicht eine neue politische Spal-tung auf unserem Kontinent hervorruft. Das sage ichbesonders all denjenigen, die jetzt nach einer Definitionder Grenzen verlangen.Frau Merkel, Sie haben das Stichwort Türkei ange-sprochen. Die CDU hat in ihrer Göttinger Erklärung eineBeitrittsperspektive für die Türkei ausgeschlossen. Dazusage ich Ihnen: Der Geist des Élysée-Vertrages ist ein an-derer. Der Geist des Élysée-Vertrages ist: Kooperationund Integration statt Antagonismus. Das ist die Botschaft.
Natürlich geht es um die Erfüllung der Beitrittskrite-rien. Aber stellen wir uns einmal vor, wir hätten in denfrühen 60er-Jahren über den Vorschlag diskutiert, ob manvor dem deutsch-französischen Vertrag nicht erst einmalin Frankreich eine Abstimmung darüber durchführensollte, wie es die Franzosen mit den Deutschen halten.Frau Merkel, ich bin froh, dass Sie dem Vorschlag einesdeutschen Referendums über den Beitritt der Türkei ent-gegengetreten sind. Aber Sie hatten dafür eine falsche Be-gründung. Sie wollen den Deutschen nicht das Recht ge-ben, Volksentscheide und Volksbegehren durchzuführen.Dies passt nicht in die Zeit; dies ist eine falsche Begrün-dung. Sie hätten mit Blick auf das Jahr 1963 lernen kön-nen, wie de Gaulle und Adenauer Ressentiments entge-gengetreten sind, sie nicht befördert haben und wie sieihre Völker auf dem Weg, Antagonismen zu überwinden,den sie für richtig erkannt haben, mitgenommen haben.
Zu Recht ist hier auch das Deutsch-Französische Ju-gendwerk besonders hervorgehoben worden. Geradewenn man das als besonders vorbildlich sieht, dannmüsste man heute eigentlich eher darüber nachdenken,wie man die deutsch-türkischen Austauschbeziehungenvertieft, nicht aber, wie man in diesem ZusammenhangUnüberbrückbarkeiten besonders betont.
Meine Damen und Herren, dass die deutsch-französi-sche Zusammenarbeit nach wie vor als Motor für deneuropäischen Prozess funktioniert, haben wir gerade vor-gestern durch die Vorschläge des deutschen Bundeskanz-lers und des französischen Staatspräsidenten erlebt.Natürlich geben diese Vorschläge nicht auf alle Frageneine Antwort – diese Fragen werden im Konvent auchweiter diskutiert werden müssen –, aber sie sind ein Kom-promiss, um Europa handlungsfähiger, demokratischerund für die Bürgerinnen und Bürger transparenter zu ma-chen.
Ich bin ganz sicher, dass wir diesen Weg weiter gehenwerden. Es gibt doch nichts Schöneres als die Vorstellung,
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dass der europäische Konvent in dem Jahr, in dem wir das40-jährige Jubiläum des deutsch-französischen Vertragesfeiern, eine Verfassung und eine Grundrechtscharta vor-legt. Das wäre doch wirklich die schönste Würdigung die-ses deutsch-französischen Vertrages, die wir uns über-haupt vorstellen können.
Meine Damen und Herren, die Befürchtung de Gaulles,der deutsch-französische Vertrag führe zu einem Wider-spruch und Frankreich könne mit den gleichzeitigen trans-atlantischen Beziehungen nicht leben, hat sich zum Glücknicht bewahrheitet. Alle Befürchtungen, der deutsch-fran-zösische Vertrag schlösse aufgrund seiner Besonderheitweitere Partner aus dem Integrationsprozess aus, haben sichschon gar nicht bewahrheitet. Ich finde es richtig und gut,dass gerade vorgestern Frankreich und Deutschland ihre be-sondere Rolle auch mit Blick auf die gewachsene interna-tionale Verantwortung Europas wahrgenommen haben.Natürlich ist es wichtig gewesen, dass Bundeskanzlerund Staatspräsident hierbei deutlich gemacht haben, dasswir auch eine besondere Verantwortung für den Frie-den in der Welt haben. Dies heißt, dass die Arbeit derWaffeninspekteure eine Chance haben muss und wir indieser Hinsicht jede Möglichkeit nutzen müssen, eine mi-litärische Auseinandersetzung im Irak zu verhindern.Auch das ist ein angemessener Beitrag Deutschlands undFrankreichs zu einer größeren Verantwortung Europas fürden Frieden in der Welt.
Frau Merkel, Sie haben zu Recht auf den Satz vonde Gaulle hingewiesen, der deutsch-französische Vertragsei wie die jungen Mädchen und wie Rosen, die nur einenSommer blühen. Vielleicht sollte man, weil gerade dieFranzosen angeblich von Wein und Frauen besonders viel,angeblich mehr als die Deutschen, verstehen,
den deutsch-französischen Vertrag eher mit gutem Weinund gereiften Frauen vergleichen: Beide wachsen mit denJahren in ihrer Substanz, beide werden von Jahr zu Jahrimmer gehaltvoller und besser.
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gerhardt für die
FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nichtnur ein nüchternes Vertragswerk, über dessen Zustande-kommen man hier diskutieren kann. Der Élysée-Vertragist eine historische Leistung ohne Beispiel.
Er erwuchs aus der unglückseligen Geschichte dieser bei-den großen Völker mitten auf dem europäischen Konti-nent. Diese Geschichte der unglückseligen Verkettung derErbfeindschaften hat Herr Müntefering sehr gut darge-stellt; er hat dies zu Recht mit seinem persönlichen Bei-spiel verwoben. Er ist ein Jahrgang, gar nicht weit von mirentfernt, der beim Aufwachsen in seiner Familie dasGlück erlebte, dass sein Vater zurückkam; mein Vater istin Frankreich beerdigt. Daraus können wir beide wohlschätzen, was ein solches Vertragswerk bedeutet. Es hatdie größte Friedensperiode geschaffen, die heute vielevergessen – über die Selbstverständlichkeiten wird janicht mehr geredet –; es versetzt die beiden Völker undderen Repräsentanten in die Lage, auf europäischer EbeneImpulse zu geben und Schritte zu realisieren, die nachEnde der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges niemanderwartet hatte.Natürlich gab es Rückschläge. Nicht jede Gipfelveran-staltung war ein großer Erfolg, aber bei den entscheiden-den qualitativen Schritten der Europäischen Union sindFrankreich und Deutschland die Impulsgeber gewesen.Dabei gab es langwierige Verhandlungen, die zu schwie-rigen Kompromissen führten. Die Ergebnisse wurdenaber von anderen als akzeptabel empfunden, weil sie wuss-ten, dass zwischen uns, zwischen den Deutschen und denFranzosen, oft viele psychologische nationale Unter-schiede bestehen. Die Verhaltensweisen, die Mentalitätensind oft anders, aber die Anstrengungen, zu einem Kom-promiss zu kommen, werden so respektiert, dass sie auchfür andere akzeptabel sind.Das ist das tiefe Geheimnis vieler gemeinsamer Vor-schläge von Deutschland und Frankreich. Gerade in derUnterschiedlichkeit liegt die Chance, dass erreichte Ver-ständigungen für die anderen akzeptabel sind.
Ein Grundsatz soll für uns gelten: Wir dürfen uns dabeigegenseitig nicht überfordern und wir müssen anderen ge-genüber sensibel sein. Es ist gelungen, dass vielen dasdeutsch-französische Vertragswerk und die deutsch-fran-zösische Freundschaft nicht nur als ein Stück diplomati-scher Vernunft oder notwendiger Zusammenarbeit er-scheinen. Es ist wahr, dass die Partnerschaften – dieStädtepartnerschaften, der Jugendaustausch und die viel-fältigen Begegnungen – wirklich zu einem Fundamentunterhalb der Ebene der Begegnungen von Wirtschaft,Verbänden und Politik geworden sind.Trotzdem empfinden wir, dass wir einen neuen Anstoßgeben müssen. Mit Blick auf die europäischen Gipfel derletzten Jahre muss ich für meine Fraktion und mich ohneVorwurf sagen, dass von ihnen schwächere Impulse alsvon früheren Veranstaltungen ausgegangen sind.Im Übrigen stehen wir nicht nur vor europäischen He-rausforderungen: Es wird weiterhin kontrovers bleiben,ob wir eine Ratspräsidentschaft über einen längeren Zeit-raum wollen oder ob es nicht besser wäre, die Kommis-sion, den Kommissionspräsidenten und das EuropäischeParlament zu stärken, um darin den entscheidenden An-satzpunkt zu finden. Es ist natürlich auch eine Herausfor-derung, über Staatsanwaltschaften, Grenzpolizei, Vertei-digungspolitik und vieles andere in Europa zu reden.Krista Sager
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Dr. Wolfgang GerhardtIch will aber wegen der Kürze der Zeit gleich auf dasWesentliche zu sprechen kommen: Die Bundesregierunghat sich bisher im Hinblick auf die Resolution 1441 desSicherheitsrates der Vereinten Nationen betreffend denIrakkonflikt und die Chance, Saddam Hussein durch In-spektoren zur Offenlegung und gegebenenfalls zur Ver-nichtung von Massenvernichtungswaffen zu bringen,etwas missverständlich und in der Person des Bundes-außenministers reichlich sibyllinisch geäußert.Der Bundeskanzler hat – wir nehmen Sie, Herr Bun-deskanzler, gern beim Wort – in dieser Woche erklärt, dassdie europäischen Partner auf eine zweite Entschließunghinarbeiten müssen und er das auch für vernünftig halte.Die gesamte Bundestagsfraktion der Freien Demokratenstimmt Ihnen in dieser Äußerung ausdrücklich zu.
Nach 40 Jahren Élysée-Vertrag, nach den geglücktenErfahrungen deutsch-französischer Verständigung in be-deutsamen qualitativen europäischen Fragen und in derÜberzeugung, die Sie nun geäußert haben, dass eine eu-ropäische Abstimmung, zumindest aber eine gemeinsamefranzösisch-deutsche Bewertung des weiteren Vorgehensin der Irakfrage nicht nur wünschenswert, sondern unver-zichtbar ist, möchte ich Sie ausdrücklich auffordern, beidieser Position zu bleiben und eine enge, verantwor-tungsbewusste Abstimmung mit Frankreich herbeizu-führen und – das füge ich ausdrücklich hinzu – beizube-halten.
Auch Helmut Schmidt hat das heute Morgen vorge-schlagen. Ich wiederhole das hier deshalb, damit wir unsrichtig öffentlich auseinander setzen und die Chance einessolchen Freundschaftsvertrags mit Frankreich in derFrage „Krieg oder Frieden“ – so stellen Sie es immer dar –nutzen.Dabei – das möchte ich ausdrücklich sagen – möchteich in dieser Debatte den großen Respekt aller Mitgliederder Fraktion der Freien Demokraten hier im Bundestaggegenüber dem französischen Staatspräsidenten erwäh-nen. Er hat nach unserer Überzeugung durch seine Ver-haltensweise, sein Verhandeln, seine klare Aussprache,aber auch durch sein transatlantisches Bewusstsein starkpersönlich dafür gesorgt, dass die Entscheidung eine Auf-gabe des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gewor-den ist und dort auch bleibt. Diese ausdrückliche Haltungsollten wir respektieren.
Diese Haltung ist nicht daraus entstanden, dass manbeiseite stand, sondern daraus, dass man sich eingemischthat und im Dialog geblieben ist. Deshalb sage ich: Es gibtnicht nur europäische Herausforderungen für die deutsch-französische Freundschaft. Es gibt heute internationaleHerausforderungen mit für unser Land und für die beidenVölker hervorragenden Wirkungen.Angesichts einer solchen Debatte und angesichts deswichtigsten Punktes, des Themas „Krieg oder Frieden“,möchte ich die Chance nutzen, dem Bundeskanzler undder gesamten Bundesregierung zu sagen: Es sollte nichtsunversucht gelassen werden, aus der deutsch-französi-schen Freundschaft die Kräfte zu bündeln, jetzt gemein-same diplomatische Initiativen zu entwickeln und zu er-greifen sowie gemeinsame Verantwortung deutlichwerden zu lassen, bis hin zu der Bereitschaft, bei einer ge-meinsamen Verständigung dann auch entsprechend ge-meinsam abzustimmen. Freundschaft und Klugheit ge-bieten dies ganz einfach bei einem solchen Vertragswerk,bei dessen Bedeutung und dessen Chancen.Ich sage mit Dank für Ihre Aufmerksamkeit: Ichglaube, beide Völker erwarten dies auch von uns. Damitwäre für eine überzeugende Position der deutschen Bun-desregierung in enger Abstimmung mit dem französi-schen Nachbarn ein Weg zu gehen, der akzeptabel undchancenreich wäre, der immer den Krieg als letztes Mit-tel ansieht und vorher alles aus eigenen Kräften versucht,ihn zu vermeiden. Sie sollten diesen Weg gehen. Dannkönnten Sie auf die Freien Demokraten hier in der Oppo-sition bauen. Wir würden Sie dabei unterstützen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nun dem Bundesminister Joseph Fischer,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehenvor dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, eines Freund-schaftsvertrages zwischen unserem Land und der Franzö-sischen Republik. Es ist ein Freundschaftsvertrag, keinFriedensvertrag, aber dieser Vertrag hat wesentlich zurInstitutionalisierung eines dauerhaften Friedens in Europabeigetragen.
Insofern stimme ich allen zu, die diesen Vertrag einen his-torischen Vertrag, einen Jahrhundertvertrag genannthaben, denn dies war er tatsächlich.Franz Müntefering hat aus seiner Biografie herausnochmals die frühere Erbfeindschaft zwischen Deutsch-land und Frankreich benannt. Gerade als Außenministerbegegne ich oft Gesprächspartnern, die sich noch exakt ineiner solchen Situation befinden. Erst jüngst fiel mir dieswieder ein, als ich mit dem armenischen Staatspräsiden-ten gesprochen habe. Dabei ging es um einen ähnlichenKonflikt in Bergkarabach, um einen Konflikt, bei demzwei Völker, zwei Nachbarn um dasselbe Territoriumstreiten, jeweils mit historischer Legitimität begründet.Dabei fiel mir ein, welche Bedeutung die deutsch-franzö-sische Freundschaft, die deutsch-französische Aussöh-nung für den Frieden auf unserem Kontinent tatsächlichhat.Wir dürfen nicht vergessen – Franz Müntefering hat esgenannt, ich kann es biografisch nur unterstreichen –: Inmeiner Schulzeit wurden die Lehrer noch nach Erbfeind-
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schaften eingeteilt. Da gab es diejenigen, die die Russen,diejenigen, die die Angloamerikaner, und natürlich immerwieder diejenigen, die die Franzosen als Erbfeinde be-griffen haben. Hierauf beruhte die Einteilung. Dies klingtheute bereits wie eine Geschichte aus einer längst vergan-genen Zeit. Auch dies ist eine der großen Leistungen, dieder deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der Ély-sée-Vertrag, erbracht hat: die Selbstverständlichkeit.
Denken wir doch einmal daran, was gerade dieseGrenze im deutschen Südwesten an Unglück für die dor-tige Region, für Baden und für Rheinland-Pfalz und im-mer wieder auch für das Saarland bedeutet hat und mitwelcher Selbstverständlichkeit diese Grenze staatsrecht-lich heute noch existiert, aber faktisch die Menschen nichtmehr trennt, sondern in einem gemeinsamen Europalängst durchlässig geworden ist. Hierfür hat der Élysée-Vertrag Wesentliches geleistet.Meine Damen und Herren, die deutsch-französischeAussöhnung war auf dem Hintergrund der Selbstzer-störung des europäischen Staatensystems möglich. DasGleichgewicht der Mächte wurde in zwei großen Kriegenim 20. Jahrhundert, die vor allen Dingen von Deutschlandund Frankreich geführt wurden, endgültig zerstört. Aufdem Hintergrund dieser Erfahrung haben zwei großartigeStaatsmänner, nämlich Robert Schuman und Jean Monnet,die Idee eines anderen Prinzips gehabt: gründend auf derdeutsch-französischen Aussöhnung die Integration der In-teressen herbeizuführen.Sie begannen mit der Wirtschaft, aber sie hatten natür-lich auch die Kultur und vor allen Dingen die Politik imKopf. Das setzte voraus, dass Deutschland und Frank-reich zusammenarbeiten, dass diese Erbfeinde gewisser-maßen zu Erbfreunden werden. Das war und – ich unter-streiche das – das ist bis zum heutigen Tag die Grundlage,auch in einer erweiterten Union. Das ist der eigentlicheCharakter des deutsch-französischen Vertrages.
Diese Vision in Politik umzusetzen war von Anfang andie große Leistung von Konrad Adenauer, von WillyBrandt, von Helmut Schmidt, auch von Helmut Kohl undjetzt von Gerhard Schröder, aller Bundeskanzler und allerfranzösischen Premierminister und Staatspräsidenten seitCharles de Gaulle. Diese Vision in konkrete politischeRealität und gelebte gesellschaftliche Realität umzuset-zen und dieses gemeinsame Europa zu bauen ist das obers-te Ziel und meines Erachtens auch das oberste Interessebeider Völker, beider Staaten.Dies gründet mit auf dem Élysée-Vertrag. Deswegenist es sehr wichtig – ich freue mich, dass diese Debatte zuEnde gegangen ist; Frau Merkel, das soll keine Selbstver-ständlichkeit sein –, dass die beiden Parlamente sich tref-fen. Ich habe es gestern im Ausschuss gesagt: Vielleichthaben wir, was die Symbolik betrifft, nicht die Sensibilitätunserer französischen Freunde. Aber für mich ist die Tat-sache, dass beide Parlamente sich zum ersten Mal wirk-lich plenar treffen, ein ganz wichtiges symbolisches Fak-tum für die Versöhnung unserer beiden Völker. Insofernwird diese Initiative von der Bundesregierung voll unter-stützt.
Wir haben natürlich von Anfang an auch die kultu-relle Dimension gehabt, die zivilgesellschaftliche Zu-sammenarbeit vor allem der Jugend. Das ist im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, im Élysée-Vertrag,von entscheidender Bedeutung gewesen. Wir sollten die-ses Vertragswerk nicht nur rückblickend loben; hiermüssen wir uns für die Zukunft neue Initiativen vorneh-men.Mit einer gewissen Sorge sehe ich, dass die Sprachent-wicklung, das heißt das Lernen der jeweils anderen Spra-che, auf beiden Seiten eher rückläufig ist, um es ganz di-plomatisch zu formulieren. Dafür gibt es Gründe: dieGlobalisierung; die Tatsache, dass heute Englisch die Lin-gua franca, die universale, die Weltsprache ist – ohne jedenZweifel. Aber wir würden auch und gerade in einem zu-sammenwachsenden Europa viel an Zukunft im deutsch-französischen Verhältnis verlieren, wenn wir nicht ver-stärkt Wert darauf legten, dass das Lernen der jeweilsanderen Sprache für die kommende Generation wiederauf eine breitere Grundlage gestellt wird.
Hier müssen wir uns gemeinsam mit den Ländern – ichdenke, da gibt es überhaupt keinen Widerspruch – ver-stärkt in die Zukunft hinein engagieren. Ich weiß, wieschwer das ist, aber ich halte das und gemeinsame kultu-relle Initiativen für unverzichtbar.Sie sprechen die Agrarpolitik an. Wenn das Geld dawäre, würde ich darüber gar nicht so diskutieren. Aber wirmüssen uns schon die Frage stellen, ob wir es uns in derWelt des 21. Jahrhunderts auf Dauer werden erlaubenkönnen, mehr als 40 Prozent des gemeinsamen Budgets inder Europäischen Union für Agrarpolitik und Agrarsub-ventionen auszugeben, während die gemeinsame Kultur-entwicklung, Film etc., ziemlich Not leidend ist. Wenn Eu-ropa – und das heißt auch Deutschland und Frankreich – inder Welt von morgen, im 21. Jahrhundert seine Rolle spie-len soll, müssen wir die Ressourcen anders einsetzen. Daswissen Sie, Frau Merkel. Das ist der entscheidende Punkt.Ich denke, das ist von zentraler Bedeutung.
Lassen Sie mich hier nochmals klipp und klar sagen:Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Kernund das Schwungrad der europäischen Entwicklung ge-wesen und wird dies – so behaupte ich – auch unter denBedingungen der EU der 25 bleiben. Das ist die Erfah-rung, die ich in den vergangenen vier Jahren gemachthabe: Wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind,ist das nie exklusiv, gegen andere gerichtet gewesen, son-dern hat immer als Schwungrad gewirkt.Bundesminister Joseph Fischer
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Bundesminister Joseph FischerWir haben vorhin Adenauer und de Gaulle und dieSchwierigkeiten, die sich aus der Präambel ergeben ha-ben, angesprochen. Das kam mir plötzlich bekannt vor.Da hat sich im deutsch-französischen Verhältnis nichtsehr viel geändert: Die Kompromisse sind schwierig; aberwenn man sie einmal erreicht hat, treiben sie die europä-ische Entwicklung unglaublich kraftvoll voran.
Das ist das Faszinierende am deutsch-französischen Ver-hältnis.So nah wir als direkte Nachbarn aufgrund unserer His-torie in vielen Bereichen auch beieinander sind, so unter-schiedlich – das ist in einer Familie oft so – sind wir. Die-ses Spannungsverhältnis ist seit Adenauer und de Gaulleproduktiv. Die Aufgabe des deutsch-französischen Mo-tors ist es, diese Kompromisse für Europa voranzutreiben.Ich freue mich über Ihre positive Bewertung des vorges-tern erreichten Kompromisses. Es war vor allen Dingenauch eine große Leistung des Bundeskanzlers, die integrati-ven Elemente in einem europäischen Verfassungskompro-miss voranzubringen. Dass die Kommission vom Europä-ischen Parlament gewählt wird, ist natürlich eine enormezusätzliche demokratische Legitimation für die Kommis-sion im Rahmen einer zukünftigen Verfassung. Zugleichhandelt es sich dabei natürlich um einen gewaltigenKompetenzzuwachs sowohl für das Europäische Parla-ment als auch für die Bürgerinnen und Bürger, die diesesEuropäische Parlament aufgrund dieser verstärkten Kom-petenz anders sehen und indirekt einen Einfluss auf dieZusammensetzung der Kommission haben werden.Gleichzeitig werden wir in der Frage der Ausweitungder Rechte der Kommission einen entscheidenden Schrittnach vorne tun. So soll zum Beispiel die Kontrolle der Ge-neraldirektionen von der Politik – genauer gesagt: von derKommission – wahrgenommen werden. Das halte ichebenfalls für einen ganz entscheidenden Schritt nachvorne. Wer die praktischen Verhältnisse kennt, wird mirzustimmen. Die Ausdehnung des Mitentscheidungsver-fahrens auf sämtliche Legislativakte der Union ist für diezunehmenden Rechte des Europäischen Parlaments eben-falls von sehr großer Bedeutung. Darüber hinaus habenSie die Frage der gemeinsamen Außenpolitik angespro-chen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die ge-meinsame institutionelle Vertretung der Außenpolitik inZukunft durch einen EU-Außenminister wahrgenommenwird.Frau Merkel, als genauso wichtig sehe ich es an, dasses uns im gesamten Bereich der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik jetzt gelungen ist, Mehrheitsent-scheidungen generell einzuführen. Auch darin sehe ich ei-nen ganz wichtigen Schritt nach vorn. Das reiht sich in dieüber Jahre hinweg andauernde Zusammenarbeit dieserRegierung mit der französischen Regierung ein. Einesmöchte ich Ihnen noch sagen: An diesem Punkt freue ichmich, dass Sie Ihre Kritik, die Sie in der Vergangenheitimmer geäußert haben, ein Stück weit zurückgenommenhaben. Sie kritisierten ständig, der Bundeskanzler würdedie deutsch-französischen Beziehungen, die europäischenAngelegenheiten insgesamt, schleifen lassen. Ich kannIhnen nur sagen: Mit der Agenda 2000 haben wir unterdiesem Bundeskanzler einen fast nicht möglich erschei-nenden Kompromiss erreicht.
Das war die Voraussetzung dafür, dass wir in praktischenVerhandlungen weiterkommen konnten.
Unter der Vorgängerregierung wurde das Jahr 2000 alsTermin für den Beitritt Polens genannt. Ein halbes Jahr,bevor wir die Regierung übernommen haben, waren dieVerhandlungsdossiers aufgeklappt worden. Unter derdeutschen Präsidentschaft hat der VerhandlungsprozessSchwung bekommen. In Kopenhagen haben wir den his-torischen Prozess, nämlich die Verhandlungen mit zehnneuen Mitgliedstaaten, abgeschlossen.
Darüber hinaus haben wir unter der deutschen Präsi-dentschaft den zweiten Teil – nicht nur die Erweiterung derUnion – begonnen. Zugleich – dies geschah, gründend aufden Kompromiss von Berlin, immer gemeinsam mit Frank-reich – war es aufgrund der deutschen Initiative möglich,den Konvent zu beginnen. Es geht also nicht nur um die Er-weiterung, sondern auch um die Verfassung Europas.Ich stimme der Kollegin Sager völlig zu: Wenn es indiesem Jahr, dem 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages, ge-lingt, im Konvent zugleich zu einer europäischen Verfas-sung zu kommen – die Arbeiten im Konvent laufen auchdank der Führung von Präsident Giscard d‘Estaing sehr gut–, dann hat sich das Vermächtnis des deutsch-französischenFreundschaftsvertrages, des Élysée-Vertrages, 40 Jahre da-nach erfüllt. Das war und ist das politische Ziel dieser Bun-desregierung. Das ist die Politik von BundeskanzlerSchröder und – das füge ich hinzu – Staatspräsident Jac-ques Chirac. Ich finde, das ist eine beachtliche Leistung,die im Interesse Europas liegt.
Das gilt auch für unsere Verpflichtung zum Frieden.Ich bin gerne bereit, diese Debatte an anderer Stelle auf-zunehmen. An einem Tag wie heute sollten wir aber keinetaktischen Debatten darüber führen, wie die Regierung ir-gendwohin geschoben werden kann.
– Es ist für Sie wichtig und völlig legitim. An einem sol-chen Tag sollten Sie das aber nicht tun. Jetzt ist nicht dieStunde der Taktik.
Ich sage Ihnen: Der deutsch-französische Vertrag istein Freundschaftsvertrag, der vor allen Dingen Friedengeschaffen hat. Wenn sich diese Bundesregierung zu et-was verpflichtet fühlt – dabei sind wir nicht naiv –, dannist das die Verpflichtung zum Frieden.
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An diesem Punkt ist für uns eines klar: Wir sind für dieUmsetzung der Resolution 1441. Das heißt, die Inspekto-ren sollen ihre Arbeit tun. Unserer Auffassung nach gibt eskeinen Grund, militärische Gewalt einzusetzen. UnsereSorge ist viel zu groß, dass ein Einsatz militärischerGewalt im Irak eine Folgekette auslöst, die fatale Wir-kungen haben könnte. Aus diesem Grund haben wir unsvon Anfang an klar positioniert. Wir haben gesagt, dass wiruns an einer militärischen Aktion im Irak nicht beteiligenwerden. Dabei bleibt es. Das ist konkrete Friedenspolitik.
Ich erteile dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Bundesaußenminister, heute ist weniger dieStunde des Selbstlobes als vielmehr die Zeit, darübernachzudenken, was uns der deutsch-französische Vertraggebracht hat und was wir aus diesem Geist, der damals dieStaatsmänner beflügelt hat, für unsere Zukunft mitneh-men können.Wir sind sehr dankbar, dass wir heute auf 40 Jahre Ély-sée-Vertrag zurückblicken können und dass das erfolg-reiche Werk der Gründerväter, die die Erbfeindschaft zwi-schen Deutschland und Frankreich überwunden habenund die sich die Hand zur Versöhnung gereicht haben,auch in die Zukunft getragen werden kann. Ich glaube, daswar damals eine Leistung, die zu Recht den Namen „his-torisch“ verdient. Damals haben die Gründerväter euro-päische Geschichte geschrieben. Wir alle in diesem Hausmüssen uns heute bewusst sein, dass deren Handeln füruns in Zukunft Auftrag und Verpflichtung ist.
Frieden auf dem alten Kontinent war damals nicht un-bedingt selbstverständlich. Wir sind sehr dankbar, dassdies heute gerade für unsere Kinder und für die nachfol-gende Generation vollkommen selbstverständlich gewor-den ist. Das ist aber nicht immer automatisch so, sondernan solchen Grundentscheidungen muss immer wiederweitergearbeitet werden.Die Bedeutung des Élysée-Vertrages im Einzelnen zuwürdigen hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Es ist, wiegesagt, viel wichtiger, das Ganze in der Zukunft fortzu-setzen. Wir wissen, dass der Geist, der damals geherrschthat, auch heute notwendig bleibt, um viele Krisen in derWelt zu überwinden. Wenn zwischen den Nachbarn Miss-trauen herrscht, dann lassen sich Krisen nicht überwin-den. Trotz der aktuellen Diskussion, trotz der drohendenKriegsgefahr im Nahen Osten, trotz der Tatsache, dass esso aussieht, als ob manches in einem nicht zu stoppendenAutomatismus abläuft, dürfen wir nie vergessen, dass sichder Einsatz um Frieden immer lohnt.
Dazu gehört immer auch das Überwinden von Miss-trauen, weil nur dann, wenn man Misstrauen überwundenhat, eine friedliche Nachbarschaft möglich ist. Darin liegtder historische Kern des Élysée-Vertrages.40 Jahre Élysée-Vertrag zeigen auch, dass sichDeutschland Vertrauen bei seinen Nachbarn erworbenhat. Diese Nachbarn sind von Deutschland im letzten undim vorletzten Jahrhundert nicht immer gut behandelt wor-den. Wir freuen uns, dass wir Deutschen heute ein aner-kannter Partner sind, sowohl bei unseren europäischenVerbündeten als auch in der Welt überhaupt. Dazu gehörtVerlässlichkeit. Dazu gehört, dass wir Deutschen keineSonderwege mehr gehen, sondern dass wir unser politi-sches Handeln für die Zukunft in diese Partnerschaft ein-betten.
Wenn die deutsch-französische Partnerschaft für denFortgang der europäischen Einigung entscheidend gewor-den ist, dann liegt das an der aufrichtigen Bereitschaft derMenschen zur Verständigung untereinander. Es ist bereitsgewürdigt worden, dass es sehr viele Städte- und Regio-nalpartnerschaften gibt, durch die die Menschen immerwieder zusammenkommen. Der Herr Bundesaußenminis-ter hat zu Recht beklagt, dass die französische Sprachewie auch die deutsche Sprache in dem jeweils anderenLand zu wenig gepflegt werden.Es gibt auch heute noch sehr viele idealistisch gesinnteJugendliche, denen der europäische Einigungsgedankeund die deutsch-französische Verständigung am Herzenliegen. Ich könnte Ihnen aus meiner eigenen Familie sehrviel darüber berichten. Mein Sohn hat in Frankreich stu-diert und dort ein juristisches Examen abgelegt. Insofernkann ich auch einiges über die praktischen Erfahrungenberichten, die die jungen Leute dort machen. Er ist sehridealistisch gesinnt dorthin gegangen und hat auch allesgut bewältigt, aber es war ihm nicht verständlich zu ma-chen, warum man sich in Frankreich ein Vierteljahr voneiner Behörde zur anderen anmelden muss, wenn mandort als Deutscher in einem gemeinsamen Europa studie-ren will. Sicherlich gibt es immer noch viele praktischeSchwierigkeiten, die überwunden werden müssen. Aberdaran muss gearbeitet werden. Es hilft nicht, mit dem Fin-ger aufeinander zu zeigen.Entscheidend ist sicherlich auch – wie immer, wenn et-was vorangehen soll –, dass die handelnden Personen eingutes Verhältnis zueinander pflegen und dass zwischenden Staatsmännern die Chemie stimmt, wie man so sagt.Ich erinnere daran, dass zwischen Adenauer und de Gaulledie Chemie gestimmt hat; sonst wäre der deutsch-franzö-sische Freundschaftsvertrag, über den wir heute reden,nicht möglich gewesen. Ich erinnere daran, dass auch zwi-schen Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing die Chemiegestimmt hat. Ich erinnere auch an das gute Verhältnis,das zwei an sich so gegensätzlich erscheinende Personenwie Helmut Kohl und François Mitterrand zueinander ge-funden haben.Die CSU, für die ich hier spreche, hat diesen Prozessimmer unterstützt und ihm auf wichtigen Etappen ihrenStempel aufgedrückt. Ich erinnere daran, dass Dr. JosefMüller, einer unserer Parteigründer, zu den Europäern derBundesminister Joseph Fischer
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Michael Glosersten Stunde gezählt hat und dass aus der CSU bereits1946, als es die D-Mark noch nicht gab, eine europäischeWährung gefordert wurde. Ich bin stolz darauf, dass derdamalige Vorsitzende meiner Partei, Theo Waigel, ent-scheidenden Anteil am Zustandekommen der Europä-ischen Währungsunion gehabt hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn manden Blick nach vorne richtet, fallen einem viele aktuelleNotwendigkeiten ein, zum Beispiel, dass Europa nur dannstark werden und stark bleiben kann, wenn auch unsereWirtschaft gut funktioniert. Dabei haben wir Deutscheeine besondere Verpflichtung. Ich will nicht alle Äuße-rungen des französischen Premierministers Raffarin überdie mangelnden Anstrengungen der Deutschen zitieren,den europäischen Wirtschaftsmotor flott zu machen. Wirmüssen aber zur Kenntnis nehmen, dass wir Deutsche inEuropa auch deswegen beliebt und geachtet sind, weil wirimmer der wirtschaftliche Motor waren. Dass dieser Mo-tor stottert, ist bedauerlich. Es dient der deutsch-französi-schen Freundschaft und der europäischen Einigung, wennwir wieder gemeinsam daran arbeiten und wenn die Bun-desregierung auf diesem Gebiet noch besser wird, als esder Herr Bundesaußenminister dargestellt hat.Der Verfassungskonvent tritt jetzt in eine entscheidendePhase. Wir fühlen uns bisher nicht sonderlich eingebunden.Überhaupt muss man sich nicht wundern, Herr Bundes-kanzler, wenn vieles in unserer Gesellschaft nicht mehr zu-sammengeht, wenn Sie die politischen Eliten – dazu müs-sen immer noch die politischen Parteien gezählt werden –,die vorher immer über das notwendige Vorgehen einigwaren, die Opposition nicht mehr einbinden. Früher ist esnie vorgekommen, dass sich ein EU-Kommissar an dieOpposition gewandt hat. Auch entscheidende Erweite-rungsschritte – vorhin ist bereits über die Türkei gespro-chen worden – sind nicht diskutiert worden.Ich meine, wir müssen bei dem, was wir künftig zu ge-stalten haben, darauf achten, dass wir die Menschen aufunserem Weg mitnehmen. Wir können ihnen keine weite-ren Entscheidungen überstülpen. Auch gibt es gegenwär-tig keinen nationalen Konsens, der überhaupt eine Recht-fertigung dafür böte, etwas ohne weitere Diskussion undohne Mitentscheidung des Volkes durchzusetzen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Men-schen erwarten natürlich eine Antwort auf die Frage, wo-hin in Europa die Reise geht. Die Menschen wollen wis-sen, welche staatsrechtlichen Ergebnisse am Ende diesesProzesses zu erwarten sind, welches die Grenzen des ge-meinsamen europäischen Hauses sind und über welchesSelbstverständnis das gemeinsame Europa verfügt. Nurdann, wenn sich Europa am Schluss als Schicksals-gemeinschaft versteht, wird es sich dauerhaft behauptenkönnen.
Nach wie vor befürchtet die große Mehrheit unseresVolkes infolge des Fehlens eines echten europäischen Be-wusstseins, Nation und Region würden auf dem Altar dereuropäischen Einigung geopfert. Unter den gegenwär-tigen Voraussetzungen sehe ich keinen anderen Weg alsden, die Rolle der Nationalstaaten noch immer als sehrwichtig zu erachten. Der Vorschlag des französischenStaatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers, denwir prüfen werden, sagt dies ebenfalls aus: Auch in Zu-kunft wird Europa auf einem Verbund selbstständiger Na-tionalstaaten aufbauen, die Souveränität nur in einem be-grenzten Ausmaß an Europa übertragen. Es ist somitzwingend erforderlich, Föderalismus und Subsidiaritätnicht nur in Paragraphen, sondern auch in der konkretenPolitik Rechnung zu tragen. Auch darum wird es beimVerfassungskonvent gehen.Wir dürfen ferner nicht vergessen, dass Europa auf ei-nem verbindenden historischen Erbe aufbaut. Die Eu-ropäer bekennen sich zu einer gemeinsamen Werteord-nung auf den Grundlagen des Christentums und derAufklärung.Nur dann, wenn wir diese uns verbindendenWerte aufrechterhalten, kann es zu einer eigenen gemein-samen europäischen Identität kommen. Herr Bundes-kanzler, Folgendes kann ich Ihnen in diesem Zusammen-hang nicht ersparen: Dass die verbindenden europäischenWerte, die man definiert, wie man es gerade braucht – alses um die Türkei ging, ist darüber nicht diskutiert worden –,ausgerechnet an Österreich ausprobiert werden sollten,war ein schlimmes Bubenstück, das wir eigentlich ver-gessen machen sollten, an das wir als Opposition aber im-mer wieder erinnern müssen.
Aufgabe des gemeinsamen Europas muss es sein, dieglobalen Probleme mit zu gestalten, Frieden und Freiheitin der Welt zu erhalten und den Terrorismus zu bekämp-fen, der natürlich auch Europa bedroht. Manche Diskus-sionen in unserem Land – auch in unseren Reihen – zei-gen, dass das Bewusstsein der Menschen zu gering ist,dass auch wir in der Bundesrepublik Deutschland mittenim Herzen Europas vom internationalen Terrorismus be-droht sind und im eigenen Interesse gegen diesen Terro-rismus vorgehen müssen.
Dazu brauchen wir ein handlungsfähiges Europa. LassenSie uns auch in Zukunft daran bauen!Danke schön.
Ich erteile Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPD-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Einer meiner Großväter liegt auf dem Hartmanns-weiler Kopf, einem Bergrücken der Vogesen, begraben,gefallen in den letzten Monaten des mörderischen ErstenWeltkrieges. Mein Vater geriet 1945 verwundet in franzö-sische Kriegsgefangenschaft. Meine Kindheit in Badenwar durch die französische Besatzung geprägt. Mein Va-ter verdiente nach 1945 das Brot für seine junge Familie
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als Arbeiter im Dienst des französischen Militärs. Dassind Einzelereignisse aus einer durch Feindschaft undblutige Auseinandersetzungen geprägten deutsch-franzö-sischen Geschichte.Und dann geschieht nach dieser leidvollen Geschichtedas Unglaubliche: Trotz brutaler Okkupation Frankreichsdurch die Deutschen und trotz Gestapo- und SS-Terror ha-ben unsere Nachbarn uns nach der NS-Zeit die Hand zurVersöhnung gereicht. Franzosen und Deutsche haben ausFeinden Freunde gemacht. Die zwischen den beiden Zi-vilgesellschaften und Regierungen aufgebaute Partner-schaft wurde bereits vor 40 Jahren durch den Élysée-Ver-trag feierlich besiegelt.Heute fragen uns viele Menschen: Macht es denn nochSinn, wegen der notwendigen Versöhnung ein besonderesVerhältnis zu Frankreich zu rechtfertigen und aufrechtzu-erhalten? Die Versöhnung ist doch längst erledigt. Heutegeht es doch um andere Fragen in Europa. Heute musszum Beispiel die Aussöhnung mit Tschechien und Polenvorangebracht bzw. vollendet werden. Heute muss die eu-ropäische Zukunft gestaltet werden.In der Tat ist das, was noch unsere Eltern und Groß-eltern für undenkbar hielten, nämlich dass sie ohne jedeSchranke in das jeweils andere Land reisen und dass Fran-zosen und Deutsche in Freundschaft miteinander leben, fürdie jüngere Generation zu einer solchen Selbstverständ-lichkeit geworden, dass sie den weiten Weg kaum ermes-sen kann, den unsere beiden Völker aufeinander zugegan-gen sind. Sie versteht auch kaum, dass auch noch heuteeinzelne Vorfälle genügen, damit man sich bei unserenNachbarn des hässlichen Deutschen erinnert. Aussöhnung,gute Nachbarschaft und Freundschaft müssen also auchmit den Menschen unseres großen westlichen Nachbarlan-des immer wieder neu gewonnen und gelebt werden.Eine Bürgerin schrieb mir dieser Tage:Ich wünsche uns, dass wir nicht ermatten in dieserTätigkeit, die heute vielleicht schwieriger ist, sichmehr rechtfertigen muss als damals, wo man die Ver-söhnung als Glück und Fortschritt erlebt hat undnicht als etwas Gewöhnliches.Die deutsch-französische Zusammenarbeit hatte abervon Anfang an eine weit über die Verarbeitung der Ver-gangenheit hinausweisende Bedeutung und Aufgabe. Ausunterschiedlichen Motiven heraus – das ist schon ange-sprochen worden – wollten Deutschland und Frankreichdie Westintegration der Bundesrepublik. Es war klar, dassdies nur über den europäischen Einigungsprozess mög-lich war. In den 50er-Jahren waren Deutschland undFrankreich deshalb maßgeblich an der Gründung der Eu-ropäischen Gemeinschaft beteiligt. Dabei war die Ver-ständigung weder selbstverständlich noch einfach zu be-werkstelligen. Es war und ist durchaus nicht so, dass sichin Deutschland und Frankreich gesellschaftliche Ent-wicklungen in gleicher Weise vollzogen oder sich Tradi-tionen und Wertvorstellungen völlig identisch herauskris-tallisierten. Daraus ergibt sich, dass unsere Länder auchnicht von vornherein gleich gerichtete Interessen habenund auch nicht hatten. Dafür lassen sich viele Beispieleanführen. Eines davon ist der unterschiedliche Umgangmit den Risiken der Nukleartechnologie.Über den Versöhnungswillen, über den brennendenWunsch hinaus, unsere beiden Völker mögen aufhören,im Generationenabstand ihre Jugend auf den Schlachtfel-dern zu opfern, gab es drei Grundlagen für die erfolgrei-che Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frank-reich:Erstens: eine Balance zwischen Partnern mit unter-schiedlichen Stärken. Deutschland, durch den Viermächte-status gebunden und mit eingeschränkter Souveränität,war politisch zunächst ein Zwerg. Das deutsche Wirt-schaftswunder hatte es aber mit sich gebracht, dass dieBundesrepublik zur bedeutendsten europäischen Wirt-schaftsmacht geworden war. Frankreich tat sich dagegenschwerer, den Weg von der alten Industrienation in dashochtechnologische Zeitalter zu finden. Politisch warFrankreich aber gleichberechtigtes Mitglied im Kreis derehemaligen alliierten Kriegsgegner Deutschlands.Zweitens: der feste Wille, Gegensätze zu überwindenund die anstehenden Herausforderungen im Konsens zumeistern.Drittens: die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt,wie es beispielsweise die Währungsunion darstellte, diebereits von Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt alsIdee entwickelt und dann von François Mitterrand undHelmut Kohl in die Tat umgesetzt wurde.Trotz zeitweise auftretender Schwierigkeiten ist es im-mer wieder zu wegweisenden deutsch-französischen Ini-tiativen gekommen. Dabei spielte im Übrigen die politi-sche Farbe kaum eine Rolle. Ohne den gemeinsamendeutsch-französischen Willen hätte es weder den Binnen-markt noch das Verschwinden der Grenzkontrollen imSchengen-Raum gegeben.Nun ist viel darüber spekuliert worden, ob in den 90er-Jahren und erst recht mit Amtsantritt der rot-grünenRegierung der deutsch-französische Motor ins Stockengeraten sei.
Ich sehe das nicht so. Allerdings hatte sich die über Jahr-zehnte existierende Balance zwischen den beiden Län-dern nach dem 30. Geburtstag des Élysée-Vertrages ver-ändert. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staatenhat Deutschland wieder seine volle Souveränität erhalten.Das relative politische Gewicht des größer gewordenenDeutschland als normaler Staat ist auch im Vergleich zuFrankreich gestiegen. Dagegen haben der Zusammen-bruch der ostdeutschen Industriestrukturen und die Not-wendigkeit, die neuen Länder ökonomisch und sozialzu integrieren, zu einer wirtschaftlichen SchwächungDeutschlands geführt. Frankreich hat den Übergang insZeitalter der Globalisierung etwas besser meistern kön-nen. Aber Frankreich sorgte sich, dass Deutschland mitdem Fallen des Eisernen Vorhangs seine Energie nun da-rauf richten würde, wieder Sonderbeziehungen zu osteu-ropäischen Ländern aufzubauen und daraus besondereStärke zu beziehen.Nicht zuletzt deshalb war es ein besonderer Glücksfall,dass die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutsch-lands, Skubiszewski, Dumas und Genscher, den Grund-stein für das „WeimarerDreieck“ gelegt haben, das nichtDr. Angelica Schwall-Düren
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Dr. Angelica Schwall-Dürennur für die Heranführung Polens an die EU nützlich war,sondern auch Frankreich neben Deutschland eine wich-tige Rolle bei dieser Heranführungsstrategie gab. Das istim Übrigen ein Beleg dafür, dass die deutsch-französischeBeziehung andere Partner nicht ausschließt, sondern aufIntegration gerichtet ist.Zum Ende der 90er-Jahre war auch das gemeinsameProjekt Euro erfolgreich abgeschlossen, sodass ein wich-tiger Fixpunkt für die deutsch-französische Zusammen-arbeit wegfiel. Dies alles machte es notwendig, dass diePartner zu einer neuen Rolle und zu neuen Projekten fan-den.Doch lassen Sie mich zunächst noch auf einen anderenPunkt eingehen. Über die gesamten 40 Jahre des Beste-hens des Élysée-Vertrags hinweg haben Kontakte undZusammenarbeit der Zivilgesellschaft das deutsch-fran-zösische Verhältnis wesentlich bestimmt; Frau Griefahnwird darauf noch näher eingehen. Unzählig viele Arbeits-und Freundschaftsbeziehungen sind entstanden. Immermehr dauerhafte Beziehungen sind das Ergebnis.Wo Menschen zusammenleben, entstehen auch neueKonflikte und nicht immer können sie von den Beteiligtenselbst gelöst werden. Auch deutsch-französische Paaretrennen sich gelegentlich und manchmal schaffen es dieMenschen nicht, ihre Trennung so zu organisieren, dassihre Kinder weiter regelmäßigen Kontakt zu beiden El-ternteilen behalten. Eine unterschiedliche Rechtspraxis inunseren Ländern kann die Konflikte noch verschärfen.Deshalb hatten die Justizministerinnen Frankreichsund Deutschlands 1999 eine sechsköpfige deutsch-fran-zösische parlamentarische Mediatorengruppe ins Lebengerufen, die zerstrittenen binationalen Paaren helfensollte, eine Regelung zugunsten ihrer Kinder zu finden.Diese Einrichtung ist ein Beispiel für zahlreiche Aktivitä-ten, die durchaus unspektakulär dazu beitragen, deutsch-französische Anliegen gemeinsam voranzubringen.
Bei den großen europäischen Projekten erweist sichzum wiederholten Male die Stärke der deutsch-fran-zösischen Zusammenarbeit: Voraussetzungen für dieEU-Erweiterung mussten geschaffen werden. Mit einereuropäischen Verfassung soll in diesem Jubiläumsjahr dieHandlungsfähigkeit der EU angesichts größerer undneuer Herausforderungen gestärkt werden.Wegen der Notwendigkeit, den EU-Stabilitätspakt ein-zuhalten, und angesichts weltweiter Konjunkturschwächeist die Finanzierung der EU-Erweiterung mit Augenmaßzu betreiben. Dabei – das ist schon angesprochen worden –fällt der umfangreiche Agrarhaushalt besonders ins Ge-wicht. Hier sind die unterschiedlichen Interessen der Eu-ropäer auch sehr deutlich: Das Agrarland Polen als wich-tigster Vertreter der Beitrittsländer wollte für seine Bauernwie die Altmitglieder Direktzahlungen erhalten. Deutsch-land wollte als größter Nettozahler keine zusätzlichenMittel aufbringen. Frankreich mit seiner Agrarstrukturwollte auf keinen Fall auf Mittel verzichten. Trotzdieser schwierigen Ausgangslage haben es Deutschlandund Frankreich geschafft, auf dem Brüsseler Gipfel denAgrarkompromiss zu schließen, dem sich die anderenMitglieder anschließen konnten und der die Erweiterungmöglich gemacht hat. Der deutsch-französische Motor hatfunktioniert.Auch in Zukunft wird die Bewältigung dieser histori-schen Erweiterungsrunde hohe Anforderungen an dasdeutsch-französische Tandem stellen. Das anstehende Zu-kunftsprojekt der Vollendung der Einigung Europas durchdie Erweiterung und die Vertiefung ist von historischerDimension. Das Ziel muss es sein, dass auch die erwei-terte EU demokratisch, handlungsfähig, bürgernah, trans-parent und solidarisch ist.Die dafür nötigen Weichenstellungen müssen im Euro-päischen Verfassungskonvent vorgenommen werden.Deutschland und Frankreich – das zeigt sich wieder – wer-den sich gemeinsam für den Erfolg des Konvents und fürdie weitere Vertiefung der Europäischen Union einsetzen.Der Außenminister und unser Fraktionsvorsitzender FranzMüntefering haben schon den Hinweis auf die verschiede-nen konkreten Initiativen im Hinblick auf die Konventsar-beit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Gemein-same Außen- und Sicherheitspolitik und den Raum derSicherheit, des Rechts und der Freiheit gegeben.Die Bilanz des Élysée-Vertrages ist also nicht nur po-sitiv, sie ist sogar hervorragend. Wir alle sollten dazu bei-tragen, dies deutlich zu machen und Impulse für die Fort-setzung der deutsch-französischen Zusammenarbeit zusetzen.
Die Parlamente werden diese Initiativen über das Feierndes Geburtstages hinaus durch konkrete Arbeit begleiten.Es macht Sinn, kommende Woche zu unseren Kollegennach Versailles zu fahren. Ich darf Alfred Grosser zitieren,der in Frankfurt amMain geboren wurde und nach Frank-reich emigrieren musste – er ist ein großer KennerDeutschlands –:Wunderbar ist, dass endlich einmal die Volksvertre-tungen spektakulär zusammenkommen; das hatmehr Symbolkraft als jedes Treffen der Regierenden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! 40 Jahre Élysée-Vertrag, das bedeutet Aufbau einertiefen und vor allem einer belastbaren Freundschaft zwi-schen den Menschen diesseits und jenseits des Rheins.40 Jahre Élysée-Vertrag bedeutet auch eine intensive Ko-operation mit vielen Mechanismen zwischen Regierun-gen und teilweise zwischen Parlamenten. Die Intensität
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dieser Kooperation war nicht immer gleich. Man mussschon feststellen: Mit Amtsantritt der Regierung Schröder/Fischer ist dieser Motor ins Stottern geraten und er hat lei-der viel zu lange gestottert.
Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass die Zu-sammenarbeit in den vergangenen Monaten wieder bessergeworden ist. Wir begrüßen ausdrücklich, dass diese Zu-sammenarbeit, anknüpfend an vergangene Perioden, wie-der Erfolge zeigt. Auch das soll hier ganz deutlich gesagtwerden. Wir mahnen aber auch an, dort, wo es Konfliktegibt, diese auszusprechen. Wir veranstalten heute keineFeierstunde – sie findet nächste Woche statt –, sondernwir führen eine Parlamentsdebatte durch.
Es beunruhigt mich schon, zu sehen, dass die Franzo-sen heute – vor einigen Jahren hatten sie noch ein Stückweit Angst vor der wirtschaftlichen Übermacht Deutsch-lands – eher Angst davor haben – ich erinnere an die Aus-sagen von Raffarin –, dass Deutschland Europa wirt-schaftlich herunterzieht.
Herr Bundeskanzler, das beste Geburtstagsgeschenk, dasSie nächste Woche nach Versailles mitnehmen könnten,ist eine Änderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, da-mit in Deutschland endlich wieder Wachstum erfolgt, wo-durch auch die Wirtschaft in Europa wieder angekurbeltwürde.
40 Jahre Élysée-Vertrag heißt enge Kooperation zwi-schen den Regierungen. Ich meine, es ist jetzt höchsteZeit, diese durch eine enge Kooperation zwischen denParlamenten zu ergänzen. Gemeinsame Sitzungen derAuswärtigen Ausschüsse, der Europaausschüsse, eineenge Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicher-heitspolitik durch die Parlamente, aber auch ein regel-mäßiger Austausch einzelner Abgeordneter, Hospitations-programme der Abgeordneten, das müssten wir viel mehrinitiieren; denn wir haben doch gelernt: Dort, wo Men-schen zusammenkommen, funktioniert die Zusammenar-beit. Diesem Motto sollten wir auch in diesem Parlamentviel mehr folgen.
40 Jahre Élysée-Vertrag heißt, die Begegnungen unddie Freundschaft zwischen den Menschen zu stärken. Undda hat sich, verehrte Frau Kollegin Schwall-Düren – dastimme ich Ihnen zu –, etwas verändert. Die Generationderer, die den Krieg noch erlebt hat, tritt nach und nachvon der politischen Bühne ab. Die jungen Leute habendiesen besonderen Bezug nicht mehr. Es ist ja so, dass das,was wir bisher erreicht haben, nämlich dass Kooperationselbstverständlich ist und die Versöhnung erfolgt ist, dieRaison d’être des Vertrages ein Stück weit obsolet ge-macht hat. Deshalb müssen wir die jungen Menschen da-von überzeugen, wie wichtig das besondere Verhältniszwischen Deutschland und Frankreich ist.
Herr Außenminister, ich stimme Ihnen ausdrücklichzu: Zentrale Bedeutung hat hier die Sprache. Es muss unsschon mit Sorge erfüllen, wenn in Deutschland nur etwa14 Prozent der jungen Menschen Französisch lernen undin Frankreich weniger als 10 Prozent Deutsch lernen. DieZahl der Einschreibungen an germanistischen Institutenin Frankreich ist in den Jahren 1999 und 2000 um mehrals die Hälfte zurückgegangen.
Da dürfen wir nicht einfach untätig zusehen. Meine Da-men und Herren, wir müssen hier agieren. Hier liegt fürunsere junge Generation eine riesengroße Chance.Nach Schätzungen des deutschen Botschafters in Pariskönnen derzeit zwischen 20 000 und 40 000 Stellen inFrankreich nicht besetzt werden, weil die Bewerber überkeine deutschen Sprachkenntnisse verfügen. Das franzö-sische Wirtschaftsministerium nennt sogar eine Zahl von180 000. Hier muss etwas getan werden. Es dürfen nicht,wie es in den letzten Jahren erfolgt ist, Kultureinrichtun-gen geschlossen werden, vielmehr müssen wir Kulturein-richtungen schaffen.
Wir müssen gemeinsame Projekte durchführen. Der inBaden-Württemberg beschrittene Weg, Französisch inGrundschulen in der Nähe zur französischen Grenze alsPflichtfach einzuführen, ist richtig.Ich möchte zum Schluss kommen: 40 Jahre Élysée-Ver-trag impliziert auch, dass wir uns entsprechend verhalten.Die Menschen schauen auch auf uns. Ich habe, ehrlich ge-sagt, manche kleinkrämerische Reaktion in der ParteiKonrad Adenauers in Bezug auf unser Treffen nächste Wo-che nicht verstanden. Die Freundschaft lebt von Symbolen.Die Unterzeichnung des Vertrages war ein solches Symbol.Das Treffen in Versailles in der nächsten Woche wird einweiteres Symbol sein und auch zu neuen Aufbrüchenführen. Für die FDP-Fraktion sage ich: Wir sind stolz da-rauf, in Versailles an diesem Prozess mitwirken zu dürfen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Blickauf die deutsch-französischen Beziehungen hat für michErnst Burgbacher
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Dr. Gesine Lötzschals ostdeutsche Parlamentarierin noch mehr Aspekte, alshier schon beschrieben wurden. Die Erfahrungen meinerGeneration sind noch durch das Frankreichbild geprägt,das in der DDR vermittelt wurde. Dieses Bild war ambi-valent: Auf der einen Seite wurde die Geschichte der Wi-dersprüche und der Kriege zwischen beiden Völkern ver-mittelt, auf der anderen Seite gab es Hochachtung vor denfranzösischen Beiträgen zur Aufklärung und große Sym-pathien für die revolutionäre Tradition von 1789, für dieTradition der Pariser Kommune und nicht zuletzt für dieKämpfe der Résistance gegen Faschismus und Krieg. Sospiegelte sich unser Bild von Frankreich auch in den Er-zählungen vieler Antifaschisten wider, die zusammen mitFranzosen gegen die deutsche Invasion in der Résistancegekämpft haben.Der französische Botschafter in der Bundesrepublik er-klärte 1995 gegenüber Deutschen, die in der Résistancegegen Hitler gekämpft hatten, dass die Wurzeln derdeutsch-französischen Versöhnung in dem gemeinsamenKampf gegen den Faschismus liegen. Ich kenne vieledeutsche Kämpfer der Résistance, die in Frankreich mitoffenen Armen empfangen werden, aber in der Bundesre-publik, leider auch von dieser Regierung, bisher nicht dieentsprechende Aufmerksamkeit erfahren haben. Hier gibtes, wie ich denke, noch Nachholbedarf.Aus all meinen persönlichen Erfahrungen speiste sichimmer ein Gefühl der Achtung und des Respekts gegen-über dem französischen Volk, einem Volk, das sich zu An-tifaschismus, Toleranz und gesellschaftlichem Fortschrittbekannte. Ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik der60er- und 70er-Jahre, wo gegen solche Leute Berufsver-bote verhängt wurden, spielten im politischen LebenFrankreichs Linke und Kommunisten immer eine nor-male und geachtete Rolle. Viele Prominente und Intellek-tuelle schlossen sich der kommunistischen und der Ge-werkschaftsbewegung an. So kam Frankreich bei vielenOstdeutschen oft besser weg als die damalige Bundesre-publik.Ich verstehe daher auch den Beitrag der Ostdeutschenals Träger von deutsch-französischen Beziehungen nichtnur quantitativ, sondern auch als kulturelle Bereicherung,die auf die Traditionen von Humanismus, Antifaschismusund gesellschaftlicher Toleranz Bezug nimmt und diedazu beitragen kann, die in der Geschichte entstandenenund leider sicher auch heute noch in der einen oder ande-ren Form vorhandenen Vorbehalte zwischen beiden Völ-kern abzubauen und zu überwinden.Ich möchte zum Abschluss noch einen Aspekt beson-ders hervorheben. Die große Lehre aus der deutsch-fran-zösischen und der europäischen Geschichte, die überJahrhunderte viele verheerende Kriege hervorbrachte, be-steht in der Erkenntnis, dass sich Konflikte nicht mitGewalt lösen lassen. Umso mehr muss dieser Jahrestagauch Anlass für ein gemeinsames Bekenntnis zu Friedenund Zusammenarbeit sein. Angesichts der Gefahr einesneuen Golfkrieges liegt es, so denke ich, auch in der be-sonderen Verantwortung der Bundesrepublik und Frank-reichs, sich als Mitglieder des Sicherheitsrates aktiv füreinen friedlichen Weg einzusetzen und dies auch dann zutun und durchzuhalten, wenn es Gegenwind gibt, statt ei-ner falschen Doktrin zu folgen. Denn der Krieg wird die-ser Region keine Befriedung geben, sondern zu neuemTerror aufwiegeln.Möge sich hier die Achse Paris–Berlin als eine verläss-liche Stütze der europäischen und internationalen Kriegs-gegner erweisen. Ich denke, dabei haben die politisch Ver-antwortlichen das deutsche und das französische Volk aufihrer Seite.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! JeanMonnet hat einmal gesagt: Europa ist ein Beitrag zu einerbesseren Welt. War das nicht eigentlich das Leitmotiv, dasdem Élysée-Vertrag seinen Sinn gegeben hat und für im-mer geben wird, nämlich – wie es darin heißt – eine alteRivalität zwischen den Deutschen und den Franzosen zubeenden, damit sie solidarisch miteinander leben? Charlesde Gaulle und Konrad Adenauer haben damals als ge-meinsames Ziel erklärt, „dass die Verstärkung der Zu-sammenarbeit ... einen unerlässlichen Schritt auf demWege zu dem vereinigten Europa bedeutet“.Die deutsch-französische Freundschaft also muss, seit-her jedenfalls, immer wieder neu erkämpft und erarbeitetwerden. Sie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt, wennsie immerfort aufgebaut wird, getragen aus der Mitte un-serer Gesellschaften, immerzu angetrieben von einem ste-tigen politischen Willen. Tausende von Städtepartner-schaften, von Gemeinden, die zueinander gefunden haben,bilden das feste Netzwerk, das wir miteinander geschaffenhaben. Dieses Netzwerk der Zivilgesellschaften, der Men-schen, die zusammenarbeiten, ist unzerreißbar. Durch dieInstrumente, die entwickelt worden sind, haben in diesen40 Jahren beispielsweise 6,5 Millionen Jugendliche anAustauschprogrammen teilgenommen. Es sind noch im-mer jährlich – Frau Merkel hat das Thema angesprochen –140000 Jugendliche, die einander begegnen. Daran wol-len wir festhalten, denn das ist das feste Fundament, aufdem wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollen.
Der Élysée-Vertrag war ein Meilenstein, der Deutsch-land einen Weg in die Europäisierung gezeigt hat. Viel-leicht darf ich an die Kolleginnen und Kollegen von derUnion gewandt sagen – gerade als Deutscher, gerade alsMitglied der Sozialdemokratie, die gegründet worden ist,um die Enge des nationalen Denkens zu überwinden –: Eswar ein Glücksfall, dass Konrad Adenauer und Charles deGaulle, die beide aus einem eher konservativen Lagerstammten, zueinander gefunden haben. Es war auch fürdie Sozialdemokratie ein glücklicher Umstand, weil da-mit die Zeit jahrzehntelanger Gegnerschaft und Rivalitätzwischen Deutschen und Franzosen beendet werdenkonnte.
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Denken Sie an 1871, als es im Reichstag Stimmen– wenn auch nur wenige Stimmen, darunter die vonAugust Bebel – gegen den deutsch-französischen Krieggegeben hat. Das ist die Tradition, die die deutsche undfranzösische Sozialdemokratie miteinander verbindet: Esgab den Versuch, den Ersten Weltkrieg abzuwenden. Ichnenne ferner die Demonstrationen, an denen Léon Blumund August Bebel in Basel teilgenommen hatten, um dieschreckliche Tragödie, die dann über Europa hereinbrach,zu verhindern.Denken Sie an 1925, als im Heidelberger Programmder deutschen Sozialdemokratie gefordert wurde – dies istvielleicht ein verstaubter Begriff –: Wir wollen die Verei-nigten Staaten von Europa schaffen. Was wäre geschehen,wenn dieser Grundgedanke der Sozialdemokratie damalsRealität geworden wäre? Vielleicht wären diesem Konti-nent die zwei Weltkriege, die ihn so zerrissen haben unddie ihn haben so bluten lassen, erspart geblieben. DieserGrundgedanke liegt in der Tradition der Sozialdemokra-tie beider Länder und der europäischen Sozialdemokratie.
Nicht vergessen werden darf: Der Élysée-Vertrag hatschießlich die Möglichkeit geschaffen, dass Willy Brandtseine Ostpolitik machen konnte. Nur aufgrund der festenVerwurzelung Deutschlands in der atlantischen Allianzund in der Europäischen Gemeinschaft sowie der festenFreundschaft zwischen Frankreich und Deutschland wares möglich, dass es eine nach Osten gewandte Politik derVerständigung gab. Die Politik Willy Brandts war nurmöglich – er hat das immer wieder betont –, weil es diesefeste Bindung Deutschlands an Europa gegeben hat.Darin liegt der unendlich große historische Gewinn, denKonrad Adenauer und Charles de Gaulle für unsere bei-den Nationen geschaffen haben. Auf diesem Fundamentstehen wir und auf diesem Fundament werden wir weiter-arbeiten, damit – dieses Ziel wurde schon im Élysée-Ver-trag formuliert – Europa ein Kontinent des Friedens wird.Diesem Ziel bleiben wir verpflichtet und daran werdenwir weiterarbeiten.
Natürlich hat es – auch das ist heute schon angespro-chen worden – in der Freundschaft zwischen Frankreichund Deutschland immer wieder Verstimmungen gegeben.Es gab auch manches Missverständnis. Vielleicht solltenwir überlegen – Kollege Gerhardt hat es vorhin schon an-gesprochen –, woher ein Teil dieser Missverständnissekommt. Ein Teil rührt sicherlich daher, dass wir unter-schiedliche historische Erfahrungen haben. Frankreichachtet aus seiner großen Tradition der Aufklärung und derbürgerlichen Revolution heraus natürlich darauf, dass derZentralstaat das wichtigste Element der nationalenIdentität ist und bleibt. In Deutschland ist der föderaleGedanke der wichtigste Bestandteil unseres Selbstver-ständnisses. Die Föderation der Länder ist für uns un-verzichtbar – aus ihr ziehen wir unsere Kraft – und wirduns noch für lange Zeit prägen.Aber gerade weil es diese Unterschiedlichkeiten zwi-schen föderalem Staat und Nationalstaat, zwischen loka-ler Autonomie und zentraler Politik gibt, besteht für dasgemeinsame Duo Deutschland und Frankreich die großeChance, den Kerngedanken der europäischen Integrationlebendig zu halten. Den Grund dafür nennt „Le Monde“heute in einem wunderbaren Artikel über den Vorschlagvon Jaques Chirac und Gerhard Schröder: dass wir immerdazu verdammt sind, den Zwang des Kompromissesselbst zu erarbeiten, aus den Logiken, die auseinander fal-len – oder, wie Verfassungsrechtler sagen, aus der dop-pelten Legitimation Europas –, eben aus dem Nationalenund aus dem Regionalen heraus die Kraft zu schöpfen.Dieses Spannungsverhältnis müssen wir produktiv nutzenund in den gemeinsamen Prozess der Integration einbrin-gen. Das ist das, was Europa lebendig macht und leben-dig hält.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist vielleichtauch der Grund dafür, dass die große Weltmacht unsererZeit, die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht ganz ver-steht, was die europäische Integration bedeutet. DiesesSpannungsverhältnis aus den Regionen und aus den Kom-munen ist für die USA zwar etwas ganz Natürliches. Da-raus leben die USA auch selbst. Doch die Vielfalt in denSprachen und in den unterschiedlichen Konzepten ver-wirrt manche innerhalb der USA. Es ist ja auch schwie-rig, damit umzugehen. Nur sage ich: Wenn diese unter-schiedlichen kulturellen, sprachlichen und politischenHerkünfte zueinander finden, wenn sie miteinander Ko-operationsbedingungen eingehen, machen sie die wirkli-che Modernität unserer Zeit aus – nicht die Hegemonial-macht, sondern das, was uns in Europa miteinanderverbindet, dass wir aufeinander hören, dass wir jeden,auch den Kleinen, ernst nehmen und ihm Respekt zollen.Diese unterschiedlichen Herkünfte müssen wir zusam-menbinden und zusammenführen, um aus dieser produk-tiven Spannung heraus ein neues, integratives Europa zuschaffen. Das ist die wirkliche Kraft Europas, das ist dieModernität. Ich finde, in diesem Punkt hat das europä-ische Modell eine Faszination, die stärker ist als die Fas-zination der USA. Ich darf das so, jedenfalls für mich, sa-gen.
Ein letzter Aspekt, Herr Präsident, gerade auch aus Ih-rer eigenen Vergangenheit und Geschichte heraus: Diesesfaszinierende Modell hat gerade im Osten Europas ge-wirkt. Gestern noch hat mir Kazimierz Wojcicky, einerder großen Denker der polnischen Dissidenz, gesagt: Inden 70er-Jahren war dieses sich integrierende Europa, derWesten, das große faszinierende Modell dafür, wie mansich selber entwickeln kann, wie man eine zivile Gesell-schaft vorantreiben und von unten entwickeln kann, umzu versuchen, dass Polen, Deutschland und Frankreichder Kern werden für ein sich vereinigendes Europa. EinGedanke, der 30 Jahre alt ist, der auf dem Élysée-Vertragfußen kann und der im nächsten Jahr Realität wird. Einwunderbarer Gedanke von Charles de Gaulle und vonKonrad Adenauer ist Realität geworden und heute kannEuropa sagen: Das hat uns vorangebracht und daran wer-den wir festhalten.
Gert Weisskirchen
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Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Saar-
landes, Peter Müller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der Élysée-Vertrag markierte weder den Beginn nochden Endpunkt des Prozesses der deutsch-französischenAussöhnung. Aber er war sicherlich eine wichtige Weg-marke in diesem Prozess, denn er besiegelte nach Jahr-hunderten blutiger Auseinandersetzungen den Friedenzwischen Deutschen und Franzosen. Der Begriff der Erb-feindschaft, der sehr lange die Debatte geprägt hat, wurdedamit überwunden. Es ist gerade einmal 70 Jahre her, dassein vermeintlicher Philosoph wie Joseph Sieberger formu-lierte: Deutsche und Franzosen markieren die jeweilsäußerste Möglichkeit des Menschseins.Vor diesem Hintergrund war der Élysée-Vertrag, denKonrad Adenauer und Charles de Gaulle unterschriebenhaben, ein nicht unumstrittener Pakt, der darauf abzielte,menschliche Begegnungen zu ermöglichen, der aber vorallem darauf abzielte, in der Zukunft konstruktiv undschöpferisch zusammenzuarbeiten. Er wurde Grundlageder deutsch-französischen Zusammenarbeit. Aus ihm hatsich die Rolle Deutschlands und Frankreichs als Motorder europäischen Integration entwickelt, ganz im SinneRobert Schumans, der gesagt hat: „L’Europe ne sera pos-sible sans la France et sans l‘Allemagne.“Gerade für ein Land wie dasjenige, aus dem ich komme,das Saarland, das zwischen den Nationalstaaten Deutsch-land und Frankreich immer wieder hin- und hergeworfenwurde, ist der Élysée-Vertrag ein Vertrag von unschätz-barem historischen Wert. Deshalb ist es richtig, den40. Jahrestag zu feiern. Deshalb ist es richtig, dass sich dienationalen Parlamente zu dieser Gelegenheit zu einer ge-meinsamen Sitzung treffen. Deshalb ist es kleinkariert,darüber ausschließlich unter Kostengesichtspunkten zudiskutieren. Das wird der historischen Bedeutung des Ver-trages nicht gerecht.
Ich freue mich, hier im Bundestag als Bevollmächtig-ter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Ange-legenheiten im Rahmen des Vertrages einige Sätze sagenzu dürfen. Diese Institution wurde vor dem Hintergrundder Kulturhoheit der Länder und vor dem Hintergrund derErfahrung, dass in diesen Beziehungen gerade die Kultureine besondere Rolle spielt, in den Vertrag mit aufgenom-men. Jean Monnet soll auf die Frage, was er mit Blick aufden Prozess der europäischen Integration anders machenwürde, wenn er noch einmal von vorne anfangen könnte,gesagt haben: Wenn ich noch einmal von vorne anfangenkönnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen. Daszeigt die Bedeutung der kulturellen Beziehungen, die Be-deutung der interkulturellen Kommunikation. Nur wenndiese funktioniert, kann auch Freundschaft funktionieren.Deshalb ist dies ein ganz wichtiger und zentraler Punkt.
Die vermeintliche Erbfeindschaft zwischen Deutsch-land und Frankreich war nur vor dem Hintergrund der kul-turellen Selbstüberschätzung der jeweils eigenen Nationund vor dem Hintergrund der kulturellen Abwertung derjeweils anderen möglich. Die deutsche Kultur und die„civilisation française“ galten im Selbstverständnis beiderNationen lange als unüberbrückbare Gegensätze. DieÜberwindung dieser Gegensätze, die kulturelle Aussöh-nung und die kulturelle Wertschätzung des jeweils ande-ren, war die Basis für den Prozess der gesamten Aussöh-nung. Nur auf der Basis einer Kultur der Toleranz, nur aufder Basis gemeinsamer Werte und nur auf der Basis desklaren Bekenntnisses zu Freiheit, Demokratie und univer-sellen Menschenrechten konnte die deutsch-französischeAussöhnung gedeihen. Nur auf dieser Basis und auf derGrundlage des Élysée-Vertrages kann auch in Zukunftweitergearbeitet werden. Ich glaube, dass gerade in die-sem Zusammenhang auch in der heutigen Zeit der Élysée-Vertrag Bedeutung und Aktualität hat.
Der Prozess der Aussöhnung ist sicher eine der größtenhistorischen Leistungen in der zweiten Hälfte des vergan-genen Jahrhunderts. Für unsere junge Generation, fürmeinen 15-jährigen Sohn, ist die Aussöhnung keine großeErrungenschaft mehr. Für ihn ist die deutsch-französischeFreundschaft eine Selbstverständlichkeit geworden. Des-halb brauchen wir, wenn wir junge Menschen für diesesProjekt gewinnen wollen, eine weitergehende, eine zu-sätzliche Begründung. Diese weitergehende Begründungsollte das klare Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie undMenschenrechten, das Eintreten für Frieden und Toleranzüberall auf der Welt sein. Auf dieser Grundlage könnenwir die Rolle eines Motors in Bezug auf die europäischeIntegration wahrnehmen. Mit diesem Inhalt können wirjunge Menschen für die Mitarbeit am Projekt der deutsch-französischen Freundschaft gewinnen. Es gilt, genau andiesem Punkt anzusetzen.Die deutsch-französische Freundschaft kann nur ge-deihen, wenn sie nicht nur in den Institutionen und in denKöpfen der Politiker vorhanden ist, sondern auch in denHerzen der Menschen verinnerlicht ist, insbesondere inden Herzen der jungen Menschen.
In der kulturellen Zusammenarbeit sind in den 40 Jah-ren des Bestehens des Élysée-Vertrages viele Fortschritteerzielt worden. Wir sollten diese Fortschritte nicht klein-reden. Das Deutsch-Französische Jugendwerk ist ange-sprochen worden. Fast 7 Millionen Menschen sind sich inden zurückliegenden Jahren begegnet. Ich kenne keinevergleichbare Institution, die so viele junge Menschen zu-einander bringt, wie das Deutsch-Französische Jugend-werk es tut.
Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sich– ich habe dies selbst erfahren – junge Deutsche und junge
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Franzosen auch bei Zusammenkünften unter dem Dachdes Deutsch-Französischen Jugendwerkes miteinanderweder deutsch noch französisch unterhalten, sondern inEnglisch.
Dies ist ein Punkt, der uns nachdenklich machen muss. Esist bereits angesprochen worden: Die deutschen Sprach-kenntnisse in Frankreich gehen ebenso wie die französi-schen Sprachkenntnisse in Deutschland zurück. Ichglaube, wir dürfen uns damit nicht abfinden. Wir solltenuns vor falschen Frontstellungen hüten. Es ist klar, dassEnglisch in der heutigen Zeit unverzichtbar geworden ist.Deshalb heißt die Herausforderung auch nicht Bilingua-lität, sondern Trilingualität.Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, obnicht zumindest in den grenznahen Regionen die Vermitt-lung der Sprache des Nachbarn, die Vermittlung der fran-zösischen Sprache nicht nur eine Aufgabe für unsereSchulen ist, sondern ob wir nicht verstärkt damit beginnenmüssen, diese Vermittlung bereits in die vorschulischenEinrichtungen zu tragen. Die Erfahrungen, die wir mitKindergärten machen, in denen französische Mutter-sprachlerinnen und Muttersprachler beschäftigt sind, sindhöchst ermutigend. Das ist vielleicht ein Weg, um dasZurückgehen der Französischkenntnisse in Deutschlandabzubremsen.
Es gibt viele andere Bereiche, in denen wir vorange-kommen sind: mehr als 100 Schulen mit bilingualen Klas-senzügen, 23 Gymnasien, die das Abi-Bac, also das deut-sche und das französische Abitur gleichzeitig, anbieten,das deutsch-französische Sekretariat, das jedes Jahr etwa4 000 junge Auszubildende zusammenführt, die deutsch-französische Hochschule mit Sitz in Saarbrücken, ein Er-folgsmodell mit mittlerweile mehr als 100 angeschlosse-nen Universitäten und mit inzwischen mehr als 4 000Studenten.Wenn aber die Aufgabe Deutschlands und Frankreichsgerade darin besteht, weiterhin Motor der europäischenEntwicklung und der Erweiterung der EuropäischenUnion zu sein, dann sollten wir darüber nachdenken, dieseHochschule weiterzuentwickeln, uns zwar nicht nur mitBlick auf binationale, sondern mit Blick auf trinationale,auf multinationale Studiengänge, dann sollten wir sie zueiner europäischen Universität weiterentwickeln, die ausdem binationalen Erfolgsmodell ein europäisches Er-folgsmodell macht.
Neben allem, was erreicht wurde, gibt es eine Vielzahlvon Dingen, die gerade auch im Bereich des kulturellenAustauschs noch bewältigt werden müssen: Noch immerist es nicht vollständig gelungen, Diplome und Ab-schlüsse gegenseitig anzuerkennen. Die Zusammenarbeitder Museen und der Rundfunkanstalten kann ausgebautwerden. Über die Reichweite eines Senders wie Artesollte man noch einmal nachdenken. Grenzüberschrei-tende Kulturereignisse finden immer noch in relativ be-grenztem Umfang statt. Die Problematik der Sprach-kenntnisse habe ich bereits angesprochen.Ich glaube deshalb, dass der Élysée-Vertrag ein Vertragist, der vieles bewirkt hat, auf den wir mit Freude blickenkönnen, der uns aber unverändert auch nach 40 Jahrennoch viele Aufgaben für die Zukunft stellt. Auf der Grund-lage des Élysée-Vertrages haben Deutsche und Franzosenzur Versöhnung gefunden und sind zum Motor der euro-päischen Einigung geworden. Der Élysée-Vertrag isteine Erfolgsgeschichte, aber die letzten Kapitel sind nochlange nicht geschrieben. Lassen Sie uns gemeinsam dafürsorgen, dass auch die noch folgenden Kapitel zu erfolg-reichen Kapiteln werden.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Griefahn,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Freundschaft – das kennen Sie aus Ihren eigenenBeziehungen – ist eben keine Selbstverständlichkeit, son-dern muss immer wieder erarbeitet werden. Anderenfallshätten wir auch innerdeutsch nicht so viele Trennungen.Das gilt auch dann, wenn der Titel einer jüngst erschiene-nen Studie unsere Länder als „Ganz normale Freunde“ be-schreibt, und das nach Jahrhunderten von Krieg undFeindschaft.Mich berührt immer noch, wenn der Konzertchor vonCanteleu – das ist eine kleine Stadt in der Normandie – mitseinem Partner aus Buchholz in der Nordheide ein ge-meinsames Konzertwochenende organisiert, bei dem dieMitglieder der Chöre in den Familien wohnen, gemein-same Aufführungen machen und gemeinsam feiern. Daswäre vor einem halben Jahrhundert so nicht möglich ge-wesen und zeigt mir, dass der Dialog nach Kriegen undemotionale Nähe möglich sind. Ich glaube, das ist einganz wichtiges Gut.
Aber auch die normalste Freundschaft braucht hin undwieder einen Anstoß, um lebendig zu bleiben. Wir hattenöfter Stillstand zu verzeichnen, das Erstarren in Ritualenwar und ist manchmal eine Gefahr. Auch das haben wir er-lebt. Vor allen Dingen in den 90er-Jahren schien es, als obdie Fähigkeiten und der Wille zu gemeinsamen europapo-litischen Projekten abnähmen.Das hatte viele Ursachen, eines aber wurde deutlich:Erst ein Befreiungsschlag wie die Kompromisse von Brüs-sel Ende Oktober 2002 und – zu meinem Leidwesen alsSozialdemokratin – das Ende der Kohabitation in Frank-reich machten es möglich, neue Impulse für unsere Bezie-hungen zu geben.Ministerpräsident Peter Müller
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Monika GriefahnDeutlich wird immer wieder: Nur gemeinsam könnenwir europäische Integrationspolitik vorantreiben, kei-ner kommt am anderen vorbei. Das zeigt auch das Ergeb-nis des jüngsten Gespräches zwischen Kanzler Schröderund Präsident Chirac.Allerdings werden in einer erweiterten Union auch zu-sätzliche Führungsqualitäten gefragt sein. Die Fliehkräftein der EU werden größer und das bedeutet, dass wir einezusätzliche Verantwortung haben. Die Rolle unserer bei-den Länder in Europa wird wachsen und wir müssen wie-der Motor sein, damit Europa durch die zusätzlichen Mit-glieder stärker und nicht schwächer wird.Kurzfristig werden alle Blicke auf die Ausgestaltungund Umsetzung der Arbeit im Verfassungskonvent ge-richtet sein. Neben den Fragen der Verteidigungs- und Si-cherheitspolitik sowie der europäischen Innenpolitik istein Thema, das heute bereits mehrfach angesprochenwurde, zentral: Wir müssen die Besonderheit der kultu-rellen Vielfalt in Europa erhalten und gleichzeitig dieStärke der Bürger nutzen.Jean Monnet hat gesagt – Herr Müller hat es ausge-führt –, dass er, wenn er das Projekt der europäischen Ei-nigung noch einmal anfangen müsste, mit der Kultur be-ginnen würde. In der 1443Tat: Die Kultur schien schwachbeleuchtet zu sein, aber gerade hier liegt das größte undinteressanteste Potenzial der europäischen Einigung, wiees schon der Kollege Weisskirchen gesagt hat.Das Potenzial ist groß, weil es so viele unterschiedli-che Kulturen bereits in einem Land gibt, wodurch schonsichtbar wird, wie wichtig der Erhalt und die Förderungder kulturellen Vielfalt in Europa ist. Interessant undschwierig ist es deshalb, weil Fragen der Sprache, der Mu-sik, der Literatur, des Films und damit auch des Selbst-verständnisses herausragende Ansatzpunkte für produk-tive Auseinandersetzungen und kreative Lösungen bieten,auf die andere Regionen der Welt schauen, um davon ler-nen zu können. Das ist gerade für unsere Arbeit in Kri-senregionen wichtig.
Bei der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Län-dern geht es eben nicht um die Schaffung einer europä-ischen Kultur, im Gegenteil: Die Beteiligung der Bürgerund besonders der unterschiedlichen Gruppen in Europaist ein Schlüssel für die Akzeptanz und damit auch für denErfolg von Europa. Solange es heißt, das passiert da hin-ten in Brüssel, werden wir keinen Erfolg haben. Wir müs-sen alle beteiligen.Alle Vorschläge zu vertieften bilateralen Beziehungenauf parlamentarischer und Regierungsebene, so sehr ichsie begrüße und fördere – ich glaube, dass wir in der letz-ten Legislaturperiode viele gemeinsame Schritte, auchmit der Assemblée Nationale, gemacht haben –, reichennicht weit, wenn wir nicht darauf achten, das ungeheureInteresse, das die Gesellschaften aneinander haben, wirk-lich zu fördern und weiterzuentwickeln.Es gibt die Städtepartnerschaften, in deren Rahmensich Jugendgruppen, Sportler und Ratsmitglieder treffenund eine andere Kultur und andere Denkstrukturen direktkennen lernen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk– es wurde schon mehrfach erwähnt – tauscht immer nochwie im Jahr 1963 200 000 Jugendliche jährlich aus; ihmstehen aber heute, nach Kaufkraft berechnet, nur noch 34Prozent der Mittel, die es 1963 hatte, zur Verfügung. Da-ran müssen wir sicherlich etwas ändern, wenn wir vondem wegkommen wollen, was eine Studie des Deutsch-Französischen Jugendwerkes vor zwei Tagen veröffent-licht hat: Obwohl die Jugendlichen die Beziehungen zwi-schen Deutschland und Frankreich für gut halten, bestehtdas Wissen übereinander immer noch aus Stereotypen,wenn sie nicht an einem Austausch teilgenommen haben.Diese Stereotypen lauten „Baguette“, „Eiffelturm“ und„Käse“ auf deutscher Seite und „Zweiter Weltkrieg“,„deutsche Automarken“ und „deutsche Küche“ auf fran-zösischer Seite. Dies kann eigentlich nicht das Ergebnissein, wenn man so eng miteinander arbeitet. Hier müssenwir nacharbeiten.Die Sprache ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir brau-chen die Umsetzung des Vorschlages von Jack Lang, dergesagt hat: Wir müssen in Europa zu einem System kom-men, dass das Abitur mit mindestens zwei Sprachen ab-geschlossen wird, dass wir also dadurch unsere Vielfalterhalten, dass jeder neben Englisch noch eine zweiteSprache lernt. Dies muss vorangebracht werden.
Ich finde es interessant, dass die Zusammenarbeit derDeutschen und der Franzosen auch auf dem kulturellenGebiet wirklich Früchte zeigt. Vor zwei oder drei Jahrenwurde die Diskussion darüber, ob man zum Beispiel eineQuote für Film oder Musik einführen sollte, noch als voll-kommen absurd abgetan. Heute wird dies von Musikpro-duzenten gefordert, weil sie das französische Modell ge-sehen haben. Sie haben zum Beispiel auch gesehen, dassin der WTO und in den GATS-Verhandlungen die kultu-relle Vielfalt in Europa leidet, wenn wir solche Dinge inEuropa nicht unterstützen. Hier gibt es viele Annäherun-gen und viel Zusammenarbeit.Wir haben viel zu tun, wir haben viele gemeinsameProjekte. Ich werde in diesem Sinne persönlich für diedeutsch-französischen Beziehungen weiterarbeiten undmich dafür einsetzen, dass die Stärke von Europa, die kul-turelle Diversität, erhalten bleibt.Ich freue mich auch auf die Begegnung der Parla-mente in Versailles. Dies wäre noch vor einem halbenJahrhundert undenkbar gewesen. Wenn, dann gab es Re-gierungskontakte, aber keine Parlamentskontakte. Diesesind etwas wirklich Neues. Das sollten wir auch als posi-tiv beschreiben.
Unsere Möglichkeiten, neue Kontakte mit Parlamenta-riern auf der ganzen Welt zu knüpfen, werden gestärkt,wenn wir sehen, dass die Parlamente auf deutsch-franzö-sischer Ebene zusammenarbeiten.Ich denke, es liegen noch große Aufgaben vor uns. Wirmüssen weiter zusammenarbeiten. Dazu sind auch derpersönliche Kontakt und die emotionale Nähe notwendig.Wir sollten dies auch als solches positiv begreifen.
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Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Wir sind uns in diesem Hause einig: Die EinigungEuropas bleibt auch in Zukunft auf das strategischeBündnis zwischen Deutschland und Frankreich ange-wiesen. Seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohleund Stahl über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft,die Einheitliche Europäische Akte, das Schengen-Ab-kommen, die Wirtschafts- und Währungsunion gab eskeinen Integrationsfortschritt in der Europäischen Union,dem nicht eine gemeinsame deutsch-französische Initia-tive vorausgegangen wäre.Umgekehrt zeigten die Verhandlungen des Europä-ischen Rates in Berlin und Nizza, dass Europa nicht vor-ankommen kann, wenn Spannungen zwischen Frankreichund Deutschland manifest werden.
Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass bei den Feier-lichkeiten am 22. Januar 2003 der Aufbau einer Europä-ischen Sicherheits- und Verteidigungsunion ange-stoßen werden soll.Im „Spiegel“ dieser Woche war zu lesen:In ihrer „Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestagdes Élysée-Vertrags“ kündigen BundeskanzlerGerhard Schröder ... und Staatspräsident JacquesChirac an, „in internationalen Gremien, einschließlichdes Sicherheitsrats, gemeinsame Standpunkte zu ver-treten und abgestimmte Strategien gegenüber Dritt-ländern festzulegen“.Dies wäre ein echter Fortschritt. Wir unterstützen dies mitNachdruck.
Am Dienstag hat nun der Bundeskanzler auf einerPressekonferenz betont, der deutsche Vertreter im UN-Si-cherheitsrat habe gegen ein militärisches Vorgehen ge-gen den Irak zu stimmen, sollte es dort zu einer Abstim-mung kommen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, fragen wirSie: Haben Sie dies so mit der französischen Seite abge-stimmt oder nicht? Das müssen Sie spätestens am 22. Ja-nuar 2003 klipp und klar sagen. Aus Paris hören wir näm-lich ganz andere Töne. Sie können nicht dort feierlicheErklärungen abgeben, an die Sie sich zu Hause nicht hal-ten.In Fragen der Sicherheitspolitik kann sich keiner aufunsere französischen Freunde berufen, der einen Sonder-weg propagiert. Ganz im Gegenteil: Wenn es um denSchutz der eigenen Bevölkerung geht – um nichts anderesgeht es ganz aktuell in der Irakkrise –, haben alle franzö-sischen Präsidenten, egal welcher Couleur, den engenSchulterschluss mit Amerika gesucht. Ich erinnere an dieRede von Präsident Mitterrand zum 20. Jahrestag des Ély-sée-Vertrages am 20. Januar 1983. In Deutschland tobteder Streit um den NATO-Doppelbeschluss, die Linkewarnte vor amerikanischen Abenteuern und forderte einendeutschen Sonderweg. Wie sich Geschichte doch wieder-holt!
In dieser Situation hat der große französische SozialistMitterrand vor dem Deutschen Bundestag seinen Genos-sen die Leviten gelesen.
Er forderte die Stationierung amerikanischer Mittel-streckenraketen, ohne die wir den Kalten Krieg nichtüberwunden hätten. Er sprach sich vehement gegen dieAbkopplung des europäischen Kontinents von den Verei-nigten Staaten aus und für eine enge Solidarität unterden NATO-Staaten.
Ich will eine Passage aus dieser Rede Mitterrands zitieren:Es gibt kein vorbestimmtes Schicksal, und unsereVölker wissen sehr wohl, dass sie heute im Friedendas Wertvollste aller Güter haben, nachdem ihre El-tern, ihre Großeltern so häufig an der Front, in denSchützengräben, im Widerstand, in den Lagern, inden Befreiungsarmeen davon geträumt haben, dassFrankreich und Deutschland sich irgendwann einmalgegenseitig achten und zu einem guten Einverneh-men finden würden ...Leider– Herr Bundesaußenminister, gerade nach Ihren Einlas-sungen heute möchte ich Ihnen besonders folgenden SatzMitterrands in Erinnerung rufen –hilft es nicht, den Frieden wie eine unsichtbareMacht anzurufen. Man muss den Frieden aufbauen,jeden Tag mit eigenen Kräften neu bauen, festigen,absichern.
Dazu braucht man einen kühlen Kopf und einenfesten Willen.Der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Ver-teidigungsunion ist eine zentrale Aufgabe der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Dazu brauchen wir keineStimmungsmache, sondern in der Tat einen kühlen Kopfund einen festen Willen.
Unsere engen und freundschaftlichen Beziehungensind Aufgabe der Politik. Sie sind aber, so hat es bereits deGaulle 1962 bei seinem Deutschlandbesuch formuliert,insbesondere das Werk der Jugend. Es ist von den Vor-rednern auf die großartige Erfolgsbilanz des Deutsch-Französischen Jugendwerkes hingewiesen worden, andem bisher knapp 7 Millionen Jugendliche teilgenommenhaben; Herr Müller, Sie haben das gerade erwähnt. Wir
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Dr. Andreas Schockenhoffwünschen uns, dass in Zukunft nicht weniger, sondernnoch mehr junge Menschen Kultur und Sprache desPartnerlandes kennen lernen. Es ist zu Recht gesagt wor-den: Während die wirtschaftlichen Verflechtungen immerenger werden, sinkt die Zahl derer, die jeweils die Spra-che des Partnerlandes lernen.Ich will mit Nachdruck unterstreichen, was der Minis-terpräsident des Saarlandes über die Wichtigkeit des Er-lernens der Partnersprache als Drittsprache bereits in derVorschule, in der Schule, aber auch später in der Hoch-schule gesagt hat. Herr Müller, lassen Sie mich aber er-gänzen: Angesichts der engen wirtschaftlichen Verbin-dungen zwischen unseren Ländern ist es auch fürAuszubildende und deren spätere berufliche Zukunft ent-scheidend, dass sie einen Teil ihrer dualen Ausbildung imPartnerland absolvieren können.
Es ist meiner Ansicht nach auch überfällig, bei der Er-arbeitung von Lehrplänen und Schulbüchern zusammen-zuarbeiten, ganz besonders bei der Erarbeitung vonSchulbüchern für den Geschichtsunterricht.Meine Damen und Herren, die Erklärung des79. deutsch-französischen Gipfels in Schwerin verweistvöllig zu Recht auf die Bedeutung der Medien für dieSchaffung einer europäischen Öffentlichkeit. Wir habenseit Jahren den deutsch-französischen FernsehsenderArte. Ich habe überhaupt nichts gegen Arte. Allerdingshandelt es sich dabei nur um ein Programm für ein elitä-res, intellektuelles Publikum. Wir brauchen deutsch-fran-zösische Medien und wir brauchen ein deutsch-französi-sches Fernsehprogramm für ein Massenpublikum,
in dem Nachrichtensendungen, die Übertragung gesell-schaftlicher und sportlicher Ereignisse, regionale Schwer-punktprogramme und vor allem auch Unterhaltungspro-gramme und Quiz-Shows, in denen die jeweiligeLebensart und das kollektive gegenseitige Wissen zu ei-nem Gemeinsamen werden, vorgesehen sind.Herr Müller, ich freue mich, dass Sie als Vertreter desBundesrates heute an dieser Debatte über die deutsch-französischen Beziehungen teilnehmen. Wir müssen inden Grenzregionen der betroffenen Bundesländer nochviel stärker zusammenarbeiten und zu modellhaften, star-ken binationalen Räumen kommen. Wir müssen gemein-same Verwaltungseinheiten aufbauen, eine gemeinsameRaumordnung und Verkehrsinfrastruktur schaffen und so-ziale Einrichtungen sowie Sportvereine grenzüberschrei-tend anlegen.Vor 40 Jahren hat man sich im Élysée-Vertrag damalskaum für möglich gehaltene ehrgeizige Ziele gesetzt, diefür uns heute selbstverständlich sind. Warum sollten wirdann nicht auch über grenzüberschreitende politische Ein-heiten nachdenken und für die Europawahlen zum Bei-spiel grenzüberschreitende Wahlkreise errichten und bi-nationale Wahllisten erstellen?
Frankreich bleibt für Deutschland und Deutschlandbleibt für Frankreich der größte Nachbar, der wichtigsteHandelspartner und der wichtigste Partner innerhalb derEuropäischen Union. Die Grenze zwischen Frankreichund Deutschland ist die längste zwischen zwei Mitglied-staaten der Europäischen Union. Beide haben keine Al-ternative zu dieser strategischen Partnerschaft.Für uns sind die privilegierten Beziehungen zu Frank-reich durch die Wiedervereinigung Deutschlands und dieEinigung Europas noch existenzieller geworden. In vielenbilateralen Fragen haben wir noch große Aufgaben voruns. Wir können unser Verhältnis noch viel enger ausge-stalten. Eine aktive deutsche Außenpolitik ist nur in einerfunktionsfähigen Europäischen Union denkbar. Die inter-nationale Handlungsfähigkeit Europas ist auf das engeund gleichberechtigte Zusammenwirken Deutschlandsmit Frankreich angewiesen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDPauf Drucksache 15/295 zum Ent-wurf einer gemeinsamen Erklärung der FranzösischenNationalversammlung und des Deutschen Bundestageszur interparlamentarischen Zusammenarbeit. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 3 c und 3 d: Interfraktionell wirdÜberweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/200und 15/296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Allerdings sollen diese Vorlagen– abweichend von den in der Tagesordnung gemachtenAngaben – federführend vom Ausschuss für die Angele-genheiten der Europäischen Union beraten werden. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahresbericht 2002 der Bundesregierung zumStand der deutschen Einheit– Drucksache 14/9950 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussSportausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-minister Manfred Stolpe.Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit istnoch kein Thema, das Begeisterungsstürme auslösen kann;denn harte Fakten fallen zuerst ins Auge: Die jüngsten Ar-beitsmarktzahlen weisen im Osten eine Durchschnittsar-beitslosigkeit von 18,4 Prozent gegenüber 8,2 Prozent imWesten aus. Die Abwanderung vor allem junger Leute dau-ert unvermindert an. Der Wohnungsleerstand beträgt an ei-nigen Standorten mehr als 20 Prozent und er wächst weiter.Diese Liste ließe sich fortsetzen.Doch ist auch wahr: Die Wertschöpfung von Unter-nehmen, speziell im verarbeitenden Gewerbe, ist seit1996 um 30 Prozent gestiegen. Die Zuwachsraten liegenüber denen Westdeutschlands. Große Unternehmen, zumBeispiel der Autoindustrie und der chemischen Industrie,haben mit strategischem Blick in Ostdeutschland erheb-lich investiert. Im Wissenschafts- und Forschungsbereichsind neue und zukunftssichere Arbeitsplätze entstanden.Die ostdeutschen Hochschulen und Institute haben welt-weit einen guten Ruf. Wirtschaftliche Zentren entwickelnsich in erfreulicher Weise. Alle Länder weisen mittler-weile starke industrielle Kerne auf.Die Zahl der Existenzgründungen, zum Beispiel inSachsen und Brandenburg, liegt, auf die Bevölkerung be-zogen, über der in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Die Angebote der Kinderbetreuung sind imOsten des Landes hervorragend.
Der Kampf gegen die Flut und ihre Folgen hat einmalmehr die Tatkraft, die Belastbarkeit und die Leistungsfä-higkeit der Menschen in Ostdeutschland gezeigt.
Es ist eindeutig: Zwölf Jahre deutsch-deutscher Soli-darität und tatkräftiger Aufbauarbeit in den neuen Bun-desländern haben einen gewaltigen Fortschritt gebracht.Weitaus mehr als die Hälfte des Rückstandes ist über-wunden. Die Menschen wollen die Angleichung der Le-bensverhältnisse durch eigene Leistung mitgestalten.
Wir im Osten Deutschlands wollen nicht mehr längerBremsklotz der wirtschaftlichen Entwicklung, sondernaktive Mitgestalter eines starken und zukunftssicherenDeutschlands sein. Das muss unser gemeinsames Inte-resse sein.Noch müssen wir Überbrückungs- und Stützungsmaß-nahmen insbesondere für den Arbeitsmarkt leisten.So werden wir bis auf weiteres Arbeitsförderungsmaß-nahmen, Strukturanpassungsmaßnahmen und Arbeitsbe-schaffungsmaßnahmen finanzieren müssen; denn vorerstist die Zahl der Arbeitswilligen weitaus größer als dieZahl der Arbeitsplätze.
Das gilt auch für Maßnahmen, die die Bundesregie-rung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ergrif-fen hat. In den neuen Ländern sind im Jahr 2001 rund165 000 junge Menschen unter 25 Jahren durch gesetzli-che Maßnahmen gefördert worden. Entsprechend großmuss unser Engagement auch sein, wenn es um die Schaf-fung von Ausbildungsplätzen geht. Trotz aller Anstren-gungen sind wir weiterhin auf öffentlich finanzierte Aus-bildungsplätze angewiesen. Im Jahr 2002 waren es fast37 000. Auch das JUMP-Plus-Programm ist gegenwärtigunverzichtbar.All das reicht jedoch nicht. Zusätzlich werden wir unsauch alle schon beschlossenen Maßnahmen vornehmenmüssen, die uns gerade in der Wirtschafts- und Arbeits-marktpolitik helfen können. Unsere Konzeption heißt, diewichtigsten Hebel entschlossen und beharrlich ansetzen.Diese Hebel kennen wir. Wir müssen sie nicht erst ratlossuchen. Mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes und derNeuordnung des Arbeitsmarktes haben wir einen wichti-gen Schritt getan,
zum Beispiel werden „Kapital für Arbeit“ sowie steuerli-che Erleichterungen für Existenzgründungen und Kleinst-unternehmen auch im Osten Arbeitsplätze schaffen.
Ein wichtiger Hebel wird die Mittelstandsoffensivesein; denn der Mittelstand ist das Herz der ostdeutschenWirtschaft. Die Mittelstandsoffensive schreibt die bishe-rigen Hilfen fest. Neue Fördermaßnahmen kommenhinzu. Wir wollen, dass sich der Mittelstand im industri-ellen Dienstleistungsbereich noch besser entwickelt.
Die Gründung einer Mittelstandsbank wird für ganz neueImpulse bei Existenzgründern und investitionsbereiten mit-telständischen Unternehmen sorgen. Die Mittelstandsbankwird Förderwege vereinfachen und beschleunigen. Siewird Möglichkeiten für die Stärkung des Eigenkapitals derUnternehmen schaffen. Sie wird zusätzliche Beratungsak-tivitäten entwickeln und Unternehmen unterstützen, diebisher Schwierigkeiten hatten, eine Hausbank zu finden.Wir wollen, dass sich der Mittelstand in den neuenLändern vor Ort entwickelt.
Aber natürlich wollen wir auch Unternehmensansied-lungen fördern.Denn Ostdeutschland ist ein guter Investitionsstandort.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
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Bundesminister Dr. h. c. Manfred StolpeDie zentrale europäische Lage, die immer besser wer-dende Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, in der Re-gel schnelle Verwaltungsverfahren und nicht zuletzt guteInvestitionsförderung sollten wir weltweit stärker heraus-stellen. Wie man das macht, zeigt das Industrial Invest-ment Council, IIC. Dieses Promotionsbüro, dessen Nameim Ausland bekannter ist als hierzulande, wurde von Bundund Ländern, Wirtschaftsvertretern und der DeutschenAusgleichsbank initiiert. Es dient der Investitionswer-bung.Seit 1997 hat das IIC 88 Projekte mit einem Investiti-onsvolumen von 4,1 Milliarden Euro und rund 19 000 Ar-beitsplätzen angeworben. Es soll zunächst bis Ende 2004weitergeführt werden. Der Kollege Clement und ich wer-ben dafür, dass eine Weiterführung auch über diesen Ter-min hinaus möglich wird. Ich nutze die Gelegenheit, umauch Sie um Ihre Unterstützung zu bitten.
Die Bundesregierung wird die wirtschaftlichen Rah-menbedingungen für die neuen Länder durch eine Viel-zahl von Maßnahmen weiter verbessern. Dazu zählt auchder Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, eineswichtigen Hebels der Standortentwicklung. Entsprechendhaben wir die Investitionspolitik in diesem Bereich vonBeginn an gestaltet. In den Jahren 1999 bis 2002 entfielenmehr als die Hälfte der Mittel des Investitionsprogrammsauf die neuen Länder. So konnten dort 18 Milliarden Euroin die Verkehrswege investiert werden. Damit haben wirwichtige Projekte wie den Bau der Ostseeautobahn A 20vorfristig gesichert. Auch in Zukunft werden die neuenLänder bei den Verkehrsinvestitionen besondere Berück-sichtigung finden.
Sie sollen einen Schwerpunkt im neuen Verkehrswege-plan bilden. Dabei wird es auch um den Neubau wichtigerVerkehrsachsen gehen. Ich nenne in diesem Zusammen-hang die A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin, dieA 72 zwischen Leipzig und Chemnitz und die Hochge-schwindigkeitsstrecke der Bahn von Nürnberg über Erfurtnach Berlin.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: So, wie derAufbau Ost eine Aufgabe im Interesse von ganz Deutsch-land ist, werde ich mich auch für den Ausbau West ein-setzen. Denn zum Beispiel sind überlastete und verstopfteVerkehrswege in westlichen Entwicklungszentren aucheine Behinderung wirtschaftlicher Entwicklung für dasgesamte Land.In den neuen Bundesländern gibt es noch erheblicheRückstände in der kommunalen Infrastruktur. Straßenund öffentliche Gebäude bedürfen dringend der Instand-setzung. Da gibt es noch viel Arbeit und die Attraktivitätder Städte könnte erheblich verbessert werden. Doch dieFinanzkraft der Kommunen ist gering. Oft sind sie nichtin der Lage, die Kofinanzierung für Bundes- oder Lan-desprogramme aufzubringen. Ich setze hierbei dringendauf die Kommission Kommunalfinanzen, damit hier Aus-wege aufgezeigt werden können. Wenn es aber keineschnellen Möglichkeiten zur Verbesserung der Finanzlagegibt, sollten Krediterleichterungen ernsthaft geprüft wer-den. Das ist jedoch bekanntlich nicht nur Aufgabe desBundes. Lassen Sie es mich noch einmal betonen: In derVerbesserung der kommunalen Infrastruktur liegt ein sehrwichtiger Hebel für den Aufbau Ost.
Wir haben uns vorgenommen, noch in diesem JahrBauen in Deutschland schneller und einfacher zu machen.Auch der Vorschlag, für ostdeutsche Länder entwick-lungshemmende Regelungen auszusetzen, sollte ernsthaftgeprüft werden. Ich jedenfalls meine nicht, dass dieserWeg verfassungsrechtlich unmöglich ist.Meine Damen und Herren, Sie kennen das Programm„Stadtumbau Ost“. Dabei geht es um die Schaffung at-traktiver Wohn- und Lebensräume, die von Bürgern undpotenziellen Investoren gerne angenommen werden. Dasist eine direkte Standortpolitik für die neuen Länder, diewir massiv weiterführen werden. Die dabei gewonnen Er-fahrungen fließen jetzt auch in das Pilotprogramm „West“ein.Meine Damen und Herren, wir wissen uns in derPflicht, gleichwertige Lebensbedingungen in Ost undWest zu schaffen. Das ist in vielen Bereichen gelungen.Auch die schrittweise Tarifangleichung hat in diesem Zu-sammenhang große Bedeutung. Es muss Schluss sein mitteilungsbedingten Benachteiligungen.
Heute wissen wir, dass die innere Einheit bedeutet,nicht Ost und West gleichzumachen, sondern gemein-sam nach Perspektiven für unser Land zu suchen. In den90er-Jahren überließen Ostdeutsche die großen gesell-schaftlichen Diskussionen über die Rolle Deutschlands inEuropa und der Welt oft dem Westen. In Ostdeutschlandkümmerte man sich „um die wirklichen Probleme des Le-bens“, wie es genannt wurde, nämlich Arbeitslosigkeitund Wirtschaft.Diese Sicht hat sich geändert; denn die Menschen inden neuen Ländern haben sich verändert. Die Ostdeut-schen haben begriffen, dass sie ein Teil dieses Landes sindund Mitverantwortung tragen: ob es um das gesellschaft-liche Zusammenleben in unserem Land geht – ich denkedabei zum Beispiel an das Selbstbewusstsein unserer be-rufstätigen Frauen – oder ob es um die großen Fragen vonGlobalisierung, Terrorismusbekämpfung oder Erhaltungdes Friedens geht. Die Menschen in Ostdeutschland mi-schen sich ein und werden gehört. Dabei ist es selbstver-ständlich, dass auch dort die Meinungen auseinander ge-hen und sich mitunter überraschende Allianzen querdurch Deutschland bilden.Bei anderen Fragen verläuft es entgegengesetzt. Habenwir im Osten vor zehn Jahren zum Beispiel in der Bil-dungspolitik noch darüber gestritten, welche Westmo-delle am besten zu übernehmen seien, gibt es heute einneues Selbstbewusstsein, das durch die Suche nach ge-meinsamen Perspektiven gekennzeichnet ist.
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Ostdeutschland ist auf einem guten Wege. Ich hoffe,dass die große Herausforderung, aber auch die Chance derOsterweiterung der Europäischen Union diesen Wegverstärken und nicht gefährden wird. Große Wettbewer-ber wachsen heran. Georg Milbradt sprach unlängst voneiner möglichen Sandwichsituation des Ostens zwischenden alten Ländern und den künftigen EU-Mitgliedern. Eswird in der Tat darauf ankommen, dass wir im Osten bes-ser, effektiver und schneller sind. Innovation, Flexibilitätund Qualität müssen Merkmale ostdeutscher Wirtschaftund Gesellschaft sein.
Ich wünsche mir, dass wir im Osten viele gute Beispielefür das ganze Deutschland hervorbringen können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich nutze dieGelegenheit, Ihnen allen für Ihre Unterstützung auf unse-rem schwierigen, aber hoffnungsvollen Weg zu danken,und bitte um Ihre weitere konstruktive und kritische Mit-arbeit an dem großen Projekt deutsche Einheit.Ich danke Ihnen.
Der nächste Redner ist der Kollege Arnold Vaatz,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das letzte Jahr war ein besonderes Jahr. Es ist si-cherlich gerechtfertigt, von diesem Pult aus darauf einzu-gehen, wie es im Übrigen auch der Bericht tut. Es gab eineNaturkatastrophe, wie wir sie zuvor noch nicht erlebthatten. Dabei haben wir nicht nur festgestellt, dass dieFlüsse Unmengen von Wasser und Schutt gebracht haben,sondern auch eine Botschaft vernommen: Das vereinigteDeutschland hat eine neue Belastungsprobe erfolgreichüberstanden; im Gegensatz zu dem, was diejenigen mei-nen, die immer von der Mauer in den Köpfen reden, istDeutschland zusammengewachsen.
Das ist ein Grund zur Freude. Es ist mir als sächsi-schem Abgeordneten ein Bedürfnis, mich von diesem Pultaus für das Ausmaß der Hilfe zu bedanken, das uns zu-teil geworden ist: 73 000 Einsatzkräfte von Bundeswehr,Technischem Hilfswerk, Bundesgrenzschutz, freiwilligenFeuerwehren usw. sowie unzählige freiwillige Helferstanden uns zur Seite. Ferner gab es eine Lawine derHilfsbereitschaft der deutschen Öffentlichkeit. Auch vieleAbgeordnete aus diesem Hause haben sich um die Orga-nisation von Hilfsgütern verdient gemacht. Auch die Me-dien haben dazu beigetragen. Ich möchte mich an dieserStelle ganz besonders herzlich dafür bedanken.
– Des Weiteren hat die Bundesregierung – das ist richtig –an dieser Stelle mit den betroffenen Landesregierungenerfolgreich zusammengearbeitet und im Wesentlichen,wie ich meine, richtig gehandelt. Auch dafür kann manDank sagen.Herr Bundeskanzler, Sie haben uns sogar mit den Wor-ten Mut gemacht, es werde niemandem nach der Flutschlechter gehen. Ich weiß nicht genau, ob Sie das inKenntnis der wirklichen Sachlage gesagt haben; denn mitder Flut ist für viele Menschen weit mehr verschwundenals nur Hab und Gut. Aber wahlkampfwirksam war dieseAussage. Das muss man Ihnen sicherlich zugestehen. Et-liche Zeitungen haben damals insinuiert, dass es die Flutgewesen sei, die diese Regierung gerettet habe.
Das ist ein Stück weit auch mein Eindruck. Es war in die-sen Tagen leider so, dass die Frage nach der wirtschaft-lichen und sozialen Zukunft Ostdeutschlands hinter denschrecklichen Flutbildern für kurze Zeit zurückgetretenist. Wenn dies nicht geschehen wäre, dann wäre deutlichgeworden, dass Sie auf diese Frage damals – das gilt auchheute – keine vernünftige und akzeptable Antwort gehabthaben.
Das zeigt auch Ihr neuerlicher Bericht zum Stand derdeutschen Einheit. Wir warten eigentlich seit 1998, alsoseitdem Sie regieren, auf eine in sich geschlossene Ge-samtstrategie, die eine Perspektive eröffnet, wie und in wel-cher Zeit der Aufholprozess in Ostdeutschland vorangehenkann. Dieser Aufholprozess könnte ein Argument dafür lie-fern, dass sich Firmen wieder in Ostdeutschland ansiedelnund dass junge Menschen in Ostdeutschland bleiben. Aberauf eine solche Gesamtstrategie warten wir bis heute ver-geblich. Das zeigt auch wieder der neue Bericht.
– Herr Stiegler, lassen Sie Ihre Kommentare. Hören Sieerst einmal zu! Bei Ihnen in Bayern stehen die Dingeglücklicherweise noch etwas besser.
Wenn Sie aber so weitermachen, dann sieht es bei Ihnenin Bayern bald genauso aus wie bei uns.
Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe
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Arnold VaatzDas versichere ich Ihnen. Herr Stiegler, alles, was inBerlin vergeigt wird, können die Bundesländer nicht he-rausreißen.
Diesmal liegen uns zum Glück zwei Schriftstücke vor,über die wir diskutieren können. Das eine ist der Berichtzum Stand der deutschen Einheit und das andere ist dasSachverständigengutachten, das ungefähr zur selben Zeiterschienen ist. Ein Unterschied ist festzustellen: DerBericht der Bundesregierung erschien am 9. September2002, also vor den Bundestagswahlen, und das Sachver-ständigengutachten erschien am 13. Dezember 2002, alsonach den Wahlen. Wenn man den Bericht und das Gut-achten vergleicht, dann fühlt man sich sehr stark an HerrnGabriel erinnert, der gesagt hat: Die Wahrheit vor derWahl – das hätten Sie wohl gern.Das Sachverständigengutachten, das sich sehr einge-hend mit Ostdeutschland beschäftigt und das in der nüch-ternen Sprache der Wissenschaftler geschrieben ist, isteigentlich – das stellt man nur fest, wenn man es genauliest – eine vernichtende Kritik erstens an der Diagnose-fähigkeit der Bundesregierung, zweitens an der Fähigkeit,Bilanz zu ziehen, und drittens an der Fähigkeit, Rezeptezu entwerfen. Der Kernsatz des Sachverständigengutach-tens lautet: Der Konvergenzprozess der neuen Bundes-länder ist nach einem schnellen Fortschreiten in den ers-ten Jahren der Wiedervereinigung deutlich ins Stockengeraten. Deutlicher kann man Ihnen nicht sagen, wasChefsache Aufbau Ost für Ostdeutschland wirklich be-deutet hat.
Die Sachverständigen fordern als Therapie ein speziel-les Wachstumsprogramm für Ostdeutschland mit teil-weise einschneidenden Konsequenzen. Im Übrigen ist dasderselbe Tenor, der zwar schon seit vielen Jahren von un-serer Seite dieses Hauses vorgetragen wird, den Sie aberJahr für Jahr nicht befolgen.Entsprechend nimmt das auch schon die Presse auf.Vor kurzer Zeit war in einer deutschen Illustrierten vorneine Bildgeschichte abgedruckt – ich weiß nicht, ob Sie esgesehen haben –, bei der Herr Minister Stolpe Herrn Mi-nisterpräsidenten Steinbrück offenbar etwas Lustiges er-zählt. Unter der Rubrik „Prominenten in den Mund ge-schoben“ schrieb der „Stern“ dazu wie folgt: Herr Stolpesagt Herrn Steinbrück, er habe dem Bundeskanzler er-zählt, der Aufbau Ost komme in diesem Jahr zum Laufen.Daraufhin lacht Herr Steinbrück schallend. – Wenn dieseWorte es wert sind, Prominenten in den Mund geschobenzu werden, wenn sie ein Witz sind, wenn die Leute in derTat darüber lachen müssen, dann bedeutet das: Die Öf-fentlichkeit weiß schon sehr genau, was wirklich hinterden schönfärberischen Berichten steht, die, seit Sie an derRegierung sind, regelmäßig zum Stand der deutschenEinheit erstattet werden.Diese Berichte beinhalten seit 1999 etwa dasselbe, nurmit einem Unterschied: Sie sind etwas unehrlicher ge-worden. 1999 hieß es im Bericht zum Stand der deutschenEinheit noch, dass sich der gesamtwirtschaftliche Auf-holprozess der neuen Länder vorerst nicht mehr fortge-setzt habe. Weiter haben Sie damals geschrieben: In denletzten beiden Jahren hat sich die Schere in der wirt-schaftlichen Leistung zwischen neuen und alten Ländernsogar wieder leicht geöffnet.Im Bericht 2000 hatte die Bundesregierung festgestellt– ich muss auch das wieder zitieren, obwohl es eigentlichbekannt ist, weil es mir darauf ankommt, diesen beschö-nigenden Sprachgebrauch aufzuzeigen –:1998 erreichte das gesamtwirtschaftliche Wachstumin den neuen Ländern 2,0 Prozent und lag damit er-neut leicht unter der westdeutschen Wachstumsratevon 2,8 Prozent.Damit ist das Wachstum im Osten um fast 30 Prozentniedriger gewesen als das im Westen. So weit hatte sichdie Schere mittlerweile geöffnet. Es spricht Bände, dassdas für diese Regierung kein Alarmsignal war.Im Jahr 2000 betrug das ostdeutsche Wirtschafts-wachstum nur noch 1,1 Prozent gegenüber 3,3 Prozent imWesten. Im Jahr 2001 sind wir schließlich dahin gekom-men, dass die ostdeutsche Wirtschaft geschrumpft ist: einWachstum von minus 0,1 Prozent.Herr Stolpe, Sie haben vorhin davon gesprochen, dieMenschen in Ostdeutschland wollten nicht mehr längerBremsklotz der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung inDeutschland sein. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: DieMenschen in Ostdeutschland waren niemals der Brems-klotz der Entwicklung.
Wenn es einen Bremsklotz der Entwicklung gab, dannwar er in Berlin, im Bundeskanzleramt und in den Minis-terien.Das zu der Bilanz der letzten vier Jahre Ihrer Regie-rung.
Während der ersten acht Jahre der deutschen Wieder-vereinigung war dieser Prozess einmal anders. Da wiesdie Tendenz in die andere Richtung. Es ist klar, dass es nurziemlich quälend und ziemlich langsam ging, aber es warzumindest mit einer Perspektive versehen. Nicht hinzu-nehmen ist, wenn sich diese Tendenz jetzt umkehrt, wennalles darauf hinweist, dass wir es in Zukunft mit einergrößeren Lücke zwischen Ost und West zu tun haben wer-den als heute. Das werden die Menschen mit gutem Grundnicht hinnehmen.
Kommen wir nun zu einigen Detailproblemen. DieSachverständigen erklären richtigerweise, das Hauptpro-blem in Ostdeutschland sei die unbefriedigende Entwick-lung auf dem Arbeitsmarkt. Genauso empfindet es auchdie absolute Mehrzahl der Ostdeutschen. In Ihrem Bericht
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müssen Sie offenbaren, dass sich die Anzahl der Arbeits-plätze in Ostdeutschland durch Ihre Politik in den vergan-genen vier Jahren nicht erhöht, sondern reduziert hat. Daskönnen Sie auf der Seite 64 Ihres Berichts nachlesen. DieBeschäftigung in Ostdeutschland ist während Ihrer ge-samten Regierungszeit zurückgegangen – im ersten Jahrungefähr um 40000, im zweiten Jahr um 110000 und imdritten Jahr um 180000. Das ist kein kontinuierlicher, son-dern ein progressiver Rückgang. Pro Jahr ist der Rückgangder Arbeitsplätze gegenüber dem Vorjahr um 70000 ge-stiegen. Stellen Sie sich diese Kurve bitte einmal weiterfür die nächsten zehn Jahre vor! Dann werden wir denPunkt erreichen, dass es in Ostdeutschland überhaupt keineArbeitsplätze mehr gibt. Das ist die Situation; sie lässtsich mit diesem Rückgang beschreiben.
– Das ist kein Grund, Witze zu reißen. Herr Stiegler, Siekönnen zwar Witze reißen; aber an dieser Stelle sind sieausnahmsweise einmal am falschen Platz.
Dennoch schreiben Sie in diesem Bericht, dass sich dieArbeitslosigkeit in den neuen Ländern seit 1998 kaumgeändert hat. Das ist, wie man diesem Bericht entnehmenkann, wieder nur die halbe Wahrheit und demzufolge einehalbe Lüge. Die Arbeitslosenquote spiegelt das Dilemmader Erwerbslosigkeit in Ostdeutschland schon längst nichtmehr adäquat wider. Das ist das Problem.Die Arbeitslosenquote schnellt nur deshalb nicht in dieHöhe, weil altersbedingt inzwischen mehr Personen denArbeitsmarkt verlassen als in ihn eintreten, weil die Re-gierung die Abwanderung gerade von jungen Leuten ausOstdeutschland fördert – wir haben vorhin vom JUMP-Pro-gramm gehört; die Abwanderung der jungen Leute istnämlich auch eine Folge dieses Programms –
und weil Langzeitarbeitslose dann aus der Statistik fallen– das ist besonders zynisch –, wenn sie nach der Teil-nahme an einem Programm der aktiven Arbeitsmarkt-politik erneut arbeitslos werden. Das ist die Realität.Sie müssen berücksichtigen, was gerade der letzte Faktbedeutet. Er ist deshalb so schwerwiegend, weil unter denArbeitslosen in Ostdeutschland die Anzahl der Langzeit-arbeitslosen – Personen, die länger als ein Jahr ohne Arbeitwaren – gegenüber 1996 um fast ein Viertel gestiegen ist.Was haben Sie denn eigentlich getan – wir haben daslange Zeit beobachten können –, um diesen Zustand zuverbessern? Ich muss Ihnen sagen: leider nahezu garnichts. Eine Reihe von Gesetzen, die Sie in diesem Hausemit Ihrer Mehrheit gegen uns verabschiedet haben, wir-ken bis heute asymmetrisch zulasten Ostdeutschlands.Im Sachverständigengutachten liest man, dass die Ar-beitslosigkeit unter den Geringqualifizierten in Ost-deutschland von 31 Prozent in 1991 auf 50 Prozent in2001 hochgeschnellt ist. In Ihrem Bericht halten Sie esnicht einmal für nötig, wenigstens die Frage zu untersu-chen, was Ihr 630-Mark-Gesetz in Bezug auf die Arbeits-plätze für Geringqualifizierte in Ostdeutschland bewirkthat. Eine solche Untersuchung kann man doch einmal inAuftrag geben! Sie haben es nicht gemacht, weil Sie ganzgenau wissen, dass dieses Gesetz besonders den Arbeits-markt in Ostdeutschland erheblich beschädigt hat.Auch auf die Frage, wie sich Ihr Scheinselbstständi-gengesetz und Ihr Betriebsverfassungsgesetz auf den Ar-beitsmarkt in Ostdeutschland ausgewirkt haben, findetman in Ihrem Bericht keinerlei Antwort. Wo, wenn nichtin einem solchen Bericht, wollen Sie denn darauf über-haupt einmal eingehen? Ich kann daraus nur schlussfol-gern, dass Sie darauf deshalb nicht eingehen, weil Sie et-was zu verbergen haben und weil Sie nicht zugebenwollen, dass diese Gesetzesinitiativen kontraproduktivwaren, dass sie die Perspektiven in Ostdeutschland weiterbeschädigt und den Menschen nicht geholfen haben.
Die Disproportionen zwischen Ost und West habensich in den letzten Jahren verschärft. Die Anzahl der Exis-tenzgründungen in Ostdeutschland ist schon seit 1999rückläufig. Im Jahr 2001 nahm die Anzahl der Neugrün-dungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 9 Prozentab, während der Rückgang im Westen nur bei 5 Prozentlag. Die Anzahl der Unternehmensneugründungen imHandel ging im gleichen Zeitraum um 12 Prozent zurück,während der Rückgang im Westen bei 5 Prozent lag. Ganzbesonders schlimm ist die Entwicklung bei den EDV-Dienstleistungen in Ostdeutschland. Dort ist die Quotevon 2000 zu 2001 um 18 Prozent gefallen. Das sind dietraurigen Realitäten der Wirtschaft in Ostdeutschland.
Gerade was die Wachstumsbranchen angeht, auf die wirgesetzt haben – sie sind die einzige Hoffnung dafür, dasses tatsächlich zu einer Annäherung kommen kann –, istdas besonders traurig.Die Sachverständigen weisen der Infrastruktur nachwie vor eine Schlüsselstellung im Hinblick auf die Wachs-tumserwartung in Ostdeutschland zu. In der Tat ist es Ih-nen im Infrastrukturbereich an vielen Stellen gelungen,wenigstens die langfristigen Ansätze beizubehalten, diebereits die Vorgängerregierung geschaffen hatte. Das ver-dient Respekt. Nur: Eine wirkliche Weiterentwicklungdes Infrastrukturprogrammes für Ostdeutschland ist leidernicht zu sehen. Im Osten werden zwar technologischeNeuerungen eingeführt, aber eben in Schanghai und nichtin Halle oder Leipzig.
– Das ist doch so.Während noch an den überregionalen Netzen gearbei-tet wird, kristallisieren sich inzwischen ganz andereArnold Vaatz
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Arnold VaatzKnackpunkte bei der Infrastrukturentwicklung heraus, dieSie in Ihrem Bericht nicht genügend zur Kenntnis neh-men. Das betrifft, wie es die Sachverständigen Ihnen inihrem Gutachten sehr deutlich sagen, das gesamte Themader öffentlichen Infrastruktur der Kommunen. Das siehtfolgendermaßen aus: Die Kommunen sind mittlerweiledurch Zahlungsverpflichtungen, die sie eigentlich nichtmehr bewältigen können, durch Kosten, die auf sie zu-kommen, und jetzt mittlerweile auch noch durch Tarifab-schlüsse, die sie nicht tragen können, an einem Punkt an-gelangt, wo sie ihre investiven Haushaltsanteile immerweiter zurückfahren müssen; dabei ist absehbar, dass sienicht einmal mehr mit den Reparaturen der bestehendenStraßennetze nachkommen werden. Das ist die Realität.Sie sind in Ihrem Bericht gegenüber diesem Umstand lei-der völlig blind.Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel zuetlichen Einzelthemen sagen,
zum Beispiel auch dazu, dass Ihnen überhaupt nicht auf-gefallen ist, dass die Themenbereiche Ärztemangel undWegbrechen der hausärztlichen Versorgung in Ihrem Be-richt überhaupt nicht erwähnt werden. Die Ärzte schlagenAlarm und beklagen, dass Sie dafür überhaupt keine Kon-zepte haben.Ich möchte mit einer kurzen Bemerkung schließen.Hier geht es nicht allein um das Thema Ostdeutschland.Vielmehr müssen wir im Kopf haben, dass wir keine fürOstdeutschland günstige Entwicklung erwarten können,solange in der gesamtdeutschen Wirtschaftspolitik grund-sätzlich falsche Weichen gestellt werden.
Hier bitte ich Sie, sich anzuschauen, was Ihnen dieSachverständigen ins Stammbuch geschrieben haben,nämlich dass Sie endlich einmal Nägel mit Köpfen ma-chen sollten. Wenn Ihre Vorschläge sinnvoll sind, wer-den Sie die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion be-kommen.
Aber machen Sie sich eines klar: Unser Land Deutschland– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – ist nichtmehr so stark, dass es eine beliebige Zeit lang eine völligunfähige und neben der Mütze stehende Regierung ver-tragen könnte. Ostdeutschland ist noch nicht stark genugund war noch nie stark genug, als dass es ihm, wenn esdem gesamten Deutschland schlecht geht, nicht nochschlechter ginge.
Bedenken Sie, dass die Dinge, die in Westdeutschland ne-gativ zu Buche schlagen, in Ostdeutschland eine noch vielverheerendere und möglicherweise sogar irreparable Wir-kung hinterlassen.
Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bünd-nis 90/Die Grünen.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sindin den zwölf Jahren deutsche Einheit, über die wir Bilanzziehen, trotz aller Kritik, trotz aller Unkenrufe und trotzaller Sorgen und noch bestehenden Probleme –
einen Teil davon hat der Herr Minister Stolpe hier vorge-stellt – ein gutes Stück vorangekommen.Mich stört nicht, Arnold Vaatz, die schwierige Pro-blemlage, in der wir uns befinden, sondern deren schizo-phrene Darstellung. Es geht nicht, wenn man in Sachsenein Loblied auf den Aufbau Ost singt und die Aufbauleis-tungen des eigenen Landes darstellt, aber die Rede hier inBerlin damit nicht übereinstimmt. Das müsste sie aber,denn der Aufbau Ost ist die Summe der Leistungen dereinzelnen Länder.
Wenn man dauernd von einer Erfolgsgeschichte in Sach-sen hört, die mit Biedenkopf-Milbradt überschriebenwird, dann muss ein gutes Stück dieses Erfolges auch Ber-lin gutgeschrieben werden.Im Übrigen wissen das die Bürger dieses Landesselbst; die Fortschritte sind zu sehen. Wir haben nicht nurarchitektonische Schätze aus dem Grau geborgen, son-dern man kann von Görlitz bis Usedom sehen, wie dieLeute ihre Regionen aufbauen, den Eigenwert ihrer Re-gionen wieder entdecken und beim Standortwettbewerbmithalten. Es hat in Ostdeutschland ein einzigartigerStrukturwandel stattgefunden. Ökonomen nennen dasTransformationsprozess. Wenn Sie das mit dem Stein-kohlebergbau in Westdeutschland vergleichen – der ehe-malige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, unserWirtschaftsminister Clement, zitiert dieses Beispiel häu-fig –: Dort hat vor 30 Jahren der Strukturwandel begon-nen und er hält noch immer an.
Darüber kann man kritisch diskutieren. Aber in Ost-deutschland hat man in den Bereichen Braunkohle, Textilund Chemie nur ein Zehntel der Zeit gehabt. Dort ist in derIndustriegeschichte Europas ein wirklich einzigartigerWandlungsprozess erfolgt. Möglicherweise aber habendie Lasten und die Probleme die Leistungen so verdeckt,dass den Ostdeutschen nicht richtig bewusst werden
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konnte, was sie Großes vollbracht haben. Das muss hierdeutlich gesagt werden.
Arnold Vaatz, Rot-Grün ist nicht durch die Flut gerettetworden. Mir tat es manchmal Leid, wie rettungslos verlo-ren der Spitzenkandidat der Union im Osten war.
Dieses Bild haben wir doch gesehen: ein taumelnderMann, der nach zwölf Jahren deutscher Einheit den Ostenentdeckt und sich vor Ort ein eigenes Bild macht. Ich habeimmer gescherzt, dass er, wenn er bei Günther Jauch eineOstfrage für 4 000 Euro gestellt bekäme, dann schon seinedrei Joker brauchen würde, einschließlich des Telefonjo-kers Lothar Späth.
Das war der Stand der Union zwölf Jahre nach derdeutschen Einheit: Sondergebiet Ost, neue Ostzone, ob-wohl man acht Jahre Zeit hatte, sich darauf einzustellen.Viele unserer Probleme hängen doch auch mit einemfalschen Leitbild der Anfangsphase zusammen.
Das Leitbild hieß: blühende Landschaften. Aber eine flo-rierende Wirtschaft kommt nicht von allein, sondern mussgezielt angesteuert werden, nicht nach dem Gießkannen-prinzip, um dieses floristische Bild zu bedienen. Wir ha-ben die Förderstrategien neu ausgerichtet. Das Konzept,das hier angemahnt worden ist, gibt es ja. Das Ziel derBundesregierung ist, Nachhaltigkeit auch beim AufbauOst zu erreichen. Deswegen steht Solidarität bei uns nichtnur auf dem Papier. Die Flutkatastrophe mag als ein-drucksvolles Beispiel dafür dienen, wie aus der EinheitDeutschlands die Einheit der Deutschen geworden ist, wiedas Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen ist, wieMenschen in Notsituationen geholfen haben. Aber manmuss dann bitte schön auch erwähnen, dass wir in der letz-ten Legislaturperiode den Solidarpakt II geschaffen ha-ben, der den ostdeutschen Ländern und Kommunen Fi-nanzsicherheit und Planungssicherheit bis 2020 bringt. Eswerden über 150 Milliarden Euro fließen. Das ist keinPappenstiel.
Manche westdeutsche Kommune würde sich freuen,wenn sie für zwei Jahrzehnte Planungssicherheit hätte.Auch das muss erwähnt werden; denn das war ein finan-zieller Kraftakt.Wir haben uns im Unterschied zu der Pauschalförde-rung, die es vorher gab, vor allen Dingen auf die indus-triellen Wachstumskerne konzentriert. Wir versuchen,durch Innovation, zum Beispiel durch die erfolgreichenInno-Regio-Programme und das Pro-Inno-Programm,Wachstumsregionen zu fördern. Diese gibt es in Ost-deutschland mittlerweile, beispielsweise das Biocon Valleyin Mecklenburg-Vorpommern, wo sich Biotechnikunter-nehmen mit Medizintechnikunternehmen zusammengetanhaben, oder die Buna- und Leuna-Olefin-Region, wo wirden Wiederaufbau, die Revitalisierung der Chemieindus-trie erleben. Ein weiteres Beispiel ist der SolarverbundOst mit dem Kompetenzzentrum in Freiberg. Das allessind hervorragende Beispiele für die Entwicklung desOstens.Der wirkliche Umbauprozess wird verdeckt, wenn mansich nur die nackten Wachstumszahlen anschaut. DieSchrumpfprozesse in der Bauindustrie sind notwendig.Sie werden jetzt etwas gestreckt, weil die Bauindustriedurch die nach der Flutkatastrophe nötige Wiederaufbau-leistung Aufträge bekommen hat. Dennoch haben wir inder Bauindustrie Überkapazitäten, die schrumpfen müs-sen. Zweistellige Wachstumsraten zu verzeichnen sindhingegen in den Zukunftsbranchen, in der Medizintech-nik, Biotechnik, Elektronik, Elektrotechnik. Wir habennach der Deindustrialisierung Ostdeutschlands eine Re-industrialisierung mit zweistelligen Wachstumsraten. Dasist der eigentliche Aufholprozess.Natürlich brauchen wir – das betone ich – eine Offen-sive gegen die Arbeitslosigkeit. Der Aufbau Ost kommtvoran, aber er kann nicht alle gebrauchen, nicht alle errei-chen. Es sind nicht alle eingebunden.
Wenn man über die Angleichung der Arbeits- und Le-bensbedingungen spricht, gehört zur Wahrheit aber auch,dass die Erwerbsquote in Ostdeutschland genauso hochist wie in Westdeutschland und dass die ArbeitslosigkeitOstdeutschlands auch etwas mit der Übergangsphase zutun hat. Wenn aus einer Arbeitsgesellschaft plötzlich einepostindustrielle Gesellschaft wird, dann sind solche ho-hen Arbeitslosenquoten nicht so schnell zu reduzieren.Dennoch dürfen wir nicht nur an der technischen, son-dern wir müssen auch an der sozialen Infrastruktur arbei-ten. Wir müssen bessere Bildungs- und Betreuungsan-gebote für Kinder und Jugendliche schaffen. Vonwissenschaftlichen Einrichtungen, Kultur- und Freizeit-angeboten hängt es ab, ob die Regionen so attraktiv sind,dass die jungen Leute dort bleiben oder hinkommen. Des-halb haben wir den Wettbewerb „Jugend kommt undbleibt“ ausgerufen, für den immerhin 2,5 Millionen Euroim Einzelplan 17 enthalten sind. Damit machen wir be-stimmte Regionen für Jugendliche attraktiv, steigern ihrenWert und stärken das Bindungsgefühl.Wir werden die Chancen der EU-Osterweiterung nut-zen.
– 2004. Sie wissen doch auch, dass die EU-Osterweite-rung 2004 stattfindet.
– Auch für die Grenzregionen gibt es spezielle Pro-gramme. Sie wissen, dass es dort eine höhere Investiti-onszulage gibt.
Werner Schulz
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Werner Schulz
– Wahrscheinlich, weil diese Menschen Sie so schreienhören.
Auch Frau Pieper hat einen großen Anteil daran, dassdie Menschen in Ostdeutschland enttäuscht sind.
– Selbstverständlich. Sie waren doch diejenige, die sogroß aufgetrumpft hat. Wenn man so auf die Pauke haut,indem man sagt, man sorge in Sachsen-Anhalt demnächstfür den großen Aufschwung, aber im nächsten Moment,in dem die Verantwortung übernommen werden könnte,verschwindet, dann löst das Enttäuschung aus.
Es ließe sich sicherlich noch vieles auch zu dem, wasArnold Vaatz ausgeführt hat, sagen. Ich will aber zumSchluss kommen. Es lohnt sich, dass der Bericht zumStand der deutschen Einheit angesichts der Chancen, diesich aus der Osterweiterung ergeben, in den nächsten Jah-ren in der vorliegenden Form fortgesetzt wird.Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-
legin Pieper, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Argumentation zeigt sich die Schwäche der Regie-
rungskoalition beim Aufbau Ost. Die Argumente, die Herr
Werner Schulz angeführt hat, waren einfach unsachlich
und nicht richtig.
Ich stelle klar, dass das Engagement der FDP für den
Aufbau Ost von Anfang an vorhanden gewesen ist. Wir
haben zu Beginn der 90er-Jahre ein Niedrigsteuergebiet
Ost eingefordert. Sie hätten diese Forderung unterstützen
können. Dann wäre der Osten Deutschlands in einer ganz
anderen Situation.
Aber was tun Sie? – Sie erhöhen die Steuern und Abgaben
zulasten des Mittelstandes und des Handwerks.
Ich zitiere Ihren Kollegen aus der SPD-Bundestags-
fraktion, Stephan Hilsberg. Er kritisiert Ihre eigene Auf-
bau-Ost-Politik, indem er sagt, Sie hätten kein Konzept
für den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland, es
herrsche tiefe Ratlosigkeit in Ihren Fraktionen und Ihre
Kollegen aus dem Osten seien immer mehr frustriert, weil
ihnen niemand mehr zuhöre, wenn sie die Probleme des
Ostens erwähnen.
Wenn Sie wirklich etwas für den Osten tun wollen,
dann sollten Sie aufhören, beim Aufbau Ost, gerade bei
den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen in den
neuen Ländern – Stichwort: Leibniz-Gemeinschaft –, zu
kürzen. Die Hälfte der Institute liegt in den neuen Län-
dern. Trotz aller Versprechungen vor der Wahl kürzen Sie
hier massiv. Das bringt den Osten nicht voran, sondern be-
lastet ihn. Tun Sie etwas! Sie haben es in der Hand! Sie re-
gieren. Wir leider noch nicht.
Danke.
Herr Kollege Schulz, Sie haben die Möglichkeit zuantworten.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Pieper, Sie haben sich mit Ihrem Zettel gut fürdiese Kurzintervention präpariert. Da Sie von Wahrheitgesprochen haben, will ich Ihrem Wahrheitsverständnisetwas nachhelfen.Wahr ist zum Beispiel, dass Sie 1990 mit Ihrer Forde-rung nach einem Niedrigsteuergebiet Ost die Unterstüt-zung von Bündnis 90/Die Grünen gefunden haben. Wahrist aber auch, dass Sie damals mit Graf Lambsdorff undHans-Dietrich Genscher regiert haben. Sie hatten achtJahre Zeit, ein Niedrigsteuergebiet Ostdeutschland einzu-führen. Das ist die Wahrheit.
Wahr ist, dass Sie in Sachsen-Anhalt angetreten sind,um ähnliche Versprechungen einzulösen. Wahr ist auch,dass Sie aus diesem Land geflohen sind,
weil Sie sich nicht getraut haben, die Verantwortung fürdie Bildungspolitik zu übernehmen. Das ist genauso wahr.
Ich finde es haarsträubend, wie Sie auf der einen Seitediese Show „Wir helfen dem Osten“ abziehen und auf deranderen Seite die anderen kritisieren. Sie sagen: Wir müs-sen erst einmal an die Regierung kommen.
Wahr ist aber, dass Sie den Soli, der Ostdeutschland zu-gute kommt, abschaffen wollten. Das sind die Forderun-gen der FDP.Insofern ist es unverständlich, dass Sie ein so gutes Er-gebnis in Sachsen-Anhalt erzielen konnten. Aber daswurde zwischenzeitlich ins rechte Lot gerückt.
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Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Zum wiederholten Male und richtigerweise behan-deln wir heute den Jahresbericht der Bundesregierungzum Stand der deutschen Einheit. Und zum wiederholtenMale stelle ich verblüfft fest, dass dieser Bericht über-wiegend Positives darstellt, obwohl die Schere zwischenOst und West ständig weiter auseinander geht.
Das ist etwas unfair gegenüber den Bürgern in den neuenBundesländern, denn sie haben wesentlich schlechterewirtschaftliche Verhältnisse und fühlen sich durch solcheBerichte im Endeffekt verschaukelt.Natürlich ist es legitim, positive Beispiele herauszu-stellen, aber obwohl der Osten Chefsache gewesen ist,sind 18,4 Prozent Arbeitslosigkeit Realität. Die Arbeits-losigkeit ist doppelt so hoch wie in den alten Bundeslän-dern und die Prognosen verheißen eindeutig eine Er-höhung der Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands.
Wie toll Sie das in Ihrem Bericht zum Ausdruck brin-gen, möchte ich mit einem Zitat beweisen:Damit hat sich auch im Jahr 2001 die seit Beginn die-ser Legislaturperiode zu verzeichnende positive Ent-wicklung auf dem Frauenarbeitsmarkt in den neuenLändern fortgesetzt. Die Arbeitslosenquote der
näherte sich der niedrigeren Arbeitslosenquote derMänner an.Das hört sich toll an und man denkt, die Arbeitslosigkeitin den neuen Bundesländern geht zurück. Die Zahl sagteindeutig etwas anderes; Kollege Vaatz hat es in Jahres-scheiben dargestellt. 1998 gab es im Osten 5 133 000 Be-schäftigungsverhältnisse, nach drei Jahren Rot-Grün habenwir noch 4 810 000. Das heißt, die Zahl der Arbeitsplätzenimmt ständig ab.Und was tun die Menschen? Sie wandern ab. Im Jahr2001 verließen nach Angaben des Statistischen Landes-amtes Sachsen 63 000 Bürger den Freistaat; das entsprichteiner mittleren Kleinstadt. Davon waren 53 Prozent jüngerals 30 Jahre und 44 Prozent verfügten über Fachhoch-schul- oder Hochschulabschluss. Genau diese Leute brau-chen wir aber in ein paar Jahren. Sie sind einfach notwen-dig, um die Infrastruktur im Lande aufrechtzuerhalten.
Ich empfehle Ihnen, diese Wanderungsanalyse sehr ge-nau zu betrachten. Das sind nicht nur die bösen schwarzenZahlen, das ist die Realität, mit der man sich auseinandersetzen muss und die zum Handeln mahnt.Herr Minister, Sie haben heute das Job-AQTIV-Gesetzund das JUMP-Programm angesprochen. Bisher wurdenüber 1 Milliarde DM – das Programm läuft ja seit 1990 –in dieses Programm eingebracht. In Ihrem Bericht heißtes, es seien Erfolge erreicht worden. Sie wollen dasJUMP-Plus-Programm für den Osten auflegen. Ich fragemich, wer dieses Programm überhaupt noch in Anspruchnehmen kann, wenn die Abwanderung so weitergeht. DieJugendlichen wandern aus Ostdeutschland ab. Wenn esnicht gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, werden wir inOstdeutschland auch keine Ausbildungsplätze haben. Dasist das Grundproblem, an dem wir kranken.
Sie wissen alle sehr genau, dass ohne Wirtschafts-wachstum keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Um die-ses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine durchgreifendeSteuerreform mit einer Senkung der Tarife und eine Re-form der Sozialsysteme mit einer Reduzierung der Bei-tragslast. Hierzu gibt es viele Ansatzpunkte. Besonderswichtig wäre für den Osten gewesen, das Gesetz gegenScheinselbstständigkeit zurückzunehmen. Das haben Sieaber nicht getan. Wenn Sie den Willen zu Reformen ha-ben, fangen Sie doch bei Kleinigkeiten an, die auf demTisch liegen. Hier kann man sofort etwas umsetzen.
Was tut die Bundesregierung stattdessen? Sie erschwertden Menschen das Leben durch steigende Steuer- und Ab-gabenlasten, um ihren hoch verschuldeten Haushalt zukonsolidieren. Von neuen Arbeitsplätzen weit und breitkeine Spur.Ich bin der festen Überzeugung, dass für die neuenLänder für eine Übergangszeit – ich finde es gut, HerrStolpe, dass Sie das angesprochen haben – neue Regelun-gen und Sonderregelungen erforderlich sind. Mit seinen„Paukenschlägen für den Osten“ hat Altkanzler Schmidtdas bereits einmal eingefordert. Das war nichts anderesals ein Paragraphenbeseitigungsprogramm. Lange hatman nichts gehört. Jetzt kommt wieder so etwas wie eineSonderförderung Ost.Die Überlegungen, die von HerrnClement kommen, sind zu begrüßen.Dazu kann man noch mehr Vorschläge unterbreiten.Damit es im Osten vorangeht, müssen die vom Westen imVerhältnis 1 : 1 übernommenen und fest zementiertenStrukturen auf dem Arbeitsmarkt aufgebrochen werden.Die starren bundeseinheitlichen Regelungen im Arbeits-und im Baurecht erschweren den Aufholprozess aller wirt-schaftsschwachen Regionen. Hier ist es Zeit zu handeln.Wir als FDP treten für Experimentierklauseln in denLändern ein. Konkret wollen wir, dass der Landesgesetz-geber im Arbeitsrecht und bei Planungsverfahren im Bau-recht sehr schnell mehr und umfassende Spielräume erhält.Das kürzlich vom sächsischen Wirtschaftsminister Gillopropagierte Modellprojekt Ost entspricht im Wesentlichen
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Joachim Günther
den Positionen der FDP. Wir werden es dementsprechendunterstützen.Herrn Clement – auch wenn er nicht anwesend ist –bitte ich, dass er die Auseinandersetzungen mit den Ge-werkschaften und Verbänden nicht scheut. Denn wir wol-len nicht gegen die Arbeitnehmer, sondern gegen die Ar-beitslosigkeit kämpfen. Das muss das Grundanliegen sein.
Die Schaffung von Experimentierklauseln ermöglichteinen föderalen Wettbewerb im Sinne von MillionenArbeitslosen. Dann kommt wieder Bewegung in den Re-formstau. Dann kann sich zeigen, wo mehr Arbeitsdyna-mik entsteht und welcher Weg im Endeffekt erfolgver-sprechend ist.Dem von der Bundesregierung angekündigten Mas-terplan Bürokratieabbau sehen wir mit großer Span-nung entgegen. Ich hoffe, dass den Ankündigungen nunauch Taten folgen.
Wie ernst es die Bundesregierung grundsätzlich mit demBürokratieabbau nimmt, das können wir feststellen, wennder FDP-Antrag „Abbau von Bürokratie sofort einleiten“im Bundestag zur Abstimmung steht.
Was mich im Zusammenhang mit der Entwicklung inden neuen Ländern besonders beschäftigt, ist die Rolle derKommunen, die meines Erachtens bei der Bundesregie-rung viel zu kurz kommt. Die Kommunen haben es inganz Deutschland schwer; das wissen wir. Aber im OstenDeutschlands stehen die meisten vor einem Kollaps. Da-bei geht es nicht nur um die Orts- und Kreisstraßen, dieSie, Herr Stolpe, vorhin angesprochen haben. Grund dafürsind die ständig steigenden Soziallasten, die die Kommu-nen aufgrund Ihrer Arbeitsmarktpolitik zu verkraften ha-ben, und die sinkenden Einnahmen bei der Gewerbe-steuer, weil der Mittelstand vor dem Ruin steht. DieKommunen können die Möglichkeiten der bestehendenFörderprogramme nicht mehr ausschöpfen, weil der dazunotwendige Eigenkapitalanteil nicht mehr vorhanden ist.Ein weiterer Grund ist nicht zuletzt der Tarifabschluss, derim Endeffekt eine Kündigungswelle nach sich ziehenwird. Herr Stolpe, die Bürgermeister im Osten Deutsch-lands wachen morgens mit Kopfschmerzen auf, weil sienicht mehr wissen, wie sie am nächsten Tag ihre Kom-munen weiterführen können.
Ich könnte viele Einzelbeispiele nennen, die den mise-rablen Zustand in den Kommunen verdeutlichen würden;aber dazu ist meine Redezeit zu kurz. Die Ursachen dafürsehe ich nach wie vor darin, dass es beim Bund und in denLändern an einem konsequenten Abbau der überzogenenBürokratie fehlt und dass eine Gemeindefinanzreformdringend erforderlich ist.Die Kommunen werden gegenwärtig kaum entlastet,aber ständig mit neuen Anforderungen konfrontiert.
Die rot-grüne Regierung hat eine Reihe von Lasten desBundes auf die Länder und die Kommunen verschoben.Hierzu gehören zum Beispiel die von den Kommunen zuerbringende Leistung für die Strukturanpassungsmaß-nahme Ost, die Übernahme der Sozialversicherungs-beiträge von Arbeitslosen oder die zu erbringenden Leis-tungen im Rahmen des Langzeitarbeitslosenprogramms.Die damit auf die Kommunen zugekommenen Pflichtauf-gaben strangulieren diese so, dass sie aufgrund ihrer lee-ren Kassen keinerlei andere Aufgaben mehr übernehmenkönnen.Nicht nur Deutschland ist Schlusslicht in Europa. Auchdie Kommunen werden bald als Bittsteller am Ende ste-hen. Trotzdem handeln Sie weiter nach dem Motto: Lie-ber die rote Laterne als gar kein Licht in Deutschland!
Nach vier Jahren Stillstand der Chefsache Ost und sei-nes dafür Beauftragten setzen wir unsere Hoffnungen nunauf Sie, Herr Minister Stolpe.
Unsere konkreten Vorschläge im Hinblick auf einen Büro-kratieabbau, auf Steuerreformen und Sozialprogrammeliegen vor. Handeln Sie, Herr Minister, bevor Sie stol-pern! Handeln Sie, bevor im Osten Deutschlands derLetzte das Licht ausmacht!
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Über Ihre Rede, lieber Kollege Günther, kann man meinerMeinung nach nur den Kopf schütteln. Sie wie auch Kol-lege Vaatz müssen doch, wenn Sie durch die neuen Län-der oder in Ihre Wahlkreise fahren, reinste Bretterwändevor dem Kopf haben. Ich halte es nicht für angemessen,den Menschen in Ost und West angesichts der Aufbauleis-tungen in den neuen Ländern und der Solidarität klarma-chen zu wollen, dass in diesen zwölf Jahren nichts passiertsei. Sie haben ja acht Jahre in Sachsen regiert, Herr Vaatz.Das, was Sie heute hier vorgetragen haben, ist dem wirklichnicht angemessen. Sie sprachen von vier Jahren Stillstand.Kollege Günther, Sie dürften teilweise Einreiseverbot be-kommen, wenn Sie in Regionen von Mecklenburg-Vor-pommern bis nach Sachsen kommen, die durch innovativeArbeitsplätze nicht nur zarte Blüten getrieben, sondern sichwirklich hervorragend zu Technologie- und Hightechstand-orten entwickelt haben.Minister Stolpe hat vorhin die Programme StadtumbauOst bzw. Soziale Stadt angesprochen. Es kann doch nichtsein, dass einerseits die von Ihren Parteien gestellten Bür-germeister und Landräte und auch Ihre Länderministermit diesen Programmen arbeiten, hierzu Wettbewerbe
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ausloben, tolle Veranstaltungen inszenieren und sich sel-ber an die Brust klopfen, während andererseits Sie alsBundestagsabgeordnete hier alles in Bausch und Bogenverdammen. Das ist dieser Modernisierung und insbeson-dere dem Aufbauwillen und der Leistungskraft der Men-schen in den neuen Ländern wirklich nicht angemessen.
Offensichtlich wollen Sie nicht sehen oder sehen Sienicht, dass wirklich Millionen wettbewerbsfähige Arbeits-plätze entstanden sind. Es ist das Problem von Statistiken,dass ihre Zahlen nichts darüber aussagen, in welcher WeiseArbeitsplätze umgewandelt wurden. Natürlich sindArbeitsplätze verloren gegangen, aber dies waren keine zu-kunftsfähigen Arbeitsplätze. Das erfahre ich nicht nur inmeinem Wahlkreis hier in Berlin oder in Brandenburg; dasmüssen Sie doch auch feststellen. Hier sind Millionen in-novativer neuer Arbeitsplätze bei kleinen und mittleren Un-ternehmen entstanden. Nur diese haben eine tragfähigeSubstanz und sind letztendlich zukunftsfähig.Hinzu kommt, dass im Technologiebereich 80 Prozentaller betrieblichen Anlagen in diesen Unternehmen neu-wertig sind. Das ist doch eine enorme Leistung, die sichsowohl in den Haushalten der Kohl-Regierung, aber ins-besondere seit 1998 in den Haushalten der rot-grünen Re-gierung niedergeschlagen hat und die Wirtschaftskraftvon Hightechregionen in den neuen Ländern von Nordnach Süd widerspiegelt. Besonders erfreulich ist – das ha-ben Sie überhaupt nicht erwähnt –, dass das verarbeitendeGewerbe hier doppelt so schnell gewachsen ist wie in denalten Bundesländern und teilweise wie in vergleichbarenLändern in der Europäischen Union. Weiterhin ist erfreu-lich – auch das haben Sie nicht erwähnt –, dass die Ex-portquote sich dabei mehr als verdoppelt hat.
Hiervon konnten wir zu Ihren Zeiten doch nur träumen.
Sie können doch erwähnen, dass wir mittlerweile die mo-dernste technische Infrastruktur der Welt haben und dasswir technische Infrastruktur und Technologie weltweit ex-portieren.
Auch das war Ihnen hier keine Silbe wert.Mehr als die Hälfte des vorhandenen Wohnungsbe-standes wurde modernisiert; Verbesserungen im Wohn-umfeld schlossen sich an. Das waren Maßnahmen, die dieBürgerinnen und Bürger zum Bleiben bewegt haben. Zu-dem hat sich die Wohneigentumsquote deutlich erhöht.Sie sollten auch einmal darauf eingehen, dass sich der we-sentlich höhere Stellenwert der natürlichen Lebensgrund-lagen im Abbau von Umweltbelastungen manifestiert.Auch das ist in den neuen Ländern festzustellen.Es ist bitter und wir beschönigen es überhaupt nicht– deshalb spreche ich es an –, dass aufgrund der hohen Ar-beitslosigkeit auch unter den Jugendlichen Wanderungs-bewegungen stattgefunden haben und weiter stattfinden.Aber wenn Sie seriös analysieren, dann können Sie dane-ben auch ein Nord-Süd-Gefälle bzw. Wanderungsbewe-gungen in den alten Bundesländern und Wanderungsbe-wegungen von den alten in die neuen Bundesländerfeststellen. Auch das gehört zur Wahrheit, die Sie darstel-len müssen, wenn Sie hier redlich argumentieren wollen.Anderenfalls könnte ich Ihnen detaillierte Zahlen ausBayern vortragen, der Region, die Sie als beispielhaft an-führen.
Mehrere konkrete Ziele lassen sich aus der Problem-analyse herauskristallisieren und werden von der Bundes-regierung und den sie tragenden Fraktionen prioritär ver-folgt. Dazu gehören natürlich die Schaffung zusätzlicherArbeitsplätze und die Angleichung der Einkommen, dieaber nur – das sage ich ganz deutlich – in Abhängigkeitvon der wirtschaftlichen Entwicklung stattfinden kann.Dazu gehören auch der Abbau der Transferabhängigkeit– darauf ist Kollege Schulz schon eingegangen – und dieStärkung der Wirtschaftskraft sowie die Angleichung derLebensverhältnisse in Ostdeutschland an das Westniveau.Das ist ein Prozess, den wir seit Jahren fordern. Er standnatürlich schon zu Ihren Zeiten immer wieder auf derAgenda, aber mit den jetzigen Tarifabschlüssen wirdLicht am Ende des Tunnels sichtbar.
Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kretschmer?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.Schon mit der Bundestagswahl wurden neue, in die Zu-kunft gerichtete Impulse gesetzt; auch das hat KollegeSchulz bereits angesprochen. Wir setzen nicht auf kurz-fristige Effekte – das haben Sie zu Ihrer Zeit mit der kurz-fristigen Ausweitung der ABM getan –, uns geht es umNachhaltigkeit. Darauf sind die Programme der Bundes-regierung ausgerichtet. Wir haben ein umfassendes Pro-gramm für den Aufbau und den Ausbau der neuen Bun-desländer aufgelegt.
– Sie können das zusammen durcharbeiten.
Ich komme darauf noch detailliert zu sprechen, wenn ichmich dem Bereich Bildung und Forschung zuwende, des-sen Haushalt Ihr Superminister Rüttgers bis 1998 – ichwill es locker formulieren – in den Keller gefahren hat. Ih-nen müssten jeden Tag die Ohren klingen.Heute reden wir über innovative Arbeitsplätze undHightechstandorte für Technologien. Wir müssen Sie da-ran erinnern, dass Sie seit Beginn der deutschen Einheitacht Jahre lang – bis 1998 – für diesen Prozess verant-wortlich waren.
Siegfried Scheffler
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Siegfried SchefflerSie könnten Ihre Reden hier halten, wenn wir 1998 amBeginn der deutschen Einheit gestanden hätten. Aber Ihreverkorkste Politik hat dazu geführt, dass Millionen vonAusbildungsplätzen gefehlt haben. Selbst Ihr KanzlerKohl hat diese nicht schaffen können. Erst mit der rot-grü-nen Bundesregierung 1998
wurden entsprechende Programme zum Abbau der Ju-gendarbeitslosigkeit aufgelegt.
Das JUMP- und das JUMP-Plus-Programm wurden be-reits angesprochen.
Herr Kollege Scheffler, der Kollege Kolbe würde gern
eine Zwischenfrage stellen.
Nein, die Kollegen hatten schon Gelegenheit, ihreStandpunkte vorzutragen. Sie können ja nachher ein paarKurzinterventionen machen.1998 waren die Jugendarbeitslosigkeit und die Situa-tion der Ausbildungsplätze in den neuen Ländern kata-strophal. Ich möchte Ihnen einige Programme, die wir zurBekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt ha-ben, nennen: Förderung überbetrieblicher Berufsbil-dungsstätten, Zukunftsinitiative für Berufliche Schulen,das Projekt „Schulen ans Netz“ und die Ausbildungsför-derung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Wir hätten zuOppositionszeiten davon geträumt, dass diese Programmeaufgelegt und die Mittel im Haushalt für die Beseitigungder Jugendarbeitslosigkeit und die Verbesserung der Aus-bildungssituation der jungen Leute in den neuen Ländernbereit gestellt würden.Nichts von dem haben Sie vorgetragen und das ist dasProblem. Ich finde es perfide, dass Sie so tun, als hätte1998 jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz gehabt.Genau das Gegenteil war der Fall.Wenn ich von einem Modernisierungsprozess spreche,der eingeleitet wurde, muss ich auch die Programme Inno-Regio und EXIST für Existenzgründer nennen. Wir habenin den letzten Jahren Umgestaltungen vorgenommen, da-mit der Mittelstand durch die Förderprogramme finanzi-elle Unterstützung erhält und die Innovation auch in denneuen Ländern greifen kann.Vom Minister bzw. vom Kollegen Schulz wurden hierschon einige Standorte angesprochen. Ich kann Ihnenaber noch einige nennen, so zum Beispiel den BereichJena. Hier hat sich aufgrund einer enormen Gründungs-dynamik bei der Biotechnologie eine regelrechte Biore-gion entwickelt.
Wenn Sie einmal nach Jena und zu Herrn Späth kommenund Sie vor den Menschen und den Arbeitskräften dortdiese Jammerarie, die Sie hier vor dem Deutschen Bun-destag halten, von sich geben würden,
würden Sie dort kein weiteres Mal Zugang bekommen.
Oder schauen Sie in die Region Leipzig/Halle/Bitter-feld: Hier hat sich eines der international führenden Zen-tren für Umwelttechnik etabliert. Gleiches gilt für die Re-gion Thüringen/Sachsen in Bezug auf die Elektronik.Sachsen-Anhalt und Sachsen machen sich zurzeit als Zu-lieferer für die Automobilindustrie unentbehrlich. InMecklenburg-Vorpommern bilden sich Allianzen für eineinnovative maritime Wirtschaft heraus.Es kann doch nicht sein, dass uns auf der einen Seitevor Ort – da ich hier den lieben Kollegen Werner Kuhnsehe: zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern –,
die wunderbaren Aufbauleistungen vorgeführt werden,die durch Programme der jetzigen Bundesregierung seit1998 finanziert werden, man aber auf der anderen Seitehier ein Zerrbild schafft und so tut,
als habe es diese Entwicklung in den neuen Bundeslän-dern und Berlin überhaupt nicht gegeben.Genau diese Innovationsnetzwerke müssen wir ver-stärkt fördern und finanzieren. Ich denke, mit dem Pro-gramm Inno-Regio, mit dem Programm Innovationskom-petenz mittelständiger Unternehmen oder mit demProgramm Inno-Net ist dies bereits jetzt erfolgreich ein-geleitet. Ich behaupte gar nicht, dass dies alles vollkom-men sei; ich denke, wir sind uns alle darüber einig – auchder Herr Minister hat es vorgetragen –, dass wir erst dieHälfte der Wegstrecke geschafft haben.Wir können uns alle hier hinstellen und darüber la-mentieren, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Ichsage: Seit 1990 haben wir gemeinsam mit den MenschenGewaltiges vollbracht. Insofern ist das Glas halb voll.
Wir sind auch mit dem Kraftakt Solidarpakt II, den Sieüberhaupt nicht erwähnt haben und wahrscheinlich amliebsten verschweigen würden, auf einem guten Weg. IhreLänderministerpräsidenten sind doch glücklich und zu-frieden darüber, dass im Rahmen des Solidarpaktes II diekommunalen Infrastrukturen, insbesondere die verkehrli-chen Infrastrukturen, verbessert werden.Ich freue mich jetzt schon darauf, mit Ihnen über denBundesverkehrswegeplan zu diskutieren, wo Sie allewieder die Wünsche aus Ihrem Wahlkreis vortragen, seies eine Ortsumgehung, eine Kommunalstraße, eine Bun-desfernstraße oder eine Autobahn. Dann werden Sie nach
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Hause kommen, sich hinstellen und sagen, Sie hätten dieshier geschafft und mit Unterstützung des Bundes bei derFinanzierung und der Sicherung im Haushalt würden Siedazu beitragen, dass vor Ort alles besser und schönerwird.Zu DDR-Zeiten gab es den Wettbewerb „Schöner un-sere Städte und Gemeinden“. Nach diesem Slogan ver-fahren Sie vor Ort. Aber hier im Deutschen Bundestagund für die Menschen vor den Bildschirmen tun Sie so, alswenn alles grau in grau wäre. Ich denke, Sie werden derWirklichkeit damit überhaupt nicht gerecht.
Ich könnte noch weitere Programme vortragen. Von Ih-nen, Frau Pieper, obwohl Sie ja im Bildungs- und For-schungsausschuss sind,
kam zum Beispiel kein Wort zum Programm EXIST, wo-durch sich 430 Unternehmen aus Hochschulen – was bis1998 überhaupt nicht der Fall war – ausgegründet habenund das dazu beigetragen hat, dass sich die Zahl der Spin-offs auf einem Niveau von über 150 pro Jahr stabil eta-bliert hat.
Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Pieper?
Nein. – Dazu kam von Ihnen kein Wort. Dies gilt auch
für das Programm „Zentrum für Innovationskompetenz“,
das versucht, universitäres Wissen in die Wirtschaft zu
transferieren.
Auch ich möchte mich noch einmal an den Minister
wenden: Es steht jetzt in der Öffentlichkeit und hier im
Raume, dass für die neuen Bundesländer Bundesgesetze
teilweise außer Kraft gesetzt werden, damit wir gerade im
öffentlichen Bereich, bei PPP, beim Hochbau und in der
Verkehrsinfrastruktur, schneller vorankommen. Gepaart
mit der Entbürokratisierung sollte dies der Dynamik beim
Zurücklegen der nächsten Hälfte des Weges dienlich sein.
Ich denke, auch das sinnvolle Instrument des Bundes-
verkehrswegeplans, das Verkehrswegeplanungsbeschleu-
nigungsgesetz, wäre eine gute Möglichkeit, um deutsch-
landweit ein Zeichen zu setzen.
– Mein lieber Kollege Friedrich, das ist weder in den alten
noch in den neuen Bundesländern abgelehnt worden. –
Wir werden uns darüber im Rahmen der Diskussion um
den Bundesverkehrswegeplan unterhalten. Mit diesem In-
strument werden wir, wie ich denke, in der Zukunft wei-
ter vorankommen.
Wir sollten aufhören, hier nur herumzujammern; viel-
mehr sollten wir, vor allem hinsichtlich der EU-Osterwei-
terung, einmal zur Kenntnis nehmen, was erfolgreich ent-
standen ist. Herr Minister, Sie sprachen gerade von „Sand-
wich“. Das Beste bei einem Sandwich ist die Mitte. Es sind
die neuen Länder, die in der Mitte Europas liegen. Von den
neuen Ländern werden positive Signale ausgehen. Ich
denke, dass wir in einigen Jahren von starken Wachstums-
regionen in den neuen Ländern sprechen können.
Vielen herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kol-
legen Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Kollege, Ihre Rede passt in der Tat in die Zeit von
„Schöner unsere Städte und Gemeinden“. Es ist schofelig,
die Abwanderung aus den neuen Bundesländern mit Ab-
wanderungsbewegungen in anderen Teilen Deutschlands
zu vergleichen. Ich weiß, wie die Leute darunter zu leiden
haben, wie es bei uns in Görlitz und in Dresden aussieht.
Es steht außer Frage, dass wir beim Aufbau Ost und bei
der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundes-
ländern Fortschritte gemacht haben. Aber das, was er-
reicht worden ist, sind höchstens kleine Pflänzchen.
Was wir heute kritisiert haben, ist, dass Sie keinen Weg
aufgezeigt haben. Ich hätte von Ihnen heute ein Konzept
erwartet: Wie schaffen wir den Anschluss an die alten
Bundesländer? Was ist Ihr Weg? Die Jugendarbeitslosig-
keit steigt. Die Unternehmensdichte und die Forschungs-
intensität sind wesentlich geringer als in den alten Län-
dern. Beim Projekt Inno-Regio wie bei anderen Projekten
zur Wachstumsförderung wird gekürzt. Die Kaufkraft ist
geringer und sinkt. Die Frage ist, wie Ihr Konzept aus-
sieht. Aussagen hierzu fehlen uns. Diese hätten wir von
Ihnen erwartet. Darauf haben Sie keine Antwort gegeben.
Es ist vollkommen richtig: Der Bericht, der vorliegt, ist
nicht das Papier wert, auf dem er steht. Er ist eine Belei-
digung für die Menschen in den neuen Bundesländern.
Herr Kollege Scheffler, Sie haben die Möglichkeit zu
antworten.
Ja, ich möchte darauf antworten. Ich habe davon ge-sprochen, dass die Abwanderungsbewegungen sehr diffe-renziert betrachtet werden müssen und nicht pauschali-siert werden dürfen.
Ich habe kritisch angesprochen, dass wir die Abwande-rungsbewegung insbesondere der jungen Menschen stop-pen müssen.Siegfried Scheffler
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Siegfried SchefflerWas Sie überhaupt nicht beachten, ist Folgendes: Se-hen Sie sich einmal den Forschungs- und Bildungshaus-halt seit 1998 an. Jedes Jahr haben wir draufgesattelt. DieMittel weisen ungeahnte Höhen auf. Noch nie war derHaushalt der Bundesrepublik Deutschland in diesem Be-reich so groß wie im Jahr 2002 und er wird es auch imJahre 2003 sein.
Noch nie war er so hoch wie heute, obwohl Sie für die Bil-dung einen so genannten Superminister, nämlich HerrnRüttgers, hatten.Sehen Sie sich einmal die Zahlen bei der Erstausbil-dung, beim Studium und bei der Weiterbildung, beim er-wähnten BAföG und beim Meister-BAföG an! Sie alleweisen ungeahnte Höhen auf. Zu Ihren Zeiten war dasImage von BAföG derart negativ, dass Sie davon nur träu-men konnten. In den letzten beiden Jahren haben wir beider Zahl der Studienbeginner richtige Sprünge zu ver-zeichnen. Das Gleiche trifft übrigens auch auf dasMeister-BAföG zu.Sehen Sie sich einmal den Verkehrshaushalt an! Wirsprachen von Verkehrsinfrastruktur als Voraussetzung fürdie wirtschaftliche Entwicklung. Die Verkehrsinfrastruk-tur wird in den neuen Ländern seit 1998 so berücksichtigtwie noch nie. Auch dieser Einzelplan war in den Jahren2000, 2001 und 2002 so hoch wie nie zuvor seit der Wie-dervereinigung. Auch das müssen Sie anerkennen. Das istdas Programm der Bundesregierung.
Ich frage mich, wo Sie bis 1998 waren. Dabei denkeich gerade an diese zwei wichtigen Komplexe für dieneuen Länder: Bildung und Forschung sowie Auf- undAusbau der Verkehrsinfrastruktur als grundsätzliche Vo-raussetzung für Ansiedlungen des Gewerbes und für re-gionales, aber auch bundesweites Wachstum. Ihre Län-derminister sind offensichtlich schon viel weiter; denn sieloben die Bundesregierung immer wieder für die aufge-legten Programme
und deren Finanzierung. Sie bitten händeringend darum,die Finanzierung so, wie wir sie mit dem Haushalt 2003angedacht haben, zu sichern.
Der nächste Redner ist der Kollege Werner Kuhn,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich halte es nach wie vor für richtig und wichtig,dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages indiesem Hohen Hause alljährlich zu einer Generaldebatteüber den Stand der deutschen Einheit versammeln.Der diesbezügliche Bericht der Bundesregierung liegtuns vor. Wir müssen gemeinsam um einen vernünftigenWeg ringen.
Die jetzigen Koalitionsparteien dürfen dabei nicht be-haupten, dass der Aufbau Ost erst seit 1998 richtig in An-griff genommen wurde.
Zuerst gab es die Chefsache Ost, dann gab es die ruhigeHand und jetzt gibt es Herrn Stolpe, der alles regeln soll.Verehrter Herr Kollege Stolpe, ich muss Ihnen sagen, dassdie Botschaften, die Sie uns vermitteln wollten, doch sehrdürftig waren. Es reicht einfach nicht aus, dem Mittel-stand nur mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Hier müs-sen konkrete Konzepte her.
In den neuen Bundesländern gibt es die schwierigsteArbeitsmarktsituation seit der Wiedervereinigung. DieArbeitslosigkeit liegt im Jahresdurchschnitt bei 20 Pro-zent, wobei die verdeckte Arbeitslosigkeit noch gar nichtberücksichtigt wurde. In strukturschwachen Gebietenliegt sie bei 30, 40 oder gar 50 Prozent.Ich komme zur Infrastrukturlücke. Ich finde es in Ord-nung, dass die jetzige Bundesregierung um einen lückenlo-sen Übergang im Bereich der Infrastruktur, so wie wir ihnim Bundesverkehrswegeplan mit den Verkehrsprojekten„Deutsche Einheit“ seinerzeit angelegt haben, bemüht ist.
Es gibt aber immer noch eine Infrastrukturlücke in einerGrößenordnung von 150 Milliarden Euro. Dabei geht esnicht nur um Schienen, Straßen und Wasserstraßen, son-dern da müssen auch die weichen Standortfaktorenberücksichtigt werden.Der Städteumbau ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt.Durch den Städteumbau sollen unsere Städte und Ge-meinden, die zu DDR-Zeiten mit einer völlig verfehltenWohnungsbaupolitik verschandelt worden sind, neu ge-ordnet werden. Dazu gehört auch der Abriss der leer ste-henden Wohnungen. Es gibt einen Wohnungsleerstandvon 1 Million Wohnungen. Verehrter Herr MinisterStolpe, diese müssen abgerissen werden und es muss zueiner Entschuldung kommen. Es kann nicht sein, dasswirtschaftlich einigermaßen intakte Wohnungsbauunter-nehmen keine Entschuldung erhalten, während dies beidenjenigen, die in Insolvenz geraten sind, der Fall ist. Ichbitte Sie: Das ist doch der völlig falsche Weg.
Es könnte passieren, dass eine gesunde Wohnungsbauge-nossenschaft Wohnungen nicht abreißt, sodass es sozusa-gen zu einem nicht vertretbaren Lückengefüge kommt.
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Vonseiten der Bundesregierung muss hierzu unbedingtein vernünftiges Konzept vorgelegt werden.Ich komme zur Unternehmens- und Unternehmer-lücke. Wir haben gehört, dass die Zahl der Unterneh-mensgründungen in Ostdeutschland vergleichbar mit derin Baden-Württemberg sei. Die allgemeine wirtschaftli-che Situation zeigt etwas anderes. Wenn Sie den Aus-führungen des Statistischen Bundesamtes heute richtigzugehört haben, dann wissen Sie, dass das Wirtschafts-wachstum im Jahre 2002 in ganz Deutschland nur 0,2 Pro-zent betrug. Das heißt, dass die Wirtschaft in Ostdeutsch-land geschrumpft ist.Im ersten Halbjahr 2002 gab es 5 500 Unternehmens-pleiten in Ostdeutschland. Damit gingen 30 Prozent derUnternehmenszusammenbrüche auf das Konto der neuenBundesländer. Das sind die wahren Zahlen! Das ist diewahre Situation! Das ist die wahre Beschreibung derWirtschaft in Ostdeutschland!
Obwohl dies nach meiner Auffassung das zentrale Themaist, enthält dieser Bericht gerade einmal eineinhalb Seitendazu, wie es mit der Wirtschaft weitergehen soll.Ich komme nun zum Thema Schulen ans Netz. HerrKollege Scheffler, dies ist sicherlich eine interessante pe-riphere Erscheinung für bessere Bildungsprogramme. Wirmüssen unsere Leute aber in Arbeit bringen, damit siewieder Zuversicht haben und die deutsche Einheit positivsehen. Diese Zuversicht haben die Menschen durch dieseBundesregierung verloren.
Das zeigen auch die Abwanderungszahlen. Im letzten Jahrsind 2,5 Prozent der 15- bis 30-Jährigen aus Mecklen-burg-Vorpommern weggezogen und haben sich in denBallungsgebieten eine neue Existenz gesucht.Sagen Sie mir: Mit wem wollen wir den Aufbau Ost rea-lisieren? Wir brauchen die gut ausgebildeten und hochqualifizierten Facharbeiter. Diese werden am Markt ge-sucht, aber sie ziehen aus Ostdeutschland weg. Zurückbleibt eine Bevölkerung mit einer demographischen Ver-werfung. Diesem Problem müssen wir uns stellen. Dafürmüssen Konzepte her.Die Wirtschaft in Ostdeutschland muss wieder in Ganggebracht werden. Existenzgründerinitiativen, Small Busi-ness Act, Mittelstandsbank – all das haben wir von HerrnMinister Stolpe gehört. Übrigens vermisse ich den Bun-deskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er hat ge-sagt: Der Aufbau Ost ist Chefsache, ich will der Kanzleraller Deutschen sein. – Er ist heute bei der Debatte nichtdabei. Das muss man einmal knallhart sagen.
Wir leben im wiedervereinigten Deutschland, zu dem wiralle stehen.Viel wichtiger ist, die Bestandspflege der noch beste-henden Unternehmen in Angriff zu nehmen.
Das heißt, dass wir potenzielle Auftraggeber finanziell indie Lage versetzen müssen, einen Auftrag an ein Unter-nehmen zu vergeben, um zum Beispiel im Investitions-güterbereich Maschinen und Anlagen zu bestellen. Da-durch würde die Binnenkonjunktur verbessert und dieAuftragslage günstiger. Aber von all dem ist zum gegen-wärtigen Zeitpunkt überhaupt nichts zu spüren.Die Privathaushalte sind mit Ökosteuerreform, Abga-ben und Steuern derart stranguliert, dass sie beim Konsumsehr zurückhaltend geworden sind. Der Einzelhandel do-kumentiert das ebenfalls. Dort sind die Umsätze massivzurückgegangen. Hier würde eine Steuerentlastung helfen.Die Flutkatastrophe – das haben wir gehört – war einschlimmes Ereignis. Sie hat einen Schaden von insgesamt9,2 Milliarden Euro angerichtet, der finanziert werdenmusste. Die Versicherungen übernehmen – bei denjenigen,die gegen Elementarschäden versichert sind – 2 MilliardenEuro. Der Bundeskanzler hat angekündigt, dass wir fürden Wiederaufbau in Ostdeutschland von der Europä-ischen Union 2,5 Milliarden Euro erhalten. Jetzt bleibennoch etwa 4,5 Milliarden Euro übrig. Das sind, über dreiJahre verteilt, jeweils 1,5 Milliarden Euro; denn mehrkann man in einem Jahr kaum verbauen. Dafür haben Siedie Steuerreform verschoben! In Wirklichkeit war das nurdas Stopfen von Finanzlöchern, weil Sie weder ein nochaus wussten und vor der Bundestagswahl die wahren Zah-len verschleiert haben.
Die Binnenkonjunktur hätte auch in Ostdeutschlandschon längst angekurbelt werden können: Wenn die Men-schen mehr Geld zwischen den Fingern hätten und damitmehr einkaufen würden, hätte der Unternehmer Aufträgeund von diesen Investitionen würde dann auch die Indus-trie profitieren, sodass das Schwungrad der Wirtschaftwieder in Gang käme. Es reicht nicht, Herr Schulz, infeuilletonistischer Art eine Ist-Beschreibung vorzuneh-men, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Auftrag-geber wieder Geld in der Kasse haben.
Dazu gehören auch die Städte und Gemeinden. Ichwill, dass die Bürgermeister und Landräte im Osten end-lich wieder eine kommunale Investitionspauschale be-kommen, damit sie sich um ihre Schulen, Kindertages-stätten und Krankenhäuser kümmern können, diestreckenweise in einem noch sehr jämmerlichen Zu-stand sind. Dabei muss die Vergabepraxis – das hat da-mals schon Lothar Späth gesagt – so funktionieren, dassdie örtlichen Handwerksbetriebe davon profitieren;denn nur so werden sie vor der Pleite bewahrt. Das istfür die kommunale Infrastruktur ein ganz wichtigerPunkt.Herr Minister Stolpe, Sie haben einen Punkt angespro-chen, in dem ich Ihnen Recht gebe – wir wollen schließ-lich konstruktiv zusammenarbeiten –: Teilung kann nurdurch Teilen überwunden werden. Über dieses große Wortwird immer wieder gesprochen. Aber schauen wir uns ein-mal die öffentliche Auftragslage des Bundes bei derWehrtechnik an. Dort ist es zu großen Verwerfungen ge-kommen, die wir einfach nicht hinnehmen dürfen.Werner Kuhn
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003
Werner Kuhn
Ich erinnere an die Korvette K130 mit einem Investiti-onsvolumen von 1,2 Milliarden Euro. Es ist Usus gewe-sen, dass sich die fünf norddeutschen Küstenländer diesenAuftrag mit allen Unteraufträgen so aufteilen, dass allegleichmäßig partizipieren: Jeder bekommt 20 Prozent.Mecklenburg-Vorpommern – ich frage mich: Wo sind dieKämpfer für Mecklenburg-Vorpommern auf der Bundes-ratsbank? – hat nur einen Anteil von 10 Prozent erhalten.Dies kann ich weiterrechnen.Eine weitere Anschaffung ist der große Transportflie-ger A400M mit einem Auftragsvolumen von 9 MilliardenEuro. Welches Unternehmen in Ostdeutschland, zum Bei-spiel ein Metall verarbeitender Betrieb, ein GFK-Betrieboder ein Elektrobetrieb, ist überhaupt in der Lage, dort alsZulieferer gelistet zu werden? Sie sind luftfahrttechnischüberhaupt nicht zertifiziert. Herr Minister Stolpe, ich ma-che Ihnen einen Vorschlag. Nehmen Sie Geld in die Hand– diese Zertifizierung kostet vielleicht 60 000 Euro – undlegen Sie ein Programm auf, damit unsere Unternehmenin Ostdeutschland an diesem Projekt partizipieren kön-nen. Das ist ein ganz konkreter Vorschlag.
Das Gleiche wird beim Schienenfahrzeugbau deutlich.Es gibt nicht nur Bombardier in Halle, das kurz vor einerBundestagswahl sozusagen durch die schützende Handdes Bundeskanzlers gerettet wurde, sondern in Pankowzum Beispiel gibt es ein Unternehmen, das sich wie vieleandere Unternehmen auch um die Aufträge bewirbt. Wirkönnen durchaus alle Unternehmen, bei denen wir hun-dertprozentige Gesellschafter sind, fit machen, sodasseine gleichmäßige Verteilung gewährleistet wird. Danngäbe es erst einmal eine Grundauslastung.Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Ichfreue mich sehr, Herr Minister Stolpe, dass Sie wieder IhrHerz für die Magnetschwebebahn zwischen Hamburgund Berlin entdeckt haben. Ich hätte mich aber noch vielmehr gefreut, wenn wir beide gemeinsam in zwei Jahrenin Perleberg das Wagenumlaufwerk für die Magnet-schwebetechnik in Brandenburg und Mecklenburg-Vor-pommern hätten eröffnen und damit in dieser extremstrukturschwachen Gegend 400 Menschen Arbeit hättenbieten können. Sie aber haben die vier Jahre verstreichenlassen und einen Stillstand produziert. Damit werden wiruns als Opposition nicht abfinden!
Die Aufgabenverteilung zwischen Opposition und Re-gierungskoalition darf nicht einseitig erfolgen. Wir sinddurchaus bereit, unsere Ideen einzubringen – das ist auchvonseiten der FDP eindeutig signalisiert worden – undLösungen und Strategien für die Umsetzung zu ent-wickeln. Es kann aber nicht sein, dass wir die Arbeit ma-chen, während für den Verkauf die Bundesregierung zu-ständig ist, die sich darüber freut, dass sie eine Ideekopieren kann.Zum Beispiel erscheint mir die Idee, die Ministerienfür Wirtschaft und Arbeit in einem großen Ministeriumzusammenzufassen, vernünftig. Das haben wir im Wahl-kampf immer wieder bestätigt; denn diese Ressortsgehören nun einmal zusammen. Über die Minijobs ha-ben wir im Vermittlungsausschuss vernünftig verhandelt.Das sind erste Ansätze, die deutlich machen, dass wirDeutschland gemeinsam fit machen können, wenn wir daswollen. Aber es handelt sich dabei um unsere Ideen undAktivitäten, die wir als Oppositionspartei entwickelt haben.Diese Ansätze können Sie weiterverfolgen. UnsererMitarbeit können Sie sich dabei sicher sein. Ich bin abernicht damit einverstanden, dass Sie immer weiter dazuneigen, Investoren durch Regulierungen, Gesetze undDurchführungsbestimmungen abzuschrecken. Was sollich einem potenziellen Investor aus Mecklenburg-Vor-pommern, Brandenburg oder Berlin antworten, der sichbei mir meldet und sagt: Sie haben im Bundestag eine in-teressante Rede gehalten, Herr Kuhn, ich möchte bei Ih-nen investieren?
Wenn er mich fragt, wie denn die Investitionsförderungim Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur“, wie denn die Investi-tionszulage, der Mittelstandskredit und das ProgrammKapital für Arbeit funktionieren, muss ich ihm antworten:Kommen Sie her; ich habe alle Fragebögen dabei – bis hinzum Formblatt zur Offenlegung Ihrer persönlichen Ver-hältnisse, zu der Sie verpflichtet sind. Sie haben 135 For-mulare auszufüllen. Der potenzielle Investor erwidertdann sicherlich: Verehrter Herr Abgeordneter, ich wolltenicht zum Ausfüllen von Fragebögen kommen,
sondern um mein Kerngeschäft zu erledigen, Leute ein-zustellen, mein Produkt zu verkaufen und Geld zu verdie-nen. – Dem müssen wir uns wieder annähern!
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit?
Es geht nicht an, dass die Bundesregierung letztendlichdazu neigt, jedem, der Geld verdienen will, im Prinzip nurdie Aufgabe in unserer Gesellschaft zuzuweisen, einenSolidarbeitrag zu leisten. Wir müssen vielmehr dazu kom-men, dass diejenigen, die Leistungen bringen, auch selberetwas davon haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Deutsch-land wird es wirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich nurdann wieder aufwärts gehen, wenn der Osten auf die Beinekommt. Das ist nicht nur die Überzeugung der CDU/CSU-Fraktion, sondern das sind Tatsachen. Der Osten hat einezu schwache Lobby und zu wenig Fürsprache in der Bun-desregierung. Viele Menschen in Ostdeutschland wün-schen sich wieder einen Kanzler aller Deutschen wie den,mit dem dieser Sessel bis 1998 besetzt war.
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Herr Kollege Kuhn, ich darf Sie noch einmal eindring-
lich an Ihre Redezeit erinnern.
Erlauben Sie mir einen letzten Satz. Wenn es in weni-
gen Wochen um die Entscheidung für die Olympiabewer-
bung Deutschlands geht, dann hätte die Stadt Leipzig, von
der 1989 der Funke der Freiheit auf ganz Deutschland
übergesprungen ist, einen prominenten Fürsprecher.
Herr Kollege Kuhn!
Das wäre der Altbundeskanzler!
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter
Hettlich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Trotz aller Redebeiträge, die ich heute von derOpposition gehört habe, kann es sich sehen lassen, wasRot-Grün in den vergangenen vier Jahren für die ostdeut-schen Bundesländer geleistet hat; darauf können wir stolzsein. Die Kollegen Scheffler und Schulz haben dies ein-deutig klargestellt.
An diese Erfolge werden wir anknüpfen. Wir kämpfenfür eine Angleichung der Lebensbedingungen der Men-schen in Ost und West. Deswegen sehe ich auch im jüngs-ten Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst ein deut-liches Signal in diese Richtung.
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die unteren Einkom-mensgruppen in den neuen Ländern bis 2007 an das West-niveau angeglichen werden – so haben wir es auch im Ko-alitionsvertrag festgeschrieben –, denn nach so vielenJahren der deutschen Einheit ist gleicher Lohn für gleicheArbeit ein Gebot der Fairness.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unter den Punk-ten, die Kollege Kuhn eben angesprochen hat, waren auchdas Programm Stadtumbau Ost und die Altschuldenhilfefür die Wohnungsunternehmen. Ich frage mich, ob er ges-tern nicht im Ausschuss gewesen ist. Wir haben gesternüber diese Themen gesprochen.Das Erfolgsprogramm Stadtumbau Ost, das in denletzten vier Jahren auf den Weg gebracht worden ist, kannsich doch sehen lassen.
– 1,1 Milliarden Euro stellt allein der Bund bis 2009 dafürzur Verfügung. Zusammen mit den Finanzmitteln vonLändern und Kommunen summiert sich dies auf 2,7 Mil-liarden Euro. Diese riesige Summe beruht maßgeblich aufden Initiativen der letzten Wahlperiode. Dass das Pro-gramm erfolgreich ist, zeigt sich auch daran, dass sichüber 250 ostdeutsche Kommunen an diesem Wettbewerbbeteiligt haben. Das Engagement ist deutlich höher, alswir alle es erwartet haben.Das Thema Altschuldenhilfe haben wir ebenfallsangepackt. Hier hat der Bund seine Mittel um fast 50 Pro-zent aufgestockt; wir stellen dafür fast 700 Millio-nen Euro zur Verfügung. Das kann man nicht einfach un-ter den Tisch reden. Hier tun wir etwas, um das verfehlteFörderprogramm der ersten acht Jahre zu korrigieren unddie großen Leerstände zu beseitigen.
Die Wohnungsunternehmen im Osten brauchen unsereUnterstützung. Sie brauchen Bewegungsfreiheit; denn dieleer stehenden Wohnungen kosten nur Geld und bringenkeine Mieteinnahmen. Dadurch bedrohen sie letztendlichdie wirtschaftliche Existenz der Unternehmen.Besonders stolz können wir auf das sein, was wir in derForschung geschafft haben. Ich freue mich sehr, dassKollege Scheffler dies noch einmal ausdrücklich aufge-zeigt hat. Wir haben hier über 660 Millionen Euro in dieinstitutionelle Förderung gesteckt. Das ist zukunftsträch-tig, das bezeichnen wir Grüne als nachhaltige Politik. Mitdiesen Forschungsstandorten schaffen wir die Arbeits-plätze von morgen. Diese attraktiven Standorte tragendazu bei, dass junge Leute im Osten bleiben bzw. wiederin den Osten zurückkehren.
Ich weise hier nur auf die Schiene Thüringen – Sachsen hin,wo mittlerweile einer der führenden Elektronikstandorteentstanden ist. Auch dies ist ein Resultat unserer Arbeit.Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Arbeitslosig-keit das größte und belastendste Problem ist. Ich bin vorzwölf Jahren nach Sachsen gezogen. Sie können mir glau-ben, es belastet mich genauso wie jemanden, der dort ge-boren ist. Allerdings ist es nicht sinnvoll, jetzt wieder mitder Gießkanne über das Land zu gehen. Vielmehr müssenunsere Programme den Unternehmen gezielt Rahmen-bedingungen und Anreize bieten, Arbeitsplätze zu schaf-fen. Es ist besser ein Licht anzuzünden, als über die Dun-kelheit zu klagen.Neben der Beseitigung der Flutschäden, die immernoch im Gang ist, stehen drei wichtige Punkte auf der
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Peter Hettlichpolitischen Tagesordnung. Das eine ist der Bundesver-kehrswegeplan. Ich halte es für sehr wichtig, dass die In-frastruktur in den neuen Bundesländern noch einmal sehrstark gefördert wird. Wir werden von unserer Seite daraufachten, dass der Nachhaltigkeitsaspekt berücksichtigtwird und darüber nachgedacht wird, welches Verkehrs-und Infrastruktursystem geeignet ist. Wir bemühen unsintensiv darum, dass auf diesem Gebiet der Osten nichthinten herunterfällt.Ganz wichtig ist für mich der Mittelstand. Im Ostengibt es kaum noch große Unternehmen. Daher müssen diekleinen und mittelständischen Unternehmen gefördertwerden. Ich stimme dem Kollegen Kuhn zu, dass es wich-tiger, einfacher und mit geringeren finanziellen Mittelnmöglich ist, bestehende Arbeitsplätze zu sichern. In derBauindustrie wurde schon 1994/95 damit begonnen, dieÜberkapazitäten abzubauen, die durch eine verfehlte För-derpolitik entstanden sind.
– Richtig, das war Steuersparpolitik. – Diese Konsequen-zen müssen wir heute leider ausbaden.Die neue Mittelstandsoffensive der Bundesregierungist hier der richtige Weg und gibt die richtigen Ziele vor.So können neue Arbeitsplätze entstehen. IntelligenteWirtschaftsförderung hilft auch, die Größennachteile derostdeutschen Unternehmen auszugleichen. Wir wollendie Bildung von regionalen Netzwerken unterstützen.
Herr Kollege Hettlich, denken Sie bitte an Ihre Rede-
zeit.
Ja, Frau Präsidentin. – Ich möchte zu guter Letzt nur
noch ganz kurz auf die Gemeindefinanzreform einge-
hen. Sie ist ein ganz wichtiger Meilenstein auf dem Weg
zur Gesundung der Finanzlage der ostdeutschen Kommu-
nen. Sie wissen, dass die ostdeutschen Kommunen seit
1999 einen größeren Anteil für Zinsen und Tilgung aus-
geben als die westdeutschen. Dieses Dilemma soll der
Vergangenheit angehören. Dafür werden wir uns unter be-
sonderer Berücksichtigung der ostdeutschen Kommunen
in starkem Maße einsetzen.
Wir reklamieren als Politiker gern den Erfolg für uns.
Aber ich sage ganz deutlich – Werner Schulz und der
Minister haben das bereits in ihren Reden getan –: Den
großen Fortschritt, den die neuen Bundesländer in den
letzten Jahren erreicht haben, haben wir den dort lebenden
Menschen zu verdanken. Das sollte man an dieser Stelle
ganz ausdrücklich sagen. Den Transformationsprozess
müssen wir über die Fraktionsgrenzen hinweg mit aller
Kraft unterstützen.
Danke schön.
Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Petra Pau, fraktionslos.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren heute über die Lage in den so genanntenneuen Bundesländern. Dazu liegt ein über 100-seitigerBericht der Bundesregierung zum Stand der DeutschenEinheit vor. Ich möchte zwei Sätze aus diesem Bericht zi-tieren. Das erste Zitat:Die nach der Wiedervereinigung weit verbreitete An-nahme eines schnellen Aufbaus in den neuen Län-dern hatte sich als Illusion erwiesen.Das stimmt. Noch schlimmer: Wie zur Auszeit der DDRsuchen viel zu viele Jugendliche ihre Zukunft in derFerne. Sie verlassen also die neuen Bundesländer. DerBerliner Schriftsteller Wolfgang Engler fasste seinen Be-fund so zusammen:Weil der Hoffnung die Arbeit fehlte, kam die Arbeitan der Hoffnung zum Erlie-gen.Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist längst mehrals ein massenhaftes Schicksal. Sie führt zum nachhalti-gen Aderlass.Vor diesem Hintergrund komme ich zum zweiten an-gekündigten Zitat aus dem Bericht der Bundesregierung:Als eine weitere Fehlorientierung erwies sich die Vor-stellung, der Aufbau Ost sei durch das bloße Übertra-gen westdeutscher Erfolgsmuster zu bewältigen.Natürlich ist dieser Satz ein Seitenhieb auf die Kohl-Ära.Aber er stimmt, zumal nicht nur die Erfolgsmuster, son-dern auch die Misserfolgsmuster übertragen wurden, undzwar koste es, was es wolle.
Wir könnten das jetzt im Bildungs- und im Gesundheits-wesen, im Steuerrecht sowie in der Umwelt- und in derVerkehrspolitik durchgehen. Allerdings, liebe Kolleginnenund Kollegen von Rot-Grün, wer ein Hartz-Konzept hei-ligt und dieses ohne Rücksicht auf Verluste auch noch 1 : 1auf die neuen Bundesländer überträgt, der ist kein Deutklüger und auch kein Deut besser, der betreibt vielmehr dieFortsetzung einer falschen Politik mit neuen Mitteln.
Zwei weitere aktuelle Beispiele: Sie verweigern dieWiedereinführung einer Vermögensteuer und befürwor-ten stattdessen einen Ablasshandel für Steuerflüchtlinge.
Das ist fatal, und zwar nicht nur, weil schon Luther, übri-gens ein Ossi,
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den erkauften Ablass als unmoralisch geächtet hat. Vor al-lem verweigern Sie damit jenen Entlastung, die finanziellam meisten gebeutelt sind, nämlich den Ländern undKommunen im Osten.Ähnlich verhält es sich mit den jüngsten Tarifverein-barungen im öffentlichen Dienst. Man mag ja das Er-gebnis so oder so bewerten. Nur, eines ist auffällig: Hin-tenherum wurde die Angleichung der Einkommen imOsten an die im Westen um zwei weitere Jahre verscho-ben. Das halte ich nicht nur Innenminister Schily vor; dasist offensichtlich auch Verdi-Politik. Ich sage, es istfalsche Gewerkschaftspolitik.
Es straft aber auch die rot-grüne Regierung Lügen; dennSie haben im Wahlkampf und in der Koalitionsvereinba-rung anderes versprochen.Nun wurde ich in dieser Woche von Journalisten ge-fragt, warum ich zu Ihnen, Herr Minister Stolpe, sogarstig sei. Das bin ich mitnichten. Ich bin kritisch undauch skeptisch. Ganz persönlich gesagt: Als Hoff-nungsminister sind Sie nicht gestartet. Ich will nicht,weder für Sie persönlich noch für die neuen Länder,dass aus dem roten Adler irgendwann eine graue Mauswird.
Es war der Kollege Schulz vom Bündnis 90/Die Grü-nen, der jüngst öffentlich bedauert hat, dass drängendeOstthemen im Bundestag kaum noch eine Rolle spielen,seit es die PDS hier nicht mehr als Fraktion gibt.
Das bedaure natürlich auch ich. Nur, Kollege Schulz – da-mit wende ich mich auch an den Kollegen Hilsberg –, esgibt zuweilen so etwas wie eine Delegierungskultur. Ichkenne das auch aus meiner eigenen Partei. Das Thema„neue Bundesländer“ können Sie aber nicht delegieren.Rot-Grün steht in der Verantwortung.
Sie können diese Verantwortung nur teilen, wenn Sienicht von oben, sondern mit den Betroffenen regieren.Deshalb möchte ich Ihnen von Rot-Grün zum Ab-schluss auch noch einen Tipp geben. Bisher war derOsten der Osten und für viele, für viele von Ihnen hierim Hause, gar der ferne Osten. Mit der EU-Osterwei-terung verschieben sich nun die Koordinaten. Dieneuen Bundesländer werden zur neuen Mitte. Wenigs-tens das sollte doch die SPD anspornen, den OstenDeutschlands endlich neu zu begreifen und auch erns-ter zu nehmen.Danke schön.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika
Krüger-Leißner von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Die Diskussion um den Jahresbericht 2002 zeigtwieder einmal ganz deutlich, wie die Opposition mit demerreichten Stand der deutschen Einheit umgeht. Es wer-den wieder Vorurteile bedient. Leistungen werden miesgemacht oder sogar ignoriert. Sie merken gar nicht, dassSie den Handelnden in den neuen Ländern damit unrechttun und dass Sie durch Ihre Miesmacherei auch das Anse-hen Ostdeutschlands schädigen.
Dabei möchte ich der Bundesregierung gerade für die-sen aussagekräftigen Bericht danken.
Sie finden in diesem Bericht alle Maßnahmen. Sie könnensie klar erkennen. Sie können sie bewerten. Sie findendort unsere Zielrichtung und auch unsere Schwerpunkt-setzung für den Aufbau Ost.Zwei Ereignisse haben die Bemühungen der Regie-rungskoalition im letzten Jahr deutlich gehemmt und dazugeführt, dass viele Programme, die aufgelegt worden wa-ren, noch nicht richtig greifen konnten. Das eine – das istauch schon erwähnt worden – war die Hochwasserkata-strophe. Eine Reihe von Fortschritten bei der Infrastruk-tur und beim Wirtschaftsaufbau in den neuen Ländernwurde durch diese Naturkatastrophe zunichte gemacht.Das hat uns tief getroffen. Die Bundesregierung hatschnell und auch politisch richtig gehandelt. Die Wieder-aufbauhilfen wurden durch die Verschiebung der Steuer-reform um ein Jahr finanziert. Ich möchte noch einmal be-tonen: Das war der richtige Weg.
Die von der Opposition damals geforderte Finanzierungüber Schulden hätte katastrophale Folgen für unser Zielder Konsolidierung des Haushalts, aber letztlich auch fürden Aufbau Ost bedeutet.Es war imponierend und mitreißend, zu beobachten,wie durch solidarisches Helfen bei der Flutkatastropheeine große Einigkeit der Bürgerinnen und Bürger gezeigtwurde. Bei all den schlimmen Folgen für die Städte, fürdie Gemeinden, aber auch für die einzelnen betroffenenMenschen gab es doch eine gute Seite. Wir konnten näm-lich erleben, dass es um die innere Einheit gar nicht soschlecht bestellt ist.Das zweite Ereignis war die Krise der Weltwirt-schaft, die die neuen Länder besonders trifft. Es ist eineBinsenwahrheit, aber es ist so: In einer Marktwirtschafthat die Politik nur begrenzt Einfluss auf die Konjunktur.Wir können Rahmenbedingungen schaffen, wir könnensie verändern; den Hauptanteil an der konjunkturellenEntwicklung hat die Wirtschaft aber selbst zu erbringen.Petra Pau
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Angelika Krüger-LeißnerWas unsere Aufgabe angeht, so haben wir – das kön-nen Sie nachlesen – einiges auf den Weg gebracht. DerSolidarpakt II gibt uns Planungssicherheit für 15 Jahre.Die Programme zur Verbesserung der Infrastruktur vomStadtumbau bis hin zu den Verkehrsprojekten – MinisterStolpe hat sie erwähnt – bringen uns voran.Dennoch klaffen strukturelle Unterschiede in der Wirt-schafts- und Infrastruktur zu den alten Bundesländern.Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Ost-deutschland liegt weiter hinter dem im Westen zurück.Angesichts der Tatsache, dass das Wohlstandsniveau beinur 60 Prozent des Westniveaus liegt, erscheint dies dra-matisch.Wenn wir genauer hinschauen, dann stellen wir auchfest, dass ein Hauptgrund für diese Tatsache die Krise derBauindustrie ist. Rechnet man die die Bauindustrie be-treffenden Daten heraus, so zeigt sich, dass die Wachs-tumsraten des Bruttoinlandsproduktes in den neuen Län-dern immer noch doppelt so hoch wie im Westen sind.
Das beste Beispiel ist – das haben wir gehört – das verar-beitende Gewerbe. Zur Wahrheit gehört auch: Die Pro-duktivität in den neuen Ländern wächst kontinuierlich.Sie liegt jetzt bei 70 Prozent des Westniveaus. Auch dieExportquote hat sich seit 1995 verdoppelt.Die Krise der Bauindustrie macht aber diese – an sichpositiven – Werte zunichte. Gerade die Kollegen der Op-position müssten eigentlich wissen, dass dieses Problemhausgemacht ist. Die einseitige Förderung der Bauindus-trie durch die Regierung Kohl hat auf diesem Gebietenorme Überkapazitäten geschaffen. Meine Damen undHerren auf der rechten Seite dieses Hauses, das geht aufIhr Konto.
Wie stark diese Auswirkung ist, belegen auch einigeZahlen. Die Bruttowertschöpfung im ostdeutschen Bau-gewerbe sinkt seit 1996 jährlich um 8,5 Prozent. Auch dieBeschäftigungszahlen sind seit 1996 halbiert. Genaudiese Zahlen hat Herr Vaatz erwähnt, als er über die ver-lorenen Arbeitsplätze sprach. Die Auswirkungen auf dieWirtschaftsentwicklung und auf den Arbeitsmarkt sinddeutlich sichtbar. Eines ist aber auch klar: Die Umstellungder Förderung durch die Bundesregierung seit 1998 warrichtig und notwendig.Abgesehen von den mit diesen Daten zum wirtschaft-lichen Aufholprozess verbundenen Schwierigkeiten gibtes ein ganz großes Problem im Osten, das wir angehenmüssen: den dramatischen Mangel an produktiven Ar-beitsplätzen und die hohe Arbeitslosigkeit. Gerade in die-sem Bereich ist das Erreichen des Westniveaus wichtigerals irgendwo sonst. Nichts trägt zur Verwirklichung derinneren Einheit mehr bei als Arbeitsplätze.Das von der Opposition immer wieder gescholteneHartz-Konzept geht hierbei in die richtige Richtung.Durch die Gesetze zur Umsetzung des Hartz-Konzeptesund die Mittelstandsoffensive der Bundesregierung eröff-nen sich in der Tat viele Chancen, die Arbeitslosigkeit zuverringern. Ich denke dabei an die Kompetenzcenter, dieden Arbeitsmarkt und die Wirtschaftspolitik vernetzenwerden. Wir werden regional intelligente Strategien um-setzen können, um Arbeit und Beschäftigung zu schaffen.Ich denke auch an den Aufbau von Clustern in struktur-schwachen Regionen in Ostdeutschland.Aber wir werden auch die Förderung von Existenz-gründungen verstärken und damit neue Unternehmenschaffen. Die Ich-AGs bieten Raum für Kleinstunterneh-men und das Programm „Kapital für Arbeit“ verbindet In-vestitionsförderung mit Beschäftigungswirksamkeit. Daswird auch in den neuen Ländern angenommen.Darüber hinaus hat die Hartz-Kommission die eigentli-che Misere des Ostens erkannt und auf ein kommunalesInfrastrukturprogramm gesetzt. Das schafft wichtigeVoraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmen undfördert gezielt die Wirtschaft. Es wird auch in beschäfti-gungsintensiven Bereichen neue Arbeitsplätze bringen.Die vorgeschlagene Finanzierung über Betreibermo-delle und langfristige Kommunaldarlehen werden diekommunalen Haushalte entlasten. Diese Vorschläge wer-den wir prüfen und deren Umsetzung werden wir ermög-lichen.Ich könnte noch eine Reihe anderer Punkte nennen.Klar ist: Das Hartz-Konzept stellt auch einen wichtigenBeitrag zum Aufbau Ost dar. Es schafft mittelfristig dierichtigen Impulse für den Arbeitsmarkt. Wir werden esvollständig umsetzen.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Prozessdes Aufbaus Ost schreitet weiter voran. Der Bericht hat esdeutlich belegt. Wir haben die richtigen Instrumente undwir haben die Weichen in der Wirtschafts- und Arbeits-marktpolitik richtig gestellt.
Wie weit wir damit schon der Einheit von Ost und West,der alten und neuen Bundesländer
nahe gekommen sind, weiß wohl keiner so genau zu sagen.Aber ich sehe Ähnlichkeiten mit einem Marathonlauf: Wirhaben das Ziel vor Augen. Auch ein Läufer muss in derzweiten Hälfte hart mit sich kämpfen und durchhalten.
Wir sind auf der zweiten Wegstrecke und wir alle müssenmitziehen.Danke.
Das Wort hat der Kollege Volkmar Uwe Vogel von derCDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Die Bundesregierung hat ihren Jahresbericht 2002
vorgelegt. Richtigerweise hat sie in diesem Zusammen-
hang darauf hingewiesen, dass eine belastbare Infrastruk-
tur die Grundlage für einen zukunftsfähigen Wirtschafts-
standort Deutschland ist. Die Grundlage jedoch, meine
sehr verehrten Damen und Herren, auf der Sie aufbauen,
ist der Bundesverkehrswegeplan, den die Regierung
Helmut Kohl erarbeitet hat. Bei Berichten und bei Ankün-
digungspolitik allein darf es nicht bleiben. Wir brauchen
keine Berichte. Wir brauchen Taten!
Dass der Aufbau Ost wegen Ihrer Wirtschaftspolitik ins
Stocken geraten ist, erwähnen Sie in Ihrem Bericht nicht.
Das erfahren wir von den Sachverständigen. Es ist dabei
eine Zumutung, dass die Bedingungen für eine vitale In-
frastruktur der neuen Länder und dringend notwendige
Verbesserungen insgesamt auf nur zwei – ich wiederhole:
auf nur zwei – Seiten beschrieben worden sind. Für die
Landwirtschaft – das kam an dieser Stelle überhaupt
noch nicht zur Sprache – hatte man auch nur gerade vier
Seiten übrig. Hinweise auf die bestehenden Infrastruktur-
lücken fehlen in Ihrem Bericht ganz. Der Vorrang der
neuen Länder beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
scheint Ihnen allein durch die prozentuale Zuordnung von
Haushaltsmitteln sichergestellt zu sein. Ob diese Mittel
aber auch tatsächlich zur Verfügung stehen,
bleibt wie vieles in Ihrem Bericht unklar.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Straßen,
Schienen, Leitungsnetze, also unsere gesamte Infrastruk-
tur, machen nicht vor Verwaltungsgrenzen Halt. Mobilität
für alle Bürger ist notwendiger denn je, und das ganz be-
sonders im Osten unseres Landes. Mobilität ist auch immer
ein Ausdruck von Freiheit – Freiheit, die den Menschen in
40 Jahren DDR verwehrt wurde. Durch Beschränkung der
Mobilität und Kontrolle der Kommunikation wurde die
Freiheit der Menschen bewusst begrenzt.
Wer zwölf Jahre nach der Einheit ehrlichen Herzens
die Angleichung der Lebens- und Lohnverhältnisse
zwischen den alten und neuen Bundesländern erreichen
will, muss Entscheidendes auch bei der Infrastruktur tun.
Gerade hier gibt es noch die größten Unterschiede zwi-
schen Ost und West. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass
die Menschen in meiner Heimat genauso fleißig wie in an-
deren Teilen unseres Landes arbeiten. Die Unterschiede in
der Produktivität, die es ja leider immer noch gibt
– ich spreche hier nicht über Thüringen, sondern über den
gesamten Osten; aber auch in Thüringen besteht natürlich
noch ein enormer Nachholbedarf –,
sind vor allem auf schlechtere Standort- und natürlich In-
frastrukturbedingungen in den neuen Ländern zurückzu-
führen. Diese Defizite führen zu erheblichen Zeit- und
Produktivitätsverlusten im Osten.
Das Gebiet zwischen Halle/Leipzig, Gera, Jena und
Chemnitz bezeichnet man als den mitteldeutschen Wirt-
schaftsraum, der vor dem Zweiten Weltkrieg zu den
stärksten Wirtschaftsregionen in Deutschland und in ganz
Europa zählte. Was Krieg und Sozialismus zerstörten, gilt
es wieder zu aktivieren und dabei in die gesamteuropä-
ische Entwicklung einzubetten. Effektive, aber auch at-
traktive und moderne Verkehrsanbindungen sind standort-
entscheidend für Investoren und damit für Arbeitsplätze
in unserem Land. Daher plädiere ich für die Durchführung
aller wichtigen Verkehrsprojekte, so das Verkehrsprojekt
„Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2,
das Sie fortführen wollen. Allerdings fehlt jeglicher Hin-
weis, ob die gesamte Finanzierung gesichert ist und in
welchem Umfang die Deutsche Bahn an dieser Stelle Ver-
antwortung übernehmen will und auch wirklich kann.
Ebenso wichtig ist es, die Vollendung der Mitte-
Deutschland-Schienenverbindung in Angriff zu nehmen,
damit diese Strecke bis spätestens 2015 zweigleisig und
elektrifiziert zur Verfügung steht.
Ein weiteres wichtiges Verkehrsprojekt ist der Ausbau
der A 72, die wichtige Oberzentren in Mitteldeutschland
miteinander verbindet. Der Nutzen wird die Kosten um
das Elffache übersteigen. Im Hinblick auf die Fuß-
ball-WM 2006 in Leipzig, die Bundesgartenschau 2007,
die in Gera und Ronneburg stattfinden wird, und Leipzigs
Olympiabewerbung für 2012 – Kollege Kuhn hat das ein-
drucksvoll beschrieben – ist es dringend erforderlich,
dieses Projekt rasch in die Tat umzusetzen und in den vor-
dringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufzu-
nehmen.
Dies sind nur unvollständige Beispiele für wichtige
überregionale Projekte, die in den letzten vier Jahren nicht
vorankamen. Fatal ist, dass damit die begleitende kom-
munale Infrastruktur ins Stocken kam.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich bin gleich fertig. – Brücken, Autobahnan-schlüsse, Umgehungsstraßen und Erschließungen bliebenliegen. Jetzt fehlt den Kommunen das Geld für deren Rea-lisierung. Über den Ausbau der Bundesstraßen darf die
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Volkmar Uwe VogelErtüchtigung der kommunalen Infrastruktur in den nächs-ten Jahren auf keinen Fall vergessen werden.
Meine Damen und Herren, beleben Sie den stockendenAusbau der Infrastruktur im Osten unseres Landes! Ma-chen Sie den Osten wirklich zur Chefsache – auch wennder Chef heute wieder nicht da ist! Bei allen finanziellenSchwierigkeiten: Bedenken Sie die Langzeitfolgen! Se-hen Sie diese Investitionen als Teil eines Generationen-vertrages, als Investition auch für unsere Nachkommen,so wie wir heute von vielen weitsichtigen Verkehrspla-nungen früherer Zeiten profitieren.Danke.
Herr Kollege Vogel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede im Deutschen Bundestag. Ich habe deshalb bei
der Redezeit beide Augen zugedrückt.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9950 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Zusätzlich soll sie
aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung an den
Tourismusausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
der CDU/CSU
Deutschland wirksam vor Terroristen und Ex-
tremisten schützen
– Drucksache 15/218 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner zu die-
sem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Wolfgang
Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Bundesminister Schily, Sie haben vor kurzemgesagt:Die Bedrohung durch den internationalen islamis-tisch-fundamentalistischen Terrorismus – das ist einerealistische Einschätzung – hat zugenommen. Wir se-hen die breite Blutspur des Terrors und wir müssen lei-der voraussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird.Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes sagt:Wir sehen zurzeit keine Entwarnung. Wir sehen eherein Anwachsen dieser Aktivitäten ... Es finden Re-krutierungen statt.Der renommierte Terrorismusforscher Tophovenmeint:Trotz der Zerschlagung der al-Qaida-Basen in Af-ghanistan ist der Terror durch diese Gruppe nochlange nicht gebannt. Im Gegenteil: Die Kommandosformieren sich gerade neu und sind weltweit ver-streut ...Es gibt leider keinen Grund zu der Annahme, dassdiese Sicherheitsanalysen, die Darstellungen dieser Be-drohungsszenarien falsch sind. Gerade weil wir Grund zurAnnahme haben, dass die Bedrohungsanalysen zutreffendsind, ist die standhafte Weigerung der rot-grünen Koali-tion, offensichtliche Schutzlücken zu schließen, unver-antwortlich.
Vermutlich werden heute die Rednerinnen und Rednerder Koalition von dieser Stelle aus behaupten, man habeja alles getan, was nach den Ereignissen vom 11. Septem-ber habe getan werden müssen. Diese Argumentation istebenso richtig wie falsch. Es ist richtig, dass zwei Anti-terrorpakete geschnürt worden sind und auch Maßnah-men – zum Teil längst überfällige – beschlossen wurden.Wir haben diese Maßnahmen mitgetragen. Richtig ist aberauch, dass Sie nur das beschlossen haben, worauf Sie sichmit Mühe und Not einigen konnten, und nicht etwa das,was im Interesse der Sicherheit unseres Landes dringendhätte getan werden müssen.
Die Gefahren, die vom internationalen Terrorismusausgehen, kann man nicht mit halber Kraft und nicht mitangezogener Handbremse bekämpfen. Was wir brauchen,ist Entschlossenheit. Wir brauchen aber keine Kompro-misse zulasten der Sicherheit unseres Landes. Aber genausolche Kompromisse haben Sie geschlossen.
Unser Sicherheitsnetz hat nach wie vor eine ganzeReihe von Lücken. Diese Lücken müssen wir schließen,eher heute als morgen. Wir belassen es aber nicht bei die-ser Kritik, sondern wir unterbreiten ganz konkrete Vor-schläge.Sie rühmen sich beispielsweise, eine Strafbarkeits-lücke geschlossen zu haben. Seit einiger Zeit ist die in-
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ländische Unterstützung einer ausländischen Terror-gruppe nach § 129 b StGB strafbar. Das war aber nur Zugum Zug gegen Erfüllung eines uralten Wunsches der Grü-nen möglich, nämlich die Sympathiewerbung für terro-ristische Vereinigungen endlich straflos zu stellen. Dasführt zu dem absurden Ergebnis, dass es zwar vor dem11. September 2001 strafbar war, beispielsweise für dasTerrornetzwerk al-Qaida Werbung zu machen, dass esaber nach den mörderischen Anschlägen straflos ist. Dasist für uns ein unerträglicher Zustand, der geändert wer-den muss.
Wir dürfen niemanden einbürgern, von dem wir wis-sen, dass er extremistischen Organisationen angehört odergar terroristische Aktivitäten unterstützt. Ich möchte nurein einziges Zitat aus der Originalurteilsbegründung desOberlandesgerichts Düsseldorf im so genannten Kaplan-Prozess anführen:Was aber der besonderen Erwähnung bedarf, ist Fol-gendes: Nahezu mit Verblüffung musste der Senatzur Kenntnis nehmen, dass eine Vielzahl von Zeugenaus den Reihen des Kaplan-Verbandes, und davonnicht wenige mit inzwischen deutscher Staatsan-gehörigkeit, mit einer kaum zu glaubenden Unver-blümtheit oder besser Unverfrorenheit erklärten,dass für sie auch hier in Deutschland nicht die deut-schen Gesetze, ja nicht einmal die deutsche Verfas-sung, sondern das islamische Recht, die Scharia,maßgeblich sei.
Der Kollege Beckstein hat gesagt, eine Regelanfragebeim Verfassungsschutz ist zwingend notwendig. Wenndort Erkenntnisse vorliegen, dass jemand terroristischeAktivitäten unterstützt, dann dürfen wir ihn nicht einbür-gern. In der Sendung von Sabine Christiansen sagte HerrSchily, dass in diesem Punkt Herr Beckstein völlig Rechthabe. Daraufhin fällt Claudia Roth in Ohnmacht und sagt:Unmöglich!Also sucht man nach einem Kompromiss. Wir fragen:Wie steht es in Sachen Verhinderung der Einbürgerungvon Extremisten und Terroristen? Antwort der Bundesre-gierung – noch druckfrisch vom 9. Januar 2003 –:Nach dem 11. September haben alle Innenministerund alle Innensenatoren der Länder von sich aus ob-ligatorische Regelanfragen eingeführt.Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber.
Diese Antwort ist in dreifacher Hinsicht interessant.Erstens. Offensichtlich kennt die Bundesregierung dieRechtslage, jedenfalls die Verwaltungspraxis der Länder,selber nicht. Zweitens. Es gibt Länder – allesamt unions-regiert –, die bereits vor dem 11. September von sich aussolche Regelanfragen eingeführt haben. Drittens. Es er-gibt sich ein buntes Bild. Einige Länder gehen nur nachbestimmten Staatenlisten vor; andere werden nur aktiv,wenn sich ein Verdacht ergibt. Wiederum andere differen-zieren bei der Einbürgerung zwischen Rechtsanspruchund Ermessen. Die originellste Regelung hat das LandSchleswig-Holstein. Dort gibt es Anfragen nämlich nurdann, wenn der betroffene Einbürgerungsbewerber seineZustimmung erteilt.
Das ist doch absurd. Was wir brauchen, ist eine bun-deseinheitliche Regelanfrage. Wenn nur ein einziges Landeine Schutzlücke aufweist, dann wirkt sich das auf alle an-deren Bundesländer aus, auch auf solche, die eine Regel-anfrage haben. Denn wir können nicht verhindern, dass esin unserem Land Wanderungsbewegungen gibt.
Nächster Punkt: Kronzeugenregelung.Gerade bei derBekämpfung von ethnisch geschlossenen Tätergruppen,wo wir keine Erkenntnisse mit dem klassischen Instru-mentarium verdeckter Ermittler gewinnen können, sindwir nun einmal leider auf Aussagen von Täterzeugen an-gewiesen, um Straftaten aufzuklären und neue Straftatenzu verhindern.Otto Schily sagte an dieser Stelle am 15. November 2001unter Bezugnahme auf diese Forderung von mir:Ich stimme Ihnen aber insoweit zu, als wir dort etwaszustande bringen müssen. Das ist ein Appell an dieGrünen, sich in dieser Frage etwas hurtiger zu bewe-gen, als dies bisher der Fall war.Dann tut sich erst einmal ein Jahr lang nichts und dannkommt es zu einem Koalitionsvertrag mit einer nebulö-sen Formulierung. In der Pressekonferenz wird derBundesinnenminister gefragt: Heißt das, es gibt eineneue Kronzeugenregelung? – Antwort: Ja. – Dann wirdder Rechtsexperte der Grünen gefragt: Ist das die neueKronzeugenregelung? – Er sagt: Nein.So kann man sich über Parteitage retten, aber so kannman den Terrorismus nicht bekämpfen.
Wenn es Ihnen so unendlich schwer fällt, der UnionRecht zu geben, hören Sie doch wenigstens auf die Ex-perten. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter: Islamistenlachen über Rasterfahndung; Kronzeugenregelung gefor-dert. Bundeskriminalamt fordert neue Kronzeugenrege-lung. Kersten, der Präsident des BKA: So können wir Ter-rornetzwerke aufdecken.Hören wir auf diejenigen, denen wir unsere Sicherheitanvertrauen. Die Experten, die Praktiker werden am ehes-ten wissen, was sie brauchen, um Kriminellen und Terro-risten das Handwerk zu legen.Die so genannte Verdachtsausweisung ist auch einoriginelles Kapitel. Wir müssen im Ausländerrecht dieVoraussetzungen dafür schaffen, bei begründetem Terror-verdacht – wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahmerechtfertigen, dass jemand einer terroristischen Vereini-gung angehört oder diese unterstützt – die Einreise zu ver-hindern und den weiteren Aufenthalt im Lande zu been-den, und zwar eher heute als morgen.
Wolfgang Bosbach
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Wolfgang BosbachSagen Sie bitte nicht: Genau das steht im Gesetz. Genaudas steht nämlich nicht im Gesetz. Ich zitiere aus einemAntrag des Landes Niedersachsen, SPD-regiert, wennauch nur noch 17 Tage.
– Apropos Niedersachsen. Ich zitiere aus einer druckfri-schen Pressemeldung der Niedersachsen-Kampa der SPDvom 15. Januar:Niemand soll uns vorwerfen, wie hätten nicht vorWulff gewarnt. Wulff ist nicht nur der blasse Leise-treter und Warmduscher, als der er gemeinhin imLande gilt, er ist ein strammer Konservativer, der dasRad der Geschichte zurückdrehen will. Er will einenPolizei- und Überwachungsstaat.
Wie verzweifelt und geistig verwirrt muss man eigentlichsein, um einen solchen Text in der Bevölkerung zu ver-breiten? Diese Frage müssen Sie mir einmal beantworten.
Ich zitiere aus der Bundesratsinitiative:Ausweisung, wenn Tatsachen die Annahme rechtfer-tigen, dass er einer Vereinigung angehört, die den in-ternationalen Terrorismus unterstützt.Diesen Vorschlag haben Sie abgelehnt. Sie haben statt-dessen in das Gesetz den Begriff „Beleg“ aufgenommen.Ein Beleg ist nichts anderes als ein Beweis. Wir redennicht von Gerüchten, wir reden nicht von übler Nachrede,sondern wir reden von Tatsachen. Wenn Tatsachen vorlie-gen,
die die Annahme rechtfertigen, dass jemand einer terroris-tischen Vereinigung angehört, dann muss das Interessedes Landes an der Beendigung des Aufenthalts zumSchutz der Bevölkerung Vorrang haben vor dem Aufent-haltsinteresse des betroffenen Ausländers.
Letzter Punkt: Einsatz der Bundeswehr im Innern.Es geht uns nicht darum, die Bundeswehr zu einer Artzweiter Bereitschaftspolizei zu machen. Wenn wir Defi-zite bei der Bekämpfung der Kriminalität haben, dannmüssen wir die Polizei des Bundes und der Länder perso-nell und technisch in die Lage versetzen, die Gefahren ab-zuwehren. Es geht uns nur um die Fallkonstellation, beider erkennbar nur die Bundeswehr die technischen undpersonellen Fähigkeiten hat, um eine Gefahr abzuwehren,ganz gleich, ob sie auf dem Boden oder aus der Luft droht.Das gilt nicht nur im Bereich des Luftangriffes, des Air Po-licing. Das kann auch bei der Abwehr von ABC-Gefahrenund dem Schutz ziviler Objekte, beispielsweise dem Schutzvon Flughäfen, Atomkraftwerken und Trinkwassertalsper-ren, gelten.
Wir können auf diesen Schutz nicht verzichten, wennwir eine besondere Gefährdungssituation haben, die we-der einen Spannungsfall noch einen Verteidigungsfallnoch eine Naturkatastrophe darstellt. Wenn man sagt:„Wir können ja die Regelung der Amtshilfe oder die desübergesetzlichen Notstands heranziehen“, dann wird da-mit die Verfassung überdehnt, was nur so lange gut geht,wie sich alle Beteiligten darüber einig sind, dass so ver-fahren werden soll. In dem Augenblick, in dem ein Scha-densfall eintritt – möglicherweise in einer Dimension, diewir uns alle weder wünschen noch vorstellen –, wird es zueiner verfassungsrechtlichen Überprüfung kommen unddann werden sich zig Juristen monatelang über dieseFrage beugen, die die Praktiker in wenigen Sekunden ha-ben entscheiden müssen, ohne dass es hierfür irgendeinerechtliche oder praktische Regelung gibt. Für uns ist dasein unerträglicher Zustand.
Ich kann den Bundesminister der Verteidigung nur da-rum bitten, bei seiner Haltung zu bleiben. Denn er als In-haber der Befehls- und Kommandogewalt muss in einerGefahrenlage in Bruchteilen von Sekunden entscheiden,was zu geschehen hat. Die Entscheidung kann grausamfalsch sein, egal wie sie fällt, ob Abschuss ja oder nein. Eskann richtig und unabwendbar sein; es kann aber auchfalsch sein. In diesem Fall hat man aber keine Zeit für langeverfassungsrechtliche Erörterungen oder zur Regelung vonVerfahren. Dafür muss es ein klares Regelwerk geben.Lieber Hans-Peter Kemper, du sagst: Wir wollen dieklassische Trennung von Polizei und Bundeswehr nichtaufheben, es soll bei der derzeit im Grundgesetz festge-legten Trennung bleiben.
Hast du irgendeinen Grund zu der Annahme, dass sich dieTerroristen danach richten? Ich habe die große Befürch-tung, dass diesen die Kompetenzverteilung im Grundge-setz egal ist.
Wir wissen, dass mit militärischen Mitteln im Inland an-gegriffen werden kann. Deswegen wollen wir die Bevöl-kerung nicht schutzlos lassen, wenn nur die Bundeswehreinen Schutz bieten kann.Danke.
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Kemper vonder SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Lieber Wolfgang Bosbach, ich bin froh, dass ich be-reits durch den Redner der Union angekündigt wordenbin. Das überbrückt aber nicht die Gegensätze, die wir indieser grundlegenden Frage haben. Die Gewährleistungder inneren Sicherheit ist Aufgabe der Polizei und derdafür in der Verfassung benannten Dienste – und nicht derBundeswehr. Die ist dafür nicht ausgerüstet. Die hat dafürauch keine entsprechende Ausbildung und keinen Verfas-sungsauftrag.
Ich bin aber froh – deswegen möchte ich erst einmalmeinen Dank an die Opposition richten –, dass Sie undIhre Partei den vorliegenden Antrag gestellt haben – nicht,weil er so gut ist. Mitnichten! Das ist klar. Aber Sie habenendlich dafür gesorgt, dass das wichtige Thema der inne-ren Sicherheit, worüber wir in den vergangenen zehn Jah-ren immer nur in den Abend- und Nachtstunden diskutierthaben, zur Kernzeit und damit öffentlich debattiert wird.Sie haben dafür gesorgt, dass wir die Möglichkeit haben,unsere gute Innenpolitik und besonders die gute Politik,die wir seit Jahren im Bereich der inneren Sicherheit er-folgreich praktizieren, darzustellen.
Es ist gute sozialdemokratische Politik, dafür zu sor-gen, dass die Menschen in unserem Land ohne Angst le-ben können. Denn ein Leben in Sicherheit, ein Lebenohne Angst ist ein Stück Lebensqualität. Das ist dieÜberzeugung der Sozialdemokraten und dafür stehendieser Innenminister, diese Regierung und diese Koali-tion.
Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigeneindeutig die Richtigkeit unserer Innen- und Sicherheits-politik. Die Bundesrepublik gehört im internationalenVergleich zu den sichersten Staaten der Welt. Der Anteilder Schwerstkriminalität geht zurück. Diese Debatte wirddeutlich machen, dass die innere Sicherheit bei der Koali-tion und der Regierung in guten Händen ist, auch wenndie Opposition mit ihrem Antrag krampfhaft versucht, ei-nen anderen Eindruck zu erwecken.Wir haben engagierte und motivierte Sicherheitsdiens-te, angefangen von den Länderpolizeien über den Bun-desgrenzschutz und die Verfassungsschutzorgane bis hinzu den Katastrophenschutzeinrichtungen. Sie alle habenin der Vergangenheit, besonders aber nach dem 11. Sep-tember gezeigt, dass sie bereit sind, ein Höchstmaß an Si-cherheit zu produzieren. Auf das gesamte Sicherheitspa-ket der Bundesregierung, das Herr Bosbach geradeangesprochen hat, will ich nicht eingehen. Vielmehr willich mich, weil Sie mit Ihrem Antrag auf die Zeit nach dem11. September abzielen, nur auf diesen Zeitraum be-schränken.Nach den fürchterlichen Anschlägen vom 11. Septem-ber haben wir in mehreren Antiterrorgesetzen den recht-lichen und finanziellen Rahmen für zusätzliche und in-tensivere Maßnahmen zur Terrorbekämpfung geschaffen.Ich will nur stichpunktartig darauf eingehen.Unter strenger Beachtung der Rechtsstaatlichkeit habenwir der Polizei, dem Bundesgrenzschutz, dem BKA, Eu-ropol, den Diensten und hier ganz besonders dem Verfas-sungsschutz in den Bereichen Post, Luftfahrtunternehmen,Telekommunikationsunternehmen und Dienstleistungsun-ternehmen zusätzliche und bessere Kompetenzen gege-ben.Wir haben den rechtlichen Rahmen für bessere und si-cherere Personenidentifizierungen geschaffen. Wir habendie Bereitschaftspolizeien der Länder erheblich verstärkt.Wir haben gerade im Bereich der Luftsicherheit vieleDinge auf den Weg gebracht, die längst überfällig waren, sodie bessere Bestreifung der Flughäfen, bessere Zugangs-kontrollen und bessere Gepäckkontrollen. Seit dem 1. Ja-nuar sind diese besseren Kontrollen auch auf europäischerEbene bestätigt, denn nunmehr wird jedes Gepäckstücklückenlos kontrolliert. Wir kontrollieren die Fluggästebesser, aber auch das Personal, das auf den Flughäfen be-schäftigt ist.Wir haben eine Flugbegleitung organisiert, qualifiziertund motiviert. Die so genannten Skymarshals gewährleis-ten auf bestimmten Flügen eine deutliche Steigerung derFlugsicherheit. Wir haben – ebenfalls unter strenger Be-achtung der Rechtsstaatlichkeit – den Datenaustausch zwi-schen den Behörden verbessert.Das alles waren Maßnahmen, die längst überfällig wa-ren.Wir haben das Vereinsgesetz verändert; damit wurdeunter bestimmten Voraussetzungen auch das Religions-privileg abgeschafft. Ich will gar nicht verhehlen, dass esauch mich geärgert hat, wenn Kaplan oder andere auftra-ten und unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit oderdes Religionsprivilegs ihre Parolen verkündeten.
Aber wir haben Abhilfe geschaffen. Im Gegensatz zu Ih-nen haben wir die Gesetze verändert; die Situation war inden 16 Jahren zuvor nicht anders. Kaplan war vorher auchda. Aber diese Regierung, dieser Innenminister hat esgeändert. Als Konsequenz aus dieser Maßnahme sind inder Zwischenzeit entsprechende Vereinsverbote ergan-gen, auch im Hinblick auf Gruppen, die seit langem hiertätig waren.
Wir haben Vorkehrungen getroffen, die die Einreisevon Terroristen in die Bundesrepublik verhindern bzw. diees ermöglichen, solchen Gruppen zugehörige Personenwieder auszuweisen, wenn sie denn schon hier sind.Nun komme ich kurz auf den Antrag der CDU/CSU zusprechen. Sie fordern, die Einreise von Terroristen zuverhindern. Da frage ich mich: Wer will das denn nicht?
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Hans-Peter KemperGlauben Sie, Sie allein wollten das? Das, was Sie in demAntrag fordern, ist doch längst Realität.
Nach dem Ausländergesetz werden Personen, die die frei-heitlich-demokratische Grundordnung oder die Sicherheitder Bundesrepublik gefährden, sich an Gewalttätigkeitenbeteiligen, zu Gewaltanwendungen aufrufen, mit Gewalt-anwendung drohen oder einer Vereinigung angehören, dieden internationalen Terrorismus oder derartige Vereini-gungen unterstützt, gar nicht ins Land gelassen bzw. wie-der ausgewiesen, wenn sie sich im Land befinden.Ich führe ein anderes Beispiel an; Herr Bosbach hat dieRegelanfrage angesprochen. Die Regelanfrage wird inden Bundesländern längst praktiziert,
und zwar von allen Bundesländern. Genauso ist es mög-lich, erkennungsdienstliche Behandlungen im Rahmendes jetzt geltenden Ausländerrechts durchzuführen. Wirhatten im Zuwanderungsgesetz einige Verstärkungen undVerschärfungen vorgesehen, die auch in Ihrem Sinne ge-wesen wären. Sie haben dieses Zuwanderungsgesetz zuFall gebracht.
Die von Ihnen jetzt beklagte Situation – fehlende Integra-tion, unkontrollierte und ungesteuerte Zuwanderung – istauf der Basis des alten Rechtszustandes, den Sie langeJahre zu vertreten hatten, entstanden.
Wir wollten das ändern, Sie haben es verhindert. Bejam-mern Sie also nicht die Ergebnisse Ihrer eigenen Politik!
Da ich mich nicht zu lange mit Ihrem Antrag aufhaltenwill, nenne ich nur noch ein letztes Beispiel.
Die Union behauptet in ihrem Antrag, dass es Defizite imKatastrophenschutz gibt. Ich will nicht bestreiten, dasses da eine Menge zu verbessern gibt, aber es gehört auchzur historischen Wahrheit, dass es die Vorgängerregierungunter Ihrem Innenminister Kanther war, die den Katastro-phenschutz massiv zurückgefahren hat.
Das war ein Innenminister, von dem Sie heute nicht mehrso viel wissen wollen, weil er sich im Dunstkreis der or-ganisierten Kriminalität bewegt hat.
Ich habe die Worte des Innenministers noch genau imOhr. Er hat gesagt: Wir haben nach der deutschen Einheitund den Veränderungen in Europa eine veränderte Bedro-hungslage, wir müssen den Katastrophenschutz zurück-führen. Sie haben den BVS platt gemacht und hoch qua-lifizierte und engagierte Leute auf die Straße geschicktbzw. völlig unsinnig im Langen Eugen Feuerstreife laufenlassen. Sie haben den Sirenenalarm ohne adäquaten Er-satz abgeschafft. Sie haben das THWdrastisch verringert.
Ich habe noch genau vor Augen, wie die Ortsverbändedes THW in Nordrhein-Westfalen um ihre Existenzgekämpft und verloren haben, weil Sie und der Innenmi-nister es nicht wollten. Wir sind diesen Weg – da haben SieRecht – zu großen Teilen mitgegangen. Das ist überhauptkeine Frage,
aber wir stehen auch heute noch dazu, während Sie inIhrem Antrag den Eindruck erwecken, als ob wir das zuverantworten hätten.
Sie bejammern die Früchte Ihrer eigenen Politik und Ih-res eigenen Fehlverhaltens.
Wir haben die Notwendigkeit funktionierender Kata-strophenschutzeinrichtungen erkannt und umgesteuert.Wir haben in diesem Bereich dafür gesorgt, dass die fi-nanzielle Ausstattung und die Akzeptanz der Katastro-phenschutzeinrichtungen wieder so ist, wie es sich gehört.Gestern haben wir im Innenausschuss den Einzelplan 06beraten. Herr Bosbach, Sie waren nicht dabei, aber Siewissen das auch so.Dabei müsste Ihnen aufgefallen sein, wie die Auf-wüchse im Bereich der inneren Sicherheit sind.
Ich will Ihnen nur einige Beispiele nennen: Aufwuchs imBereich des THW gegenüber dem letzten Jahr 21,3 Pro-zent, Aufwuchs im Zivilschutz gegenüber dem letztenJahr 37,78 Prozent, Aufwuchs im Bundesgrenzschutz12,31 Prozent, Aufwuchs beim Bundeskriminalamt20 Prozent und beim Bundesamt für Verfassungsschutz22 Prozent.Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihre Regierung je-mals so viel für funktionierende Sicherheitseinrichtungenund damit für die innere Sicherheit getan hat.
Ich behaupte nicht, dass wir ein Patentrezept haben.Das hat keiner. Kein Gesetz dieser Welt und keine Verfas-sungsänderung hätten die Anschläge vom 11. Septemberverhindern können. Es gehört aber auch zur Ehrlichkeit,den Menschen zu sagen, dass es eine absolute Sicherheitund den absoluten Schutz vor Kriminalität nicht gibt.
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Deswegen sage ich Ihnen, die CDU sollte ihren Antragzurückziehen. Er ist ein Sammelsurium von überholtenund populistischen Behauptungen und Einzelstücken. Siesollten mit uns zusammen den Weg weitergehen. Das istein guter Weg für die innere Sicherheit und wir hätten ge-meinsam Erfolg.Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieUnionsfraktion will Deutschland wirksam vor Terroristenund Extremisten schützen. Nach Auffassung der FDP-Fraktion bedarf es dazu keiner neuen Gesetze und schongar nicht der von Ihnen vorgeschlagenen.
Bevor sich die SPD zu früh freut: Herr Kemper, das wirdkein Lob für Sie.Sicherheit ist der Schutzwall der Freiheit unserer Ge-sellschaft und jedes Einzelnen. Ohne Zweifel hat dieserWall Risse und Löcher, doch wird man diese nicht da-durch stopfen, dass immer neue Gesetze den Schutzwallimmer höher werden lassen. Wir müssen die bestehendenSchutzmechanismen stärken, indem wir Vollzugsdefiziteabbauen und nicht die Freiheit in blindem Aktionismuseinmauern.
Unsere Aufgabe ist es, die Ängste und Sorgen der Bür-gerinnen und Bürger ernst zu nehmen und ihren berech-tigten Anspruch auf Sicherheit einzulösen. Unredlich istes, vorzugaukeln – wie Sie dies tun –, dass die Sicherheitallein durch neue und schärfere Gesetze gewährleistetwerden kann.
Schon das Sicherheitspaket II der Bundesregierung hatdie FDP-Fraktion abgelehnt,
weil die Verhältnismäßigkeit zwischen Freiheit und Si-cherheit nicht gewahrt war.
Dass Sie von der CDU/CSU dies nicht nachvollziehenkönnen, ist mir völlig klar. Nun aber in gesetzgeberischenAktionismus zu verfallen, wie von Ihnen gefordert, ist derfalsche Weg.Die Unionsfraktion stellt in ihrem Antrag jeden Aus-länder, der die Grenzen Deutschlands zu überquerensucht, unter den Generalverdacht des Terrorismus unddes Extremismus,
insbesondere wenn der Ausländer muslimischen Glau-bens ist. Die Religionszugehörigkeit allein ist kein po-tenzielles Gefahrenmerkmal. Die Sudanesin, die vor derScharia flieht, ist ebenso Muslimin wie die von der Stei-nigung bedrohte Nigerianerin. Gleiches gilt für den reli-gionskritischen Schriftsteller aus einem arabischen Land.Nicht die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft,sondern die innere Gesinnung ist entscheidend für mög-liche Gefahren.
Dies können Sie aber nicht durch eine einfache Abfragedes Glaubens erfahren.
Daher wird mit der verpflichtenden Speicherung im Aus-länderzentralregister – wie von Ihnen im Antrag gefor-dert – kein Plus an Sicherheit gewonnen.
Aber nach Ihrer Vorstellung, liebe Kollegen von derCDU/CSU, soll der Staat ohnehin zum sammelwütigenDatenjäger werden. Biometrische Daten sollen nicht nurin den Ausweispapieren von Ausländern gespeichert wer-den – dies könnte noch eine sinnvolle Maßnahme sein –,sondern Sie wollen auch noch biometrische Daten, die Sienicht näher spezifizieren, in verschlüsselter Form grund-sätzlich in allen Ausweispapieren und für Behörden ab-rufbar speichern.Heißt dies im Klartext, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, Sie wollen den verschlüsselten gläsernen Bürger,auslesbar für die Behörden, unverständlich für den Bürgerselbst? Dies wird die FDP nicht mitmachen.
Folgt man dem hier vorgelegten Entwurf der CDU/CSU,so soll der Staat auch nicht vor einer Ausweitung derWohnraumüberwachung Halt machen. Gerade hier, woes um einen besonders intensiven Eingriff in die Privat-sphäre der Menschen geht, muss sehr sorgfältig abgewo-gen werden.
Eine verdachts- und gefahrunabhängige Überwachungvon Wohnräumen durch Sender oder Video darf es nichtgeben. Die Position der FDP-Fraktion ist und bleibt klarund eindeutig: Es muss immer der begründete Verdachteiner schweren Straftat vorliegen, wenn in den durchArt. 13 des Grundgesetzes geschützten Raum eingegrif-fen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die FDP-Fraktion teiltallerdings die Kritik an der Bundesregierung bezüglichHans-Peter Kemper
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Gisela Piltzeiner verfehlten Europapolitik. Statt konsequent mit deneuropäischen Partnern zusammenzuarbeiten, geht dieBundesrepublik einen eigenen Weg. Weder wirkt die Bun-desrepublik auf die Partner ein, sich an die eigenen Be-schlüsse zu halten, zum Beispiel wenn es um die Schaf-fung eines einheitlichen digitalen Funknetzes für dieBehörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgabengeht, noch kümmert sie sich aus unserer Sicht ausreichendum die Umsetzung gemeinsamer europäischer Alarm-pläne für Katastrophenfälle. Dies ist aus meiner Sicht derfalsche eigene deutsche Weg.
Weder Naturkatastrophen noch Terroristen machen annationalen Grenzen halt. Die Kleinstaaterei, die auch vonder deutschen Regierung in Europa betrieben wird, be-hindert eine effektive grenzüberschreitende Bekämp-fung.
– Dass Sie das nicht so sehen, ist mir auch klar.In den vergangenen Tagen hat uns der versuchte Flug-zeugangriff auf die Frankfurter Banktürme beschäftigt.Die dadurch aufgeworfenen Fragen des Umgangs mit ei-nem möglichen Terrorangriff im Luftraum riefen beiCDU/CSU, aber auch bei der SPD die reflexartige Forde-rung nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern her-vor.
Die Bundeswehr soll nun nach dem vorgelegten Ent-wurf mehr Kompetenzen im Innern erhalten, um den Zi-vil- und Katastrophenschutz zu verstärken. Die Hürden,die das Grundgesetz aufstellt, sollen nach Ihrer Forderungfallen. Dies haben Sie vorhin hier auch selber gesagt. DieSicherungsmechanismen, die davor bewahren sollen, dasseine deutsche Armee jemals wieder gegen ihre eigenenBürger eingesetzt wird, sollen einem gesetzgeberischenAktionismus weichen. Zu derartigen Plänen kann ich fürdie FDP-Fraktion nur erklären: Nicht mit uns!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen alles da-ran setzen, um unsere Freiheit zu bewahren, auch wenndas in mancherlei Hinsicht verwundbar macht. Nach un-serer Auffassung ist unsere Freiheit das aber wert. Neueund schärfere Gesetze sind gerade in den vergangenenJahren zur Genüge in Kraft getreten. Sie strapazieren dieFreiheit unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen aus un-serer Sicht schon genug. Belassen wir es dabei! Setzen wirkonsequent um, was uns der Rechtsstaat an die Hand gibt,und vergessen wir dabei nie, dass es die Freiheit ist, umdie wir kämpfen!Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wirstimmen sicherlich Ihrer Überschrift zu, aber auf gar kei-nen Fall Ihrem Antrag.Vielen Dank.
Frau Kollegin Piltz, ich darf Ihnen zu Ihrer ersten Rede
im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Piltz, ichmöchte Ihnen zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Sie war,zumindest im ersten Teil, sehr erfreulich. Ich bitte Sie aber– vielleicht könnten die Gratulanten aus der eigenen Frak-tion das Zuhören ermöglichen –, Ihren Redetext den Mit-gliedern Ihrer Landesregierungen zuzuschicken.
Denn ich entsinne mich noch an die Beratungen des Si-cherheitspaketes: Gerade die von CDU und FDP regiertenLänder haben Verschärfungsanträge in den Bundesrat ein-gebracht.
Die FDP im Bundestag vertritt die gegenteilige Linie. Malsehen, was Herr Bouffier, ein christlich-liberaler Innen-minister, nachher zu diesen Fragen zu sagen hat.Die rot-grüne Bundesregierung bekämpft den Terroris-mus in Deutschland mit allen legitimen Mitteln und mitgroßem Erfolg. Unser zügig umgesetztes Antiterrorgesetzgreift in der Praxis. Die Festnahmen der letzten Tage zei-gen eindeutig: Deutschland ist kein Platz, an dem sichmutmaßliche Terroristen sicher fühlen können.
Im Gegenteil: Sie müssen mit dem energischen Zugriffunserer Sicherheitsbehörden rechnen. Das ist gut so; dennauf diese Weise reduzieren wir die Gefährdung durch ter-roristische Aktivitäten in unserem Land enorm. Wir ma-chen es also nicht mit halber Kraft, wie Sie behauptet ha-ben, Herr Bosbach, wir machen es mit klarem Verstand.
Honoriert wird unser erfolgreicher Kampf gegen denTerrorismus von unserem wichtigsten Bündnispartner,den USA. Ich erinnere nur an die in den letzten Tagengefallene Äußerung des amerikanischen InnenministersAshcroft, der sich unmittelbar nach dem Zugriff auf dieal-Qaida-Mitglieder bei der Bundesregierung für die guteZusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus be-dankt hat – zu Recht.Lassen Sie sich gesagt sein und nehmen Sie endlich zurKenntnis, verehrte Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU: Rot-Grün handelt im Kampf gegen den Ter-ror erkennbar erfolgreich und verlässlich. Sie dagegen re-
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den nur und versuchen, mit Anträgen, teilweise unaus-gegorenem Zeug und mit Dingen, die mit der Sache über-haupt nichts zu tun haben, die Bevölkerung und die in-nenpolitische Debatte zu irritieren.
Wenn zu lesen ist, dass selbst der Doppelpass eines derzentralen Sicherheitsrisiken beim Kampf gegen den Ter-rorismus ist,
dann sieht man, dass es dem Antrag wirklich an Ernst-haftigkeit fehlt. Sie versuchen nach alter Manier, so wieimmer zwei Wochen vor einer Landtagswahl, das Themainnere Sicherheit zu instrumentalisieren. Herr Kochwird diese Debatte bestellt haben. Sie wollen Ängsteschüren. Sie verunsichern die Bevölkerung und stellenBedrohungsszenarien auf, die es nicht gibt. Das ist Wahl-kampf à la CDU/CSU, wie wir ihn schon lange kennen:substanzlos, polemisch und gegen Minderheiten gerich-tet.
Meine Kollegin von der FDP, es war richtig, dass dieKoalition in der letzten Wahlperiode die beiden Antiter-rorpakete auf den Weg gebracht hat. Viele Instrumentewaren notwendig, um unser Land sicher zu machen. Wirhaben, um nur ein Beispiel zu nennen, von der alten Bun-desregierung eine Visadatei übernommen, die reiner Da-tenschrott war. In ihr wurde noch nicht einmal verzeich-net, ob der Antragsteller ein Visum bekommen hatte oderob wir Erkenntnisse hatten, dass wir es ihm verweigernmussten. Da das nicht festgehalten worden ist, konnte der-jenige, dem das Visum verweigert worden ist, am nächs-ten Tag im nächsten Land zu einer anderen Botschaft ge-hen, es bestellen und einreisen. Das kann es doch wirklichnicht sein. Solche Dinge mussten wir ändern und wir ha-ben sie geändert. Damit haben wir unser Land sicherer ge-macht, ohne die Freiheitsrechte in diesem Land zu be-schädigen oder zu gefährden.
Wir haben dafür gesorgt – das wurde schon angespro-chen –, dass sich Vereine nicht hinter dem Religionspri-vileg verstecken können und dadurch gegen Minderheitenhetzen, zu Gewalt aufrufen und Terroranschläge finanzie-ren oder selbst vorbereiten können. In der Vergangenheithat es schon zwei Verbote gegeben, nämlich das desAachener Vereins Al-Aqsa und das des radikal-islami-schen Kalifatstaats. Das war richtig, vernünftig und gut.Gestern hat der Bundesinnenminister Hizb ut-Tahrir, diePartei der Befreiung, verboten.Wenn man ins Internet schaut – weil die Internetseitenaus dem Ausland kommen, gibt es sie noch –, findet mangrässliches Zeug. Trotzdem wird man dort in den nächs-ten Tagen – auch das habe ich auf einer Seite gelesen –einen Brief finden können, in dem sie sich als brave undunschuldige, gewaltfreie Lämmer gerieren. Unter derÜberschrift „Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt ...“steht dort: „Ihr sollt das hässliche Judengebilde vernich-ten ...“ und dergleichen mehr. Selbstverständlich ist dasuntragbar. Solche Leute dürfen in unserem Land nichtagitieren, sich nicht organisieren und für ihre Ziele nichtwerben.
Herr Innenminister, meine Fraktion unterstützt Ihr ener-gisches und entschlossenes Vorgehen ausdrücklich. DieseMaßnahme war dringend überfällig. Es ist gut, dass wirdie Rechtsgrundlage für solche notwendigen Maßnahmengeschaffen haben.
Der 11. September hat uns eine neue schreckliche Di-mension des internationalen Terrorismus vor Augen ge-führt. Selbstverständlich hat sich der Kampf gegen dieseStrukturen mit unseren beiden Sicherheitspaketen nichterledigt. Im Bereich des Vollzugs und der Umsetzung gibtes noch viel zu tun. Wir meinen – dies haben wir uns inder Koalitionsvereinbarung auch vorgenommen –, dassdie Arbeit der Geheimdienste dringend auf ihre Effizienzhin, auf die Effizienz der Kontrolle und auf die Effizienzder Zusammenarbeit der verschiedenen Dienste von Bundund Ländern, überprüft werden muss. Wenn wir dabeifeststellen werden, dass es bei der Zusammenarbeit Ver-besserungsmöglichkeiten gibt, dann werden wir sie sicher-lich genauso auf den Weg bringen wie bei den Verbesse-rungen der Kontrollmöglichkeiten. Hier wird Rot-Gründas Notwendige tun.
Trotz der vielen Fortschritte, die wir in der letzten Wahl-periode bereits erreicht haben, werden wir ein ambitio-niertes Programm vorlegen.Schauen Sie sich einmal an, was wir in der letztenWahlperiode getan haben. Das Innenministerium hat dieEinzelmaßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismusauf vier eng beschriebenen Seiten mit Spiegelstrichenaufgeschrieben. All diese Maßnahmen atmen den Hauchder Verhältnismäßigkeit.
Dabei wurde zwischen dem, was notwendig ist, und dem,was für die Bürgerrechte und die Rechtsstaatlichkeit un-seres Landes verträglich ist, abgewogen.Der heutige Antrag der Union ist das glatte Gegenteil;er ist voller Ladenhüter. Auch wenn Sie die Debatte überdie Fragen der Kompetenzen der Bundeswehr hier erneutaufflammen lassen, werden Sie bei uns nicht auf offeneTüren stoßen. Art. 35 des Grundgesetzes ermöglicht esuns, immer dann, wenn wir zur Aufrechterhaltung der in-neren Sicherheit zwingend auf die Fähigkeiten der Bun-deswehr zurückgreifen müssen, im Rahmen der Amtshilfedas Notwendige zu tun. Dafür gibt es hinreichende ver-fassungsrechtliche Grundlagen.Volker Beck
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Volker Beck
Es mag aber sein, dass es auch unterhalb der Ebene derVerfassungsänderung die Notwendigkeit gibt, Verfahrens-abläufe zwischen Bund und Ländern zu klären. Das kannman nicht erst tun, wenn die Gefahr vor der Tür steht.
Wir müssen schauen, ob wir im Gesetz eine Präzisierungbezüglich der Anwendung des unmittelbaren Zwangsbrauchen, um Rechtsklarheit für die Soldatinnen und Sol-daten zu schaffen. Der Verteidigungsminister hat völligRecht: Er engagiert sich als Anwalt für die Soldatinnenund Soldaten, um Rechtsklarheit bezüglich der Grundla-gen zu schaffen. Ich bin trotzdem froh, dass der Bundes-kanzler gesagt hat, dass es hierzu keine Grundgesetz-änderung geben wird,
weil es keine Lücken gibt. Sie wollen diese Fragen ja auchnicht klären.
Sie wollen einen Schritt in Richtung Militarisierung derInnenpolitik gehen.
Deshalb führen Sie hier diese ideologische Debatte. Umdas tun zu können, was wir tun wollen, brauchen wir sienicht.Herr Bosbach, genauso abwegig
war vorhin Ihre Einlassung zum Thema Kronzeugen-regelung. Selbstverständlich haben wir in unserem Ko-alitionsvertrag vereinbart, eine allgemeine Strafmilde-rungsvorschrift, unter anderem für Präventions- undAufklärungsgehilfen, unter bestimmten Voraussetzungenzu ermöglichen.
und rechtsstaatlich Verantwortbares vorlegen, auch wennes Ihnen nicht gefällt.Herr Kollege Bosbach, Sie haben zu Beginn Ihrer Redegesagt, man brauche unbedingt mehr Rasterfahndung,was auch die Sicherheitsbehörden forderten.
– Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie dabei ei-nen Sicherheitspolitiker zitiert haben. Ich meine, dieUnion sollte, wenn ein hessischer Innenminister anwe-send ist, besonders ruhig sein. Es war die Rasterfahn-dung in Hessen, die von den entsprechenden Gerichts-höfen wegen ihrer Rechtswidrigkeit außer Kraft gesetztwurde.Erledigen Sie erst einmal Ihre Hausaufgaben. MachenSie die Sicherheitspolitik vor allen Dingen genausorechtsstaatlich wie diese Bundesregierung. Dann spre-chen wir uns wieder.
Am besten – da schließe ich mich Herrn Kemper völligan – packen Sie diesen Antrag am 3. Februar, wenn derWahlkampf vorbei ist und wir ihn für diese Auseinander-setzung nicht mehr brauchen, einfach wieder ein. SeriöseSubstanz ist darin einfach nicht zu finden. Schließen Siesich den Initiativen dieser Koalition an. Dann sind Sie vorallem in der Innenpolitik gut beraten.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrKollege Beck, die bisherigen Maßnahmen von Rot-Grünbei der Terrorismusbekämpfung atmen nicht, wie Sie unseinreden wollen, den Hauch der Verhältnismäßigkeit, son-dern die kalte Brise rot-grüner Uneinigkeit und Hand-lungsunfähigkeit wird in jeder Zeile der bisherigen Si-cherheitspakete deutlich. Im Gegensatz zur FDP habenwir sie übrigens mitgetragen. Aber wir haben bei der Ver-abschiedung immer deutlich gemacht, dass wir sie für un-zureichend halten.Wir wissen – darüber dürfen wir unsere Bevölkerungnicht im Unklaren lassen –: Absoluten Schutz vor terro-ristischer Bedrohung kann und wird es nicht geben.Aber es ist und bleibt Aufgabe verantwortungsvollerPolitik, alle Vorkehrungen für einen bestmöglichenSchutz unserer Bevölkerung vor terroristischen Angrif-fen zu treffen.
Welche Aktualität unser heute vorgelegter Antrag hat, hatnicht zuletzt die Frankfurter Flugzeugentführung, aberauch die Verhaftung mutmaßlich hochrangiger jemeniti-scher Mitglieder des Terrornetzes al-Qaida in Frankfurtgezeigt. Beide Ereignisse belegen: Der Abwehrkampf ge-gen den Terrorismus in Deutschland hat gravierende Si-cherheitslücken. Wir meinen, dass die Bundesregierung
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bislang noch nicht alle notwendigen Konsequenzen ausden Ereignissen des 11. September gezogen hat.
Die Frankfurter Flugzeugentführung belegt, dassdie Bundesregierung auf einen derartigen Fall äußerstdürftig vorbereitet ist: Uneinigkeit und Kompetenzstreitstatt sicherer Handlungsgrundlagen. In einem so wichti-gen Bereich geht das so nicht. Herr Bundesinnenminister,die Innenministerkonferenz hat bereits im Dezember 2001wegen des Gefährdungspotenzials von Kleinflugzeugendie Bundesregierung zu Aktivitäten aufgefordert. Wennich gestern bei dem, was Herr Staatssekretär Körper in derFragestunde gesagt hat, richtig zugehört habe, dann mussich feststellen, dass außer der Umsetzung der EU-Richtli-nie in diesem Bereich bislang zu wenig passiert ist.
Der Streit zwischen Ihnen, Herr Minister Schily, undHerrn Verteidigungsminister Struck zeigt, dass selbst ein-einviertel Jahre nach den Anschlägen vom 11. Septemberkeine klaren Regelungen für den Einsatz der Bundes-wehr bei einerGefahr im Innern getroffen worden sind,wie wir sie in unserem vorliegenden Antrag fordern. Esreicht nicht, dass die Bundesregierung nach dem 11. Sep-tember über ein Jahr braucht, um zu diesem Sachverhalterst einmal eine Arbeitsgruppe einzusetzen.Wir meinen, dass die rechtlichen Grauzonen beseitigtwerden müssen und dass Art. 35 des Grundgesetzes geän-dert werden muss. Denn letztlich muss klar sein, wer in ei-ner Krisenlage die Entscheidungsbefugnis besitzt, not-falls auch ein gefährliches Flugziel abschießen lassen zukönnen. Solche Entscheidungen können nicht erst in derStunde der Gefahr getroffen werden.Herr Minister Struck, wir teilen mit Ihnen die Auffas-sung, dass Soldaten, die in solchen Fällen auf Ihren Be-fehl hin unter Umständen auch Flugzeuge abschießenmüssten, nach der derzeitigen Rechtslage weder vor Straf-verfolgung wegen vorsätzlicher Tötung noch vor Scha-densersatzklagen geschützt sind. In den Medien wurdeheute darüber berichtet, dass Sie sich in diesem Sinnegeäußert haben.Wir teilen Ihre Auffassung voll und ganz, auch dahingehend, dass die Verantwortlichkeit geklärt werden muss.Denn wenn etwa bei dem jüngsten Zwischenfall der hes-sische Ministerpräsident die Zuständigkeit des Verteidi-gungsministers nicht akzeptiert hätte, dann wäre dieseFrage rechtlich umstritten gewesen. Eine verantwortlichepolitische Führung erfordert Einigkeit, um handlungs-fähig zu sein. Deshalb bieten wir Ihnen an: Wir tretengerne mit Ihnen in Gespräche über die Beseitigung dieserrechtlichen Grauzone und darüber ein, wie wir auch in derVerfassung einwandfreie rechtliche Grundlagen für sol-che Fälle – auf die wir uns einstellen müssen; das hat derVorfall in Frankfurt deutlich gezeigt – schaffen können,um zu klären, wie wir in dieser Frage zu einem politischenKonsens kommen können.
Ein Wort zu der Verhaftung der zwei mutmaßlichenal-Qaida-Mitglieder aus dem Jemen. In der Presse wurdeder Eindruck von Schlagkraft erweckt. Dieser Eindruckhält aber einer ernsten Prüfung nicht stand. Bislang wurdeder Innenausschuss des Bundestages noch nicht über alleZusammenhänge der Verhaftung informiert, aber schondie Berichterstattung in den Medien macht deutlich, dassder Zugriff nicht auf eigene Initiative hin erfolgte, son-dern lediglich auf Ersuchen der Amerikaner.
Die verhafteten Männer waren von den Amerikanern alshochrangige al-Qaida-Mitglieder identifiziert worden; diedeutschen Behörden hatten offensichtlich keine eigenenErkenntnisse über die beiden. Das heißt, ohne Warnungund Ersuchen der Amerikaner hätten sich die beiden inDeutschland aufgehalten. Sie haben auch von den deut-schen Behörden problemlos ein Visum erhalten, und zwarobwohl der Jemen ein so genannter Problemstaat ist, beidem nach einer durch das Sicherheitspaket II eigens ge-schaffenen Vorschrift besondere Sicherheitsschrankengelten sollen.Es muss auch zu denken geben, dass die Bundesregie-rung nach eigenen Angaben in der Fragestunde des Bun-destags allein im vergangenen Jahr 300 000 Visa für An-gehörige aus so genannten Problemstaaten erteilt hat.Das alles zeugt nicht von Schlagkraft, sondern esmacht deutlich, dass es Sicherheitslücken gibt, die drin-gend und schnell geschlossen werden müssen. Weil wir inder Analyse der Sicherheitslage einig sind, müsste es dochmöglich sein, auch einmal vorbehaltlos über unsere Vor-schläge und Anregungen zu diskutieren. Die alte Spielre-gel „Die Konkurrenz hat immer Unrecht, auch wenn sieRecht hat“ sollte bei einem so wichtigen Thema nicht gel-ten.
Wir wollen mit unserem Antrag zwei Ziele erreichen.Zum einen wollen wir den notwendigen Sicherheitsge-winn ermöglichen. Die Schutzlücken müssen beseitigtwerden. Wir wollen aber zum anderen auch eine gesell-schaftliche Debatte über die Grenzen von Toleranz an-stoßen; denn wir sind überzeugt, dass der Kampf gegenden Terrorismus nicht nur Angelegenheit von Polizei, Si-cherheitsdiensten und schärferen Gesetzen ist, sondernwir müssen auch über die gesellschaftspolitische Dimen-sion dieses Themas diskutieren.Ich will noch auf das eingehen, was Sie zum ThemaRegelanfrage beim Verfassungsschutz im Einbürge-rungsverfahren ausgeführt haben, Herr Kemper. Sind Sienicht mit mir einer Meinung, dass es keinen Sinn macht,wenn wie in Schleswig-Holstein eine solche Anfrage nurmit Zustimmung des Betroffenen erfolgen kann? Das istdoch weiße Salbe.
Weil die bisherigen Verbotsverfahren gezeigt haben, dasses sich nicht mehr nur um ein Ausländer-, sondern auchum ein Inländerproblem handelt, ist auch im Einbürge-rungsverfahren die Regelanfrage notwendig, damit wirdoppelt hinsehen, wer aus einem solchen Bereich deut-scher Staatsbürger wird.Hartmut Koschyk
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Hartmut KoschykLieber Herr Bundesinnenminister, es fällt schon auf,dass die Verbotsverfahren immer kurz vor Wahlen erfol-gen. Wir begrüßen diese Verbotsverfahren. Aber die bei-den ersten fanden kurz vor der Bundestagswahl statt.Zwei Tage vor der Bundestagswahl haben Sie die Aus-weisung von Kaplan zu einem großen Thema gemacht.Jetzt, kurz vor den Wahlen Anfang Februar, erfolgt wie-der ein Verbotsverfahren und wird das Thema Kaplanwieder hochgezogen. Wir wollen, dass unabhängig vonWahlterminen und möglichst in einem großen politischenund gesellschaftlichen Konsens entschieden gegen terro-ristische Gefahren in unserem Land vorgegangen wird.
Lassen Sie mich noch einen Satz zur gesellschaftlichenDimension dieses Themas sagen. Wir müssen uns fragen,wie viel Unterschiedlichkeit ein Land verträgt und wieviel Gemeinsamkeit es braucht, um seine innere Bin-dungskraft und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber ex-tremistischen Strömungen zu behaupten. Wir wissen bzw.müssen zur Kenntnis nehmen, dass es bei Zuwanderernaus fremden Kulturkreisen eine deutliche Tendenz zu Pa-rallelgesellschaften gibt, in denen sie sich von unsererWerte- und Gesellschaftsordnung abschotten, ja, sie sogarmassiv bekämpfen.
Darin zeigt sich, Herr Kollege Veit, auch die ganze Pro-blematik der rot-grünen Zuwanderungspolitik, die die In-tegration der bereits hier lebenden Ausländer vernachläs-sigt und die Zuwanderung trotzdem massiv ausweitenwill.
Deshalb müssen wir die neu eröffnete Zuwanderungs-debatte nicht nur unter dem Gesichtspunkt ökonomischerund sozialer Verträglichkeit von Zuwanderung nachDeutschland führen, sondern bei dieser Debatte auch demSicherheitsaspekt und der Frage des inneren Friedens inunserem Land eine zentrale Bedeutung beimessen. Im In-teresse der Sicherheit unserer Bürger müssen wir dafürSorge tragen, dass unser Zuwanderungs- und Ausländer-recht nicht auch weiterhin dazu führt, dass DeutschlandRuhe- und Aktionsraum für islamistische Terroristen ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelie Sonntag-
Wolgast von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Esgibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass der vornehm-lich islamistisch geprägte internationale Terrorismus auchunser Land bedroht. Es gibt ebenso wenig Zweifel daran,dass nicht nur die Sicherheitsdienste, sondern auch dieParlamentarier zu äußerster Wachsamkeit aufgerufensind. Es ist richtig, dass sich die Lage seit dem 11. Sep-tember 2001 nicht entspannt hat. Wir haben also keinenAnlass, das Problem zu verharmlosen, aber, meine Damenund Herren, auch keinen Anlass zu Panik und Psychose.Diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen ha-ben umfassende Maßnahmen eingeleitet, um die Gefah-ren durch Gesetze sowie durch operative und organisato-rische Vorkehrungen zu Lande, zu Wasser und in der Lufteinzudämmen. Personen, Gebäude und sensible Einrich-tungen werden stärker bewacht, Kontrollen wurdenverschärft, BGS-Beamte als Sky Marshalls geschult,mögliche Kommunikationswege des internationalen Ver-brechens unter die Lupe genommen, das Vereinsrechtwurde geändert und die Befugnisse der Sicherheitsbehör-den mit ihren Kooperationsmöglichkeiten untereinanderhaben wir erweitert. Der Haushalt des Bundesministeri-ums des Innern weist trotz der angespannten Finanzlagedeutliche Steigerungsraten auf; mein Kollege Kemper istdarauf eingegangen. All dies und vieles mehr dient derWahrung und Stärkung der Sicherheit und insbesonderedem Kampf gegen den Terrorismus.Meine Damen und Herren, wenn man sich nun den um-fangreichen Antrag der Unionsfraktion anschaut, mussman streckenweise den Eindruck gewinnen, ihre Verfasserlebten in einem anderen Staat. Offenbar wollen Sie, liebeKollegen und Kolleginnen, einfach nicht wahrhaben, wasalles geschehen ist, was weiter geschieht und was wir inder zurückliegenden Legislaturperiode gemeinsam be-schlossen haben. Sie wollen offensichtlich nicht eingeste-hen, dass diese Regierung entschlossen handelt.
Ich gebe gern zu, dass uns diese Art des Terrorismusimmer wieder vor unvorhergesehene Fragen stellt, mit de-nen wir nicht gerechnet haben. Freilich geht es zuweilenauch um Themen mit ganz anderem Hintergrund, die aberAssoziationen zu den schrecklichen Anschlägen auf dasWorld Trade Center und das Pentagon erwecken, wie wires kürzlich erlebten, als ein vermutlich geistesgestörterMann über das Frankfurter Bankenviertel flog. Abgese-hen von der Frage nach der verfassungsrechtlichen Legi-timation möglicher Bundeswehreinsätze, die ich durchArt. 35 des Grundgesetzes gedeckt sehe, sollten wir unsdarüber einig sein, dass es eine schleichende Durchmi-schung bei der Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr imInland nicht geben darf.
Kehren wir zum – leider – real existierenden Terroris-mus zurück und halten wir fest: Die beiden Gesetzes-werke, die so genannten Antiterrorpakete I und II, diewir beschlossen haben, bieten, Frau Kollegin Piltz, einbreit gefächertes Instrumentarium und sie greifen – dashaben Sie richtig dargestellt – auch in sensible Bereichedes Datenschutzes und der persönlichen Rechte ein. Siesind so umfassend, dass wir in Teilen eine Befristung be-schlossen haben. Wir werden also nach einer gewissenZeit die Tauglichkeit und die Tragfähigkeit dieser Gesetze
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überprüfen. Sie müssen jetzt ihre Wirkung entfalten, dasheißt, von den Sicherheitsorganen und ihren Mitarbeiternausgeschöpft werden. Das geschieht beispielsweise auchmit den jüngst ergangenen Verboten.Herr Kollege Koschyk, schade, dass Sie gerade telefo-nieren, aber ich muss in diesem Moment sagen: Sie kön-nen doch unseren Sicherheitskräften nicht unterstellen,dass sie möglicherweise bis zu Wahlen oder zum Weih-nachtsfest abwarteten oder nach irgendwelchen Erfolgenbzw. nach irgendwelchem Applaus schielten, wenn sie sichgenötigt fühlten, eine Festnahme im Sinne dieser Gesetzevorzunehmen. Das kann doch wohl nicht sein. Sie müsseneine solche Behauptung bzw. Vermutung zurücknehmen.Das hat nun wirklich nichts mit Wahlen zu tun.
Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie bei IhremAntrag auf der Suche nach möglichen Lücken oder Män-geln vorgegangen sind wie jemand, der sich in eine ei-gentlich gut gepflegte Grünanlage begibt und nun müh-sam nach irgendwelchen Abfallresten Ausschau hält.
Der Wortreichtum, den Sie entfalten, ersetzt freilich nichtdie gebotene Überzeugungskraft und Stringenz. Was be-zwecken Sie eigentlich mit Ihrer kampagnenartigenSchelte der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, dasangeblich – ich betone das – kriminellen Ausländern denZugang in die Bundesrepublik ebnet? Gerade das refor-mierte Einbürgerungsrecht – Herr Grindel, das wissen Sieganz genau; jedenfalls sollten Sie es wissen – fordert einklares Bekenntnis zum Grundgesetz und zum friedferti-gen Leben hier und verschließt sich denjenigen, die dieNormen unseres Rechtsstaates unterlaufen, und zwar kla-rer, als es die alten Vorschriften verlangten.
Sie ignorieren die integrationsfördernde und Frieden stif-tende Wirkung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts. Eshat doch eine ganz andere Wirkung, als Sie es darstellen.Des Weiteren fordern Sie die konsequente Abschie-bung derer, die nach abgelehntem Asylantrag unserenSchutz nicht brauchen, schärferes Vorgehen gegen solche,die ihre Ausweisung mit Tricks und Täuschungen verhin-dern, sowie ein genaueres Hinsehen, wer in unser Landkommt. All das enthält unser Entwurf eines Zuwande-rungsgesetzes, den Sie mit finsterer Entschlossenheit ab-lehnen und bekämpfen. Herr Kollege Koschyk, Sie habenIhre Kritik an den geplanten Regelungen – das wurde ebenin Ihrer Rede deutlich – mit einer pauschalen Fremden-feindlichkeit verbunden.
Wir wenden uns konsequent dagegen.
So inkonsequent, wie Sie vorgehen, so bar jeder besserenEinsicht – diese müssten Sie eigenlich haben; denn Siekennen ja die Gesetze – kann nur eine Partei handeln, diesich vergeblich bemüht, die Kompetenz in Fragen der in-neren Sicherheit zurückzugewinnen.Sie verlangen die Aufnahme biometrischer Daten inLegitimationspapiere. Ich möchte Ihnen dazu sagen– Frau Piltz hat das bereits angesprochen –: Kaum eine an-dere Regierung bemüht sich so beharrlich um einheitlicheeuropäische Regelungen wie die Bundesregierung. Einweiteres Beispiel: Die Einführung eines bundesweit ein-heitlichen Digitalfunks für die Sicherheitsbehörden und-verbände wird mit Nachdruck betrieben, muss aber tech-nisch organisiert und gemeinsam mit den Ländern undKommunen auch in ihren finanziellen Auswirkungen be-wältigt werden. Es sollte Ihrer Aufmerksamkeit ebensowenig entgangen sein, dass seit Jahresbeginn – KollegeKemper ist schon kurz darauf eingegangen – die Koffer inden Verkehrsflughäfen vollständig und mit modernentechnischen Methoden kontrolliert werden. Auch das istein wichtiger Schritt zur Vorbeugung krimineller Über-griffe auf Flugzeuge.Der Kampf gegen den Terrorismus ist nun wahrhaftigeine langwierige Aufgabe. Sie fordert Fantasie und denWillen zur Verbesserung; das ist ganz klar. Er lebt auchvom reibungslosen Zusammenspiel der Sicherheitskräfte.Er verlangt engste Kooperation und Kommunikation.Doch die strikte Aufgabenteilung zwischen den Dienstenund bei der Gefahrenabwehr hat sich im Wesentlichen be-währt. Die Menschen haben Anspruch auf bestmöglichenSchutz und Vorsorge, aber auch auf ein Vorgehen unse-rerseits mit Augenmaß, mit Besonnenheit und mit Sach-lichkeit. Verstörte, verschreckte und unsichere Menschenhandeln unkontrolliert. Sie büßen das ein, was wir ihnenin unserem Rechtsstaat nun wirklich garantieren wollen:die Freiheit von Angst. Deswegen gilt: Nachhilfestundenin Wachsamkeit gegenüber dem Terrorismus haben wirnun wahrhaftig nicht nötig.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn esum Gesetzesvorhaben geht, die zur Bekämpfung des Ter-rorismus erforderlich sind, wird die FDP-Fraktion ihreZustimmung sicherlich nicht verweigern. Maßnahmen,die zur Verbesserung der inneren Sicherheit wirklich ge-boten sind, werden von uns natürlich mitgetragen. Daswar in der Vergangenheit auch nie anders.Beim Sicherheitspaket Schily II waren wir allerdingskritisch. Bis heute ist die Effizienz der damals beschlos-senen Maßnahmen nicht hinreichend belegt.
Meine Damen und Herren, Sie alle haben hoffentlichein gutes Gedächtnis. Das Verfahren bei Schily IIDr. Cornelie Sonntag-Wolgast
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Rainer Funkekonnte auf keinen Fall rechtsstaatlichen Gesichtspunk-ten genügen.Bevor man überhaupt über weitere Verschärfungennachdenken darf, müssen zunächst einmal die Auswir-kungen der Sicherheitspakete I und II auf die Arbeit derSicherheitsbehörden richtig untersucht werden.
Vor der Ausweitung der Befugnisse von Sicherheits-behörden im Bereich der Terrorismusbekämpfung mussauch eine wissenschaftliche Bewertung der bestehendenKompetenzen und deren Auswirkungen auf die Grund-rechte erfolgen. Hierzu – jetzt ist der Bundesinnenminis-ter leider nicht hier –
wäre ein Bericht der Bundesregierung sicherlich wün-schenswert. Der Bundestag sollte einen solchen Berichtauch einfordern.
Jeder, der neue gesetzliche Maßnahmen fordert, ist auchin der Pflicht, deren Notwendigkeit zu beweisen.Ein Staat, der die Freiheit seiner Bürger wirkungsvollschützen will, braucht leistungsfähige Instrumente imKampf gegen Terroristen, die sich mit ihren Aktivitäten jaimmer auch gegen die freiheitlich-demokratische Grund-ordnung richten. Primat dabei hat aber immer die opti-male Ausnutzung der bereits vorhandenen Möglichkeitenund Mittel. Wir brauchen eine personell und technisch op-timale Ausstattung von Polizei, Justiz und Nachrichten-diensten. Die Instrumente dürfen nicht aufgrund von finan-ziellen Erwägungen in ihrer Wirksamkeit eingeschränktwerden, wie dies unter dem Diktat der leeren Kassen ja lei-der allzu häufig passiert. Bezüglich der besseren Koordi-nierung der Polizeiarbeit besteht weiterhin Handlungsbe-darf. In diesem Bereich müssen Doppelzuständigkeitenvermieden und die Effizienz gesteigert werden, sowohlauf nationaler Ebene als auch bei der Zusammenarbeit mitunseren europäischen Partnern; darauf hat meine Kolle-gin Frau Piltz schon hingewiesen.Wo es darum geht, bestehende Instrumente polizeili-chen Vorgehens rechtsstaatlich auszugestalten, werden wiruns einer konstruktiven Diskussion nicht verschließen.Die Rasterfahndung beispielsweise kann als Mittel derTerrorismusbekämpfung durchaus erforderlich sein. Aberohne richterliche Anordnung und ohne die Möglichkeitnachträglicher gerichtlicher Kontrolle wird sie den An-forderungen eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens nichtgerecht.
Auch bei dem Einsatz verdeckter Ermittler besteht weite-rer Handlungsbedarf.Wir haben in Deutschland in erster Linie ein Vollzugs-defizit. Dies gilt nicht nur für die Polizei und die Ermitt-lungsbehörden, sondern auch hinsichtlich der Zügigkeitvon Verhandlungen und Ermittlungen. Natürlich soll un-ter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gegen Terrorismusermittelt werden. Es gibt jedoch ein altes deutschesSprichwort, das heißt: Wer schnell gibt, gibt doppelt. Dasgilt natürlich auch für unser Justizwesen. Das Vertrauen inunseren Rechtsstaat wird beim Bürger nicht dadurch ge-stärkt, dass sich die Ermittlungen über Monate, manchmalüber Jahre erstrecken und sich die Gerichtsverfahrenebenfalls über Monate und Jahre hinziehen.Wir müssen die Justiz auch personell so ausstatten,dass zur Bekämpfung des Terrorismus ausreichendStaatsanwälte und Richter vorhanden sind. Dies darf abernicht in der Weise geschehen, dass man wieder irgend-welche Löcher dadurch stopft, dass man zum BeispielRichter in Terrorismusbekämpfungsabteilungen versetztund dadurch die Abteilungen, in denen sie bisher tätig wa-ren, schwächt. Vielmehr sollte man zusätzliche Mittel zurBekämpfung des Terrorismus bereitstellen. Die innereund äußere Sicherheit sind Kernaufgaben des Staates. Dakann und darf nicht gespart werden.Die hier von der CDU/CSU vorgeschlagenen Regelun-gen sind zum großen Teil bereits Gegenstand der Bera-tungen über das Sicherheitspaket II im Jahre 2001 gewe-sen. Bei einer Expertenanhörung im Innenausschuss imJahre 2001, Herr Bosbach, sind Ihre Vorschläge von fastallen Experten verworfen worden.Bei jeglichem Vorgehen gegen terroristische Aktivitä-ten steht für uns eine grundrechtsorientierte Politik imMittelpunkt. Das bedeutet, dass jedes staatliche Handelnrechtsstaatlichen Anforderungen genügen muss. Eingrundrechtssensibles Tun der Sicherheitsbehörden bedarfdabei grundsätzlich der vorherigen richterlichen Geneh-migung. Für den Betroffenen muss eine nachträgliche ge-richtliche Kontrolle möglich sein. Das setzt eine Mittei-lung an ihn voraus.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin SilkeStokar von Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die span-nendste Frage im bisherigen Verlauf dieser Debatte lautet:Wo steht eigentlich die FDP? Viele FDP-Abgeordnetesind ja nicht mehr anwesend. Der erste Redebeitrag hatmir natürlich sehr gefallen. Herzlichen Glückwunsch! Ichhabe schon gedacht: Das ist ja fast meine Rede.
Vielleicht sollten Sie klären, in welche Richtung die FDP-Bundestagsfraktion gehen will.
Wir können und wollen mit der Bedrohung durch deninternationalen Terrorismus nicht dauerhaft leben. Unsere
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Gesellschaft, unsere Demokratie können dies auf Dauernicht aushalten. Die Auseinandersetzung mit dem inter-nationalen Terrorismus hat für uns in der Innen- undAußenpolitik oberste Priorität. Ich setze diesen Satz be-wusst an den Anfang, weil die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion hier immer wieder versuchen, den Eindruck zuerwecken, sie seien die Einzigen, die sich darüber Gedan-ken machen, wie man für die Sicherheit der Bürgerinnenund Bürger in unserem Lande sorgen kann.Ich sage aber auch: Ich wünsche mir in dieser innen-politischen Debatte genauso viel Nachdenklichkeit undVerantwortungsbewusstsein wie in der Debatte überKrieg und Frieden. Wir entscheiden über die Anwendungstaatlicher Gewalt, über den Bestand von Werten undNormen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. In an-deren Debatten erheben Sie auch immer wieder die For-derung nach Anwendung staatlicher Gewalt. Der Umgangmit den höchsten Grundwerten unserer Verfassung ist mirzu leichtfertig. Ich wünsche mir hier gerade von denVolksparteien CDU und CSU etwas mehr Verfassungspa-triotismus.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,Sie versuchen mit Ihrem Antrag den Eindruck zu erwecken,man könne mit immer neuen Gesetzesverschärfungen denTerrorismus ausrotten. Diese Suche nach Sicherheit imRecht hat längst die Grenzen effektiver Wirksamkeitüberschritten.
Sie überfordert unsere Verfassung und gefährdet dieWerte, die Sie vorgeben verteidigen zu wollen.Meine Damen und Herren, es ist in den vergangenenTagen im Zusammenhang mit dem Frankfurter Luftzwi-schenfall viel über formale Zuständigkeiten und über Be-fehlsketten diskutiert worden. Zu wenig wurde mir überpolitische und persönliche Verantwortung in Grenzsitua-tionen diskutiert. Mir war die offensichtliche Unsicher-heit unseres Verteidigungsministers Peter Struck in dieserGrenzsituation sympathisch. Die Frage, ob ein Flugzeugüber Deutschland abgeschossen werden darf oder nicht,kann nicht durch eine Grundgesetzänderung beantwor-tet werden.
In so einer Lage muss abgewägt werden, wie viele un-schuldige Menschen geopfert werden dürfen, um viel-leicht eine noch höhere Anzahl von Opfern zu verhindern;diese Güterabwägung wirft für mich erst einmal ethischeund moralische Fragen auf, die sich nicht durch eine for-male Rechtsdiskussion beantworten lassen.
Eine Debatte nach dem Motto: „Schaff mir die Rechts-grundlage, dann mache ich alles!“, ist für mich typischdeutsch. Die legitimen Mittel eines demokratischenRechtsstaates sind begrenzt. Dies muss man gerade denMitgliedern der CDU/CSU-Fraktion immer wieder sagen.Es war Gerhard Schröder – ich meine jetzt nicht unserenhochgeschätzten Bundeskanzler, sondern den damaligenCDU-Innenminister –, der 1958 den ersten Entwurf zumEinsatz der Armee im Innern vorlegte. Danach war derCDU völlig willkürlich jeder Anlass recht – seien es diegroßen Streiks, die RAF oder sogar der angeblich fürDeutschland gefährliche Zustrom von Bürgerkriegs-flüchtlingen –, um aus ihren Reihen den Einsatz derBun-deswehr im Innern zu fordern.
– Nein, das ist kein dummes Zeug. Ich habe diese Debatteverfolgt. Schon damals, in der Auseinandersetzung umdie Notstandsgesetze, war das Kernpunkt Ihrer Politik.Ihre Innenminister sagten: Wir wollen den Einsatz derBundeswehr im Innern.Diese Grundgesetzbestimmung, die Trennung von Po-lizei und Militär, ist aus guten historischen Gründen eineGrundlage unserer Verfassung.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage desKollegen Bosbach?
Herr Präsident, ich erlaube keine Zwischenfrage, daich nur sieben Minuten Redezeit habe.
Meine Damen und Herren, Sie sprechen in Ihrem An-trag von einer neuen Sicherheitsarchitektur. Aber auf diewirklichen Herausforderungen, die neu sind, gehen Siemit keinem Satz ein. Sie bringen wirklich nicht einen ein-zigen neuen Aspekt in die Debatte ein. In der Frage derEinreise von Terroristen gehen Sie immer noch davon aus,als ob Deutschland komplett von eigenen Außengrenzenumgeben wäre. Wir leben in einem europäischen Rechts-raum und haben europäische Außengrenzen. Es ist völ-lig absurd, zu glauben, dass man mit dem Schließen dervielen von Ihnen entdeckten – angeblichen – Gesetzes-lücken die europäischen Grenzen dicht machen könnte.Dies ist eine absurde Vorstellung.Wir in Deutschland müssen Konzepte – ich sehe, dassdie rot-grüne Bundesregierung diese Aufgabe angepackthat – für diesen neuen europäischen Raum entwickeln.Das heißt, wir müssen uns ganz konkret Gedanken da-rüber machen, wie eine europäische Grenzpolizei konzi-piert sein könnte und welche weiteren Veränderungen indiesem Zusammenhang auf den Bundesgrenzschutz zu-kommen. Über diese Dinge würde ich mit Ihnen ganzgerne streiten.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sieschränken die Debatte unzulässig ein, wenn Sie glauben,dass in einer permanenten Erweiterung der Eingriffsbe-fugnisse der Weg zu mehr Sicherheit bestehe. Wir sindSilke Stokar von Neuforn
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Silke Stokar von Neufornlängst an einem Punkt, wo wir eine Strukturdebatte überden Aufbau von Sicherheitsbehörden in Deutschland undeine Debatte über Qualitäts- und Effektivitätsverbesse-rungen bei diesen brauchen. Es geht nicht mehr um eineErweiterung von Eingriffsbefugnissen.Aber lassen Sie mich auch dies zum Schluss sagen,meine Damen und Herren: Wir können Demokratie nichtallein in Europa durchsetzen. Vielmehr müssen wir einenBeitrag dazu leisten, dass unsere Werte wie Menschen-rechte, Demokratie und Rechtsstaat global und weltweitGültigkeit bekommen. Wir dürfen diese Grundwerte nichtin unserem eigenen Land zerstören, sondern müssen ih-nen weltweit Geltung verschaffen.Ich denke – mein letzter Satz, Herr Präsident –, derbeste Beitrag, den Deutschland zu mehr Sicherheit leistenkann, ist die Unterstützung von friedlichen Lösungen imIrakkonflikt.
Hier wünsche ich mir die Geschlossenheit aller Fraktio-nen im Bundestag.Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kol-
legen Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion.
Ich mache diese Kurzintervention nur, weil die Kolle-
gin – was ihr Recht ist – keine Zwischenfrage zugelassen
hat.
Sie haben in Ihrer Rede behauptet, Repräsentanten der
Union hätten in der Vergangenheit den Einsatz der Bun-
deswehr im Innern gefordert, um unter anderem den Zu-
strom von Bürgerkriegsflüchtlingen verhindern zu kön-
nen. Das ist nicht nur frei erfunden und glatt erlogen,
sondern diese Behauptung ist auch infam.
Ich fordere Sie auf, Frau Kollegin, in Ihrer Replik entwe-
der sofort den Beweis für diese Behauptung anzutreten
und zu sagen, wer wann wo was gefordert hat, oder sich
von dieser Behauptung zu distanzieren. Ich meine, da
wäre auch ein Ausdruck des Bedauerns angebracht.
Bei allem, was wir hier kontrovers austragen, sind zwei
Dinge immer wichtig: Erstens müssen Tatsachenbehaup-
tungen, die aufgestellt werden, stimmen.
Zweitens sollte man sich, wenn man den politischen Geg-
ner attackiert, zumindest darum bemühen, oberhalb der
Gürtellinie zu bleiben.
Frau Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben das
Recht zur Erwiderung.
Herr Kollege Bosbach, ich muss Sie sehr enttäuschen:
Ich bin nicht bereit, die Äußerung, die Sie im Protokoll
nachlesen können, zurückzunehmen. Ich habe in meiner
Rede gesagt, dass aus den Reihen der CDU/CSU-Innen-
politiker der Einsatz der Bundeswehr im Innern gefordert
wurde, auch im Zusammenhang mit der Debatte um den
Zuzug von Bürgerkriegsflüchtlingen.
– Herr Kollege Bosbach, Sie haben keinen Anspruch auf
einen Sofortbeweis.
Ich werde Ihnen das gerne aus dem Internet holen. Ich habe
gestern Abend dazu eine umfangreiche Recherche durch-
geführt und bin gerne bereit, Ihnen das Material zu geben.
Aber stellen Sie sich nicht hier hin und machen solche
Äußerungen. Gehen Sie selbst einmal ins Internet und ge-
ben Sie in eine Suchmaschine – falls Sie damit umgehen
können – die Wörter „CDU“, „Einsatz der Bundeswehr
im Innern“ und „Notstandsgesetze“ ein und schauen Sie,
was seit 1958 vonseiten der CDU/CSU zu diesem Thema
gesagt wurde.
Sie werden überrascht sein, was Sie dort alles finden.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Herrmann vonder CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 1483
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat der KollegeHerrmann das Wort.Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Welt hat sich nach den Anschlägenin den USA drastisch verändert. Die gestiegene Bedro-hung der Bevölkerung durch extremistische und terroris-tische Aktionen hat alle Sicherheitsbehörden auf den Plangerufen. Eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungenwurde bereits verabschiedet und hat dazu beigetragen,dass erste Fahndungserfolge erzielt werden konnten.Für mich steht jedoch außer Frage, dass wir noch nichtausreichend auf die Bekämpfung bereits heute bestehen-der, aber auch künftiger Gefahren vorbereitet sind. Dervon der CDU/CSU eingebrachte Antrag zur Bekämpfungvon Terrorismus und Extremismus leistet hier einen wich-tigen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgabe. KollegeKemper und Kollegin Piltz, Sie haben über innere Sicher-heit gesprochen. Aber wir, die CDU/CSU, sorgen dafür,dass die rechtlichen Möglichkeiten dafür geschaffenwerden.
Zielorientiert, praxisnah und konsequent zeigt unserAntrag auf, wie die globale Gefahr von Extremismus undTerrorismus bekämpft werden kann. Insbesondere die Zu-sammenarbeit der verschiedenen Behörden wird ange-sprochen und gestärkt. Denn eines ist uns in den zurück-liegenden Monaten sicherlich klar geworden: Innere undäußere Sicherheit lassen sich nicht mehr voneinander ge-trennt betrachten. Die Handlungsfelder Inneres undÄußeres sowie Verteidigung müssen jetzt und heute sinn-voll miteinander vernetzt werden.
Wir sind gefordert, eine neue Sicherheitsarchitekturfür Deutschland im internationalen Kontext zu entwerfen.Dabei kommt es darauf an, den größtmöglichen Schutzunserer Bevölkerung zu gewährleisten und gleichzeitigallen staatlichen Organen entsprechende rechtliche In-strumente an die Hand zu geben. Ich begrüße es daherausdrücklich, dass mit den von uns eingebrachten Vor-schlägen praxisnahe Lösungen ermöglicht werden. HerrKollege Bosbach hat dies in seiner Rede anschaulich dar-gestellt. Diese Vorschläge ermöglichen operative Maß-nahmen, die sich am Erforderlichen orientieren. Die Wie-dereinführung der Kronzeugenregelung in diesemZusammenhang ist zwingend erforderlich.
– Sie brauchen gar nicht darüber zu schimpfen. Sie soll-ten sich lieber einmal die Praxis anschauen. Der Einsatzverdeckter Ermittler im terroristischen Bereich – das sageich hier ganz deutlich – bringt keinerlei Erfolg.
– Der verdeckte Ermittler im Bereich der Kriminalitäts-bekämpfung kann effektiv eingesetzt werden, HerrStröbele. Aber der Einsatz des verdeckten Ermittlers imterroristischen Bereich ist nicht effektiv. Es wäre das-selbe, als wenn man versuchen würde, Sie unserer Frak-tion unterzuschieben. Das würde sofort auffallen.
– Dem stimme ich zu. Außerdem würde es keinen Erfolgzeigen.Sicherlich ist es auch erforderlich, dass biometrischeDaten in Ausweispapieren verwendet werden. Außerdemist der verstärkte Austausch von Erkenntnissen zwischenden Diensten sehr wichtig, damit es keine Reibungsverlus-te gibt. Falsch verstandener Liberalismus und inkonse-quentes Vorgehen gegen Extremisten und Terroristen wer-den dazu beitragen, dass sich die so genannten Schläferauch weiterhin in Deutschland heimisch fühlen. Verbre-cher wie Atta müssen aufgespürt, von unseren Polizeikräf-ten verfolgt und durch die zuständigen Behörden ausge-wiesen werden. In der Bevölkerung herrscht mittlerweileder Eindruck vor, dass erst etwas Gravierendes passierenmuss, damit der Staat entschieden gegen Rechtsbrechervorgehen kann bzw. dazu in die Lage versetzt wird.Gestern, Herr Innenminister, wurde die bundesweitoperierende Vereinigung „Hizb ut-Tahrir el Islami“ ver-boten. Das ist der richtige Weg. Aber damit ist nur ein Teilder Arbeit getan. Bei begründetem Terrorismusverdachtsollten die Täter sofort ausgewiesen werden. Das wärekonsequent.
Ansonsten bildet sich im Anschluss an das Verbot eineneue Gruppierung, die unter einem anderen Namen auf-tritt. Herr Ströbele, es ist aus der polizeilichen Praxis be-kannt, dass sich Organisationen, die verboten werden, aufanderen Feldern betätigen. Das Ausweisungsgebot auchfür einen Großteil der rund 60 000 in Deutschland leben-den Personen, die als Mitglieder extremistischer Organi-sationen bekannt sind, wäre letztendlich folgerichtig.Die Ereignisse in Frankfurt, als ein geistig verwirrterMann die Metropole in Angst und Schrecken versetzte,haben gezeigt, wie dringend erforderlich die enge Zu-sammenarbeit der verschiedenen staatlichen Institutionenist. Die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr imInland wird uns noch beschäftigen müssen, nicht nur auseinsatztaktischer, sondern auch aus verfassungsrecht-licher Sicht. Es freut mich daher besonders, dass sich derVerteidigungsminister in der Frage einer Grundgesetzän-derung bezüglich eines Einsatzes der Bundeswehr im In-land der CDU/CSU-Position deutlich genähert hat.Ziel der sich nun anschließenden Diskussion muss eineklare gesetzliche Regelung sein, die den Verantwortlichenuneingeschränkte Planentscheidungen ermöglicht. Es darfkeinen Kompetenzstreit oder keine zeitlichen Verzöge-rungen bei der Lagebewältigung geben. Wir dürfen Poli-zeiführer oder Kommandeure von Bundeswehreinheitenbei ihren weitreichenden Entscheidungen nicht im RegenVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Jürgen Herrmannstehen lassen. Die Politik muss sich daher als zuverläs-siger Partner an ihrer Seite befinden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits bei der Terro-rismusbekämpfung in den vergangenen Jahrzehnten – icherinnere hier insbesondere an die Zerschlagung der RAF –war Deutschland immer bemüht, konsequent und mit allerHärte gegen die Urheber der Gewalt vorzugehen. Auch inder heutigen Zeit ist dies der einzig gangbare Weg. NullToleranz gegen all diejenigen, die terroristische Aktivitä-ten unterstützen, die Menschen als „weiche Ziele“ für ihreAnschläge auswählen oder extremistisches Gedankengutverbreiten.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen und Herren, wir sind es den Bürgern un-
seres Landes schuldig, rechtzeitig und umfassend gegen
die Geißel des Terrorismus und Extremismus vorzugehen.
Die CDU/CSU-Fraktion leistet ihren Beitrag dazu.
Herr Kollege Herrmann, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Redenhaben gezeigt, dass wir uns darin einig sind, dass wir dieBedrohung der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftdurch Terrorismus, egal von welcher Seite er kommt, sehrernst nehmen und dass wir dafür alle Mittel, die unserRechtssystem bietet, auch ausschöpfen müssen. In derAnwendung und in der Auslegung gehen dann die Mei-nungen etwas auseinander.Ich möchte mir die Mühe machen, zu dem, was Sie inIhrem Antrag vorschlagen, en détail etwas zu sagen. Manhat ja ein bisschen den Eindruck, als gäbe es all das, wasSie vorschlagen, überhaupt nicht. Wir, die rot-grüne Bun-desregierung und die sie tragenden Fraktionen, haben beider Terrorbekämpfung in Europa zum Teil sogar eine Vor-reiterrolle übernommen. Das wird in Ihrem Antrag über-haupt nicht berücksichtigt, muss aber einmal deutlich ge-sagt werden.Einen Punkt vermisse ich in Ihrem Antrag völlig. Eswird gar nicht wahrgenommen, dass Deutschland als ers-ter Staat in der Europäischen Union ein Gesetz zur kon-sequenten Bekämpfung von Geldwäsche und zur Auf-deckung von Finanzflüssen terroristischer Organisationenin Kraft gesetzt hat. Damit haben wir einen Sumpftrockengelegt, der die Grundlage für Terrorismus ist. Ichkann mich noch an den Tanz in diesem Haus erinnern, bisSie sich dazu durchringen konnten, diesem Geldwäsche-bekämpfungsgesetz zuzustimmen. Das war ein ganz lan-ger Kampf. Das Gesetz ist ein wirksames Mittel.
Es ist uns bei den Sicherheitspaketen I und II zur Ter-rorbekämpfung gelungen – das ist bereits angesprochenworden –, einige Maßnahmen auch mit Teilen der Oppo-sition zu beschließen. Ich denke, das Thema, um das eshier geht, ist schlicht zu wichtig, als dass man es fürdurchsichtige Wahlkampfmanöver missbrauchen sollte.
Wesentliche Teile Ihres Antrages, vor allem die zu justiz-politischen Themen, zu denen ich Stellung nehmenmöchte, beinhalten aber genau das.Die rechtspolitischen Elemente Ihres Antrages enthal-ten – das muss man wirklich deutlich sagen – ein Sam-melsurium von unnötigen und überflüssigen Regelun-gen.
So ist zum Beispiel der Vorschlag für eine Terrorismus-verdachtslösung nicht nur von der rechtlichen Seite herhöchst fragwürdig, sondern im Kern auch völlig unnötig.Selbst wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen,ist nach § 8 des Ausländergesetzes die Aufenthaltsgeneh-migung zu versagen, falls der Antragsteller – es ist schonausgeführt worden – die freiheitliche Grundordnung oderdie Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.Gleiches gilt, wenn sich die Person an politisch motivier-ten Gewalttätigkeiten beteiligt oder dazu aufruft oder ent-sprechende Vereinigungen unterstützt. Hier gilt der alteSpruch, dass ein Blick ins Gesetz die Rechtskenntnis ver-tieft.
Genauso unnötig ist das Wiederaufwärmen der Regel-anfrage beim Verfassungsschutz. Auch dazu ist hier eini-ges gesagt worden. Aus der Praxis nur noch einmal derHinweis: In der Regel wissen die Ausländerbehördendurchaus mehr als das, was sie bei den Diensten in Erfah-rung bringen können. Von daher ist das, was im Gesetzsteht, nicht immer zielführend.Nun zu einigen konkreten Punkten. Sie wissen genau,dass über die Aufnahme so genannter biometrischerMerkmale zur Identitätssicherung, wie Sie sie fordern,längst im internationalen Rahmen – das ist die Ebene, aufder darüber gesprochen werden muss – diskutiert wird.Antragsteller eines Visums aus Staaten wie zum Beispieldem Sudan oder Jemen müssen schon heute – das istlängst der Fall – bei den deutschen Konsularbehörden ei-nen Fingerabdruck abgeben. Auch in diesem Bereich ha-ben Sie also das Rad nicht neu erfunden. Das ist nur einBeispiel für die alten Hüte, die Sie, passend zum Wahl-kampf, aus der Mottenkiste holen.Folgendes an Ihrem Antrag ruft wirklich Kopfschüt-teln hervor: Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken,als würde auf Bundesebene nicht alles dafür getan, Si-
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cherheitslücken aufzuspüren und diese dann auch zuschließen.
Das möchte ich an zwei Punkten deutlich machen.Sie sind sich nicht zu schade, einen Zusammenhangherzustellen, aus dem man folgern könnte, das neue Staats-bürgerschaftsrecht begünstige die Einbürgerung vonTerroristen.
Ich will das belegen. Schauen Sie sich einmal Ihren An-trag an! Da finden Sie die Überschrift „Kein deutscherPass für Extremisten und Terroristen“.
Völlig d’accord im ganzen Hause; darüber brauchen wirnicht zu sprechen. Aber etwas unterhalb dieser Über-schrift versuchen Sie, den Eindruck zu erwecken, als obRot-Grün genau diese Politik unterstützen würde. Dasteht nämlich, „eine leichtfertige Einbürgerungspolitik“– genau das machen wir nicht; es wird geprüft, bevor ein-gebürgert wird – sei ein Schritt in die falsche Richtung.Dann listen Sie auf, dass es durch die Neuregelung desStaatsangehörigkeitsrechts zu einer Zunahme der Zahl derEinbürgerungen gekommen ist.
Das ist ganz geschickt, was ich aber eigentlich gar nichtsagen möchte. Diesen Satz verquicken Sie mit der Über-schrift. Die Überschrift und das, was folgt, müssen Sie imKontext sehen. Das Verwerfliche an diesem Antrag ist,dass Sie so agieren.
Ähnlich unkonkret und ohne Zusammenhang ist IhreForderung nach einer zwingenden Angabe der Religions-zugehörigkeit. Hier findet man das gleiche Muster, wieich es soeben beschrieben habe. Die Überschrift lautet:„Extremisten und Terroristen sicher und frühzeitig identi-fizieren“. Völlig d’accord hier im Hause. Eine weitereÜberschrift lautet: „Sicherheitslücken schließen“. Eben-falls völlig d’accord in Bezug darauf, wo Sicherheits-lücken bestehen. Jetzt fordern Sie aber, um diese angeb-lichen Sicherheitslücken zu schließen, eine lückenloseErfassung der Religionszugehörigkeit. Das steht in demText unter diesen Überschriften. Das ist die von Ihnen so-eben genannte „praxisnahe und zielorientierte Ausle-gung“, um das Schließen der Sicherheitslücken zu errei-chen. Die Folge soll sein – auch das zitiere ich wörtlichaus Ihrem Antrag –, dass „auf diese Weise ... das Risikobei der Einreise wesentlich besser abgeschätzt werden“könne.Jetzt stellen Sie sich das einmal vor: Sie fordern zwin-gend die Angabe der Religionszugehörigkeit, um so dasRisiko bei einer Einreise besser abschätzen zu können.Was soll denn da das Risiko sein? Ist es ein Risiko, dassjemand irgendein Glaubensbekenntnis abgegeben hat?Besteht dadurch ein Verdacht? Haben Sie sich das gutüberlegt? Was haben Sie hier gemacht? Sie haben die Re-ligionszugehörigkeit als Anknüpfungspunkt für Sicher-heitsrisiken genannt. Haben Sie dieses Recht? Aus wel-chem anderen Grund haben Sie die Forderung erhoben,die Angehörigen einer Religion im Zusammenhang mitSicherheitsrisiken zu nennen? Was ist mit denjenigen, diekein Glaubensbekenntnis abgeben? Sind die per se keinSicherheitsrisiko? Schützt die Angabe der Religions-zugehörigkeit vor irgendwelchen Risiken? Ich glaube, Siesind zu kurz gesprungen und haben Ihren Vorschlag nichtzu Ende gedacht. Deswegen sollten Sie noch einmal inKlausur gehen.
Genauso unterstellen Sie, dass das Zuwanderungs-gesetz, das wir verabschiedet haben, eine Verschlechte-rung der Sicherheitssituation in Deutschland bewirkenwürde.
Wann legen Sie endlich Ihre Scheuklappen ab? Lesen Siedas Zuwanderungsgesetz zumindest einmal durch! Denndann würden Sie feststellen, dass es eine Reihe von Re-gelungen enthält, die es den zuständigen Behörden erst-mals ermöglicht, zu kontrollieren, wer in unser Landkommt und was er hier will. Das ist in diesem Zuwande-rungsgesetz geregelt. Sie aber blockieren es mit IhrerBundesratsmehrheit. Wenn Sie wirklich etwas für die in-nere Sicherheit tun wollen, dann stimmen Sie endlich demZuwanderungsgesetz zu! Denn da ist das geregelt, was Sieangeblich wollen.
Ihr Antrag – man muss es sagen – ist relativ geschicktaufgebaut. Ich habe es deutlich gemacht: Es wird vielWahres und Unwahres miteinander vermischt. Er strotztaber vor Ideologie. Das wurde auch in einigen Re-debeiträgen deutlich. Es werden Zusammenhänge in denRaum gestellt, für die die Beweisführung nicht gelingt.Da, wo es konkret wird, versagen Sie.Meine Damen und Herren, verschonen Sie uns in Zu-kunft mit solchen Schaufensteranträgen kurz vor Wahl-terminen.
Handeln Sie lieber, wo es nötig ist.Ein Punkt, der zur Wahrheit gehört, muss hier auch ein-mal angesprochen werden: Absolute Sicherheit, wie Siesie mit solchen Anträgen suggerieren, kann es nicht ge-ben,
schon gar nicht in einer offenen Gesellschaft wie der un-seren, zu der wir uns alle bekennen. Denken Sie an denMann, der vor ein paar Tagen nicht nur Frankfurt, nichtnur Hessen in Atem gehalten hat, sondern die ganze Re-publik. Der Mann war Deutscher, er hatte keine doppelteChristine Lambrecht
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Christine LambrechtStaatsangehörigkeit und hat vorher wahrscheinlich auchnicht seine Religionszugehörigkeit angegeben. Dies zeigt,dass es Sicherheitsrisiken gibt, die nicht ausgeschlossenwerden können.
Es geht nicht darum, den Menschen vermeintliche Si-cherheit zu suggerieren, sondern darum, Strukturen zuschaffen, die dann, wenn es zu einem solchen Fall kommt,funktionieren. Sie haben im Zusammenspiel von Landund Bund funktioniert. Das ist richtig so.
– Ich habe ja keine Scheuklappen auf, Herr von Klaeden.
Diese Zusammenarbeit hat über Jahre und Jahrzehntehinweg funktioniert; es wird sie auch in Zukunft geben.Es wird keinen Landesminister geben – egal, welcher Par-tei er angehört –, der sich über Kompetenzen im Hinblickauf so bedeutende Fragen der inneren Sicherheit streitet,wie sie sich an diesem Tag stellten.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokratinnenund Sozialdemokraten wollen Sicherheit für alle sowieRecht und Gerechtigkeit für den Einzelnen. Wir wissenaber auch – das muss man ganz deutlich sagen –, dass der-jenige, der sich nur auf die Sicherheit konzentriert, amEnde beides verliert, Freiheit und Sicherheit. Das sindGrundlagen unserer Rechtspolitik. Darin werden wir unsnicht beirren lassen, schon gar nicht von solchen Anträ-gen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! DerTerrorismus ist eine Herausforderung an den Rechtsstaat.Terrorismus bedroht nicht nur einzelne Menschen, nichtnur einzelne Rechtsgüter; vielmehr ist Terrorismus eineAggression gegen unsere Zivilisation, gegen ihre Werteund gegen unsere Art zu leben. Das ist die Dimension desAngriffs.
Daher ist es die Aufgabe des Staates und seine Pflicht, dieBevölkerung so gut wie möglich zu schützen; keinMensch suggeriert doch absoluten Schutz.In einem Rechtsstaat liegt das Besondere und die He-rausforderung dieser Aufgabe darin, dass wir in der Artund Weise der Bekämpfung des Terrorismus das verteidi-gen, was die Terroristen angreifen, nämlich die Freiheitdes Einzelnen und die Freiheitlichkeit der Gesellschaft.Nicht auf Kosten der Freiheit, sondern um der Freiheitwillen bekämpfen wir den Terrorismus. Das ist der in-haltliche Maßstab unseres Antrags.
– Ich komme gleich zu den ganz konkreten Punkten.Ein erstes Verdienst unseres Antrages liegt in der Wahldes Zeitpunktes,
der keinen Zusammenhang mit einem aktuellen terroris-tischen Anschlag hat. Das hat zwei Vorteile.Erstens können wir diese schwierigen Abwägungsfra-gen, die sich in einem Rechtsstaat im Hinblick auf dieBekämpfung des Terrorismus stellen, am besten dann be-antworten, wenn wir nicht durch Emotionalität undEmpörung aufgrund eines terroristischen Anschlags be-lastet sind. Es ist ein Verdienst, dass wir außerhalb einersolchen Aktualität diskutieren.Zweitens ist Terrorismusbekämpfung eine Dauerauf-gabe. Wahrscheinlich – so ist zu befürchten – werden wiruns auf Jahre mit diesem Thema beschäftigen müssen.Darum reicht es nicht aus, dass wir reaktiv-ereignishafthandeln; darum reicht es nicht aus, dass Politiker und Re-gierungen immer erst am Tag nach dem Anschlag, aberdann in Form eines Zehn-Punkte-Programms ganz genauwissen, was zu tun ist. Wir brauchen eine Strategie undplanmäßiges Handeln. Wir geben eine Anleitung für eineStrategie in der Auseinandersetzung mit Terrorismus;nicht ereignishaft-reaktiv, sondern strategisch müssen wirvorgehen.
Nun komme ich zu vier Punkten, die im Bundesjus-tizministerium ressortieren, denn innere Sicherheit istauch eine Aufgabe der Rechtspolitik. Das glaubt manfast gar nicht mehr, wenn man das Handeln der Regie-rung auf diesem Gebiet sieht. Die innere Sicherheit istals Aufgabe und Thema der Rechtspolitik seit Jahren va-kant und wird nicht wahrgenommen. Auch heute findenwir leider wieder Gelegenheit, dies nachweisen zu kön-nen.Ich nenne vier konkrete Punkte der Notwendigkeit ab-gewogenen rechtsstaatlichen Handelns. Ich wiederholeden Vorschlag der unbedingten Notwendigkeit, Sympa-thie- und Unterstützungswerbung für terroristischeVereinigungen wieder als Straftatbestand einzuführen.Sie haben das geändert.
Ich habe im Bericht des Rechtsausschusses die Bera-tungen zur Abschaffung der Strafbarkeit nachgelesen. DerRechtsausschuss hat mit Ihren Stimmen festgestellt, wiedie Rechtslage vor der Abschaffung der Strafbarkeit war.Ich zitiere:
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Im Blick auf das Grundrecht aus Artikel 5 Abs. 1 GGstellen die Gerichte hohe Anforderungen an die An-nahme strafbarer Sympathie- oder Unterstützungs-werbung; nur Äußerungen mit werbend auffor-dernder Tendenz, die eindeutig auf die Stärkung oderauf die Unterstützung einer bestimmten Vereinigungangelegt sind, sollen danach in den Bereich des Straf-baren fallen.Es gab also immer hohe Hürden, aber auch das, was überdiese Hürden hinaus in den Bereich des Strafbaren gelangtist, haben Sie abgeschafft.
Bezüglich Ihrer Intention zitiere ich weiter:Damit– mit der Abschaffung der Strafbarkeit –soll insbesondere verdeutlicht werden, dass die wer-bende Tätigkeit von sog. Solidaritätsbüros nicht vomMerkmal des Werbens erfasst wird.Ich frage Sie: Welches Interesse haben wir in Deutschlandan der Tätigkeit von Solidaritätsbüros terroristischer Ver-einigungen? Welches Interesse haben wir daran?
Es kann doch kein Zweifel daran bestehen – das ist dieAbwägung von Freiheiten –, dass das Werben fürTerroristen und terroristische Vereinigungen nicht dieWahrnehmung grundrechtlich geschützter Meinungsfrei-heit ist. Es ist doch die Bekämpfung der Freiheit des an-deren.
Es ist die Bekämpfung einer Rechtsordnung, die Grund-rechte garantiert.Die Abschaffung der Strafbarkeit terroristischer Sym-pathiewerbung ist die Legalisierung geistiger Brandstif-tung, die Sie zu verantworten haben.
Bei einem zweiten konkreten Punkt ist rechtsstaat-liches Handeln erforderlich. Wir brauchen die Auswei-tung der Untersuchungshaft, die der Vorbeugung dient.Diese gibt es schon im geltenden Recht. Es gibt die Un-tersuchungshaft, die der Durchführung und Sicherstel-lung der Hauptverhandlung dient. Wir brauchen sie aberauch mit präventivem Charakter. Hier gibt es eine Lückein der Abwehr der Gefahr, die von so genannten terroris-tischen Schläfern ausgeht.
– Nein, ich möchte eine deutsche Regelung.
– Nein, ich sage Ihnen, was wir wollen. Sie haben es hiermit den deutschen Christdemokraten und mit konkretenVorschlägen zu tun.Ich nenne Ihnen einen konkreten Fall: Es gibt eine Per-son, die der Unterstützung einer terroristischen Vereini-gung verdächtigt wird. Die Person ist dringend verdäch-tig und die Ermittlungen dauern an. Gleichzeitig bestehtdie Gefahr, dass der Unterstützer, der noch schläft, er-wacht und einen terroristischen Anschlag verübt. Wir ha-ben den dringenden Tatverdacht der Unterstützung einerterroristischen Vereinigung und gleichzeitig besteht diekonkrete Gefahr der Begehung terroristischer Taten.Dem Staat sind bis heute die Hände gebunden. Wir alsGesetzgeber binden ihm die Hände; er kann nicht ein-schreiten. Darum muss es die Untersuchungshaft auch zurAbwehr von Straftaten geben; sie darf nicht erst möglichsein, wenn Straftaten schon begangen worden sind.Wir müssen die präventive Untersuchungshaft ein-führen, denn sonst bleibt die Lücke in der Abwehr.Rechtspolitik muss auch präventiv und darf nicht nur re-pressiv arbeiten.
– Wenn Sie es bestreiten, müssen Sie den konkreten Nach-weis liefern. Es ist eine unbestrittene Rechtslage in demFall, den ich konstruiert habe.
Die beiden weiteren Vorschläge, die wir konkret ma-chen, sehen vor, dass wir das Eindringen durch verdeckteErmittler in terroristische Strukturen und das Aufbrechenterroristischer Organisationen durch Kronzeugen aufeine sichere rechtsstaatliche Grundlage stellen. Das ist ge-radezu ein Rechtsstaatsgebot.
– Dann müssen Sie auch sagen, dass Sie die Instrumentenicht wollen.
Dann müssen Sie als SPD sagen: Wir sind gegen den Ein-satz verdeckter Ermittler.
Dann müssen Sie – anders als in der Koalitionsverein-barung festgehalten – sagen: Wir sind gegen eine Kron-zeugenregelung.Sie können sich aber nicht im Rahmen Ihrer Image-werbung als Sheriff der Republik dieser Instrumente rüh-men, gleichzeitig aber die Schaffung der rechtsstaatlichenGrundlage dieser Tätigkeit verweigern. Es ist unverant-wortlich, wenn der Staat seine Beamten als verdeckteDr. Norbert Röttgen
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Dr. Norbert RöttgenErmittler einsetzt, ihnen aber die rechtliche Grundlageverwehrt.
Ihre politische Schwäche in der Koalition wird auf demRücken der verdeckten Ermittler, der Polizisten, ausge-tragen.
Verdeckte Ermittler und Kronzeugen sind keineWunschinstrumente des Rechtsstaates, es sind Kompro-missentscheidungen. Sie sind aber im Interesse derPrävention gerechtfertigt. Wir nehmen es hin, weil es umdie Abwehr schwerster Verbrechen, in ihren Dimensionenmöglicherweise nicht absehbarer Verbrechen und An-griffe auf unseren Rechtsstaat geht. Eine nüchternerechtsstaatliche Folgenabwägung stellt die Grundlage un-serer Befürwortung der Instrumente verdeckter Ermittlerund Kronzeuge dar.Ich habe hier nur vier konkrete Punkte aus dem Bereichder Rechtspolitik, der Zuständigkeit der Bundesjustizmi-nisterin, dargestellt, vier konkrete Punkte, die Ergebnisnüchterner rechtsstaatlicher Abwägung sind, die das Zielhaben, die Bevölkerung zu schützen, die freiheitswahrendsind, die Ausdruck rationaler rechtsstaatlicher Politiksind. Verweigern Sie sich nicht mit pauschaler Zurück-weisung und falschen Argumenten unserer nüchternenStrategie zur Bekämpfung der Terrorismus. Wir habeneine Strategie vorgestellt. Folgen Sie ihr, dann tun wir ge-meinsam etwas gegen den Terrorismus. Es geht um dieBedrohung unseres Landes, unseres Rechtsstaates. Ent-ziehen Sie sich unseren Vorstößen nicht aus kleinem par-teipolitischen Denken!Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Herr Minister des Innern und für
Sport des Landes Hessen, Volker Bouffier.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hättegerne zuerst Ihnen, Herr Kollege Schily, zugehört. Jetztaber haben Sie darum gebeten, zuerst mir zuzuhören. Ichhabe dann gesagt: Lasst uns nicht darüber streiten, wer dieDebatte abräumt. Entscheidend ist, dass wir in der Sachevorankommen.
– Ja, so großzügig sind wir.Ich will mich auf einen Punkt konzentrieren, der mirbesonders am Herzen liegt. Ich verhehle nicht, dass michein Teil der Debatte erstaunt hat. Es geht um die Frage:Wie organisieren wir in unserem Land die Gefahrenab-wehr so, dass wir alles tun, was wir können, was wir müs-sen, was rechtsstaatlich geboten ist, um den Bürgerinnenund Bürgern in diesem Lande den Schutz zu geben, densie brauchen?Damit bin ich bei dem Thema „Einsatz der Bundes-wehr“. Ich spreche zu Ihnen als Innenminister eines Bun-deslandes, also der staatlichen Einheit, die nach unseremVerfassungsgefüge für die Polizei der Länder zuständigist und die Gefahrenabwehr organisiert. Ich spreche auchzu Ihnen als der zuständige Innenminister, der mit demFrankfurter Flughafen den mit Abstand größten Flug-hafen mit den mit Abstand meisten Flugbewegungen aufdem Kontinent zu betreuen hat. In der Summe sind diesteilweise über 170 000 Passagiere am Tag.Ich spreche zu Ihnen als derjenige, der für eine Hoch-hauskulisse und eine in Europa einmalige Skyline inFrankfurt am Main zuständig ist. Man braucht kein Si-cherheitsexperte zu sein, um zu verstehen, dass damit be-sondere Anforderungen verknüpft sind. Ich spreche vorallen Dingen als einer zu Ihnen, den am 5. Januar 2003,also am Sonntag vor acht Tagen, ein Mann, der nicht nurdie Stadt Frankfurt am Main, sondern auch das ganzeLand in Atem gehalten hat, als er ein Flugzeug entführte,mit großem Schrecken, aber auch mit Handlungsaufgabenversehen hat.Wenn ich von besonderen Aufgaben spreche, sprecheich nicht von Theorie, sondern von praktisch Erlebtem.Ich habe das Geschehen an diesem Tag zu einem gutenTeil im Lagezentrum der Frankfurter Polizei miterlebt.Bevor ich dazu einige Bemerkungen mache, halte ich esfür angebracht, auch heute noch einmal denjenigen Res-pekt und Anerkennung auszusprechen sowie Dank zu sa-gen, die bei der Polizei, bei der Feuerwehr, bei der Bun-deswehr und bei all den anderen Organisationen, die dorteingesetzt waren, so großartige Arbeit geleistet haben.
Wir verdanken es letztlich deren Können und deren Ge-schick, dass dieses Ereignis am Schluss glücklich ausge-gangen ist.Ich stelle mir vor, wie die Debatte heute verlaufenwürde, wenn es uns nicht gelungen wäre, diesen Täter vonseinem Vorhaben abzubringen: Wie hätten wir handelnkönnen und handeln müssen? Was hätten die Flieger derBundeswehr tun können und gegebenenfalls tun dürfen?
Angenommen, an diesem Sonntag Nachmittag hätte imWaldstadion in Frankfurt am Main ein großes Spiel statt-gefunden, dann hätten sich dort viele Tausend Menschenaufgehalten und es hätte furchtbar viele Opfer geben kön-nen. Wenn denkbarerweise das Eingreifen der Bundes-wehr zu einem Verlust von wesentlich weniger Men-schenleben und zu wesentlich geringeren Schäden geführthätte – das kann ich nicht beweisen; ich bin auch kein Ex-perte –, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass wir heutevöllig anders über die Frage diskutieren würden, wann einsolcher Einsatz vernünftig und erforderlich ist. Wir hättenanders über die Frage diskutiert – das Wort Vorbeugungist mehrfach genannt worden; ich komme später daraufzurück –, wann die Bundeswehr im Rahmen eines inte-grierten Sicherheitskonzeptes auch in unserem Landselbst eingesetzt werden kann, wenn die Polizei objektivnicht helfen kann, die Bürgerinnen und Bürger aber von
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Metadaten/Kopzeile:
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uns meines Erachtens völlig zu Recht erwarten, dass wiralles tun, was wir können und was rechtsstaatlich gebotenist, um Gefahren zu beseitigen.Meine Damen und Herren, damit wir uns nicht miss-verstehen – der Kollege Bosbach hat schon darauf hinge-wiesen –: Niemand denkt daran, die Bundeswehr zu einerArt zweiter Bereitschaftspolizei des Bundes zu machen.Wenn aber, wie im konkreten Fall, die Polizei die Gefahrnicht beseitigen kann, dann kann unsere Antwort dochnicht sein, gar nichts zu tun.
Wir müssen dann etwas tun. 100-prozentige Sicherheitgibt es nicht; das weiß jeder. Aber das kann doch nicht be-deuten, dass wir gar nichts tun.
– Wenn Sie sagen, das hätte niemand verlangt, dann frageich Sie, nach welchen Regeln wir in einer solchen Situa-tion arbeiten. Es geht vor allem um die Gefahr aus derLuft; darauf will ich mich konzentrieren. Wer weiß vor-her, wer für was befugt ist und wie wir miteinander reden?Ich kann Ihnen aus praktischem Erleben sagen: Dies istnicht geregelt. Das Grundgesetz bietet dafür nach meinerÜberzeugung auch keine eindeutige Regelung. Ich kommeauf diesen Punkt später zurück.Ich will ins Gedächtnis zurückrufen: Es war in diesemFall kein terroristischer Angriff. Es war „bloß“ ein offen-kundig geistig verwirrter Mensch. Den Opfern ist es aberrelativ gleichgültig, ob sie Opfer eines Terroristen oder ei-nes geistig Verwirrten werden. Die Frage, die uns dieMenschen stellen, ist doch, was wir tun, wenn dort einFlugzeug kreist und der Täter ankündigt, was er vorhat.Dann kann man es doch nicht dem Zufall überlassen, werin dieser Situation wen erreicht. Was wäre gewesen, wennan diesem Sonntag der hessische Ministerpräsident undich den Kollegen Struck nicht relativ schnell erreicht hät-ten, weil er irgendwo in der Welt unterwegs gewesenwäre? Hätten wir die Entscheidung dann dem Polizeifüh-rer vor Ort oder dem Piloten der Bundeswehr je nach de-ren Einschätzung und Gusto überlassen sollen?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Veit? Wir stoppen auch Ihre Redezeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich will in der Redezeit bleiben. Ich bitte umNachsicht. Ich will im Zusammenhang vortragen.
– Herr Kollege Ströbele, dieser Fall ist kein schlechtesBeispiel.
Er ist sogar im Gegensatz zu dem, was hier über weiteStrecken diskutiert worden ist, nicht Theorie, sondernpraktisch und wirklich.
Deshalb dürfen wir uns nicht in theoretischen Debattenverlieren. Wir müssen eine Antwort geben, und zwar vor-her.
Nach meiner Überzeugung ist es notwendig, ein klareseindeutiges Regelwerk auszuarbeiten. Wir brauchen eineklare Rechtsgrundlage.
Darüber hinaus brauchen wir klare Regelungen, wie wirmiteinander arbeiten. Da hilft mir mit Verlaub eine juris-tische Debatte, ob Art. 35 des Grundgesetzes und der Be-griff des Unglücks das noch abdeckt, sehr wenig. Ich haltedas juristisch auch nicht für richtig. Selbst in der Literaturhabe ich wenig gefunden, was Ihre Position unterstützt,Herr Kollege Schily. Aber selbst wenn, Sie könnten dannvielleicht für den einzelnen Fall eine Rechtsgrundlageschaffen; das nützt uns aber nichts. Wir brauchen vorherverlässliche Grundlagen.Damit es nicht so theoretisch ist, sage ich Folgendes:Es liegt doch auf der Hand, dass ein Polizeiführer vorOrt, der zur Beseitigung einer Gefahr auf die Bundes-wehr zurückgreifen will – welche Einzelheiten dabeiauch immer zu beachten sind –, aufgrund eines geregel-ten Verfahrens wissen muss, wie lange sie braucht, bissie da ist. Er muss wissen, was die Piloten dürfen undwas nicht. Er muss wissen, welche Wege der Kommuni-kation es gibt. Er muss zum Beispiel wissen, wie er mitdem Piloten kommunizieren kann. Dies alles gibt esnicht.In der Gefahrenabwehr gibt es – in diesem Punkt wirdmir niemand widersprechen – einen Grundsatz: Die Ge-fahrenabwehr funktioniert besonders gut, wenn man sievorher übt. Es ist notwendig, mit allen Stellen zu üben,sich entsprechend abzustimmen und ein Konzept zu ha-ben. Glauben Sie doch nicht im Ernst, dass man die Türmein Frankfurt, ohne eine Panik auszulösen, in 20 Minutenräumen kann, wenn man das vorher nicht übt.
– Ich trage ein Konzept vor. – Wenn die Gefahr auftritt, istes zu spät. Das haben alle gesagt. Man kann in einer Ge-fahrenlage nicht proben, ob alle rechtzeitig da sind und obman diese oder jene Maßnahme ergreift. Das muss vorherklar sein.
Wer nicht bereit ist, hier eine klare Grundlage zu schaffen,der lässt die Polizei, den Polizeiführer und den Pilotenschlussendlich allein.
Staatsminister Volker Bouffier
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003
Staatsminister Volker Bouffier
Sie lassen die Leute im Stich. Eine solche Politik halte ichfür feige und verantwortungslos.
Meine Damen und Herren, jeder, der in der Praxis mitGefahrenabwehr zu tun hat, weiß, dass eine Abfolgeglücklicher Umstände wie an dem fraglichen Sonntag aufDauer nicht ausreichend ist, um Herausforderungen, dieeben nicht nur theoretisch sind, angemessen begegnen zukönnen. Vor fast eineinhalb Jahren fand das Ereignis inNew York statt. Seit eineinhalb Jahren ist uns allen dasgrundsätzliche Problem bekannt.
– Wir haben in der konkreten Situation in Hessen eineMenge Gutes getan; ich habe vorhin nicht umsonst ge-dankt. Ich nehme den Dank nicht für mich in Anspruch,aber eines möchte ich auch einmal sagen: Wenn Sie ineinem Lagezentrum sitzen und innerhalb weniger Mi-nuten entscheiden müssen, ob Sie ganze Plätze räumenund ob Sie die Menschen mit Gewaltanwendung ir-gendwo wegholen, damit der Täter kein Ziel hat, umeine furchtbare Ernte halten zu können, dann wissenSie, dass diesen Polizeibeamten mit allgemeinen, theo-retischen und vor allem polemischen Bemerkungen we-nig gedient ist.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Schily, und dem Deut-schen Bundestag ausdrücklich deshalb anbieten – dasBundesland Hessen ist dazu bereit –, dass wir uns sehrrasch zusammensetzen, um zu klären, wie wir diese ein-deutige Grundlage und ein geregeltes Verfahren im Inte-resse aller erhalten können.Herr Kollege Schily, ich bitte um Nachsicht: Sie spre-chen nach mir, weshalb ich Sie persönlich ansprechenwill. Wir beide tragen in unserem Amt in besondererWeise Verantwortung – ich für Hessen und Sie fürDeutschland. Es kann doch eigentlich überhaupt keinenZweifel daran geben, dass wir uns darin einig sind, dasswir alles tun müssen, um Gefahren abzuwenden. Wenndie Polizei dies objektiv aber nicht kann, dann müsstenwir uns doch eigentlich auch darin einig sein, dass dieseAufgabe eine Einrichtung wahrnehmen muss, die dies ge-gebenenfalls kann, die die Gefahr vielleicht beseitigen,zumindest aber erheblich mindern kann. Wir dürfen dannkeinen Streit führen, der sich nach meinem Dafürhaltensehr stark im Theoretischen bewegt.Ich habe dafür wenig Verständnis und bitte darum, dasswir möglichst bald zu einem Ergebnis kommen. Ein Streitum diese Frage entlang den Mauern fester Ideologiennützt niemandem. Das zu tun, was nötig und nach meinerÜberzeugung rechtsstaatlich auch möglich ist, um Gefah-ren von den Menschen abzuwenden, hilft uns allen.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Veit das
Wort.
Da ich nicht Gelegenheit hatte, meine Einlassung in
Gestalt einer Zwischenfrage vorzubringen, will ich es nun
in einer Kurzintervention tun. Ihrem letzten Satz, lieber
Herr Kollege Bouffier, der wenigstens zum Teil diesen
langen Beifall provoziert hat, kann ich nur ausdrücklich
zustimmen.
Aber ich gebe zweierlei zu bedenken.
Erstens. Ist es nicht abwegig, zu glauben, der Abschuss
eines Motorseglers über dicht besiedeltem Frankfurter
Stadtgebiet,
zum Beispiel über der Zeil, beinhalte ein geringeres Ge-
fährdungspotenzial, als wenn der Betreffende seine ur-
sprüngliche Absicht wahr gemacht hätte?
Zweitens. Ist es nicht von Mogadischu bis zu dem Vor-
fall, über den wir jetzt reden, in dieser Republik immer
guter Brauch gewesen, dass bei Fällen dieser Art über Par-
teigrenzen und die Frage, wer wo wann in welcher Kon-
stellation regiert hat, hinweg sowohl die Polizei als auch
der Bundesgrenzschutz als auch gegebenenfalls die Bun-
deswehr in beispielhafter Weise gut zusammengearbeitet
haben? Kann es nicht deswegen auch so bleiben, ohne
eine Verfassungsänderung vorzunehmen?
Herr Minister Bouffier, Sie haben drei Minuten Zeit,
darauf zu antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen.Herr Kollege Veit, wir kennen uns seit vielen Jahren.Es ging nicht nur um den Abschuss. Es ging konkret umdie Frage: Kann ein Fluggerät aus der Innenstadt abge-drängt werden? Das können Sie nicht entscheiden, wennSie das erste Mal in einer solchen Situation sind. Das kannman üben.
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– Das ist eine Rechts- und Tatsachenfrage. Deshalb sageich Ihnen: Ihre Einlassung ist zu kurz gesprungen. Ichbiete Ihnen an, dass wir dieses Problem entre nous endétail diskutieren.Man darf nicht immer nur vom Abschuss reden. Das istdie Ultima Ratio. Davor gibt es viele andere Möglichkei-ten, was wir gemeinsam erörtern und tun können. Ob wires in der konkreten Gefahrenlage tun können, müssen dieGefahrenexperten vor Ort entscheiden. Die müssen dieGefahr beseitigen. Sie dürfen sich dabei aber nicht mit derFrage herumquälen, ob ihr Handeln, egal ob sie etwas tunoder unterlassen, danach Gegenstand staatsanwaltschaft-licher Ermittlungen sein wird.
Ich will mit folgendem Satz abschließen: Ich empfindees als unbefriedigend – ich glaube, damit stehe ich nichtalleine da –, wenn sonntags etwas passiert und am darauffolgenden Montag inklusive der deutschen Bundesregie-rung alle darüber diskutieren, ob man die Bundeswehrüberhaupt hätte einsetzen dürfen und gegebenenfalls fürwas. Gut wäre, wenn in der Frage der konkreten Gefah-renabwehr alle wüssten, dass wir am Sonntag schon ge-nauso schlau sind wie am Montag.Vielen Dank.
Es spricht jetzt der Herr Minister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen!In der Beurteilung der Gefahrenlage sind wir uns einig.Der Herr Kollege Bosbach hat einen Satz von mir zitiert,der nach wie vor Gültigkeit hat.
– Herr Kollege, ich weiß nicht, was daran jetzt so komischist. – Deshalb erfordert der internationale Terrorismusweiterhin unsere anhaltende und konzentrierte Wachsam-keit.Nach der zwischen den Sicherheitsbehörden, Bundes-kriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz, BND,aber auch den Landesbehörden abgestimmten Lageein-schätzung besteht innerhalb wie auch außerhalb unseresLandes eine unverändert hohe Gefährdung für bestimmteEinrichtungen, insbesondere amerikanische, israelische,jüdische und britische Einrichtungen.In den Gesprächen, die ich vor einiger Zeit mit denChefs der CIA und des FBI geführt habe, sind wir ge-meinsam zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Be-drohungslage gegenüber der Situation vor dem 11. Sep-tember eher noch verschärft hat. Wir werden dieseintensive und vertrauensvolle Abstimmung auch in Zu-kunft fortsetzen. Ich werde in Kürze noch einmal in dieVereinigten Staaten von Amerika reisen, um gemeinsammit meinen Kollegen die Situation zu beurteilen.Ich meine, wir sollten besonders beachten, dass dieMehrzahl der Anschläge gegen so genannte weiche Zielegerichtet war. Das beweist die abscheuliche, menschen-verachtende Brutalität der Terroristen und das Ausmaß derGefahr. Die sehr ernst zu nehmende globale Bedrohungdurch den islamistisch-fundamentalistischen Terroris-mus nimmt uns daher gemeinsam – früher gab es den Be-griff der Gemeinsamkeit der Demokraten; diese sollten wirbekräftigen – in die Pflicht, alle nur denkbaren Anstren-gungen zum Schutz der Menschen zu unternehmen.Gleichzeitig will ich aber noch einmal deutlich vor Pa-nikmache warnen; denn wenn wir Panik verbreiten, dannhaben die Terroristen schon gewonnen. Ich bin den In-nenministern der Länder – dabei schließe ich Herrn Kol-legen Bouffier ausdrücklich ein – dankbar dafür, dass siesich in gleicher Weise äußern. Das ist vielleicht auch dasErgebnis der sehr guten Sitzung der Innenministerkonfe-renz vor einigen Wochen in Bremen, in der wir noch ein-mal gemeinsam die Sicherheitslage beurteilt und in derBeurteilung Übereinstimmung erzielt haben.In dem vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktionist folgender Satz enthalten:Jeder Staat, der den Terror wirksam bekämpfen will,hat ... zum Schutz aller seiner Bürgerinnen und Bür-ger die Verpflichtung, ein umfassendes rechtlichesund administratives Sicherheitsnetz zu schaffen, so-dass Schritt für Schritt hieraus ein weltweites Sicher-heitsnetz entsteht.Diesem Satz kann ich mich anschließen. Wir haben dasdarin formulierte Ziel bereits weitgehend verwirklicht.Deutschland kann sich im internationalen Vergleich wahr-lich sehen lassen. Wir haben sowohl auf nationaler wieauch auf internationaler Ebene eine Vielzahl von Maß-nahmen eingeleitet und durchgeführt, die wirksam undsehr rasch den Schutz vor Aktionen des internationalenTerrorismus verbessert haben und weiter stärken werden.Das wird auch bei der bevorstehenden Konferenz derAußenminister in New York erkennbar werden, in der aufder Basis der Resolution 1373 des UN-Sicherheitsrats da-rüber zu sprechen sein wird, wer in der Zwischenzeit wasgetan hat.Besonders hervorheben will ich die enge und vertrau-ensvolle Zusammenarbeit zwischen den VereinigtenStaaten von Amerika und der BundesrepublikDeutschland. Diese Zusammenarbeit wird in kaum zuübertreffender Form vom amerikanischen Präsidenten,aber auch von dem amerikanischen Justizminister Ashcroftund dem neuen Minister für Homeland Security beson-ders gelobt.Herr Kollege Koschyk, auch die jüngsten Festnahmenin Frankfurt sind Ausdruck dieser sehr guten Zusammen-arbeit.
Herr Kollege Ashcroft hat mich deshalb angerufen undgebeten, ich solle der deutschen Öffentlichkeit mitteilen,Staatsminister Volker Bouffier
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Bundesminister Otto Schilydass dies das Ergebnis einer besonders guten amerika-nisch-deutschen Zusammenarbeit ist. Weil Sie, HerrKoschyk, in diesem Zusammenhang einen bestimmtenSoupçon zum Ausdruck gebracht haben, gebe ich Ihneneinen guten Rat oder verbinde damit eine Bitte, um esfreundlich auszudrücken: Seien Sie in der Beurteilungdieses Vorgangs in der Öffentlichkeit vorsichtig! Alleskann man über solche Ermittlungsverfahren in der Öf-fentlichkeit nicht darstellen.
Ich bin aber gern bereit, Ihnen in einem vertraulichen Ge-spräch etwas darüber zu sagen.
– Auch im Ausschuss, wenn Sie den Wunsch haben. WennSie allerdings glauben, wir könnten Ermittlungsverfahrenimmer erst mit dem Innenausschuss absprechen, dann ir-ren Sie sich gewaltig.
– Ich mache Ihnen doch ein freundliches Angebot. Neh-men Sie das doch einmal zur Kenntnis und seien Sie lie-ber dankbar dafür, als schon wieder Ihre Stimme zu erhe-ben. Herr Koschyk, ich habe diesen Vorgang jetzt sehrhöflich und freundlich kommentiert – ganz im Gegensatzzu einigen demagogischen Äußerungen aus Ihren Krei-sen.
– Ja, das sollten Sie ruhig einmal zur Kenntnis nehmen.
Meine Damen und Herren, deshalb ist die CDU/CSU-Forderung nach Vorlage eines ressortübergreifenden Terro-rismusbekämpfungskonzeptes überholt, das „die Aspektevon polizeilicher und sonstiger Gefahrenabwehr, Strafver-folgung und Vorfeldermittlung, Außen- und Sicherheits-politik, Katastrophen- und Zivilschutz sowie Außenwirt-schaft und Entwicklungshilfe miteinander verbindet“. ImRahmen der bestehenden Kompetenzordnung zwischenBund und Ländern wurde mit den Antiterrorpaketen Iund II das erforderliche Konzept bereits vor über einemJahr vorgelegt. Dieses Konzept bewährt sich. Sie kommenalso ein bisschen spät.
Die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutsch-land haben damit erheblich verbesserte Möglichkeiten zurFrüherkennung terroristischer Gefahren sowie zur Ver-brechensbekämpfung gewonnen. Ihnen wurden umfang-reiche Befugnisse eröffnet, die sie in enger nationaler undinternationaler Kooperation wahrnehmen. Die Erfolgedieser Arbeit sind durch eine Reihe operativer Maßnah-men und Ermittlungsverfahren sichtbar geworden. Es istauch kein Zufall, dass sich viele ausländische Besucher– heute war der kanadische Justizminister bei mir zuGast – immer wieder danach erkundigen, was wir gemachthaben. Sie interessieren sich dafür, weil sie Ähnlicheszum Teil erst noch nachholen müssen.Im Gegensatz zu dem verengten Blickwinkel derCDU/CSU-Fraktion ist es auch Ziel des Konzeptes, nichtnur weitere Anschläge durch polizeiliche und andereMaßnahmen zu verhindern, sondern darüber hinaus dieUrsachen des internationalen Terrorismus im Rahmen ei-ner langfristigen Bekämpfungsstrategie zu beseitigen. Indieser umfassenden Sicherheitspolitik greifen polizeili-che, nachrichtendienstliche und militärische Elemente in-einander. Die Beispiele Afghanistan und Balkan belegen,dass die Gefahren des internationalen Terrorismus nichtzuletzt aus zerfallenden Staaten hervorgehen, in denensich der Terrorismus weitgehend ungestört und unbeob-achtet entwickeln kann.Deshalb leistet die Bundesregierung aktive Hilfe beimAufbau stabiler Staatswesen und bei der Lösung gesell-schaftlicher Konflikte. Ein Beispiel für die herausragen-den Leistungen der Bundesregierung und der Bundes-wehr sowie anderer Organisationen sind die Erfolge beimWiederaufbau staatlicher Strukturen in Afghanistan.
Die Leistungen der deutschen Polizeiexperten beim Auf-bau der afghanischen Polizei werden weltweit gelobt. DenPolizeibeamtinnen und -beamten, die dort unter Hin-nahme großer Gefahren diese Arbeit leisten, spreche ichhier vor dem Hohen Hause meinen ganz besonderen Dankaus.
Besonders hebe ich die Leistungen eines ehemaligen Ab-teilungsleiters aus meinem Hause, Herrn Rupprecht, her-vor, der dort die erste Mission geleitet hat.Die Bundesregierung hat sich im Übrigen vom Beginnihrer Amtszeit an mit großer Entschlossenheit der Verbes-serung des Schutzes vor Terrorismus, Extremismus undreligiösem Fundamentalismus gewidmet. Aus der Er-kenntnis, dass diese extreme Form der Intoleranz eineneuartige Bedrohung für unsere freiheitlich-demokrati-sche Grundordnung insgesamt darstellt, dürfen wir nichtzögern, die neu geschaffenen rechtsstaatlichen Instru-mente gegen verfassungsfeindliche und Gewalt verherrli-chende Organisationen auch mit der gebotenen Härte ein-zusetzen. Grundvoraussetzung für eine erfolgreicheBekämpfung des Terrorismus ist selbstverständlich eineangemessene Ausstattung unserer Sicherheitsbehördenmit Personal und Sachmitteln. Ich möchte den Hinweiswiederholen: Der Bund hat trotz angespannter Haushalts-lage für den angemessenen Ausbau der finanziellen, per-sonellen und sachlichen Ausstattung der Sicherheits-behörden umfassend Sorge getragen. So wurden in derZeit von 1998 bis 2002 die Ausgaben im Bereich der in-neren Sicherheit um über 22 Prozent erhöht.Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hin-weisen – das gehört zwar nicht unmittelbar zu unseremThema, aber zur aktuellen Diskussion –: Es wird ja sehrkontrovers über die Tarife im öffentlichen Dienst gespro-
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chen. Eines muss man aber auch sagen: Wenn wir über dieSicherheitspolitik reden, dann müssen wir auch denGrundsatz befolgen, dass unsere Polizeibeamten genausoeine Leistung erbringen wie die Beschäftigten im Ban-kensektor oder in anderen Branchen und deshalb einenAnspruch auf angemessene Vergütung haben.
Die Unterstellung von Sicherheitslücken im Antrag derCDU/CSU-Fraktion entbehrt jeder Grundlage.
Sie ist auch verantwortungslos, weil Sie mit ihr in der Öf-fentlichkeit für Verunsicherung sorgen wollen. Auch dieForderungen, die in diesem Antrag gerade im Bereich desAusländer- und Asylrechts erhoben werden, sind in derSache nicht nachvollziehbar. Selbstverständlich hat dieBundesregierung unmittelbar nach dem 11. September2001 geprüft, mit welchen gesetzlichen Änderungen dasgeltende Recht an die Bedrohungslage angepasst werdenkann. Eine Vielzahl wirkungsvoller Rechtsänderungen imAusländer- und Asylrecht sowie im Ausländerzentralregis-ter wurden mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz zügigin Kraft gesetzt.
Weiter gehende Rechtsänderungen, wie sie von der Op-position gefordert werden, sind nicht erforderlich und da-her abzulehnen,
wobei ich anmerken möchte, dass es ein Widerspruch ist,wenn Sie uns auf der einen Seite eine Gesetzesflut vor-werfen und auf der anderen Seite immer wieder neue Ge-setze fordern.Es beginnt schon mit der Behauptung in Ihrem Antrag,dass das Ausländerrecht nicht ausreichend abschrecke.Dieses Verständnis des Ausländerrechts ist ziemlich selt-sam.
Das Ausländerrecht soll nämlich nicht generell abschre-cken, sondern den zuständigen Behörden das notwendigeInstrumentarium bereitstellen, das es ihnen ermöglicht,ihre Aufgaben differenziert und unter Berücksichtigungder deutschen Sicherheitsinteressen wahrzunehmen.Den Sicherheitsinteressen haben wir bei der Neufassungder ausländerrechtlichen Vorschriften entsprochen. Lei-der muss ich aber beklagen – das hat eine Umfrage beiden Ländern ergeben; dabei ist es egal, wer in den ein-zelnen Ländern gerade regiert –, dass beim Vollzug nocherhebliche Lücken festzustellen sind. Die Defizite liegenalso eher im Vollzug als in den Formulierungen des Ge-setzes.Herr Kollege Bosbach, Sie weigern sich beharrlich– wenn ich einen Moment Ihre Aufmerksamkeit in An-spruch nehmen darf –, den Unterschied anzuerkennen, derzwischen strafprozessualen Kriterien und polizeirechtli-chen Bestimmungen besteht.
Beim Polizeirecht geht es um Gefahrenabwehr. Dortmüssen wir die Kriterien festlegen, die deutlich machen,unter welchen Voraussetzungen eine Gefahrenlage be-steht und welche Maßnahmen gegebenenfalls getroffenwerden können. Das hat auch seinen Platz im Ausländer-recht.
– Das ist der Hintergrund.
– Ja, im Gesetz steht: wenn Tatsachen belegen, dass eineGefahr besteht. Sie lesen leider das Gesetz nicht. Sie wei-gern sich beharrlich, das zu tun.
– Nein, Herr Bosbach, ich erlaube jetzt keine Zwi-schenfragen.
Das tun Sie ja auch nicht.
– Nein, auch der Kollege Bouffier hat keine Zwischenfra-gen zugelassen. Das wissen Sie doch. Ein so schlechtesGedächtnis sollten Sie nicht haben. Aber das haben Sie jaauch bei anderen Fragen.Sie wollen mit dem Begriff des Verdachts arbeiten.Das ist aber Sache des Strafprozesses. In diesem Zusam-menhang muss ich sagen: Herr Röttgen, ich war – Siekönnen ja die Debatte noch einmal mit Frau Zypriesführen – über Ihre Ausführungen entsetzt, insbesonderedarüber, dass Sie sozusagen vorläufig vollstreckbareStrafurteile fordern, also die Untersuchungshaft nutzenwollen, um eine strafrechtliche Verurteilung vorwegzu-nehmen.
Da haben Sie sich aber wirklich vergaloppiert. Darübermüssen Sie noch einmal nachdenken und dazu müssen Siedie entsprechenden Kommentare nachlesen. Dann wer-den Sie selbst ins Grübeln kommen.Die darüber hinausgehenden Forderungen der CDU/CSU-Fraktion sind nicht geeignet, die Sicherheitslage zuverbessern, und lassen leider auch die notwendige Sorg-falt, die bei derartigen Forderungen unerlässlich ist, weit-gehend vermissen. Sonst wäre Ihnen ja zum Beispiel auf-gefallen, dass Ihre Forderung nach Herabsetzung derStrafhöhe von drei Jahren als Voraussetzung für die Re-gelausweisung völlig ins Leere geht. Die Regelauswei-sung nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 des Ausländergesetzes setztnach geltendem Recht nur die Verurteilung zu einer Frei-heitsstrafe ohne Bewährung voraus; eine Mindeststraf-höhe wird nicht gefordert. Jetzt muss ich die Frage an Sierichten: Wollen Sie die Ausweisung von Straftätern wiederBundesminister Otto Schily
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Bundesminister Otto Schilyerschweren? Die Frage müssen Sie beantworten, wennSie so etwas in Ihren Antrag hineinschreiben.
Insbesondere im Bereich der Regelungen zur Auswei-sung und Abschiebung hat das Terrorismusbekämpfungs-gesetz erhebliche sachgerechte Änderungen des Auslän-dergesetzes bewirkt.Des Weiteren wurden das Ausländergesetz um Rege-lungen zur Ermöglichung zusätzlicher identitätssichern-der Maßnahmen erweitert und eine enge Zusammenarbeitvon Ausländerbehörden, Auslandsvertretungen und Sicher-heitsbehörden durch Regelungen zum Datenaustausch si-chergestellt.Auch die im Terrorismusbekämpfungsgesetz vorge-nommenen Änderungen des Ausländerzentralregister-gesetzes, insbesondere der Aufbau der AZR-Visa-Dateizu einer Visa-Entscheidungsdatei – sonst macht sie garkeinen Sinn –, verbessern die Kontrolle der einreisendenAusländer und erleichtern eine rasche Feststellung in derFrage, ob ein in Deutschland lebender Ausländer über eingültiges Aufenthaltsrecht verfügt.Ich habe eine Bitte an die Präsidentschaft. Ich habe nurnoch relativ wenig Redezeit.
Ich werde von meinem Recht als Mitglied der Bundesre-gierung Gebrauch machen, meine Redezeit auszudehnen.Es tut mir Leid. Aber nachdem hier so viel gesprochenworden ist,
werde ich heute einmal ausnahmsweise davon Gebrauchmachen; ich hoffe, ich komme an der Stelle nicht mit mei-ner Fraktion in Konflikt.
– Sie sind einverstanden. Ich bedanke mich bei der Op-position.
– Ja, dann machen wir eine neue Runde.
Nicht nur unsere nationalen Maßnahmen entsprechenden aktuellen Notwendigkeiten. Deutschland nimmtauch innerhalb der Europäischen Union eine Vorreiter-rolle bei der Sicherung gegen terroristische Gewalttäterein. So haben sich die Mitgliedstaaten der Europä-ischen Union auf Initiative Deutschlands hin verpflich-tet, innerhalb der nächsten fünf Jahre einheitliche Licht-bildvisa einzuführen. Damit wird der schon heute hoheSicherheitsstandard des EU-Visums noch weiter verbes-sert.Deutschland forciert darüber hinaus auf Ebene der EUdie Aufnahme weiterer biometrischer Merkmale von Fin-gern, Händen und Gesicht der Inhaber in Dokumenten.Diese Merkmale sollen in verschlüsselter Form in dieVisa- und Aufenthaltstitel eingebracht werden.
– Wenn Sie es auch wollen, ist es ja gut; dann können Siemich ja unterstützen. – Erste Schritte zur Einrichtung ei-ner EU-Visa-Datenbank, die Deutschland maßgeblichvorangetrieben hat, sind von der EU bereits eingeleitetworden.Mit der Neuregelung des Asylverfahrens durch dasTerrorismusbekämpfungsgesetz erfüllt Deutschland seinevölkerrechtlichen Verpflichtungen aus den Resolutionendes UN-Sicherheitsrats, ohne dabei den humanitären Cha-rakter des Asylrechts zu beeinträchtigen. Durch die Nor-mierung des automatisierten Abgleichs der Fingerabdrückevon Asylbewerbern gegen polizeiliche Tatortspuren, aberauch durch die Einführung der Nutzungsmöglichkeit deridentitätssichernden Sprachanalyse zur Bestimmung derHerkunftsregion, auf die auch Sicherheitsbehörden beiBedarf zurückgreifen können, trägt Deutschland dem ge-steigerten Sicherheitsbedürfnis auch beim Schutz poli-tisch Verfolgter hinreichend Rechnung.Die von der Union vorgeschlagene Modifizierung desAbschiebungsschutzes ist ebenfalls weder erforderlichnoch geboten. Gewährung und Ausschluss des Abschie-bungsschutzes für politisch Verfolgte stehen in Deutsch-land im Einklang mit den Vorgaben des internationalenRechts. Da die Resolution 1373 aus dem Jahr 2001 selbstkeinen über die Genfer Flüchtlingskonvention hinausge-henden Anschlusstatbestand zum Abschiebungsschutzenthält, ist die von der CDU/CSU geforderte Implemen-tierung in die entsprechende Vorschrift des Ausländerge-setzes ein völlig ungeeigneter Vorschlag.
Weiterhin wird verkannt, dass die höchstrichterlicheRechtsprechung die Verpflichtung aus der Genfer Flücht-lingskonvention keinesfalls infrage stellt. Die Anwen-dung des Ausschlusstatbestandes bei ausländischen Ter-roristen erfordert demnach stets eine Einzelfallprüfungunter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprin-zips. Auch und gerade bei der Terrorismusbekämpfungsind die Rechte von politisch Verfolgten mit den legitimenSicherheitsinteressen des Staates sehr sorgfältig abzuwä-gen.
Die von der Union vorgeschlagenen pauschalen Wertun-gen bieten keinen Ansatz zu einer verantwortungsbewuss-ten Politik und zu einer sachgerechten Lösung solcher In-teressenkonflikte.Ich will auch auf Ihre Vorhalte zum Staatsangehörig-keitsrecht eingehen. Alles das, was Sie da vorschlagen,führt überhaupt nicht weiter. Wir sind es gewesen, die imStaatsangehörigkeitsrecht – § 86Abs. 1 Nr. 2 des Auslän-dergesetzes – erstmals eine Extremistenklausel einge-führt haben.
Herr Kollege Bosbach, Sie haben in diesem Zusam-menhang aus dem Kaplan-Urteil zitiert und auf einige
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eingebürgerte Personen verwiesen. Ich kann Sie nur da-rauf hinweisen: Diese Personen sind im Rahmen desRechts, das Sie zu vertreten haben, eingebürgert wordenund nicht im Rahmen des neuen Rechts.
– Deshalb machen wir es jetzt besser und deshalb werdendiese Überprüfungen selbstverständlich vorgenommen.Sie haben Schleswig-Holstein erwähnt. Diesbezüglichhaben Sie in einem Punkt Recht: Man hatte dort einefalsche Formulierung. Inzwischen hat man das aber be-hoben. Offenbar sind Sie da nicht auf dem neuesten Stand.
– Nein, das ist falsch. Sie haben hier behauptet, das sei nurnoch mit Zustimmung möglich. Das ist falsch. Ich habemich erkundigt: Das geht inzwischen anders, ohne Zu-stimmung. Da haben Sie auf das falsche Pferd gesetzt.
– Nein, gestern nicht. Erkundigen Sie sich! Ich teile Ihnenjetzt gerne den neuesten Stand mit.Ich will ferner auf einen anderen wichtigen Punkt zusprechen kommen, der in der Öffentlichkeit in der letztenZeit eine immer größere Rolle gespielt hat: das Systemdes Zivil- und Katastrophenschutzes. Die Union zeich-net in ihrem Antrag ein Bild, das den Eindruck nahe legt,dass bei der – in der Tat notwendigen – Umstrukturierungdieses Bereiches bei null begonnen werden müsse.Richtig ist, dass schon seit den Anschlägen am 11. Sep-tember offener als bisher – das müssen wir uns gegensei-tig bestätigen – über mögliche Schwachstellen gespro-chen wird, die das Ergebnis einer durch die veränderteSicherheitslage bedingten Rückführung des Zivilschutzeszu Beginn der 90er-Jahre sind.Der Kritik aus den Reihen der CDU/CSU könnte ichjetzt mit dem Hinweis begegnen – darüber haben wirschon gesprochen –, dass der massive Abbau der Zivil-schutzkapazitäten unter ihrer Regierungsverantwortungdurchgeführt wurde. Aber der Hinweis auf Versäumnissein der Vergangenheit bringt uns alle nicht weiter, zumalich nicht bestreiten kann, dass auch wir diesen Duktusnach der Regierungsübernahme eine Weile fortgesetzt ha-ben. Lassen wir die Vorwürfe an beide Adressen einmalbeiseite und kümmern wir uns lieber um das, was jetzt zutun ist, und um die Zukunft. Das ist die vernünftigere Ein-stellung zu diesem Problem.
Ich halte es deshalb für angemessen, diese Frage nunmehrsachlich zu diskutieren.Derzeit stehen auf der einen Seite der drohende mi-litärische Angriff als Grundlage für die Zivilschutzauf-gabe in der Zuständigkeit des Bundes, auf der anderenSeite die so genannte friedensmäßige Katastrophe in derZuständigkeit der Länder. Vor wenigen Jahren war dieseRegelung noch stimmig. Allerdings passt die asymmetri-sche Bedrohung durch den internationalen Terrorismusnicht mehr ohne weiteres in die tradierte Zuständigkeits-verteilung. Auch mancher Ablauf bei der Bewältigung derFlutkatastrophe stellt die herkömmlich sehr strenge Zwei-teilung der Zuständigkeiten infrage.Wir haben jetzt die Chance, eine neue Strategie zumSchutz der Bevölkerung in Deutschland durchzusetzen.Daran arbeiten wir bereits. Mit den Ländern habe ich michim vergangenen Jahr in der Ständigen Konferenz der In-nenminister und Innensenatoren auf eine neue Rahmen-konzeption für den Zivil- und Katastrophenschutz ver-ständigt. Lesen Sie das doch einfach einmal nach undlesen Sie auch, was auf dem Gebiet in der Zwischenzeitalles geschehen ist. Wegen der Kürze der Redezeit ver-zichte ich auf eine Aufzählung, welche Maßnahmen wir– übrigens schon vor dem 11. September – in die Wege ge-leitet haben.Eines möchte ich doch erwähnen: Wenn wir die sich indiesem Zusammenhang stellenden Fragen ernst nehmen,müssen wir uns auch für einen modernen Digitalfunk ein-setzen; den braucht Deutschland dann nämlich dringend.Daran sollten nun wahrlich alle mitwirken.
Ich bitte Sie aber auch, einmal im Land Hessen nachzu-fragen, warum es sich in dieser Frage so zögerlich verhält.Sie sollten dann vielleicht noch einmal mit Herrn Minis-terpräsidenten Koch sprechen. Ich wäre Ihnen, HerrKoschyk, für jede Unterstützung in diesem Zusammen-hang dankbar.
– Ja, auch bei der IMK; aber es geht ja leider nicht nurdiese an, sondern auch die Finanzminister. Da habe ichauch einige Probleme mit sozialdemokratisch regiertenLändern. Ich bin da ganz ehrlich.
– Ja, natürlich. Deshalb meine Bitte: Reden Sie mit IhrenLeuten, ich rede mit unseren Leuten. Dann kommen wirvielleicht gemeinsam ein Stückchen voran. Im Rahmenunserer internationalen Aktivitäten haben wir uns auchum diese Fragen gekümmert. Ich will es hier nur in diesergerafften Form vortragen.Ich könnte jetzt noch über die Frage des Vereinsver-botes sprechen. Da ist Ihnen, Herr Koschyk, ein Lapsusbezüglich des Zeitpunktes unterlaufen. Ich buche das ein-mal auf das Konto des Wahlkampfes. Ich kann mich nichtan solchen Daten orientieren. Ich mache das dann, wennich in Abstimmung mit Bund und Ländern den richtigenZeitpunkt für gekommen halte. Ich bin gerne bereit, Ihnenin einem Vieraugengespräch die Hintergründe hierfür zuerläutern. Was Sie dort als Soupçon untergebracht haben,sollten Sie lieber lassen. Ich finde das nicht fair. Ich wäreBundesminister Otto Schily
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Bundesminister Otto SchilyIhnen wirklich dankbar, wenn wir uns nicht auf dieses Ni-veau begäben.Ich könnte auch noch etwas zur Kronzeugenregelungsagen, Herr Röttgen. Das, was wir vorhaben, stellt denrichtigen Ansatz dar. Sie haben da offensichtlich immernoch die alte Formel im Kopf.
– Wenn Sie sie nicht mehr im Kopf haben, ist es ja gut;dann sind wir uns ein Stückchen näher gekommen.Wir können das auch etwas umständlich Aufklärungs-gehilfe nennen, wie Herr Kollege Beck es vorschlägt –vielleicht ist das sogar ein ganz guter Ausdruck, der derSache näher kommt als der Begriff Kronzeuge.
– Ich will Ihnen erklären, warum er der Sache näherkommt: weil es nicht darum geht, einen Handel bezüglicheiner Aussage und einer Vergünstigung zu machen. Dasführt in die Irre. Das Modell der „pentiti“ in Italien – dasist ja das Thema – hat übrigens auch in die Sackgasse ge-führt. Es kommt vielmehr darauf an, ein rechtliches Instru-mentarium zu finden, das den Personen, die in objektivnachvollziehbarer Weise zur Aufklärung von schwerstenVerbrechen beitragen, Vergünstigungen in Aussicht stellt.Das ist der eigentliche Punkt. Darüber können wir unsverständigen, auch mit den Grünen, die da eine klare Li-nie verfolgen; da bin ich sicher.
– Doch, das ist der Punkt. Deshalb hoffe ich, dass hier dieVernunft siegt.Lassen Sie mich zum Schluss, weil das ja von HerrnKollegen Bouffier sehr ausführlich angesprochen wordenist, auf den jüngsten Vorfall in Frankfurt und auf diegrundsätzliche Frage des Einsatzes der Bundeswehr imInnern eingehen. Mein Standpunkt ist nach wie vor, dassdie verfassungsrechtlichen Grundlagen, wie sie imGrundgesetz stehen, dafür ausreichen, dass das Militär da,wo es als Ultima Ratio notwendig ist, eingreifen kann. Ichhabe aber auch Verständnis dafür, dass einige Fragen imZusammenhang mit dem Air Policing auftreten, wie es soschön heißt. Deshalb hat das Innenministerium auch ge-meinsam mit dem Verteidigungsministerium und demVerkehrsministerium eine Arbeitsgruppe gegründet, diesich mit diesen Fragen beschäftigt.Lassen Sie uns doch diese Debatte ergebnisoffenführen. Wenn jeder mit fliegenden Fahnen in die Debattehineingeht und dort sein fest gefügtes Urteil durchsetzenwill, kommen wir kein Stück weiter. Sie wissen, dass wireine strikte Trennung zwischen polizeilicher und militäri-scher Tätigkeit wollen. Darüber gibt es, wie ich glaube– Herr Koschyk nickt –, im Grundsatz eigentlich keineMeinungsunterschiede.Bei dem konkreten Fall lag ein Abschuss völlig außer-halb dessen, was man in Betracht ziehen konnte. Übrigenshat sich Herr Kollege Bouffier nicht rechtswidrig verhal-ten, sondern aufgrund der bestehenden Verfassungslagevöllig korrekt gehandelt, als er sich an Herrn Struck ge-wandt und um Hilfe der Bundeswehr gebeten hat. Auchder Kollege Struck hat sich korrekt verhalten. In dieser Si-tuation wäre ein Abschuss das Dümmste gewesen, wasman hätte tun können. Man hatte die Hochhäuser jageräumt und wenn der Pilot mit der entführten Maschinein diese Häuser hineingeflogen wäre, hätte er nur sichselbst umgebracht. Wenn der Motorsegler aber abge-schossen worden wäre, hätte das einen unabsehbarenSchaden verursacht.Der Abschuss wäre also nicht das geeignete Mittel ge-wesen, auch aus polizeilicher Sicht nicht.
In einer anderen Situation könnte er vielleicht das letzteMittel sein. Man müsste einmal sehr genau überlegen, obes eine solche Situation geben könnte. Aber wir müssen– da wiederhole ich mich – eher versuchen, zu verhindern,dass Maschinen entführt werden.
Da ist noch einiges zu tun, auch vonseiten der Länder.Wer mir in diesem Zusammenhang Vorwürfe macht,liegt falsch, lieber Herr Koschyk. Wir haben den Ländernsogar im Vorgriff auf die EU-LuftsicherheitsverordnungEmpfehlungen gegeben, obwohl die Flugplätze der allge-meinen Luftfahrt in die Zuständigkeit der Länder fal-len. Das sage ich Ihnen nur, damit Sie uns nicht immerwieder den schwarzen Peter zuschieben.Ich bin dafür, dass wir die Dinge nüchtern diskutieren.Wenn Sie einen Gesprächswunsch haben, werde ich michdem nicht verweigern. Wir werden Sie auch in Kenntnisdarüber setzen, was die eingesetzte Arbeitsgruppe erar-beitet. Aber lassen Sie uns nicht an der falschen Stelle an-setzen und Bestrebungen wieder aufleben lassen, gegendie sich seinerzeit interessanterweise auch der KollegeRühe zu Recht gewehrt hat.
Damals hat Herr Schäuble eine allgemeine Öffnung desMilitärs für die polizeiliche Arbeit gefordert. Herr Rühehat das zu Recht abgelehnt und gesagt: Die Bundeswehrist mit ihren militärischen Aufgaben voll ausgelastet. Siewird sich auch in Zukunft auf diese Aufgaben konzentrie-ren. Zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischenArmee und Polizei sollte auch in Zukunft unterschiedenwerden. – Wie wahr, Herr Rühe! Dabei werden wir blei-ben, meine Damen und Herren.
– Dem sage ich dasselbe. Ich habe Ihnen doch berichtet,dass wir eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben.Es tut mir sehr Leid, dass ich meine Redezeit so aus-gedehnt habe. Die Fraktionsgeschäftsführer sind inzwi-schen in heller Aufregung.
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Ich gelobe Besserung und werde mir eine solche Über-ziehung der Redezeit nicht mehr erlauben, obwohl dasnach der Geschäftsordnung ja möglich ist.Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen, meineDamen und Herren: Dieses Thema ist viel zu ernst, alsdass es irgendeine Seite als taugliches Instrument für par-teipolitische Profilierung ansehen sollte. Das ist meinevolle Überzeugung.
Ich bin absolut gesprächsoffen. Lassen Sie uns diese Fra-gen so behandeln, dass wieder etwas an gemeinsamerVerantwortung der Demokraten für die Sicherheit derMenschen in Deutschland und außerhalb unseres Landesspürbar wird. Dann kommen wir einen Schritt voran. Wirsollten auf diese Weise eine konstruktive Debatte führen.Niemand sollte sich auf ein erhöhtes Podest stellen undbehaupten, er habe die Weisheit für alle Zeiten gepachtet.Das ist erfahrungsgemäß nie der Fall. Meine Bitte istwirklich, dass wir konstruktiv diskutieren und diese Fra-gen nicht für Polemik instrumentalisieren. Dafür taugtdieses Thema am allerwenigsten.Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Röttgen
das Wort.
Herr Minister Schily, ich melde mich zu Wort, weil ich
den Appell, den Sie am Ende Ihrer Rede ausgesprochen
haben, sehr ernst nehme. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede
an die Gemeinsamkeit der Demokraten appelliert. Dieser
Appell setzt sicherlich zunächst die Bereitschaft zur sach-
lichen Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der poli-
tischen Gegenseite voraus.
Am Ende einer langen Debatte möchte ich einen Punkt
nennen, auf den Sie mich konkret angesprochen haben
und der leider beispielhaft für eine Reihe von Fällen steht,
in denen Sie sich nicht sachgerecht mit unseren Vorschlä-
gen auseinander gesetzt haben. Ich will das am Beispiel
dieses Punktes ganz konkret nachweisen.
Wir haben vorgeschlagen – darauf haben Sie sich be-
zogen –, bei dringendem Tatverdacht zur Abwehr von ter-
roristischen Taten eine präventive Untersuchungshaft
einzuführen. Sie haben sich generell gegen dieses Instru-
ment gewandt und haben es der Sache nach als rechts-
staatswidrig bezeichnet, indem Sie von einer vorläufigen
Vollstreckung im Strafrecht gesprochen haben.
Ich möchte anregen, dass Sie sich § 112 a der Strafpro-
zessordnung ansehen. Sie werden dann feststellen, dass es
dieses Instrument, das Sie als solches für rechtsstaatswid-
rig halten, im geltenden Strafprozessrecht etwa zur Ab-
wehr von Sexualstraftaten und anderen schweren Verbre-
chen gibt. Dieses Instrument ist also geltendes Recht.
Wir sind der Auffassung, dass es bei konkretem Ver-
dacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung
und der Begehung terroristischer Straftaten wegen der
möglicherweise nicht absehbaren Dimension der drohen-
den Verbrechen gerechtfertigt ist, die präventive Untersu-
chungshaft auch in diesem Fall anzuwenden. Wie gesagt,
in anderen Fällen gibt es sie bereits. Dieses Instrument ist
in unserem Strafprozessrecht bekannt.
Wenn Sie sich und wenn sich Ihr Haus ernsthaft mit un-
serem Vorschlag auseinander gesetzt hätten, hätten Sie
diesen Vorwurf uns gegenüber nicht erhoben. Die Bereit-
schaft der Mehrheit, die Gesetze beschließen kann, sich
mit Argumenten der Gegenseite, also der Minderheit, aus-
einander zu setzen, ist sicherlich geboten, wenn wir die-
ses Thema in der von Ihnen beschriebenen Art und Weise
gemeinsam behandeln wollen. Um dies zu verdeutlichen,
habe ich mich zu Wort gemeldet.
Herr Kollege Röttgen, es ist gut, dass wir in diesemsachlichen Ton miteinander reden. Das begrüße ich.
– Sie müssen doch nicht gleich protestieren, wenn ich et-was Nettes sage, Herr Koschyk.
Wir müssen zwei Aspekte unterscheiden. Die Untersu-chungshaft dient in erster Linie der Sicherung des Verfah-rens. Dafür werden bestimmte Kriterien vorgegeben:Wenn Fluchtgefahr, zum Beispiel wegen der Höhe derdrohenden Strafe, oder wenn Verdunklungsgefahr be-steht, kann Untersuchungshaft angeordnet werden. Denanderen Gesichtspunkt, die polizeiliche Gefahrenabwehr,können Sie im Polizeirecht finden. In manchen Fällen solldie Haft Menschen daran hindern, sich an Straftaten zubeteiligen.Herr Kollege Röttgen, diese Unterscheidung solltenwir aufrechterhalten. Das ist geltendes Recht. Sie dürfendie Dinge nicht durcheinander bringen. Bei einer drohen-den Verurteilung liegt der Fall anders als beim Vorliegeneiner Wiederholungsgefahr. In diesem Fall spielt der Ab-wehrcharakter im Strafrecht eine Rolle. Natürlich gibt esda eine Schnittstelle.
– Ja, aber nur an der Stelle. Wenn Sie eine Wiederho-lungsgefahr befürchten, dann können Sie auf Grundlageder geltenden Vorschriften, wie Sie es selber gesagt ha-ben, entsprechend eingreifen.Ich biete Ihnen an, dass wir einmal ein gemeinsamesGespräch darüber führen. Staatssekretär Hartenbachscharrt schon mit den Hufen, weil auch er gerne in die De-batte eingreifen will. Ich mache Ihnen dieses Angebot, ob-wohl dieser Bereich mehr in die Zuständigkeit meinerBundesminister Otto Schily
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Bundesminister Otto Schilyehemaligen Staatssekretärin fällt. Sie ist eine sehr gute Ju-ristin; auch sie wird in dieser Frage gerne ihre Meinungmit Ihnen austauschen. Wenn wir das in dem Stil tun, indem Sie eben Ihre Kurzintervention gehalten haben, dannkommen wir ein Stück weiter.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach § 35 Abs. 2 der
Geschäftsordnung kann die Fraktion, die eine abwei-
chende Meinung vortragen lassen will, für einen ihrer
Redner eine entsprechende Redezeit verlangen, wenn ein
Mitglied der Bundesregierung länger als 20 Minuten ge-
sprochen hat. Herr Kollege Binninger, Sie haben jetzt die
Möglichkeit, 16 Minuten – Sie müssen natürlich nicht so
lange reden – zu sprechen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Eine spontane Rede von 16 Minuten wird Ihnen er-spart bleiben. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen,an das anzuknüpfen, was der Herr Innenminister zumSchluss gesagt hat. Er hat gesagt, das Thema der terroris-tischen Bedrohung sei viel zu ernst, als dass es sich fürparteipolitische Polemik eignen würde, und an die Ge-meinsamkeit der Demokraten appelliert. Das kann ichnur unterstützen. Nur waren davor etwa 28 Minuten IhrerRede – Herr Minister, die Kritik muss ich direkt anbrin-gen – genau das Gegenteil von Gemeinsamkeit der De-mokraten. Das war nur oberlehrerhaft. Auf unsere Posi-tion sind Sie mit keinem Wort eingegangen.Sie hatten mit Herrn Minister Bouffier Ihr Rederechtgetauscht, weil Sie ihm zuhören wollten. Damit hatte ichdie Hoffnung verbunden, dass Sie auf diesen sehr sach-lichen Vortrag von Herrn Bouffier – –
– Ich unternehme einen weiteren Versuch. Herr Bouffierhat, wie ich finde, das Problem des Bundeswehreinsatzesbei einem entführten Flugzeug in sehr sachlicher Weisebeleuchtet. Dazu haben Sie so gut wie nichts gesagt, nuram Schluss einige wenige Sätze.Ich habe selber 23 Jahre im Sicherheitsbereich gear-beitet. Wenn Sie in der Diskussion sagen, es sei ja alles ge-regelt, lassen Sie die Menschen, die im konkreten Mo-ment Verantwortung tragen, ganz allein, und das kannnicht sein. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, damitwir Handlungssicherheit für alle haben.
– Herr Schmidt, wir können uns nicht immer vorhalten,was wir Ende der 80er- oder Anfang der 90er-Jahre ent-schieden und wie wir die Situation bewertet haben. Wirsind uns doch einig – das wird aus den Beiträgen auch im-mer deutlich –, dass sich die Bedrohungslage nach dem11. September 2001 verändert hat. Das heißt, wir könnendie Bewertungen, die wir vorher vorgenommen haben,nicht mehr als Beleg für irgendwelche Fehlentscheidun-gen heranziehen.
Wenn wir in diesen Tagen das Land darauf vorbereiten,dass wir möglicherweise die ganze Bevölkerung gegenPocken impfen müssen, weil ein terroristischer Angriffdrohen könnte – ich formuliere es ganz vorsichtig, aberFrau Schmidt bereitet ja die Bevölkerung darauf vor –,kann man, glaube ich, nicht von Popanz sprechen. Wennwir damit rechnen müssen, dass leider auch Flugzeugeentführt und in so genannte weiche Ziele gelenkt werdenkönnen, ist das kein Popanz, Herr Schmidt. Damit müssenwir uns auseinander setzen.
Ich will ganz konkret noch einmal auf die vier Punkteeingehen, die der Kollege Bosbach in der ersten Rede zuunserem Antrag angesprochen hat. Er hat etwas gesagt zurRegelanfrage beim Verfassungsschutz vor der Einbürge-rung, zur Kronzeugenregelung, zur Verdachtsausweisungbei Terrorismusverdacht und zum Einsatz der Bundeswehr.Herr Minister Schily, Sie haben gestern eine extremis-tische Organisation völlig zu Recht verboten und auchganz klar die Konsequenzen aufgezeigt. Das unterstützenwir, wie wir ja auch vieles andere unterstützen. Man solltenicht vergessen, dass wir uns in vielen Bereichen einigsind. Der Unterschied besteht darin, dass wir sagen: Wirmüssen noch mehr tun. An bestimmten Stellen hören Siezu früh auf.Ich weiß nicht, meine Damen und Herren von der SPDund von den Grünen, warum Sie sich so schwer tun, Per-sonen auszuweisen, die nachweislich terroristische Be-strebungen unterstützen.
– Danke, Herr Ströbele. – Ich nehme das Beispiel von ges-tern. Die Organisation, die der Herr Innenminister verbo-ten hat, führt – so war es zumindest gestern Abend denMedien zu entnehmen und so ist es zu lesen – auf IhrerWebsite die Fatwa von Bin Laden und al-Quaida aus 1998auf. Ich will sie gar nicht zitieren, weil sie wirklich wi-derwärtig ist. Gegen diese Gruppe gehört vorgegangen.Die Vereinigung ist nun verboten, aber die Funktionäresitzen noch hier. Wir sagen, auch solche Funktionäre müs-sen abgeschoben werden. Warum tun Sie sich da soschwer? Das verstehe ich nicht.
– Herr Schmidt, es wäre ja schon ein Ansatz, wenn es nuran der Zeit liegt. Damit kommen Sie uns entgegen.
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Wir müssen auch darüber sprechen, was wir mit denFunktionären von solchen extremistischen Organisatio-nen tun. Aus dem Verfassungsschutzbericht wissen wir– auch das ist eine Zahl, die uns zu denken geben sollte –,dass es in Deutschland etwa 60 000 ausländische Extre-misten gibt. Die Mehrzahl davon sind islamistischeExtremisten. Erzählen Sie einmal der deutschen Bevöl-kerung, warum wir nicht mit allen zur Verfügung ste-henden Mitteln gegen diese Personen, die bereits hiersind, vorgehen! Das können wir uns auf Dauer nicht leis-ten.
Herr Minister Schily, Sie haben eine sachliche Ausei-nandersetzung angemahnt. Genau das haben wir heuteversucht. Da es in der heutigen Debatte – warum auch im-mer – offensichtlich nicht möglich war, sich mit unserenPunkten auseinander zu setzen, ist meine Bitte, dass wiruns im Ausschuss ausführlich über dieses Thema unter-halten. Wir sollten einfach einmal das Pro und Kontra ab-wägen.Wir sind uns doch einig darin, dass wir die deutscheBevölkerung vor terroristischen Anschlägen, wie sie am11. September 2001 passiert sind, schützen müssen. Eskann doch nicht so schwer sein, über all die Maßnahmen,die in diesem Zusammenhang notwendig wären, zu dis-kutieren. Man sollte nicht immer von vornherein sagen– genau das haben Sie heute getan –: All das, was dieCDU/CSU empfiehlt, kommt aus der Mottenkiste. Daswollen wir nicht; das ist Wahlkampf. – Das ist keineAuseinandersetzung, wie ich sie hier im Parlament er-warte.
Ich möchte mit einem Appell schließen.
– Vielen Dank.
Wir alle – Herr Beck, ich möchte Sie ausnahmsweisekurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten –, die wir hier sitzen,tragen die Verantwortung für unser Land. Wir haben allesdafür zu tun, dass sich bei uns keine Terroranschläge er-eignen. Wir haben alles dafür zu tun, dass es gelingt, un-sere Bevölkerung davor zu schützen. Wenn wir das ernstmeinen, dann sollten wir auch bereit sein, über das Pround Kontra eines jeden Vorschlages zu diskutieren. WennSie hinterher die besseren Argumente haben, dannschließen wir uns Ihnen an. Das haben wir auch bei denSicherheitspaketen getan.
Wir haben uns Ihnen angeschlossen. Den Anspruch aber,dass wir Ihnen immer Recht geben und dass all das, waswir vorschlagen, falsch ist, sollten Sie nicht haben.
Eine entscheidende Weichenstellung wird sein: DieMenschen in unserem Land zu schützen, das werden wirnur dann erreichen, wenn wir vorbeugend handeln. Wol-len Sie warten, bis wieder etwas passiert? Deshalb müs-sen wir über alle Eventualitäten nachdenken. – HerrSchmidt, da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln.
– Herr Schmidt, ich habe gerade gesagt, dass wir für alleMenschen in unserem Land die Verantwortung haben, sievor terroristischen Anschlägen zu schützen. Wenn Sie dasals Unsinn bezeichnen, dann ist das zwar Ihre Meinung.Aber die ist bedenklich.
Wenn Sie den Schutz der Bevölkerung als Unsinn be-zeichnen, ist das bedenklich.
Wenn Sie jemandem vor dem 11. September
– zwei Sätze noch, dann haben Sie es überstanden –
gesagt hätten, es passiere ein Terroranschlag in der Form,dass Flugzeuge in das World Trade Center gelenkt wer-den, hätte jeder gesagt: Das ist Unsinn; das ist Popanz.Heute wissen wir, dass wir leider jeden Anschlag für mög-lich halten müssen. Deshalb haben wir alle zusammen diePflicht, alles dafür zu tun, um solche Anschläge zu ver-hindern.Vielen Dank.
Weitere Redemeldungen liegen nicht vor.Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/218 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowiedie Zusatzpunkte 2 und 3 auf:18. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbauvon Steuervergünstigungen und Ausnahmerege-
– Drucksachen 15/287, 15/312 –Clemens Binninger
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerÜberweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
Beratungskapazität Technikfolgenabschätzungbeim Deutschen Bundestag – ein Erfahrungs-bericht– Drucksache 14/9919 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftVerteidigungsausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Kultur und Medienc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting,Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP sowie der Abgeordneten UlrichAdam, Ilse Aigner, Dietrich Austermann, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUTransatlantische Beziehungen stärken – Pots-dam Center fördern– Drucksache 15/194 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten DirkFischer , Eduard Oswald, GeorgBrunnhuber, weiteren Abgeordneten und derFraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Errichtung einer Bundesfern-straßenfinanzierungs- und Managementgesell-
– Drucksache 15/299 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
HaushaltsausschussZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten RainerFunke, Daniel Bahr , Rainer Brüderle,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDPeingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzeszur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
– Drucksache 15/313 –Überweisungsvorschlag:InnenausschussEs handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/287soll – abweichend von der ursprünglichen Tagesordnung –nicht an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re-aktorsicherheit überwiesen werden. Zu dem Gesetzent-wurf liegt inzwischen auf Drucksache 15/312 die Ge-genäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahmedes Bundesrates vor, die wie der Gesetzentwurf überwie-sen werden soll. Sind Sie einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 a auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 18. Februar 2002zwischen der Regierung der BundesrepublikDeutschland und der Regierung der RepublikPolen über die Zusammenarbeit der Polizei-behörden und der Grenzschutzbehörden inden Grenzgebieten– Drucksache 15/11 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 15/240 –Berichterstattung:Abgeordnete Tobias MarholdGünter BaumannDr. Max StadlerSilke Stokar von NeufornEs handelt sich um die Beschlussfassung zu einer Vor-lage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschussempfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.Damit kommen wir zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Stimmt jemand dagegen? – Enthaltungen? – Das ist nichtder Fall. Der Gesetzentwurf ist damit auch in der drittenLesung einstimmig angenommen worden.
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Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowieZusatzpunkt 4 auf:6. Wahlen zu Gremiena) Programmbeirat
beim Bundesministerium der Finanzen– Drucksache 15/206 –b) Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Ge-setzes– Drucksache 15/303 –ZP 4 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, derCDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NENWahl der vom Deutschen Bundestag zu entsen-denden Mitglieder des Kuratoriums der Stif-tung „Haus derGeschichte der BundesrepublikDeutschland“– Drucksache 15/304 –Ich weise darauf hin, dass diese Wahlen mittels Hand-zeichen durchgeführt werden.Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Programm-beirats beim Bundesministerium der Finanzen. Dazu liegtein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP aufDrucksache 15/206 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvor-schlag? – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltun-gen? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommenworden.Wir kommen zur Nachwahl von Mitgliedern des Bei-rats nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Dazu liegtein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/303 vor.Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmender Regierungskoalition und der Fraktion der CDU/CSUbei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen worden.Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Kuratoriumsder Stiftung „Haus der Geschichte der BundesrepublikDeutschland“. Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktio-nen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/DieGrünen auf Drucksache 15/304 vor. Wer stimmt für die-sen Wahlvorschlag? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Auch dieser Wahlvorschlag ist mit den Stim-men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSUangenommen worden; die FDP hat sich enthalten.Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungStraßenbaubericht 2001– Drucksache 14/8754 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusNach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-spruch dagegen höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dieAbgeordnete Petra Weis. Da es ihre erste Rede hier ist,warten wir, bis Ruhe eingekehrt ist.Sie haben das Wort, Frau Kollegin.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Beidem uns vorliegenden Straßenbaubericht 2001 handelt essich wie bei seinen Vorgängern um eine überaus umfas-sende Darstellung der aktuellen Entwicklungen und Rah-menbedingungen in Sachen Fernstraßenbau, der sicher-lich eine ausführlichere Würdigung verdient hätte, als esim Rahmen unserer heutigen Debatte oder schon gar imRahmen meines Beitrages möglich ist. Ich will deswegensofort zur Sache kommen.Der Bericht konfrontiert uns gleich auf der zweitenTextseite mit der politischen Herausforderung, vor der wirbei diesem Thema stehen. Die Zahlen zur Verkehrsent-wicklung auf den Bundesfernstraßen zeigen nämlich – ichzitiere den Bericht – „erstmalig eine Stagnation der mitt-leren Verkehrsstärken auf den Bundesautobahnen sowieleichte Abnahmen auf den Bundesstraßen, ein Effekt, dersich auch dämpfend auf die Entwicklung der Jahresfahr-leistungen ... ausgewirkt hat“.Wer daraus voreilig den Schluss ziehen wollte, dass esim Hinblick auf dieses Thema Zeit zur Entspannung oderzum Durchatmen sei, wird allerdings noch im selben Ab-satz aller Illusionen beraubt; denn es heißt dort weiter:Die seit langem beobachtete Konzentration desStraßenverkehrs auf den Autobahnen blieb davonunberührt.Weiter heißt es sinngemäß: Die verkehrliche Bedeutungder Bundesfernstraßen besteht nach wie vor in ihren über-proportional hohen Anteilen an den Verkehrsleistungenim Straßenverkehr. Ich füge hinzu: Das gilt vor allem imHinblick auf den Güterverkehr.Ungeachtet des Realitätsgehalts aller Prognosen undSzenarien werden wir uns also auch in Zukunft daraufeinstellen müssen, unser Augenmerk darauf zu richten,das Fernstraßennetz – zumindest bis auf Weiteres – alsRückgrat der Verkehrsinfrastruktur in der Bundesrepublikzu begreifen und dafür zu sorgen, dass es in den kom-menden Jahren nachhaltig funktionsfähig bleibt und – sofüge ich hinzu – dort wieder funktionsfähig wird, wo es inden letzten Jahrzehnten – ich sage bewusst „Jahrzehnte“und nicht „Jahre“ – gelitten hat.
Obwohl wir in der Verkehrspolitik über den nach wievor größten Investitionshaushalt reden, gehört es meinesErachtens zur Wahrheit und zur Klarheit, festzuhalten, dassdie Bäume auch hier nicht in den Himmel wachsen. Neubau,Betrieb, Erhaltung und Modernisierung unserer Straßenkonkurrieren um begrenzte Haushaltsmittel. Insofern ist esVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Petra Weisvon ganz besonderer Bedeutung, welche politischenSchwerpunkte wir setzen.Es ist zweifellos eine Binsenweisheit, dass wir denStraßenbau nicht unbegrenzt ausdehnen können, sondernalles daran setzen müssen, die Verkehrsprobleme unseresLandes zu lösen, und zwar am besten dadurch, dass wirdie bestehenden Systeme effizienter und sicherer machen.Die Erhaltung und die Modernisierung des bestehendenStraßennetzes ist – das möchte ich an dieser Stelle ganzausdrücklich betonen – für uns weit mehr als eine Ver-waltungsaufgabe, die allein deshalb nicht mit mehr Herz-blut betrieben werde, weil sie den politisch Verantwortli-chen so wenig Möglichkeiten biete, Spatenstiche oderandere publikumswirksame Eröffnungen zu zelebrieren,wie es der BUND neulich in einem Text vermutet hat. DasGegenteil ist der Fall: Neben den notwendigen Mitteln fürNeubau und Erweiterung der Bundesfernstraßen müssenwir die ebenso notwendigen Mittel für die Erhaltung undModernisierung des bestehenden Netzes aufbringen.Der Straßenbaubericht 2001 erfüllt im Grunde genom-men zwei Funktionen: Er markiert auf der einen Seite eineLeistungsbilanz der Bundesregierung im Straßenbau undist auf der anderen Seite gewissermaßen unser Lehrplanfür das laufende Jahr und die kommenden Jahre. So er-läutert er beispielsweise die Grundlagen für die im Gangbefindliche Überarbeitung des Bundesverkehrswege-plans, der uns in der kommenden Zeit noch ausführlichbeschäftigen wird. Er beschreibt nachdrücklich die Not-wendigkeit und die Vorzüge der Einführung der strecken-bezogenen LKW-Maut. Beide Themen bieten uns in derFolgezeit, wie ich denke, noch ausreichend Gelegenheitzum Austausch von Meinungen oder auch zu Kontrover-sen. Daher will ich es an dieser Stelle bei zwei ganz kur-zen Anmerkungen bewenden lassen.Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wirden Straßenbau auf drei Schwerpunkte konzentrieren: ers-tens auf die gezielte Engpassbeseitigung sowie die not-wendige Sanierung des bestehenden Straßennetzes, zwei-tens auf den beschleunigten Bau von Ortsumgehungen,um die Sicherheit und die Lebensqualität der Anwohne-rinnen und Anwohner zu erhöhen und den Verkehrsflussauf den Bundesstraßen zu verbessern, und drittens, abernicht zuletzt, auf den weiteren gezielten Ausbau der Ver-kehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern.Mit der LKW-Maut und dem daraus zu finanzierendenAnti-Stau-Programm werden wir noch in diesem Jahrweitere Akzente zur Entlastung vor allem der Bundesau-tobahnen setzen. Diese Entlastung muss in Zukunft einesunserer vordringlichsten Ziele sein.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesfern-straßenbau in der Bundesrepublik ist kein Stiefkind derVerkehrspolitik dieser Koalition, wie gelegentlich be-hauptet wird.
Gegen diese Annahme spricht nicht nur die Tatsache, dassdie Bundesregierung in den letzten vier Jahren die Aus-gaben im Straßenbau auf ein bis dahin nicht erreichtes Ni-veau geschraubt hat, sondern auch der Realisierungsgradder einzelnen Projekte, die der Straßenbaubericht anführt.Ich will nur einige wenige Beispiele nennen: Bei derAutobahnerweiterung auf sechs und mehr Fahrspurenwurde das Längenziel vollständig erreicht. Dass hieranvorrangig finanzierte Abschnitte der Verkehrsprojekte„Deutsche Einheit“ einen außerordentlich hohen Anteilhaben, ist weit mehr als nur ein politisches Symbol.
Beim Autobahn- und Bundesstraßenneubau spricht derStraßenbaubericht von, wie ich meine, beachtlichen Fer-tigstellungsgraden von 90 bzw. 87 Prozent. Schließlichwurde beim Bau von Ortsumgehungen im Zuge von Bun-desstraßen ein Erfüllungsgrad von 82 Prozent erreicht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesfern-straßenbau ordnet sich in ein verkehrspolitisches Gesamt-konzept ein, das vom Leitbild einer nachhaltigen Ent-wicklung als der sicherlich wichtigsten Antwort auf diegegenwärtigen Herausforderungen bestimmt wird und– das ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig –das die Bedeutung der Mobilität für nahezu alle Bereicheunserer Gesellschaft anerkennt. Es sucht nach Wegen, un-ser aller Mobilitätsbedürfnis, das sich im privaten wie imöffentlichen Straßenverkehr auf letztlich unverändert ho-hem Niveau ausdrückt, mit einem verantwortungsvollenRessourcenumgang zu kombinieren.Ich möchte in diesem Zusammenhang kurz auf ein De-tail des Straßenbauberichts eingehen, indem ich auf das„verkehrstechnische Konzept der Zuflussregelung zurVerbesserung des Verkehrsablaufes auf ausgewähltenBundesautobahnabschnitten“ zu sprechen komme. Ichgebe zu, dieser Titel ist auch mir ein wenig lang und kom-pliziert, deswegen habe ich ihn abgelesen. Es handelt sichhierbei um eine der intelligentesten Problemlösungen hin-sichtlich der Verkehrslenkung in Ballungsgebietenüberhaupt. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versi-chern, dass die dargestellten erheblichen Verbesserungenauf der A 40, also dem Ruhrschnellweg zwischen Duis-burg und Dortmund, auf der ganzen Linie eingetroffensind und – lassen Sie mich dies durchaus eingestehen –dass ich es mir als regelmäßige Nutzerin dieser wirklichviel befahrenen Autobahnstrecke im Leben nicht hätteträumen lassen, dass es mir eines Tages wieder Spaß ma-chen wird, diese Strecke zu befahren, die ich jahrzehnte-lang gemieden habe wie der Teufel das Weihwasser.Zum Schluss lassen Sie mich noch auf ein Thema desBerichtes zu sprechen kommen, das die Verkehrspolitikim Allgemeinen und die Straßenverkehrspolitik im Be-sonderen in den kommenden Jahren erheblich beeinflus-sen dürfte: Durch die Osterweiterung der EuropäischenUnion wird sich der Verkehr auf der Ost-West-Relationverstärken. Angesichts der historischen Größe diesesSchrittes bin ich allerdings geneigt zu sagen: Dies ist si-cherlich auch gut so. Dieser Prozess muss allerdings fürDeutschland als Transitland weit reichende Konsequen-zen nach sich ziehen. Angesichts der Kürze der Zeitmöchte ich es aber bei dem allgemeinen Appell bewendenlassen, dass wir uns weiterhin mit großer Intensität amProzess des Auf- und Ausbaus einer passgenauen Ver-kehrsinfrastruktur in der Europäischen Union beteiligenmüssen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 1503
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Sie nichtwundern, wenn ich sage, dass auch der Straßenbaube-richt 2001 eine zuverlässige und wertvolle Grundlage fürdie Verkehrsplanung ist, denn er vermittelt uns eine ehrli-che und realistische Bestandsaufnahme der vor uns lie-genden Probleme, die zu lösen wir in der Lage sein müs-sen, wenn wir den Lebens- und WirtschaftsstandortDeutschland zukunftsgerecht weiterentwickeln wollen.Aus meiner Sicht macht der Bericht eines ganz deut-lich: Wir sind auf dem Weg zu einer integrierten Ge-samtverkehrsplanung, die dazu beitragen kann, ja, dazubeitragen muss, ein zukunftsfähiges Mobilitätssystemaufzubauen, das den vielfältigen Ansprüchen in ökonomi-scher, ökologischer, sozialer und soziokultureller Hin-sicht gerecht wird. Ich weiß, dass dies ein hoher Anspruchist, aber wer sagt denn, dass wir uns – auch in der Straßen-baupolitik – keine ehrgeizigen Ziel mehr setzen könnenund sollen?Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Liebe Frau Kollegin Weis, ich möchte Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Sie
zeigten nicht nur große Kompetenz, sondern Sie sind auch
auf die Sekunde genau in der Zeit geblieben. Dies schaf-
fen die allerwenigsten.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Blank.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! KolleginWeis, lassen Sie mich einige Worte zu Ihrer Rede sagen:Natürlich kann Straßenbau nicht unbegrenzt stattfinden,aber wir unterhalten uns eigentlich über den Anbau vondritten Streifen auf den Autobahnen. Für die neuen Bun-desländer geht es vor allen Dingen darum, überhaupt erstVerkehrswege zu schaffen. Diese brauchen nämlich denVerkehrswegebau dringend,
auch damit dort Arbeitsplätze entstehen können und es zuWirtschaftswachstum kommen kann.Natürlich kritisieren wir den falschen Einsatz derMittel durch die LKW-Maut. Sie können nicht auf dereinen Seite den LKW im Straßenverkehr so belasten,dass viele Speditionen ausflaggen und sich in anderenLändern niederlassen, auf der anderen Seite aber dieMittel aus der LKW-Maut nicht in den Straßenverkehrfließen lassen. Sie verteilen diese Mittel auf Straße,Schiene und Wasser. Dies ist aus unserer Sicht derfalsche Weg.
Noch ein Wort zu Ihren Ausführungen bezüglich derMittel im Straßenbau: Ich kann Ihnen nachweisen – dieZahlen belegen dies –, dass die Ausgaben für denStraßenbau bis zum Jahr 2000 kontinuierlich gesenktwurden. Noch in den Jahren 1998 und 1999 beliefen sichdie Mittel für den Straßenbau auf etwa 8,6Milliarden DM.Ich habe das jetzt aus dem Gedächtnis genannt, weil ichden Zettel, auf dem die Zahlen stehen, an meinem Platzliegen gelassen habe; ich kann Ihnen die genauen Zahlenaber gerne nachreichen. Sie haben diese Mittel imJahr 2000 – wir unterhalten uns ja über den Straßenbau-bericht 2001, dessen Berichtszeitraum das Jahr 2000 ist –auf 8,1 Milliarden DM reduziert. Es ist also effektiv we-niger Geld für den Straßenbau ausgegeben worden als zuunseren Zeiten.
Ich bedauere sehr, dass Minister Stolpe heute nichtanwesend ist. Ihn persönlich kann ich natürlich nicht fürdie miserable Verkehrspolitik der letzten vier Jahre ver-antwortlich machen. Kollegin Mertens, Sie aber kannich nicht aus der Verantwortung hierfür entlassen. Dasgilt auch für die drei Vorgänger des Ministers, nämlichfür Herrn Müntefering, Herrn Klimmt und HerrnBodewig, die Verwirrung in die Infrastrukturplanung ge-bracht haben, aber leider keinen Pfennig – damals gab esja noch den Pfennig – mehr für den Straßenbau erwirkthaben.Ich spreche auch deshalb von Verwirrung, Frau Staats-sekretärin, weil uns weder der Bundesverkehrswegeplan,der für das Jahr 1999 versprochen worden ist, noch einFernstraßenausbaugesetz noch ein Fünfjahresplan vorge-legt wurde; es gab nur Programme über Programme, mitdenen die Kürzung der Straßenbaumittel verschleiert wer-den sollte.Das Investitionsprogramm, das Planungssicherheitbringen sollte, ist Ende 2002 ausgelaufen. Erst bis weitüber das Jahr 2010 hinaus hätten alle darin enthaltenenMaßnahmen abgearbeitet werden können. Alleine dieszeigt, dass das Investitionsprogramm falsch angelegtwar.Das Anti-Stau-Programm aus dem Jahr 2000 war ei-gentlich eine Wahlkampfhilfe für Nordrhein-Westfalen,
vor allen Dingen, da jeder wusste, dass es erst ab demJahr 2003 gültig werden konnte. Mit diesem Anti-Stau-Programm, das auf die Einnahmen aus der LKW-Maut an-gewiesen ist, konnte bisher noch kein Meter Straße reali-siert werden; denn Sie waren nicht in der Lage, dieLKW-Maut rechtzeitig einzuführen.
– Auch die Umstellung von der zeit- auf die streckenbe-zogene LKW-Maut, Frau Kollegin Weis, lässt auf sichwarten. Wahrscheinlich wäre es schneller gegangen– vielleicht sind wir uns darin einig –, wenn das Parlamentbeteiligt worden wäre. So trägt alleine die Bundesregie-rung die Verantwortung für die Verzögerung.
Petra Weis
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Renate BlankMan hätte das Parlament damit befassen können. Ichglaube, wir hätten das schneller und geschickter gelöst.
Die Gelder aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm,gültig für die Jahre 2001 bis 2003, sollten insbesonderefür den Bau von Ortsumgehungen eingesetzt werden.Wie wichtig das ist – Frau Kollegin Weis, auch Sie habendas erwähnt –, zeigt der Straßenbaubericht auf. Darinsteht, dass bei Ortsumgehungen der geringste Erfüllungs-grad erreicht wurde. Es ist also wichtig, Ortsumgehungenzu bauen. Ich bin froh, dass auch Sie heute darauf hinge-wiesen haben; denn unsere ständigen Hinweise, dass Orts-umgehungen Menschen- und Umweltschutz sind, fruch-ten jetzt hoffentlich und werden hoffentlich von Ihnenernst genommen.Das Maßnahmenpaket „Bauen jetzt – Investitionen be-schleunigen“ versucht, private Finanzmittel für denStraßenbau zu aktivieren. Früher wurde diese Art der Fi-nanzierung zwar massiv bekämpft, doch grundsätzlichwäre das ein richtiger und wichtiger Schritt. Denn demStraßenbaubericht ist eindeutig zu entnehmen – das könnenSie alle nachlesen –, dass die privaten Vorfinanzierungs-modelle, immerhin 27 Projekte, rasch verwirklicht werdenkonnten. Planung und Bau gingen sehr rasch vonstatten.
Ob allerdings Ihr Konzept der geplanten Verkehrsinfra-strukturfinanzierungsgesellschaft richtig ist, wird sichzeigen. Wir jedenfalls stellen uns diese Gesellschaft an-ders vor und werden dazu einen eigenen Antrag einbrin-gen.Kollege Schmidt, Sie haben in den Anträgen bis 1998immer gefordert – ich hoffe, Sie haben ein gutes Ge-dächtnis und erinnern sich daran –, die Refinanzierungs-kosten für Konzessionsmodelle aus dem allgemeinenHaushalt und nicht aus dem Verkehrshaushalt zu finan-zieren, damit der Verkehrshaushalt auf Dauer nicht belas-tet wird. Sie haben Ihre Meinung anscheinend geändert;denn als wir Ihren Antrag im Jahre 1999 übernommen ha-ben, um den Verkehrshaushalt zu entlasten und die Refi-nanzierungskosten im allgemeinen Haushalt zu veran-schlagen, haben Sie unseren Antrag abgelehnt. Ich bitteSie, einmal darüber nachzudenken, ob nicht die Möglich-keit besteht, dass das Geld aus dem allgemeinen Haushaltgenommen wird. Ihre Idee war ja gar nicht so schlecht. Siesehen, wir haben sie aufgegriffen. Eine schnelle Realisie-rung von Verkehrsprojekten bedeutet auch einen volks-wirtschaftlichen Nutzen.
Das ist eine wichtige Angelegenheit. Sie dürfen also aufIhre früheren Ideen und Vorschläge zurückgreifen.
Meine Damen und Herren, im Straßenbaubericht wirdauch über die neuen Bewertungskriterien zum Bundes-verkehrswegeplan berichtet. Was nützt uns aber das Wis-sen, dass bei den Verkehrsprognosen ein Schwerpunkt aufdas so genannte Integrationsszenario gelegt werden soll?Dabei handelt es sich um den Versuch, die ökonomischen,ökologischen und sozialen Anforderungen in Übereinstim-mung zu bringen und monetäre und nicht monetäre Bewer-tungsverfahren zukünftig zusammenzuführen. Ich wieder-hole: Was nützt uns das Wissen, wenn uns kein vomKabinett beschlossener Bundesverkehrswegeplan vorliegt?Auf die Kosten-Nutzen-Analyse der einzelnen Pro-jekte sind wir schon sehr gespannt, genauso wie darauf– Kollege Schmidt, ich schaue ganz besonders Sie an –,wie Sie den Konflikt zwischen dem notwendigen Straßen-bau, der ja auch von den rot-grün regierten Bundesländerngefordert wird, und grüner Ideologie lösen werden.
Eine neue Bewertungsmethode ist aus unserer Sichtfalsch, nämlich jene, die lediglich die volkswirtschaftli-chen und ökologischen Schäden, die durch den Verkehrentstehen, betrachtet. Der Verkehr bringt aber auch einenvolkswirtschaftlichen Nutzen. Seriöse Zahlen aus derWissenschaft beziffern diesen Nutzen auf das Doppelteder Kosten. Vor Jahren wurde ein verkehrlich bedingtervolkswirtschaftlicher Schaden von 200 Milliarden DMgenannt. Der Nutzen aus dem Straßenverkehr lag aberbeim Doppelten, also bei 400 Milliarden DM. Eine Be-wertungsmethode sollte also auch den volkswirtschaftli-chen Nutzen berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige An-merkungen zum Zustand der Bundesfernstraßen ma-chen. Die volle Gebrauchsfähigkeit nimmt insbesonderein den alten Bundesländern immer mehr ab. Die Schlag-löcher werden immer zahlreicher. Dabei denke ich vor al-len Dingen an das Land Baden-Württemberg und an eineganz bekannte und viel befahrene Strecke um Mannheim.Dort wird es sehr kritisch, wenn man mit mehr als60 Stundenkilometern fährt.Was ist zu tun? Die Bundesregierung muss für die In-standhaltung mehr Geld zur Verfügung stellen, damit wirnicht eines Tages vor einem total maroden Straßensystemstehen; denn der Substanzverlust schreitet immer mehrvoran. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, Mittel, diedie Bahn nicht verbauen kann, zu nutzen. Es wurdevon einem Betrag in Höhe von 2 Milliarden DM gespro-chen; im vergangenen Jahr waren es offiziell 151 Milli-onen Euro, wobei einige Mittel noch im Haushalt ver-steckt waren. Wir gehen davon aus, dass die DeutscheBahn AG im vergangenen Jahr rund 600 Millionen Euronicht verbauen konnte.
– Sitzen Sie noch im Aufsichtsrat der Deutschen BahnAG, Kollege Schmidt? Dann könnten Sie das nachher jaschriftlich belegen.
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Eine Möglichkeit bestünde also darin, Mittel, die dieBahn nicht verbauen kann, für Instandhaltungsmaßnah-men zu verwenden und nicht im Topf des Finanzministersverschwinden zu lassen.
– Sie dürfen das nachher aufklären. – Auf jeden Fall soll-ten die künftig anfallenden Mittel aus der LKW-Maut inden Straßenbau fließen, da sie ja auch aus dem Straßen-verkehr stammen, und nicht auf weitere Verkehrsträgeraufgeteilt werden.Leistungsfähige Verkehrswege sind die Grundvoraus-setzung für Wirtschaftswachstum. Deshalb ist eine leis-tungsfähige Infrastruktur für den Standort Deutschlandund auch für die Mobilität unserer Bürger ungemein wich-tig.Ich darf aus einem Interview zitieren, bei dem Minis-ter Stolpe ausgeführt hat:Nach meiner festen Überzeugung ist Mobilität eineHaupttriebkraft für gesellschaftliche Entwicklungund Fortschritt. Sie ist außerdem Ausdruck von Frei-heit! Mobilität ist ja auch ein Element der Revolutionim Osten gewesen.
Ich kann ihm nur zustimmen. Aufgrund dieser Aussagefordern wir Sie auf, mehr Geld für den Straßenbau zurVerfügung zu stellen. Es gibt in Deutschland baureife Pro-jekte mit einem Volumen von mehr als 2 Milliarden Euro,die Mehrzahl davon in Baden-Württemberg und Bayern,die mit höheren Finanzmitteln sofort in Angriff genom-m
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Er wird
sich an seiner Aussage, neben dem Aufbau Ost den Aus-
bau West nicht zu vergessen, messen lassen müssen. Wir
werden ihn nach einiger Zeit daran erinnern.
Minister Stolpe hat mit seinem Amtsantritt eine gute
Chance, von allen verwirrenden Programmen Abstand zu
nehmen und zur Klarheit und Wahrheit in der Verkehrs-
politik zurückzukehren. Er soll uns baldmöglichst einen
neuen stimmigen Bundesverkehrswegeplan vorlegen, der
als Bedarfsplan die dringend notwendigen Projekte ent-
hält. Ich erinnere auch an die Verkehrsprojekte Deutsche
Einheit, die zügig umgesetzt werden müssen. Der Bun-
desverkehrswegeplan muss auch das Thema EU-Ost-
erweiterung berücksichtigen; denn – das habe ich vorher
schon ausgeführt – die neuen Bundesländer brauchen
dringend Verkehrswege, damit dort Wirtschaftswachstum
entsteht.
I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nehmen Sie Ab-
schied von Programmen; denn diese haben nur eine be-
grenzte Wirksamkeit und ermöglichen keine gesicherte,
solide und langfristige Finanzplanung. Erteilen Sie der
einseitigen Verteilung der Mittel eine Absage. Kehren Sie
zur bewährten Aufteilung der Mittel im Rahmen der Län-
derquoten zurück, wodurch eine Benachteiligung Bay-
erns oder anderer Bundesländer vermieden wird. Legen
Sie auch in Zukunft Wert auf die Mitsprache der Länder
bei Festlegung einzelner Maßnahmen! Bisher wurde über
die Maßnahmen in den Programmen über die Köpfe der
Länder hinweg entschieden. Es kann nicht sein, dass die
Länder in einem Programm mit einer Maßnahme kon-
frontiert werden, die für sie nicht erste Priorität hat.
Am 6. August 1932 wurde mit der Kraftwagenstraße
Köln–Bonn die erste Autobahn Europas eingeweiht.
Diese Anfänge des Autobahnbaus in Deutschland waren
für die damalige Zeit hoch visionär. Gleiches gilt für den
Plan von 1927 für den Bau eines 22 500 Kilometer langen
Fernstraßennetzes. Heute gibt es in Deutschland rund
11 000 Kilometer Autobahn und 41 000 Kilometer Bun-
desstraßen. Übrigens begann der Autobahnbau in Deutsch-
land bereits in einer Zeit, in der das Auto in der Gesell-
schaft als individuelles Fortbewegungsmittel kaum
verbreitet war. Heute haben wir circa 44 Millionen PKW.
Sie sehen daran, wie visionär die Entscheidung aus dem
Jahr 1927 damals war.
Aus diesen Anfängen entwickelten sich die heutigen
Hauptschlagadern der Verkehrsinfrastruktur in Deutsch-
land. Auch heute sind wieder Visionen gefragt und Ideen
gefordert, um eine weiträumige Mobilität sicherzustellen
und Deutschland aus dem Stau herauszuführen. Wir, die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, helfen dem neuen Ver-
kehrsminister sehr gerne dabei, damit wieder Ordnung in
die deutsche Verkehrspolitik kommt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Frau Kollegin Blank, es freut mich zwar sehr,dass Sie sich so genau an unsere Anträge aus der Zeit vor1998 erinnern,
aber Ihre Darstellung des Themas Privatfinanzierung hatden Punkt nicht ganz getroffen.Ich will Ihnen noch einmal präzise in Erinnerung rufen,was wir an der privaten Vorfinanzierung von Straßen-bau immer wieder kritisiert haben und vor welchen Fol-gen wir gewarnt haben. Das ist in dem Straßenbau-bericht 2001 zu finden.Renate Blank
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Albert Schmidt
Wir haben Folgendes kritisiert: Weil die damalige Bun-desregierung nicht die Mittel hatte, noch mehr Straßen zubauen, hat sie diese Straßen privat vorfinanziert. Dabeiweiß jedes Kind – nur der damalige Bundesfinanzministerwollte es nicht wissen –, dass Straßen, die auf Pump ge-kauft werden – wie alles, was auf Pump gekauft wird –,letztlich teurer werden. Ein Rückkauf dieser Straßen zu-lasten der jetzigen Bundeshaushalte ist sehr viel teurer, alses bei einer Haushaltsfinanzierung der Fall gewesen wäre.Darauf bezog sich unsere Kritik. Deswegen haben wir1998 mit dem Beginn der rot-grünen Koalition diesesunmögliche Modell der privaten Vorfinanzierung vonStraßenbau gestoppt. Das ist auch gut so.
Ein Blick nach Baden-Württemberg – dort ist nämlichdie Hinterlassenschaft von Waigel und Wissmann amdeutlichsten zu besichtigen – zeigt, dass die Hauptbau-quote Baden-Württembergs zu einem großen Teil vonRückzahlungen für Straßen aufgefressen wird, die schonlängst in Betrieb sind. Dort rührt sich keine Schaufel undfährt kein einziger Bagger mehr. Damit wird kein einzigerArbeitsplatz gesichert. Obwohl die Straßen bereits vor-handen sind, verursachen sie immer höhere Kosten. Die-sen Fehler haben Sie gemacht.
Dieses Modell haben wir gestoppt und wir werden es auchin Zukunft nicht wieder beleben. Darin sind wir uns völ-lig treu geblieben: Was vor 1998 richtig war, haben wirnach 1998 umgesetzt.Es gibt übrigens noch eine zweite Hinterlassenschaft,verehrte Frau Kollegin, die Sie auch angesprochen haben;auch dafür ist Baden-Württemberg ein Musterbeispiel:die Vorratsplanung. Sie haben nämlich im Bundesver-kehrswegeplan Straßen noch und noch in den vordring-lichen Bedarf hineingeschrieben.
Damit haben Sie eine Planungstätigkeit der Straßenbau-behörden ausgelöst, die wie die Weltmeister planen. AberSie haben nicht die erforderlichen Mittel zur Verfügunggestellt, sodass derzeit baureife Projekte in Milliarden-höhe in den Schubladen vergammeln. Planfeststellungs-beschlüsse verfallen und können nicht umgesetzt werden,weil Sie eine unsittliche Vorratsplanung betrieben haben.
Auch dies werden wir mit dem neuen Bundesverkehrs-wegeplan stoppen.
Lassen Sie mich nun aber zum Straßenbaubericht 2001im engeren Sinne kommen. Er weist aus, dass für die Bun-desfernstraßen im Jahr 2000 9,9 Milliarden DM aufge-wendet wurden, davon 8,2 Milliarden DM investiv. Siekönnen zwar einwenden, dass dieser Betrag um irgend-eine Zahl hinter dem Komma niedriger war als vielleichtein oder zwei Jahre vorher.
Aber der Unterschied zu Ihrer Investitionspolitik liegtdarin, dass wir nicht nur die Straße nicht vernachlässigthaben, sondern parallel dazu von Jahr zu Jahr schrittweisedie Schieneninvestitionen angehoben haben, die inzwi-schen auf demselben Niveau wie beim Straßenbau liegen.Das ist der Unterschied zwischen unserer und Ihrer Poli-tik: Wir behandeln alle Verkehrsträger von der Straße biszur Schiene gleich. Auch das war überfällig.
– Dieses Märchen wird nicht wahrer, wenn Sie es immerwieder wiederholen. Hätten Sie gestern den Parlamenta-rischen Abend der Parlamentsgruppe Schiene besucht,dann hätten Sie aus dem Munde des Vorstandsvorsitzen-den zum wiederholten Male gehört,
dass im vergangenen Jahr bis auf einen Rest von unter3 Prozent alle Mittel verausgabt worden sind.
Erzählen Sie deshalb nicht immer wieder dieses Märchen!Interessant ist es aber, einen Blick auf die Verteilungder Straßenbauinvestitionen zu werfen. Dabei ist festzu-stellen, dass die Erhaltungsinvestitionen, also die Auf-wendungen für den schieren Erhalt der Substanz, 4,4 Mil-liarden DM – das ist die Zahl für 2000 – und damit mehrals die Hälfte der Investitionen ausmachen. Das heißt,dass wir auch in Zukunft unser Augenmerk viel stärkerdarauf werden richten müssen, den Bestand eines derartdichten Netzes zu sichern und immer wieder zu erneuernund zu modernisieren. Das bedeutet im Klartext, dassnicht alle Wünsche nach Neu- und Ausbau in Erfüllunggehen können. Vielmehr müssen wir im Straßennetz, indem insbesondere die Ingenieurbauwerke, die Brückenund Tunnels, in ein kritisches Alter gekommen sind, vielhöhere Mittel für die Sanierung aufwenden. Auch das istein Stück Haushaltswahrheit und Planungsehrlichkeit, diewir mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan herstellenmüssen.Wir werden uns des Weiteren darauf einzustellen ha-ben, in viel stärkerem Maße auch Kompromisse undZwischenlösungen, zum Beispiel reduzierte Quer-schnitte, in den Blick zu nehmen. Es müssen nicht im-mer vier Spuren sein, sondern es kommen durchaus auchzwei Spuren mit einer Überholspur am Berg infrage. Wirmüssen wirtschaftlich darstellbare und bezahlbare Lö-sungen suchen. Wir müssen sogar Zwischenlösungen insAuge fassen, zum Beispiel die Freigabe eines StückesStandspur, wenn es aus Sicherheitsgründen möglich er-scheint, weil wir den Bau einer dritten Spur nicht sofortbezahlen können.
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Interessant ist es aber auch, in dem Straßenbauberichtnachzulesen, wie viel Geld wir inzwischen für den Schutzder Bevölkerung vor Verkehrslärm aufwenden. Die we-nigsten wissen, dass die Straßenbautitel nicht nur den rei-nen Straßenbau, sondern auch eine Menge Lärmvorsorgeund -sanierung enthalten. Im Jahr 2000 waren es 244 Mil-lionen DM. Für Naturschutz und Landschaftspflege, fürGrünflächen- und Biotoppflege sind im Zusammenhangmit Straßenbaumaßnahmen 440 Millionen DM aufge-wendet worden.Des Weiteren sind 74 Ortsumfahrungen ganz oder teil-weise in Betrieb genommen worden. Hier hat es sicher-lich im Einzelfall Konflikte vor Ort gegeben. Aber in vie-len Fällen bringen Ortsumfahrungen Entlastung für dieOrtskerne.Ich mache zum Schluss noch auf eine weitere interes-sante Zahl aufmerksam: Der Straßenbaubericht referiert,dass erstmals im Jahr 2000 die Verkehrsleistung aufDeutschlands Straßen stagnierend bis leicht rückläufigwar. Bezogen auf das gesamte Straßennetz waren es mi-nus 2,5 Prozent; Kollegin Petra Weis hat bereits daraufhingewiesen. Dies bedeutet, dass wir mit unseren Pro-gnosen eines immer währenden Verkehrswachstums vor-sichtig sein müssen. Im Gegenteil, wir haben zu registrie-ren, dass verkehrspolitische Rahmenbedingungen – zuihnen gehört beispielsweise die Ökosteuer – und die wirt-schaftliche Entwicklung das Verkehrsverhalten beeinflus-sen. Im selben Zeitraum ist nämlich die Leistung des öf-fentlichen Verkehrs in etwa derselben Größenordnunggewachsen.
Im Klartext heißt dies, dass Themen wie Verkehrsver-lagerung und -vermeidung zu einer vorausschauendenVerkehrspolitik gehören. Sie können sicher sein, dass wirin Zukunft beides tun werden: das Verkehrsnetz verkehrs-trägerübergreifend erneuern, modernisieren und in derSubstanz erhalten und zugleich die verkehrspolitischenRahmenbedingungen so setzen, dass der Verkehr umwelt-verträglich wird bzw. bleibt, die Menschen nicht mit Lärmund sonstigen Belastungen überzieht und auch die öffent-lichen Kassen schont; denn das Geld ist nicht beliebig ver-mehrbar, auch dann nicht, wenn die LKW-Maut kommenwird.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nur ein Satz zum Kollegen Schmidt: Die von ihm viel kri-tisierte Vorratsplanung im Straßenbau hat immerhin dazugeführt, dass im Gegensatz zur Schiene bei der Straßenoch nie Investitionsmittel an den Finanzminister zurück-gegeben werden mussten. Das Geld, das der Straßenbau-abteilung zur Verfügung stand, ist immer ausgegebenworden.
Im Hinblick auf den Straßenbaubericht 2001, der imWesentlichen die Bauleistungen des Jahres 2000 doku-mentiert, kann man nun trefflich darüber streiten, wermehr und wer weniger Recht gehabt hat. Damit die vor-liegenden 130 Seiten wirklich Sinn machen, sollte mansich mit zwei Aussagen befassen, die heute nur begrenztoder noch gar nicht angesprochen worden sind, aus mei-ner Sicht aber auf längere Sicht wichtig sind: der Zustanddes Straßennetzes und insbesondere der Brücken.Erstens. Wir werden uns langsam damit anfreundenmüssen, dass wir bei der Infrastruktur zu einer Zwei Drit-tel-ein Drittel-Gesellschaft werden. Schaut man sich aufSeite 9 den Gebrauchswert der Bundesstraßen an, wirdman feststellen, dass in Deutschland nur knapp 69 Prozentaller Fernstraßen uneingeschränkt gebrauchsfähig sind,während der Rest leicht eingeschränkt oder sogar schwereingeschränkt zu nutzen ist, was sich wahrscheinlich ir-gendwann einmal in der Verkehrssicherheit niederschla-gen wird.Der zweite kritische Punkt, den man ansprechen muss,ist der Zustand der Brücken.Nur knapp 34 Prozent allerBrückenbauwerke in Deutschland sind von ihrer Klassifi-zierung her noch in sehr gutem oder gutem Bauzustand.Der Rest ist in einem maximal befriedigendem Zustand;knapp 3 Prozent sind bereits in einem ungenügenden Bau-zustand.
Wer mit offenen Augen auf Deutschlands Fernstraßen un-terwegs ist, sieht vor Autobahnbrücken Geschwindig-keitsbegrenzungen, Abstandsvorschriften für LKWs undÄhnliches.Welche politischen Konsequenzen sind für die Zukunftdaraus zu ziehen? Über eine Konsequenz werden wir si-cherlich politisch streiten: In einer Zeit, in der der Auto-fahrer in Deutschland Abgaben in absoluter Rekordhöhezu tragen hat, ist es aus meiner Sicht nicht hinzunehmen,dass regelmäßig erklärt wird, dass etwas nicht mehr ge-baut werden könne, oder auf mangelnden Bauzustand vonBrücken oder Straßen ausschließlich damit reagiert wird,dass ein Verkehrsschild mit einer Geschwindigkeits-begrenzung wegen schlechten Fahrbahnzustandes aufge-stellt wird. Das kann, wie gesagt, auf Dauer nicht mehrhingenommen werden. Das ist der erste Punkt. Man musssich also Gedanken darüber machen, ob und wie man Fi-nanzierungsmechanismen konsequent umstellen kann.Das, was wir bisher über den Entwurf eines Gesetzes zur sogenannten Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftvon Rot-Grün gehört haben – darüber werden wir ja dem-nächst diskutieren –, ist nichts weiter als ein Deckmanteleiner ausgelagerten Abteilung des Verkehrsministeriums,Albert Schmidt
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Horst Friedrich
bei der GmbH dahinter steht. Im Endeffekt wird aber nurdas Geld verteilt, das der Finanzminister vorher freige-geben hat. Wir müssen aber eine echte Finanzierungsum-stellung mit einer Zweckbindung der Mittel vorneh-men, damit wir dem Autofahrer nichts mehr erklärenmüssen.Der Kollege Schmidt hat in seiner Rede auf einen Vor-trag von Herrn Mehdorn hingewiesen, den dieser gesternAbend bei der Parlamentsgruppe „Schienenverkehr“ ge-halten hat. Ich möchte das Thema „Verlagerung von derSchiene auf die Straße“ vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung nur kurz streifen. Die Kommission gehtdavon aus, dass der Verkehr insgesamt um 64 Prozent undauf der Straße sogar um 80 Prozent zunehmen wird. DieAntwort darauf lautet: Der Verkehr muss auf die Schiene!Herr Mehdorn hat gestern Abend relativ unverblümt er-klärt: Vergessen Sie die Schiene! Niemand im Osten denktdaran, auch nur einen Güterwagen zu beladen. Daskommt alles über die Straße. – Wenn das zu den Belas-tungen dazukommt, die wir bereits haben, dann könnenSie zwar jetzt konstatieren, dass im Jahr 2000 die Ver-kehrsleistungen zurückgegangen seien. Aber diese wer-den spätestens im Jahr 2004 in einem Umfang zunehmen,dem wir dann nicht mehr gewachsen sein werden und mitdem wir mit dem Geld, das derzeit im Haushalt zur Ver-fügung steht, überhaupt nicht mehr klarkommen werden.Das heißt, dass auch hier umgedacht werden muss. Daserfordert aus Ihrer Sicht unpopuläre Maßnahmen.Man muss darüber nachdenken, wie man die Einnah-meströme aus dem Verkehr, die schätzungsweise 120 Mil-liarden Euro betragen, besser in die Ausgabenströme um-lenken kann; denn bestenfalls 30 Milliarden bis35 Milliarden Euro bekommt man auf dieser Ebene ausden einzelnen Haushalten zurück. Das ist, glaube ich, aufDauer nicht ausreichend. Wenn das die Konsequenz ist,die wir aus dem Straßenbaubericht 2001 ziehen, dann ha-ben seine 130 Seiten Sinn gehabt. Ansonsten sollten wirihn zur Kenntnis nehmen; denn die Bauleistungen sind jabereits erbracht.Danke sehr.
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Angelika Mertens.
A
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Frau Blank, ich bin noch ein bisschen ratlos, wie ichauf Sie reagieren soll; denn Ihre Art der selektiven Wahr-nehmung ist sehr schwer zu kommentieren. Wenn es umIhre Vergangenheit als Verkehrspolitikerin geht, fallen Siepraktisch immer jungfräulich vom Himmel.
Ich möchte mich auf zwei Dinge beschränken. Daseine ist der Bundesverkehrswegeplan. Ich weiß nicht,wer Ihnen diesen für 1999 versprochen hat. Wir sind zwarziemlich gut, aber zaubern können wir nicht. Das andereist Folgendes: Sie wissen ganz genau, dass der alte Bun-desverkehrswegeplan gilt, bis der neue da ist. Wenn Siebehaupten, wir hätten eine Straße bauen lassen, die dasbetreffende Land gar nicht haben wollte, dann kann ichnur darauf hinweisen, dass sich dieses Land durchaushätte melden und sagen können: Diese Straße wollen wirnicht. Bitte nehmt sie zurück! Das ist aber nicht gesche-hen.
Eine Infrastruktur, zumal eine Verkehrsinfrastruktur,ist die Voraussetzung für das Funktionieren einer Volks-wirtschaft. Quantität und Qualität sagen einiges über denErfolg einer Volkswirtschaft aus. Obwohl wir heute überden Straßenbaubericht 2001 beraten, möchte ich deut-lich machen: Wer eine erfolgreiche Verkehrspolitik ma-chen will, muss eine integrierte Verkehrspolitik betreiben.Alle anderen Forderungen sind Anachronismen.
Forderungen nach außerordentlichen Verstärkungeneines Verkehrsträgers – das gilt übrigens gleichermaßenfür die Schienen- wie für die Straßenfreunde – sind ver-kehrspolitisches Mittelalter, um das einmal deutlich zu sa-gen. Mittelfristiges Ziel unserer Verkehrspolitik kann alsonur sein, die Stärken der einzelnen Verkehrsträger zu op-timieren, die Schwächen zu minimieren und eine Vernet-zung aller Verkehrsträger zu forcieren.Wir haben – um auf den Straßenbaubericht 2001zurückzukommen – seit 1971 den Auftrag, jedes Jahr Bi-lanz zu ziehen. Ich will die Aufmerksamkeit noch einmalauf die Seite 9 – Gebrauchswert der Fahrbahnen – undauf die Seite 10 – Zustandsbewertung der Brückenbau-werke – lenken. Herr Friedrich hat das schon sehr ein-drucksvoll geschildert und damit auch auf die Versäum-nisse der Vergangenheit hingewiesen, an denen ervielleicht gar nicht so unbeteiligt war.
Beide Abbildungen zeigen uns einen Handlungsbedarfim Bestand auf, dem wir in Zukunft nachkommen müs-sen. Allein die Bundesfernstraßen stellen ein Anlagever-mögen von – in altem Geld – 340 bis 350 Milliarden DMdar. Wer die Substanz bewahren will, muss kräftig in dieTasche greifen. Die Ausgabennotwendigkeit – das wissenwir schon heute – wird mit den Jahren stetig größer. Ichwerbe wirklich sehr dafür, dass wir das stärker als bishernach draußen vermitteln. Straßenbau ist eben nicht nurNeubau. Wir müssen den Gebrauchswert unserer Straßensteigern. Auch das zeigt die Abbildung auf Seite 9 sehrdeutlich.
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Herr Friedrich, ich will die Versäumnisse der Vergan-genheit überhaupt nicht groß kommentieren.
Jeder steht in der Situation, die Mark oder jetzt den Euronur einmal ausgeben zu können. Das war in Ihrer Zeit sound das ist auch in unserer Zeit so.An dieser Abbildung können wir die Probleme derneuen Länder sehr deutlich ablesen. Ein Straßennetz be-steht eben nicht nur aus Autobahnen. Deshalb – die Kol-legin Weis hat das auch schon gesagt – ist eine Konzen-tration der Mittel auf die Bereiche mit dem größtenNutzen, vor allem mit dem größten volkswirtschaftlichenNutzen, sehr hilfreich. Die Kollegin Weis hat die Engpas-sbeseitigung und die Ortsumgehung genannt. Ich will ei-nen dritten Schwerpunkt hinzufügen: die Zulaufstreckenzu den maritimen Standorten. Die Küstenländer sind inunserem Land traditionell strukturschwach. Die Häfenstellen deshalb einen wichtigen Wirtschaftszweig dar.
Was noch wichtiger ist und was viele Binnenländereinfach immer wieder vergessen, ist, dass die Wertschöp-fungsketten letztlich bis nach Passau, Stuttgart oder In-golstadt reichen. Sicherlich ist wichtig, wo ein Containerumgeschlagen wird; noch wichtiger ist, wo er beladenwird. Das Wichtigste ist, wie er von dort an die Nordseeoder an die Ostsee kommt. Ich denke da natürlich an dieHäfen in Mecklenburg-Vorpommern, in Schleswig-Hol-stein, in Niedersachsen, aber auch an Bremen, Bremerha-ven und natürlich nicht zuletzt an Hamburg. Die Anbin-dung muss besser werden als bisher. Auf der maritimenKonferenz in Rostock haben wir das ja auch beschlossen.Wir werden die Hinterlandanbindung für die Seehäfenrealisieren.Über die neuen Bundesländer ist bereits gesprochenworden. Die vordergründig gute Ausstattung mit neuenAutobahnen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wirin vielen Bereichen einen Zustand vorfinden, wie er schonvor der Vereinigung bestanden hat. Das gilt besonders fürdie Ortsumgehungen.Frau Weis hat schon etwas zu den Verkehrsbeeinflus-sungsanlagen gesagt. Ich werbe dafür, dass wir uns dasnoch einmal genauer ansehen. Wir haben in der Vergan-genheit eigentlich vornehmlich mit dem Sicherheits-aspekt argumentiert. Jetzt nutzen wir diese Verkehrs-beeinflussungsanlagen immer häufiger dazu, eineVerkehrslenkung und eine bessere Ausnutzung der In-frastruktur zu erzielen.Das hat zum Beispiel bei der A 40 dazu geführt, dassdie Zahl der Staus und Unfälle um 50 Prozent zurückge-gangen und die mittlere Geschwindigkeit um 10 km/h ge-stiegen ist, dass es eine bessere Ausnutzung der Autobahn-kapazität und keine Verschlechterung im nachgeordnetenNetz sowie – das finde ich sehr erstaunlich, weil es dortauch Ampelregelungen gibt – eine hohe Akzeptanz beiden Verkehrsteilnehmern gibt.Ein Fazit aus dem Straßenbaubericht ist, dass wir unsmit dem so genannten A-Modell, dem Betreibermodell,auf einen neuen Weg begeben haben, was, wie ich finde,fast überfällig war. Das gibt der Bauindustrie und den vie-len mittelständischen Betrieben die Möglichkeit, ihr Kön-nen zu beweisen und zu zeigen, dass sie so etwas bauenkönnen. Es gibt uns die Möglichkeit, schneller und preis-werter an Infrastruktur zu kommen. Das ist eine klassi-sche Win-Win-Situation.Von den Vorrednern, gerade aus der Koalition, istschon sehr viel gesagt worden. Ich will deshalb mit einemWort an die Opposition schließen – Sie haben dieses Ver-halten auch heute wieder gezeigt –: Opposition ist dieKunst, etwas zu versprechen, was die Regierung nichthalten kann. Das ist schon richtig. Die große Frage lautetallerdings: Was ist Kunst? Das Leben ist kurz, die Kunstist lang, die Gelegenheit ist flüchtig, der Versuch ist ge-fährlich und die Entscheidung ist schwer.
Ich schließe die Aussprache, die mit dem zutreffenden
Hinweis auf die Zusammenhänge zwischen Politik und
Kunst nicht zugunsten einer weiteren Aussprache über
das Kunstverständnis des Deutschen Bundestages verlän-
gert wird.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8754 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist ganz offenkundig der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP:
Eigenheimerwerb nicht erschweren – weitere
Belastungen für Beschäftigte und Betriebe der
Bauwirtschaft und für Familien vermeiden
– Drucksache 15/33 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. – Auch dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Eberhard
Otto, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Ak-tuellen Stunde am 7. November des vergangenen JahresParl. Staatssekretärin Angelika Mertens
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Eberhard Otto
hat sich der Deutsche Bundestag schon einmal mit derThematik Eigenheimzulage befasst. Die FDP hat seiner-zeit die verheerenden Auswirkungen für die Bau- undVolkswirtschaft dargelegt. Mehrere Wochen sind seitdemvergangen; aber die Bundesregierung hält trotz umfang-reicher Kritiken bezüglich der negativen Auswirkungenan ihren Vorhaben, die von der Baubranche als „Giftliste“bezeichnet werden, ungerührt fest.Allen hier Anwesenden dürfte bekannt sein, dassWohneigentum einer der wichtigsten Faktoren zur Stabi-lisierung von Staat und Gesellschaft ist. Es sichert undverbessert eine möglichst breite Streuung des Vermögensin privaten Händen, es sorgt für einen sicheren und wert-beständigen Vermögensstamm, es deckt einen Teil dernotwendigen privaten Altersvorsorge ab und es sichert einvielfältiges und marktgerechtes Wohnraumangebot.Selbst genutztes Wohneigentum ist eines der bedeutends-ten gesellschafts- und familienpolitischen Instrumente.Die rot-grüne Regierung ist jedoch weiter auf gutemWege, sowohl die letzten konjunkturellen Säulen in derBauwirtschaft systematisch zu zerstören als auch diesewichtige gesellschaftliche Aufgabe des Wohneigentumszu demontieren.
Die inzwischen in Kraft getretenen Gesetze waren dieersten Schritte in diese schlimme Richtung. Sie bedeutenfür die privaten Haushalte neben steigenden Rentenversi-cherungsbeiträgen weitere Belastungen, unter anderemwegen der Erhöhung der Mietnebenkosten, und für dieBauwirtschaft Investitionsausfälle, was den Abbau vonArbeitsplätzen mit sich bringt.Was die sich ständig verschlechternden Rahmenbedin-gungen und die daraus resultierende ständig schlechterwerdende Auftragslage für die Bau- und Wohnungswirt-schaft, insbesondere für den Sanierungsbereich, bedeu-ten, kann ich am eigenen Beispiel aufzeigen. Ich habe aufdiesem Gebiet in den 90er-Jahren, insbesondere bis 1997,in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 250 Arbeitsplätze ge-sichert. Leider habe ich aus den genannten Gründen dieAnzahl der Arbeitsplätze bis heute auf durchschnittlich 50– so viel sind es immerhin noch, wie ich betonen muss –reduzieren müssen.Die öffentliche und private Nachfrage nach Bauleis-tungen geht zurück, insbesondere in den ostdeutschenLändern. Die verheerenden Auswirkungen auf die Be-triebe der Bau- und Wohnungswirtschaft und ihre Arbeit-nehmer sind absehbar. Die Pläne der Koalition werdendurch sinkende Umsätze, ein geringeres Steueraufkom-men sowie durch die Zunahme der Arbeitslosigkeit weni-ger Sozialversicherungsbeiträge und höhere staatlicheTransferleistungen zur Folge haben.Meine Damen und Herren, im Oktober 1995 wurde dieEigenheimzulage beschlossen, damals auch unter Zu-stimmung der SPD. Ich möchte zitieren:Heute erleben wir ein kleines Wunder: …Und weiter:Die starke Benachteiligung der Menschen in denneuen Bundesländern ist ab heute beendet; denn dieeinkommensunabhängige Förderung wird dazuführen, dass viele Menschen, die von Eigentum bis-her nur träumen konnten, diesen Traum verwirkli-chen können.Wissen Sie, wer das gesagt hat? Herr Großmann am27. Oktober 1995; und heute ist das alles nicht mehr wahr.
Ich muss Ihnen sagen: Wer mittelfristig eine negativeEntwicklung im Haus- und Wohnungsbereich herbeiführt,wird eines Tages ein böses Erwachen erleben. Die Ein-schränkung bei der Eigenheimzulage bzw. der für dieEigentumswohnung und die Senkung der Einkommens-grenzen sind keineswegs – wie von der Bundesregierungbehauptet – kinder- und familienfreundliche Maßnahmen.Fast alle Familien werden erheblich schlechter gestellt.Im Neubaubereich wären nur Familien mit sechs Kindernund im Altbaubereich nur Familien mit mehr als drei Kin-dern nicht benachteiligt. Die Beschränkung der Förde-rung auf Familien mit Kindern blendet zudem kinderloseEhepaare und Singles aus. Dem stadtentwicklungspoli-tisch erwünschten Bestandserwerb durch die Mieter, ins-besondere in den Innenstädten, vor allen Dingen im Zugedes Stadtumbaus Ost, droht dadurch das generelle Aus.Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass die Kürzung derEigenheimzulage allein fiskalisch bedingt und keineMaßnahme zugunsten von Familien ist.
Ich will, damit keine Missverständnisse entstehen, klarsagen, dass sich die FDP grundsätzlich auch für den Ab-bau von Subventionen einsetzt. Diese müssen aber miteiner deutlichen steuerlichen Gesamtentlastung und Ver-einfachung des Steuersystems einhergehen.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Der Abbau von Förderinstrumenten ohne gleichzeitige
Steuerentlastung ist faktisch eine Steuererhöhung, die in
diesem Fall die Familien hart trifft.
Ich fordere Sie auf: Helfen Sie unseren Menschen!
Helfen Sie unseren Familien! Helfen Sie der Bau- und
Wohnungswirtschaft!
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Hilsberg,SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 1511
Eine absolut leichte Aufgabe ist es, meine Damen und
Herren, sehr geehrter Herr Präsident, auf diesen FDP-An-
trag zu reagieren. Nachdem ich der Rede meines verehrten
Vorredners, Herrn Otto, aufmerksam zugehört habe, muss
ich sagen, dass sie vielleicht auf vieles einging, aber mit
der Reformbedürftigkeit der Eigenheimzulage – vor
dieser Situation stehen wir – nichts zu tun hatte. Dieser An-
trag ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist.
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, wie reform-
bedürftig die Eigenheimzulage inzwischen ist. Sie lachen,
Herr Fischer, aber Sie waren selber an der Diskussion da-
rüber beteiligt. Wir haben darüber in der letzten Legisla-
turperiode intensiv im Verkehrs- und Bauausschuss dis-
kutiert.
– Auch nicht schlecht. Es ist ja gut, wenn man freundlich
miteinander umgeht, aber hier muss man einmal Tacheles
reden. Dieser Antrag spricht vielleicht Bände hinsichtlich
der Situation und des Zustandes der FDP; ein Beitrag zur
Reform der Eigenheimzulage ist er sicher nicht.
Die FDP nennt sich ja eine liberale Partei. Liberal hat
etwas mit Freiheit, Beweglichkeit und Verantwortung zu
tun; es bedeutet, auf veränderte gesellschaftliche Verhält-
nisse einzugehen. Aber das finden wir in diesem Antrag
nicht. Plötzlich wird das Alte bewahrt. Das zeugt nicht
von Liberalität, sondern von Orthodoxie,
vom reinen Festhalten am Alten, und das nicht einmal,
weil es sich bewährt hat, sondern wider besseres Wissen
und bessere Einsicht. Bezüglich der Forderungen in Ihrem
Antrag waren Sie beispielsweise in den Petersberger Be-
schlüssen zur Steuerreform schon viel weiter. Auch das
muss man einmal festhalten.
Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Da war die
FDPdoch überhaupt nicht dabei! Das haben wir
doch gemacht!)
Ist das Populismus? Ist das einer dieser Anträge, in de-
nen die FDP aus dem Füllhorn schüttet? Ich frage mich
immer: Wie passt das in ein Gesamtkonzept? Wir haben
in diesem Hohen Hause schon viele Anträge von der FDP
auf den Tisch bekommen, bei denen ich den Eindruck
hatte, dass jedem alles geschenkt werden soll.
Gleichzeitig tut man so, als könnten die Steuersätze ge-
senkt und auf 15, 25 und 35 Prozent festgesetzt werden.
Wie soll das zusammenpassen? Der Staat, dem man auf
der einen Seite die Einnahmen so maßlos kürzt, dass er
weder aus noch ein weiß, soll auf der anderen Seite ein un-
erschöpfliches Füllhorn ausgießen. Das hat mit einem
Konzept nichts zu tun.
Aber der Antrag spricht in der Tat Bände, weil er den
eigentlichen Charakter Ihrer Partei zeigt, die noch nie so
weit davon entfernt war, eine Volkspartei zu werden, wie
Herr Westerwelle es wünscht, sondern im Grunde ge-
nommen doch die Partei der Besserverdienenden ist. Um
nichts anderes geht es an dieser Stelle.
Sie als FDP sind ja nicht ganz unbeteiligt an der beste-
henden Konstruktion der Eigenheimzulage, die wir jetzt
nur reformieren und anpassen, weil das notwendig ist,
weil die Bedingungen unserer Zeit und die schwierige
Haushaltslage es erfordern.
Ihr eigentliches Projekt, meine Damen und Herren von
der FDP, war seinerzeit doch der reine Freibetrag. Sie
wussten ganz genau, dass ein solcher Freibetrag nur den
Besserverdienenden zugute kommt. Nur diejenigen, die
viel Steuern zahlen, konnten auf diese Art und Weise spa-
ren. Die Leute mit geringeren Einkommen haben nie et-
was davon gehabt. Das war Ihr eigentliches Projekt. Die
Eigenheimzulage hat an dieser Stelle soziale Gerechtig-
keit geschaffen und mehr Menschen die Möglichkeit ge-
boten zu bauen, als das vorher der Fall war.
Es ist gelungen, und zwar wesentlich unter der Feder-
führung der SPD, auch mithilfe des damaligen Bundes-
rats, mithilfe des Landes Rheinland-Pfalz und mit der per-
sönlichen Hilfe unseres jetzigen Staatssekretärs, der
damals Sprecher der Bauarbeitsgruppe meiner Fraktion
war, diesen völlig neuen Typ der Eigenheimzulage zu in-
stallieren. Plötzlich ging es nicht mehr um das Sparen von
Steuern, sondern um eine echte Zulage, wie das Kinder-
geld. Die Folge war, dass die Zahl der Anträge enorm in
die Höhe geschnellt ist; es hat, Herr Otto, einen echten
Bauboom gegeben. Viele Familien, die bauen wollten, es
bis dahin aber nicht konnten, waren plötzlich dazu in der
Lage. Diese Bugwelle ist inzwischen abgeklungen.
Herr Kollege Hilsberg, würden Sie freundlicherweise
eine Zwischenfrage des Kollegen Meister gestatten?
Ja. Wir wollen ihn nicht länger warten lassen.
Vielen Dank, Herr Kollege Hilsberg. Ich frage Sie, daSie die Notwendigkeit der Reform der Eigenheimzulagehier so massiv vertreten, wie Sie das in Einklang bringenmit dem Interview des Bundeskanzlers Gerhard Schröderim August letzten Jahres in der Zeitschrift „Familie undGarten“, in dem er ausdrücklich dargelegt hat, dass er derMeinung sei, dass die Eigenheimzulage in der laufendenWahlperiode so bleiben solle, wie sie ausgestaltet sei.
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Unter der Voraussetzung, dass Sie ihn richtig zitieren
– ich will aber nicht in seinem Namen sprechen –, hat er
gesagt: in der laufenden Legislaturperiode. Das war ja
auch der Fall. Es war übrigens von Anfang an klar – auch
im Ausschuss, dem Sie damals angehört haben –, dass Re-
formen an dieser Stelle bitter notwendig sind. Ich erinnere
daran, dass die Leerstandskommission seinerzeit bei-
spielsweise die komplette Streichung der Eigenheimzu-
lage gefordert hat, weil wir in den ostdeutschen Städten
einen Leerstand von bis zu 40 Prozent haben. Das können
Sie doch nicht übersehen. Wenn Sie jetzt über dieses
Thema lamentieren, dann zeigt das, dass Sie die ostdeut-
schen Probleme in keiner Weise zur Kenntnis nehmen und
dazu auch nicht gewillt sind.
Wir haben ähnliche Probleme in den alten Ländern. Ich
denke beispielsweise an die Frage der Zersiedelung. In
den Grünbüchern der Europäischen Kommission zur Ver-
kehrspolitik steht beispielsweise, dass nicht weiterhin
eine Politik betrieben werden dürfe, durch die täglich über
100 Hektar an Naturbestand gewissermaßen zersiedelt
werden. An dieser Stelle muss man ansetzen. Aber das ist
nur ein Punkt.
Es gibt noch einen anderen, der meines Erachtens noch
wichtiger ist. Die Eigenheimzulage hat gewiss etwas mit
sozialer Gerechtigkeit zu tun. Aber sie muss an die realen
Bedingungen angepasst sein. Das Wichtigste ist: Eine Ei-
genheimzulage schafft nur dann soziale Sicherheit für die
Menschen, wenn sie gleichzeitig unter den Bedingungen
gesunder Staatsfinanzen leben können. Generationenge-
rechtigkeit und Eigenheimzulage gehören zusammen.
Wenn Sie das eine zulasten des anderen verändern, kann
es nicht funktionieren. Deswegen war es notwendig, auch
an dieser Stelle zu sparen.
Ich sage ganz ernsthaft: Wir wissen, dass wir Opfer
verlangen. Wir wissen, dass der bisherige Besitzstand,
was die öffentliche Förderung angeht, durch die Reform
der Eigenheimzulage eingeschränkt wird. Wir haben die
verschiedenen Varianten geprüft. Die Reform der Ei-
genheimzulage kann nicht isoliert, sondern sie muss in
einem Gesamtkonzept betrachtet werden. Auch eine ge-
sunde Volkswirtschaft, die Sie zu Recht einfordern, kann
nur funktionieren, wenn die Staatsfinanzen intakt sind.
Deshalb kann man das eine nicht von dem anderen tren-
nen.
Ich glaube, es war richtig, die Eigenheimzulage zu re-
formieren. Wir konzentrieren Sie in Zukunft auf Familien
mit Kindern. Der Kinderanteil bei der Eigenheimzulage
wird sogar erhöht. Es ist doch überhaupt nicht der Fall,
dass an dieser Stelle eingespart wird. Der Familiengrund-
betrag wird zwar in Zukunft niedriger sein, aber die För-
derung für Kinder wird erhöht, was angesichts des demo-
graphischen Wandels wichtig ist.
Wir müssen eine Politik machen, die den demographi-
schen Wandel im Blick hat und ein Signal an Familien mit
Kindern ist. Auch Sie kommen nicht darum herum, diese
Punkte zu beachten.
Ich möchte noch an Folgendes erinnern: Es gibt keinen
Zusammenhang mit der Baukonjunktur; denn die Zahl
der Anträge ist bereits unter den Bedingungen des alten
Rechts zurückgegangen, obwohl die ausgeschüttete
Summe gestiegen ist. Das hängt aber mit dem achtjähri-
gen Förderzeitraum zusammen. Eine Baufirma wird in
den nächsten Jahren nicht merken, dass wir an dieser
Stelle etwas geändert haben, weil es in den letzten Mona-
ten noch einen Boom gegeben hat, was man an der Zahl
der abgegebenen Anträge erkennen kann.
Die Baukonjunktur ist also nicht abhängig von der Eigen-
heimzulage.
Ich komme zum Schluss. Es wird sicherlich noch
einige Diskussionen über diese Frage geben. Sie wird Ge-
genstand im Bundesrat und mit Sicherheit auch im Ver-
mittlungsausschuss sein. Es müssen hierzu sehr differen-
zierte Diskussionen geführt werden. Aber man muss
aufpassen. Ab und zu wird der Vorwurf gemacht, dass die
Bemessungsgrundlage zu hoch gewählt sei, obwohl wir
sie von 80 000 auf 70 000 Euro – das sind 140 000 Euro
für ein Ehepaar – gesenkt haben. Es gibt aber einen einfa-
chen Grund, weshalb die Bemessungsgrundlage in dieser
Höhe gewählt wurde. Wenn man nämlich, wie von eini-
gen Ländern gefordert, noch weiter heruntergehen würde,
könnte es sein, dass auf diese Art und Weise Alleinerzie-
hende so benachteiligt würden, dass sie nicht mehr in den
Genuss des Bauens kämen. Das kann nicht im Sinne des
Erfinders sein. Deshalb muss man an dieser Stelle vor-
sichtig und differenziert an die Sache herangehen.
Wir erwarten spannende Diskussionen. Die Eigen-
heimzulage muss im Interesse der Aufrechterhaltung un-
seres Sozialstaates reformiert werden. Wer den Sozial-
staat und soziale Gerechtigkeit auch in Zukunft will, der
kann nicht, wie die FDP es tut, aus dem Füllhorn schütten.
Er muss an das Gesamtwohl denken und er braucht ein
Gesamtkonzept; denn ohne ein solches werden wir keine
der Aufgaben lösen können, für deren Erledigung wir ge-
wählt wurden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Minkel,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Hilsberg, Sie haben mich mit Ihrem Beitrag sehrenttäuscht. Wenn man bei der Eigenheimzulage den Fa-
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milien ohne Kindern 100 Prozent und den Familien mitKindern über 60 Prozent wegnimmt, dann ist das keineReform und verdient diese Bezeichnung auch nicht. Es istvielmehr eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahmeund nichts anderes.
Es war nicht allein der Bundeskanzler, der sich im letz-ten Jahr mit salbungsvollen Worten für die Eigenheimzu-lage eingesetzt hat. Es waren auch die Fraktionen vonSPD und Grünen. Ich zitiere aus einem rot-grünen Antragim Bundestag im Juni:Die Förderung des selbst genutzten Wohneigentumshat gesellschaftpolitisch einen hohen Stellenwert.Wir messen der Eigenheimzulage einen hohen Stel-lenwert zu.Es heißt weiter:Deshalb ist klar, dass die SPD keinesfalls an dieStreichung der Eigenheimzulage denkt. Aus woh-nungspolitischer Sicht halten wir auch die derzeitigeHöhe des Fördervolumens für sinnvoll.Oder die Grünen:Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiodeaktiv dafür einsetzen, dass der Erwerb von Wohn-eigentum weiter erleichtert wird.So die wohnungspolitische Sprecherin der Grünen, FrauEichstädt-Bohlig.
Wenn das, was Sie vor der Wahl erklärt haben, wahr ge-wesen sein soll, dann sind alle Hilfs- und Stützargumente,die Sie jetzt anbringen, um die Streichungen zu rechtfer-tigen, nicht wahrhaft. Die einzige Verbesserung, die Sieanführen können, ist die bescheidene Erhöhung des Kin-derzuschlages um 33 Euro pro Kind und Jahr. Dem mussman die Kürzung des Grundbetrages von 1 556 Euro ent-gegenhalten. Nach Adam Riese bedeutet das immer noch,dass man 48 Kinder in die Welt setzen muss, um die Kür-zungen beim Grundbetrag ausgleichen zu können.
Herr Hilsberg, Sie werden also mit dieser Reform nie-manden in diesem Lande glücklich machen können.
In diesem Zusammenhang ist mir einzig August derStarke mit seinen 360 Kindern eingefallen. Aber der istschon 250 Jahre tot.
Er hat auch, glaube ich, keine Eigenheimzulage be-
kommen, Herr Kollege.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes-regierung ist bekanntlich an nichts schuld. Wenn dieWirtschaft in diesem Jahr genauso schlecht wie im letz-ten Jahr läuft, dann liegt das wie immer an der Weltwirt-schaft. Wir sehen das freilich ganz anders, denn es lahmtdie Binnenkonjunktur. Diese Bundesregierung hatdurch ihre Politik die Binnenkonjunktur im Allgemeinenund die Bauwirtschaft im Besonderen auf ihrem Gewis-sen.
Es fing schon 1998 mit der Ökosteuer an. Aus dieser6-Pfennig-Steuer sind mit EEG-Abgabe und KWK-Ab-gabe inzwischen Mehrbelastungen für unsere Bevölke-rung von über 20 Milliarden Euro entstanden. DieseGeldbeschaffungsmaßnahmen werden durch Ihren unse-ligen Gesetzentwurf vom 2. Dezember fortgesetzt, überden wir hier heute zu reden haben. Durch diesen Gesetz-entwurf sollen unserer Bevölkerung jedes Jahr weitere17 Milliarden Euro aus der Tasche gezogen werden. Sienehmen der Bevölkerung die Kaufkraft, die Umsätze bre-chen weg. Sie produzieren dadurch mehr Arbeitslosigkeit,die anschließend von der Allgemeinheit teuer finanziertwerden muss, wofür Sie dann wiederum tiefer in dasFleisch des deutschen Volkes schneiden werden.
Die deutsche Bauwirtschaft ist sterbenskrank. In dieserLage traktieren Sie die Bauwirtschaft in ihrem Überle-benskampf prozyklisch. Die Bauwirtschaft ruft SOS undSie starten durch Ihren jüngsten Gesetzesvorschlag einenFächerangriff auf die deutsche Bauwirtschaft, als ob esum ein fröhliches Schiffeversenken ginge.
Die Begrenzung der Verlustverrechnung betrifft ins-besondere die Bauwirtschaft, weil die Bauwirtschaft beiihren Arbeitsgemeinschaften und Projektgesellschaftenauf die Verlustverrechnung angewiesen ist. Die gestrigeAnhörung hat zweifelsfrei erwiesen, dass die Bauwirt-schaft künftig bei dieser Verlustbegrenzung Scheinge-winne wird versteuern müssen. Das ist unredlich. Zu sol-chen Maßnahmen greift nur ein Räuberstaat.
Aus gutem Grund gibt es seit Jahrzehnten in diesemLande die degressive Abschreibung. Sie soll Investitio-nen anregen und erleichtern. Wenn die degressive Ab-schreibung künftig wegfallen soll, dann bedeutet das fürden privaten Wohnungsbau, dass eine Finanzierungs-lücke von 8 Prozent entsteht, die durch mehr Zinsen be-dient werden muss, was unmittelbar zu höheren Mietenführen wird.
Wenn sich diese höheren Mieten nicht am Markt durch-setzen lassen, dann bedeutet das, dass noch mehr auf pri-vaten Wohnungsbau verzichtet wird. Aber auch das führtKlaus Minkel
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Klaus Minkelzu höheren Mieten. Als Draufgabe werden Sie zusätzlicheArbeitslose geschenkt bekommen.
Am schlimmsten sind Ihre Eingriffe bei der Eigen-heimzulage; das habe ich schon zu Beginn meiner Aus-führungen geschildert. Hier werden insbesondere dieSchwellenhaushalte geschädigt, nicht die Reichen.
Das betrifft die jungen Familien, die einkommens- undkapitalschwach sind und die auf diese Starthilfe angewie-sen sind. Sie helfen mit dieser Kürzung niemandem. Siehelfen vor allen Dingen sich selbst und dem Finanzminis-ter nicht. Die Eigenheimzulage hat bei den Neubauten ei-nen enormen Hebeleffekt, weil sie erhebliche private In-vestitionen auslöst.Wenn diese privaten Investitionen künftig wegfallen,dann bedeutet das, dass die öffentliche Hand in Höhe vonetwa 50 Prozent dieser Wertschöpfung über weniger Ein-nahmen bei Steuern und der Sozialversicherung verfügenwird. Zusätzlich kommen für jede Wohneinheit, die nichtgebaut wird, einige Arbeitslose hinzu, die wir alle dannwieder zu finanzieren haben.Es ist äußerst unredlich gewesen, wie Sie dieses Themavor der Bundestagswahl behandelt haben. Wenn die Bau-arbeiter, die Handwerker, die ihr Brot hart verdienen müs-sen, gewusst hätten, was ihnen nach der Wahl blüht, dannwäre das Wahlergebnis mit Sicherheit anders ausgefallen.
Das gilt ebenso für die jungen Familien, die sich auf dieseRegierung verlassen haben.Das Eigentum verschafft unserer Bevölkerung Frei-heit. Es steht auf der Wunschliste unserer Bevölkerungnach Essen und Trinken ganz weit oben. Die Eigentums-quote in unserem Land ist sowieso die niedrigste in derganzen Europäischen Union.
– Die Schweiz ist bekanntlich kein Mitglied der Europä-ischen Union, verehrte Kollegin.
Die Eigentumsquote ist in den neuen Bundesländernbesonders niedrig. Dort besteht ein hoher Nachholbedarf.Sie nehmen den Menschen in den neuen Bundesländerndie Chance, diesen Bedarf zu befriedigen.Ich möchte mit einem Wort von Tucholsky schließen,das besonders den Vertretern der SPD zu denken gebensollte.
Tucholsky hat gesagt: Man kann mit einer Wohnung einenMenschen genauso erschlagen wie mit einer Axt.
Wir haben in diesem Lande immer noch Wohnungen, dienicht marktgerecht sind und nicht den Bedürfnissen unse-rer Bevölkerung entsprechen. Besinnen Sie sich auf einemoderne Wohnungsbaupolitik und betreiben Sie endlichwieder eine Politik für und nicht gegen die Menschen!Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun dieKollegin Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrverehrter Herr Kollege Minkel, als Erstes muss ich fest-stellen: Wenn die Eigenheimzulage den Effekt hat, dassunsere jungen Leute pro Haushalt und Familie 48 Kinderin die Welt setzen, dann brauchen wir hier nicht mehr überden demographischen Wandel und über bestimmteWachstumsprobleme zu diskutieren. Dann hätten wirwirklich den Joker getroffen.
Aber ich glaube, das hat auch die bisherige Eigenheimzu-lage nicht geschafft.Als Zweites ein sehr ernstes Wort: Sie haben Ihren Bei-trag mit dem großen Satz angefangen, das wäre eine ver-zweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme und nichts anderes.
Dazu kann ich nur sagen: Sie sprechen mit gespaltenerZunge, vielleicht nicht Sie persönlich, aber Ihre Fraktionebenso wie die FDP. Auf der einen Seite beantragen Sieeinen Lügenausschuss, weil Sie uns vorwerfen,
wir sagten der Bevölkerung nicht deutlich genug, dass wirdann, wenn wir Steuermindereinnahmen in großem Um-fang haben, ernsthaft sparen müssen. Wenn wir diesesSparen dann ernsthaft in Angriff nehmen und prüfen, wound an welcher Stelle wir das verantwortlich machen kön-nen, dann beschweren Sie sich auf der anderen Seite, dassei eine verzweifelte Geldbeschaffungsmaßnahme.Sie haben einfach noch nicht kapiert, was die Stundegeschlagen hat. Sie haben noch nicht einmal die aktuelleVorausschau auf die Entwicklung unseres Bruttoinlands-produktes verinnerlicht; sonst müssten Sie endlich verste-hen, dass auch Sie sich der Verantwortung des Sparensendlich stellen müssen.
Das gilt sowohl für die FDP, die es überhaupt nicht kapierthat und immer Steuersenkungen und sämtliche Ge-
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schenke gleichzeitig verspricht. Sie hat gerade eben imHaushaltsausschuss so viel versprochen, dass man eigent-lich überhaupt niemandem erzählen darf, wo sie überalldraufsatteln wollen; gleichzeitig aber rufen Sie immernach dem schlanken Staat.
Kommen wir konkret zu dem gesamten Antrag. – Kol-lege Brunnhuber, stellen Sie gegebenenfalls eine Frage!Jetzt will ich erst einmal meine Gedanken äußern.
– Nein, wir geben zu, dass wir vor der Wahl
gesagt haben, wir müssen sparen, und nach der Wahl ge-lernt haben, dass wir noch mehr sparen müssen, Herr Kol-lege Brunnhuber. Das machen wir auch, weil wir die Auf-gaben im Interesse unseres Landes lösen, nicht aberdumme Sprüche machen wollen.
Als ersten wichtigen Satz zu dem Antrag der FDPmussman wirklich sagen: Es geht um zwei grundsätzliche Pro-bleme. In den Zeiten, in denen wir inzwischen in weitenTeilen Deutschlands eine auskömmliche Versorgung mitWohnraum haben, kann man der Wohnungs- und Immo-bilienwirtschaft, die jahrzehntelang direkt und indirektgut subventioniert worden ist, Subventionskürzungen ein-deutig zumuten. Das sage ich mit großer Deutlichkeit; dashabe ich übrigens auch vor der Wahl gesagt, Herr KollegeMinkel.Zweitens bin ich schon der Meinung, dass die Woh-nungswirtschaft, die wirklich über Jahre gutes Geld be-kommen hat, in diesen Zeiten ihren Beitrag zum Sub-ventionsabbau, das heißt zum Sparen leisten muss. Dasgilt beispielsweise für die AfA. Übrigens muss man in Be-zug auf die Spekulationsfrist deutlich sagen: Die jetzt vonuns in das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufgenom-mene Besteuerung für die Veräußerung von Immobilienstellt diejenigen, die von der 10-jährigen Spekulationsfristbetroffen sind, eigentlich sogar günstiger als bisher, aberoffenbar begreifen Sie so etwas noch nicht einmal.
Nun konkret zur Eigenheimzulage: Kollege Minkel,hier muss ich Sie aufklären. Eine aktuelle Untersuchung,die so genannte Färber-Studie, kommt zu einem genauentgegengesetzten Ergebnis. Danach profitieren bislangnicht die Schwellenhaushalte von der Eigenheimförde-rung, sondern fast ausschließlich die Bezieher mittlererund höherer Einkommen. Etwa die Hälfte aller Beziehervon Eigenheimzulage gehört zu den 20 Prozent der reichs-ten Haushalte, während lediglich 3 Prozent der Beziehervon Eigenheimzulage zu den 20 Prozent der ärmstenHaushalte gehören. Die Förderung erreicht also über-wiegend Haushalte, die aus eigener Kraft Eigentum bil-den können. Mitnahmeeffekte sind eines der großenProbleme der bisherigen Eigenheimzulage. Das sollteman endlich ernst nehmen, insbesondere in diesen Zei-ten.
Ich frage Sie konkret: Wieso wollen Sie einem wenigverdienenden Mieterhaushalt zumuten, dass er die vonihm erwirtschafteten Steuergelder dafür bereitstellt, dassein anderer, besser verdienender Haushalt Eigentum bil-det? Das ist vielen Schichten unserer Bevölkerung in die-sen Zeiten eindeutig nicht vermittelbar.Zum zweiten Ziel, zur Förderung der Altersvor-sorge, sage ich ganz deutlich: Ich werde mich weiterhinnachdrücklich dafür einsetzen, dass wir eine bessere Ver-zahnung der von uns neu umgestalteten Form der Eigen-heimzulage mit der Altersvorsorge nach der Riester-Renteerreichen. Diese wichtige Aufgabe werden wir Grünenweiterhin aktiv unterstützen.
Der dritte Punkt – es geht nicht nur um die Bauwirt-schaft –: das Ziel Wohnversorgung. SPD und Grüne ha-ben von hier aus Ihren beiden Fraktionen oft genug ge-sagt, dass Wohnungsengpässe in München, Stuttgart undFrankfurt bestehen, also in den Ländern, die Wachstumhaben und vergleichsweise gut betucht und reich sind.Diese Länder sollten sich für eine Lösung der Wohnver-sorgungsprobleme in ihren wirtschaftsstarken Städtenund Ballungsräumen engagieren und nicht ihrerseits Sub-ventionen abbauen, sondern ihr Geld in die Hand nehmenund da aufsatteln. In einer Gesellschaft, die für gleich-wertige Lebensverhältnisse eintritt, erwarte ich, dass dieLänder, die es sich leisten können, die Subventionen leis-ten, die sie für notwendig halten.
Vorletzter Punkt: Städtebauförderung. Wir Grüne wer-den uns immer dafür einsetzen, dass diese Förderung sogestaltet wird, dass auch die Kernstädte davon einen Vor-teil haben.Herr Präsident, lassen Sie mich bitte einen letzten Satzzur Bauwirtschaft sagen. Wir sind sehr für die Förderungder Bauwirtschaft, aber da, wo es inhaltlich sinnvoll ist.
Deswegen fördern wir die Bauwirtschaft mit Program-men zur CO2-Minderung und Altbausanierung. Wir habenbereits ein Altbausanierungsprogramm mit jährlich200 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Wir satteln imaktuellen Haushaltsverfahren und mit der Verabschiedungdes letzten Ökosteuergesetzes noch einmal 150 MillionenEuro im Jahr auf. Da sollten Sie einmal sehen, was Sie bis-her geleistet haben.Insofern fördern wir die Bauwirtschaft, wo es nötigund sinnvoll ist. Wir fördern nicht einfach den Bau vonEigenheimen, die aufgrund der demographischen Ent-wicklung im Osten und auch in Teilen des Westens even-tuell schon in 20 Jahren nicht mehr verwertbar seinFranziska Eichstädt-Bohlig
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Franziska Eichstädt-Bohligkönnten. Von daher betreiben wir Wirtschaftsförderungmit Sinn.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Hilsberg! Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig! Die Wahr-heit ist: Sie haben ein falsches Instrument gewählt. Wirhaben in Deutschland tatsächlich ein Finanzierungspro-blem. Der Staatshaushalt ist in einer Schieflage. Aber dasInstrument, das Sie gewählt haben, nämlich die Kürzungder Eigenheimzulage, ist schlicht und einfach das falscheInstrument zur Lösung unserer Finanzprobleme.
Das zeigen auch die Überschriften der Kommentare: ar-beitsmarktpolitisch verheerend, familienpolitisch schlicht-weg falsch und finanzpolitisch nicht einmal zu Ende ge-dacht.Erstens. Jede neue Wohnung schafft ein Jahr langzwei neue Arbeitsplätze im regionalen Baugewerbe undzwei weitere in den vor- und nachgelagerten Bereichen.Zweitens. 10 000 neue Wohnungen führen über Steu-ern und Sozialabgaben zu Einnahmen von 1Milliarde Euroim Eigenheimbau bzw. von rund 600 Millionen Euro imMehrfamilienhausbau. Denn dort gilt, was für die Volks-wirte das Wichtigste ist, der Multiplikatoreffekt. Auf10 Euro, die vom Staat in die Hand genommen werden,legen die privaten Haushalte 100 Euro drauf. Diesen Ef-fekt und nicht die Kürzung der Eigenheimzulage brau-chen wir.
Drittens. Hausbau ist Vertrauenssache. Bauherren undInvestoren müssen auf weitgehend stabile Rahmenbe-dingungen bauen können. Was Sie tun, ist das genaueGegenteil davon und deshalb verheerend. Der Generalse-kretär der SPD, Scholz, erklärt den Kompromiss, der imNovember gefunden wurde, sofort für sankrosankt.Bundesbauminister Stolpe spricht dagegen von einemSchnellschuss. Der Ministerpräsident auf Abruf, Gabriel,verweigert seine Zustimmung im Bundesrat und wendetsich, weil er ein mutiger Ministerpräsident ist, mit einerPrüfbitte an die Bundesregierung: Man möge prüfen, obman den Kompromiss nicht noch ändern könnte. DerBundesfinanzminister verschließt die Augen vor den fi-nanz- und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen undgeht stattdessen einfach auf Tauchstation. Heute betrittder grüne Koalitionspartner in Person der Vorsitzendendes Finanzausschusses die Bühne und lässt uns über diePresse mitteilen, dass die Kürzung der Eigenheimzulageim Detail noch vollkommen offen ist. Meine Damen undHerren, worüber debattieren wir denn heute?
Spannend wird, was Sie heute Abend in Ihrer Koalitions-runde zu diesem Thema sagen. Ich will Ihnen mit auf denWeg geben: Ich habe mir die Mühe gemacht, die Stellung-nahmen von Verdi und DGB zum Thema Eigenheimzu-lage zu lesen. In Ihren Reihen ist das wohl unter den Tischgefallen.Wir könnten uns über die vollkommen verquere Situa-tion in der Regierung eigentlich freuen; angesichts derwirtschaftspolitischen Gesamtlage und der speziellen Si-tuation im Bau- und Wohnungsbereich ist das aber nichtder Fall. Familien und Investoren bauen im besten Sinnedes Wortes auf stabile Rahmenbedingungen. Sie brauchenfür ihre Investitionsentscheidungen transparente und ver-lässliche Grundlagen. Ihr Hin und Her bezüglich der künf-tigen Konditionen ist verheerend für das Investitions-klima und Gift für die dringend notwendige Belebung derKonjunktur und des Arbeitsmarktes. Für den einstigenBeschäftigungsmotor Bauwirtschaft müssen die Rahmen-bedingungen endlich verbessert werden: sie dürfen nichterneut verschlechtert werden.
Meine Damen und Herren, das Rheinisch-WestfälischeInstitut für Wirtschaftsforschung hat in seiner gestrigenStellungnahme in der Anhörung des Finanzausschussesfolgende Daten in die Debatte eingebracht. Stichwort Ei-genheimbau: Bei Ihrer Kürzung kommt es zu einemNachfrageausfall von 7,5 Milliarden Euro, verbundenmit einem Beschäftigungsabbau von 90 000 Arbeitsplät-zen, davon 45 000 allein im Baugewerbe. StichwortMehrfamilienhausbau: Hier kommt es zu einem Nachfra-geausfall von weiteren 4 Milliarden Euro, verbunden miteinem Beschäftigungsabbau von weiteren 50 000Arbeits-plätzen, davon wiederum 25 000 im Baugewerbe. Den ge-planten Einsparungen von 5,8 Milliarden Euro innerhalbder kommenden acht Jahre steht nach Schätzungen desBundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungs-unternehmen ein Rückgang des Investitionsvolumens umfast 29 Milliarden Euro gegenüber. Für den Fiskus – dasist der Teufelskreis – bedeutet das weniger Steuereinnah-men, steigende Sozialabgaben in Höhe von mehr als10 Milliarden Euro und, nicht zu vergessen, Mehrbelas-tungen bei der Arbeitslosenunterstützung.Die Kürzung der Eigenheimzulage, wie Sie sie vor-schlagen, ist ein Schuss in den Ofen – viel schlimmer: Sieist ein Schuss ins eigene Knie. Die Kürzung ist aber nichtnur arbeitsmarkt- und finanzpolitisch fatal, sie ist auch fa-milienpolitisch vollkommen falsch. Durch die Absenkungder Einkommensgrenzen und den Ausschluss kinderloserHaushalte in der Kerngruppe der 30- bis 39-jährigen hal-biert sich der Anteil der grundsätzlich Anspruchsberech-tigten von bisher 7,4 Millionen Haushalten auf 4,3 Mil-lionen Haushalte. Meine Damen und Herren von derRegierungskoalition, das ist keine Reform. Das ist ein fa-milienpolitischer Kahlschlag.Gleichzeitig wird den so genannten Schwellenhaus-halten, die mit ihrem Geld gerade so über die Rundenkommen, der Einzug in die eigenen vier Wände erheblicherschwert; denn die Eigenheimzulage ist ein entscheiden-
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der Baustein des Eigenkapitals und wird direkt in den Fi-nanzierungsplan der eigenen Wohnung oder des eigenenHauses eingestellt. Bei einem nur 25-prozentigen Eigen-kapitalanteil eines durchschnittlichen Familienhauses imWert von 150 000 Euro fehlt dem kinderlosen Haushaltgegenüber dem bisherigen Recht in Zukunft mehr als dieHälfte und, wenn es nach Rot-Grün geht, einer Familiemit Kindern ein Drittel dieser Finanzierung. Es ist nichtzu vergessen, dass sich bei einem geringen Eigenkapitaldie Kreditkosten automatisch erhöhen.Bau- und Kaufwillige in Deutschland werden durchIhren Vorschlag also doppelt belastet. Neben jedemSchlafzimmer der kinderlosen Familien tickt in Zukunftdie Stoppuhr; denn nach vier Jahren muss sich der Nach-wuchs einstellen, sonst bricht die gesamte Finanzierungzusammen und der Anspruch ist hinüber bzw. verringertsich. Es ist geschmacklos, so Familienpolitik zu machen.
Dem Bundesfinanzminister und auch Ihnen mussschon noch einmal mit auf den Weg gegeben werden, dassSie einen zentralen sachlichen Denkfehler gemacht ha-ben. Die sachliche Begründung zur Kürzung lautet aus derSicht des BMF – ich zitiere aus dem offiziellen Pressedo-kument vom 17. November –:Wir können es uns nicht mehr leisten, flächen-deckend, auch in Gebieten, in denen ein Wohnungs-leerstand herrscht, den Neubau massiv zu fördern.Das ist deshalb falsch, weil Bundesfinanzminister Eicheleinfach ignoriert, dass 70 Prozent der Bundesbürger keineMietwohnung suchen, sondern ihre eigene Immobilie fin-den wollen.
Der Zusammenhang, den Sie hier herstellen, geht an derRealität vorbei. Herr Eichel, wachen Sie auf: Leere Miet-wohnungen haben nichts mit Eigenheimen zu tun!Ich darf zusammenfassen und beziehe mich dabei aus-drücklich auf die dem Parlament vorliegenden Stellung-nahmen des DGB und des Verdi-Bundesvorstandes: DieKürzung der Eigenheimzulage zerschlägt die Zukunfts-pläne vieler Arbeitnehmerhaushalte. Die Kürzung hat ne-gative Rückwirkungen auf die sowieso schon stark ge-schwächte Bauwirtschaft. Die Arbeitsplatzvernichtung inDeutschland wird sich weiter verstärken, weil als Folgeder Zulagenkürzung weitere 50 000Wohnungen nicht ge-baut werden. Ausgerechnet in einer Phase, in der die Ei-genversorgung aufgrund der demographischen Entwick-lung immer mehr an Bedeutung gewinnt, schwächtRot-Grün das selbst genutzte Wohnungseigentum. Wirdürfen erwarten, dass im Abschlussbericht der Rürup-Kommission stehen wird, wir sollten das alte Gesetz wie-der herstellen; denn Rot-Grün hat mit der Kürzung der Ei-genheimzulage auch in diesem Bereich versagt.Last, but not least: Gerechnet für 25 000 Wohnungenübersteigen die Ausfälle an Steuer- und Abgabenein-nahmen sowie die Mehrbelastungen der öffentlichenHaushalte durch die erhöhten Aufwendungen bei Arbeits-losigkeit nach Zahlen des DGB die Einsparungen an Zu-lagen erheblich: Über acht Jahre hinweg stehen 2,5 Mil-liarden Euro an höheren Ausgaben 0,6 Milliarden Euro anEinsparungen gegenüber.Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Ko-alition, mit der Kürzung der Eigenheimzulage sind Sie ar-beitsmarktpolitisch, wirtschaftspolitisch und familien-politisch auf dem Holzweg. Stoppen Sie Ihre Geisterfahrtso schnell wie möglich, am besten noch heute in IhremKoalitionsausschuss!Herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in der Aussprache zu diesem Tages-
ordnungspunkt ist die Kollegin Gabriele Groneberg,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst habeich bei Ihren Reden, Herr Otto und Herr Minkel, noch ge-lacht. Es war sehr amüsant. Aber langsam ist mir das La-chen vergangen. Wenn ich in meinem Leben so viel ge-jammert und so viel mies gemacht hätte, dann hätte ichmeine Chancen nicht wahren können. Ich wäre als Al-leinerziehende mit zwei Kindern rettungslos untergegan-gen.
Und gnade Gott, ich bin froh, dass die Wähler uns das Vo-tum gegeben haben und nicht Ihnen. Mit Ihrer Miesma-cherei sind Sie es, die diesen Staat in den Ruin treiben,und nicht wir mit unserer vernünftigen Politik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Frak-tion, ich muss feststellen, dass Sie sich bei Ihrem Antragnicht viel Mühe gemacht haben. Den Antrag kann man inzwei Punkte zusammenfassen. Erstens: Es bleibt alles so,wie es ist. Zweitens: Es bleibt sowieso alles so, wie eswar. Für einen vernünftigen Antrag und für eine vernünf-tige Politik hätte ich mir bessere Vorschläge gewünscht,über die wir diskutieren, über die wir reden können. Daswäre für uns alle der vernünftigste Weg gewesen. Aberwarum sollten Sie bessere Vorschläge machen? Sie sindschließlich nicht in der Regierungsverantwortung. Ichhätte es trotzdem gut gefunden.Sie hätten den allgemein herrschenden Rahmenbedin-gungen, an denen auch Sie nicht vorbeikommen, etwasmehr Aufmerksamkeit schenken können. Sie lassen nämlichaußer Acht, dass sich der Wohnungsmarkt verändert hat unddass wir mit einer immer älter werdenden Gesellschaft zurechnen haben. Damit haben wir es natürlich auch mit sichverändernden Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt zutun. Wir werden keine steigenden BevölkerungszahlenGeorg Fahrenschon
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Gabriele Gronebergmehr haben. Deshalb müssen wir auch im Wohnungsbauder demographischen Entwicklung Rechnung tragen.Mit Ihren Feststellungen im ersten Absatz sind Sie zukurz gesprungen, obwohl ich mit der Kollegin Eichstädt-Bohlig durchaus darin einig bin, dass man über die Ein-beziehung von Eigentum in die Riester-Rente redensollte. Das ist aber eine andere Geschichte.Wenn wir über die Situation auf dem Wohnungsmarktsprechen, müssen wir uns folgende Tatsachen vergegen-wärtigen. Wir haben im statistischen Durchschnitt inDeutschland eine Versorgung mit Wohnraum, die so gutist wie noch nie zuvor. Das Problem dabei ist, dass sienicht überall gleich gut ist. In einigen Ballungsräumen ha-ben wir ein knappes Angebot; das ist richtig. In anderenGebieten, übrigens nicht nur in den größeren Städten, gibtes gewaltige Leerstände. Dies trifft vor allen Dingen aufden Osten zu; ich kenne aber auch Beispiele aus West-deutschland. Da wir nicht überall die gleichen Bedingun-gen haben, eignet sich die Eigenheimzulage nicht zumAusgleich der regionalen Unterschiede, die wir auf demWohnungsmarkt haben. Im Übrigen muss ich generellfeststellen: Die Eigenheimzulage ist nicht die einzigeMaßnahme zur Förderung des Wohnungsbaus. Hinzukommen noch andere Förderinstrumente.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nun geplante Re-form der Eigenheimzulage ist von uns nicht freiwillig inAngriff genommen worden. Sie ist letztendlich unter denfinanzpolitischen Bedingungen, denen wir unterliegen,geboten. Es ist Ihnen durchaus bekannt – Sie können esnicht leugnen –, dass die Gestaltung der Eigenheimzulageschon seit einiger Zeit reformbedürftig ist. Herr Hilsberghat dazu ausführlich ausgeführt.Generell ist es gar nicht mehr witzig, dass Sie den Sub-ventionsabbau hier auch heute noch gefordert haben. Die-ser soll grundsätzlich nur bei anderen und sowieso nurdort, wo es Ihnen gerade passt, vorgenommen werden.
Wir tun etwas anderes: Wir werden eine der größten Sub-ventionen im Bundeshaushalt verändern.
Dadurch wird sie gleichzeitig eine andere wohnungspoli-tische Komponente erhalten. Das ist in Ihren Reden über-haupt nicht zum Tragen gekommen. Sie haben nichterwähnt, wie sich die Eigenheimzulage auf die Woh-nungsbau- und Städtepolitik auswirken wird. Sie habennur auf einen bestimmten Fokus geschaut
und alles andere vollkommen außer Acht gelassen.Ich gebe zu, dass wir die ersten Überlegungen, die nachAbschluss des Koalitionsvertrages im Raum gestandenhaben, auch nicht „pralle“ fanden.
In unseren Beratungen sind wir zu einem Kompromissgekommen, den wir durchaus tragen können. Letztend-lich haben wir damit den zuerst geplanten massiven Rück-bau der Förderung verhindert. Die Konzentration der För-derung auf die Familien mit Kindern halte ich gerade auchin unserer haushaltspolitischen Situation für äußerst sinn-voll.
Eine Familie und Alleinerziehende mit zwei Kindern er-halten bei einem Bestandserwerb nahezu die gleiche För-derung wie zuvor. Ich denke, eine Einbuße von rund17 Euro im Monat ist angesichts der schwierigen Lage deröffentlichen Haushalte durchaus zu verkraften.Herr Fahrenschon, die Kollegin von den Grünen hatzum Stichwort „Schwellenhaushalte“ schon einiges aus-geführt. Sie argumentieren damit, dass diese Haushaltegeradeso über die Runden kommen. Ganz ehrlich, ichfrage mich, was sie nach Ablauf des Förderzeitraums vonacht Jahren machen. Dann greift ihnen die Eigenheimzu-lage nämlich nicht mehr unter die Arme. Dann muss dieBelastung voll selbst getragen werden.
Ich kann Ihnen sagen, was dann passiert. Das weiß ichnämlich aufgrund meiner Erfahrungen im Landtag undaufgrund der Petitionen, die wir erhalten haben. Dann ste-hen diese Familien vor dem Problem, dass sie das Hausnicht mehr halten können. Bei den Schwellenhaushaltengibt es wirklich ein Problem. Das lösen Sie mit Ihrer Po-litik überhaupt nicht.
Ich habe nach der PISA-Studie immer gedacht, dasseher die jüngere Generation zu leiden hat. Herr Minkel,dass Sie bei den Berechnungen auf 48 Kinder kommen,kann ich ehrlich gesagt einfach nicht verstehen.
Ich weiß nicht, wie Sie auf diese Zahl gekommen sind.Vielleicht können Sie mir Nachhilfeunterricht geben.Diese Rechnung kann ich absolut nicht nachvollziehen.Mit der Gleichbehandlung von Alt- und Neubauför-derungwollen wir den Anreiz erhöhen, in den Bestand zuinvestieren. Damit erreichen wir, dass der Erwerb in denStädten, in den Stadtvierteln, interessanter wird. Damitkomme ich zu den wohnungsbaupolitischen Komponen-ten. Wenn es Ihnen auch schwer fällt: Seien Sie doch ein-mal ehrlich.
Wir können doch nicht gleichzeitig den zunehmendenLeerstand in vielen Regionen unseres Landes beklagenund gleichzeitig die Stadtflucht ins Umland auch noch miteiner besseren Förderung unterstützen. Das geht nicht,das kann man doch nicht machen.
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Vor sechs, sieben Jahren gab es andere Bedingungen; esgab einen Bauboom. Wir müssen uns den veränderten Er-fordernissen anpassen.
Wollen Sie daran, dass wir mit der Senkung der Ein-kommensgrenzen gleichzeitig Mitnahmeeffekte verhin-dern wollen, ernsthaft Kritik üben? Das kann doch wohlnicht wahr sein.
Schließlich kann und muss die Gesamtheit der Steuerzah-ler doch nicht die Menschen subventionieren, die es ganzgut aus eigener Kraft, also ohne staatliche Förderung,schaffen können, ein Haus zu bauen oder zu kaufen.An dieser Stelle will ich überhaupt nicht ausschließen,dass man sich noch weitere Maßnahmen vorstellen kann,um den Bestand intensiver zu fördern und damit das zu er-reichen, was wir wirklich wollen, nämlich den Leerstandin den Städten zu verhindern. Im Übrigen kann der Fami-liengrundbetrag bei einem Neubau oder bei einer energe-tischen Sanierung des Altbaus durch eine Ökozulage umbis zum 300 Euro aufgestockt werden. Davon habe ichvon Ihnen vorhin auch nichts gehört.
Ich denke, das ist eine gute umweltpolitische und städte-bauliche Komponente. Dazu haben wir von Ihnen wirk-lich nichts gehört.Wir wollen, dass es für die Familien in unserem Landeinfach ist, Eigentum zu bilden. In dieser Haushaltssitua-tion werden wir aber nicht diejenigen unterstützen, die dasauch alleine schaffen können. Es ist klar, dass man an derRückführung der Förderung für Neubauten Kritik äußernkann. Das ist keine Frage. Unter den eben geschildertenfinanzpolitischen Bedingungen müssen wir aber darüberreden. Wir haben unsere Konsequenzen gezogen.Dennoch hat auch die Verringerung der Förderung ei-nen städtebaulich nicht zu vernachlässigenden Aspekt,weil wir hoffen, damit die Tendenz, dass die Menschenvon den Städten aufs Land ziehen und dort ihr Eigenheimbauen, zu stoppen. Selbstverständlich ist es interessant,aufs Land zu ziehen, wenn die Neubauförderung a) bes-ser ist, b) das Bauen auf dem Land billiger ist und c) diesdie Kommunen gerne sehen.Diese Entwicklung führt aber dazu, dass in einigen Tei-len unseres Landes die Innenstädte buchstäblich entvöl-kert werden. Deshalb muss man darüber nachdenken, obman die weitere Zersiedlung der Landschaft wirklich will.Die Kommunen im ländlichen Raum setzen mit ihremAngebot natürlich darauf, die Menschen aus den Städtenaufs Land zu holen. Ich weiß, wie wünschenswert es ist,die Entwicklung vor Ort mit mehr Bürgern gestalten zukönnen. Dennoch führt es dazu, dass das Problem desLeerstandes in den Städten verschärft wird.Warum wird dadurch der Leerstand verschärft? Dasist ganz einfach. Ich habe zu Anfang über die demogra-phische Entwicklung geredet. In diesem Land wird dieBevölkerung nicht wachsen. Daher werden wir daraufachten müssen, dass wir Wohnraum dort schaffen, wo dieMenschen sind. Wir können nicht nur auf dem Land Neu-bauten anbieten, sondern wir müssen auch den Bestand inden Städten – dies gilt auch für kleine Städte, nicht nur fürGroßstädte – fördern.
Ich frage Sie allen Ernstes: Was soll es für eine Poli-tik sein, die zusieht, wie am Rand der Städte und Ge-meinden immer mehr gebaut wird und in den Innenstäd-ten die Leerstandsquote steigt? Gehen Sie doch einmaldurch die Quartiere. Oder waren Sie noch nie vor Ort ge-wesen?
Schauen Sie sich die leeren Fenster an. Hören Sie sich dieProbleme der Wohnungsgesellschaften mit ihren hohenLeerstandsquoten an. Was passiert denn ansonsten noch indiesen Gebieten? Die Leute ziehen weg, die Läden folgen,womit auch die Infrastruktur zerstört wird. Auch die Mie-ten sinken, was manchmal ganz angenehm ist. Aber waspassiert dann? Die Bausubstanz verkommt, weshalb wie-derum immer mehr Leute wegziehen.
Neben der dann entstehenden Unattraktivität der Wohn-städte nehmen die sozialen Probleme zu. Das können Siedoch nicht ernsthaft wollen.
Frau Kollegin Groneberg, bitte berücksichtigen Sie
Ihre Redezeit.
Ja, ich komme zum Ende. – Unsere Politik ist das je-denfalls nicht. Wir setzen Neubau und Bestandsförderungauf dieselbe Stufe.Ein ganz kurzes Wort zur Bauwirtschaft. Es ist unsselbstverständlich nicht egal, was mit der Bauwirtschaftpassiert. Wir wollen, dass die deutsche Bauwirtschaftweiterhin Marktführer in Europa bleibt. Wir werden derBauwirtschaft mit unseren Instrumenten helfen. Ich ver-weise in diesem Zusammenhang auf unsere Offensive fürden Mittelstand.
Meine Damen und Herren von der FDP, nach meinenAusführungen können Sie wirklich nicht erwarten, dasswir Ihrem Antrag zustimmen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Gabriele Groneberg
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Frau Kollegin Groneberg, ich darf Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gratulieren,
verbunden mit allen guten Wünschen für die parlamenta-
rische Arbeit.
Mit der eigenmächtigen Verlängerung Ihrer angemeldeten
Redezeit haben Sie sich gegenüber dem Präsidium erfol-
greich durchgesetzt.
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tages-
ordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/33 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich stelle dazu Einver-
ständnis fest. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des internationalen Insolvenz-
rechts
– Drucksache 15/16 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 15/323 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Tanja Gönner
Jerzy Montag
Rainer Funke
Dazu haben die Kollegen Dirk Manzewski, SPD, Tanja
Gönner, CDU/CSU, Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grü-
nen, Rainer Funke, FDP, sowie der Parlamentarische
Staatssekretär Alfred Hartenbach Reden vorbereitet, die
sie jeweils zu Protokoll geben wollen.1 – Ich stelle fest,
dass darüber Einverständnis besteht. Ich eröffne damit die
Aussprache und schließe sie gleich wieder.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neu-
regelung des internationalen Insolvenzrechts auf Druck-
sache 15/16. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/323, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Da ich
nicht vermute, dass sich der größere Teil der Mitglieder
des Bundestages enthalten will, weise ich noch einmal auf
den Beschlussgegenstand hin.
Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses ab, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Wer will diesem Vorschlag
folgen und dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen? – Das ist eine spektakuläre Erhöhung der Zu-
stimmungsrate. Stimmt jemand dagegen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Stimmt jemand dagegen? –
– Sie merken, Herr Hartenbach, wie klug es war, dass ich
Sie nicht zum Aufstehen aufgefordert habe, weil sonst das
Missverständnis entstanden wäre, dass Ihre Nachbarin ge-
gen den Gesetzentwurf stimmt, was sie sofort dementie-
ren würde. – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Da-
mit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem
Zwölften Gesetz zur Änderung des Fünften Bu-
– Drucksachen 15/27, 15/74, 15/76, 15/120,
15/298 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kol-legen! Der Bundesrat hat dem zustimmungspflichtigenZwölften SGB-V-Änderungsgesetz seine Zustimmungverweigert. Dieses Gesetz ist Teil des Maßnahmekatalogszur Stabilisierung der Ausgaben im Gesundheitswesen.Diese Zustimmungsverweigerung ist vollkommen unlo-gisch, da zu diesem Zeitpunkt schon klar war, dass dienicht zustimmungspflichtigen Teile des Maßnahmekata-logs zu Beginn des Jahres 2003 in Kraft treten würden.Ohne den zustimmungspflichtigen Teil des Kosten-stoppgesetzes ergeben sich jetzt aber Chancenungleich-heiten im Bereich der Krankenhäuser. Außerdem müsstenwir auf ein Einsparpotenzial von etwa 700 Millionen Euroverzichten. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/DieGrünen bringen deshalb heute einen Antrag zur nochma-ligen Anrufung des Vermittlungsausschusses ein.Worum geht es im Einzelnen? Ein wesentlicher Schrittzur notwendigen stärkeren Leistungsorientierung in denKrankenhäusern ist die Einführung eines neuen Vergü-tungssystems, des DRG-Systems, des Systems der Ver-
15201 Anlage 2
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gütung nach Fallpauschalen. Das ist ein bedeutenderSchritt in Richtung Wirtschaftlichkeit und Transparenz.
Es ist der endgültige Abschied von einer Bezahlung nachder bloßen Belegung eines Krankenhausbettes hin zur Be-zahlung der erbrachten Leistung.Die Einführung des DRG-Systems erfolgt seit dem1. Januar dieses Jahres auf freiwilliger Basis. Ab 2004 istdie Anwendung des neuen Vergütungssystems verpflich-tend. Bis zum 31. Oktober vergangenen Jahres solltensich die Krankenhäuser entscheiden, ob sie schon in die-sem Jahr nach dem neuen Vergütungssystem abrechnenwollen. Immerhin hatten zu diesem Zeitpunkt 530 derinsgesamt 2 200 deutschen Krankenhäuser dafür votiert.Diese Krankenhäuser, die sich zu dem leistungsgerechte-ren Vergütungssystem und einer größeren Transparenzbekennen, haben wir ausdrücklich von der so genanntenNullrunde ausgenommen.Für alle Krankenhäuser, die ab 2003 nach dem DRG-System abrechnen, wird es eine volle Grundlohnanpas-sung ihrer verfügbaren Mittel geben. In den neuen Bun-desländern bedeutet das eine Steigerung um 2,09 Prozent,in den alten Bundesländern von 0,81 Prozent.Die Meldefrist für die freiwillige Teilnahme am neuenVergütungssystem wurde im Verlauf des Gesetzgebungs-verfahrens bis zum 31. Dezember 2002 verlängert. Umgenau diese Option geht es im vorliegenden Gesetz. In-zwischen hat sich eine größere Zahl von Krankenhäusernnachgemeldet, die ebenfalls freiwillig umsteigen wollen.
Allein in Sachsen sind es 34 Krankenhäuser. Damit neh-men 55 von 89 Krankenhäusern am neuen Vergütungssys-tem teil.
– Ich bin sehr gespannt, was Sie nachher zu sagen haben,und werde mich anschließend vielleicht noch einmal dazuäußern. Ich bin davon überzeugt, Herr Faust, dass dieseHäuser auch über die notwendigen Voraussetzungen ver-fügen, nach DRGs abzurechnen.
Ich kann wirklich nicht nachvollziehen, warum sich derBundesrat einer Verlängerung der Frist für die Meldungzur Teilnahme am Optionsmodell in den Weg gestellt hat.Noch Anfang letzten Jahres waren sich alle einig, dass wirvon starren, grundlohngedeckelten Budgets abkommenund zu einer leistungsgerechten Vergütung gelangen müs-sen. Ich gehe davon aus, dass sich an der Haltung derUnion im letzten Dreivierteljahr nichts geändert hat.Wir wollen den Verantwortlichen und Beschäftigten inden Krankenhäusern, die umsteigen wollen, Sicherheitgeben und wir wollen Chancengleichheit herstellen. Des-wegen muss die Fristverlängerung für das Optionsmodellbis zum 31. Dezember anerkannt werden. Auch deshalbrufen wir den Vermittlungsausschuss an. Blockieren Siediese wichtige Maßnahme im Krankenhausbereich jetztnicht!Eines der drängendsten Probleme in der gesetzlichenKrankenversicherung ist die verstärkte Verordnung vonteuren Analogpräparaten mit nur geringem Zusatznut-zen. Besonders diese Scheininnovationen haben zur über-proportionalen Ausgabensteigerung im Arzneimittelsek-tor geführt. Die Arzneimittelausgaben in der gesetzlichenKrankenversicherung stiegen in den letzten zwei Jahrenum rund 15 Prozent je Mitglied. Dieser erhebliche Aus-gabenzuwachs ist allein medizinisch nicht zu begründen.Der Anstieg der Verordnung teurer, patentgeschützterAnalogpräparate spielte dabei eine große Rolle.Zu Beginn des letzten Jahres haben die Krankenkassenund Ärzte vereinbart, die Arzneimittelausgaben im Jahr2002 um 4,9 Prozent zu senken. Tatsache ist: Nach denersten drei Quartalen hatten wir stattdessen ein Plus von4,9 Prozent zu verzeichnen. Das sind fast 10 Prozent Un-terschied.
Deshalb ist es völlig gerechtfertigt, wenn wir als Gesetz-geber hier eingreifen.
Niemand bezweifelt, dass Innovationen Mehrkostenverursachen. Aber nicht alles, was teuer ist, ist auchtatsächlich besser als die hergebrachten Produkte. Nichtalle Präparate, die mit großem Werbeaufwand auf denMarkt gebracht werden, sind wirksamer als kostengünsti-gere Alternativen. Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall.Damit das Geld für echte Innovationen auch in Zukunftvorhanden ist, beziehen wir Analogpräparate, die gegen-über vorhandenen Medikamenten nur einen geringen Zu-satznutzen haben, in die Festbetragsregelung ein. Festbe-träge für Arzneimittel sind ein wirkungsvolles Instrumentzur Begrenzung der Ausgaben. Durch die Einbeziehungvon nach dem 31. Dezember 1995 zugelassenen patentge-schützten Arzneimitteln in die Festbetragsregelung könnenschätzungsweise 400 Millionen Euro eingespart werden.Das Bundesverfassungsgericht hat vor Weihnachtenfestgestellt, dass die Selbstverwaltung legitimiert ist, einewirtschaftliche Verordnung über Festbeträge durchzu-setzen. Das war ein großer Erfolg für die rot-grüne Regie-rung. Diese Möglichkeit einer Festsetzung der Festbeträgemuss im Interesse der Versicherten, der Beitragszahler, ge-nutzt werden.
Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, derenWirkungsweise neuartig ist und die zum Beispiel wegengeringerer Nebenwirkungen eine therapeutische Verbes-serung mit sich bringen, bleiben weiterhin von der Fest-betragsregelung ausgenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur defizitären Ent-wicklung innerhalb der gesetzlichen Krankenversiche-rung hat auch der überproportionale Anstieg der Verwal-tungsausgaben der Krankenkassen beigetragen. In denletzten fünf Jahren lag der Zuwachs durchschnittlich beigut 3 Prozent. 2001 waren es rund 5 Prozent, im erstenDr. Marlies Volkmer
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Dr. Marlies VolkmerHalbjahr 2002 rund 4 Prozent. Zwar war die Ausgaben-entwicklung der letzten Jahre auch durch verschiedeneSonderfaktoren, wie zum Beispiel Investitionen in ver-besserte EDV-Ausstattungen und Einführung von Con-trollingsystemen, geprägt. Aber Rationalisierungsan-strengungen in anderen Verwaltungsbereichen warenunzureichend. Deshalb werden auch die Krankenkassenzu einem besonderen Solidarbeitrag herangezogen. DieVerwaltungsausgaben werden 2003 auf die Höhe des Jah-res 2002 begrenzt. Damit ergibt sich für die gesetzlicheKrankenversicherung im Jahr 2003 eine geschätzte finan-zielle Entlastung von circa 200 Millionen bis 300 Milli-onen Euro. Mitgliederzuwächse können aber unabhängigdavon berücksichtigt werden und für Disease-Manage-ment-Programme wird es Ausnahmen geben.Ich appelliere an Sie, der Anrufung des Vermittlungs-ausschusses zuzustimmen. Es ist in unser aller Interesse,die Verwaltungskosten der Krankenkassen und die Arz-neimittelpreise zu begrenzen. Wir wollen den Beschäftig-ten der Krankenhäuser, die sich zwischen dem 31. Oktoberund dem 31. Dezember 2002 für das neue leistungsorien-tierte Vergütungssystem entschieden haben, Sicherheitund Chancengleichheit geben. Deswegen wollen wir dieUmstiegsoption bis zum 31. Dezember 2002 verlängern.Wer heute mit Tränen im Auge die so genannte Nullrundein den Krankenhäusern beklagt, kann sich dieser Argu-mentation nicht verschließen; denn die Krankenhäuser,die nach DRGs abrechnen, sind von der Nullrunde ausge-nommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undFDP, laufend äußern Sie Ihre Sorge um die Sozialkassen.Konsequenterweise müssen Sie deshalb der Anrufung desVermittlungsausschusses zustimmen. Das sind Sie denMenschen im Land schuldig!
Ich möchte auch Ihnen, Frau Kollegin Dr. Volkmer, zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag herzlich gra-
tulieren und alles Gute für Ihre weitere Arbeit wünschen.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Michael Henn-
rich, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Als neu gewählter Abgeordneter, der heute seine ersteRede im Deutschen Bundestag hält, gehe ich mit viel Ide-alismus und viel gutem Willen an meine Tätigkeit heran.Ich will etwas für die Menschen bewegen, die mich ge-wählt haben, und an Gesetzen mitarbeiten, die von Dauersind und die unser Land in eine sichere Zukunft führen.Vielleicht kann ich meinen beiden Kindern in ein paarJahren erzählen, an welchen wichtigen Gesetzen ich mit-gearbeitet habe. Noch habe ich diese Hoffnung.Vom Zwölften Gesetz zur Änderung des SGBVwerdeich meinen beiden Kindern sicherlich nichts erzählen.Oder beeindruckt es Sie, wenn von großen Reformen imGesundheitswesen gesprochen wird, wir dann aber Arz-neimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen in die Fest-betragsregelung einbeziehen, festlegen, dass sich die Ver-waltungsausgaben der einzelnen Krankenkassen im Jahr2003 im Vergleich zum Jahr 2002 nicht erhöhen dürfenund eine Nullrunde für Krankenhäuser verordnen, von deres Ausnahmen gibt, die aber nicht für alle gelten sollen?Seit über vier Jahren ist Rot-Grün an der Regierung. Siehaben genügend Zeit gehabt, die Weichen für eine mo-derne, zukunftsorientierte Gesundheitspolitik zu stellen.
Stattdessen präsentieren Sie uns ein Gesetzeswerk, vondem Sie wissen, dass es die finanziellen Probleme im Ge-sundheitswesen nur noch weiter verschärft und in punktoQualität der medizinischen Versorgung zu einem Risiko-faktor wird.
Das Gesetz, mit dem Sie die Beiträge in der gesetzli-chen Krankenkasse stabilisieren wollen, hat das Gegenteilbewirkt. Die Kassen mussten in den letzten Wochen dieBeiträge teilweise massiv erhöhen und kündigen trotzBeitragserhöhungsstopp weitere Beitragserhöhungenan. Waren vor einigen Wochen Beitragssätze von 15 Pro-zent bei den gesetzlichen Krankenkassen so etwas wie einschwer vorstellbares Schreckensszenario, so sind sie mitt-lerweile bittere Realität geworden.
Ich kann Ihnen versichern: Andere Krankenkassen wer-den in den nächsten Wochen folgen. Stabilisiert werdendamit allenfalls Verunsicherung und Unmut all derjeni-gen, die im Gesundheitswesen tätig sind.Nehmen wir doch zum Beispiel die Änderungen desKrankenhausfinanzierungsgesetzes! Zunächst war eineNullrunde vorgesehen, die angeblich Einsparungen inHöhe von 340 Millionen Euro erbringen sollte. Nach Ver-handlungen, unter anderem mit dem Marburger Bund undVerdi, hat das Bundesgesundheitsministerium entschie-den, dass die Frist zur Anmeldung zum DRG-Optionsmo-dell bis zum 31. Dezember 2002 verlängert wird. Damitsollen die Krankenhäuser, die an dem DRG-Modell teil-nehmen, nicht von der Nullrunde betroffen sein.Allein mit einer Entscheidung haben Sie drei zusätzli-che Probleme geschaffen: Zum Ersten erreichen Sie nichtdie gewünschten Einsparungen. Ich verweise insoweit aufdie Ausführungen der Vertreter der gesetzlichen Kranken-kassen in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses fürGesundheit und Soziale Sicherung. Zum Zweiten treibenSie viele Krankenhäuser wegen finanzieller Not in einSystem, auf welches sie sich nicht ausreichend vorberei-ten konnten. Das stört interne Betriebsabläufe und führtzu Verschlechterungen in der Patientenversorgung.
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Zum Dritten bleiben psychiatrische Krankenhäuser undEinrichtungen der neurologischen Frührehabilitation aufder Strecke. Sie haben keine Möglichkeit, der Nullrundezu entgehen.Wie sollen Krankenhäuser, die nicht am DRG-Opti-onsmodell teilnehmen, die Mehrkosten, die zum Beispieldurch den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst anfallen,auffangen? In der Konsequenz werden die Krankenhäusergar nicht anders können, als auf Kosten der Patienten undder medizinischen Qualität zu sparen.Im Übrigen müsste Ihnen zu denken geben, dass sichbis zum 31. Oktober 2002 – das ist der Zeitpunkt, bis zudem sich die Krankenhäuser ursprünglich entscheidensollten – gerade einmal 55 Krankenhäuser für dieses Op-tionsmodell entschieden hatten. Wenn die Union heute zurAnrufung des Vermittlungsausschusses Nein sagt, soschützt sie damit die Krankenhäuser vor weiteren unab-sehbaren Gefahren.
Aber das ist nicht der einzige Kritikpunkt. Nehmen Siedie Deckelung der Verwaltungsausgaben bei den Kran-kenkassen! Da gibt es Krankenkassen, die in den letztenJahren sehr gut gewirtschaftet haben und bei denen derAnteil der Verwaltungskosten eher als gering einzustufenist. Dies ist zum Beispiel bei den Betriebskrankenkassender Fall. Die von der Regierung jetzt vorgesehene Rege-lung bestraft gerade die Krankenkassen, die in den letztenJahren wirtschaftlich gearbeitet haben, während sich sol-che, die in der Vergangenheit aus dem Vollen geschöpfthaben, keine größeren Sorgen machen müssen. Ist das ge-recht?Dann zum Thema: Festbetragsregelung für Arznei-mittel. Im Gesetzentwurf heißt es so schön:Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, de-ren Wirkungsweise neuartig ist und die eine thera-peutische Verbesserung, auch wegen geringerer Ne-benwirkungen, bedeuten, bleiben weiterhin von derFestbetragsregelung ausgenommen.Auch hier gilt der altbekannte Grundsatz: Eine Rege-lung schafft drei Probleme. Erstens. Die Pharmaunter-nehmen werden ihre Forschungsanstrengungen zurück-schrauben. Wer garantiert denn schon, dass es sich umeine echte Innovation und nicht um eine Scheininnova-tion handelt? Zweitens. Es entsteht ein zusätzlicher büro-kratischer Aufwand zur Prüfung von echten Innovatio-nen. Wie wollen Sie das definieren und wo nehmen Siedie Abgrenzung vor? Drittens. Für die ohnehin überla-stete Justiz haben Sie ein neues Betätigungsfeld gefun-den.Frau Schmidt, Sie und die Bundesregierung haben eszu verantworten, wenn international tätige Pharmakon-zerne nicht mehr in Deutschland investieren
und am Pharma- und Forschungsstandort Deutschlandlangsam die Lichter ausgehen.
Für ein solches Gesetz mit den geschilderten Un-zulänglichkeiten können und wollen wir Ihnen nicht dieHand reichen. Dazu brauchen wir auch keinen Vermitt-lungsausschuss. Legen Sie uns ein tragfähiges und schlüs-siges Konzept dazu vor, wie Sie das Gesundheitswesenreformieren wollen! Dann werden wir uns auch einigenund brauchen keinen Vermittlungsausschuss.Das Dilemma, in dem Sie von Rot-Grün stecken, istdoch, dass Sie keinerlei Ideen haben, wie Sie die Struktur-probleme im Gesundheitswesen in den Griff bekommenkönnen. Da Sie keine Ideen haben, berufen Sie – ähnlichdem Modell der Hartz-Kommission – eine Kommissionein, die es richten soll. Während Sie, was die Vorschlägeder Hartz-Kommission angeht, noch von einer Umset-zung im Verhältnis eins zu eins sprachen, demontieren Siedie neue Kommission, bevor sie ihre eigentliche Arbeitaufgenommen hat. Die einen sehen auf mehrere Jahre hi-naus keinen Reformbedarf im Hinblick auf unsere sozia-len Sicherungssysteme – Herr Scholz lässt grüßen –,während andere von „Professorengequatsche“ reden undmit vermeintlichen Lateinkenntnissen – Herr Stieglerlässt grüßen – glänzen. Wenn wir schon von Einsparungenreden: Die 1Million Euro, die uns diese Kommission kos-tet, könnten wir uns wirklich sparen.
Sie dürfen sich nicht wundern, dass immer mehr Leis-tungserbringer aus dem Gesundheitswesen zu Protestak-tionen rufen. Erstens die Ärzte.Wenn man sich die Aus-gabenentwicklung im dritten Quartal 2002 anschaut, dannfällt einem auf, dass die höchsten Steigerungsraten nichtbei den Honoraren für Ärzte und Zahnärzte liegen, son-dern bei den Arzneimittelausgaben, den Heilmittelausga-ben und den Krankenhauskosten. Trotzdem verordnen Sieden Ärzten eine Nullrunde, und das, obwohl die Honorareder Ärzte ohnehin schon budgetiert sind.Zweitens die Apotheker. Sie werden gleich aus meh-reren Richtungen angegriffen. Da droht der Versandhan-del und jetzt sollen sie auch als Inkassounternehmen fürdie Krankenkassen arbeiten. Apotheker sollen nicht nurdie eigenen Rabatte abführen, sondern auch die derGroßunternehmen.Drittens die Zahntechniker. Deren Leistungen kürzenSie um 5 Prozent. Gleichzeitig wird der Mehrwertsteuer-satz aber von 7 Prozent auf 16 Prozent angehoben. Dasführt zu keiner Entlastung der Kassen, sondern zu zusätz-lichen Belastungen in Höhe von 150 Millionen Euro.Als Neuling im Deutschen Bundestag wäre es vermes-sen, Ihnen zu sagen, wie eine vernünftige Gesundheits-reform aussehen sollte.
In den ersten Monaten meiner Tätigkeit habe ich aber vielüber Transparenz, über Wettbewerb und über Eigenver-antwortung gelernt. Wenn Sie sich bei den nun anstehen-den Reformen an diesen Maßstäben orientierten, dannwären wir ein gutes Stück weiter und dann könnten Sieauch mit unserer Unterstützung rechnen.Danke schön.
Michael Hennrich
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Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Hennrich, zu
Ihrer ersten Rede. Ich verbinde damit den Dank des Prä-
sidiums, dass Sie die vorhin großzügig eingeräumte zu-
sätzliche Redezeit Ihrerseits eingespart haben, wodurch
wir wieder im Zeitplan sind.
Ich hoffe, dass Ihnen das bei Ihren künftigen Reden in
ähnlicher Weise gelingt.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Selg, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Herr Hennrich, natürlich gratuliere auch ich Ih-nen recht herzlich. Ich muss Ihnen allerdings sagen: Wirhaben mit unserer Gesundheitsreform in den vergange-nen viereinhalb Jahren mehr als Sie in 16 Jahren be-wegt.
Das von der schwarz-gelben Bundesratsmehrheit vorkurzem abgelehnte Zwölfte SGB-V-Änderungsgesetz be-inhaltet drei Regelungen, denen Sie nicht zustimmen kön-nen: erstens die Einbeziehung von Analogpräparaten indie Festbetragsregelung; zweitens die Fristverlängerungfür Krankenhäuser bei der Anmeldung zur DRG-Ein-führung; drittens die Festschreibung der Verwaltungskos-ten der Krankenkassen auf dem Niveau von 2002.Roland Koch hat diese Regelungen mit dem Argumentabgelehnt, dass eine Deckelung der Finanzierung vonpatentgeschützten Medikamenten den Forschungsstan-dard massiv gefährden werde.
– Da hat er leider nicht Recht. Es geht nicht um eineDeckelung der Finanzierung aller patentgeschützten Me-dikamente, sondern nur um die Deckelung der Finanzie-rung der so genannten Analogpräparate.
Das sind Medikamente, die gegenüber bereits existieren-den Medikamenten überhaupt keinen Zusatznutzen auf-weisen.
Denn häufig werden nur bestimmte Molekülstrukturengeringfügig manipuliert – wahrscheinlich weiß das nichtjeder –, um dies patentieren zu lassen und das Patent fürviel Geld verkaufen zu können. Es handelt sich sehr wohlum Scheininnovationen. Echte therapeutische Innovatio-nen werden dagegen auch zukünftig nicht von der Fest-betragsregelung erfasst.
Eine Schädigung des Forschungsstandorts Deutsch-land wollen auch wir von der Koalition nicht. Wir wollenaber, dass Forschung, die von den Versicherten über hoheBeitragssätze bezahlt werden muss, den Versichertenauch zusätzlichen Nutzen stiftet. Bei Scheininnovationenist dies nicht der Fall. Sie nutzen lediglich der Pharmain-dustrie, die auf diese Weise ihre Profite auf Kosten derVersicherten erhöht. Deshalb sagen wir zwar Ja zu inno-vativer Forschung, aber Nein zu nutzlosen Scheininnova-tionen auf Kosten der Versicherten.
Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt, zu dem SieNein sagten: Fristverlängerung für die DRG-Einfüh-rung. Ein Argument von Roland Koch hierfür im Bun-desrat lautete, die Fristverlängerung sei nicht fair. EineBegründung, warum dies der Fall sei, gab er nicht. Das istauch kein Wunder, weil es nämlich keine gibt.Außerdem behauptete er, dass die Regelung zu einerNachmeldung von Krankenhäusern führen würde, die fürdie DRG-Einführung noch nicht bereit seien. Auch hierstelle ich klar: Herr Koch liegt völlig falsch, wenn er dieFristverlängerung als unfair hinstellt. Das Gegenteil istnämlich der Fall. Es wäre unfair gewesen, wenn wir dieFrist nicht verlängert hätten. Die ursprüngliche Frist en-dete nämlich am 31. Oktober, also bevor die Regelungendes Beitragssatzsicherungsgesetzes bekannt wurden.Viele Kliniken hatten sich, obwohl sie dazu in der Lagegewesen wären, nicht angemeldet, da sie keinen unmittel-baren Anlass gesehen hatten.
Es war nämlich geplant, es 2003 nur freiwillig, ohne Ver-günstigungen zu gewähren, einzuführen. Durch das Bei-tragssatzsicherungsgesetz wurde ein neuer Sachverhaltgeschaffen, die Frist war aber bereits verstrichen. Deshalbwar und ist eine Fristverlängerung gerade aus Fairness-gründen zwingend notwendig.Die Behauptung von Herrn Koch, nachmeldende Kli-niken seien für die DRG-Einführung noch gar nicht bereit,beinhaltet eine Unterstellung, die durch nichts belegt ist.Wäre es den Kliniken möglich, völlig unvorbereitet dieseAusnahmeregelung in Anspruch zu nehmen, dann hättensich doch alle deutschen Krankenhäuser gemeldet. Siesagten vorhin, es hätten sich bis Oktober 50 angemeldet.Es waren aber 500. Die eine Null hätte ich da gerne nochangefügt. 800 Kliniken haben nachgemeldet, das heißtalso, von 2 000 Krankenhäusern werden jetzt 1 300 andieser wirklich innovativen und reformorientierten Um-stellung teilnehmen. Das belegt, dass die Kliniken sehrwohl sorgfältig abgewägt haben, ob sie die DRG-Ein-führung 2003 bewältigen können oder nicht.
Bei den Verhandlungen über das Beitragssatzsiche-rungsgesetz war es ein wichtiges Ziel für uns, dass der vonRot-Grün auf den Weg gebrachte Strukturwandel imKrankenhausbereich nicht verhindert wird. Die Blockade-haltung der schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat be-
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wirkt genau das Gegenteil: Der für unser Gesundheitswe-sen so wichtige Strukturwandel im Krankenhausbereichwird blockiert, weil die Krankenhäuser nicht wissen, obund wann ihnen die CDU/CSU-regierten Länder endlichdie Möglichkeit eröffnen, die Ausnahmeregelung in An-spruch zu nehmen. Hier zeigt sich im Übrigen die ganzeSchizophrenie der kochschen Argumentation: Einerseitswettert er gegen die Nullrunde, andererseits verhindert eraber, dass reformorientierte Krankenhäuser davon ausge-nommen werden.Bezüglich des Einfrierens der Verwaltungskosten aufdem Stand von 2002 hat Herr Koch dagegen signalisiert,dass man über die Deckelung der Verwaltungskosten derKrankenkassen reden könne. Anscheinend sieht er durch-aus Sinn in einer solchen Regelung. Zumindest hierscheint sich eine Einigkeit zwischen Bundestagsmehrheitund Bundesratsmehrheit abzuzeichnen.Bezüglich der zwei strittigen Punkte möchte ich abernoch einmal sagen: Hierbei handelt es sich um sinnvolleund zielführende Maßnahmen. Meine Befürchtung ist,dass Herr Koch und seine Konsorten dies genau wissen,aber diese aus wahlkampftaktischen Gründen weiterhinblockieren werden.
Mein Wunsch für die anstehenden Verhandlungen imVermittlungsausschuss lautet deshalb: Möge die Vernunftüber Ihr wahlkampftaktisches Kalkül siegen.Danke.
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Dieter
Thomae, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die rot-grüne Koalition befindet sich in einem großen Dilemma.Das stellt sie gegenwärtig fest;
denn sie versucht zum zweiten Mal, diesen Gesetzentwurfin den Vermittlungsausschuss einzubringen. Es war si-cherlich ein großer Fehler von Ihnen, Ihre Vorhaben aufeinen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichti-gen Gesetzentwurf aufzuteilen, denn jetzt müssen Sieschauen, wie Sie vorankommen.Ich möchte Ihnen ehrlicherweise auch sehr deutlich sa-gen: Ich bin froh, dass Baden-Württemberg auf Initiativeder FDPdas Bundesverfassungsgericht angerufen hat, umprüfen zu lassen, ob der zustimmungsfreie Teil des Ge-setzes tatsächlich zustimmungsfrei ist.
Wir sind der Auffassung, dass auch dieser zustim-mungspflichtig ist. Dann werden wir sehen, was Sie dortfabriziert haben.
– Ich weiß besser Bescheid als Sie; da können Sie sichersein.
In der Tat ist das eine schwierige Situation für dieKrankenhäuser. Ich bin der Meinung, dass das DRG-Sys-tem eingeführt werden muss, denn das benötigen wir fürwettbewerbliche Strukturen im Krankenhaus.
Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Krankenhäuser alsdiejenigen, die sich bisher dafür entschieden haben, dieseMöglichkeit in Anspruch nehmen können. Sie sehen: Wirwollen ein Vermittlungsverfahren.
Der zweite wichtige Punkt. Sie wollen die Verwal-tungskosten dämpfen. Sie dürfen aber nicht vergessen,dass Sie den Krankenkassen in den letzten vier Jahren soviel Bürokratie aufgeladen haben, dass man sich nichtwundern muss, wenn die Verwaltungskosten ansteigen.Es wäre besser, Sie würden die bürokratischen Regelun-gen abbauen. Dann hätten die Krankenkassen im Verwal-tungsbereich sicherlich viel mehr Spielraum und könntenauf diese Weise Kosten sparen.
Diese Vielzahl von bürokratischen Regelungen war Ihrentscheidender Fehler bei der Reform.Sie wissen doch,
wie viel Stellen in den letzten Jahren bei den Kranken-kassen zusätzlich geschaffen worden sind: mehr als3 000 Stellen. Das bedeutet immense Personalkosten.Dafür haben Sie 15 000 Pflegekräfte abgebaut. Das musseinmal deutlich gesagt werden.
Das ist Ihr Fehler. Mit dieser Begrenzung, Budgetierungund Nullrunde werden Sie auf Dauer keine Gesundheits-politik machen können. Das sind Instrumente aus derMottenkiste; das ist Planwirtschaft bis zur höchsten Kom-petenz.Hinzu kommt Ihre Vorstellung, Sie könnten bei denMe-too-Präparaten unterscheiden, welche Präparate aufDauer innovationsfähig sind. Wir haben aus der Praxisviele Beispiele dafür, dass Präparate, die auf den Marktgekommen sind, zunächst nicht den großen DurchbruchPetra Selg
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Dr. Dieter Thomaeerlebten und erst später festgestellt wurde, dass dieseArzneimittel für schwierige Indikationen eingesetzt wer-den können. Ich weiß nicht, woher Sie den Mut nehmen,zu entscheiden, was Me-too-Präparate sind und wasnicht.
– Halten Sie doch den Mund! – Das sollten Sie den Fach-leuten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-produkte bei der Zulassung überlassen; denn die sind inder Lage, zu entscheiden, welche innovativen Präparateauf den Markt gebracht werden sollen.
Dafür sollten nicht neue bürokratische Strukturen ge-schaffen werden.Mit dieser Konzeption werden Sie bei uns keine Zu-stimmung finden. Dennoch sind wir der Meinung: DerVermittlungsausschuss soll noch einmal versuchen, ge-rade im Krankenhausbereich einen Kompromiss zu erzie-len. Dazu sind wir als Liberale bereit. Ich hoffe, dass wirdann eine vernünftige Basis finden.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Zwölften
Gesetz zur Änderung des Fünften Buches des Sozialge-
setzbuches auf Drucksache 15/298. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Enthaltun-
gen? – Dann ist der Antrag mit den Stimmen der SPD-
Fraktion, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSU-
Fraktion angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker
Beck , Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentli-
ches Gut und kulturelle Vielfalt sichern
– Drucksache 15/224 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Zeit von 45Minuten vorgesehen. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
zunächst der Kollegin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Die Verhandlungen über die Weiterentwicklung des1995 geschlossenen Abkommens über den internationa-len Handel mit Dienstleistungen gewinnen an Dynamikund kommen in eine entscheidende Phase. Die Forderun-gen der anderen Mitgliedstaaten liegen vor. In den nächs-ten Tagen wird die Vorlage des Verhandlungsangebotesseitens der EU erwartet. Bis Ende März dieses Jahres solldie Abstimmung darüber erfolgt sein.Zu den zwölf Dienstleistungssektoren, über die ver-handelt wird, gehören auch kulturelle und audiovisuellesowie Bildungsdienstleistungen. Grundsätzlich – lassenSie mich das sagen – ist für uns die Ausweitung des Han-dels mit Dienstleistungen eine große Chance für die ex-port- und dienstleistungsstarke deutsche Wirtschaft. Dochgeht es bei Bildung und Kultur um etwas grundsätzlichanderes als zum Beispiel bei Telekommunikations- undTransportdienstleistungen.
Schon vor Monaten haben alle relevanten Institutionenund Verbände, die Hochschulrektorenkonferenz, dieBund-Länder-Kommission und – das muss man sagen –als Erste die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft,
über Implikationen beraten, Forderungen formuliert undPositionen beschlossen. Angesichts des vorliegendenZeitplans halten wir es für überfällig, dass sich auch derDeutsche Bundestag positioniert.
Wir wollen mit unserem Antrag der Bundesregierung ei-nen klaren Verhandlungsauftrag für die Formulierung dergemeinsamen Position der EU geben.Alle Bildungsexperten, und zwar ausnahmslos, äußerndie Sorge, dass weitere Liberalisierungszugeständnisseim Ergebnis zu einer Kommerzialisierung des Bildungs-sektors, einer Erosion des öffentlichen Bildungswesensund der staatlichen Verantwortung – sprich: der von Bundund Ländern – und somit zu Qualitätsdumping führenkönnten.Die SPD-Bundestagsfraktion – ich kann sagen, auchdas Bundesministerium für Bildung und Forschung – teiltdie Grundsatzposition von HRK, BLK und GEW. Diesesind erstens: Öffentlich verantwortete Bildung und somitauch Hochschulbildung sind kein gewöhnliches Handels-gut wie sonstige Waren oder Dienstleistungen. Bildungs-politik darf nicht dem Primat der Handelspolitik unterge-ordnet werden.
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Zweitens. Die Gewährleistung von Chancengleichheitbeim Zugang zu Bildung und Wissen und die Sicherstel-lung hoher Qualitätsstandards im Bildungswesen gehörenzum Kernbereich staatlicher Daseinsvorsorge. Qualitäts-sicherung darf sich dabei nicht allein auf die staatlichenAngebote beschränken, sondern muss alle in- und auslän-dischen privaten einbeziehen.Drittens. Es besteht kein Anlass, über die 1995 einge-gangenen und im Vergleich zu anderen international imBildungsbereich aktiven Staaten wie den USA, Australienoder Japan relativ weitgehenden Verpflichtungen hinaus-zugehen.Sind die vielfach geäußerten Befürchtungen und Sor-gen gerechtfertigt? Angesichts der teilweise diffusen Vor-behalte gegenüber internationalen Institutionen und Ab-kommen, insbesondere wenn es um Handelsfragen geht,ist es für mich wichtig, Folgendes klarzustellen. DasGATS lässt den einzelnen Mitgliedstaaten erheblicheFreiheiten bei der Übernahme von Verpflichtungen zurMarktöffnung. Jeder Staat entscheidet selbst, welche bila-teral für welche Dienstleistungssektoren übernommenwerden. Es liegt also allein in der Hand der WTO-Mit-glieder, welche Zugeständnisse gemacht und welche kon-kreten Verpflichtungen übernommen werden.Ich hatte im Dezember des letzten Jahres die Gelegen-heit genutzt, mich in Genf bei der WTO mit dem Gene-raldirektor Dr. Supachai und den Mitarbeitern des Sekre-tariats, insbesondere mit denen, die den Bereich Bildungbetreuen, über den Sachstand, über Hintergründe und überAbläufe zu informieren. Ich habe von dort den Eindruckmitgenommen, dass in Genf nicht erwartet wird, dassvonseiten anderer Staaten, zum Beispiel von den USA, er-heblicher Druck ausgeübt wird, den Bildungsbereich wei-ter zu liberalisieren; denn gerade die USAmüssten im Ge-genzug ihren Bildungsmarkt sehr viel weiter öffnen. Manhat in Genf den Eindruck, dass die USAgerade daran keinInteresse haben.Aber ich habe von dort auch eine bemerkenswerte Er-kenntnis mitgebracht. Die WTO hat nämlich die Erfah-rung gemacht, dass seitens der Europäischen Union, wennes um die Verhandlungsführerschaft durch die Handels-politik geht, diese Kompetenz genutzt wird, um auf und inandere Fachbereiche – sprich: Fachpolitiken – Zugriff zuhaben. Das macht hellhörig und vor diesem Hintergrundscheinen Sorgen nicht ganz unberechtigt zu sein.Die Erfahrungen vergangener Verhandlungsrundenzeigen, dass in wichtigen Streitfällen zwischen den Han-delspartnern Vereinbarungen erst in letzter Minute erzieltwurden, und zwar als Paketlösungen. Bildungsdienstleis-tungen könnten so – das ist zumindest theoretisch denk-bar – als Tauschobjekt einbezogen werden für Zugeständ-nisse seitens der EU, die in anderen Bereichen nichtgemacht werden, also verweigert werden.Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregie-rung auf, gegenüber der EU bei der Formulierung von An-geboten sicherzustellen, dass der bestehende Regulie-rungsvorbehalt und damit die öffentliche Aufsicht überdas Bildungswesen inklusive aller Fragen, die die Qua-litätssicherung betreffen, beibehalten wird. Wir fordernsie auf, auch den Subventionsvorbehalt beizubehalten,damit die staatliche Finanzierung von Bildungseinrich-tungen keine Rechtsansprüche für ausländische Bildungs-anbieter auslöst.
Wir sind allerdings der Auffassung, dass die Verhand-lungen zu einer Klarstellung des Begriffs der Govern-mental Services genutzt werden sollten, der hoheitlicherbrachten Dienstleistungen, die von den Bestimmungendes GATS ausgenommen sind. Wir fordern Klarstellun-gen dahin gehend, dass sich der Begriff des Wettbewerbsin Art. I des Abkommens allein auf den Wettbewerb zwi-schen überwiegend privat finanzierten Anbietern bezieht.Was den Bereich der audiovisuellen und kulturellenDienstleistungen angeht sind wir der Auffassung, dass aufLiberalisierungsforderungen gegenüber Drittstaaten ver-zichtet werden sollte.Dies alles schließt im Übrigen den internationalen Aus-tausch und Wettbewerb im Bildungsbereich überhauptnicht aus. Ich sage ganz deutlich: Der ist uns wichtig. DasBundesministerium für Bildung und Forschung hat auchin dieser Beziehung vieles auf den Weg gebracht. AusZeitgründen ist es nicht möglich, auf Einzelheiten einzu-gehen. Alle, die es interessiert, verweise ich auf die sehraufschlussreiche Dokumentation „Bildung und For-schung weltoffen“, die seit dem Sommer letzten Jahresvorliegt und allgemein zugänglich ist.
Schließlich ist unsere Forderung nach regelmäßigerund detaillierter Einbeziehung derFachausschüsse bzw.der Berichterstatter so selbstverständlich, wie sie überfäl-lig war. Mit der Einladung der Fachberichterstatter zu ei-nem Gespräch am Montag hat das Bundesministerium fürWirtschaft und Arbeit den Ball aufgegriffen. Das halte ichfür einen guten Anfang, der allerdings ausbaufähig ist.Wir sollten das noch viel nachdrücklicher fordern. Wenndort gesagt worden ist, die Abgeordneten des DeutschenBundestages seien mit Abstand die wichtigsten Ge-sprächspartner, dann gehe ich auch davon aus, dass dieAbgeordneten in Zukunft eher und detaillierter über denVerhandlungsstand informiert werden als beispielsweiseNichtregierungsorganisationen, wie das leider in der Ver-gangenheit der Fall gewesen ist. Aber ich sehe uns insge-samt auf einem guten Wege.
Mit Freude habe ich in dem Gespräch am Montaggehört – einige Kollegen, die heute Abend anwesend sind,waren dabei –, dass im Bereich Bildung die deutsche Po-sition sattelfest vertreten wird und die Bundesregierungauf eine uneingeschränkte Beibehaltung der bisherigenPosition hinarbeitet.
Unter dem Strich ist mein Eindruck, dass es hinsichtlichder stärkeren Parlamentsbeteiligung einen fraktionsüber-greifenden Konsens gibt und dass es einen großen gesell-schaftlichen Konsens gibt in Bezug auf den besonderenUlla Burchard
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Ulla BurchardCharakter von Bildungs- und Kulturdienstleistungen.Deshalb werbe ich hoffentlich nicht vergebens, sondernmit großem Optimismus um die Zustimmung des gesam-ten Hauses zu unserem Antrag, auch um der deutschen Po-sition international und innerhalb Europas den entspre-chenden Nachdruck zu verleihen.
Das Wort hat der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 1995ist das so genannte GATS-Abkommen in Kraft getreten.Deutschland und die Europäische Union haben sich ver-pflichtet, weitere Liberalisierungen des Dienstleistungs-sektors voranzutreiben. Wir begrüßen diese Liberalisie-rung des Welthandels, der nun auch im Bereich desHandels mit Dienstleistungen konkrete Formen annimmt.Die Bildungsdienstleistungen sind in das GATS-Ab-kommen als einer von zwölf Dienstleistungssektoren ein-bezogen worden. Bildung und der Handel mit Bildungkönnen ein bedeutsamer volkswirtschaftlicher Faktor sein.
Dies zeigen die Vereinigten Staaten von Amerika. DieUSA erwirtschaften auf dem internationalen Bildungs-markt pro Jahr einen Erlös von 12 bis 18 Milliarden US-Dollar und damit mehr als die ganze amerikanische Film-industrie.Was hat uns der internationale Vergleich im Rahmender PISA-Studie gelehrt? – Die Lehre von PISA ist, dasswir von anderen Ländern auch in der Schul- und Bil-dungspolitik lernen können.
Der rot-grüne Antrag zum Thema GATS-Verhandlungenoffenbart dagegen in manchen Teilen Ängstlichkeit vorprivater und ausländischer Konkurrenz.
Wir dagegen begrüßen die Liberalisierung im Dienstleis-tungsbereich. Sie trägt zu Wettbewerb zwischen den Bil-dungsanbietern und damit zu mehr Leistungsorientierungund Qualitätssteigerung bei.
Allerdings gilt es, bei den konkreten GATS-Verhand-lungen einige Aspekte zu berücksichtigen. Bildung ist inseinem Grundangebot in Deutschland ein öffentlichesGut. Die Struktur des öffentlich finanzierten Bildungssys-tems in Deutschland darf deshalb nicht generell zur Dis-position gestellt werden.
Aber ergänzende private ausländische Bildungsangebotesollten sehr wohl möglich sein, wenn sie bestimmte Be-dingungen erfüllen, vor allem vom Staat überprüfte Qua-litätsstandards.
Die Sicherstellung eines solchen Qualitätsstandards beiin- und ausländischen Anbietern im Bildungswesengehört zum Kernbereich der staatlichen Daseinsvorsorge,übrigens auch in der globalisierten Wissensgesellschaft.
Wir als Unionsfraktion unterstützen die Stellung-nahme, die der Ausschuss für Bildungsplanung der BLKals gemeinsame Position von Bund und Ländern erarbei-tet hat. Folgende Gesichtspunkte müssen berücksichtigtwerden:Erstens. Die von den Ländern und dem Bund inDeutschland wahrgenommene öffentliche Aufsicht überdas Bildungswesen muss erhalten bleiben.Zweitens. Die Setzung und Sicherung von Qualitäts-standards sowie die Akkreditierung und die Anerkennungvon Hochschulabschlüssen müssen weiterhin in der Re-gelungsbefugnis des Staates bleiben.Drittens. Die Gleichbehandlung ausländischer An-bieter darf nicht zu weit gehen. Die Regeln zur Inländer-behandlung gemäß Art. XII des GATS-Vertrages dürfenkeineswegs so ausgelegt werden, dass eine generelle Ver-pflichtung zur staatlichen Subventionierung auch privaterAnbieter entsteht. Anders formuliert: Die staatliche Fi-nanzierung von Bildungseinrichtungen in Deutschlanddarf keine Subventionsansprüche ausländischer privaterBildungsanbieter auslösen.
– Auch dann sollen sie keine Subventionen bekommen.Sie sollen sich auf dem privaten Markt selber beweisen.Viertens. Die rot-grüne Koalition fordert in ihrem An-trag, „dass Deutschland und die EU ... keine weiteren Li-beralisierungsverpflichtungen für den Bereich der Bil-dungsdienstleistungen übernehmen, die über die bereitsbei Aushandlung des GATS-Abkommens 1994 eingegan-genen Verpflichtungen hinausreichen“. Diese Auffassungteilt die Unionsfraktion nicht. Der Antrag zeigt, dass dierot-grünen Koalitionsfraktionen die GATS-Liberalisie-rungsverhandlungen mit angezogener Handbremseführen wollen.
Wir Christdemokraten sind nicht grundsätzlich gegeneine weitere Liberalisierung. Wir machen sie allerdingsvon Bedingungen abhängig. So reichen die bisherigenVerpflichtungen der EU und ihrer Mitglieder erheblichweiter als die anderer Mitgliedstaaten der WTO, insbe-sondere die der USA und Australiens.Deshalb ist es nach Meinung der CDU/CSU-Fraktionwichtig, dass vor weiteren Liberalisierungszugeständnis-
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sen der europäischen Seite eine Angleichung im Ver-pflichtungsniveau der wichtigsten Verhandlungspartnerangestrebt wird. Wir befürworten die weitere Liberalisie-rung; sie muss aber auf Gegenseitigkeit beruhen.
Eine Liberalisierung und Öffnung des deutschen Bil-dungsmarktes, ohne dass umgekehrt die anderen Länderihren Bildungsmarkt gleichzeitig, in gleicher Weise undin gleicher Intensität öffnen, kann es mit uns nicht ge-ben.
Die GATS-Verhandlungen sind eine vernünftige Sa-che. Dass Griechenland die griechische Staatsangehörig-keit als Erfordernis für Lehrer postuliert, ist einfach nichtmehr zeitgemäß. Das Erfordernis der dänischen Staatsan-gehörigkeit für Professoren in Dänemark ist ein Anachro-nismus.
Das passt nicht in eine internationale Wissensgesellschaft.Abschließend nenne ich ein anderes Beispiel: In Frank-reich ist die Gründung von Privatschulen grundsätzlichfranzösischen Staatsbürgern vorbehalten.Diese alten Zöpfe gehören abgeschnitten. Sie passennicht in das 21. Jahrhundert. Dies wollen wir ändern.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Die Globalisierung der Weltwirtschaft und die welt-weit zunehmende Privatisierung von Dienstleistungenführen dazu, dass wir uns mit völlig neuen Fragestellun-gen internationaler Bildungspolitik beschäftigen müs-sen. So lautet zum Beispiel eine Frage, die im Hinblickauf die Verteilung von Wissen beantwortet werden muss:Wem gehört das Wissen? Eine weitere, gerade hinsicht-lich der zunehmenden Kommerzialisierung des Bildungs-sektors zentrale Fragestellung lautet: Wem gehört die Bil-dung?Mit In-Kraft-Treten des so genannten GATS-Abkom-mens im Jahre 1995 hat die EU weitreichende Verpflich-tungen zur Liberalisierung des Dienstleistungssektorsübernommen. Seit Anfang 2000 wird nun im Rahmen derWTO über eine Weiterentwicklung des GATS verhan-delt. Ziel der Beratungen ist es, ein höheres Liberalisie-rungsniveau aller WTO-Mitglieder beim Welthandel mitDienstleistungen zu erreichen. Diese Verhandlungen er-strecken sich, wie von meinen Vorrednerinnen und Vor-rednern bereits dargelegt, auf alle von GATS erfasstenDienstleistungssektoren. Darunter fallen natürlich auchdie weltweiten Bildungsdienstleistungen. Im Mittelpunktdieser Verhandlungen stehen Forderungen, die die staat-lichen Subventionen zur Unterstützung öffentlicher undprivater Bildungsträger infrage stellen.Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sind mit der be-rechtigten Sorge an uns herangetreten, die Verhandlungenkönnten im Endergebnis zu einer umfassenden Kommer-zialisierung des Bildungssektors führen. Ebenso wirdbefürchtet, dass es zu einer Aushöhlung des öffentlichenBildungswesens und der staatlichen Aufsicht über dasBildungswesen kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklungdarf nicht eintreten. Die Rolle des Staates als Wächterüber die Chancengleichheit und die Qualität im Bildungs-wesen darf zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt werden.
Die Herstellung von Chancengleichheit beim Zugangzu Bildung und Wissen und die Sicherstellung eines ho-hen Qualitätsstandards im Bildungswesen gehörenzum Kernbereich staatlicher Aufgaben. Dies gilt auch undgerade in einer globalisierten Wissensgesellschaft. Qua-litätssicherung darf sich dabei nicht allein auf die staat-lichen Angebote beschränken, sondern muss auch alle in-und ausländischen privaten Angebote einbeziehen.Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Bemühungendes Bundesministeriums für Bildung und Forschung, bil-dungspolitischen Interessen und Standpunkten in denGATS-Verhandlungen den notwendigen Stellenwert zugeben.
Aber wir wissen auch: Die Bundesregierung ist kein di-rekter Verhandlungspartner. Sie kann ihren Einfluss nurmittelbar geltend machen. Verhandlungspartner ist die EUinsgesamt.
Umso wichtiger ist es, die deutschen Interessen zu bün-deln. Um der Sache willen sollten wir dabei alle an einemStrang ziehen.Es gibt immer noch Politikerinnen und Politiker, dieernsthaft glauben, Bildung stehe jenseits wirtschaftlicherEinflussnahme und nur im Dienste der Bevölkerung. Da-bei tobt in der Bildungspolitik schon seit geraumer Zeitein heftiges weltweites Ringen nicht etwa um Inhalte oderDidaktik, sondern um Marktanteile der weltweiten Bil-dungsdienstleister.Unsere Verhandlungspartner jenseits des Atlantiks ha-ben es bereits deutlich formuliert. Die amerikanischenBildungskonzerne erhoffen sich beispielsweise die Auf-nahme einer neuen Kategorie namens Training in dieListe der frei handelbaren Bildungsangebote. Gemeintist damit nichts anderes als der lukrative Markt der un-ternehmensbezogenen Weiterbildungen. Bildung wirdzum weltweiten Exportschlager. Schon jetzt nimmt deramerikanische Bildungssektor mit rund 10 MilliardenDollar den fünften Rang in der US-Exportwirtschaft ein.Thomas Rachel
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Grietje BettinAber auch wir wollen keinen abgeschotteten Bildungs-markt und sehen durchaus die positiven Effekte einerInternationalisierung von Bildung
wie zum Beispiel die Öffnung der Bildungseinrichtungenfür ausländische Studierende und die Erschließung neuerMärkte und neuer Kooperationschancen für inländischeDienstleister.Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass ein globa-ler Bildungsmarkt entsteht, der sich nur noch über dieProfitmaximierung definiert. Eine Privatisierung des Bil-dungswesens durch immer mehr Gebühren und einen da-mit verbundenen Rückzug aus der öffentlichen Verant-wortung wird es unter Rot-Grün nicht geben.Grundsätzlich teilen wir Grünen die Bedenken derGlobalisierungskritikerinnen und -kritiker. Die Verhand-lungen werden bis jetzt viel zu wenig transparent geführt.Weder das Parlament noch die betroffene Öffentlichkeitwurden ausreichend informiert. Dies muss sich schnells-tens ändern.Unsere Forderungen sind daher eindeutig: Im Rahmender nächsten Freihandelsrunde darf Bildung nicht unter„ferner liefen“ verhandelt werden. Bildung ist nun einmalkeine Ware wie jede andere, sondern muss gesondert ver-und auch behandelt werden. Wir setzen zur Verbesserungdes Gesamtangebots auf dem Bildungssektor auch aufneue internationale Angebote und Ansätze. Deshalb tretenwir grundsätzlich für die Öffnung des Bildungssektors fürprivate Anbieter ein, um zusätzliche Innovationen im deut-schen Bildungssystem zu ermöglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein qua-litativ hochwertiges Bildungssystem erreichen, zu demalle Bürgerinnen und Bürger gleichen Zugang erhalten,unabhängig von ihrer sozialen, kulturellen oder ge-schlechtlichen Zugehörigkeit. Dafür brauchen wir eine in-ternational offene und vielfältige Bildungslandschaft ge-nauso wie eine staatliche Qualitätskontrolle. Staat undPolitik setzen die Ziele und garantieren die Qualität. DenWeg und die Umsetzung bestimmen die Einrichtungenund Anbieter selbst.Zusammenfassend muss für GATS gelten, was wirauch für das deutsche Bildungssystem insgesamt wollen:die Freiheit der Bildungswege bei staatlicher Qualitäts-garantie und die Festlegung von Bildungszielen durch po-litische Beteiligung der Öffentlichkeit.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Un-recht hat das Thema „GATS plus Bildung“ bislang kaumöffentliche Beachtung gefunden. Dabei ist der Bildungs-markt, wie dies Herr Rachel eben so plastisch dargestellthat, im Augenblick einer der am schnellsten wachsendenMärkte. Es geht darum, wie ausländische Bildungsanbie-ter zukünftig in Deutschland auftreten können, aber auchdarum, wie wir in Zukunft auf ausländischen Märktenpräsent sein werden.Frau Burchardt, Ihr Antrag fokussiert vor allen Din-gen auf den ersten Bereich. Mir fehlen – das sage ichfür die Liberalen ganz klar – Aussagen dazu, wie wirdie Möglichkeiten, für unsere Bildungsträger Zugangzu Märkten zu bekommen, nutzen wollen. Mir fehlenAussagen darüber, was Liberalisierung für die Verbes-serung der Qualität von Bildung in Deutschland be-deutet.
Warum sollten wir zum Beispiel nicht bereit sein, denBereich Testing in den internationalen Wettbewerb zustellen? Warum soll nicht ein ausländischer Anbieter dieÜberprüfung der Qualität deutscher Bildungseinrichtun-gen übernehmen, wenn er sich an staatliche Qualitätsvor-gaben hält?
Wer das Protokoll der Expertenanhörung vom24. Januar 2002 liest, der findet darin den bezeichnendenSatz des BMBF-Vertreters, dass Deutschland im Rahmendes WTO-Prozesses die Chance verpasst habe, Forderun-gen für den Bildungsbereich zu benennen. Warum? – Ichzitiere aus dem Protokoll:Weil wir eine mangelnde Koordination zwischen derfederführenden Wirtschaftsseite und der für Bil-dungswesen zuständigen Seite hatten.Meine Damen und Herren, dies prägt dieses Thema, diesprägt „GATS plus Bildung“: kleinliche Rivalitäten zwi-schen den Ministerien und – ganz offensichtlich damitverbunden – öffentliche Missachtung.Ich weiß, dass es im Rahmen der BLK eine Verständi-gung gegeben hat und dass viele Punkte daraus in IhrenAntrag eingeflossen sind. Trotzdem oder vielleicht geradedeswegen atmet der Antrag deutliche Angst und nicht Zu-versicht.
Die FDP sagt nicht: Liberalisierung auf Teufel kommraus. Den Gefallen tun wir Ihnen nicht. Vielmehr mussdas Niveau der Marktöffnung – da stimme ich Ihnen zu,Herr Rachel – gleichmäßig ansteigen. Die EU ist hier wei-ter als andere Regionen. Wir sagen aber auch: Wir wollenkeinen Closedshop.
Dies sagen wir auch vor den Vertretern der entsprechen-den Organisationen. Unsere oberste Priorität ist ebennicht die Bestandsgarantie für die heutigen Strukturen.
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Unser Maßstab ist Qualitätsverbesserung, nicht Arten-schutz.
Gerade vor dem Hintergrund der Diskussionen gesternim Ausschuss möchte ich Sie fragen: Wie setzen Sie sichdenn im Augenblick hinsichtlich der Ausgaben für Bil-dung in diesem Lande durch? Was für Prügel bekommenSie denn von den eigenen Leuten? Gerade vor diesemHintergrund müssen wir aufpassen, dass wir unserenMarkt durch ausländische Konkurrenz verbessern, unddürfen keine Angst haben.
Dennoch sind wir uns der wichtigen Fragen durchausbewusst: Können wir bei einer weiteren Marktöffnungwichtige Initiativen, wie zum Beispiel GATE, weiterstaatlich finanzieren? Wir müssen bei GATS den Grund-satz beachten: Was wir von den anderen fordern, müssenwir natürlich auch uns selbst abverlangen. Wenn wir staat-liche Subventionen vornehmen, können wir sie anderenauf unserem Markt nicht verbieten – das ist uns klar.
Nur ein Beispiel: Wir müssen Klarheit darüber haben, wiees mit der Hochschulbauförderung für ausländische An-bieter aussieht, die sich in Deutschland niederlassen.
Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür,dass diejenigen, mit denen Sie sich offensichtlich intensivunterhalten haben, Angst haben, dass der staatliche Ku-chen eben auch unter anderen Mitessern aufgeteilt wird,
zumal die Kuchenstücke zurzeit nicht größer werden.Aber das ist eben nicht die einhellige Meinung. So sprichtsich zum Beispiel der Generalsekretär des Stifterverban-des für die Deutsche Wissenschaft durchaus dafür aus,auch ausländischen Hochschulen im Wettbewerb umstaatliche Fördermittel eine Chance zu geben. Das soll al-lerdings unter drei Bedingungen geschehen: Studi-engänge müssen akkreditiert sein, die Hochschule mussnach § 70 HRG anerkannt sein und es muss eine Eva-luierung der Qualität, zum Beispiel durch den Wissen-schaftsrat, stattfinden. Wenn diese Bedingungen erfülltwerden, warum sollten wir dann Angst haben?Wir sind für den internationalen Wettbewerb bisherunzureichend gerüstet, das stimmt. Das liegt aber nicht ander Opposition in diesem Hause,
sondern das liegt an Ihnen, die Sie gerade in der Vergan-genheit nicht dafür gesorgt haben, das wir für Wettbewerboffen sind. Wo ist denn das Verbot von Studiengebühren?Mit den jetzigen Bedingungen machen Sie es unserenUniversitäten natürlich schwer.
Wo sind denn die Möglichkeiten, Studenten auszusuchen?Diese Möglichkeiten haben wir zurzeit nicht. Die Regie-rung hat die Universitäten hier entsprechend beschränktund dafür gesorgt, dass wir international nicht wettbe-werbsfähig sind.
Wir können aber den deutschen Bildungsmarkt nichtabschotten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich doch ein-mal sagen: Gerade weil wir Schwierigkeiten bezüglichdes Etats haben, können wir das nicht tun. Zusätzliche An-bieter werden Kapital, Qualität und Wettbewerbsdruck inunseren geschlossenen Markt bringen. Die FDP stehtdafür. Frau Burchardt, die FDP wird im Ausschuss einenAntrag einbringen, damit Sie sich mit unseren Forderun-gen im Detail auseinander setzen können.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Durch die heutige Aussprache wird deutlich:Die Fragen der Bildungspolitik haben nichts von ihrerBrisanz verloren. Letzes Jahr hielten uns die Ergebnisseder PISA-Studie in Atem. 2003 wird die Nachfolgekonfe-renz des Bologna-Prozesses hier in Berlin stattfinden undsicherlich zu einer weiteren kontroversen Debatte führen.In diesem Zusammenhang ist es natürlich gut, dass wirschon zu Beginn des Jahres über den Antrag der SPD undder Grünen zu den GATS-Verhandlungen diskutieren.Verehrte Kollegen, um es vorwegzunehmen: In derGrundaussage stimme ich dem Antrag in weiten Teilen zu.Bewährte Strukturen der öffentlichen Bildungs- und Kul-turförderung in Deutschland sollten eben nicht durchGATS infrage gestellt werden. Ich denke aber, wir dürfenes uns nicht zu einfach machen.In Deutschland ist es Mode geworden, sich gegen dieGlobalisierung in toto zu wenden. Man hört immer diegleichen Schlagworte: gegen Kommerzialisierung; kontraNeoliberalisierung. Aus der Globalisierung heraus ergebensich zweifelsohne Risiken, die beachtet werden müssen.Auch für die Bildungs- und Kultureinrichtungen könnensich aus den geplanten GATS-Vereinbarungen zahlreicheGefahren ergeben.Die meisten Szenarien sind in Ihrem Antrag – wie ichfinde zu Recht – bereits angesprochen worden. Auch wirwollen nicht – lassen Sie mich das übertrieben darstellen –,dass ein US-amerikanischer Testing Service über einKontingent an Hochschulplätzen in Deutschland verfügenkann oder dass ein australischer Bildungskonzern hier einmit Steuermitteln bezuschusstes Privatgymnasium be-treibt, das mit ausländischem Lehrmaterial arbeitet und zueiner Studienberechtigung an deutschen Universitätenführen kann.Auch wenn diese Beispiele sicherlich spekulativ sind:Wir Christlich-Sozialen sorgen uns um die kulturelleUlrike Flach
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Marion SeibVielfalt und ihre Bewahrung. Die Subventionierung aus-ländischer Bildungsanbieter oder der Wegfall derstaatlichen Aufsicht über das Bildungssystem wäre inder Tat eine gefährliche Entwicklung, die dem föderalenBildungssystem in Deutschland schweren Schaden zufü-gen könnte.
Doch trotz aller Risiken dürfen wir uns nicht dazu ver-leiten lassen, alle Entwicklungen der GATS-Runde imBereich der Bildung zu blockieren. Hinter GATS verber-gen sich für die Bildungseinrichtungen nämlich nicht nurRisiken, sondern auch erhebliche Chancen im In- undAusland. Gerade in den letzten Jahren haben mehreredeutsche Universitäten den Schritt ins Ausland gewagtund haben dort alleine oder mit Kooperationspartnernneue Hochschuleinrichtungen gegründet. In Bayern ha-ben alleine die Schulen 60 000 internationale Kontaktegepflegt. 15 000 Kooperationsvereinbarungen zwischendeutschen Hochschulen und ausländischen Einrichtungenwurden abgeschlossen, so unter anderem das „GermanInstitute of Science and Technology“ der TU München inSingapur.
Die Fakultät für Chemie der TU München bietet dort denStudiengang „Industrial Chemistry“ an. In einem staat-lichen Programm wurde die TU München neben weiterenzehn Top-Universitäten der Welt ausgewählt. Ich bin zu-versichtlich, dass diese Entwicklung in den nächsten Jah-ren anhalten und sich noch verstärken wird.
Durch den Bologna-Prozess entsteht ein europä-ischer Hochschulraum, der sich vor der Konkurrenz inden Vereinigten Staaten, in Australien oder in Neusee-land nicht zu verstecken braucht. In der Zukunft wird eszudem durch die Zunahme der weltweiten elektroni-schen Vernetzung ein verstärktes Angebot an virtuellenAusbildungsmöglichkeiten geben. Deutsche Hochschu-len können sich mit eigenen Angeboten dem internatio-nalen Wettbewerb erfolgreich stellen. Das müssen wirsehen.
Die EU-Länder haben bereits große Vorleistungen er-bracht, andere Länder müssen mit weiteren Verpflichtun-gen erst noch nachziehen. Grundkonsens muss sein, dassBildung und Kultur zu den Kernaufgaben einer demo-kratischen Gesellschaft zählen. Sie dürfen nicht einfachkommerziellen Gesichtspunkten untergeordnet werden.Ausländische Anbieter können die staatlichen Systemeergänzen, dürfen diese aber nicht unterminieren. Unterdiesem Blickwinkel müssen die GATS-Verhandlungenaufmerksam verfolgt und Verbesserungen angeregt wer-den.Ich möchte nun auf den Antrag direkt eingehen. In die-sem Antrag hätten die Länder etwas mehr Aufmerksam-keit verdient.
Bildung ist und bleibt überwiegend Ländersache.
Nicht nur Frau Bulmahn, sondern auch die europäischenRegionalminister für Kultur und Bildung haben mit derBrixener Erklärung vom 18. Oktober 2002 europaweit aufdie Risiken der geplanten GATS-Vereinbarungen hin-gewiesen.
In Ihrem Antrag ist weiter die Rede davon, dass dieneuen GATS-Vereinbarungen im Ergebnis zu einer Aus-höhlung des öffentlichen Bildungswesens führen würden.Mit Blick auf PISA und einige Bundesländer könnte manmeinen, die Aushöhlung schreitet auch ohne GATSschnell voran.Hinsichtlich der audiovisuellen und kulturellenDienstleistungen möchte ich darauf aufmerksam ma-chen, dass gerade auch in Frankreich – wir haben heuteMorgen zu diesem Punkt debattiert – die Diskussion da-rüber im Gange ist, wie den Besonderheiten der kulturel-len Dienstleistungen in den jeweiligen Ländern bei denGATS-Verhandlungen am besten Rechnung getragenwerden kann. Vielleicht ergibt sich ja für Sie, verehrteKolleginnen und Kollegen von der Regierungsseite, inder nächsten Woche bei der Feier zum 40. Jahrestag desÉlysée-Vertrages die Möglichkeit des Gedankenaustau-sches hierüber mit den französischen Parlamentskollegen.
Es ist zu begrüßen, dass die einzelnen Bundestagsaus-schüsse umfassend informiert werden sollen. Denn in derÖffentlichkeit wird häufig die fehlende Transparenz be-klagt. Sicherlich hängt das auch damit zusammen, dassdie EU-Kommission für alle Mitglieder die Verhandlun-gen führt und die Positionen nur in einem gesondertenAusschuss auf europäischer Ebene abgestimmt werden.Regelmäßige und umfassende Informationen der Aus-schüsse und Absprachen mit den Ländern bieten Mög-lichkeiten, mit entsprechenden Anträgen in den Aus-schüssen auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Damitkönnte dem Unverständnis in der Öffentlichkeit entge-gengewirkt werden.Wir können uns der Globalisierung unserer Weltnicht entziehen. Unsere Aufgabe ist es, unsere kulturellenund bildungspolitischen Besonderheiten in diese Ent-wicklung einzubringen und abzusichern. Lassen Sie unsdiese Aufgabe gemeinsam gestalten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das allgemeine Handelsab-
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kommen GATS ist ohne Zweifel eine der wichtigsten in-ternationalen Verpflichtungen, die die Europäische Unionund damit auch die Bundesrepublik Deutschland einge-gangen ist.Allgemeine Dienstleistungen, nicht Bildungsdienst-leistungen, sind der weltweit dynamischste Bereich desHandels. Allein 1999 erwirtschaftete der Dienstleistungs-sektor 1,34 Billionen Dollar – mit steigender Tendenz –und damit ein Fünftel des Welthandels. Dienstleistungentragen in den großen Industrieländern mittlerweile 60 bis70 Prozent zum jeweiligen Bruttosozialprodukt bei.64 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sindin diesem Bereich beschäftigt. Deswegen ist es wichtig,dass wir uns bei internationalen Vereinbarungen überDienstleistungen mit großer Sorgfalt mit diesem Bereichbefassen und uns genau überlegen, welche Auswirkungensie haben.
Dienstleistungen sind nicht nur im Rahmen der staat-lichen Organisation und öffentlichen Daseinsvorsorgewichtig. Sie begleiten uns im wahrsten Sinne des Wortesvon der Wiege bis zur Bahre. Sie sind unverzichtbar undder wichtigste und aussichtsreichste Wachstumsbereich.Für wen, in welchem Umfang, in welcher Qualität und zuwelchem Preis sie zur Verfügung stehen, bestimmt in ho-hem Maße über Wohlstand und Lebensqualität, Lebenund Gesundheit, aber auch über Chancengleichheit, so-zialen Zusammenhalt und zu einem nicht geringen Teil,Frau Flach, über das, was wir als nationale Identität, aberauch als Heimat definieren.
Daher ist es unverständlich, wie wenig wir bisher inDeutschland und Europa in der Öffentlichkeit und im Par-lament über das GATS diskutiert haben. Ist es uns wirk-lich gleichgültig, dass über eine Weiterentwicklungdes GATS weitgehend hinter verschlossenen Türen derEU-Kommission und der Welthandelsorganisation ver-handelt wird?
Herr Kollege Fritz, Sie erinnern sich: Sie haben dasschöne Beispiel gebracht, dass die Angebote und Über-legungen der EU eher mit einem Krabbelsack zu ver-gleichen seien, dessen Inhalt man vorsichtig abtaste, umfestzustellen, was wohl darin sei. Gegenüber einem Ab-kommen, das wir ratifizieren sollen, müssen wir uns wohlanders verhalten als gegenüber einem Krabbelsack; denn,Frau Kollegin Flach, es geht nicht nur um den öffentlichenBereich, sondern auch um wirtschaftsnahe Dienstleis-tungen wie freie Berufe, Datenverarbeitung und Kommu-nikation, Post und Telekom, Werbung, Bau, Montage-leistungen und vieles mehr.
Es geht aber auch um Bildung, um medizinische und so-ziale Dienstleistungen vom Krankenhaus bis zur Alten-pflege, um Umweltdienste vom Wasser und Abwasser biszur Müllabfuhr, um Erholung, Kultur und Sport. Dies warnoch keine vollständige Aufzählung all dessen, was indiesem GATS in 16 Bereichen geklärt werden soll.
Nur die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachtenDienstleistungen sind ausgenommen. Aber auch dies be-sagt nicht viel, weil dieser hoheitliche Bereich nicht ge-nau definiert ist. Sie wissen, dass es Länder gibt, in denenselbst Gefängnisse und Sicherheitsdienstleistungen privatorganisiert und nach Profitprinzipien geleitet werden.Deswegen geht es bei den Leistungen entscheidend da-rum, welche Leistungen künftig öffentlich erbracht wer-den bzw. öffentlich erbracht werden dürfen und nach wel-chen Kriterien – außer denen der Gewinnerzielung – diesgeschieht.Gerade in der Daseinsvorsorge, die von unseren Städ-ten und Gemeinden erbracht wird, sind folgende Fragenexistenziell: Wie viel Gestaltungsspielraum wird die öf-fentliche Hand noch haben? Wie viele Zuschüsse sindnoch erlaubt? Hat jeder private und ausländische Anbie-ter ebenso Anspruch auf öffentliche Subventionen wie ge-meinnützige Organisationen?
Es geht nicht darum, dass diese Anbieter keinen Zutrittzum deutschen Markt bekommen. Das ist in dieser De-batte nicht der Punkt. Diesen Unternehmen geht es darum,dieselben Subventionen zu bekommen. Das heißt, sie sindNachfrager um knappe öffentliche Ressourcen und Mittel.
Es geht beim GATS nicht nur um eine neue internatio-nale Marktordnung für Dienstleistungen, nicht nur umeine neue Ordnung des globalen Arbeitsmarktes. Es wirdeine neue globale und soziale Ordnung vorgezeichnet,die tief in die bisher vorhandenen politischen, sozialenund kulturellen Wertvorstellungen und Ordnungssystemeder meisten Nationalstaaten eingreift und ihre Hand-lungsspielräume für politische Gestaltung erheblich ein-schränken kann. Das ist für Parlamente wichtig. Schließenwir auch internationale Abkommen ab, die künftig dieEntscheidungsspielräume der Parlamente dramatisch ein-engen, oder haben wir künftig noch Möglichkeiten, eineandere Generation nach neuen Erfahrungen etwas anderesentscheiden zu lassen?
Über diese tiefen Einschnitte und Strukturverände-rungen soll es in unseren Ländern keine umfassende öf-fentliche Diskussion geben, geschweige denn einen aufMehrheitsbeschlüssen fußenden Konsens in den demo-kratischen Gremien, im Europäischen Parlament und imDeutschen Bundestag. Dies ist eigentlich unerträglich.Die Kommission in Brüssel sollte zur Kenntnis nehmen,dass das am 12. November 2000 auf der Website der Ge-neraldirektion Handel vorliegende KonsultationspapierDr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk– ich sage es einmal so – in seiner kryptischen Erhaben-heit keine ausreichende Information von Öffentlich-keit und Parlament bietet.
Wir haben uns den Text gemeinsam mit Ihnen mehr-fach durchgelesen und sind nicht darauf gekommen, wasdamit nun konkret gemeint ist. Wenn eine Reihe von klu-gen Abgeordneten des deutschen Volkes, die intensiv mitdieser Sache befasst sind und Mitglieder der Enquete-Kommission oder Vorsitzende des Unterausschusses Glo-balisierung waren, nicht ersehen kann, welche Forderun-gen real gestellt werden, welche Auswirkungen das aufdie einzelnen Sektoren hat, was das für die Staatshaus-halte bedeutet, welche Handlungsspielräume wir noch ha-ben werden, dann ist die Information von Öffentlichkeitund Parlament unzureichend.
Noch haben wir als Staat ein Entscheidungsrecht inder Europäischen Union. Diesen Entscheidungsspielraumsollten wir uns ohne genaue Information und Kenntnisnicht nehmen lassen.
–Wir müssen der Europäischen Union gemeinsam Dampfmachen. Da haben Sie Recht, Herr Rachel. Wir werdenuns freuen, wenn wir in Brüssel sagen können: Dies isteine gemeinsame Haltung der Bundesrepublik Deutsch-land und des gesamten deutschen Parlaments.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der michbeim GATS besonders irritiert. Im Rahmen der Welthan-delsordnung ist es bisher so, dass bei der Herstellung vonGütern die Art und Weise, auf die sie produziert werden,völlig unwichtig ist. Dies soll beim GATS genauso gelten.Wir als Sozialdemokraten haben auch bisher schon dage-gen gekämpft, dass es egal ist, ob ein Gut unter Schädi-gung der Umwelt, unter Ausbeutung von Kindern, unterLohnsklaverei oder gesundheitsgefährdenden Umständenerstellt wird.
Auch beim GATS wird nicht darüber diskutiert, unterwelchen Bedingungen die Dienstleistungen, die mögli-cherweise in unser Land geliefert werden, erbracht wer-den.
Die Frage ist, warum wir – das sage ich sehr nachdrück-lich – und die Europäische Kommission nicht verlangen,dass im GATS zumindest die ILO-Kernarbeitsnormenverankert werden. Bei dieser Frage wünschen wir unswirklich die Unterstützung der CDU/CSU.
Wir müssen – das möchte ich betonen – deutlich ma-chen, dass sich die EU bei einer Neuordnung der grenz-überschreitenden Dienstleistungen im GATS das Rechtvorbehalten muss, den Marktzugang im Bereich öffent-licher Aufgaben einzuschränken. Ich sehe, dass – mitAusnahme der FDP – alle Mitglieder dieses Hauses un-serer Meinung sind. Ferner muss gesichert sein, dass beiden horizontalen Verpflichtungen das Fortbestehen deröffentlichen Daseinsvorsorge in den Kommunen und an-derwärts nicht eingeschränkt oder gefährdet wird.Zielsetzungen wie die Sicherung einer sauberen Um-welt, der Gesundheit der Bevölkerung, der Chancen-gleichheit, des sozialen Zusammenhalts und des Erhaltsder traditionellen kulturellen Werte sind zentrale Fragenunserer Gesellschaft und können nicht im Vorbeigehenüber ein internationales Abkommen mit einem neuenRahmen oder neuen Einschränkungen der künftigen poli-tischen Gestaltungsfreiheit versehen werden. Wir sindschließlich Gesetzgeber und nicht politische Notare fürVorhaben, die auf einer anderen Ebene, in internationalenAbkommen, beschlossen werden.
Lassen Sie mich deswegen zum Abschluss eines anmer-ken: Die Europäische Union führt derzeit mit der europä-ischen Dienstleistungsrichtlinie ein kühnes und weltweiteinmaliges Unternehmen durch: qualifiziert, systematisch,verbunden mit dem Aufbau eines europäischen Binnen-marktes für Dienstleistungen.
Frau Kollegin, jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss
kommen.
Wir sollten versuchen, die einzelnen Schritte dieses
Unternehmens sorgfältig zu erarbeiten und sie auf das
GATS zu übertragen. Das wäre lohnend und sicherlich
besser als eine Übereilung.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieseDebatte freut mich deshalb, weil ich mich über jede De-batte zur WTO freue. Denn ich bin der Meinung, dass sichdas Parlament häufiger und frühzeitiger mit diesen Fragenbefassen muss, als wir es tun
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und – das muss ich hinzufügen – auch tun können, weildie Prozedur nun einmal bekanntermaßen wie folgt ab-läuft: abgestuft Richtung Brüssel und dann multilateral.Bei dieser Debatte beschleicht mich noch ein Verdacht,den die Redebeiträge der Regierungskoalition bestärkthaben, nämlich dass es bei dem vorliegenden Antrag imWesentlichen darum geht, „gutes Wetter“ gegenüber dervon Venro, Attac und dem DGB gestarteten Kampagne zumachen.
Das kann man durchaus tun. In der Kampagne werden For-derungen formuliert und der WTO wird vorgeworfen, dassmit dem GATS die Privatisierung der öffentlichen Wasser-versorgung oder der Hochschulausbildung vorangetriebenwerden soll und dass in den Bereichen Bildung, Gesund-heit, Umwelt und Wasser unmittelbar bevorstehe, öffentli-che Monopole durch private Monopole zu ersetzen.
Wenn Sie diese Argumente in Ihrer Rede wiederholen,Frau Burchardt, wie Sie es eingangs getan haben
– natürlich haben Sie das eingangs so dargestellt –, müs-sen Sie auch im weiteren Verlauf Ihrer Rede festhalten,dass sie nicht zutreffen. Ich meine, dass wir uns sachlichdamit auseinander setzen müssen.
– Das habe ich getan. Das hat mich ja veranlasst, das zuerwähnen.Die von zahlreichen Kritikern im Lager der Nichtregie-rungsorganisationen angestellte Vermutung, dass mithilfevon GATS die nationale Gesetzgebung der Parlamenteausgehebelt wird, trifft nicht zu. Denn entgegen den Be-fürchtungen der NGOs hat die EU die Daseinsvorsorgenicht in die GATS-Verhandlungen mit aufgenommen.Vielmehr wird in den EU-Forderungen ausdrücklich klar-gestellt, dass sie weder auf eine Beeinträchtigung vonDienstleistungen der Daseinsvorsorge noch auf Privati-sierung zielen. Es gibt nur eine Ausnahme, und zwar diean die USA gerichtete Forderung nach privat finanziertenDienstleistungen der höheren Bildung. Ansonsten sindBildungsdienstleistungen von den EU-Forderungen nichtumfasst, genauso wenig wie Gesundheits- und sozialeDienstleistungen, Kultur und audiovisuelle Dienstleistun-gen.Zwar gibt es Forderungen an die EU, aber sie muss ih-nen schließlich nicht nachkommen. Vielmehr kann sienach eigenen Vorstellungen prüfen, worauf sie eingeht.Dabei gibt es, soweit ich sehe, keine großen Diskrepanzenzwischen der Bundesregierung und dem Parlament.Auch die Sorge vieler NGOs, die EU gelange bei denlaufenden Dienstleistungsverhandlungen unter Druck,ihre bisherigen horizontalen Ausnahmen aufzugeben odereinzuschränken, ist unbegründet.Die bei der Europäischen Union eingegangenen For-derungen in dem zur Rede stehenden Bereich richten sichnicht in erster Linie an Deutschland, sondern an diejeni-gen, die die von der Europäischen Union im Bereich derDienstleistungen bereits gefassten Liberalisierungsbe-schlüsse nicht umsetzen.
Das ist das Entscheidende. Deshalb sind die Befürchtun-gen in Deutschland überhaupt nicht gerechtfertigt. Im Ge-genteil, wir dürfen bei dieser Diskussion nicht vergessen,welche Chancen bei Dienstleistungen für deutsche Unter-nehmen bestehen. Hier müssen wir uns an das durchgän-gige WTO-Prinzip halten: Wenn wir uns dazu entschlie-ßen, bestimmte Bereiche in Deutschland oder in derEuropäischen Union privat zu organisieren, dann müssenfür diese Bereiche gleiche Bedingungen für alle gelten.Nichtdiskriminierung bedeutet, alle gleich zu behandeln,ob Inländer oder Ausländer.
Meine Damen und Herren, nichts deutet darauf hin, dassDeutschland nach dieser Runde der Dienstleistungsver-handlungen bei der Sicherung der Qualitätsstandards etwasaufgeben müsste. Deshalb tun wir alle gut daran, in unse-ren öffentlichen Diskussionen und Darstellungen deutlichzu machen, dass es sehr wohl darum geht, genau zu prüfen,wo es Chancen für die private Erbringung von Dienstleis-tungen gibt, und dass es überhaupt keinen Grund für Ängs-te gibt, hier stünden dramatische Veränderungen bevor.Wir sollten diese Debatte nicht vorbeigehen lassen,ohne Wert darauf zu legen, dass die Bundesregierung alldas, was sie in den nächsten Wochen mit Blick auf dieGATS-Verhandlungen tut, auch gegenüber Parlament undBevölkerung transparent macht. Deshalb wiederhole ichan dieser Stelle den Vorschlag, den ich am Montag im Be-richterstattergespräch gemacht habe: Wenn die Europä-ische Union, die hinsichtlich der GATS-Verhandlungenbisher nur die Anforderungen an sie selbst kennt, abernoch nicht beschlossen hat, was sie ihrerseits verlangt,Ende Februar ihre Forderungen beschlossen haben wirdund die Bundesregierung ihren Beitrag dazu geleistet ha-ben wird, dann sollte die Bundesregierung in diesemHause sofort eine Regierungserklärung abgeben und demParlament Gelegenheit geben, zu den dann feststehendenVorstellungen Stellung zu nehmen.
Das wäre ein wesentlicher Beitrag zu der Transparenz,die nicht nur das Parlament verlangen kann, sondern dieauch die Öffentlichkeit mit Recht erwartet. Nichts wärebei diesen Verhandlungen schlimmer, als würden Vermu-tungen ins Kraut schießen, irgendjemand hecke mit fins-terer Absicht in dunklen Sälen etwas aus, was in Wirk-lichkeit gegen die Bevölkerung gerichtet sei.Vielen Dank.
Ich danke auch. – Ich schließe damit die Aussprache.Erich G. Fritz
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerInterfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/224 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungVierzehntes Hauptgutachten derMonopolkom-mission 2000/2001– Drucksachen 14/9903, 14/9904 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für TourismusNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeord-nete Hubertus Heil.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundes-wirtschaftsminister Clement hat gestern beim Jahresemp-fang des BDI deutlich gemacht, was wir in diesem Jahrvorhaben. 2003 wird das Jahr der nachhaltigen Wirt-schaftsreformen in Deutschland. Unser Ziel ist klar: Wirwollen trotz der schwierigen weltwirtschaftlichen Rah-menbedingungen unseren Beitrag zu mehr wirtschaftli-cher Dynamik und zu einem beschäftigungswirksamerenWachstum in Deutschland leisten.Das Vierzehnte Hauptgutachten der Monopolkommis-sion gibt uns Gelegenheit, heute einen Blick auf die aktu-elle Wettbewerbspolitik zu werfen. Ich möchte anhandvon drei Schwerpunkten, die wir uns in der Wettbewerbs-politik für dieses Jahr gesetzt haben, verdeutlichen, wiewir den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichemWachstum und Wettbewerbspolitik sehen.Unser erster Schwerpunkt: Wir werden das deutscheKartellrecht modernisieren. Wir sind uns dabei der Tatsa-che bewusst, dass das deutsche GWB so etwas wie dasGrundgesetz unserer Marktwirtschaft ist, das wir fortent-wickeln müssen. Wir wollen das deutsche Kartellrechterstens entbürokratisieren, zweitens dezentralisieren unddrittens vor allen Dingen europatauglich und europakom-patibel machen.Unser zweiter Schwerpunkt: Wir werden den einge-schlagenen Weg zur Auflösung früherer Monopole hinzu funktionierendem Wettbewerb konsequent und mit Au-genmaß fortsetzen.
Dies gilt vor allem für die netzgebundenen Bereiche inden Sektoren Strom, Gas, Schiene und Telekommunika-tion. Hier gilt es, im Prozess der Liberalisierung dafür zusorgen, dass sich durch geeignete Formen der Regulie-rung Wettbewerb entfalten kann. In diesen netzgebunde-nen Bereichen ist es dabei besonders wichtig, für einendiskriminierungsfreien Netzzugang zu sorgen und/oderdort, wo dies möglich und sinnvoll erscheint, den Aufbaueiner alternativen Infrastruktur zu unterstützen. Uns istbewusst, dass jeder dieser Exmonopolsektoren aufgrundseiner spezifischen Bedingungen beim Prozess hin zufunktionierendem Wettbewerb seine ihm angemesseneForm der Regulierung benötigt. Das ist ganz unabhängigdavon – lassen Sie mich das deutlich sagen –, ob dasGanze auf Basis wirtschaftlicher Selbstregulierung wiebei der Verbändevereinbarung im Energiebereich odermittels einer Regulierungsbehörde wie im Telekommuni-kationsbereich organisiert wird. Es geht in jedem Fallnicht um Regulierungen, die gegen den Markt gerichtetsind, sondern um Regulierungen für einen begrenztenZeitraum, damit funktionierende Märkte entstehen kön-nen.Mit diesem Ansatz waren und sind wir auf dem richti-gen Weg, gar keine Frage. Heute müssen wir uns allerdingsfragen, was wir erreicht haben und in welchen Bereichennoch Handlungsbedarf besteht. Die Monopolkommissionhat in ihrem Vierzehnten Hauptgutachten festgestellt, dassweitere Schritte zu einem noch intensiveren Wettbewerbnotwendig seien. Lassen Sie mich aufgrund der knappenZeit an dieser Stelle lediglich auf den Telekommunika-tionssektor zu sprechen kommen. In diesem Bereich sindwir mit dem Telekommunikationsgesetz seit 1998 weitgekommen. Trotzdem besteht weiterhin großer Hand-lungsbedarf. Dieser leitet sich nicht nur aus den Vorgabenaus Brüssel ab. Das Telekommunikationsgesetz, das sichgrundsätzlich durchaus bewährt hat, muss und wird auchfortentwickelt werden. Dafür werden wir in diesem Jahrmit der großen TKG-Reform sorgen.Ich möchte im Folgenden einige Elemente nennen, diewir in diesem Zusammenhang als wichtig erachten:Erstens. Wir werden selbstverständlich die europä-ischen Vorgaben in diesem Bereich umsetzen. Wir werdenuns darauf aber nicht beschränken, sondern unseren Spiel-raum für unsere eigenen Wettbewerbsvorstellungen nut-zen.Zweitens. Wir werden den vorhandenen Rechtsrahmenverbessern. Dazu gehört auch, dass wir überflüssige Re-gulierungen abbauen.Drittens. Wir werden einen Ordnungsrahmen ent-wickeln, der die Entfaltung neuer und innovativer Kom-munikationstechnologien fördert.Viertens. Dort, wo Regulierung im Telekommunika-tionsbereich nach wie vor notwendig ist, darf sie auf kei-nen Fall zu früh zurückgeführt werden. Im Gegenteil: Wirwerden vor allem dafür sorgen, dass sie wirksamer wird.Es geht darum, die Effektivität der Regulierung zu ver-bessern sowie die Verwaltungs- und Gerichtswege sostark wie möglich zu straffen.Ich möchte Ihnen den dritten wettbewerbspolitischenSchwerpunkt nennen, den wir noch in diesem Jahr auf denWeg bringen und in dem wir für Dynamik sorgen werden:den Abbau wettbewerbsbehindernder Regulierungen,also die Beseitigung von Regulierungen, die gegen den
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Markt gerichtet sind. Hiermit haben wir bereits im ver-gangenen Jahr mit der Abschaffung des Rabattgesetzesund der Zugabeverordnung begonnen. Wir werden diesenWeg in Bezug auf Sonderverkaufsveranstaltungen fort-setzen. Noch in diesem Jahr werden wir dafür sorgen, dass§ 7 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, derim Moment Sonderverkaufsveranstaltungen verbietet– wir haben das ja bei der Diskussion über C &Aerlebt –,komplett gestrichen wird. Wir werden zukünftig in die-sem Bereich stärker auf den mündigen Verbraucher set-zen. Die Monopolkommission unterstützt uns dabei. We-der befürchtet sie, dass der Handel die Preise in diesemFall künstlich hochsetzen wird, noch verstoßen nach Auf-fassung der Monopolkommission diese Maßnahmen desPreiswettbewerbs gegen die guten Sitten.Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir brauchen mehrWettbewerb in Deutschland, weil Wettbewerb der effizi-enteste wirtschaftliche Mechanismus ist. Vernünftig ent-wickelt, steigert er die Wohlfahrt und dient dem Gemein-wohl. Wettbewerb ist für uns Sozialdemokraten – dasunterscheidet uns vielleicht von einigen in diesem Haus –jedoch kein Selbstzweck, sondern ein notwendiges undvernünftiges Mittel, Verbraucherinteressen zu vertretenund Wachstum zu entfalten. Zugleich gilt: Ebenso wie esin bestimmten Bereichen einleuchtende Gründe für mehrWettbewerb gibt, so tragen wir auch die soziale Verant-wortung, gewisse Bereiche vom totalen Wettbewerb aus-zunehmen. Das folgt aus dem Sozialstaatsgebot unseresGrundgesetzes. Bei der solidarischen Absicherung dergroßen Lebensrisiken setzen wir im Gegensatz zur FDPund zu Teilen der CDU nicht auf den totalen Markt. Wirunterstützen den Bundespräsidenten, wenn er formuliert:Wir wollen soziale Marktwirtschaft. Was wir nicht wol-len, ist eine Marktgesellschaft, in der jeder von allem denPreis, aber von nichts mehr den Wert kennt.Allerdings werden wir uns innerhalb der sozialen undsolidarischen Sicherungssysteme verstärkt auch wettbe-werblicher Elemente bedienen. Es gilt, dadurch für mehrEffizienz zu sorgen, um damit einen Beitrag zur Begren-zung der Lohnnebenkosten zu leisten. So brauchen wirbeispielsweise im Gesundheitswesen nicht nur den Wett-bewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, son-dern auch mehr Wettbewerb zwischen den Anbietern me-dizinischer Leistungen. Ich finde es ganz interessant,dass die Opposition zu diesem Bereich immer relativ we-nig sagt. Das mag etwas mit Klientelinteressen zu tun ha-ben.
Funktionierender Wettbewerb ist eine gemeinsameAufgabe, die von allen getragen werden muss – nicht nurvom Staat. Soziale Marktwirtschaft heißt immer auchEigenverantwortung und Mitverantwortung, übrigensauch der Unternehmen. Das beinhaltet die Pflicht zur An-strengung und nicht die Flucht in Räume der Protektion.Wenn jeder nur seine eigenen Pfründe sichert, werden wirin Deutschland in diesem Bereich in jedem Fall nicht vor-ankommen.Wir werden in diesem Jahr – ich habe es mit den dreiPunkten angedeutet –vorankommen, sowohl bei der Mo-dernisierung des GWB als auch bei den in den letzten Jah-ren angestoßenen Liberalisierungsprozessen als auchdort, wo es darum geht, gegen Regulierungen anzugehen,die gegen den Markt gerichtet sind. Wir werden für mehrWettbewerb sorgen – mit Augenmaß und Vernunft. Ich binmir sicher, dass wir damit einen wichtigen Beitrag zur Er-neuerung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschlandleisten werden.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Wir diskutieren heute den Monopolbericht.Zu dem habe ich von Ihnen, Herr Heil, kein einziges Wortgehört.
Sie haben darüber gesprochen, was Sie tun wollen, aberzum Thema selbst haben Sie nichts gesagt. Ich kann dasauch verstehen; denn dieser Monopolbericht ist heftig.
Er legt den Finger in die Wunde und zieht eine sehr nega-tive Bilanz zur Lage des Wettbewerbs und zur Konzen-tration bzw. zur Monopolbildung in der deutschen Wirt-schaft. In dieser Deutlichkeit habe ich das noch beikeinem Monopolbericht gesehen.
Ich will das an einem Zitat verdeutlichen. Es geht umdie Konzentration. Darüber wissen wir immer noch zuwenig. Die statistischen Daten sind nicht da. Die Mitar-beit ist nicht geregelt. Die Stellen, die das erfassen sollen,sind nicht bereitgestellt worden. Seit zwei Jahren wartenwir auf das, was das Gesetz vorsieht und vorschreibt. Wirwissen jetzt nur, dass 450 000 Unternehmen von der Kon-zentration im weitesten Sinne betroffen sind. Das sind15 Prozent. Das ist nicht sehr viel, aber gemessen an derBruttowertschöpfung der deutschen Volkswirtschaft sindes 30 bis 40 Prozent.Dazu darf ich Ihnen jetzt ein Zitat vorhalten:In der Gesamtschau– so die Monopolkommission –ist im Berichtszeitraum hinsichtlich der verschiede-nen untersuchten Größenmerkmale ein weiterer An-stieg der Konzentration zu verzeichnen.Schon das ist nicht gut. Aber jetzt kommt noch der Grunddafür, dass das schlecht ist:Lediglich die Anzahl der von den betrachteten Groß-unternehmen zur Verfügung gestellten ArbeitsplätzeHubertus Heil
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Hartmut Schauertehat sich im Vergleich zum gesamtwirtschaftlichenTrend unterproportional entwickelt.
Das ist bittere Ironie. Oder wie soll man das sonst be-schreiben?Wir wissen es. Die Monopolkommission schreibt es.Der Konzentrationsprozess ist für die Arbeitsplätzeschädlich. Sie haben zu diesem Prozess kein einzigesWort gesagt. Er ist nicht nur wettbewerbsrechtlich undordnungspolitisch schädlich, sondern er wirkt sich auchhinsichtlich der Erreichung unseres Hauptziels, Arbeits-plätze zu schaffen, absolut negativ aus.
Das ist vornehm und zurückhaltend, doch auch deutlichformuliert.Tendenziell rückläufig sind hingegen– da kommt noch ein anderer Gesichtspunkt ins Spiel –die personellen Verflechtungen sowie die Beteili-gungsverflechtungen unter den „100 Größten“. Diesist jedoch weniger auf Entflechtungsvorgänge als aufFusionen ... der „100 Größten“ ... zurückzuführen.
Auch das ist voller Ironie. Es geht da um „Machtwirt-schaft“ und nicht um Marktwirtschaft. Es geht da um eineVerschiebung der Gewichte, die zulasten von Arbeits-platzpotenzialen geht. Das ist ein Vorgang, der uns großeSorgen bereiten muss.Durch den ganzen Bericht zieht sich wie ein roter Fa-den die kritische Frage: Sind wir im Hinblick auf die Ziele„mehr Wettbewerb“, „weniger Konzentration“ und „Ab-bau von Monopolen“ weitergekommen? Die Antwort lau-tet: Nein, wir haben in den letzten Jahren Rückschritte ge-macht.Wirtschaftsminister Müller war ein Monopolminister.Übrigens, es ist erstaunlich, wie wenig man noch von ihmspricht.
Ich kenne ihn gar nicht mehr.
Er ist im Nebel der Großkonzerne der Ruhrschiene ver-schwunden. Er ist nicht mehr zu sehen.Wo sind wir denn in der Bedrouille? – Ich nenne dieLiberalisierung der Energiemärkte. Es ist doch einJammer, was wir da erleben. Die Konzentration nimmt zu,die „Machtwirtschaft“ explodiert und die Verbraucherzahlen hohe Zechen. Man konnte vor kurzem in einer Zei-tung lesen, dass ein Vorstand eines großen Energieunter-nehmens – ohne sich bewusst zu sein, was er da sagt – er-klärte, man sei zu Beginn dieses Jahres – obwohl derGewinn gegenüber dem Vorjahr schon um etwa 50 Pro-zent gestiegen war – wieder in der Lage, die Preise deut-lich zu erhöhen, weil der Wettbewerbsdruck nachlasse.
Das muss man sich einmal vorstellen: Aufgrund derPolitik nimmt der Wettbewerbsdruck ab. Als Reaktionmachen die Unternehmen natürlich das, was möglich ist:Sie erhöhen die Preise. Obwohl diese Unternehmen diesöffentlich sagen, ist von Ihnen kein Wort dazu zu hören.
Sie sagen: Der gesamte Wettbewerb in Deutschland istgut; wir wollen uns noch ein bisschen modernisieren; abergrundsätzliche Probleme haben wir nicht. Also: Was eineVerbesserung der Situation auf den Energiemärkten an-geht – Fehlanzeige.Die Monopolkommission schreibt, dass die vertikalenVerflechtungen zunehmen. Die vom Kartellamt festge-legte Grenze sah bisher so aus: Alle Beteiligungen über20 Prozent sind kritisch; alle Beteiligungen unter 20 Pro-zent sind ungefährlich. Die Anzahl der Beteiligungen un-ter 20 Prozent steigt explosionsartig an. Wer schaut dennin die Verträge hinein? Wir erleben im Moment eine „Ver-machtung“ der Energiemärkte, die unerträglich ist. Nichtsdavon können Sie bestreiten, nichts davon können Sie er-klären und nichts davon wollen Sie ändern.Was ist bei der Telekommunikation passiert? – Manmacht eine Regulierungspolitik im Interesse des Großak-tionärs, aber keine Regulierungspolitik im Interesse derUnternehmen,
die sich – das wollten wir so – in die Telekommunikati-onsmärkte hineinbegeben haben. Diese Unternehmensterben im Moment reihenweise. Sie haben dazu kein ein-ziges Wort gesagt. Von einer wirklichen Verbesserung derWettbewerbslage sind wir weit entfernt.Was machen wir im Hinblick auf die Fusion von Eonund Ruhrgas? Ich darf an diese ganz unglückliche Ge-schichte erinnern. Einem Unternehmen mit einem Markt-anteil von 60 Prozent bescheinigt man zu Beginn der De-batte über die Liberalisierung des Gasmarktes, es sei zuklein. Deswegen hilft man ihm mit einer Ministererlaub-nis und das verkündet man ihm schon zu einem Zeitpunkt,zu dem die Auswirkungen seines Vorhabens vom Kartell-amt noch nicht einmal überprüft worden sind.Ich bin dankbar dafür, dass wir Gerichte haben, die ei-nen solchen Vorgang nicht durchgehen lassen. Das warMachtpolitik pur, ohne jedes ernsthafte Bemühen, Marktherzustellen. Das ist unerträglich, wen immer es betrifft.Ich vermute, die Sache wird scheitern. Ich hoffe, man fin-det dann neue Ansätze, um positive Dinge, die mit diesemVorhaben verbunden sind, organisieren zu können.Die Wirtschaftspolitik, die Sie zu vertreten haben, hin-terlässt eigentlich nur Verletzte auf dem Schlachtfeld: DerMarkt hat verloren, die beteiligten Unternehmen habenverloren,
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Zeit ging verloren, Geld wurde verbraten – nichts ist indiesem Bereich gelungen. Was Erfolge angeht, nichts alsFehlanzeige.
Um einen weiteren Punkt der Energiepolitik anzuspre-chen, über den wir noch einmal nachdenken und reden müs-sen, möchte ich auf die Verbändevereinbarungen zu spre-chen kommen. Verbändevereinbarungen dürfen nicht zurechtsfreien Räumen führen. Auch Verbändevereinbarun-gen müssen mit dem Kartellrecht und mit Wettbewerbsre-geln in Einklang stehen. Das ist durch die von Ihnen gutge-heißene Verbändevereinbarung nicht mehr gesichert. Es gibtrechtsfreie Räume. Sie kennen die ärgerliche Reaktion desKartellamts auf das, was da passiert. Das Kartellamt hat indieser Frage genauso Recht wie bei der Beurteilung des Eon-Ruhrgas-Vorgangs. Sie werden es erleben.Ich sage Ihnen: Wenn die Verbändevereinbarung so et-was wie ein Selbstbedienungsladen der Beteiligten wird,die ohne Rücksicht auf Außenstehende und ohne Rück-sicht auf die Verbraucher nur ihr Eigeninteresse intelligentverfolgen können, und zwar möglichst unauffällig, dannhat man etwas falsch verstanden. Wenn in diese Verbän-devereinbarungen nicht Verantwortung für eine wirklicheMarktöffnung hineinkommt, dann werden wir die Politikder Verbändevereinbarungen nicht fortsetzen können. Dasist bedauerlich. Ich möchte eigentlich an der Politik derVerbändevereinbarungen festhalten, weil es immer besserist, wenn sich die Beteiligten selber organisieren, als wennder Staat eingreift. So, wie es läuft, mit den negativen Er-gebnissen, die es zeitigt, mit den Verzögerungen und denBehinderungen beim Netzzugang, kann es nicht weiter-gehen. Entweder bekommen wir eine Verbändevereinba-rung, die wirklich zur Marktöffnung beiträgt, oder auchwir in der CDU müssen unsere Position überdenken undsagen – andere werden das dann auch tun –: Wir müssenes einer Regulierungsbehörde übertragen.
Das können Sie nicht weiter auf die lange Bank schieben.Die Dinge sind nun wirklich reif. Das, was die Koalitions-regierung in der Moderation der Verbändevereinbarunggeleistet hat, war ein Trauerspiel.
Ich komme zum Schluss: Es steht schlecht um denWettbewerb und gut um Monopole in unserem Land. Hel-fen wir mit, auch in den anstehenden Haushaltsberatun-gen, dass die Behörden, die wir dafür eingerichtet haben,nämlich das Kartellamt und die Monopolkommission, soausgestattet werden, dass sie ihre Wächterfunktion wirk-sam wahrnehmen können. Es gibt genug zu tun. Ich habemich gewundert, dass Ihnen dazu nichts eingefallen ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Die Monopolkommission hat aus meiner Sicht einsehr interessantes Gutachten mit sehr vielfältigen Anre-gungen vorgelegt. Dafür möchte ich der Monopolkommis-sion ganz ausdrücklich von dieser Stelle aus Dank sagen.Angesichts der Kürze der Redezeit muss ich mich aufden Hauptteil beschränken. Da geht es um die Einführungund die Stärkung von funktionierendem Wettbewerb inden ehemaligen Monopolmärkten Post, Telekommunika-tion, Strom, Gas und auch Bahn.Bezüglich des Postbereiches wird kritisiert, dass wirnur mit Trippelschritten vorankommen. Ich teile dieseAuffassung. Das hat auch mit der EU zu tun. Dass aberdas Porto in Deutschland erst auf Druck der EU-Kom-mission gesenkt wurde, ist schon kritikwürdig; diesenSchuh müssen wir uns anziehen.
Besser sieht es im Bereich der Telekommunikationaus. Die Monopolkommission sagt ausdrücklich, dass derWettbewerb hier in weiten Teilen funktioniert. Zugleichwarnt sie davor – über diesen Punkt müssen wir, HubertusHeil, nachdenken –, jetzt schon bei der anstehendengroßen Novelle des Telekommunikationsrechts Regulie-rungen zurückzunehmen. Die These ist, dass die Markt-teilnehmer eine gewisse Stetigkeit des regulativen Rah-mens brauchen und sich auch erst einmal eine verlässlicheRechtspraxis entwickeln muss. Deswegen sollte man dieRegulierungen in diesem Bereich noch nicht zurück-schrauben. Zugleich wird ja auch zugestanden, dass in be-stimmten Bereichen tatsächlich eine Wettbewerbssitua-tion hergestellt wurde. Ich finde, wir sollten das mitbedenken, wenn wir an die große Novelle herangehen.Ganz problematisch sieht die Monopolkommission dieBereiche Energie und Bahn. Zuerst zum Energiesektor:Die Kritik am Energiewirtschaftsgesetz, das wir jetzt aufden Weg gebracht haben, kann man relativieren, weil dieVerrechtlichung der Verbändevereinbarung auf 2003 be-fristet ist, aber der Sofortvollzug des Kartellamtes, derhier ausdrücklich gelobt wird, in dieser neuen Novelleohne Fristsetzung festgeschrieben wurde. Unterm Strichist das also wirklich ein Fortschritt.Allerdings muss man die Kritik an der Ministererlaub-nis schon deswegen ernst nehmen, weil sie sich in der Pra-xis tatsächlich als Problem herausstellt. In dem Verfahren,das jetzt bezüglich des bekannten Fusionsvorhabens an-hängig ist, wird genau dieser Punkt aufgegriffen, dassMinister Müller die Verantwortung nicht auf Staatssekre-tär Tacke hätte übertragen dürfen, sondern sie auf Finanz-minister Eichel hätte übertragen müssen. Das ist einGrund, warum diese Fusion jetzt hängt. Ich persönlichbin, wie Sie wissen, kein Freund dieser Fusion. Man mussaber sehr bedauern, dass für RAG, Ruhrgas und Degussadadurch eine sehr problematische Situation entstandenist: Sie hängen nämlich völlig handlungsunfähig zwi-schen Baum und Borke, und das seit Monaten.Ich glaube, dass diese Situation entscheidend dadurchverursacht wurde, dass Eon ungeheuer arrogant auf dieMinistererlaubnis gesetzt hat und das Kartellamt, aberHartmut Schauerte
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Michaele Hustedtauch die Monopolkommission damit vor den Kopf ge-stoßen hat.
Die Monopolkommission warnt in dem Gutachtendeutlich vor Konzentrationsprozessen in diesem Bereich.Hinter der Aufkaufpraxis der Stadtwerke – schon eine Be-teiligung von unter 20 Prozent wird als problematisch an-gesehen – vermutet die Monopolkommission eine Strate-gie der großen Verbundunternehmen, um Wettbewerberabzuschrecken, wodurch wir im Energiebereich im End-effekt bei einem Duopol landen werden. Dass so keinWettbewerb entsteht, ist klar. Wir müssen diese Entwick-lung sehr aufmerksam betrachten. Wir brauchen eigen-ständige, aktive, selbstständige, unabhängige Stadtwerkeim Markt.Ganz spannend wird das Gutachten an dem Punkt, andem die Monopolkommission selbst ihre Meinung ändert:beim Thema Regulierung. Die Monopolkommissionmeint, dass sie früher sehr wohl für den verhandeltenNetzzugang gewesen sei, dass sie aber im Lichte der Er-fahrung, ob sich unter diesen Bedingungen Wettbewerbentwickelt, ihre Position ändern müsse. Das gilt fürStrom, Gas und die Bahn. Sie sagt, eine gemeinsame Re-gulierungsbehörde für alle Bereiche würde die Kosten fürdie Regulierung durch die Synergieeffekte senken, auchim Telekommunikationsbereich, und dadurch gleichzeitigein gutes Maß an Branchendistanz schaffen, also einenunabhängigen Regulierer. Das wäre aus Sicht der Mono-polkommission neuerdings das richtige Instrument.Bei der Bahn schlägt sie allerdings – das ist eine altegrüne Forderung – als besseres Instrument die Trennungvon Netz und Betrieb vor.
Wenn wir das noch wollen, drängt jedoch die Zeit – auchdarauf weist die Monopolkommission hin –; denn nachder Privatisierung ist uns dieser Weg versperrt. Das mussvor dem Börsengang der Bahn, der ja ansteht, geschehen.Hier müssen wir schnell zu einer Entscheidung kommen.Die Monopolkommission bemängelt, dass die Netz-nutzungsentgelte im Strom- und Gasbereich noch immerzu hoch seien und die Konkurrenten beim Netzzugang be-hindert würden. – Das Kartellamt hat gestern auf der„Handelsblatt“-Tagung, bei der wir vertreten waren, sehrdeutlich bestätigt, dass es diese Problematik sieht. – Siesagt, bei Verbändevereinbarungen bestehe das Problem,dass sich die Verbände, die gemeinsam am Tisch sitzen,häufig zulasten Dritter einigten. Am Tisch sitzen nicht diemittelständische Industrie, die neuen, unabhängigen An-bieter und die Verbraucher, sodass die Einigung zu derenLasten geht.Deswegen meint die Monopolkommission – das findeich interessant und das müssen sich vor allen Dingen dieFDP und die CDU/CSU mit ihrem teilweise ideologi-schen Marktbild hinter die Ohren schreiben –:Insofern führt die vielfach verwendete Gegensatzbil-dung zwischen Liberalisierung und Regulierung indiesem Zusammenhang in die Irre!Diese Position teile ich. Regulierung kann unter Umstän-den erst zu einem funktionierenden Wettbewerb führen.Wir sollten in der nächsten Zeit sehr aufmerksam ver-folgen, was die neuen Verbändevereinbarungen brin-gen. Wenn sie nicht deutliche – ich betone: deutliche –Fortschritte bringen und wenn nicht zu erwarten ist, dassder rückläufige Wettbewerb wieder dynamischer wird –
Denken Sie bitte an die Zeit.
– ich bin beim letzten Satz –, dann müssen wir die Ar-
gumente der Monopolkommission sehr ernst nehmen und
eine neue Debatte darüber beginnen, ob wir für diese Be-
reiche nicht doch eine Regulierungsbehörde brauchen.
Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Inder Tat: Dieses Hauptgutachten der Monopolkommissionmacht uns alle sehr nachdenklich. Es ist ein Werk, das wirim Ausschuss sicher sehr detailliert diskutieren müssen;denn es gibt eine große Ansammlung von Kritikpunkten.Ich nenne zum Beispiel – das hat niemand meiner Vor-redner erwähnt, aber das ist ein sehr wichtiger Punkt – denBeitrag der Monopolkommission zum Thema Tariftreue-gesetz. Auch hier erhält Rot-Grün eine schallende Ohr-feige.
Weiterhin nenne ich das Gesetz gegen den unlauterenWettbewerb. Ich finde es schlimm, dass Äußerungen vonMinistern dieser Regierung am Standort Deutschlandwiederum für Verwirrung sorgen. Ich sage Ihnen gleich,warum ich dieser Meinung bin.Bundesjustizministerin Zypries hat vor wenigen Tagenverkündet, es werde in aller Kürze einen Gesetzentwurf zurÄnderung des UWG geben – das betrifft die §§7 und 8 –,damit Sonderverkäufe und Rabattaktionen künftig zuge-lassen werden können. Heute nimmt Verbraucherschutz-ministerin Künast zu diesem von ihr entdeckten angebli-chen Preisdumping Stellung und verkündet, sie werdedafür sorgen, dass es künftig wieder mehr Beschränkun-gen und weniger Freiheit geben werde. Das ist ein Dissensinnerhalb des Kabinetts. Dieses Signal finde ich verhee-rend.
Sie sollten sich dringend einmal intern darüber verständi-gen, was Sie nun wirklich wollen.
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Ich bringe noch ein Beispiel: Das Gutachten der Mo-nopolkommission sagt, dass wir einen sehr großen Bedarfan Förderung von Wettbewerb – das ist von meinen Kol-legen mehrfach gesagt worden – bei Post und Telekom-munikation haben. Aber auch bei der Abfall- und Wasser-wirtschaft sind Deregulierung und Privatisierung dringenderforderlich. Ich unterstütze ausdrücklich – das hat auchdie Kollegin Hustedt eben gesagt – die von der FDP seitlangem geforderte Trennung von Netz und Betrieb beider Bahn AG . Es ist in der Tat dringend erforderlich, indiesem Bereich weiterzukommen. Wir sehen doch, wasbei der Bahn passiert: Transparenz beim Preis- und Tarif-system und die Servicebereitschaft nehmen doch immerweiter ab. Die Kundenfreundlichkeit ist beschämend ge-ring. Das beste Rezept dagegen ist die Schaffung vonmehr Wettbewerb.
Ein Thema ist in diesem Zusammenhang auch die Li-beralisierung der Energiemärkte. Ich gehe einmal aufdie Energierechtsnovelle von 1998 ein. Es war die frühereBundesregierung unter Beteiligung der FDP, die die Vo-raussetzungen zur Liberalisierung und Deregulierung derdeutschen Energiemärkte geschaffen hat. Wir haben da-mit erstmals Monopolmärkte geknackt und im GegenzugMonopolrenditen abgeschafft. Wir waren nicht rundumerfolgreich. Aber es war ein erster wichtiger Schritt indiese Richtung.Für die Verbraucher und insbesondere für die Wirt-schaft als Sondertarifkunden hatte sich eine Kostenredu-zierung von 7,5 Milliarden Euro ergeben. Das war ein her-vorragender Erfolg. Inzwischen ist durch die zunehmendeReregulierung durch das EEG und das KWK-Gesetz, vonRot-Grün initiiert, dieser Milliardenvorteil schon fastwieder verfrühstückt. Das ist sehr traurig.
Ich komme zu dem wirklich spannenden PunktVerbändevereinbarungen Strom I und II sowie Verbän-devereinbarung Gas. Es ist eben gesagt worden, wirbräuchten eine Regulierungsbehörde. Wir als FDP-Bun-destagsfraktion sind ausdrücklich nicht dieser Meinung.Wir setzen hier nicht auf staatliche Regulierung.
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen einen zweiten Dissens zwi-schen ihnen und einem Minister darstellen. Bundeswirt-schaftsminister Clement hat vorgestern bei der „Handels-blatt“-Tagung ausdrücklich gesagt, dass auch er sichgegen eine Regulierungsbehörde in dem Bereich aus-spricht. Vielleicht sollten Sie sich darüber einmal austau-schen. Er hat ferner gesagt, er ziehe eine freiwillige Ver-bändevereinbarung vor.Wir wollen – das ist der Knackpunkt, Frau KolleginHustedt – die freiwillige Verbändevereinbarung mit einerStärkung des Kartellamts koppeln. Das heißt, dort musses mehr Personal geben. Dieses Personal muss in der Lagesein, den Mangel an Wettbewerb zu beseitigen. Wenn Siediese Kombination ins Auge fassen, kommen Sie sehrschnell zu dem Schluss, dass die freiwillige Vereinbarungplus Kontrolle durch das Kartellamt ausreichen. Auf dieseWeise kann mehr Wettbewerb auf dem Markt geschaffenwerden. Unter dem Strich können wir dann sagen, dasseine weitere Deregulierung und Liberalisierung zu mehrWettbewerb und damit zu mehr Chancen für Wirtschaftund Verbraucher in unserem Land führen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich bin in einer etwas schwierigen Situation vordem Hintergrund der Tatsache, dass die Bundesregierungihre Stellungnahme zum 14. Hauptgutachten der Mono-polkommission, wie angekündigt, erst im April/Mai vor-legen wird. Das heißt, ich sehe mich außerstande, zu deneinzelnen hier aufgeworfenen Fragen im Detail die Posi-tion der Bundesregierung wiederzugeben.
In einigen sehr sachlichen Beiträgen ist freundlicherweisedarauf hingewiesen worden, dass dieses Gutachten, fürdas wir der Monopolkommission ausdrücklich danken,sehr differenziert und sehr breit angelegt ist. Ich denke,die Monopolkommission hat es verdient, dass die Bun-desregierung dieses Gutachten wirklich durcharbeitet underst danach eine umfassende Stellungnahme abgibt undihre Position dazu vorträgt. Darüber werden wir dann imAusschuss für Wirtschaft und Arbeit und gegebenenfallsauch hier im Plenum noch einmal gesondert diskutierenmüssen.
Meine Damen und Herren, eines steht sicherlich fest:Da, wo wir weniger Staat benötigen, werden wir auf staat-liche Regelungen verzichten. Der Kurs der Bundesregie-rung ist auf den Abbau von Bürokratie angelegt. ImÜbrigen möchte ich feststellen, weil einige ja immer be-haupten, das sei alles nur an einer ganz bestimmten poli-tischen Stelle gewachsen, dass Bürokratie über die letztenJahrzehnte überall im Lande fröhlich gewachsen ist, imNorden wie im Süden, im Westen wie im Osten dieser Re-publik. Wir sind gehalten, sie in einer gemeinschaftlichenAnstrengung überall, wo nur irgend möglich, abzubauen.Wir brauchen also einen leistungsfähigen Ordnungs-rahmen für alle Wirtschaftssektoren. Wir brauchen dieOffenheit für funktionierenden Wettbewerb. Das ist derAnsatz der Bundesregierung. Ein solcher Ordnungsrah-men hat überragende Bedeutung für die Unternehmen undfür die Verbraucher. Nur ein solcher Ordnungsrahmen ga-rantiert am Ende Wettbewerbsfähigkeit und damit auchSicherheit für Arbeitsplätze in Deutschland. Ein solcherOrdnungsrahmen ist die Voraussetzung für eine funktio-nierende soziale Marktwirtschaft.Gudrun Kopp
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Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar StaffeltIch sage hier ganz ausdrücklich: Aus der Sicht derBundesregierung heißt das nicht blinde Privatisierung. Esheißt nicht die Verehrung des Wettbewerbs an sich. Esgeht nicht um den Abbau von staatlichem Schutz, wo ererforderlich ist, sei es zugunsten der Umwelt, sei es zu-gunsten der Arbeitnehmer eines einzelnen Betriebes, undnicht um die Auslieferung der Schwachen an die Starken.Im Gegenteil, funktionierender Wettbewerb ist das natür-liche Instrument zur Begrenzung privater Macht. WoWettbewerb nicht funktionieren kann, bedarf es selbst-verständlich intelligenter, flexibler staatlicher Rahmenbe-dingungen.Die Bundesregierung hat in der vergangenen Wahlpe-riode auf diesem Felde einiges vorzuweisen. Auf dasEnergiewirtschaftsgesetz, das wir erneut eingebracht ha-ben, wurde bereits hingewiesen. In diesem Sinne werdenwir das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen,das Grundgesetz der Marktwirtschaft, reformieren. DasGWB diente zahlreichen ausländischen Staaten und demEWG-Vertrag als Vorbild. Heute müssen wir es dem un-längst reformierten Kartellverfahrensrecht der Europä-ischen Union anpassen und das werden wir tun.Kartelle sind nach EU-Wettbewerbsrecht jetzt kraftGesetzes und ohne eine behördliche Entscheidung er-laubt, wenn ein Freistellungstatbestand erfüllt ist. Für dieUnternehmen bedeutet dies mehr Verantwortung, auf deranderen Seite aber auch mehr Freiheit. Sie müssen selbstsicherstellen, dass ihre Kooperationen kartellrechtskon-form sind.Nach Auffassung der Bundesregierung ist es gerade imInteresse der deutschen mittelständischen Wirtschaft er-forderlich, auch das GWB im Sinne des europäischen Mo-dells zukunftsfähig zu machen. Noch in diesem Jahr– Sie haben zu Recht darauf verwiesen – wird ein ent-sprechender Referentenentwurf vorgelegt werden.Eine umfassende Reform ist auch im Recht des un-lauteren Wettbewerbs geplant. Der Kollege Heil hat aufdas Dilemma des Falles C &A, das vor einigen Monatenaktuell war, hingewiesen. Die Bundesregierung wird imLauterkeitsrecht noch wesentlich mehr tun. Sie setzt sichauf europäischer Ebene für eine Harmonisierung diesesRechtsgebietes ein und erfüllt damit eine langjährige For-derung dieses Parlaments.
Ziel ist ein europäisches Lauterkeitsrecht, das sowohl dieInteressen der Unternehmen als auch die Interessen derVerbraucher zu schützen in der Lage ist. Erfolg werdenwir aber nur haben, wenn wir unser UWG insgesamt soreformieren, dass wir mit ihm in Europa für unsere Vor-stellungen werben können. Dieser Gesetzentwurf wirdnoch in diesem Monat vorgelegt werden.Lassen Sie mich noch ein Beispiel anführen: das Te-lekommunikationsgesetz.Wir werden natürlich die ent-sprechenden EU-Richtlinien umsetzen und sind in un-serer Politik zu folgenden Leitsätzen verpflichtet: zurOptimierung und Konkretisierung des vorhandenenRechtsrahmens, zur Rückführung überflüssiger Regulie-rung und zur Optimierung der im Telekommunikations-gesetz definierten Rahmenbedingungen dergestalt, dasssie der Entwicklung von Zukunftstechnologien Raum ge-ben.Hauptziel bleibt die Herstellung und Gewährleistungeines funktionierenden Wettbewerbs auf den Telekommu-nikationsmärkten. Ich will hier ganz ausdrücklich fest-stellen, dass ich den Beschreibungen, die hier zum Teil imHinblick auf die Telekommunikationsmärkte abgegebenworden sind, in keiner Form folgen kann.
Die Regulierungsbehörde hat gemeinsam mit der Bundes-regierung sehr viel dafür getan, dass in diesem Lande zahl-reiche kleine Unternehmen auf den Feldern der Telekom-munikation eine Chance erhalten haben und sich alsWettbewerber der großen Telekom entpuppt haben. Ver-gessen Sie das bitte nicht! Die Gründe dafür, dass Tele-kommunikationsunternehmen heute in eine Schieflage ge-raten sind, liegen nicht in der bestehenden Ordnungspolitik.
– Wir sind hier im Parlament, um gediegen und gepflegtmiteinander zu streiten und den bestmöglichen Lösungenzum Durchbruch zu verhelfen.
Meine Damen und Herren, diese Tour d’Horizon zeigt:Wir haben in der Wettbewerbspolitik auch in dieser Wahl-periode einiges vor. Ich möchte an dieser Stelle sagen,dass ich, auch was die Energiepolitik betrifft, ganz d’ac-cord mit der Auffassung bin, sich nicht auf Regulierungs-behörden zu konzentrieren.
An einer Stelle bin ich ganz entschieden anderer Auf-fassung als die Monopolkommission, und zwar, wenn sievorschlägt, über das ganze Land hinweg in allen leitungs-gebundenen Bereichen mit Regulierungsbehörden zuarbeiten. Nein, wir wollen ausdrücklich auch die Verant-wortung der Unternehmen abrufen. Nur dann, wenn sichherausstellen sollte, dass solche Unternehmen offensicht-lich nicht bereit sind, diese Verantwortung zu überneh-men, würden wir mit einer Regulierungsbehörde arbeiten.
Ich finde, dass auch dies ein Teil politischen Handelns ist,das sich sehr wohl und sehr gut in ein marktwirtschaft-liches Gefüge einbinden lässt, dem wir uns als Bundes-regierung ganz ausdrücklich verpflichtet fühlen.
Wir sehen sehr wohl – lassen Sie mich das als letztenGedanken sagen –, dass wir alle auf der Hut sein müssen,um Konzentrationen dort, wo sie den Markt und den Wett-bewerb beschädigen, zu vermeiden. – Im Übrigen müssenSie, Herr Schauerte, zugeben: Die Meinungen in IhrerFraktion zu den von Ihnen angesprochenen Themen wa-ren sehr unterschiedlich und sehr breit gefächert. – Wir se-hen aber auch, dass wir einer europäischen Herausfor-derung gegenüberstehen, die bestimmte Fusionen und
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Unternehmenskonzentrationen zur Grundlage für weite-res wirtschaftliches Bestehen am Markt macht. Dies istein Spannungsfeld, mit dem wir uns auseinander setzenmüssen. Ich glaube, wir sind uns in Folgendem einig:Diese Auseinandersetzung muss sich am Interesse derUnternehmen, also an der Marktfähigkeit und an derWettbewerbsfähigkeit, daneben aber immer auch am Ver-braucher orientieren.In diesem Sinne bedanke ich mich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Viel Richtungweisendes wurde von den Vorrednern schon
gesagt. Am meisten konnte ich den von Kollegen
Schauerte und Frau Kollegin Kopp hier vorgetragenen
Ausführungen abgewinnen. Sie haben nämlich den Kern
der Sache getroffen,
was ich in Bezug auf die anderen nicht hinsichtlich aller
angesprochenen Bereiche sagen kann.
Wir behandeln heute das 744 Seiten starke 14. Haupt-
gutachten der Monopolkommission 2000/2001. Als wich-
tigste Erkenntnis aus diesem Monopolgutachten stelle ich
fest, dass die Monopolkommission der Bundesregierung
zu Recht ins Stammbuch geschrieben hat: Die Konzen-
trationsprozesse nehmen in allen Branchen zu. Die Gro-
ßen werden immer größer und die Kleinen, also Mittel-
stand und Handwerk, verschwinden nach und nach.
Konkursverwalter haben Hochkonjunktur. Für das, was
hier zu Recht festgestellt wurde, gab die EU-Kommission
der Bundesregierung eine schallende Ohrfeige. Deutliche
Mängel bei der Wirtschaftspolitik, so lautet das vernich-
tende Urteil, Herr Kollege Stiegler.
Ich bedaure sehr, dass Sie heute nicht sprechen konnten,
aber Ihre Genossen werden schon wissen, warum Sie
heute nicht nochmals reden dürfen.
Das Statistische Bundesamt hat bekannt gegeben, dass
das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal 2002 völ-
lig zum Erliegen gekommen ist. Im gesamten Jahr ist die
Wirtschaft nur um 0,2 Prozent gewachsen.
Das ist der niedrigste Wert seit 1993, also seit zehn Jah-
ren, verehrter Kollege Stiegler.
Dass dieses geringe Wachstum nicht noch schlechter
ist, liegt ausschließlich daran, dass der Export noch mit
1,5 Prozent Zuwachs läuft; die Binnenkonjunktur liegt im
Argen. Diese Zahlen sind ein Schlag ins Gesicht der Bun-
desregierung, die seit Jahr und Tag durch die Lande zieht
und den Bürgern den Bären aufbinden will, unsere
schwierige Lage sei rein weltwirtschaftlich bedingt.
– Herr Kollege Stiegler, Ihnen empfehle ich, einmal ge-
nau aufzupassen, um Zusammenhänge zu kapieren, sie
dann auch global herüberzubringen und mit fundierten
Zahlen Rede und Antwort stehen zu können. Anderenfalls
muss ich Sie genauso falscher Zahlen bezichtigen, wie ich
das bei meiner letzten Rede vor drei Wochen bei der Ein-
bringung des Haushalts bereits tun musste.
Meine Damen und Herren, es ist nicht von der Hand zu
weisen, dass die wichtigste Ursache für die Wachstums-
schwäche eine falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozial-
politik ist. Sie hat zu diesem katastrophalen Ergebnis ge-
führt, dass wir zurzeit vier Millionen Arbeitslose zu
verzeichnen haben.
Die SPD und die Grünen, die sich im Würgegriff der
Gewerkschaften befinden, hatten leider nur die großen
Unternehmen im Blick. Die so genannte Jahrhundertsteu-
erreform von Hans Eichel hat die Großen noch reicher ge-
macht und dem Mittelstand alle Lasten aufgebürdet. Ich
verweise auch hier auf das Monopolgutachten. Darin
kann man nämlich lesen, dass die hundert größten Unter-
nehmen in Deutschland im Jahr 2000 eine Wertschöpfung
von 274 Milliarden Euro aufweisen; das ist gegenüber
1998 eine Steigerung von 11,58 Prozent.
Die Wertschöpfung aller Unternehmen erhöhte sich dage-
gen nur um 4,19 Prozent. Der Anteil der hundert größten
Unternehmen an der Wertschöpfung aller Unternehmen in
der Bundesrepublik Deutschland überschritt somit erst-
mals ein Fünftel und lag bei 20,01 Prozent. 1998 waren es
noch 18,6 Prozent. Wenn solche Zahlen nicht zur Beun-
ruhigung Anlass geben, dann weiß ich es wirklich nicht.
Wir sollten uns der Sache wegen mit diesem Monopol-
gutachten intensiv auseinander setzen und die notwen-
digen Schlüsse ziehen.
Niemand will die Großunternehmen, die für den Stand-
ort Deutschland unverzichtbar sind, benachteiligen. Der
Staat darf deren Wachstum aber nicht auf Kosten des Mit-
telstandes beschleunigen; denn sonst lässt sich die Ar-
beitslosigkeit nicht abbauen.
Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Heil?
Ja, selbstverständlich. Bitte schön.Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt
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Herr Kollege Hinsken, meine Frage geht in folgende
Richtung: Wenn ich es richtig sehe, werfen Sie uns vor,
wir nähmen das Monopolgutachten nicht ernst. Wir haben
vorhin deutlich gemacht, dass wir es in vielen Bereichen
sehr ernst nehmen. Aber geben Sie mir Recht, dass man
nicht immer alles genauso sehen muss wie die Monopol-
kommission? Wenn das nämlich so wäre, dann müssten
Sie, die Sie das 13. Gutachten gelesen haben, beispiels-
weise die Liberalisierung der Handwerksordnung
fordern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wol-
len.
Ich komme auf die Handwerksordnung selbstverständ-
lich noch zu sprechen. Das habe ich mir fest vorgenom-
men. Es muss Ihnen aber zu denken geben, wenn im Mo-
nopolgutachten steht, dass die Bundesregierung eine
Politik nur für die großen und nicht für die kleinen und die
mittleren Betriebe gemacht hat. Lesen Sie das einmal ge-
nau nach!
Ich darf bei dieser Gelegenheit darauf verweisen, dass
nur über eine Förderung des Mittelstandes und der klei-
nen Betriebe Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Es kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass
allein von 1980 bis 2000 hier in der Bundesrepublik
Deutschland über 1 Million Stellen in der Großwirtschaft
abgebaut wurden, während im Mittelstand über 2,9 Mil-
lionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Das
steht auch im Gutachten.
Deshalb meine ich sagen zu müssen, dass hier vieles ge-
tan werden muss.
Frau Präsidentin, der Kollege hat mich gefragt. Nun
setzt er sich nieder und Sie lassen einfach die Uhr weiter
laufen. Da kann ich doch keine Frage mehr zulassen.
– Ich bin noch dabei, die Frage zu beantworten.
Ich bitte um Verständnis dafür.
Lieber Herr Kollege, ich habe die Frage als beantwor-
tet angesehen, der Kollege auch. Es ist vielleicht auch im
Interesse aller, heute Abend einmal die Redezeiten einzu-
halten. Wir sind schon weit über eine Stunde über die ge-
plante Zeit hinaus. Ich bitte um Verständnis.
Ich gehe davon aus, dass viele Kolleginnen und Kolle-gen, die heute Abend hier sitzen, das Monopolgutachtennicht einmal quer gelesen haben. Zu denen gehört sicher-lich auch der Kollege Stiegler.
Ansonsten hätte er zur Kenntnis nehmen müssen, dass die100 größten Unternehmen im Jahr 2000 circa 3,8 Mil-lionen Mitarbeiter beschäftigt haben, wobei es zwei Jahrevorher noch 40 000 mehr waren. Das Hauptgutachtenweist auch aus, dass die nach Beschäftigen zehn größtenUnternehmen im Jahr 2000 die folgenden waren: Deut-sche Post mit 270 000, Deutsche Bahn mit 220 000, Daim-ler-Chrysler mit 202 000, Siemens mit 180 000, DeutscheTelekom mit 179 000, Volkswagen mit 164 000, Metro mit114 000, RWE mit 109 000, Thyssen-Krupp mit 107 000und Karstadt-Quelle mit 104 000 Beschäftigten. Das sind1,65 Millionen Arbeitsplätze.Meine Damen und Herren, Ihnen ist ins Stammbuch zuschreiben: Wenn der Bundeskanzler oder führende LeuteIhrer Regierung nur rennen, wenn Firmen wie Holzmann,Babcock oder Mobilcom in Schwierigkeiten kommen,dann ist das falsche Politik. Man muss auch den Inhabereines kleinen oder mittleren Betriebes mit seinen Sorgenund Nöten sehen und ihn in die Lage versetzen, weiterhinexistieren zu können.
Wenn die 5 000 Großunternehmen in der Bundesrepu-blik Deutschland jeweils 100 Arbeitsplätze neu schaffen,dann steht das in jeder Zeitung, wie sie auch heißt. Wennaber von den 3 Millionen Kleinunternehmern, die wir ha-ben, nur die Hälfte in die Lage versetzt werden würde, je-weils einen einzigen Arbeitsplatz zu schaffen, dann ergä-ben sich nicht, wie im Beispiel mit den Großunternehmen,500 000 zusätzliche Arbeitsplätze, sondern 1,5 Millionenneue Arbeitsplätze.
Darum meine ich, dass es nötig ist, gerade denen beson-ders das Wort zu reden. Ich darf deshalb nochmals daraufverweisen, dass es meines Erachtens ein Irrweg ist, wenn dieMonopolkommission – jetzt komme ich zu Ihrer Frage – ei-ner Abschaffung des großen Befähigungsnachweises imHandwerk das Wort redet. So kommen wir wirtschaftlichgesehen in Deutschland nicht voran.Wenn Sie von Rot-Grün meinen, durch die Abschaf-fung des Meisterbriefes zu Mehrbeschäftigung zu kom-men, dann irren Sie sich.
– Aber sicher. Lesen Sie einmal die Koalitionsvereinba-rung durch! –
Beschäftigung entsteht nur, wenn die Rahmenbedingun-gen bei Steuern und Abgaben, wenn Aufträge und Inves-
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titionen für die Unternehmen stimmen, und nicht, wennder Meisterbrief wegfällt.
Ein Wegfall des Meisterbriefes führt zu Qualitäts-einbußen und zu einem erheblichen Nachlassen der Aus-bildungsleistung. Daran kann doch nun wirklich niemandInteresse haben.
Darum möchte ich das, was in diesem Monopolgut-achten steht, zurückweisen. Fortentwicklung der Hand-werksordnung? – Ja. Modernisieren? – Ebenfalls ja. Einederartige Behandlung des Ganzen aber bedeutete, dasKind mit dem Bade auszuschütten. Das wäre ein völligfalscher Weg.
Deshalb meine ich, dass es gilt, alles zu tun und dieGrundlage dafür zu schaffen – ob das die Eigenkapital-ausstattung ist, ob das die Betriebsnachfolge ist oder obdas verschiedene andere Dinge sind, die auf den Nägelnbrennen –, dass, wie es in diesem Monopolgutachtenangemahnt wird, eine bessere Aussage bezüglich derErwartungshaltung an die Zukunft gemacht werdenkann.
Herr Kollege, das war ein schöner Schlusssatz.
Ja. – Wir ziehen die notwendigen Schlüsse aus diesem
Monopolgutachten. Wir nehmen uns das, was wir für rich-
tig empfinden, auch gerne zu Herzen und sind bereit, dies
in die parlamentarische Diskussion einzubringen. Wir
hoffen und setzen auf die Vernunft, die anscheinend auf
der linken Seite dieses Hauses leider noch nicht vorhan-
den ist.
Herzlichen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache
14/9903 und 14/9904 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
Hier: TA-Projekt: Tourismus in Großschutz-
gebieten – Wechselwirkungen und Ko-
operationsmöglichkeiten zwischen Na-
turschutz und regionalem Tourismus –
– Drucksache 14/9952 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Schön, dass Sie hier sind – wir haben noch einen wichti-gen Tagesordnungspunkt abzuarbeiten.Der vorliegende Bericht zum Thema Tourismus inGroßschutzgebieten wurde von der SPD-Fraktion im Tou-rismusausschuss in der letzen Legislaturperiode auf denWeg gebracht. Ich bedanke mich bei den Verfassern fürihre aufschlussreichen Arbeitsergebnisse. Der Berichtgibt uns nicht nur eine umfassende Sachstandsbeschrei-bung, sondern zeigt auch konkrete Handlungsstrategienauf.Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Dimension, überdie wir hier reden, uns allen eigentlich deutlich ist. Oderwussten Sie, dass die deutschen Großschutzgebiete – dassind Nationalparke, Naturparke und Biosphärenreservate –zusammen eine Fläche von fast 9 Millionen Hektar unddamit etwa ein Viertel der Gesamtfläche der Bundesrepu-blik einnehmen? Das hohe Ansehen der Großschutzge-biete in der deutschen Öffentlichkeit bildet eine guteGrundlage für die sensible Erschließung durch den Tou-rismus. Laut einer Befragung des WWF halten 95 Prozentder Bevölkerung die Einrichtung von Schutzgebieten fürwichtig, 70 Prozent sprechen sich sogar für eine Auswei-tung der geschützten Fläche aus. Im Reiseverhaltenschlägt sich das positive Image ebenfalls nieder: 72 Pro-zent der Bundesbürger legen bei der Wahl ihres Ur-laubszieles wert auf konsequenten Naturschutz in derZielregion.Folgerichtig haben sich die erschlossenen Schutzge-biete inzwischen zu Publikumsmagneten entwickelt.Bereits Mitte der 90er-Jahre fanden, wenn man den Städ-tetourismus ausklammert, rund 80 Prozent aller Über-nachtungen in Deutschland in oder am Rande dieser Ge-biete statt. Millionen von Menschen strömen jedes Jahr indie Parke und Reservate. So verzeichnete der NationalparkSchleswig-Holsteinisches Wattenmeer – darüber bin ichals Schleswig-Holsteinerin besonders glücklich – Endeder 90er-Jahre mehr als 15 Millionen Übernachtungen.
Ernst Hinsken
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Gabriele Hiller-OhmDie beiden Nationalparke des Harzes wurden von über20 Millionen Tagesgästen besucht. Mehr als die Hälfte derVerantwortlichen der Schutzgebiete gaben an, dass derÜbernachtungstourismus bei ihnen von großer Wichtig-keit sei. Vom Tagesausflugsverkehr sagten das sogar85 Prozent.Eine Erkenntnis ist inzwischen unumstritten: Der Tou-rismus profitiert von der Attraktivität einer intakten Na-turlandschaft.
Deshalb sollten die touristisch bislang noch nicht in demMaße erschlossenen Großschutzgebiete als wirtschaftli-che Chance begriffen und natürlich auch genutzt werden.Wie müssen unsere Strategien zur Förderung desTourismus aussehen? – Was wir brauchen, sind Strate-gien, die tragfähig und zukunftsweisend sind; denn Na-turschutz und Tourismus sind zwei Komponenten, die aussich heraus nicht leicht miteinander in Einklang zu brin-gen sind.In der Vergangenheit wurden durch einseitige Gewich-tung schwerste Fehler begangen. Wirtschaftliche Interes-sen rangierten ganz klar vor Naturschutzbelangen. Durchden Massentourismus des aufblühenden Wirtschaftswun-derlandes Deutschland und seiner europäischen Nachbarnwurden nicht nur in den südlichen Ländern Europas, son-dern auch hier bei uns in Deutschland katastrophale Fehl-entscheidungen getroffen, die zur Folge hatten, dass Na-turräume rücksichtslos und unwiederbringlich zerstörtwurden. Wir müssen nicht erst an die Küsten Italiens oderSpaniens fahren – ich denke auch an die Ferieninsel Mal-lorca –, um die Auswirkungen zu sehen. Bei uns inDeutschland wurden ganze Hänge des damals westdeut-schen Harzes und der Alpen dem Massentourismus geop-fert. Auch an Nord- und Ostsee stößt man auf Sünden ei-nes einseitig ausgelegten Tourismusverständnisses.Zum Glück haben sich die Einstellungen zum Natur-schutz und auch das Freizeit- und Urlaubsverhalten derMenschen in den letzten Jahren verändert. Zwar strebennoch immer viele Menschen Mallorca-Urlaub mit Bal-lermann-Romantik an, die Zahl der Urlauber, die Erho-lung in intakter Natur wünschen, wächst jedoch bestän-dig,
wie wir am Beispiel der Großschutzgebiete Wattenmeerund Harz, den Rennern unter den Großschutzgebieten, er-kennen können. Hier liegt die große Chance, Ökologieund Ökonomie im Tourismus zusammenzubringen. Waswir brauchen, meine Damen und Herren, ist ein auf Nach-haltigkeit ausgerichteter Tourismus, ein Tourismus mitKonzepten, die Naturräume nicht als störende und profit-mindernde Drangsal begreifen.
Die touristische Nutzung von Naturräumen erfordertgrundlegende verkehrspolitische Weichenstellungen.Denn wie gelangen wir in die Erholungsparadiese? DieBewältigung derVerkehrsprobleme, die sich aus touris-tischen Wachstumsraten in diesen Gebieten ergeben, stel-len alle Akteure oft vor geradezu unlösbare Probleme.Wir setzen auf die umweltverträglicheren, auf die öf-fentlichen Verkehrsträger. Vor allem die Bahn ist gefor-dert, akzeptable Strategien für Touristen zu erarbeiten, diezum Beispiel auch dem Fahrradurlauber einen angemes-senen Platz bieten.
Der Rückzug der öffentlichen Verkehrsmittel aus denländlichen Räumen muss gestoppt werden, damit sichTourismus gerade dort entfalten kann.
Die Chancen für die regionale Wirtschaftsentwicklung,die sich durch die Großschutzgebieten mit ihrer intaktenNatur bieten, müssen in Deutschland weiter ausgebautwerden. Dieser Schritt ist vor allem auch aus arbeits-marktpolitischen Überlegungen unverzichtbar; denn ge-rade im Dienstleistungsbereich können neue Arbeits-plätze geschaffen werden, die ländlichen Räumen mithohen Arbeitslosenzahlen zugute kommen.Wir setzen uns dafür ein, dass auch in Zukunft ausrei-chende Fördermittel zur Schaffung neuer Arbeitsplätzein die Schutzgebietsregionen fließen. Durch ihren Be-kanntheitsgrad und ihre Anziehungskraft eröffnen dieSchutzgebiete für Kommunen und Regionen die Mög-lichkeit, sich im nationalen, aber vor allem auch im inter-nationalen Wettbewerb als unverwechselbares Reisezielzu präsentieren. Schutzgebiete sind keine isolierten In-seln, sondern immer auch in die Region eingebettet. Da-mit die umliegenden Gemeinden und die Regionen vonihren geschützten Arealen stärker als bisher profitierenkönnen, sind künftig eine verstärkte Vernetzung zwischentouristischen Angeboten, Marketing und Akteuren in undaußerhalb des jeweiligen Schutzgebietes sowie eine kon-tinuierliche Beteiligung aller Betroffenen unverzichtbar.Von großer Bedeutung für den nachhaltigen Tourismusist das neue Umweltmarkenzeichen Viabono, das aufInitiative der SPD-Bundestagsfraktion im Jahre 2001 ein-geführt wurde. Dafür gilt an dieser Stelle mein Dank.
Es dient nicht nur der Förderung des umweltfreundlichenReisens, sondern auch der Vereinheitlichung des nochunübersichtlichen Marktes der Ökosiegel. Für die Groß-schutzgebiete, die die Kriterien des Markenzeichens er-füllen, wurde auf den Seiten der Deutschen Zentrale fürTourismus eine gemeinsame Vermarktungsplattform ge-schaffen. Auch das ist übrigens auf die Initiative der SPDzurückzuführen.
Es ist unbestreitbar, dass wir in Deutschland wirt-schaftliches Wachstum brauchen.
Durch den vorliegenden Bericht wird deutlich, dass diePotenziale des Tourismus als wichtiger Wirtschaftsfaktor
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in und um Großschutzgebiete noch lange nicht ausge-schöpft sind.Was also ist zu tun?
Eine bundesweite Vernetzung und gemeinsame Vermark-tung der Schutzgebiete stärkt ihre Chancen auf dem inter-nationalen Markt. Wir werden uns deshalb dafür einset-zen, dass die Netzwerkbildung vorangetrieben wird.
Die Großschutzgebiete übernehmen eine Vorreiterrollefür den nachhaltigen Umbau der Reisebranche. Die Er-fahrungen, die dort gesammelt werden, müssen deshalbsorgfältig ausgewertet und den Akteuren des Fremden-verkehrs zur Verfügung gestellt werden.
Naturverträglicher Tourismus schließt eine umweltscho-nende Verkehrsinfrastruktur ein. Hier sind die SPD-Frak-tion und die Regierung mit ihrem Bekenntnis zur Ver-kehrswende auf dem richtigen Weg.
Rot-Grün steht auch in den kommenden Jahren fürden Umbau hin zu einer Gesellschaft, die den Schutzunserer Lebensgrundlagen und den Schutz einer sozia-len Gesellschaft zum Ziel hat. Dieses Ziel werden wirauch in unserer Tourismuspolitik stets fest im Auge be-halten.Übrigens: Nichts spricht dagegen, dass sich auch dieOpposition dieser sinnvollen Zielsetzung anschließt.Vielen Dank.
Ich bekomme gerade signalisiert, dass dies die erste
Rede der Kollegin war. Ist das richtig?
– Das war eine Information aus Ihren Reihen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem Auftrag zur Erstellung des vorliegenden Berich-tes haben wir als Tourismusausschuss des DeutschenBundestag in der 14. Legislaturperiode ein Thema weiter-bearbeitet, welches in den nächsten Jahren zunehmend anBedeutung gewinnen wird. Der heute diskutierte Berichtwar nicht der erste und – das kann ich Ihnen versichern –wird auch nicht der letzte sein, der sich mit dem Themabeschäftigt.
Der Nationalparkgedanke ist weit über 100 Jahre altund dennoch aktuell und attraktiv wie nie zuvor. In denUSA ins Leben gerufen, gab es auch in Deutschland, wiein meiner Heimat, dem Elbsandsteingebirge, in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts erste Überlegungen, die-sen einzigartigen Landschaftsraum mit seiner charakteris-tischen Tier- und Pflanzenwelt zu einem Nationalpark zuerklären. Leider hat der Zweite Weltkrieg verhindert, dassdieser Gedanke in die Realität umgesetzt werden konnte.Nach Ende des Krieges und der Teilung unseres Vaterlan-des gab es in den 50er-Jahren erneut Bestrebungen, dasElbsandsteingebirge zum Nationalpark zu erklären. Je-doch war der Begriff „national“ den SED-Ideologen einDorn im Auge. Deshalb wurde das Projekt „Landschafts-schutzgebiete in Mitteldeutschland“ initiiert.Mit der deutschen Einheit kamen dann zu den beste-henden fünf westdeutschen Nationalparks fünf weitere inden neuen Bundesländern sowie eine Vielzahl von Natur-parks und anderen Großschutzgebieten hinzu. Nicht um-sonst sprach Klaus Töpfer vom Tafelsilber der deutschenWiedervereinigung und meinte die Nationalparks, Städteund Kulturvielfalt im größer gewordenen Deutschland.Diese Aussage galt vor 13 Jahren und sie hat auch nochheute ihre Gültigkeit.Durch die Nationalparks sind wichtige Grundlagen fürdie nachhaltige touristische Entwicklung in ganzDeutschland gelegt worden. Naturerlebnis wird ein im-mer wichtigeres Reisemotiv und deshalb ist eine ver-stärkte touristische Nutzung und Vermarktung von Natio-nalparks eine große Chance für den TourismusstandortDeutschland. Das Forschungsinstitut BAT hat vor einigerZeit ermittelt, welche Gründe den Urlauber animieren,eine Reise anzutreten. Und siehe da! Immerhin 71 Pro-zent – das ist in den Angaben der führende Platz – ver-weisen auf schöne Landschaften.Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass dererste deutsche Nationalpark im Jahre 1970 im Bayeri-schen Wald vom bayerischen CSU-MinisterpräsidentenDr. Alfons Goppel und seinem LandwirtschaftsministerDr. Hans Eisenmann und als Folge der zweite im Berch-tesgadener Land gegründet wurden. Kein Geringerer alsder heutige bayerische Ministerpräsident Dr. EdmundStoiber hat den Mut gehabt, den Nationalpark BayerischerWald – unser Kollege Ernst Hinsken hat dort seinen Wahl-kreis – gegen den Widerstand vieler lokaler Kritikerflächenmäßig erheblich zu vergrößern.
– Ich wusste nicht, dass der Kollege Stiegler seinen Wahl-kreis ebenfalls im Bayerischen Wald hat.Sie sehen: Umwelt, Natur und Landschaftsschutz wa-ren bei CDU und CSU schon lange in guten Händen, undGabriele Hiller-Ohm
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Klaus Brähmigzwar bevor ideologisch geprägte Umweltdebatten statt-fanden. Bei uns in Sachsen steht die Staatsregierung zuihrem Nationalpark. Allein in diesem Jahr sind 20 Rangervon der Forstverwaltung für die neuen Aufgaben der Be-sucherführung, Information und Landschaftspflege frei-gestellt worden. Mit der richtigen Landesregierung kannauch der Osten Deutschlands Vorreiter sein.Ich habe mich ganz besonders gefreut, dass FrauStaatssekretärin Probst – auch jetzt ist sie anwesend –persönlich mit mir und vielen anderen im vergangenenJahr bei einer Veranstaltung des Nationalparks zugegenwar und dadurch auch ihrem Einsatz für die Bewahrungdes Elbflusslaufes in meiner Heimat, der Sächsischenund der Böhmischen Schweiz, Nachdruck verliehen hat.Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedan-ken.
Das sowohl für den nationalen wie für den internatio-nalen Markt touristische Vermarktungspotenzial hat aufInitiative der CDU/CSU-Fraktion nun auch die DeutscheZentrale für Tourismus erkannt und bezieht dies in ihrePublikationen ein. Das ist der richtige Weg. Warum sollenwir nicht mit Pfunden wuchern, die uns die Natur ge-schenkt hat? Trotz dieser positiven Entwicklung gibt esallerdings Defizite, die die Politik in den nächsten Jahrenbeherzt angehen muss.In der Bundesrepublik Deutschland haben wir in derZuständigkeit für Nationalparks und Großschutzgebieteeine Besonderheit. Die Zuständigkeit liegt nicht beimBund, sondern bei den Ländern. Damit nehmen wir welt-weit eine Sonderstellung ein. So hat zum Beispiel unserNachbar Österreich trotz seines ebenfalls föderalen Auf-baus die Dachmarke „Nationalparks Austria“ ins Lebengerufen, die vom Bund finanziert und zentral beworbenwird. Daran könnten wir anknüpfen. Ich habe ein Exem-plar der Broschüre mitgebracht.Ich würde mich freuen, wenn die Kollegen, vor allemder SPD und der Grünen, unseren Antrag, den wir in einerder nächsten Sitzungen einbringen werden und in dem esum die Erhöhung der Mittel für die Deutsche Zentrale fürTourismus geht, unterstützen würden, damit auch solcheintelligenten Projekte zur Vermarktung des Wirtschafts-standorts Deutschland gefördert werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der festenÜberzeugung, dass wir zur Stärkung der Nationalparkseine Nationalparkstiftung gründen sollten, in der sichBund, Länder und Parks organisatorisch neu ausrichten.Eine einheitliche Ausbildung und Ausstattung des Perso-nals, eine gemeinsame nationale und internationale Ver-marktung, die Entwicklung eines gemeinsamen touristi-schen Leitbildes und eine gemeinsam abgestimmteInvestitionsplanung sollten meiner Auffassung nach dieZukunft des Nationalparkgedankens bestimmen. Dannkönnen wir den Naturschutzgedanken besser im Bewusst-sein unserer Bevölkerung verankern und gleichzeitig denTourismusstandort Deutschland stärken. Lassen Sie unshierfür gemeinsame Anstrengungen unternehmen!Vielen Dank.
Jetzt hat eine Abgeordnete zu Ihrer ersten Rede dasWort, nämlich die Abgeordnete Undine Kurth.Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zu dieser zugegebenermaßen etwas spätenStunde und in einem doch ziemlich intimen Kreis möchteich zuerst, auch im Namen meiner Fraktion, den Autorendieses Berichts danken, weil sie uns konkrete Aussagen zudem liefern, was wir alle, zumindest diejenigen, die sichintensiver mit diesem Thema befassen, schon lange ver-mutet haben.Der Umfang der Nutzung touristischer Angebote imZusammenhang mit Großschutzgebieten, also National-parken, Biosphärenreservaten und Naturparken, ist be-reits jetzt beachtlich und liefert einen nicht zu unterschät-zenden Beitrag zum Schutz der Natur auf der einenSeite, aber auch zur Stärkung des Binnentourismus aufder anderen Seite. Den Kommunen und Regionen bietetsich die Chance, sich im Wettbewerb als unverwechsel-bare Destination für spezifische Zielgruppen attraktiv zupositionieren und damit Grundlagen für eine solide wirt-schaftliche Entwicklung zu schaffen.Wichtig ist uns auch der Aspekt, dass der Tourismus inGroßschutzgebieten eine Alternative zu flächen- und in-frastrukturintensiven Freizeitnutzungen, zum BeispielFreizeitparks, darstellt. Das ist angesichts des fortschrei-tenden Flächenverbrauchs in unserem Land, den wir allezu Recht wahrnehmen und mit Sorge sehen, von nicht zuunterschätzender Bedeutung.
Um die genannten positiven Effekte zu erreichen,müssen Tourismus und Naturschutz allerdings eine Part-nerschaft eingehen. Die Perspektive einer solchen pro-duktiven Partnerschaft gründet auf der Möglichkeit sogenannter Win-win-Effekte, um es auf Neudeutsch zusagen. Man kann es auch viel simpler ausdrücken: Esmüssen schlicht beide etwas davon haben; der Natur-schutz auf der einen Seite, die Tourismuswirtschaft aufder anderen Seite.Diese Effekte ergeben sich nicht von selbst. Ein Inte-ressenausgleich kann nur durch sorgfältige Planung, dieEinbeziehung aller Betroffenen und durch flankierendeMaßnahmen erreicht werden.
Es wird sich aber mit Sicherheit lohnen – davon sindwir fest überzeugt –, die Praxis eines Zusammenwirkensvon Tourismus, Naturschutz und Regionalentwicklung imKontext von Großschutzgebieten als ein sowohl ökolo-
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gisch als auch ökonomisch attraktives Konzept weiterzu-verfolgen und auszubauen.
Die vorliegende TAB-Studie bestärkt uns in dieser Hal-tung.Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Für den Natio-nalpark Bayerischer Wald hat der von der Kommission inBrüssel herausgegebene „Euro-Brief“ für Ende der 90er-Jahre eine tourismusinduzierte wirtschaftliche Wert-schöpfung von immerhin 4 460 DM je Hektar und Jahr er-rechnet. Das ist eine beachtliche Zahl, die man manchenimmer wieder vorhalten sollte. Hinter dem Tourismus inoder mit Großschutzgebieten steht also ein nennenswerterwirtschaftlicher Wert, und zwar bundesweit wie auchweltweit.
Bedacht werden muss dabei in jedem Fall, dass dieVerbindung zwischen Naturschutz und Tourismus sowohldurch gegensätzliche als auch durch übereinstimmendeInteressen gekennzeichnet ist. So profitiert der Tourismuszwar einerseits von der intakten Natur; andererseits kanner aber durch einen unbedachten Umgang mit dieser in-takten Natur seine eigenen Grundlagen zerstören.Leider gilt der Naturschutz – das ist immer noch so undstellt keine ideologische Sichtweise dar – als vermeint-liche Bremse für eine touristische Entwicklung; anderer-seits soll er aber die für den Tourismus so wichtigen in-takten landschaftsbezogenen Grundlagen sichern. Hierkann man eigentlich nur von angewandtem Spaltungs-irresein reden. Man muss in jedem Fall beide Aspektegleichzeitig beachten.Für die Lösung dieser Konflikte ist die Akzeptanzdurch die lokale Bevölkerung wesentlich, die zumeistvon Nutzungseinschränkungen am ehesten und unmittel-bar betroffen ist. Es gelingt zwar immer besser, Gäste,Touristen und Ausflügler in die naturgeschützte Region zuholen. Aber wir müssen wesentlich mehr Anstrengungendarauf verwenden, bei der Bevölkerung vor Ort Akzep-tanz zu wecken.
Die Kunst besteht also darin, die vor Ort lebendenMenschen für die Naturschutzidee zu gewinnen. Bei Pla-nung, Erweiterung und Veränderungen von Naturschutz-gebieten, die auch zu Veränderungen im unmittelbarenUmfeld der betroffenen Bevölkerung führen, muss dieseeinbezogen, frühzeitig informiert und nach ihrer Meinunggefragt werden. Ansonsten fühlen sich diese Menschenwie Besucher. Sie sind dann auf dem gleichen Informati-onsstand wie Gäste, was verständlicherweise zu Unbeha-gen führt.In der Wirtschaft gibt es viele hochinteressante Moni-toringprogramme, um Vertreter gegensätzlicher Interes-senlagen miteinander ins Gespräch zu bringen und zwi-schen ihnen einen Ausgleich herzustellen. Wir sollten sehrdarauf drängen, dass Monitoring auch hier systematischeingesetzt wird, damit man dort zu besseren Ergebnissenkommt.
Aufgeräumt werden muss mit dem Irrglauben, dassNationalparke und Biosphärenreservate oder sogar Natur-parke nur mit Einschränkungen und Verboten verbundenseien. Bei Beachtung aller Dimensionen des Tourismus inGroßschutzgebieten kann die ganze Region, wie wir allewissen, nachweislich von dieser Verbindung profitieren.Es entstehen neue Wirtschaftszweige, alte Wirtschafts-zweige werden wiederbelebt. Es gibt viele Effekte, die dieRegion voranbringen.Mit bislang 13 Gebieten – ich hoffe, dass es mehr wer-den – sind Nationalparke in unserem Land ein knappeswirtschaftliches Gut. 95 Prozent der deutschen Bevölke-rung – das wurde vorhin schon erwähnt – halten die Ein-richtung von National- und Naturparken für richtig.70 Prozent meinen, es sollten sogar noch mehr Flächenunter Naturschutz gestellt werden. Das können nicht nurgrüne Wählerinnen und Wähler sein; das muss darüberhinausgehen. Hier sollten sich in den Ländern noch mehrparteienübergreifende Bündnisse für die Einrichtung vonGroßschutzgebieten bilden. Das ist ein wunderbares An-gebot für eine gute Zusammenarbeit auf diesem Gebiet,die in unser aller Interesse liegen muss.
– Ich sagte, dass wir Naturparke auf den Weg bringen wol-len.Es war eine gute Entscheidung, dass auf Initiative mei-ner Fraktion das TA-Projekt „Tourismus in Großschutz-gebieten“ beschlossen wurde; denn der vorgelegte End-bericht zeigt auf, dass die Konflikte zwischen Naturschutzund Tourismus zum Nutzen für beide Seiten gestaltbarsind. Wenn wir diese berücksichtigen, werden wir auf die-sem Gebiet auch zu guten Ergebnissen kommen.Ich danke Ihnen.
Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer erste Rede in diesem Ho-
hen Haus.
Seine erste Rede hält jetzt auch der Abgeordnete
Jürgen Klimke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben jetzt vieles zu dem Bericht gehört, insbesondere vonRot-Grün. Meine lieben Kolleginnen, der Worte habe ichviele gehört, allein mir fehlt der Glaube. Lasst jetzt TatenUndine Kurth
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Jürgen Klimkefolgen! Wir wollen jetzt den Bericht nicht lange prüfen,wir wollen nicht fordern und nicht appellieren, sondernwir müssen die Chancen aufgreifen, die uns dieser Berichtgibt. Es geht darum – das ist hier gesagt worden –, zweiKomponenten miteinander zu verbinden: wirtschaftlichesWachstum und Naturbewusstsein.
Meine Damen und Herren, wir sollten die Konsequen-zen rasch ziehen und nicht so lange warten, wie die Er-stellung des Berichts gedauert hat, nämlich drei Jahre.Wenn wir rasch Konsequenzen ziehen, werden Sie uns anIhrer Seite haben. Schließlich sind wir schon seit langeman der Seite der Natur: CDU und CSU als Gralshüter derNatur, als diejenigen, die der Bundesrepublik den grünenDaumen gebracht haben!
Wir haben hierfür zwei Beispiele gehört. 1985 wurdeder Nationalpark Wattenmeer von der CDU-Regierung inSchleswig-Holstein initiiert. Der Nationalpark Bayeri-scher Wald wurde 1970 ins Leben gerufen. Zu dieser Zeitwusste die SPD noch nicht einmal, wie man Naturschutzschreibt. Der Naturbezug der Grünen bestand im Steine-werfen.
Meine Damen und Herren, nachhaltiger Tourismuswird also schon sehr lange und nicht erst seit Rot-Grünpraktiziert – das muss man noch einmal betonen –,
weil wir schon frühzeitig erkannt haben, dass er das not-wendige Vitamin B für strukturschwache Regionen ist,um wirtschaftliche Prosperität zu stärken und die regio-nale Kultur und Identität zu schützen. Es geht also um diefriedliche Koexistenz von Krabbenfischer und Wattwurm,von Almbauer und Alpenveilchen.Wir wissen, dass der Bericht – auch das ist schon ge-sagt worden – das Rad nicht neu erfindet und dass Juistund Amrum nicht erst seit Rot-Grün autofrei sind. Wirwissen auch, dass das Konzept des nachhaltigen Touris-mus inzwischen von Flensburg bis Garmisch und vonDuisburg bis Bitterfeld umgesetzt wird. Wenn aber vonder SPD-Kollegin „Viabono“ sozusagen als ein Parade-pferd genannt wird, dann kann ich nur warnen. Statt die-ses zu bejubeln, sollten Sie lieber aufpassen, dass es nichtfloppt. „Viabono“ hatte zum Ziel, bis Mitte dieses Jahres1 000 Hotels und 100 Gemeinden unter seinem Label zuvereinen. Wo sind wir jetzt? Gerade bei 10 Prozent! Stren-gen Sie sich also ein bisschen an, wenn Sie sich mit die-sem Punkt weiter identifizieren wollen.
Wie soll ein Konzept für einen – nennen wir es ruhigso – Naturtourismus im Jahre 2010 aussehen? Die dop-pelte Zielsetzung sind die Sicherung des Natur- und Um-weltschutzes in den ausgewiesenen Gebieten und dieMöglichkeit der regionalen Wertschöpfung durch touris-tische Nutzung. Die betroffenen Regionen – darauf wirdauch im Bericht hingewiesen – brauchen Umweltma-nagementsysteme, um den Spagat zwischen Wirtschaftund Naturschutz zu schaffen. Wir brauchen vor allen Din-gen einen sanften Urlaubstourismus mit Kultur, Sport undBewegung, Urlaub auf dem Bauernhof sowie mit Ange-boten für Familien, sozial Schwache und die Jugend. Ge-rade diese Konkretisierung liegt uns am Herzen.Nachhaltiger Tourismus – das ist ganz wichtig; das darfich Ihnen vielleicht noch einmal sagen – muss aus unse-rer Sicht auch eine soziale Funktion haben.
Intakte Natur darf nicht ein Gut sein, das sich nur Vermö-gende leisten können. Natur hat auch eine gesellschaft-liche Funktion über alle Grenzen hinweg. Das müssen wirimmer wieder deutlich machen.
Wie kann die Politik hier helfen? Es gibt sicherlich dieMöglichkeit gesetzlicher Steuerungsmaßnahmen. Es sollteaber nicht zu viel Dirigismus geben; denn das Miteinan-der ist hier das Entscheidende. Wir können sicherlich auchüber Steuererleichterungen sprechen; das werden wir imAusschuss auch tun. Aber eines ist mir ganz besonderswichtig: Wir müssen bedenken, dass Naturschutz nicht anunseren Grenzen Halt macht. Der Nationalpark Watten-meer erstreckt sich auch über die Grenzen Deutschlandshinweg nach Dänemark. Die Boddengewässer hören nichtvor Polen auf und die Alpen, Herr Kollege Hinsken, en-den nicht an der Zugspitze.Was will ich damit sagen? Wir müssen versuchen, un-sere europäischen Nachbarn einzubinden und das Kon-zept des nachhaltigen Tourismus zu exportieren. Wir soll-ten darüber hinaus auch versuchen, zumindest diese Ideein die Entwicklungsländer zu exportieren; denn dort istder Tourismus eine dynamische Wachstumsbranche undein Wirtschaftsfaktor mit großem Entwicklungspotenzial.Hier müssen wir, die politisch Verantwortlichen, den Un-ternehmen und der Reisebranche deutlich machen, dasseine ungebremste touristische Entwicklung irreversibleSchäden und dauerhaften Verlust von Ökosystemen nachsich zieht. Wir sollten den Tourismus nicht nur konsumie-ren, sondern auch versuchen, mit dem Tourismus, wie wirihn definieren, etwas zu lehren. Wir müssen national dasvorleben, was wir von anderen einfordern.
Albert Schweitzer hat einmal gesagt:Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. DerMensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat,sich selbst zu beherrschen.Wir sollten zeigen, dass wir dies als Hoffnung und He-rausforderung und nicht als Risiko begreifen. Mit demvorliegenden Bericht haben wir die entsprechendenWerkzeuge in die Hand bekommen. Nutzen wir siegemeinsam!Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003 1551
Danke schön. Auch Ihnen herzlichen Glückwunsch zu
Ihrer ersten Rede in diesem Haus.
Der Abgeordnete Christian Eberl hat darum gebeten,
seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen1). Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind wir damit am
Schluss der Redeliste zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache14/9952 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung
zu dem Änderungsantrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht
– Drucksachen 15/1, 15/2, 15/178 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Eckart von Klaeden
Ekin Deligöz
Interfraktionell ist eine Aussprache vereinbart worden.
Der Abgeordnete Küster soll für die Darstellung des
Standpunktes aller Fraktionen fünf Minuten Redezeit er-
halten. Die Abgeordnete Lötzsch soll ebenfalls fünf Mi-
nuten Redezeit erhalten. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Uwe Küster.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Die Wählerinnen und Wähler haben am 22. Sep-tember vergangenen Jahres einen neuen Deutschen Bun-destag gewählt. Die PDS verfehlte damals die 5-Prozent-Hürde und konnte auch keine drei Direktmandate in denWahlkreisen gewinnen. Die Zweitstimmen der PDS konn-ten damit gemäß unserem Wahlrecht bei der Konstitu-ierung des Deutschen Bundestages nicht berücksichtigtwerden.Die fraktionslosen Kolleginnen Pau und Dr. Lötzschschafften als PDS-Direktkandidatinnen in ihren Wahl-kreisen den Direkteinzug in den Deutschen Bundestag.Auf Frau Pau kamen gut 53 000 und auf Frau Dr. Lötzschrund 57 000 Wählerstimmen.Die Abgeordneten Pau und Dr. Lötzsch haben eine Än-derung der Geschäftsordnung beantragt. Ich zitiere:Mitglieder des Bundestages, die sich zusammen-schließen, ohne Fraktionsmindeststärke zu erreichen,sind eine Gruppe.Aufgrund dieses Änderungsantrags könnten sich zweiAbgeordnete automatisch zu einer Gruppe zusammen-schließen. Durch diesen Automatismus würde ein Be-schluss des Parlaments über seine eigene innere Organi-sation in dieser Frage unmöglich werden.Laut erstem PDS-Urteil des Bundesverfassungsge-richts aus dem Jahr 1991 ist eine Anerkennung als Gruppenur zwingend, falls der Zusammenschluss von Abgeord-neten der gleichen Partei oder einem Wahlbündnis so mit-gliederstark ist, dass auf ihn unter Berücksichtigung derGröße der Ausschüsse und des angewandten Berech-nungsschlüssels, des Zählverfahrens, ein Ausschusssitzoder mehrere Ausschusssitze entfallen würden. Das dürftein der 15., also der jetzigen, Wahlperiode mindestens achtMitglieder voraussetzen. Dieses Quorum wird von denbeiden fraktionslosen Abgeordneten deutlich verfehlt.Insbesondere aus diesem Grund hat der 1. Ausschussden Änderungsantrag der beiden Kolleginnen einstimmigabgelehnt. Alle Fraktionen sind der gemeinsamen Auffas-sung, dass dem Plenum auch zukünftig die ausdrücklicheEntscheidungskompetenz in dieser Frage vorbehaltenbleiben muss. Nur so kann die Funktionsfähigkeit desBundestages als Arbeitsparlament sichergestellt werden.Nach der geltenden Geschäftsordnung ist auch nur dasPlenum legitimiert, einer neu gebildeten Gruppe be-stimmte Rechte zuzuerkennen. Das betrifft unter anderemArt und Umfang an Ausstattung in finanzieller und säch-licher Hinsicht.Die Fraktionen lehnen den vorgeschlagenen Automa-tismus bei der Gruppenbildung ab. Abgeordnete könntensonst Zweckbündnisse eingehen, um in einer Gruppe dieihnen dann zustehenden Rechte zu nutzen. Kleine Grup-pen könnten die parlamentarische Arbeit unseres Plenumsallerdings deutlich behindern.Nach der geltenden Geschäftsordnung des DeutschenBundestages stehen fraktionslosen Abgeordneten eine be-ratende Mitwirkung und Rederecht in einem Bundes-tagsausschuss zu. Darüber hinaus haben sie Zutritts- undInformationsrecht in allen anderen Ausschüssen desDeutschen Bundestages. Fraktionslose Abgeordnete sindzudem bei der Möglichkeit, im Plenum zu Wort zu kom-men, deutlich besser gestellt als Abgeordnete der Frak-tionen. Letztlich ist den fraktionslosen Abgeordneten eineNutzung des Wissenschaftlichen Dienstes des DeutschenBundestages möglich.Die Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch können also ander politischen Willensbildung im Parlament und an derEntscheidungsfindung des Bundestages teilnehmen. Ihreparlamentarischen Mitwirkungsrechte sind vollauf ge-währleistet. Aus diesem Grunde lehnen die Fraktionen denÄnderungsantrag der Kolleginnen Pau und Lötzsch ab.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2003
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst ein-
mal möchte ich eine Bemerkung in eigener Sache ma-
chen. Ich heiße Gesine Lötzsch. Ich bitte darum, meinen
Namen mit einem langen ö auszusprechen. Auch wenn
sich das bei drei Phonemen und sieben Graphemen nicht
zwingend ergibt und ein gewisser Widerspruch zu sein
scheint, ist es ein langes ö.
Es hat sich eine ganz große Koalition aller Fraktionen
gegen unseren Antrag zusammengefunden. Das ist wirk-
lich bemerkenswert. Wenn es Schule macht, dass bei je-
dem Tagesordnungspunkt nur noch ein Vertreter für alle
Fraktionen spricht und dann eine PDS-Abgeordnete das
Wort bekommt, dann werden unsere Bundestagsdebatten
übersichtlicher und Sie müssen hier nicht mehr so lange
sitzen.
Wie ist die Einheit und Geschlossenheit aller Fraktio-
nen zu erklären? Es geht in dieser zehnminütigen Debatte
um die Stellung von direkt gewählten Abgeordneten im
Deutschen Bundestag. Frau Pau und ich – das wurde hier
bereits anhand von Zahlen ausgeführt – wurden in unse-
ren beiden Wahlkreisen direkt in den Deutschen Bundes-
tag gewählt. Damit verbindet sich ein Wählerauftrag, den
wir gern erfüllen wollen. Doch die ersten 100 Tage hier,
im Bundestag, haben gezeigt, dass alles unternommen
wird, um gerade das zu verhindern.
Wie schon ausgeführt wurde, besteht eine große Ein-
mütigkeit in diesem Haus darüber, dass wir keine weite-
ren Rechte erhalten sollen. Allerdings ist völlig klar, dass
wir mit den Rechten, die wir haben, die Bundesregierung
nur sehr eingeschränkt kontrollieren können. In der Kon-
trolle der Regierung aber – das schreibt die Verfassung
so vor – besteht eine wesentliche Aufgabe von Volksver-
tretern.
Wir haben als fraktionslose Abgeordnete nicht das
Recht, Kleine Anfragen an die Bundesregierung zu stel-
len. Jeder andere Abgeordnete, ob direkt oder über die
Liste gewählt, hat dieses Recht. Einmal im Monat ist es
uns gestattet, maximal vier Fragen an die Bundesregie-
rung zu stellen. Das Antragsrecht ist auf Anträge in zwei-
ter oder dritter Lesung beschränkt und damit so gut wie
wertlos; denn die Diskussionen sind abgeschlossen und
die Anträge erleiden das Schicksal der Ablehnung.
Warum fordern wir in unserem Antrag also den Grup-
penstatus?Wir wollen nicht mehr, sondern nur die glei-
chen Rechte, die alle anderen Abgeordneten im Deut-
schen Bundestag haben. Das betrifft das Fragerecht und
das Antragsrecht. Aber es geht auch um die konkreten
Arbeitsbedingungen. Die unendliche Geschichte mit
dem fehlenden Tisch und dem abgeklemmten Telefon
kennt mittlerweile fast jedes Kind in dieser Republik. Der
Bundestagspräsident muss einen guten Teil seiner Ar-
beitszeit darauf verwenden, Bürgerinnen und Bürgern zu
erklären, warum wir im Parlament keinen Tisch bekom-
men. Auch der Petitionsausschuss ist mit dieser Angele-
genheit befasst. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die materielle und finanzielle Ausstattung eines Abge-
ordneten in einer Fraktion ist um ein Vielfaches besser als
die Ausstattung eines Einzelabgeordneten.
Nun hat Herr Thierse, der leider nicht anwesend ist
– gleiches Recht für alle –, zu seiner Verteidigung erklärt,
dass die Wählerinnen und Wähler nun einmal so ent-
schieden haben; die PDS sei vom Wähler, nicht vom Bun-
destag abgestraft worden. Doch bei den Wahlen wurde
meiner Meinung nach nicht darüber entschieden, dass es
Abgeordnete erster und zweiter Klasse geben soll. Es
wurde auch nicht darüber entschieden, ob man die Rechte
direkt gewählter Abgeordneter einschränken soll. Auf
meinem Wahlzettel stand das jedenfalls nicht. Ich denke,
es stand auch nicht auf Ihrem.
Wir würden auf den Gruppenstatus verzichten, wenn
sich die anderen Parteien darauf einigen könnten, die
Rechte der Abgeordneten zu stärken. Damit würden sie
auch die Demokratie in diesem Lande stärken. Doch da-
ran haben die Spitzen aller Fraktionen kein Interesse. Die
Stellung der Fraktionsvorsitzenden ist im Gegensatz zu
der der Abgeordneten nicht im Grundgesetz verankert;
doch sie haben mit der Geschäftsordnung und vielen Gre-
mien die Macht auf sich konzentriert und sie haben auch
dafür gesorgt, dass einzelne Abgeordnete häufig zu Klein-
darstellern in ihren Fraktionen verkommen.
In diesem Sinne ist unser Antrag ein Antrag für alle
Abgeordneten, die ständig unter Fraktionszwängen zu lei-
den haben und deren Kompetenzen immer mehr einge-
schränkt werden. Ich empfehle Ihnen also dringend, die-
sen Antrag anzunehmen; denn Sie würden dadurch mehr
gewinnen als verlieren.
Vielen Dank.
Ich danke auch und schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu
dem Änderungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch
und Petra Pau zu dem interfraktionellen Antrag zur Wei-
tergeltung von Geschäftsordnungsrecht. Der Ausschuss
empfiehlt, den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die
Stimmen der beiden Abgeordneten Lötzsch und Pau an-
genommen worden. Der Antrag zur Änderung der Ge-
schäftsordnung ist damit abgelehnt.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 17. Januar, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.