Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Interfraktionell ist vereinbart worden, die Entwürfe derKoalitionsfraktionen zum Beitragssatzsicherungsgesetzund zum Zwölften SGB-V-Änderungsgesetz nachträglichan den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsord-nung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Deutsche Beiträge zu Friedenund Wiederaufbau in Afghanistan.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr nach der his-torischen Konferenz auf dem Petersberg und im Vorfeldder Verlängerung des Mandats von Enduring Freedomkönnen wir in gewissem Umfang eine positive Zwi-schenbilanz der Entwicklung in Afghanistan ziehen, dieaber, wie wir auch in den letzten Tagen wieder sehen, vorRückschlägen nicht gefeit ist. Die Taliban sind zwar weit-gehend entmachtet, aber es gibt auch Anzeichen für Ver-suche der Neuorganisation, die sie etwa im Gebiet zu Pa-kistan hin unternehmen.Der im Petersberger Abkommen vorgegebene Fahr-plan ist von der afghanischen Regierung eingelöst wor-den. Der von der Loya Jirga gewählte Präsident Karzai hatmit dazu beigetragen, dass eine Rechtskommission, eineMenschenrechtskommission und eine Verfassungskom-mission eingesetzt wurden. Eine unabhängige Zentral-bank ist institutionalisiert worden.Wir als Bundesregierung werden den Terrorismuswirksam bekämpfen. Deshalb orientieren wir uns an einerbreiten Gesamtstrategie, die terroristische Netzwerke not-falls auch mit militärischer Gewalt zerschlägt, die aberauch bei den politischen, sozialen und ökonomischenProblemen ansetzt, die einen Nährboden für Terrorismusbilden können. Wir verfolgen eine Gesamtstrategie, dieFrieden und Wiederaufbau in Afghanistan unterstützt.Deutschland hat die Durchführung der Loya Jirga unter-stützt. Die Regierung von Präsident Karzai muss ihredurch die Loya Jirga erlangte politische Legitimität je-doch auch durch die Bereitstellung von Gesundheit, Bil-dung, Energie, Wasser und Straßen gegenüber der Bevöl-kerung erkennbar einlösen können. Die Bevölkerungmuss und soll durch den Wiederaufbau spüren, dass eseine konkrete Verbesserung ihrer Lebensbedingungengibt, dass sich Frieden und die Abwendung vom Terroris-mus lohnen, nicht Gewalt.Die Bundesregierung hat Wort gehalten. Wir haben un-sere Zusagen gegenüber Afghanistan voll eingelöst. Vonden auf der internationalen Geberkonferenz zugesagtenFinanzmitteln wurden im Jahr 2002 wie angekündigt80 Millionen Euro in konkrete Programme und Projekteumgesetzt. Insgesamt sind im Jahr 2002 sogar 126 Milli-onen Euro zur Verfügung gestellt worden. Daraus ist un-ter anderem die Ausbildung der Ausbilder der regulärenPolizei finanziert worden. Es sind 34 Krankenhäuser undandere Gesundheitseinrichtungen in Kabul instand gesetztund ausgerüstet worden. Die Trinkwasserversorgung istverbessert worden. Wir haben zusammen mit anderen,auch nicht staatlichen Trägern, insgesamt 80 Schulen – da-von 27 durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau und 30durch die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit –instand gesetzt. Durch diese Initiative und den Einsatzdeutscher Finanzmittel können jetzt rund 80 000 afgha-nische Kinder, darunter gerade auch Mädchen, wiederdie Schule besuchen.Die Frauen sind unter den Taliban fast völlig entrech-tet worden. Durch unsere Entwicklungszusammenarbeittragen wir aktiv dazu bei, dass die Rolle der Frauen in derGesellschaft gestärkt wird, dass Frauen wieder in ihre Be-rufe zurückkehren können, dass sie ihre Rechte kennenund dass sie darin gestärkt werden, diese Rechte auch zunutzen. Ich werde heute Nachmittag die stellvertretendeFrauenministerin treffen und werde ihr – das ist, wie ich
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeulglaube, auch in Ihrem Sinn – die Unterstützung desganzen Hauses aussprechen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit insge-samt 20 Millionen Euro an entsprechenden Fonds betei-ligt, damit neue Lehrerinnen und Lehrer, Polizisten undandere Bedienstete arbeiten können. Aus diesen Fondswurden seit Januar die Gehälter von über 450 000 Men-schen bezahlt. Das ist wichtig, damit sie unabhängig sind,also nicht von Personen abhängen, die mit ihren Zahlun-gen die Durchsetzung bestimmter Interessen verbindenkönnten.Hinter den Zahlen, die ich genannt habe, verbirgt sichdas Schicksal von Menschen, deren Lebenssituation ver-bessert wird, die wieder hoffen und an eine friedliche Zu-kunft glauben können. Wir wollen in Afghanistan auch inZukunft helfen, für die Menschen Arbeit und Einkommenzu schaffen. Die Bundesregierung wird den Aufbau einernachhaltigen Energieversorgung in Zukunft noch stärkerunterstützen und wird bei Investitionsförderung und Be-rufsbildung beraten. Wir geben direkte Hilfe für dieSchaffung von Arbeitsplätzen für Frauen und für zurück-kehrende Flüchtlinge. Weitere Schwerpunkte sind Bil-dung, Rechtsberatung für Frauen, Gesundheit und Was-serversorgung.Das deutsche Engagement reicht bereits heute weitüber Kabul hinaus. Ich möchte an dieser Stelle den Mitar-beitern der Nichtregierungsorganisationen wie auch denMitarbeitern in der deutschen Entwicklungszusammenar-beit danken, die dort ihre Arbeit leisten. Wir wollen unserEngagement regional ausweiten. Im Rahmen der ent-wicklungsorientierten Nothilfe fördert die Bundesregie-rung in diesem Jahr Projekte auch in anderen Regionen.Im Sinne einer ethnischen und regionalen Ausgewogen-heit wollen wir künftig auch die westlichen ProvinzenHerat, Farah, Badghis und Ghor sowie die südöstlichenProvinzen Kandahar, Zabul und Uruzgan in unsere Ent-wicklungszusammenarbeit einbeziehen. Das ist wichtig,damit nicht nur die Situation in Kabul stabilisiert wird,sondern auch eine regionale Stabilisierung erfolgt. Diemilitärische Sicherheit außerhalb Kabuls wird nur durchden weiteren Aufbau der afghanischen Armee selbst undsicher nicht durch die internationale ISAF sichergestelltwerden können. Infolgedessen ist dieser Aufbau natürlicheine wichtige Arbeit, die aber von anderen Gebern geleis-tet wird.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Bundesministerin.
Wir kommen nun zu den Fragen. Ich bitte Sie,
zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, der
eben angesprochen wurde. – Als Erster hat sich der Kol-
lege Dr. Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-Fraktion ge-
meldet.
Frau Ministerin, ich möchte auf den Punkt eingehen,
den Sie zuletzt angesprochen haben. Wir sind uns in dem
Ziel einig, dass die entwicklungspolitischen Maßnahmen
nicht nur in Kabul durchgeführt werden dürfen. Aber vor
dem Hintergrund, dass sich im Rahmen von ISAF mi-
litärische Sicherung auf Kabul konzentriert und dass
außerhalb von Kabul bisher im Wesentlichen nur NGO-
Mitarbeiter tätig sind – Sie sagten gerade, dass Sie sich
auch dort stärker engagieren wollen –, stellt sich mir die
Frage, wie es mit der Sicherheit sowohl der staatlichen als
auch der nicht staatlichen EZ-Mitarbeiter außerhalb
Kabuls aussieht. Wollen Sie sich wirklich auf die afgha-
nischen Streitkräfte und die afghanischen Sicherheitsein-
richtungen allein verlassen? Reicht Ihnen das als Sicher-
heitsgarantie für unsere staatlichen und nicht staatlichen
EZ-Mitarbeiter?
Bitte schön, Frau Bundesministerin.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Ich glaube, wir alle sind uns darin einig, dass es nicht
möglich ist – das sagen alle Beteiligten –, durch die Aus-
weitung des Einsatzgebiets der ISAF auf das gesamte Land
von der internationalen Seite her militärische Sicherheit zu
garantieren. Nach den Schätzungen würden dafür so große
Kontingente benötigt, dass das nicht möglich ist.
Im Übrigen wurde auch vereinbart, dass die afghani-
sche Armee ausgebildet wird. Dies wird von der amerika-
nischen Geberseite – allerdings in einem sehr langsamen
Prozess – durchgeführt. Das wird man voranbringen und
fördern müssen. Dass wir uns im Rahmen aller Möglich-
keiten und unter Berücksichtigung aller Vorsichtsmaß-
nahmen natürlich selbst darum bemühen, die Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen zu schützen, ist klar.
Ich weise darauf hin, dass selbst in den schweren Zei-
ten, in denen die Taliban noch an der Macht waren, Nicht-
regierungsorganisationen, unter anderem die Welthunger-
hilfe, vor Ort hervorragende Arbeit geleistet haben. Unter
den entsprechenden Sicherheits- und Rahmenbedingun-
gen, die ich eben genannt habe, ist das also möglich.
Die nächste Frage kommt von dem Kollegen
Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Ministerin, wir unterstützen die Aktivitäten desBMZ in Afghanistan ausdrücklich.Dazu habe ich aber folgende Nachfragen, da das Son-derprogramm – die Zuständigkeit dafür liegt bei mehre-ren Ministerien – relativ kurzfristig aufgelegt wurde: Istdie Planungssicherheit der Projekte unter Federführungdes BMZ – als Stichwort nenne ich die VE – in den nächs-ten Jahren gewährleistet und wie funktioniert die Abstim-
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mung – Deutschland ist ja nur eines der Länder, die einentwicklungspolitisches Engagement in Afghanistan zei-gen – mit anderen wichtigen Gebern, zum Beispiel mitden Vereinigten Staaten?
Frau Bundesministerin.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Die finanziellen Zusagen werden strikt eingehalten.
An dieser Stelle will ich noch einmal sagen: Bei allen
Konferenzen, aber auch, als ich vor knapp einem Jahr in
Afghanistan war – jeder von Ihnen, der dort war, wird das
bestätigen können –, stellten die Menschen immer wieder
die Frage, ob wir auch dann bei ihnen und auf ihrer Seite
bleiben, wenn die Fernsehkameras nicht mehr unmittelbar
auf ihr Schicksal gerichtet sind. Die finanzielle Unter-
stützung und die vollständige Einlösung der Versprechen
– sowohl vonseiten der Bundesregierung, wo das sicher-
gestellt ist, als auch vonseiten der internationalen Ge-
meinschaft – sind Vorbedingungen dafür, dass die Men-
schen spüren, dass es die Möglichkeit gibt, sich vom
Terrorismus loszusagen. Deshalb ist es – über den Bereich
der Erfahrungen der Menschen dort hinaus – so wichtig,
dass der demokratische, wirtschaftliche und soziale Wie-
deraufbau in Afghanistan gelingt.
Das gesagt, will ich darauf hinweisen, dass der größte
Teil der Leistungen der internationalen Gemeinschaft be-
reits geflossen ist. Ein Großteil davon wurde für huma-
nitäre Hilfe aufgewendet, woraus sich ein gewisses Pro-
blem ergibt.
Ich denke, die Zusammenarbeit der Geber vor Ort funk-
tioniert insgesamt wohl gut, wobei es natürlich immer das
eine oder andere Problem gibt. Wichtig ist vor allen Din-
gen, dass auch die Koordinierung auf der afghanischen
Seite, die ja selber die Trägerin des Prozesses ist, funktio-
niert. Um dies sicherzustellen, gibt es ein Koordinierungs-
gremium – die Afghan Assistance Coordination Agency –
unter der Leitung des Finanzministers. Dieses Gremium
nimmt die entsprechende Koordinierung vor Ort wahr und
dabei stimmen sich alle Beteiligten miteinander ab.
Das nächste Fragerecht hat die Kollegin Helga Daub
von der FDP-Fraktion.
Frau Ministerin, Sie haben ausgeführt, was in Afgha-
nistan inzwischen schon alles passiert ist. Verglichen mit
dem, was war bzw. was eher nicht war, sind sicherlich
schon große Fortschritte erzielt worden.
Nun besteht Afghanistan nicht nur aus Kabul. Auch das
haben Sie ausgeführt. Sie wollen auch die Provinzen noch
sehr viel mehr einbinden. Damit kommt man schon auf
das Stammesverhalten und die Stammesstrukturen zu
sprechen. Wir alle wissen, dass in Afghanistan eine
Interimsadministration unter der Führung von Präsident
Karzai gewählt wurde. Gibt es schon – ich weiß, es ist sehr
kühn, dies überhaupt zu fragen – irgendwelche Hinweise,
wann denn dort eine normale, demokratisch gewählte Re-
gierung installiert werden könnte?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Der Zeitplan, der festgelegt worden ist, wird eingehal-
ten. Er ist auch mit der Loya Jirga eingehalten worden.
Wichtig ist – ich denke, das sollte man deutlich machen –,
dass in der Zwischenzeit die Erfolge spürbar und sichtbar
werden. Deshalb ist die Frage der formellen Wahl nachher
die eine Sache. Die andere Sache ist, dass die Veränderun-
gen auch für die Bevölkerung deutlich spürbar werden.
Ich möchte noch zu einem Punkt Ausführungen ma-
chen, auch wenn es dazu keine Frage gab. Ich hoffte aber,
dass er angesprochen würde. Ich weiß gar nicht, ob das
möglich ist, Herr Präsident.
Machen Sie das. Bitte schön.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Ich wollte der Aktualität halber – das bezieht sich jetzt
nicht unmittelbar auf Ihre Frage – noch Folgendes sagen.
Sie haben verfolgt, dass es an der Universität in Kabul of-
fensichtlich einen Konflikt gegeben hat, in dessen Verlauf
Studierende erschossen worden sind. Auch unter anderen
Demonstranten und der Polizei gab es Verletzte. Die Bun-
desregierung hat schnelle Aufklärung dieses schreck-
lichen Vorfalls gefordert. Sie wird alles tun, um die Situa-
tion zu klären. Uns liegen bisher keine ausreichenden
Informationen vor. Aber es sieht so aus, dass Studierende
demonstriert haben, weil sie ihre Lebensbedingungen, zum
Beispiel in den Wohnheimen, für unzureichend halten.
Ich will darauf hinweisen, dass die Bereitschaftspolizei
für dieses Vorgehen verantwortlich gewesen ist. Die Be-
reitschaftspolizei ist bisher nicht durch die entsprechende
Ausbildung gegangen. Für diesen Bereich ist die ameri-
kanische Seite zuständig. Es ist unmittelbar ersichtlich,
dass die Ausbildung im Bereich der Bereitschaftspolizei
eine Notwendigkeit darstellt. Das ist aber nicht der Bereich,
für den wir als Bundesregierung zuständig sind. Zu den
Aufgaben der Bundesregierung hinsichtlich der regulären
Polizei habe ich vorhin schon ein paar Worte gesagt.
Vielen Dank. Die nächste Frage hat der Kollege Peter
Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Bundesministerin, drei Fragen. Erstens. Da wir unslangsam dem Jahresende nähern: Können Sie uns präziseDr. Christian Ruck
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PeterWeiß
Angaben dazu machen, in welchem Umfang die 80 Milli-onen Euro, die derzeit im Haushalt 2002 für den Stabili-tätspakt Afghanistan seitens der Bundesrepublik Deutsch-land zur Verfügung gestellt werden, tatsächlich verausgabtsind, also wirklich abgeflossen sind, und wie viele Mittelnoch in der Pipeline stecken, also verplant, aber noch nichtabgeflossen sind?Zweitens. Können Sie uns zu der bereits angesproche-nen Kabul-Problematik sagen, wie viel Prozent dieserMittel im Großraum Kabul, in dem die ISAF tätig ist, ver-ausgabt worden sind? Wie viel Prozent dieser Mittelkonnten bislang außerhalb des Großraums Kabul veraus-gabt werden?Drittens. Da diese Mittel von 80 Millionen Euro ausunserem Bundeshaushalt mit nur einer geringen Summean Verpflichtungsermächtigungen hinterlegt sind, müssensie als Barmittel in diesem Jahr verausgabt werden. Kön-nen Sie uns einen Überblick geben, für wie viele Projekt-träger die Tatsache, dass keine Verpflichtungsermäch-tigungen für die kommenden Jahre zugesagt werdenkonnten, Anlass war, geplante Projekte nicht in Angriff zunehmen?Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass dieMittel, die eingesetzt worden sind – das unterscheidet unsvon anderen Gebern –, voll zur Verfügung gestellt wordensind. Es ist nichts mehr in der Pipeline. Das ist wichtig;denn die Projekte und Programme sollen auch vor Ort an-kommen.Interessant ist vielleicht, dass von den etwa 60 Milli-onen Euro, die das Entwicklungsministerium eingesetzthat, 14,2 Millionen Euro in die Not- und Nahrungsmittel-hilfe, 8,7 Millionen Euro in den Gesundheitsbereich,7,3Millionen Euro in die Bildung, 3Millionen Euro in dieWiederherstellung von Straßen und je 5,4 Millionen Euroin die Trinkwasserversorgung und in den Energiebereichgeflossen sind. 11,6 Millionen Euro sind durch Nichtre-gierungsorganisationen und Stiftungen umgesetzt wor-den.Mir ist kein Fall bekannt, in dem eine Organisation auf-grund der Haushaltsregelungen ihre Arbeit hätte einstel-len müssen. Gegebenenfalls würde ich Sie schriftlich übereinen solchen Fall informieren. Wer daran interessiert ist,kann gerne zusätzliche Informationen über die Verwen-dung und den Einsatz der Mittel erhalten.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Christa Reichard.
Frau Ministerin, Sie haben erwähnt, dass auch die
Welthungerhilfe in Afghanistan tätig ist. Das ist meines
Wissens seit 1993 der Fall. Sie sind aber in Ihrem Re-
debeitrag nicht darauf eingegangen, was in der wirt-
schaftlichen Zusammenarbeit im Bereich der Entwick-
lung der ländlichen Räume unternommen werden soll.
Bekanntlich hat sich der Mohnanbau in diesem Jahr
sehr gut entwickelt, sodass die landwirtschaftliche bzw.
die weiterverarbeitende Produktion und der Handel in
großen Teilen durch diesen Anbau geprägt sind. Was
können und wollen Sie auf dem Weg der Entwicklungs-
zusammenarbeit dazu beitragen, alternative Einkom-
mensquellen für die Landwirte zu schaffen?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Ich habe an dieser Stelle schon einmal die Arbeit der
Welthungerhilfe sehr gelobt und möchte dieses Lob jetzt
wiederholen. Vorhin wurde die Frage nach der Arbeits-
teilung und der Geberkoordinierung angesprochen. Inner-
halb der Gebergemeinschaft ist Großbritannien für den
Bereich der Drogenbekämpfung zuständig. Deshalb habe
ich diesen Bereich nicht ausdrücklich angesprochen. Aber
es ist völlig klar – Sie haben das sicherlich auch in der öf-
fentlichen Debatte verfolgt –, dass den Landwirten alter-
native Formen der Produktion landwirtschaftlicher Er-
zeugnisse anzubieten sind.
Im Übrigen geht die afghanische Regierung sehr mas-
siv gegen Landwirte vor, die versuchen, Drogen anzu-
bauen. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir auch eine
Zusammenarbeit auf regionaler Ebene vereinbart haben.
Der Iran, der befürchten muss, dass ein Großteil der Pro-
duktion in sein Land fließt, hat ein großes Interesse an der
regionalen Kooperation, die von uns auch entsprechend
genutzt wird.
Die nächste Frage stellt der Kollege Siegfried Helias
von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Ministerin, Sie haben die Menschenrechte ange-sprochen. Kenner des Landes gehen davon aus, dass Men-schenrechtsverletzungen unter den Taliban zentral ange-ordnet worden sind und heute in die Hoheit einzelnerWarlords fallen. Nach wie vor dramatisch ist die Situationder Frauen in Afghanistan. Human Rights Watch sprichtvon einer undemokratischen Ansammlung von Fürsten-tümern.Wie beurteilen Sie, Frau Ministerin, die Entlassungder Richterin Marsia Basir aus dem Obersten Gericht vordem Hintergrund, dass sie auf einem Foto mit PräsidentBush ohne Kopftuch abgebildet war, und welche konkre-ten Maßnahmen sind mit den Mitteln der Entwicklungs-hilfe möglich, um die Rolle der Frauen in Afghanistan zustärken und sie insbesondere vor Verfolgung zu schüt-zen?Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Zur Frage der Menschenrechtsverletzungen gegenFrauen habe ich schon zu Beginn einiges gesagt. Es wirdvor allem darum gehen, ein Umdenken zustande zu brin-gen. Es geht auch darum, in der Zusammenarbeit mitdem afghanischen Frauenministerium Frauennetzwerke
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zu unterstützen und zu finanzieren. Es geht ferner darum,beim Aufbau eines unabhängigen Rechtssystems sicher-zustellen, dass kein Rückfall hin zur Scharia und derglei-chen erfolgt, sondern dass wirklich sichergestellt wird,was in der afghanischen Verfassung in den 60er-Jahrenschon garantiert war und was bei der Petersberg-Konfe-renz auch international zugesagt worden ist. Daran haltenwir die afghanische Regierung fest.Wie ich schon sagte, habe ich heute Nachmittag einenTermin mit der stellvertretenden Frauenministerin undwerde mit ihr gemeinsam noch einmal das weitere Vor-gehen, auch in Bezug auf die Situation, die Sie angespro-chen haben, diskutieren. Ich werde mich nach dem Ge-spräch, möglicherweise auch gemeinsam mit ihr, nocheinmal äußern.
Das Fragerecht hat jetzt die Kollegin Sibylle Pfeiffer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Ministerin, meine Frage schließt eigentlich direkt
daran an. Obwohl Sie schon etwas dazu gesagt haben und
auch dieses Gespräch heute Nachmittag in Aussicht ha-
ben, möchte ich das noch etwas konkretisiert wissen.
Meine Frage lautet: Welche konkreten Informationen
hat die Bundesregierung über die Einführung der Scharia
in Afghanistan?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Es geht um die Frage, welches unabhängige Rechts-
system aufgebaut wird. Am Rande der Loya Jirga hat es
einmal solche Äußerungen gegeben. Die internationale
Gemeinschaft – das habe ich und haben wir alle von der
Bundesregierung auch gegenüber der afghanischen Re-
gierung immer wieder deutlich gemacht – legt Wert da-
rauf, dass die Verpflichtungen, die von der afghanischen
Seite auf dem Petersberg eingegangen worden sind, ein-
gehalten werden, nämlich dass es eine die Menschen-
rechte, die Frauenrechte und Gleichberechtigung ga-
rantierende Verfassung in Afghanistan geben wird.
Infolgedessen engagieren wir uns in dieser Richtung. Das
gilt – das kann ich an dieser Stelle sehr deutlich sagen –
für alle Geber.
Nächste Frage, Eckart von Klaeden.
Frau Ministerin, Sie persönlich haben vor einem Jahr
die Zukunft Afghanistans für den Fall eines Militär-
schlags gegen das Taliban-Regime in düsteren Farben ge-
zeichnet. Sind Sie denn heute bereit, anzuerkennen, dass
Voraussetzung für die Fortschritte, die man erreicht hat
und deren Sie sich auch zu Recht rühmen, genau dieser
Militärschlag war?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Ich weiß jetzt nicht genau, worauf Sie sich bei Ihrer
Frage beziehen.
Ich kann an der Stelle nur sagen: Ausweislich aller De-
batten im Deutschen Bundestag
habe ich immer klar gesagt – das habe ich heute zu An-
fang auch noch einmal erklärt –, dass es gegenüber terro-
ristischen Netzwerken eine unmittelbare Reaktion bis hin
zu einer militärischen Reaktion geben muss. Gegenüber
solchen Netzwerken muss notfalls auch gewaltsam agiert
und reagiert werden, damit sie zerschlagen werden. – Das
ist das eine.
Das Zweite ist aber doch – deshalb gibt es auch die eine
oder andere öffentliche Diskussion –, dass auf Dauer dem
Terrorismus und der terroristischen Agitation der Boden
dadurch entzogen werden muss, dass den Menschen in
allen Regionen der Welt Hoffnungslosigkeit und Ohn-
machtsgefühle genommen werden. Deshalb muss auch
der Armut entgegengearbeitet werden. Darauf muss die
internationale Gemeinschaft die Finanzmittel konzentrie-
ren. Sie muss dazu beitragen, dass dem Terrorismus auf
diese Art und Weise der Agitationsboden entzogen wird.
Diese beiden Elemente sind wichtig. Meine Sorge ist
ein bisschen, dass angesichts anderer aktueller Fragen die-
ses Ziel nicht mehr in dem Maße verfolgt wird. Die Bun-
desregierung – das ist absolut klar – verfolgt dieses Ziel.
Der Erfolg dieser Strategie wird – ich sage das noch ein-
mal – davon abhängig sein, ob man in Afghanistan selbst
spürt: Frieden lohnt sich und Gewalt lohnt sich nicht
mehr. Diese wichtige Botschaft muss von Afghanistan in
die Welt ausgehen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Peter Weiß.
Frau Ministerin, Ihr Vorteil ist: Sie dürfen antworten, wieSie möchten; Sie müssen nicht auf die Fragen antworten, diegestellt werden. Ich möchte zwei Fragen wiederholen.Die Frage des Kollegen von Klaeden war – darauf kannman schlicht und einfach mit Ja oder Nein antworten –,Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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PeterWeiß
ob Sie es heute im Nachhinein richtig finden, dass dieWende in Afghanistan durch einen militärischen Einsatzherbeigeführt worden ist. Sie haben diesen Weg öffentlichinfrage gestellt, bevor im Bundestag darüber entschiedenwurde, ob deutsche Soldaten an diesem militärischen Ein-satz teilnehmen.Sie haben auch meine Frage nach den Finanzen nichtbeantwortet; denn Sie haben nur etwas zur sektoralenAufteilung der Mittel vorgetragen. Können Sie einmalpräzise sagen, was von den 80 Millionen Euro konkretverausgabt worden ist?
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Zur ersten Frage: Sie gehen von einer falschen An-nahme aus; denn ich habe mich ausweislich jeder Diskus-sion nicht nur nachträglich zur Strategie der zwei Seiten,die ich genannt habe, bekannt, sondern auch vorher, unddas zu Zeiten, in denen das vielleicht nicht immer so ganzeinfach war. Ich wiederhole: Sie gehen von einer falschenAnnahme aus.Zu Ihrer zweiten Frage: Ich habe ausdrücklich gesagt,dass es keine Mittel mehr „in der Pipeline“ gibt. Dasheißt: Die zugesagten Mittel sind den entsprechendenProjekten und Programmen zugute gekommen.
Ich beende jetzt die Behandlung des Themenbereichs
der heutigen Kabinettssitzung.
Gibt es weitere Fragen an die Bundesregierung, die
über diesen Themenbereich hinausgehen? –
Das ist offenkundig nicht der Fall. Dann beende ich die
Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 15/42 –
Wir beginnen die Fragestunde mit den Fragen zum Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Arbeit. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Rezzo Schlauch zur Verfügung.
Ich rufe Frage 1 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch auf:
Wie werden von der Bundesregierung die finanziellen Aus-
wirkungen des Ersten und des Zweiten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt auf die Länder und Kommunen
prognostiziert, und werden signifikante Unterschiede zwischen
den alten und den neuen Ländern erwartet?*
Ich bitte um die Beantwortung der Frage, Herr Staats-
sekretär.
R
Frau Kollegin Dr. Lötzsch, ich beantworte Ihre Frage
wie folgt: Die Bundesregierung erwartet, dass die zügige
Umsetzung der Empfehlungen der Kommission „Mo-
derne Dienstleistung am Arbeitsmarkt“, kurz Hartz-Kom-
mission genannt, zum Abbau der Arbeitslosigkeit führt
und insofern positive Auswirkungen hat. Aussagen zu den
finanziellen Auswirkungen des Ersten und des Zweiten
Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
im Einzelnen enthalten im Übrigen die Gesetzentwürfe
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen. Dazu muss man sagen, dass diese Aussagen auf
Schätzgrößen beruhen, dass die Zahlen also nicht durch-
gerechnet worden sind.
Frau Lötzsch, möchten Sie eine Zusatzfrage stellen? –
Bitte schön.
Sehen Sie – das ist eigentlich gar keine Zusatzfrage,
sondern war Bestandteil der eingereichten Frage – signi-
fikante Unterschiede zwischen den ostdeutschen und den
westdeutschen Bundesländern? Wenn ja, welche?
R
Da es keine detaillierten Berechnungen für die ver-
schiedenen Ebenen, Länder und Kommunen, gibt, gibt es
auch keine konkreten Berechnungen bezüglich möglicher
Unterschiede zwischen den westdeutschen und den ost-
deutschen Ländern. Ich muss Ihre Frage also mit Nein be-
antworten: Es gibt keine Erkenntnisse darüber, dass si-
gnifikante Unterschiede bestehen.
Eine weitere Zusatzfrage? – Bitte schön, Frau Lötzsch.
Der Bundesregierung ist aber sicherlich nicht unbe-
kannt, dass die Lage auf dem Arbeitsmarkt in den ost-
deutschen und in den westdeutschen Ländern sehr unter-
schiedlich ist. Ich möchte gerne wissen, wie Sie jenseits
von konkreten Berechnungen die Auswirkungen dieser
Gesetze im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit von Ost-
deutschland und Westdeutschland einschätzen.
R
Sie wissen, dass es Diskussionen und auch verschie-dene Auffassungen darüber gibt, inwieweit aus dem Kon-zept der Hartz-Kommission unterschiedliche Konsequen-
478* siehe hierzu auch Frage 23
Metadaten/Kopzeile:
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zen für Ost und West gezogen werden müssen. Hierbeihandelt es sich allerdings um Meinungen oder – besser ge-sagt – um Spekulationen, da hierfür keine konkreten Be-rechnungen angestellt wurden.
Gibt es weitere Fragen zu diesem Komplex? – Das ist
nicht der Fall. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbe-
reichs des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Matthias Berninger zur Verfügung.
Zunächst zur Frage 2 des Abgeordneten Peter
Carstensen:
Welche Elemente enthält das so genannte Acrylamid-Mini-
mierungsprogramm der Bundesregierung?
Ma
Herr Kollege, für die Bundesregierung beantworte ich
die Frage nach dem Minimierungsprogramm der Bundes-
regierung wie folgt:
Wir folgen dem Grundsatz „as low as reasonably
achievable“, was hier heißt: so wenig Acrylamid wie
möglich in den Lebensmitteln. Die internationale Abkür-
zung hierfür heißt ALARA. Das Minimierungskonzept
wird unter der Federführung des Bundesamtes für Ver-
braucherschutz und Lebensmittelsicherheit realisiert und
hat folgende Aufgaben: Zunächst werden die Daten über
Acrylamid-Gehalte in Lebensmitteln gesammelt. Dann
werden die Lebensmittel nach verschiedenen Produkt-
gruppen klassifiziert. Als Drittes wird ein Signalwert er-
mittelt; dieser zeigt an, ab welchem Wert in einer Pro-
duktgruppe die 10 Prozent höchstbelasteten Produkte
anzusiedeln sind. Ein Maximalwert von 1 000 Mikro-
gramm pro Kilogramm darf dabei in keinem Fall über-
schritten werden. Diese so ermittelten Daten werden an
die Länder weitergeleitet, die dann mit den Herstellern
Kontakt aufnehmen, diese Werte erörtern und darüber hi-
naus konkrete Maßnahmen zur Minimierung der Acryl-
amid-Gehalte innerhalb der technischen Herstellungsver-
fahren erarbeiten.
Diese Überprüfung der Betriebe und der technologi-
schen Änderungsmöglichkeiten durch die Länder ist in
einen dynamischen Prozess eingebunden, da alle sechs
bis acht Wochen die Signalwerte neu ermittelt werden
und die in der Regel neuen niedrigeren Werte dazu
führen, dass weitere Betriebe angehalten werden, die
Acrylamid-Konzentrationen in ihren Produkten zu ver-
ringern.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie man auch aus Ihrer Antwort
heraushören konnte, ist eine Zusammenarbeit mit der Le-
bensmittelindustrie in diesem Bereich nötig. Können Sie
bestätigen, dass die Zusammenarbeit in dieser Frage im
Moment sehr gut ist, vielleicht auch deshalb, weil man
nicht ohne weiteres einen Schuldigen finden kann und sich
die Lebensmittelindustrie selbst aktiv einbringen kann?
Ma
Zunächst einmal kann ich in der Tat bestätigen, dass die
Kooperation nicht nur mit der Industrie, sondern auch mit
den Lebensmittelbehörden der Länder sehr gut ist. Wir ar-
beiten hier eng zusammen. Es muss aber auch klar gesagt
werden, dass wir eine Reihe von Produkten und Produkt-
gruppen mit sehr hohen Acrylamid-Werten haben. Es ist
für die betroffenen Unternehmen rein technisch nicht
ohne weiteres möglich, diese Acrylamid-Konzentrationen
zu verringern. Das heißt, es gibt eine Reihe von Unter-
nehmen, die mit unserem Minimierungskonzept nicht
sehr glücklich sind, weil es erhebliche Veränderungen an
ihren zum Teil auch von den Verbrauchern lieb gewonne-
nen Produkten zur Folge hat. Im Großen und Ganzen aber
ist die Kooperation aller Beteiligten der Schwierigkeit des
Problems, wie ich glaube, sehr angemessen.
Weitere Zusatzfrage.
Von einem Unternehmen, das mit Ihrem Minimie-
rungskonzept nicht so zufrieden ist, ist ja gestern im Mit-
teldeutschen Rundfunk berichtet worden. Können Sie mir
bitte sagen, warum es bis jetzt nicht möglich gewesen ist,
die Bundesanstalt – schon vom Namen her wäre sie dafür
prädestiniert; sie heißt ja Bundesanstalt für Getreide-,
Kartoffel- und Fettforschung – mit genügend Mitteln aus-
zustatten, um Minimierungskonzepte und -verfahren zu
entwickeln, die von der Industrie – hier insbesondere
einem Knäckebrothersteller in den neuen Bundesländern –
übernommen werden könnten? So etwas ist in Schweden
bezüglich der Knäckebrotindustrie ja schon lange üblich.
Ma
Unsere Bundesanstalt verfügt über eine Reihe von For-schungseinrichtungen, die sehr produktiv arbeiten. Wirhaben zum Beispiel eine hochmoderne Fertigungsstreckefür Kartoffelchips. Wir werden aber nicht sämtliche Fer-tigungsstrecken von Getreidefabriken – hierbei handelt essich um hochmoderne Anlagen – in unseren Forschungs-anstalten nachbilden können.Gerade deshalb stehen wir und die dafür zuständigenBundesländer auf diesem Feld in sehr enger Kooperationmit der Industrie, die bezüglich der Produktionsanlagen inParl. Staatssekretär Rezzo Schlauch
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Parl. Staatssekretär Matthias Berningerihren Reihen immer auf dem neuesten Stand ist. Gleich-wohl ist die Unabhängigkeit gewährleistet, da wir über dasMinimierungskonzept mit einer ganz klaren Zielrichtungmit den Unternehmen kooperieren. Bei den Unternehmen,die den Signalwert überschreiten, geht die Kooperation indie Richtung, dass Produktionsverfahren geändert werden.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Ursula Heinen.
Welche konkreten Unterstützungen geben Sie insbe-
sondere kleinen und mittleren Unternehmen? Die großen
Hersteller, die auch große Forschungsabteilungen haben,
haben sicherlich weniger Probleme, sich untereinander
auszutauschen, als die kleineren Hersteller. Helfen Sie de-
nen zum Beispiel über die Bundesanstalt, neue Herstel-
lungsmethoden zu entwickeln, oder gibt es entsprechende
finanzielle Unterstützungen?
Ma
Frau Heinen, im Zuge der Ermittlung der Daten be-
kommen wir einen hochinteressanten Überblick. Wir wis-
sen zum Beispiel, dass bei gleichen Produktgruppen zum
Teil eine Varianz der Acrylamid-Konzentrationen von
30 Mikrogramm pro Kilogramm bis zu 1 500 Mikro-
gramm pro Kilogramm besteht. Anhand dieser Daten
können wir eine Best Practice entwickeln. Das heißt, wir
haben am Ende einen Überblick darüber, welche Produk-
tionsverfahren am ehesten geeignet sind, die Entstehung
von Acrylamid zu vermeiden oder nur sehr niedrige
Acrylamid-Konzentrationen zu verursachen.
Das ist natürlich für große wie für kleine Hersteller
eine ganz wichtige Hilfe; denn so können sie sehen, mit
welchen Produktionsverfahren, mit welchem Handling
der Rohstoffe und mit welchen Ausgangsstoffen sie zu
besseren Ergebnissen kommen. Gut ist, dass die niedrigen
und die hohen Werte zwischen großen und kleinen Unter-
nehmen variieren, sodass wir auch für die kleinen Unter-
nehmen spezifische Lösungen finden werden.
Vielleicht ein einfaches praktisches Beispiel. Es hat
sich herausgestellt, dass die Acrylamid-Konzentration
bei Pommes frites dann niedriger ist, wenn man darauf
verzichtet, beim Frittierfett Zusätze hinzuzugeben, zum
Beispiel Silicon, die für einen niedrigen Wassergehalt sor-
gen sollen, damit das Fett nicht so spritzt. Das heißt, es
geht nicht immer um hochkomplizierte oder sehr teure In-
vestitionen, sondern manchmal gibt es auch einfache
praktische Tipps. Hier arbeiten wir sehr eng mit allen Un-
ternehmen zusammen, unabhängig von der Unterneh-
mensgröße, mit der Zielsetzung, eine optimale Minimie-
rung von Acrylamid für die Verbraucher zu erreichen.
Damit kommen wir zur Frage 3 des Kollegen Carstensen:
Welche Maßnahmen zur Minimierung des Acrylamid-Gehal-
tes bestimmter Lebensmittel plant die Bundesregierung auf natio-
naler und EU-Ebene und ist insbesondere die Standardisierung des
Herstellungsverfahrens bei von Acrylamid betroffenen Lebens-
mitteln geplant?
Ma
Wir haben mit dem Minimierungsprogramm auf natio-
naler Ebene einen wichtigen Schritt gemacht. Der zweite
wichtige Punkt ist die Erforschung der konkreten Ge-
sundheitsgefährdung von Acrylamid. Hier haben wir eine
Reihe von Daten. Wir denken aber, dass es sinnvoll ist, die
Kenntnisse noch zu vertiefen.
Es gibt darüber hinaus intensive Gespräche auf euro-
päischer Ebene; die letzten fanden am 15. und 16. Okto-
ber in Brüssel statt. Das Interessante ist, dass, während
wir auf nationaler Ebene mit den Ländern eine sehr gute
Kooperation erreicht haben, auf europäischer Ebene das
Stadium des Handelns noch nicht erreicht ist. Dort sam-
melt man noch Daten und holt Informationen ein. Deshalb
hat man mit großem Interesse unsere Maßnahmen zur Sen-
kung der Acrylamid-Konzentrationen zur Kenntnis genom-
men. Vergleichbare Strategien zur Acrylamid-Minimierung
sind in unseren Nachbarländern noch nicht vorzufinden.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, wir diskutieren über Acrylamid im
Parlament seit Anfang Juni, nachdem die CDU/CSU-
Fraktion dieses Thema in den Ausschuss gebracht hat. Im
Mai gab es die ersten Aktivitäten des Ministeriums. Kön-
nen Sie mir sagen, ob das Thema Acrylamid schon bei Mi-
nisterratssitzungen eine Rolle gespielt hat und, wenn nein,
warum das nicht vonseiten der Bundesregierung auf die
Tagesordnung gesetzt worden ist?
Ma
Acrylamid ist ein Thema seit der Schnellwarnungdurch die EU-Kommission; diese erfolgte am 24. April.Seit 25. April hat die Bundesregierung gemeinsam mit dernachgeordneten Einrichtung, dem damaligen BgVV, ge-handelt und über alle Schritte die Öffentlichkeit infor-miert. Das Thema ist also nicht etwa dadurch, dass es imAusschuss behandelt worden ist, sondern durch die Akti-vitäten der Bundesregierung auf die Tagesordnung ge-kommen. Ich bin aber sehr froh, dass sich das Parlamentfür dieses ernste Problem gleichermaßen interessiert.Wir haben, da es sich um ein globales Problem handelt,bisher die Strategie gewählt, dieses Thema auf WHO- undauf EU-Ebene im Kreis der Fachleute zu diskutieren, biswir konkrete Daten haben. Diese konkreten Daten gehenbei uns seit Sommer dieses Jahres ein. Wir haben jetzt diezweite Runde der Probenahmen der Länder, deren Ergeb-
480
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 481
nisse Ende dieser Woche bei uns abschließend eingehenmüssen und uns dann – nach einer kurzen Ausarbeitungs-zeit – die nötige Information geben. Ich denke, dass wirdanach ein Stadium der Informationsdichte auch über dieWirkungszusammenhänge erreicht haben, das es ermög-licht, das Thema dann auf politischer Ebene in Brüssel zudiskutieren.Unser Ziel war zunächst einmal nur, bevor wir es inBrüssel zum Thema machen, eine konkrete Handlungs-option zu entwickeln. Das Problem lediglich unter denMinistern zu diskutieren wäre Aktionismus, wenn mandie Fachleute nicht in gleichem Maße einbinden würde.Das haben wir in den letzten Monaten getan. Wenn ichvergleiche, welche Informationen wir bei der Ausschuss-sitzung damals hatten und welche Informationen wir beider heutigen Ausschusssitzung haben, dann stelle ich fest,dass ein Fortschritt hinsichtlich der damals unklaren Fra-gen deutlich erkennbar ist.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich gebe Ihnen Recht, dass wir
nicht genügend Informationen haben. Deswegen meine
zweite Frage: Können Sie mir ganz konkret sagen, wel-
chen Auftrag im Bereich Acrylamid die Bundesanstalt für
Getreide-, Kartoffel- und Fettforschung von der Bundes-
regierung bekommen hat, wie die Mittelausstattung ist
und wann dieser Auftrag an die Bundesforschungsanstalt
gegangen ist?
Ma
Die Bundesanstalt für Fettforschung ist, wie verschie-
dene andere Einrichtungen, an der Minimierungsstrategie
beteiligt; das hatten wir im Ausschuss schon besprochen,
dort ging es um die verschiedenen Forschungsvorhaben.
Ich kann Ihnen an dieser Stelle nicht sagen, mit welchem
Datum welche Aufträge von wem an die Forschungsan-
stalt gegangen sind. Ich kann Ihnen aber versichern, dass
die Bundesanstalt für Getreide-, Kartoffel- und Fettfor-
schung in Detmold, ähnlich wie eine ganze Reihe weite-
rer Einrichtungen, intensiv an diesem Thema arbeitet.
Ein praktisches Beispiel: Wir wissen, dass Acrylamid
aufgrund des Vorkommens bestimmter reduzierender
Zucker und von Asparaginsäure in Kartoffeln besonders
häufig entsteht. Es gibt Sorten, die wir künftig empfehlen
werden, die geringere Konzentrationen haben. An der Er-
arbeitung einer Vorschlagsliste werden wir natürlich auch
unsere Kartoffel- und Fettforschung in Detmold beteili-
gen.
Das ist nur eines von vielen Beispielen, wo wir den
nachgeordneten Forschungsbereich des Ministeriums in-
tensiv mit einbinden. Die Federführung für die Minimie-
rung von Acrylamid hat das neue Bundesamt für Verbrau-
cherschutz und Lebensmittelsicherheit. Dieses geht mit
den Experten von Bund und Ländern und auch mit unab-
hängigen Experten gemeinsam vor.
Eine weitere Frage der Kollegin Gitta Connemann.
Wird im Rahmen der Acrylamid-Minimierung auch an
die Einführung verpflichtender Grenzwerte gedacht, wie
es zum Beispiel beim Trinkwasser üblich ist?
Ma
Frau Connemann, das ist für unsere Strategie, wie wir
mit dem Problem umgehen, im Moment eine entschei-
dende Frage. Es gibt ernst zu nehmende Wissenschaftler,
die sagen, dass die Gefahr von Acrylamid vergleichbar
mit der von Benzpyren ist. Bei Benzpyren gibt es heute
verschiedene Verordnungen, zum Beispiel die Aromen-
verordnung, die Grenzwerte in der Größenordnung von
30 Mikrogramm pro Kilogramm vorschreibt. Ob man
gleich den Wert des Trinkwassers von 1 Mikrogramm pro
Kilogramm nehmen muss, der vor allem dazu dient, prak-
tisch auszuschließen, dass Acrylamid im Trinkwasser vor-
kommt, ist eine offene Frage. Es muss aber klar sein, dass
dieser Weg, sollten wir ihn einschlagen, ganz erheblich
in die Konsumgewohnheiten der Menschen und auch in
die Produktionsgewohnheiten einschneidet. Die besten
Knäckebrote etwa haben Acrylamid-Werte, die im Bereich
von 30 oder etwas mehr Mikrogramm pro Kilogramm
liegen.
Das heißt, über dieses Konzept denken wir alternativ
nach. Wir brauchen aber, um einen solchen Grenzwert
festzulegen, wissenschaftlich fundierte Daten, zum Bei-
spiel darüber, ob Acrylamid von Anfang an schädlich ist
oder erst ab einem bestimmten Schwellenwert. Dies wird
zurzeit in Versuchen mit Zellkulturen ermittelt. Erste Da-
ten bekommen wir Mitte nächsten Jahres; darauf wird in
einer anderen Frage auch noch eingegangen. Wie wir im
Einzelnen mit diesen Daten umgehen werden, erörtern
wir dann nicht nur mit Ihnen, sondern auch mit allen an-
deren Beteiligten. Im Kern aber haben wir heute nicht die
validen und verlässlichen Daten, die wir benötigen, um ei-
nen Grenzwert zu bestimmen. Das ginge nur Pi mal Dau-
men. Deswegen gehen wir pragmatisch vor und sagen:
Auch ohne diesen Grenzwert wollen wir alles dafür tun,
den Eintrag von Acrylamid in die Ernährung zu minimie-
ren.
Wir kommen dann zur Frage 4 der Kollegin UrsulaHeinen:Trifft die Aussage der Sprecherin des Bundesinstitutes fürRisikobewertung in der „Bild“ vom 2. November 2002 zu, dassAcrylamid mit Abstand das größte Problem ist, das wir in den letz-ten Jahren hatten?Bitte schön, Herr Staatssekretär.Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Ma
Frau Kollegin Heinen, ein Problem, das sich auf Kartof-
feln, Kekse, Brot – sei es Toastbrot, sei es Knäckebrot –,
Kartoffelchips, Pommes frites und auf alle möglichen
Produkte ausdehnt, die wir täglich zu uns nehmen, ist in
der Tat ein sehr großes und ernst zu nehmendes Problem.
Dabei handelt es sich um ein Problem neuen Typs, weil
noch Anfang dieses Jahres seriöse Wissenschaftler den
Kopf geschüttelt haben, als die These aufgestellt wurde,
Acrylamid entstehe bei der Erhitzung von Stärkeproduk-
ten in Abwesenheit von Wasser. Niemand hat damit ge-
rechnet, dass Acrylamid bei diesem Prozess entsteht. Es
ist, wie gesagt, ein sehr ernst zu nehmendes Problem.
Ich habe in den letzten anderthalb Jahren meiner Amts-
zeit eine Reihe von Lebensmittelskandalen und Proble-
men im Lebensmittelbereich erlebt. Ich kann aber nicht
sagen, ob das Problem bezüglich Acrylamid größer oder
kleiner als das BSE-Problem ist.
Wir haben mit der zuständigen Mitarbeiterin des Bun-
desinstituts gesprochen. Sie hat uns gesagt, dass es sich in
der „Bild“ um eine verkürzte Darstellung handele. Es gibt
hier aber nichts zu beschönigen. Es handelt sich bei
Acrylamid – so haben wir es schon am Anfang des Som-
mers im Ausschuss dargestellt – um ein sehr ernst zu neh-
mendes Problem. Auf der Ebene der WHO redet man von
einem Problem von Major Concern, das heißt einem Pro-
blem von größter Besorgnis. Daher arbeiten wir mit
Hochdruck an Lösungen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Heinen.
Nicht nur die Sprecherin des Bundesinstitutes, sondern
auch seriöse Wissenschaftler sprechen davon – Sie haben
es gerade selber erwähnt –, dass es sich um ein sehr großes
Problem handelt. Die Frage ist: Ist dieses Problem größer
als das Problem, das wir in der Vergangenheit mit Nitro-
fen hatten? Wie sieht Ihre Beurteilung aus?
Ma
Bei dem Nitrofen-Skandal handelte es sich um den
Eintrag einer Chemikalie in das Getreide. Das Problem
war lokal eingrenzbar. Wir wussten am Ende ziemlich ge-
nau – das hat auch die Genese des Skandals gezeigt –, wo-
hin die einzelnen Getreidepartien geliefert wurden. Wir
konnten also die lokale Verbreitung verfolgen.
Bei Acrylamid handelt es sich um ein Problem, das wir
wahrscheinlich schon seit mehreren tausend Jahren ha-
ben. Denn immer dann, wenn Stärkeprodukte erhitzt wer-
den, entsteht Acrylamid. Dieses Problem lässt sich nicht
auf die industrielle Fertigung beschränken. Acrylamid
entsteht ebenso in der Küche, wenn Kartoffeln gekocht
oder Weihnachtsplätzchen gebacken werden. Das Pro-
blem ist also omnipräsent. Deshalb ist es mit dem Nitro-
fen-Skandal überhaupt nicht vergleichbar. Seine Auswir-
kungen sind weitreichender.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen gerade an, dass
Acrylamid beim Kochen und Erhitzen entsteht. Sind Ihnen
Untersuchungen bekannt, die belegen, dass in den ge-
nannten Lebensmitteln – zum Beispiel in Brot – aufgrund
desselben Prozesses ein Stoff entsteht, der bewirkt, dass
Entgiftungsenzyme freigesetzt werden? Das heißt, es kön-
nen Stoffe entwickelt und freigesetzt werden, die positiv
auf den Körper wirken. Welche Erkenntnisse haben Sie da-
rüber?
Ma
Es gibt eine ganze Reihe von chemischen Prozessen,
die beim Kochen ablaufen. Ich kann Ihnen aber keine De-
tails nennen, schon gar nicht zu den Prozessen, die posi-
tive Auswirkungen haben. Ich bitte das zu entschuldigen.
Wir werden leider immer mit den Prozessen konfrontiert,
die negative Auswirkungen haben. Es ist aber sehr klar,
dass wir hinsichtlich des Acrylamid handeln müssen.
Ich will auf einen ähnlichen Vorgang verweisen: Beim
Grillen entstehen Benzpyrene. Das hat man akzeptiert,
weil das Gegrillte besser schmeckt. Dennoch hat die Öf-
fentlichkeit ein Anrecht darauf, über die Gesundheitsrisi-
ken informiert zu werden.
Es gibt sehr praktikable Wege, um hohe Konzentratio-
nen von Acrylamid zu vermeiden. Diese muss man den
Menschen mitteilen. Man kann beispielsweise mit den
Fritteusenherstellern reden, Geräte zu entwickeln, die bei
niedrigerer Temperatur arbeiten. Die Backfrites, die im
Ofen gebacken werden, könnten zukünftig bei niedrigerer
Temperatur erhitzt werden. Es gibt eine Untersuchung
– wir werden die Verbraucher ausführlich darüber infor-
mieren, sobald die Ergebnisse vollständig vorliegen; das
kann über das Internet geschehen –, die zeigt, dass man
geringere Konzentrationen von Acrylamid erreichen kann,
wenn man das Backblech nicht halbvoll, sondern voll mit
Pommes frites belegt. Ein letztes Beispiel aus der Küche:
Wenn Sie Bratkartoffeln mit vorgekochten Kartoffeln ma-
chen, dann sind die Acrylamid-Werte deutlich niedriger,
als wenn man rohe Kartoffeln verwenden würde.
Es gibt also eine Reihe von Maßnahmen, die Acrylamid-
Werte zu reduzieren. Inwieweit dadurch auch positive Ef-
fekte beeinflusst werden, haben wir nicht untersucht.
Wir kommen dann zur Frage 5 der Kollegin Heinen:
482
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 483
Trifft es zu, dass im ganzen Land Lebensmittelkontrolleureunterwegs sind und Proben entnehmen, wie dies aus einer Äuße-rung einer Vertreterin des Bundesministeriums für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft in der „Bild“ vom 2. No-vember 2002 hervorgeht, und wenn ja, mit welcher Struktur ist dieUntersuchung angelegt?Ma
Frau Kollegin Heinen, es trifft zu, dass im ganzen Land
Lebensmittelkontrolleure unterwegs sind, um sich mit
dieser Frage auseinander zu setzen. Die Grundlage für die
Minimierungsstrategie ist ja, dass wir überall dort, wo be-
troffene Produktgruppen aufzufinden sind, entsprechende
Untersuchungen in Auftrag gegeben haben.
Ihre Zusatzfrage, bitte schön.
Eine kurze Zusatzfrage: Bis wann rechnen Sie mit end-
gültigen Forschungsergebnissen?
Ma
Es gibt verschiedene Forschungsergebnisse. Zum ei-
nen ist es so, dass wir, als wir uns im Juni zum ersten Mal
mit der Frage, warum und wie Acrylamid entsteht, be-
schäftigt haben, noch ziemlich im Dunkeln getappt sind.
Wir wissen heute sehr genau: Die Voraussetzungen sind
das Vorhandensein von reduzierenden Zuckern und Aspa-
raginsäure sowie eine Erhitzung von mehr als 170 Grad
unter Abwesenheit von Wasser. Wenn all das zusammen-
kommt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Acrylamid ent-
steht, entsprechend hoch. Es gibt noch ein paar andere
Faktoren; aber das sind die wesentlichen.
Das heißt, es kommen ständig Forschungsergebnisse
hinzu. Darüber hinaus sind wir auf internationaler Ebene
mit allen, die an diesem Thema forschen, vernetzt.
Die wichtigste Frage wird sicherlich die toxikologi-
sche Bewertung des Stoffes Acrylamid sein. Wenn wir
diese Frage abschließend geklärt haben, werden wir über
Maßnahmen, die über die Minimierungsstrategie hinaus-
gehen, sprechen müssen. Ich hatte eben gesagt, dass wir
uns vom Bundesinstitut für Risikobewertung im Frühjahr
nächsten Jahres erste Ergebnisse auf diesem Feld – das ist
für uns eine der drängendsten Fragen – erhoffen. Bei ei-
nem solchen Problem, gerade wenn es um die Frage geht,
ob etwas krebserregend ist oder nicht, weiß man aber lei-
der nie auf den Tag genau, wann die Forscher zu einem
endgültigen Ergebnis kommen. Denn dies ist doch ein
sehr komplexer Bereich.
Damit kommen wir zur Frage 6 der Kollegin Marlene
Mortler von der CDU/CSU-Fraktion:
Welche Analyseergebnisse des Bundesinstituts für Risikobe-
wertung bei Acrylamid sind bislang ausgewertet worden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Ma
Frau Kollegin Mortler, ich möchte auf die soeben beant-
wortete Frage verweisen. Das Bundesinstitut für Risikobe-
wertung arbeitet hauptsächlich daran, uns eine unabhän-
gige Abschätzung zu geben, wie gefährlich Acrylamid ist.
Die anderen Fragen, zum Beispiel der Umgang mit Ana-
lyseergebnissen, werden im Grunde vom Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit beantwor-
tet, das, wie ich auf die erste Frage des Kollegen Carstensen
geantwortet habe, die Aufgabe hat, die Minimierungsstra-
tegie bundesweit zu bündeln, und damit alle Informationen
zur Hand hat, vor allem die sensiblen über die Hersteller,
bei denen zu hohe Acrylamid-Werte zu verzeichnen sind.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Mortler? – Nein.
Dann kommen wir zur Frage 7 der Kollegin Mortler:
Welche Ergebnisse hat das Expertengespräch der Weltgesund-
heitsorganisation, WHO, und der Ernährungs- und Landwirtschafts-
organisation der Vereinten Nationen, FAO, Ende Juni 2002 erbracht?
Ma
Ich hatte auf diese Ergebnisse bereits hingewiesen. Die
Expertengruppe hat im Juni dieses Jahres getagt. Wir hat-
ten den Vorteil, dass mit Herrn Arnold einer der großen
Experten auf dem Gebiet Acrylamid anwesend war. Er
führte den Vorsitz dieser Arbeitsgruppe. Wir hatten also
eine sehr gute Informationsbasis.
Man hat sich auf WHO-Ebene überrascht gezeigt, wie
groß dieses Problem ist, und hat es zu einem Major Con-
cern, das heißt zu einem sehr ernst zu nehmenden Pro-
blem, erklärt. Die einzelnen Ergebnisse haben wir im In-
ternet veröffentlicht. Sie finden einen Hinweis auf der
Startseite der Homepage unseres Ministeriums und kön-
nen sich dann entsprechend informieren.
Das wichtigste Ergebnis ist natürlich: Es besteht wei-
terer Forschungsbedarf. Wir haben dies dadurch ergänzt,
dass wir neben der Forschungsarbeit konkrete Hand-
lungsschritte im Rahmen der Minimierungsstrategie un-
ternommen haben.
Haben Sie eine Zusatzfrage? – Nein.
Dann eine weitere Frage des Kollegen Carstensen.
Herr Staatssekretär, haben Sie Erkenntnisse darüber,wie das Thema Acrylamid in anderen Ländern außerhalbVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Peter H. Carstensen
der EU, also nicht in Schweden, sondern zum Beispiel inden Vereinigten Staaten und in solchen Ländern, in denenin großem Umfang Pommes frites verzehrt werden undBratfett benutzt wird, behandelt wird?Ma
Herr Kollege Carstensen, ich bitte um Verständnis: Ich
habe keinen Gesamtüberblick über die Diskussion in den
einzelnen Ländern. Ich würde es Ihnen gern schriftlich
nachreichen, falls wir dazu weitergehende Informationen
haben.
Ich weiß, dass in Europa, seitdem es diese Warnungen
im Rahmen des europäischen Schnellwarnsystems gege-
ben hat, eine sehr intensive Fachdebatte zu diesem Thema
in den verschiedenen Facheinrichtungen geführt wird.
Zum Beispiel die holländischen Kollegen forschen in die-
sem Bereich sehr intensiv.
Zweifellos ist hier zu erörtern, dass etwa ab dem Jahr
2000 auf wissenschaftlicher Ebene Informationen über
das Problem Acrylamid veröffentlicht wurden, aber nir-
gends in der Welt richtig wahrgenommen worden sind.
Erst durch die Veröffentlichungen der schwedischen Behör-
den im April dieses Jahres wurde der Stein ins Rollen ge-
bracht. Das heißt, glücklicherweise wird auch in anderen
Ländern an diesem Problem gearbeitet. Wir sind nicht die
Einzigen.
Die Fragen 8 und 9 des Kollegen Albert Deß sollen
bitte schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zur Frage 10 der Kollegin Gitta
Connemann:
Hat die Bundesregierung wegen Acrylamid mit den Bundes-
ländern und in der Europäischen Union Absprachen getroffen,
wenn ja, welche?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Ma
Wie ich schon angedeutet habe, ist die Minimierungs-
strategie nur dann erfolgreich, wenn wir Hand in Hand mit
den Bundesländern arbeiten. Diese haben über die Le-
bensmittelbehörden den konkreten Zugriff auf die Unter-
nehmen. Die Zusammenarbeit mit den Bundesländern
und deren Lebensmittelbehörden ist durchweg konstruk-
tiv, wenngleich es einige Schwierigkeiten mit den Labor-
kapazitäten gibt, weil die Acrylamid-Untersuchungen in
denselben Labors stattfinden müssen wie zum Beispiel
die Untersuchungen von Nitrofuran – ein Problem, das
Geflügelfleisch betrifft. Aber auch das werden die Bun-
desländer Schritt für Schritt in den Griff bekommen. Das
zumindest sagen uns die Experten. Wir haben eine Art
Poollösung angeboten, das heißt, dass die Bundesländer
ihre Laborkapazitäten allen anderen zur Verfügung stel-
len. Das scheint aber nicht nötig zu sein.
Zusatzfrage? – Bitte schön.
Trifft es zu, dass bei der Ermittlung von Signalwerten
durch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens-
mittelsicherheit bisher keine europäischen Daten einbe-
zogen worden sind und, wenn ja, wann ist im Sinne einer
umfassenden Verbraucheraufklärung damit zu rechnen?
Ma
Vielleicht darf ich noch einmal auf die Frage eingehen,
die Sie davor gestellt haben, nämlich ab welchem Wert
Acrylamid als gefährlich anzusehen ist: Einen solchen
Wert müssten wir bei 30, vielleicht 50 Mikrogramm pro
Kilogramm Lebensmittel ansetzen. Es wird ein Aktions-
wert empfohlen, der bei 1 000 Mikrogramm Acrylamid
pro Kilogramm Lebensmittel liegt, also weit über dem,
was bei vergleichbaren Substanzen heute als Grenzwert in
Lebensmittelverordnungen existiert. Dieser zunächst ein-
mal gegriffene Wert ist als solcher, so glaube ich, nicht zu
kritisieren. Man kann also nicht von Panikmache oder
Ähnlichem sprechen.
Die Vorgehensweisen in anderen europäischen Län-
dern sind nicht vergleichbar. Eine europäische Diskus-
sion gibt es aber natürlich insofern, als alle Hersteller
betroffen sind, die für den deutschen Markt produzieren,
aber ihre Produkte nicht hierzulande herstellen. Ich habe
mir sagen lassen, Knäckebrot komme häufig aus Schwe-
den.
– Danke, Ecki!
Natürlich diskutieren wir möglichst oft mit den Kolle-
gen aus den anderen Ländern. Wenn wir die Daten aus der
zweiten Runde bekommen, werden sich, so denke ich,
zwei Ergebnisse ergeben: Erstens wird es gelingen, durch
die Kooperation mit den Beteiligten, also den Ländern
und den Unternehmen, die Acrylamid-Werte deutlich zu
senken, zum Teil durch ganz einfache Maßnahmen. Zwei-
tens wird es trotz einer solchen dynamisch angelegten Mi-
nimierungsstrategie Produkte geben, bei denen die
Acrylamid-Werte unakzeptabel hoch sind.
Sobald wir das wissen, werden wir unser Vorgehen auf
europäischer Ebene vorstellen. Dies wird dann natürlich
zu diskutieren sein. Ich hoffe, dass sich unser Vorgehen
auf die anderen europäischen Länder übertragen lässt. Auf
jeden Fall werden wir das für alle Produkte, die auf dem
deutschen Markt sind, anwenden.
Eine zweite Zusatzfrage? – Nein. Dann eine Frage derKollegin Ursula Heinen.
484
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 485
Sie hatten die Frage von Herrn Carstensen eben dahin
gehend beantwortet, dass sich der Ministerrat noch nicht
damit befasst hat. Jetzt haben Sie auf die Frage der Kolle-
gin Connemann gesagt, dass europäische Daten bislang
noch nicht einbezogen wurden, dies aber zukünftig ge-
schehen soll. Wir meinen, dass es angesichts dessen an der
Zeit wäre, dieses Thema auf die Agenda des nächsten Mi-
nisterrates zu setzen, und erwarten schon, dass Deutsch-
land, dass die deutsche Verbraucherschutzministerin das
besonders vorantreibt. Wird das der Fall sein?
Ma
Frau Kollegin Heinen, ich denke, dass an meinen Ant-
worten deutlich geworden ist: Wir treiben dieses Thema
voran und sind mit den Aktionen, die wir in Gang gesetzt
haben, europaweit konkurrenzlos. Es gab am 15. und
16. Oktober eine Expertentagung; ich habe bereits darauf
hingewiesen. Die Experten haben sich zu einer zweiten
Tagung verabredet, die im Dezember dieses Jahres statt-
finden soll. Ich denke, dass das Ergebnis dieser Experten-
tagung uns wichtige Hinweise geben wird, ob und zu wel-
chem Zeitpunkt wir das zu einem politischen Thema auf
europäischer Ebene machen können. Klar ist aber auch,
dass wir unabhängig davon unsere Minimierungsstrategie
in Deutschland weiter voranbringen werden.
Damit kommen wir zur Frage 11 der Kollegin
Connemann:
Sind wegen Acrylamid europäische Regelungen geplant und,
wenn ja, welche?
Ma
Frau Kollegin, die Beantwortung ergibt sich aus den
bisherigen Antworten: Es gibt zurzeit noch keine europa-
weiten Aktivitäten, deren Planungsstadium so weit fort-
geschritten wäre, dass ich sie hier nennen könnte. Ziel der
Bundesregierung ist es, eine generelle Regelung im Sinne
des europäischen Binnenmarktes zu erreichen. Man stelle
sich die Situation eines Herstellers vor, der bei den Pro-
dukten für den deutschen Markt handeln muss, aber bei
denen für den Export nach Frankreich oder Italien nichts
weiter unternehmen muss. Für die deutschen Verbraucher
gilt zwar, dass das Vorkommen von Acrylamid in den Pro-
dukten, die sie in Deutschland kaufen, minimiert ist. Aber
natürlich macht es Sinn, wenn Strategien der Acrylamid-
Minimierung überall stattfinden, sodass auch die Ver-
braucher im europäischen Ausland so wenig Acrylamid
wie möglich in den Lebensmitteln vorfinden.
Wir sind also dran. Aber alles geht nur Schritt für
Schritt und wir wollen mit dem, was wir machen, auf der
sicheren Seite sein. Daher warten wir auf die Untersu-
chungsergebnisse der zweite Runde, bevor wir die Pferde
auf europäischer Ebene ein wenig scheuer machen.
Zusatzfrage, bitte schön.
Sie sagen, dass Bestrebungen, das Risiko zu minimie-
ren, im Gange sind. In welchem Zeitraum können wir
denn mit sichtbaren Erfolgen bei den Minimierungs-
bemühungen rechnen? Vielleicht bis Ende November
oder Ende Dezember?
Ma
Die gute Nachricht ist: Ja, das können wir anhand der
Daten, die wir bisher vorliegen haben. Diese geben nur
eine grobe Übersicht, weil – wie gesagt – erst Ende der
Woche die nächste Runde abgeschlossen wird. Die Daten
besagen, dass wir vom Sommer bis zum Spätherbst dieses
Jahres bei vielen Produkten durchaus eine Verringerung
von Acrylamid-Werten verzeichnen können; das ist die
gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Bei einigen
Herstellern und einigen Produkten klappt dies nicht. Das
wird natürlich eine sehr ernste Diskussion mit diesen Her-
stellern nach sich ziehen müssen.
Ich denke, dass die Minimierungsstrategie in jedem
Fall einen Erfolg bringt. Diese ist aber nur ein Bestandteil
unserer Strategie. Die Feststellung der Toxizität des Stof-
fes ist der zweite Bestandteil. Denn es kann sich am Ende
herausstellen, dass dieser Stoff so toxisch ist, dass wir ins-
gesamt in die Produktions- und in die Konsumweise ein-
greifen müssen.
Darüber hinaus wollen wir die Verzehrgewohnheiten
von Kindern untersuchen. Man kann sich vorstellen, dass
Kinder proportional mehr Pommes frites, Kekse und ver-
schiedene andere Gebäcke zu sich nehmen als Erwach-
sene. Diese besondere Verzehrstudie ist im Sommer in
Auftrag gegeben worden und wird uns jetzt erste Ergeb-
nisse bringen, sodass wir mit dem Bündel von Informa-
tionen, das wir dann haben, konkrete Hinweise für die
Verbraucher und die Hersteller geben können.
Ich habe auch die Hoffnung, dass wir bei der An-
hörung, die der Ausschuss für Januar beschlossen hat, in
der Lage sein werden, Ihnen weitere Fortschritte mitteilen
zu können. Denn bis dahin haben wir noch ein paar Wo-
chen Zeit. Das ist ein sehr dynamisches Thema. Ich gehe
davon aus, dass wir dem Ausschuss in der öffentlichen
Anhörung weitere zur Sicherheit der Verbraucher beitra-
gende Informationen mitteilen können. Dann haben wir
auch die Gelegenheit, in der Öffentlichkeit mit den be-
troffenen Herstellern und deren Verbänden über dieses
Problem zu diskutieren.
Zweite Zusatzfrage.
Sie sagen, das Minimierungsprogramm wird wahr-scheinlich zum Teil zunächst nicht greifen. Es gibt, wie Sie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Gitta Connemanndargestellt haben, keine abschließenden rechtlichen Rege-lungen. Das Gefahrenpotenzial scheint immens zu sein.Was wird die Bundesregierung tun, um den Verbraucherüber die offensichtlich doch sehr großen Risiken und auchdarüber, wie er sie vermeiden kann, zu informieren?Ma
Zunächst einmal werden wir unsere Politik der absolu-
ten Transparenz fortsetzen. Wir haben die Öffentlichkeit
über jeden Schritt informiert. Es gibt eine Reihe von Pres-
severöffentlichungen und Veröffentlichungen im Internet.
Das halten wir für wichtig. Hier ist absolute Transparenz
geboten. Ich sage Ihnen auch: Wir wären gern noch ein
bisschen transparenter. Das ist allerdings damals an der
Union gescheitert, die das Verbraucherinformationsgesetz
im Bundesrat abgelehnt hat.
Dieses Gesetz taugt in meinen Augen nicht für eine
wahlkampfbedingte politische Auseinandersetzung und
Blockade. Mit dem Verbraucherinformationsgesetz hätten
wir ein wirksames Instrument in der Hand, das es uns er-
möglichen würde, die Verbraucher viel stärker über kon-
krete Produkte zu informieren. Das würde auch den Druck
auf die Hersteller, ihre Herstellungsverfahren zu verän-
dern, beträchtlich erhöhen.
Wir gehen jetzt einen anderen Weg, von dem ich
glaube, dass er zu Verbesserungen führt. Deswegen teile
ich die Grundeinschätzung, die in Ihrer Frage zum Aus-
druck kommt, dass wir gar nicht vorankommen würden
oder dass wir keine guten Nachrichten hätten, nicht. Wir
haben in vielen Bereichen wirklich gute Nachrichten. Es
reichen zum Teil schon der Austausch einer Kartoffelsorte
oder die Veränderung der Lagertemperatur von Kartof-
felsorten, um dieses Problem einigermaßen in den Griff
zu bekommen. Aber leider können wir das nicht in allen
Fällen mit Sicherheit sagen. Deswegen können wir auch
keinerlei Entwarnung geben. Wir kommen bei manchen
Problemen voran und bei anderen nicht. Wir werden die
Verbraucher vor allem darüber informieren, was sie prak-
tisch tun können. Ich erinnere noch einmal an den Tipp,
nur ein volles Backblech mit Pommes frites in den Ofen
zu schieben.
Eine weitere Frage des Kollegen Carstensen.
Herr Staatssekretär, nun könnte man die Presseer-
klärung der Vorsitzenden der Verbraucherzentrale Bundes-
verband zu diesem Thema anführen. Darin stand nämlich,
die Bundesregierung brauche dieses Verbraucherinforma-
tionsgesetz nicht.
Ihre Antworten von vorhin geben mir Anlass, zu fra-
gen, ob es nicht dringend notwendig wäre, dieses Thema
mit auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Minis-
terrates zu nehmen. Es kann nämlich nicht ausreichen,
dass wir Minimierungsstrategien fahren. Sie machen sich
zwar Sorgen wegen der Firmen, die hier minimieren müs-
sen, aber auch ins Ausland liefern. Ich jedoch mache mir
viel mehr Sorgen wegen der ausländischen Firmen, die
nicht am nationalen Minimierungsprogramm teilnehmen,
aber auf unseren Markt liefern.
Können Sie mir bitte sagen, welche rechtlichen Vo-
raussetzungen geschaffen werden müssen oder welche
Analyseergebnisse oder welche wissenschaftlichen Er-
gebnisse vorliegen müssen, damit Sie unterbinden kön-
nen, dass zwar bei uns minimiert wird, aber anschließend
die Pommes frites, die Kartoffelchips oder was auch im-
mer aus dem europäischen Ausland bei uns auf den Markt
kommen?
Ma
Herr Carstensen, auf Ihre beiden Fragen kann ich Ih-nen gerne eine Antwort geben.Erstens. Es ist zweifellos so, dass auch die ausländi-schen Hersteller, die auf den deutschen Markt liefern, indie Minimierungsstrategie eingebunden sind. Auch mitdiesen Unternehmen wird Kontakt aufgenommen. Solltendie Produkte dieser Unternehmen die Signalwerte errei-chen, müssen diese genauso minimieren wie die Herstel-ler auf nationaler Ebene.Ich habe im Rahmen meiner Antwort auf eine andereFrage darauf hingewiesen, dass der optimale Zustandzunächst einmal dann erreicht ist, wenn sich diese Strate-gie auf dem gesamten europäischen Binnenmarkt durch-setzen könnte und vielleicht auch Bestandteil einer abge-stimmten WHO-Politik würde. Dies ist sicher auch unserZiel, aber es geht alles Schritt für Schritt.Ich halte es für sinnvoll, dass wir, wenn wir einen der-art neuen Weg der Bekämpfung eines Risikos für die Ver-braucher gehen, auf nationaler Ebene auf der sicherenSeite sein sollten, bevor wir auf europäischer Ebene ein-steigen. Die Probleme werden nicht ganz ohne Ärger mitden Unternehmen lösbar sein. Diese Prognose kann ichheute ziemlich sicher wagen.Zweitens. Sie hatten auf die Forderung der Verbrau-cherzentrale Bundesverband abgehoben. Diese zielt da-rauf ab, ob man nicht aufgrund des Urteils des Bundes-verfassungsgerichts Ross und Reiter nennen darf. Wirhaben diese Frage geprüft. Dieses Urteil des Bundesver-fassungsgerichts hat einen großen Vorteil: Es stärkt diePosition der Bundesregierung, dass wir ein Verbraucher-informationsgesetz brauchen. Es hat gerade anhand desGlykolfalles die Informationspflicht des Bundesministe-riums für Verbraucherschutz noch einmal unterstrichen.Das Urteil erstreckt sich aber leider nur auf solche Pro-dukte, die nicht mehr verkehrsfähig sind. Das Urteil be-schäftigt sich also mit einem Produkt, das schon vomMarkt genommen worden ist.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 487
Die Produkte, von denen ich hier rede, können die Ver-braucher jeden Tag im Lebensmitteleinzelhandel, beimBäcker oder bei der Pommesbude um die Ecke erwerben.Deshalb gibt es uns leider keine Handhabe, um hier Rossund Reiter zu nennen. Wir bedauern dies und verbindendies mit der Bitte an Sie, dass Sie Ihre Blockade im Bun-desrat aufgeben mögen und wir ein Verbraucherinforma-tionsgesetz bekommen.
Eine weitere Frage des Kollegen Peter Bleser.
Herr Staatssekretär, auf welcher Rechtsgrundlage ver-
weigern Sie die Bekanntgabe der Namen jener Unterneh-
men, deren Produkte eine erhöhte Acrylamid-Belastung
haben, und zwar vor dem Hintergrund, dass in der Ver-
gangenheit des Öfteren solche Unternehmen genannt
worden sind, die diese Produkte in Verkehr gebracht ha-
ben? – Hier ist offensichtlich eine Gesundheitsgefährdung
vorhanden, Sie jedoch verweigern den Verbrauchern die
entsprechende Information.
Ma
Herr Kollege Bleser, mit Verlaub, aber dies schlägt
dem Fass den Boden aus. Wir wollten ein Verbraucherin-
formationsgesetz auf den Weg bringen, welches uns recht-
lich auf die sichere Seite bringen würde. Ich würde mich
hier wirklich um Kopf und Kragen reden, wenn ich die
Namen bestimmter Hersteller nennen würde. Ich kom-
mentiere auch nicht diejenigen Namen, die aufgrund an-
derer Testverfahren an die Öffentlichkeit gelangt sind,
weil dies für das betreffende Unternehmen mit einem er-
heblichen Risiko verbunden wäre. Dies allein könnte ich
noch verschmerzen, aber dieses Unternehmen könnte sich
dann auf das Birkel-Urteil sowie auf andere Urteile beru-
fen und die Bundesregierung wegen geschäftsschädigen-
den Verhaltens des Herrn Parlamentarischen Staatsse-
kretärs in der Fragestunde – das wäre mit erheblichen
Kosten für den Steuerzahler verbunden – verklagen. Dies
kann nicht der richtige Weg sein.
Das Verfahren in dem Verbraucherinformationsgesetz,
so wie wir es angelegt haben, hätte wie folgt funktioniert:
Wir hätten mit den Herstellern Kontakt aufgenommen,
hätten ihnen die Gelegenheit gegeben, selber an die Öf-
fentlichkeit zu gehen und dieses bekannt zu geben. Wenn
sie davon abgesehen hätten, hätten wir auf fachlicher
Ebene entscheiden können, ob das Problem so groß ist,
dass es gerechtfertigt ist, den einzelnen Hersteller zu nen-
nen oder nicht. Nach diesem – wie ich finde – sehr ver-
nünftigen, subsidiären Vorgehen wären wir auch schon in
diesem Fall liebend gern vorgegangen. Sie haben aber im
Sommer dieses Jahres die Verabschiedung der dafür not-
wendigen rechtlichen Möglichkeiten im Bundesrat
blockiert.
Noch einmal: Wir werden mit dem Verbraucherinfor-
mationsgesetz Risiken wie das angesprochene für die Ver-
braucher effektiver bekämpfen können. Deswegen taugt
dieses Gesetz nicht für einen parteipolitischen Streit. Ich
lasse mir aber nicht vorwerfen, dass wir nicht so handelten,
als gäbe es schon ein Verbraucherinformationsgesetz, um
mir hinterher den Vorwurf von Ihnen gefallen zu lassen,
dass wir in erheblichem Maße schadenersatzpflichtig seien.
Wir kommen jetzt zu Frage 12 des Kollegen Helmut
Heiderich:
Welche Studien befassen sich gezielt mit den gesundheitsge-
fährdenden Risiken von Acrylamid und dessen Krebs erregenden
Wirkungen vor dem Hintergrund, dass das Bundesinstitut für
Risikobewertung mitgeteilt hat, dass das zusätzliche Krebsrisiko
der Bevölkerung durch die Aufnahme von Acrylamid über
Lebensmittel derzeit noch nicht abzuschätzen sei?
Ma
Herr Kollege Heiderich, wir haben schon in der Aus-
schusssitzung über diese Frage diskutiert. Ich habe der
Kollegin Heinen angeboten, dass wir dem Ausschuss die
Liste all derjenigen Studien, die sich mit der von Ihnen ge-
stellten Frage beschäftigen, zukommen lassen. Ich kann
Ihnen diese Liste aber auch gleich im Anschluss an die
Fragestunde überreichen.
Es ist klar, dass hier erheblicher Forschungsbedarf jen-
seits vorhandener Studien und solcher, die jetzt von Drit-
ten in Auftrag gegeben werden, vorhanden ist. Deshalb
haben wir – das habe ich schon bei der Beantwortung an-
derer Fragen angedeutet – das Bundesinstitut für Risiko-
bewertung gebeten, mit verstärkten Forschungsanstren-
gungen die gesundheitsgefährdende Wirkung und das
Krebs erregende Potenzial von Acrylamid zu ermitteln.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie hatten vorhin erwähnt, dass es
auch auf internationaler Ebene Bedenken gebe. Ich
glaube, Sie hatten die WHO angesprochen. Gibt es von-
seiten der Bundesregierung Bestrebungen, zusammen mit
anderen Ländern entsprechende Studien auf internationa-
ler Ebene in Auftrag zu geben, oder befinden sich solche
Studien schon in Vorbereitung? Welche Position hat die
Bundesregierung zu diesem Thema?
Ma
Im Juni dieses Jahres haben Experten aller Länder aufeiner FAO/WHO-Tagung über diese Frage diskutiert.Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Parl. Staatssekretär Matthias BerningerSelbstverständlich sind auch in anderen Ländern solcheStudien in Vorbereitung.Ich hatte schon bei der Beantwortung einer anderenFrage darauf hingewiesen, dass wir an einer Vernetzungder Arbeit sehr interessiert sind. Wir haben in unsere For-schungsarbeiten auch Kollegen aus Nachbarländern ein-bezogen. Diese können bei Veranstaltungen der uns nach-geordneten Einrichtungen hospitieren und entsprechendeErfahrungen sammeln. Wir sähen es gerne, wenn sie unsin gleichem Maße ihre Erfahrungen mitteilen würden.Das geschieht – das möchte ich nur am Rande sagen – lei-der nicht immer. Ich glaube, im Kern ist das Problem sogroß, dass die Gemeinschaft der Wissenschaftler schon aneiner Effektivierung der Forschung arbeitet.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben ja vorhin in besonderem
Maße haushaltstechnische Erfahrungen durchblicken
lassen. Wenn es um Backbleche und ähnliche Dinge geht,
könnte ich Ihnen gerne meine Erfahrungen mitteilen.
Aber ich glaube, die hatten Sie eben nicht gemeint.
Ich möchte gerne noch einmal auf die Frage nach der
internationalen Zusammenarbeit zurückkommen. Gibt es
nach Ihrem Kenntnisstand andere Länder, die bereits
Maßnahmen eingeleitet haben, die Verbraucherinforma-
tionen geben und Verhaltensregeln empfehlen, so wie Sie
sie vorhin vorgetragen haben?
Ma
Es gibt eine Reihe positiver Beispiele für Rechte der
Öffentlichkeit am Zugang zu Informationen. Ich denke,
dass das Vorgehen in den Vereinigten Staaten für uns alle
beispielhaft ist; denn dort hat man einen erheblich besse-
ren Zugang zu den Informationen der Behörden, als das
bei uns der Fall ist. Die Rechtslage bei uns ist deshalb so
unerquicklich, weil wir zwar ein Umweltinformations-
recht haben, das jedem die Möglichkeit einräumt, bei-
spielsweise die Inhaltsstoffe des örtlichen Klärschlamms
zu erfahren, wir uns aber bisher nicht dazu durchgerungen
haben, im Bereich der Lebensmittel vergleichbare Infor-
mationsrechte zu schaffen. Dieser Widerspruch sollte
nicht dauerhaft in Deutschland bestehen bleiben.
Darüber hinaus enthalten die Vorschläge der Europä-
ischen Union, zum Beispiel in der Produktsicherheits-
richtlinie, Passagen, die darauf hinauslaufen, dass die
Verbraucher bessere Rechte auf Zugang zu Informationen
der öffentlichen Verwaltung haben werden. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang auch an die Koalitionsvereinba-
rung. Hier haben die Koalitionsfraktionen festgelegt, dass
sie gemeinsam mit der Wirtschaft daran arbeiten wollen,
dass die Wirtschaft ihrerseits Informationen bereitstellt.
Sollte sie kooperativ sein, dann muss der Gesetzgeber den
Bereich der Wirtschaft nicht regeln. Sollte sie nicht ko-
operativ sein, dann ist die Sache natürlich ganz anders ge-
lagert.
Danke schön. – Eine weitere Zusatzfrage, Ursula
Heinen.
Gibt es Studien, die sich auch mit den Auswirkungen
von Acrylamid auf schwangere Frauen bzw. auf Neuge-
borene beschäftigen? Sind bereits Schädigungen be-
kannt?
Ma
Ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Uns liegen bisher
keine Ergebnisse vor. Ich weiß nicht, inwieweit Schwan-
gere in die von uns in Auftrag gegebene Verzehrstudie
einbezogen sind, die sich vor allem mit Kindern und Ju-
gendlichen befasst. Da wir es zum Teil aber mit Produk-
ten zu tun haben, die Kinder schon in sehr frühem Alter zu
sich nehmen, gehe ich davon aus, dass die Experten dies
berücksichtigen und wir darüber Auskünfte bekommen
werden.
Klar ist, dass es sich um einen Stoff handelt, der sowohl
Krebs erregend als auch erbgutschädigend ist und der des-
wegen in besonderer Weise für Schwangere ein Problem
darstellen kann. Niemand hat damit gerechnet, dass der
Stoff Acrylamid bei der Zubereitung von Lebensmitteln
zum Beispiel samstags abends in der Bratpfanne entsteht.
Das ist aber leider der Fall.
Eine weitere Frage der Kollegin Gitta Connemann.
Wird erwogen, besonders hohe Anforderungen hin-
sichtlich der Acrylamid-Belastung bei der Herstellung
von Babynahrung zu stellen?
Ma
Hohe Anforderungen wird man sicherlich an die Pro-dukte im Bereich der Babynahrung stellen müssen, die be-troffen sind. Da ist vor allem Gebäck zu nennen. Im klas-sischen Baby-Gläschen wird man diesen Stoff eher nichtfinden. Auch Pommes frites sind nicht Bestandteil vonBabynahrung. Kleine Kinder bekommen aber häufigKekse und Ähnliches zwischendurch zu essen. Darummüssen wir uns intensiv kümmern, weil sie besonders viel– bezogen auf das Kilogramm Körpergewicht – konsu-
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Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 489
mieren. Das ist meine Feststellung als Vater; ich denkeaber, dass das auch die Studien als Ergebnis ermitteln wer-den.
– Das will ich nicht sagen. Aber Sie, Herr Kollege, habenein größeres Körpergewicht. Deswegen können Sie mehrzu sich nehmen.
Wir kommen zu Frage 13 des Kollegen Helmut
Heiderich:
Wann werden die Forschungen und Analysen abgeschlossen
sein und wann rechnet die Bundesregierung mit ersten Ergebnis-
sen?
Ma
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es schwierig
ist, Prognosen darüber abzugeben, wann Wissenschaftler
Forschungsergebnisse vorlegen werden. Wir hoffen, dass
wir, da wir glücklicherweise nicht mit Tierversuchen, son-
dern mit Zellkulturversuchen arbeiten, im nächsten Jahr
vom Bundesinstitut für Risikobewertung erste Ergebnisse
über die Gefährlichkeit des Stoffes Acrylamid bekommen
werden. Darüber hinaus erhalten wir von anderer Stelle
laufend neue Forschungsergebnisse. Ich bin sehr froh da-
rüber, dass im Herbst dieses Jahres Veröffentlichungen
uns darüber, wie Acrylamid entsteht, sehr klare Informa-
tionen gegeben haben. Es ist aber noch immer nicht klar,
wie der Reaktionsmechanismus bei der Entstehung von
Acrylamid abläuft. Das ist klassische organische Chemie.
An sich müsste diese Frage einfach zu klären sein. Aber
im Lebensmittelbereich ist es sehr kompliziert und es ist
nicht leicht, zu Ergebnissen zu kommen.
Eine Zusatzfrage? – Bitte.
Herr Staatssekretär, fühlt sich die Bundesregierung
veranlasst, in der Zwischenzeit, solange diese Ergebnisse
noch nicht vorliegen, die Grenzwerte vorsorglich zu sen-
ken? Aus meiner Sicht ist das Körpergewicht in diesem
Fall nicht entscheidend, weil ich davon ausgehe, dass
Menschen mit einem größeren Körpergewicht auch
größere Mengen verzehren.
Ma
Herr Kollege Heiderich, das Konzept des „acceptable
daily intake“, ADI, geht davon aus, wie viel Gramm eines
Stoffes pro Kilogramm Körpergewicht man zu sich nimmt.
Wenn ich die Menge an Butterkeksen, die ein kleines Kind
in sich reinstopfen kann, auf das Körpergewicht von mir,
von Herrn Kollegen Carstensen oder von sonst jemandem
unter uns hochrechne, dann komme ich zu dem Ergebnis:
Wir müssten einen Berg an Butterkeksen essen. Es ist
nicht realistisch, dass jemand von uns eine vergleichbare
Menge zu sich nimmt wie ein Kind. Deswegen ist es an-
geraten, dass wir uns speziell um die Verzehrgewohnhei-
ten von Kindern kümmern.
Sehen Sie sich einmal an, wie viele Kinder wöchent-
lich beispielsweise Fast-Food-Ketten aufsuchen und dort
Pommes frites zu sich nehmen. Wir müssen einen spezi-
ellen Blick auf die Gruppe von Verbraucherinnen und Ver-
brauchern richten, die diese Verzehrgewohnheiten haben,
weil gerade sie besonders schutzbedürftig sind.
Ihre zweite Zusatzfrage.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Könnten sich
aus Ihrer Sicht Rückwirkungen auf Regelungen im Haf-
tungsrecht ergeben?
Ma
Ich bin leider kein Jurist. Grundsätzlich wird in unse-
ren Gesetzen natürlich davon ausgegangen, dass die Her-
steller nur solche Produkte auf den Markt bringen können,
die die Gesundheit nicht gefährden. Ausgehend von die-
sem Grundsatz – unabhängig von der Frage, wie teuer ein
Lebensmittel ist –, dass wir es mit Mitteln zum Leben zu
tun haben müssen, die keine Gefährdung nach sich zie-
hen, werden wir natürlich mit den einzelnen Herstellern
über Minimierungsstrategien sprechen. Darüber, inwie-
weit das Haftungsrecht und andere Rechtskreise berührt
sind, kann ich nur spekulieren. Ich denke, dass wir darü-
ber in den nächsten Monaten, nachdem wir uns mit dieser
Frage näher beschäftigt haben, noch einmal reden müs-
sen.
Zusatzfrage, Kollege Carstensen.
Herr Staatssekretär, wenn ich richtig informiert bin, hat
es insbesondere in Schweden Minimierungsstrategien
und -erfolge gegeben. Haben Sie das Gefühl, dass Sie
über die schwedischen Ergebnisse, Verfahren, Forschun-
gen und Analysen genügend unterrichtet sind?
Ma
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Parl. Staatssekretär Matthias BerningerZumindest habe ich vonseiten der bei uns dafür Ver-antwortlichen keine Klagen gehört. Ich weiß auch nicht,ob mein Gefühl hier ausschlaggebend ist.Ich denke, dass die Kooperation in diesem Bereich sehrgut läuft. Wir haben die Hinweise der schwedischenBehörden nicht erst hinterfragt und wir haben auch nichtgesagt, dass wir erst einmal abwarten sollten, sondern wirhaben unsere Behörden gleich am nächsten Tag damit be-fasst, um dieses Problem in Kooperation mit den Schwe-den – diese sind uns insoweit voraus, als sie als Erste aufdas Problem hingewiesen haben – zu bearbeiten.Ich glaube, letztlich wird das ein Problem von globalerBedeutung sein. Es ist für kein Land und kein Forschungs-team angezeigt, seine Informationen für sich zu behalten.Zu einer schnellen Lösung werden wir nur unter der Vo-raussetzung kommen, dass die Kooperationsbereitschaftder einzelnen Länder und der einzelnen Unternehmengroß ist. Vor allem bezogen auf die Unternehmen hoffe ichsehr, dass die Wettbewerber untereinander ihre Informa-tionen fair austauschen werden.
Herr Kollege Schulte-Drüggelte hat eine Zusatzfrage.
– Bitte schön.
Sind die Untersuchungsmethoden in den einzelnen
Bundesländern miteinander abgestimmt? Gibt es unter-
schiedliche Ergebnisse bei diesen Untersuchungen? Gibt
es schon – Sie sprachen die Gefährlichkeit an – gesicherte
Erkenntnisse darüber, ab welcher Schwelle es wirklich
gefährlich wird?
Ma
Es gibt verschiedene Untersuchungsmethoden. Anfang
des Sommers kam die Frage auf, ob die einzelnen Unter-
suchungsmethoden alle zu einem gültigen Ergebnis
führen.
Aufgrund der Erfahrung ist es natürlich leicht, Acryl-
amid nachzuweisen. Bisher hat man es aber nur im Was-
ser gesucht. Das Problem ist also weniger die Analyse-
methode, mit der man Acrylamid nachweist, sondern eher,
wie man den Ausgangsstoff – in dem Fall also Lebens-
mittel, zum Beispiel Knäckebrot oder was auch immer –
so behandelt, dass man eine Acrylamid-Konzentration
nachweisen kann. Hierfür gibt es eine Vielzahl von Ver-
fahren. Die Überprüfung der verschiedenen Verfahren hat
ergeben, dass man, auch wenn unterschiedliche Ansätze
in der Aufbereitung der Proben zugrunde gelegt, also zum
Beispiel unterschiedliche Lösemittel verwendet werden,
in der Regel zu validen und entsprechend gültigen Nach-
weisen kommt, sodass wir glücklicherweise kein Problem
mit der Analyse haben. Das ist die Voraussetzung dafür,
dass massenhaft Proben genommen werden können, so-
dass die ermittelten Ergebnisse in die Minimierungsstra-
tegie eingebaut werden können.
Die Frage, ab welcher Konzentration Acrylamid ge-
fährlich ist, habe ich bereits mehrfach beantwortet. Ich
will es noch einmal versuchen:
Wir verfügen noch nicht über eine abschließend valide
Datenbasis darüber, ab wann er gefährlich ist. Wir sind
uns nicht hundertprozentig sicher, ob Acrylamid erst ab
einem Schwellenwert gefährlich ist oder ob schon bei ei-
ner geringsten Konzentration eine Krebs erregende und
erbgutschädigende Wirkung gegeben ist. Es gibt Wissen-
schaftler, die das behaupten und die Vergleiche zu Stoffen
wie 3,4-Benzpyren ziehen. Aufgrund der mir heute vor-
liegenden Datenlage bin ich mir aber nicht so sicher, dass
ich es Ihnen verbindlich sagen könnte. Das ist der Grund,
weshalb wir intensiv daran forschen.
Unabhängig davon gebietet es der vorsorgende Ver-
braucherschutz, dass wir schon jetzt tätig werden und ver-
suchen, diesen Stoff, der im Essen nichts zu suchen hat,
zu eliminieren. Dass er gefährlich ist, steht außer Frage,
auch wenn man den genauen Grenzwert noch nicht er-
mittelt hat.
Damit kommen wir zur Frage 14 der Kollegin Julia
Klöckner:
Wie ist der seinerzeit vom Bundesamt für gesundheitlichen
Verbraucherschutz und Veterinärmedizin vorgeschlagene Ak-
tionswert von 1 000 Mikrogramm Acrylamid pro Kilogramm wis-
senschaftlich begründet und welche Maßnahmen sind bei Über-
schreitung dieses Wertes vorgesehen?
Ma
Frau Klöckner, im Grunde kann ich bei der Beantwor-tung der Frage 14 direkt an die Antwort zur eben gestell-ten Frage anschließen. Man kann sicher davon ausgehen,dass der ursprüngliche Aktionswert von 1 000 Mikro-gramm Acrylamid pro Kilogramm – diesen haben wir dortgesetzt – unerwünscht ist.Man hätte ihn vielleicht etwas niedriger setzen können.Darüber, welcher Wert zunächst angesetzt wird, lassenwir unsere Experten wie immer unabhängig entscheiden.Aufgrund der Minimierungsstrategie und der Daten, dieuns heute vorliegen, wissen wir, dass wir auch bei den be-sonders belasteten Produktgruppen deutlich unter diese1 000 Mikrogramm pro Kilogramm kommen werden, so-dass im Laufe der nächsten Monate auch darüber zu redensein wird, inwieweit dieser Aktionswert von 1 000 Mi-krogramm pro Kilogramm überhaupt noch Bestand hat.Wir sind aber aufgrund der eben genannten Daten nichtin Aktionismus verfallen und haben nicht irgendeinenWert Pi mal Daumen halbiert. Um das Prinzip des Mini-mierungsprogramms noch einmal zu erörtern: Bei einerProduktgruppe, in der der höchste Wert bei 500 Mikro-gramm liegt, müssen wir dafür sorgen, dass dieser Wertabgesenkt wird. Wir gehen an jedes Produkt mit der Ziel-setzung der Absenkung heran. Es mag Produktgruppenmit einem Signalwert von 800 Mikrogramm geben. Beianderen mag er deutlich niedriger liegen. Wir wollen bei
490
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 491
allen Produktgruppen die Werte absenken. Das Prinzip isteben, so wenig Acrylamid wie möglich auf den Tischkommen zu lassen.
Eine Zusatzfrage, Frau Klöckner.
Herr Staatssekretär, was geschieht mit den Lebensmit-
teln, deren Wert signifikant über dem Signalwert liegt?
Ich denke, sie werden aus dem Handel genommen. Sie
werden hoffentlich nicht zu Tierfutter verarbeitet.
Ma
Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass man diese Produkte
nicht zu Tierfutter weiterverarbeiten kann. Das wird in der
Regel aber nicht passieren. Wir sind jetzt darüber in der
Auseinandersetzung mit der Wirtschaft. Einzelne Pro-
dukte, die sehr hohe Werte aufwiesen, sind inzwischen
aus den Regalen verschwunden.
Insgesamt glaube ich, dass wir gemeinsam mit der
Wirtschaft die unangenehmen Entscheidungen – dafür
brauche ich die Rückendeckung des Parlaments – durch-
setzen müssen. Das heißt, Herstellern, deren Produkte ei-
nen zu hohen Wert aufweisen, muss dann, wenn sie es
nicht freiwillig tun wollen, gesagt werden: Das Produkt
muss vom Markt genommen werden. Dies muss auch
dann geschehen, solange wir noch keine Konzentration
festgesetzt haben, ab der Acrylamid gefährlich ist. Einige
Hersteller könnten darauf pochen, ihre Produkte, solange
noch keine Grenzwerte festgelegt sind, weiter verkaufen
zu können. Wir überprüfen die rechtliche Handhabe. Wir
glauben, gemeinsam mit den Ländern – das haben wir
heute im Ausschuss erörtert – eine rechtliche Handhabe
zu besitzen, um diese Unternehmen im Zweifel zu zwin-
gen, diese Produkte aus den Regalen zu nehmen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich habe noch eine Zusatzfrage zum Verbraucher-
schutz bzw. zur Aufklärung. Sie sagten: Solange die Pro-
dukte im Handel sind, dürfen die Hersteller nicht genannt
werden. Wenn sich aber jemand konkret an Sie wendet
und wissen möchte, ob das Produkt, das er zu Hause hat,
gefährlich ist, und zwar nicht öffentlich, sondern über
das Forum Ihrer viel genannten Website www.was-wir-
essen.de – Voraussetzung ist, dass man sie findet –, ant-
worten Sie dann oder lassen Sie diesen Menschen mit sei-
nem Problem alleine?
Ma
Ich empfehle den Verbrauchern, sich direkt an die Her-
steller zu wenden.
Die Hersteller selber sind nicht verpflichtet, die ge-
wünschte Auskunft zu geben. Aber ich denke, im Sinne ei-
ner verbraucherorientierten Marktwirtschaft sind die Her-
steller gut beraten, dies zu tun. Darüber hinaus gibt es eine
Reihe von Veröffentlichungen. Wir können in einem sol-
chen Forum für die Hausfrauen der Bundesrepublik das
Verbraucherinformationsgesetz nicht durch die Hintertür
einführen, weil sich sonst das komplette journalistische
Corps in Berlin als Hausfrau tarnen würde, um sich diese
Informationen zu besorgen.
Wir hätten dann wieder den juristischen Ärger.
Ich sage es noch einmal: Die einfachste Lösung des
Problems wäre es – das können wir sehr schnell machen –,
wenn wir, Opposition und Regierung, uns darauf einigen,
in den nächsten Monaten ein Verbraucherinformations-
gesetz in Bundestag und Bundesrat zu verabschieden.
Dieses Verbraucherinformationsgesetz würde uns das Le-
ben bei diesen und bei kommenden Problemen leichter
machen.
Warum sage ich „kommende Probleme“?
Ich habe „kommende Probleme“ deshalb gesagt, weil die
EU in den nächsten Jahren die Altwirkstoffe im Chemi-
kalienbereich überprüfen wird. Ohne Kenntnis über ein-
zelne Altwirkstoffe zu haben, mit denen wir heute schon
Probleme haben, gehe ich davon aus, dass die eine oder
andere Chemikalie, die wir bisher als eher unbedenklich
angesehen haben und die sich in Lebensmitteln oder Kin-
derspielzeug findet, doch bedenklich ist. Je mehr Infor-
mationsmöglichkeiten wir haben, desto schneller können
diese Missstände beseitigt werden, weil weder die Unter-
nehmen noch die Verwaltung noch sonst irgendjemand
ein Interesse daran haben kann, dass solche Produkte wei-
terhin am Markt käuflich erhältlich sind.
Kollegin Connemann.
Finden Sie Ihre Reaktion, den Verbraucher in diesen
Fällen an den Hersteller zu verweisen, vor dem Hinter-
grund angemessen, dass zum Beispiel die Ministerin für
diesen Bereich beim kleinsten Verdacht auf Vorliegen von
Hormonen in Milch oder Fleisch, der sich hinterher nicht
bestätigt hat, sofort öffentlich dazu aufgerufen hat, be-
sagte Lebensmittel zu boykottieren?
Ma
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Parl. Staatssekretär Matthias BerningerZunächst einmal, Frau Kollegin, hat sie das so nicht ge-tan, um den Ausgangspunkt Ihrer Frage deutlich zu ver-neinen. Richtig ist, dass wir im Zusammenhang mit denfortwährenden Problemen im Futtermittelbereich daraufhingewiesen haben, dass es nicht so weitergehen kann unddass schärfere Regelungen nötig sind, wie wir sie im Ko-alitionsvertrag vereinbart haben. Wir werden Ihnen dieseRegelungen demnächst vorstellen und sie – hoffentlichmit Ihrer Unterstützung – auch möglichst schnell umsetzen.Ich bin, dass wir uns nicht missverstehen, mit diesemZustand nicht glücklich. Ich würde liebend gerne über deneinen oder anderen Hersteller das Verbraucherinteresse anInformation erfüllen. Ich hätte Ihnen heute Morgen imAusschuss viel dazu vortragen können. Aber Sie habenuns mit Ihrer Gestaltungsmehrheit im Bundesrat in dieserFrage die Hände gebunden. Deswegen würde ich, wennich dies dürfte, Herr Präsident, mit einer Gegenfrage ant-worten. Ich gehe allerdings davon aus, dass Sie wissen,welche Gegenfrage ich meine.
Sie dürfen keine Fragen stellen, sondern nur Fragen be-
antworten.
Deswegen bitte ich jetzt den Kollegen Hartwig Fischer,
seine Zusatzfrage zu stellen.
Herr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vor welchem Fall bzw. vor wel-
chem Grenzwert soll denn der Hersteller warnen?
Ma
Die Minimierungsstrategie hat einen wesentlichen
Vorteil: Wir bekommen einen Gesamtüberblick über die
Werte, die zum Beispiel bei dem Produkt Knäckebrot be-
stehen, und die Varianz, das heißt über die Frage, wo die
Werte besonders hoch und wo sie besonders niedrig sind.
Auch die Hersteller bekommen diesen Überblick und
können ihrerseits die Verbraucher entsprechend infor-
mieren.
Ich gehe im Übrigen davon aus, dass diejenigen Un-
ternehmer, deren Produkte besonders niedrige Werte auf-
weisen, Maßnahmen ergreifen werden, um die Verbrau-
cher darüber zu informieren. Ich gehe aber nicht davon
aus, dass sich für diejenigen, bei denen es Probleme gibt,
die Strategie empfiehlt, die Probleme zu verheimlichen.
Insofern gehe ich davon aus, dass Verbraucher, die sich an
die Unternehmen wenden, von den Unternehmen, die ver-
antwortungsvoll mit dieser Frage umgehen, die entspre-
chenden Informationen bekommen werden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Carstensen.
Herr Staatssekretär, Ihnen ist sicherlich bekannt, dass
die Sendung „plusminus“ im Internet Hersteller, von de-
nen Lebensmittelproben im NAFU-Labor auf Acrylamid
untersucht worden sind, genannt und die Ergebnisse der
Analysen aufgeführt hat. Ihnen ist sicherlich auch be-
kannt, dass darunter auch verschiedene ausländische
Firmen sind. Können Sie bestätigen, dass nach dem von
Ihnen vorgelegten Verbraucherinformationsgesetz den
Verbrauchern zum Beispiel keine Informationen über die
im Ausland hergestellten Produkte hätten gegeben werden
können, die bei uns auf den Markt kommen?
Ma
Das kann ich überhaupt nicht bestätigen, weil alle In-
formationen, die den Behörden bzw. uns vorliegen, in den
Geltungsbereich des Verbraucherinformationsgesetzes
fallen. Dazu gehören auch Informationen über auslän-
dische Hersteller. Das heißt, wenn eine Behörde – zum
Beispiel das Bundesamt für Verbraucherschutz und Le-
bensmittelsicherheit – über eine Information verfügt,
wäre sie nach dem Verbraucherinformationsgesetz in der
Lage, als Servicedienstleistung den Verbrauchern diese
Information in angemessener Form zur Verfügung zu
stellen. Auch hierbei gilt der zeitliche Vorlauf, mit dem
zunächst dem Unternehmen selbst die Möglichkeit ein-
geräumt wird, diese Information weiterzugeben, was sich
in der Regel als der bessere Weg herausgestellt hat. Im Zu-
sammenhang mit der Nitrofen-Belastung von Lebensmit-
teln haben wir die Erfahrung gemacht, dass Unternehmen,
die versuchen, ein Problem mit stillen Rückrufaktionen zu
lösen, mit dieser Verfahrensweise auf Dauer nicht beson-
ders glücklich sind, weil sie zu Recht das Misstrauen des
Verbrauchers nach sich zieht.
Ich rufe die Frage 15 der Kollegin Julia Klöckner auf.
Sind die ermittelten Acrylamid-Belastungen angesichts un-
terschiedlicher Analysemethoden – insbesondere unter Berück-
sichtigung unterschiedlicher Lösungsmittel – zwischen den Bun-
desländern vergleichbar, und wenn nicht, ab wann wird die
Analysemethodik standardisiert sein?
Ma
Frau Kollegin, ich habe diese Frage bereits vorhin aufNachfrage eines Kollegen beantwortet. Es gibt eine Reihevon Analysemethoden, die sich zwar in der Methodik,aber nicht in der Validität der Aussagen unterscheiden.
492
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 493
Das heißt, es gibt ein ganzes Spektrum von Labors, diewir einsetzen können. Das ist die Voraussetzung für eineerfolgreiche Minimierungsstrategie.
Eine Zusatzfrage von Frau Klöckner, bitte schön.
Herr Staatssekretär, vielleicht liegt es daran, dass ich
noch nicht die entsprechende Parlamentserfahrung habe,
um die Antworten zwischen den Zeilen zu verstehen. Sie
haben mir vorhin keine klare Antwort auf die Frage gege-
ben, was mit den Produkten geschieht, die als signifikant
gefährlich erkannt wurden. Können Sie wirklich garantie-
ren, dass sie nicht in irgendeinem Kreislauf wieder auf-
tauchen? Wird darüber Rechenschaft abgelegt und wer-
den die Angaben überprüft?
Ma
Ich kann Ihnen zu der Frage, wie mit einem Produkt
vorgegangen wird, das aus dem Regal genommen wird, in
dieser Fragestunde keine konkrete Antwort geben, weil
mir der Überblick über all diese Verfahren fehlt.
Sie bemerken sicherlich, dass ich sehr auskunftsfreudig
bin, und ich würde Ihnen auch diese Frage beantworten.
Ich habe diese Informationen nicht. Zurückgerufene Le-
bensmittel können aber sicherlich nicht Bestandteil von
Futtermitteln sein.
Weitere Zusatzfrage, bitte.
Gerade Jugendliche oder auch Kinder – das haben wir
vorhin schon kurz angesprochen – sind gefährdet, weil sie
etwa Chips oder Pommes frites präferiert konsumieren.
Haben Sie ein besonderes Konzept oder eine so genannte
Task Force – von so etwas wird ja gerne gesprochen –, um
gerade an Schulen oder auch an Kindergärten Aufklärung
zu leisten?
Ma
In der Tat ist „Kinder und Ernährung“ einer der
Schwerpunkte unserer Arbeit. Es gibt eine ganze Reihe
von Maßnahmen im Bereich der allgemeinen Ernäh-
rungsaufklärung. Ich möchte in diesem Zusammenhang
an Folgendes erinnern: Allein der Umstand, dass etwa
40 Prozent aller 10-Jährigen in Deutschland adipös, das
heißt zu Deutsch: zu fett, sind, ist Anlass zur Sorge. Selbst
die gesunden Lebensmittel nehmen die Kinder also häu-
fig in einer Art und Weise zu sich, die nicht besonders ge-
sund ist. Insofern müssen wir über die Werbung zu Pro-
dukten und auch über Verzehrgewohnheiten reden.
Es gibt aber auch eine Reihe von Chancen. Etwa im
Zusammenhang mit der Schaffung von Ganztagsschulen
können wir mit für eine ausgewogene Ernährung der Kin-
der sorgen.
In diesem speziellen Fall war eine unserer ersten Maß-
nahmen, eine besondere Verzehrstudie in Auftrag zu ge-
ben, die die vorgenannten Produkte und die entsprechen-
den Konsumgewohnheiten der Kinder zum Inhalt hat.
Klares Ziel ist natürlich, besondere Tipps und Hand-
lungsweisen für Kinder und Jugendliche zu erarbeiten, die
wir dann in geeigneter Form den Kindern und Jugendli-
chen, aber natürlich auch deren Eltern nahe bringen wol-
len. Aufgrund eigener Erfahrungen mache ich mir da aber
überhaupt keine Illusionen. Überzeugen Sie einmal ein
Kind davon, an einer Pommesbude vorbeizugehen! Das
ist nicht sonderlich leicht.
Kollege Heiderich, noch eine weitere Frage dazu.
Herr Staatssekretär, noch einmal zu der Behandlung
der eventuell gefährdenden Lebensmittel. Sie haben vor-
hin mehrfach deutlich gemacht, dass die Gefährdung im
Wesentlichen davon abhängt, wie man diese Lebensmit-
tel behandelt. Dabei haben Sie durchaus haushaltstechni-
sche Kenntnisse offenbart, nämlich darüber, wie man das
in der Bratpfanne oder in der Friteuse oder wie auch im-
mer behandelt. Gibt es irgendeine besondere Form der
Behandlung oder Entsorgung von Lebensmitteln, die auf
diese Weise entstanden sind? Wie soll dieses Problem
gelöst werden?
Ma
Wir haben es hier zum Glück nicht mit einem akut le-bensgefährdenden Vorgang zu tun. Die Acrylamid-Kon-zentrationen, von denen wir hier reden, die beim Brateneiner Bratkartoffel entstehen, sind sicherlich gesundheits-gefährdend, aber damit sind die Bratkartoffeln noch keinSondermüll.Generell ist unser Ziel, möglichst praktische Hinweisezu geben. Dabei ist es wichtig, dies in einer Art und Weisezu tun, dass die breite Öffentlichkeit informiert ist. Ichhabe ein paar praktische Hinweise genannt. Ich glaubeauch, dass diejenigen, die Backöfen oder Friteusen her-stellen, sehr gute Partner sein können, wenn es darumgeht, solche Informationen zur Verfügung zu stellen. Aufden Verpackungen könnten die Rezepte geändert werden,beispielsweise in der Hinsicht, dass man für die Zuberei-tung von Pommes frites im Backofen nicht zu hohe Tem-peraturen wählt.Ein ganz wichtiger Punkt scheint auch zu sein, dafürSorge zu tragen, dass solche Rohstoffe, die besonders vielParl. Staatssekretär Matthias Berninger
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Parl. Staatssekretär Matthias BerningerAcrylamid erzeugende Ausgangsbestandteile haben, beider industriellen Fertigung nicht mehr präferiert werden.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Peter Bleser auf:
Liegen über die im „Acrylamidforum“ der Internetseiten
„www.was-wir-essen.de“ zum Acrylamid-Gehalt von Zwieback-
proben und Butterkeksen wiedergegebenen Informationen hinaus
weitere Daten für betroffene Produkte vor?
Ma
Herr Kollege Bleser, wir haben anonymisierte Daten
an verschiedenen Stellen bereitgestellt. Daten über das
Spektrum der Belastung von Produkten können wir
in anonymisierter Form bereitstellen. Leider können wir
nicht Ross und Reiter nennen. Infolgedessen liegen Da-
ten über die auf den von Ihnen genannten und sehr zu
empfehlenden Internetseiten, zum Beispiel „www.was-
wir-essen.de“, gegebenen Informationen hinaus nicht
vor.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche Maßnahmen wollen Sie er-
greifen, um die Bevölkerung darüber zu informieren, wel-
che Acrylamid minimierenden Zubereitungsmethoden es
gibt? Welche Haushaltsmittel und in welcher Größenord-
nung wollen Sie hierfür zur Verfügung stellen? Sind Sie
bereit, dafür aus den 25 Millionen Euro, die Sie im Haus-
halt für die Verbreitung ökologisch erzeugter Nahrungs-
mittel einsetzen wollen, umzuschichten?
Ma
Herr Kollege, sobald wir aufgrund der Datenlage eine
solide Information über das Ausmaß des Problems ha-
ben, werden wir die Öffentlichkeit in angemessener
Form informieren und auch entsprechende Mittel zur
Verfügung stellen. Ich gehe aber davon aus, dass wir das
nicht allein machen können, sondern dass hierbei insbe-
sondere auch die Wirtschaft mit in der Verantwortung
ist, um das Thema breit bekannt zu machen. Wir geben
etwa 3 Cent pro Person und Jahr für Informationen im
Lebensmittelbereich aus, während 13,50 Euro pro Per-
son und Jahr in die Werbung für Lebensmittel fließen.
Wir werden in der Wirtschaft sicherlich eine Reihe von
verantwortungsbewussten Partnern finden, die an einer
sachlichen Information der Verbraucher ebenfalls ein In-
teresse haben.
Es ist jetzt zu früh, darüber zu spekulieren, wie wir die-
ses Vorhaben finanzieren; aber eines kann ich Ihnen ver-
sichern: Wir werden sicherlich nicht diejenigen Mittel
antasten, die dazu dienen, über den Ökolandbau zu infor-
mieren. Um dafür Mittel aufzubringen, werden wir auf
andere schöne Haushaltstitel zurückgreifen, worüber Sie
sich dann allerdings ärgern werden. Insofern freue ich
mich schon auf die dann folgende Diskussion.
Herr Kollege Bleser, möchten Sie eine weitere Zusatz-
frage stellen? – Das ist nicht der Fall.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Bleser auf:
Wie viele Unternehmen und wie viele Produkte sind von
Acrylamid betroffen?
Ma
Ich habe ganz am Anfang gesagt, dass Pommes frites,
Chips, Knäckebrot, Toastbrot, Weihnachtsgebäck, Ge-
bäck aller Art, zu Hause zubereitete Waren aus Rohstof-
fen wie Kartoffeln und alles Mögliche einen hohen
Acrylamidgehalt haben können. Daraus folgt, dass wir
mit einem großen Teil der Unternehmen des Lebensmit-
telsektors im Dialog zu stehen haben und dass sehr viele
Unternehmen dazu bereit sein müssen, sich zu verän-
dern.
Ich bin nicht in der Lage, Ihnen heute hier die Zahl der
betroffenen Unternehmen zu nennen. Wir wollen mit un-
serem Konzept möglichst viele Unternehmen untersu-
chen, um so sichere branchenspezifische Daten darüber
zu erhalten, wo die höchsten und wo die geringsten Kon-
zentrationen von Acrylamid sind. Wir haben die betroffe-
nen Produkte in weit über 60 Gruppen unterteilt. Anhand
dieses Hinweises kann man sich, salopp gesagt, zusam-
menreimen, wie groß die Anzahl der betroffenen Produkte
sein wird. Wie gravierend dieses Problem für die Ver-
braucher allein von der Menge her ist, ist auch aus diesem
Spektrum ersichtlich.
Herr Bleser, möchten Sie eine Zusatzfrage stellen?
Ja.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, dass die Bun-desregierung diejenigen, die Lebensmittel industriell her-stellen, anders behandelt als diejenigen, die Lebensmittellandwirtschaftlich herstellen?
494
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 495
Ma
Nein.
Der Herr Kollege Carstensen möchte eine weitere Zu-
satzfrage stellen.
Das ist eine ganz wichtige Frage. Die Bundesverbrau-
cherschutzministerin hat den Ausschuss für den 4. Dezem-
ber zu einem Weihnachtsessen eingeladen. Herr Staatsse-
kretär, können Sie uns sagen, was es da zu essen gibt?
Ma
Herr Carstensen, wir sollten es nicht zu laut sagen: wie
immer viel und „bio“, natürlich.
Nach dieser Fragestunde sind Sie nur dann auf der
sicheren Seite, wenn Sie ganz aufs Essen verzichten.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung. Zur
Beantwortung stehen zunächst einmal der Parlamentari-
sche Staatssekretär Franz Thönnes und später die Parla-
mentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk zur
Verfügung.
Die Fragen 18, 19 und 20 werden schriftlich beant-
wortet.
Wir kommen zur Frage 21 des Kollegen Albrecht
Feibel:
In welcher Weise und in welchem Zeitraum beabsichtigt die
Bundesregierung, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte
dazu anzuhalten, die gesetzlich vorgeschriebene Veräußerung der
Gemeinnützigen Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstät-
ten, GAGFAH, umzusetzen?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
F
Herr Kollege Feibel, zunächst ist darauf hinzuweisen,
dass gemäß § 293 Abs. 4 SGB VI die Erfüllung der ge-
setzlichen Veräußerungspflicht vorrangig von der Bun-
desversicherungsanstalt für Angestellte zu bewirken ist.
Insbesondere im Interesse der Beitragszahler beinhaltet
der Gesetzesauftrag die Forderung, den Verkauf wirt-
schaftlich zu gestalten. Ein Veräußerungsverfahren sollte
nur dann eingeleitet werden, wenn wirtschaftlich ange-
messene Rahmenbedingungen auf den Immobilienmärk-
ten zu erwarten sind.
Vor dem Hintergrund, dass zum Beispiel in den Ländern
Nordrhein-Westfalen und Berlin – dort befinden sich zwei
Drittel der GAGFAH-Wohnungen, nach denen Sie fragen –
bereits große Wohnungsbestände auf dem Markt zum Ver-
kauf angeboten werden, hat der Vorstand der Bundesversi-
cherungsanstalt für Angestellte beschlossen, ein neutrales
Gutachten zur Analyse der Marktchancen einzuholen. Das
Gutachten soll die Ermittlung der wertbeeinflussenden
Faktoren und die sich daraus ableitenden Verwertungs-
chancen in einem neuen Bieterverfahren umfassen.
Das Gutachten wird nach Auskunft der Bundesversi-
cherungsanstalt für Angestellte in Kürze vorliegen. Erst
auf der Grundlage der Ergebnisse des Gutachtens kann
dann entschieden werden, ob die Einleitung eines neuen
Bieterverfahrens erfolgversprechend ist.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Welche Kriterien, Herr Staatssekretär, sind für Ihre
Feststellung ausschlaggebend, dass die Immobilien im-
mer mehr und nicht immer weniger wert werden? Eigent-
lich wurde schon im März dieses Jahres vom Bundes-
rechnungshof angemahnt, dafür Sorge zu tragen, dass
diese Immobilien veräußert werden.
F
Herr Kollege Feibel, es hat im April dieses Jahres im
Haushaltsausschuss auf der Basis von Anträgen Ihrer
Fraktion und der Koalitionsfraktionen eine Diskussion
um den Verkauf der GAGFAH gegeben. Man hat sich ein-
vernehmlich darauf verständigt, dass die Bundesversiche-
rungsanstalt für Angestellte gebeten werden sollte,
schnellstmöglich wieder ein Bieterverfahren einzuleiten.
Man war sich auch darüber einig, dass man die vorhande-
nen Werte nicht einfach so auf dem Markt verkaufen
sollte, sondern dafür auch ein anständiger und vernünfti-
ger Gegenwert geboten werden müsste.
Ich habe in der Antwort auf Ihre Frage vorhin darzu-
stellen versucht, dass man natürlich auch die Marktbedin-
gungen in den jeweiligen Regionen einschätzen muss. Sie
wissen, wie sich die Marktbedingungen in Berlin und
Nordrhein-Westfalen insbesondere vor dem Hintergrund
von Wohnungsleerständen entwickelt haben. Derartige
Kriterien sollen jetzt von einem Dienstleistungsanbieter
abgefragt werden, der dann ein entsprechendes Gutachten
als Voraussetzung für ein vernünftiges Bieterverfahren
der BfA vorlegen wird.
Weitere Zusatzfrage? – Bitte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Angesichts der demographischen Entwicklung wird
sich die Situation wahrscheinlich nicht, wie Sie es erwar-
ten, bessern, sondern eher verschlechtern. Glauben Sie,
dass Sie trotzdem noch weiter zuwarten können? Immer-
hin sollten die Immobilien gemäß der Forderung des Bun-
desrechnungshofes schon im März neu ausgeschrieben
werden. Jetzt haben Sie zugewartet und es ist schon No-
vember; es sind also acht Monate ins Land gegangen.
Glauben Sie, dass ein weiteres Zuwarten die Lage ver-
bessert? Oder sind Sie nicht vielmehr mit mir der Mei-
nung, dass sich die Erlössituation eher verschlechtern
wird?
F
Ich teile Ihre pessimistische Sichtweise nicht. Viel-
mehr richte ich mein Augenmerk darauf, dass der Haus-
haltsausschuss im April – Sie sprechen immer von März –
beschlossen hat, den Bericht des Bundesrechnungshofes
zur Kenntnis zu nehmen und die Bundesregierung und die
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte aufzufordern,
ihrer gesetzlichen Pflicht zur Veräußerung der GAGFAH
nachzukommen, die Vorbereitungen für ein neues Bieter-
verfahren zu treffen und – das war der dritte Punkt – dazu
Stellung zu nehmen, ob eine Erhöhung der Bruttodivi-
dende möglich ist.
Im April ist also dieser Auftrag erfolgt; im August hat
die BfA den Auftrag an einen Dienstleister gegeben, ein
Gutachten als Basis für die Ausschreibung zu erstellen,
und in Kürze – ich gehe von Ende des Jahres aus – wird
dieses, wie ich Ihnen gerade gesagt habe, vorliegen. Da-
nach kann man zu den Kriterien Stellung nehmen und auf
dieser Basis Einschätzungen vornehmen. Wir sehen das
zurzeit nicht so negativ wie Sie und wollen erst einmal ab-
warten, was im Gutachten stehen wird.
Wir kommen damit zur Frage 22 des Kollegen Feibel:
Um welchen Prozentsatz niedriger könnte die Anhebung der
Beiträge für die Rentenversicherung ausfallen, wenn die Bundes-
versicherungsanstalt für Angestellte die GAGFAH veräußert und
damit der gutachterlich festgestellte Ertragswert von rund 3,2 Mil-
liarden DM – 1,7 Milliarden Euro – realisiert wird und zur Entlas-
tung dieses Sozialversicherungsträgers beiträgt?
F
Die Veräußerung der GAGFAH zu einem gutachterlich
festgestellten Ertragswert von 1,6 Milliarden Euro hätte
keine Auswirkung auf den Beitragssatz der Rentenversi-
cherung, da der Wert der Gesellschaft bereits in der
Schwankungsreserve enthalten ist und damit bei der Be-
rechnung des Beitragssatzes berücksichtigt wird.
Bitte schön.
Der Bundesrechnungshof geht nicht davon aus, dass
dieser Wert in die Schwankungsreserve Eingang gefun-
den hat. Sie müssten mir Ihre Information schon näher er-
läutern und begründen, woraus Sie dies folgern.
F
Der Wert der GAGFAH ist in der Schwankungsreserve,
die sich in einen liquiden und einen nicht liquiden Teil
aufgliedert, enthalten. Wir haben gestern eine sehr um-
fangreiche Anhörung im Ausschuss für Gesundheit und
soziale Sicherung des Deutschen Bundestages gehabt, in
der wir uns mit den Vorhaben der Bundesregierung zur
Änderung und zur Stabilisierung der Rentenbeitragssätze
befasst haben. Mir ist ausdrücklich von den Sachverstän-
digen, aber auch von der BfAund vom Verband Deutscher
Rentenversicherungsträger bestätigt worden, dass dieser
Komplex in der Schwankungsreserve enthalten ist.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Wenn der Erlös dieser Veräußerung der BfA zugeführt
würde, in welchem Umfang hätte dann – auch das war Be-
standteil der Frage – auf eine Erhöhung des Rentenbeitrages
verzichtet werden können? Können Sie dazu etwas sagen?
F
Ich habe gerade deutlich gemacht, dass, wenn die
GAGFAH zu dem Wert, zu dem sie zurzeit in der Liqui-
ditätsreserve enthalten ist, verkauft werden würde, dies
keine Auswirkungen auf den Beitragssatz hätte, den wir
nun neu festlegen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Frage 23 soll schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zur Frage 24 des Abgeordneten Detlef
Parr, FDP:
Wie steht die Bundesregierung dazu, den Besitz von
10 Gramm Cannabis freizustellen, während die Berliner Justizse-
natorin Karin Schubert in der „Berliner Morgenpost“ vom 6. No-
vember 2002 15 Gramm vorschlägt, und auf welchen
wissenschaftlichen oder anderen Grundlagen stehen diese unter-
schiedlichen Bewertungen?
Frau Kollegin Caspers-Merk steht zur Beantwortung
zur Verfügung.
M
496
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 497
Herr Kollege Parr, die Bundesregierung beabsichtigtnicht, den Besitz von 10 Gramm Cannabis freizustellen.Ich habe als Drogenbeauftragte der Bundesregierung le-diglich darauf hingewiesen, dass laut einer Studie, die dasBundesgesundheitsministerium bereits im Jahre 1997 inAuftrag gegeben hat, nach der gegenwärtigen Rechtspra-xis die geringe Menge, die zu einer Einstellung des Ver-fahrens geführt hat, im Durchschnitt in über 80 Prozentder Fälle bei höchstens 6 Gramm und in mehr als 90 Pro-zent der Fälle bei höchstens 10 Gramm liegt. Die Praxishat also gezeigt, dass sich das Ganze in der Größenord-nung von 6 bis 10 Gramm einpendelt.Dies sind aber Zahlen von 1997. Deswegen hat dieBundesregierung in Abstimmung zwischen dem Bundes-justizministerium und dem Bundesministerium für Ge-sundheit und soziale Sicherung nun einen neuen Anlaufgenommen und noch für den November eine Abfrage beiden Ländern dazu veranlasst, wie die jetzige Einstel-lungspraxis aussieht und ob gegebenenfalls, wenn diesePraxis sehr unterschiedlich sein sollte, Handlungsbedarfbesteht. Wir gehen davon aus, dass uns die Ergebnissespätestens im Oktober 2004 vorliegen werden. Es ist einesehr umfangreiche Studie, weil wir auch nach den Konse-quenzen der strafrechtlichen Praxis für die Prävalenzzah-len und für die aktuellen Konsumtrends unter Jugendli-chen fragen. Mit dieser Studie ist das Max-Planck-Institutfür ausländisches und internationales Strafrecht in Frei-burg beauftragt worden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Parr.
Frau Staatssekretärin, wie ich einem „Länderspiegel“-
Beitrag entnehmen konnte, gibt es jetzt Doppeltestgeräte,
mit denen man Drogenschnelltests durchführen kann.
Außer in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpom-
mern sind diese Geräte bundesweit im Einsatz. Sind Ihnen
Erfahrungen mit diesen Testgeräten und hinsichtlich des
damit verbundenen Umgangs mit den Ergebnissen be-
kannt? Wir sind uns einig in der Frage der bundeseinheit-
lichen Festlegung der Mengen, die eine einheitliche
Rechtsprechung ermöglicht.
M
Herr Kollege Parr, Sie sprechen jetzt einen anderen
Sachverhalt an, nämlich die Fahrerlaubnis-Verordnung
und die Rechtspraxis beim Autofahren. Wir haben hier un-
terschiedliche Kontrolldichten bei den Landespolizeien.
Einige der Landespolizeien arbeiten mit diesen neuen
Testgeräten, mit denen man Drogentests auf sehr schnel-
lem Wege durchführen kann.
Die Federführung in diesem Bereich liegt, soweit sie das
Thema Fahrerlaubnis-Verordnung betrifft, natürlich beim
Infrastruktur- und Verkehrsministerium, nicht bei uns. Ich
habe aber angeregt, dazu eine Expertenrunde einzuladen,
um sich die Sicherheit der neuen Drogenschnelltestmög-
lichkeiten darlegen zu lassen und vielleicht auch zu über-
legen, welche Konsequenzen diese für die Fahrerlaubnis-
Verordnung haben.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kollege? – Bitte schön.
Ich frage ergänzend, Frau Staatssekretärin, ob die Bun-
desregierung in Bezug auf den Einsatz der Testverfahren,
die jetzt möglich sind und in den Ländern offensichtlich, un-
terschiedlich intensiv, eingesetzt werden, beabsichtigt, mit
Blick auf die Vorbeugung etwas Druck zu machen. Denn ich
denke, wenn junge Leute wissen, dass, wenn sie in den Mor-
genstunden die Diskothek verlassen, ihr Ecstasy- oder
Cannabiskonsum sehr schnell durch die Polizei festgestellt
werden kann, kann dies eine abschreckende Wirkung haben.
M
Herr Kollege Parr, ich bin sehr dankbar für diese Zu-
satzfrage, denn sie gibt mir Gelegenheit, darzulegen, dass
wir in dem Punkt Frühintervention und Aufklärung
viel machen. Es gibt ein Bundesmodellprojekt zur Früh-
intervention erstauffälliger Drogenkonsumenten – FRED
heißt das abgekürzt –, in dem wir alle erfassen, die das
erste Mal mit Drogen in Kontakt kommen und bei der Po-
lizei auffällig werden. Wenn ermittelt wird und sich he-
rausstellt, dass es sich nur um eine geringe Menge Drogen
zum Eigenkonsum handelt, werden in aller Regel die Er-
mittlungen eingestellt.
In dieser Phase der Unsicherheit bieten wir speziell
diesen Jugendlichen ein Seminar an, in dem ein Gruppen-
gespräch geführt wird. Für uns ist sehr interessant, dass
diese Jugendlichen oft noch keine Risikodiskussionen ge-
führt haben. Das wird in der Gruppe nachgeholt. Erstens
wird sehr intensiv über das Thema Risiken im Straßen-
verkehr diskutiert. Zweitens wird über die Folgen des
Ecstasy-Konsums aufgeklärt. Sie wissen, dass es hier ein
großes Informationsdefizit gibt, weil viele meinen: Früher
habe ich eine Pille gegen Kopfschmerzen genommen,
heute nehme ich eine, um glücklich zu sein – was ist der
Unterschied, wo liegt das Risiko? Auch über die langfris-
tigen Folgen – es gibt ja neue Erkenntnisse zum Thema
Parkinson – wird geredet.
Über all diese Fragen wird also eine sehr intensive
Risikodebatte geführt. Acht Bundesländer haben sich an
diesem Modellprojekt beteiligt. Wir werden die Ergeb-
nisse dieses Projekts im Frühjahr nächsten Jahres auswer-
ten und dann gegebenenfalls überlegen, wie wir unsere
Präventionsanstrengungen verbessern können.
Zusatzfrage, Herr Kollege van Essen.
Frau Staatssekretärin, ich habe mit Interesse gehört, dassdas Max-Planck-Institut in Freiburg beauftragt werden soll.Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Jörg van EssenVor dem Hintergrund, dass ein Gutachten zur Frage desAbhörens von Telefonaten, das bei diesem Institut in Auf-trag gegeben wurde, inzwischen mehrjährig verspätet ist,frage ich, ob es nicht sinnvoll wäre, einen neuen Auftrag andieses Institut erst dann zu vergeben, wenn frühere Auf-träge endlich erledigt sind? Die Bundesregierung und derRechtsausschuss warten nämlich dringend auf das Ergeb-nis dieses früheren Gutachtens.M
Herr Kollege, Sie erwischen eine südbadische Abge-
ordnete bei dieser Frage natürlich voll. Ich kann Ihnen nur
zustimmen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass das bei
diesem neuen Gutachten nicht passiert. Es handelt sich
um eine andere Fachabteilung, die diesmal das Gutachten
erstellt, die auch Vorerfahrungen hat. Diese Abteilung hat
bereits zwei Gutachten abgeliefert, zum Beispiel eine in-
ternationale Studie zu den neuen Drogenrouten, die sich
über den ganzen Bereich der ehemaligen Sowjetunion
entwickelt haben; beim Drogenkonsum in diesen südost-
europäischen Staaten haben sich ja neue Strukturen he-
rausgebildet. Mit den Ergebnissen dieser Studie waren wir
sehr zufrieden. Deswegen erfolgte vor diesem Hinter-
grund die Vergabe. Ich danke Ihnen aber für den Hinweis
und werde mich persönlich darum kümmern, dass die Er-
gebnisse rechtzeitig vorliegen.
Weitere Fragen liegen hierzu nicht vor. Vielen Dank,
Frau Staatssekretärin.
Wir kommen als nächstes zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische
Staatssekretärin Gleicke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 25 des Kollegen Grund auf:
Wann wird die Bundesregierung die Finanzierungsverein-
barung mit der Deutschen Bahn AG, DB AG, aktualisieren, in der
der Weiterbau der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, hier Pro-
jekt 8.1 und 8.2 ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt–Berlin, in Thürin-
gen festgeschrieben wird, und welche Maßnahmen können vor
dieser Unterzeichnung durchgeführt werden?
I
Herr Abgeordneter Grund, zum Projekt VDE 8.1 be-
steht eine Finanzierungsvereinbarung, auf deren Grund-
lage die weitergehenden Baumaßnahmen finanziert wer-
den können. Daher hat die Anpassung des Bauzeiten- und
Finanzierungsplanes an die verlängerte Bauzeit für die
Fortführung der Bauarbeiten keine Auswirkungen.
Zum VDE 8.2 wird derzeit eine Finanzierungsverein-
barung für den Abschnitt Gröbers–Erfurt erarbeitet. Mit
der Unterzeichnung der Vereinbarung ist im Jahre 2003 zu
rechnen.
Zusatzfrage?
Zunächst, Frau Kollegin Gleicke, wünsche ich Ihnen
alles Gute für Ihre Aufgabe in Ihrem neuen Amt im Bun-
desministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Unser gemeinsames Heimatland Thüringen, in der
Mitte Deutschlands liegend, ist natürlich auf eine gute In-
frastruktur angewiesen. Die ICE-Trasse gehört mit dazu.
Ich entnehme Ihren Worten, dass die Bundesregierung
nicht beabsichtigt, wie 1998 leider geschehen, diese Maß-
nahme des Infrastrukturprojekts auf den Prüfstand zu stel-
len, sondern an einer zügigen Realisierung interessiert ist.
Was steht eigentlich dem Abschluss der Finanzierungs-
vereinbarung für das VDE-Projekt 8.2 im Wege? Ich frage
deshalb noch einmal nach, weil uns mehrfach in Aussicht
gestellt wurde, dass der Abschluss im Sommer, spätestens
aber im Oktober erfolgt. Gibt es hier Probleme seitens der
Deutschen Bahn AG oder der Bundesregierung? Woher
kommt die Verzögerung?
I
Die Verzögerung resultiert aus noch nicht abgeschlos-
senen Detailplanungen.
Weitere Zusatzfrage.
Ein Beschluss des Vorstandes der Deutschen Bahn AG,
der die Finanzierung der Projekte 8.1 und 8.2 betrifft, be-
inhaltet möglicherweise nicht mehr die flexible Disponie-
rung von Mitteln, wie sie bisher bei Infrastrukturprojek-
ten mit hoher Priorität zu finden waren. Kann es also sein,
dass die Beschlusslage der Deutschen Bahn AG Probleme
macht?
I
Ich will auf folgenden Punkt hinweisen: Für das Pro-
jekt 8.1 gibt es eine Finanzierungsvereinbarung. Sie muss
nur an die geänderten Zeitabläufe angepasst werden. Be-
zogen auf das Projekt 8.2 kann ich sagen, dass die Strecke
zwischen Leipzig und Gröbers im nächsten Jahr fertig ge-
stellt sein wird. Die Bahn arbeitet an einer Vereinbarung,
damit der Bau der Strecke zwischen Gröbers und Erfurt
sichergestellt ist. Nachdem der Bundeskanzler die Ent-
scheidung zum Weiterbau bekannt gegeben hat, betreibt
die Bahn selbstverständlich die Fortführung dieser Maß-
nahme.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Blank.
Frau Staatssekretärin, der Bundeskanzler hat zwar dieZusage gegeben, dass die Trasse zwischen Nürnberg und
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 499
Erfurt gebaut wird. Könnte es aber nicht sein, dass die Fi-nanzierungsvereinbarung noch weiter hinausgeschobenwird? Es ist ja bekannt, dass die Grünen im DeutschenBundestag und auch die bayerische SPD dieses Projektnicht wollen. Dies ist vielleicht der Grund, warum dasProjekt immer weiter hinausgeschoben wird.Da wir uns nicht weiter vertrösten lassen wollen, frageich Sie: Könnten Sie etwas mehr ins Detail gehen und unsmitteilen, was die Verzögerung – ursprünglich war vomSommer und dann vom Oktober 2002 die Rede; nun spre-chen Sie vom Jahr 2003 – hervorgerufen hat? Könnten Sieeine detailliertere Auskunft geben, warum es diese wei-tere Verzögerung gibt?I
Frau Kollegin Blank, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu neh-
men, dass es bei einem derartigen Bauvorhaben mit einer
nicht ganz unkomplizierten Topographie – Sie wissen,
dass die Strecke über ehemalige Bergbaugebiete und über
den Kammzug des Thüringer Waldes führt – zu Pla-
nungsverzögerungen kommen kann. Damit sind auch die
Schwierigkeiten der Bahn zu erklären, die Finanzierungs-
vereinbarung vollständig zu erarbeiten. Darin liegt der
Grund für die Verzögerung. Das bedeutet aber nicht – das
steht fest –, dass das Projekt nicht vorangetrieben und zu
Ende gebracht wird.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Bestehen die Probleme in der Detailplanung aufgrund
technischer Schwierigkeiten, die von der DB AG zu ver-
antworten sind, oder aufgrund finanzieller Fragen, in de-
nen man sich mit der DB AG nicht einig ist?
I
Die Deutsche Bahn AG ist ein privates Unternehmen.
Das heißt, sie plant dieses Projekt in eigener Verantwor-
tung und beantragt beim Bund die Geldmittel. Der Bund
wird im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung die
Mittel auf Antrag der DB AG ordnen.
Nächste Zusatzfrage, Frau Nolte, bitte.
Frau Staatssekretärin, vor dem Hintergrund der Be-
merkungen von Mitgliedern der Koalitionsfraktionen ver-
stehen Sie sicherlich unsere Skepsis, was das Verkehrs-
projekt „Deutsche Einheit“ 8.2 anbelangt. Ich habe
deshalb die Bitte, dass Sie einmal konkret sagen, wann Sie
mit einer abschließenden Finanzierungsvereinbarung
rechnen. Könnte es sein, dass aufgrund der neuen Steuer-
schätzungen, die heute veröffentlicht wurden, wiederum
Verzögerungen mit längeren Zeitabläufen entstehen oder
dass die Fertigstellung des Projekts vielleicht auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird?
I
Frau Kollegin Nolte, ich kann verstehen, dass Sie nach-
fragen. Noch im Herbst hatte ich die Information, dass die
Vereinbarung abgeschlossen werden kann. Ich gebe ehr-
lich zu, dass die Verzögerung nicht schön ist. Wir können
es aber im Moment nicht ändern. Diese Verzögerung wird
allerdings nicht dazu führen, dass es zu Verzögerungen
beim Baufortschritt kommt. Wie Sie wissen, ist mit dem
Bau der Strecke schon vorzeitig begonnen worden.
Man kann nur eine Zusatzfrage stellen, wenn man nicht
selber eine Frage eingereicht hat.
– Es liegt in der Kunst nicht nur der Fragestellung, son-
dern auch der Beantwortung, das so oder so zu handha-
ben. Ich will mich möglichst eng an die Bestimmungen
unserer Geschäftsordnung halten. Bei der nächsten Frage
gibt es ja neue Möglichkeiten.
Ich rufe die Frage 26 des Kollegen Manfred Grund auf,
die sich erkennbar dem gleichen Gegenstand widmet:
An welchen Streckenabschnitten der oben beschriebenen Ver-
kehrsprojekte wird zurzeit gearbeitet und wann rechnet die Bun-
desregierung mit der Inbetriebnahme des durchgängigen Ver-
kehrs?
I
Herr Abgeordneter Grund, beim Verkehrsprojekt
„Deutsche Einheit“ 8.1 wurde vor kurzem mit den Bauar-
beiten zur Westeinfahrt Erfurt begonnen. Beim VDE 8.2
ist, wie ich schon erwähnt hatte, der Abschnitt Leip-
zig–Gröbers kurz vor der Fertigstellung. Nach den aktu-
ellen Einschätzungen soll eine durchgängige Realisierung
bis 2015 erfolgen. Soweit möglich, wird seitens des Bun-
des eine frühere Fertigstellung angestrebt, was jedoch
vom erreichbaren Baufortschritt abhängt.
Herr Kollege Grund.
Frau Staatssekretärin, bis 2015 ist ein langer Zeitraum.Es war schon einmal 2012 im Gespräch; auch das ist weithin. Unsere Lebensentwürfe sind endlich. Sie werdenRenate Blank
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Manfred Grundverstehen, dass wir darauf drängen, dass diese Maßnahme,die für die Infrastruktur Thüringens wichtig ist, möglichstzügig abgearbeitet wird.Wenn ich Sie richtig verstehe, ist beim VDE-Projekt8.1 sowohl das Baurecht gegeben als auch eine gültige Fi-nanzierungsvereinbarung getroffen worden, sodass andiesem Abschnitt bis zur Westeinfahrt am Bahnhof Erfurtzügig gebaut werden könnte. Der gesamte Baufortgangder letzten vier Jahre ist nur eine Abarbeitung dessen ge-wesen, was bis 1998 begonnen worden ist. Es ist nichtsNeues hinzugekommen. Warum wird am Abschnitt 8.1,für den zum einen Baurecht besteht und dessen Finanzie-rung zum anderen geklärt ist, nicht zügig weitergearbeitet?I
Herr Abgeordneter Grund, es wird, wie Sie wissen, am
Abschnitt 8.1 gebaut. Seit dem 16. April 1996 wird der
Abschnitt Erfurt–Ilmenau – das ist entlang der Bünde-
lungstrasse – gebaut. Die Fertigstellung ist bis 2006
geplant. Es gibt außerdem Maßnahmen im Abschnitt
Ilmenau–Ebensfeld, die besonders dringlich sind – Sie
sprachen das an – und wofür Baurecht besteht. Hier wird
zügig weitergeplant, damit das Baurecht erhalten bleibt.
Weitere Zusatzfrage?
Eine Nachfrage hätte ich noch; denn ich würde gern ei-
nen Vergleich zu der ICE-Trasse ziehen, die zwischen
Frankfurt und Köln gebaut worden ist. Diese Strecke ist
bei einer Verdoppelung der Baukosten zügig gebaut wor-
den. Ausgerechnet der Bau der Trasse, die durch Thürin-
gen, durch die neuen Bundesländer, führt und die nicht
nur für die Infrastruktur Thüringens, sondern auch für die
Anbindung an Berlin wichtig ist, wird regelrecht ver-
schleppt. Gibt es dafür vonseiten der Bundesregierung
eine Erklärung?
I
Die Strecke des ICE-Projektes 8.1 und 8.2 wird wei-
tergeplant und soll zügig gebaut werden. Ich habe dazu
entsprechende Ausführungen gemacht. Von Verschlep-
pung kann man hier nicht sprechen.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Blank.
Frau Staatssekretärin, wenn dieses Projekt aus Sicht
der Bundesregierung jetzt nun doch eine große Wichtig-
keit und Bedeutung erhält, können Sie mir dann sagen,
warum für die ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt im entspre-
chenden Investitionsprogramm damals nur 5 Millio-
nen DM vorgesehen worden sind und diese Maßnahme
weder im Anti-Stau-Programm noch im Programm
„Bauen-jetzt – Investitionen beschleunigen“ enthalten
ist? Denn wie wollen Sie den Bau dieser Trasse bis 2012
bzw. 2015 beenden, wenn in der nächsten Zeit in den
dafür infrage kommenden Programmen kein Geld vorge-
sehen wird?
I
Frau Abgeordnete Blank, ich habe vorhin darauf auf-
merksam gemacht, dass der Bund die Mittel natürlich zu-
ordnen muss. Warum diese Maßnahme nicht im Anti-
Stau-Programm enthalten ist, das wissen Sie. Da geht es
um Lückenschlüsse, um Engpassbeseitigungen. Wir wer-
den all das uns Mögliche tun, um im weiteren Fortschritt
die einzelnen Finanzanteile den einzelnen Jahren zuzu-
ordnen.
Nun kann Frau Kollegin Nolte die Zusatzfrage stellen,
die sie schon vorhin gerne stellen wollte.
Herr Präsident, um es zu umgehen, wieder eine solche
Antwort zu bekommen, werde ich eine andere Frage stel-
len.
Frau Staatssekretärin, Sie sprachen die Bündelungs-
strecke zwischen Erfurt und Ilmenau an. Haben Sie ei-
gentlich Zahlen greifbar, was der dreijährige Baustopp an
Zusatzkosten verursacht hat?
I
Nein, im Moment nicht. Ich kann Ihnen das aber gerne
nachliefern.
Die Fragen 27 und 28 der Kollegin Tillmann werden
schriftlich beantwortet.
Dann rufe ich jetzt die Frage 29 des Kollegen Vogel
auf:
Welche Mittel stellt die Bundesregierung in den Jahren 2003
und 2004 für Baumaßnahmen an den Verkehrsprojekten „Deut-
sche Einheit“, hier Projekt 8.1 und 8.2 ICE-Trasse Nürnberg–Er-
furt–Berlin, zur Verfügung?
I
Herr Abgeordneter Vogel, für das Projekt VDE 8.1 sindfür das Jahr 2003 104,8 Millionen Euro und für das Jahr2004 114Millionen Euro vorgesehen. Für das Projekt 8.2,Abschnitt Leipzig–Gröbers, sind aufgrund der bevorste-henden Fertigstellung in 2003 lediglich noch 2,9 Millio-nen Euro vorgesehen. Zum Neubauabschnitt Gröbers–Er-furt können derzeit noch keine Angaben gemacht werden,
500
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 501
da die Deutsche Bahn AG noch an der Finanzierungsver-einbarung mit einem entsprechenden Finanzierungsplanarbeitet.
Herr Kollege Vogel, eine Zusatzfrage.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Wir hatten ja be-
reits heute Morgen im Ausschuss Gelegenheit, uns als
Thüringer begrüßen zu dürfen. Gestatten Sie mir eine
Nachfrage: Bei der Beantwortung der Fragen sind Sie
schon darauf eingegangen, dass es sich um sehr kompli-
zierte Planungsleistungen und Genehmigungsverfahren
handelt. Ist es, wenn diese Probleme abschließend gelöst
sind, gegebenenfalls möglich, dass die Bundesregierung
zusätzliche Mittel zur Verfügung stellt, um die Realisie-
rung des Gesamtvorhabens schnell voranzubringen – und,
wenn ja, in welcher Höhe?
I
Herr Abgeordneter Vogel, Frau Kollegin Nolte hat vor-
hin selber darauf hingewiesen, wie schwierig die Haus-
haltslage ist. Ich halte nichts davon, Versprechungen zu
machen, deren Einhaltung ungewiss ist. Wir sollten vor-
rangig bemüht sein, die Realisierung dieses Bauvorha-
bens so schnell wie möglich abzuschließen.
Herr Kollege Vogel, haben Sie noch eine weitere Zu-
satzfrage? – Gerne.
Wie Sie selbst sagen, ist die finanzielle Situation
schwierig und die Bewältigung des Gesamtvorhabens
technisch sehr anspruchsvoll. Deswegen die Frage: Wie
oft informiert sich die Bundesregierung über den Bau-
fortschritt des Gesamtvorhabens und über die entstande-
nen bzw. zu erwartenden Kosten?
I
Herr Kollege Vogel, natürlich informieren wir uns re-
gelmäßig über den Baufortschritt. Glauben Sie es mir: Ich
als Thüringerin schaue des Öfteren selber nach, was an
dieser Strecke passiert.
Zusatzfrage des Kollegen Grund.
Fr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Welche Summe ist bisher
verbaut worden und von welchen noch anstehenden Kos-
ten gehen Bundesregierung und Deutsche Bahn AG aus,
bis das Projekt im Jahre 2015 realisiert ist?
I
Ich habe hier lediglich eine Gesamtkostenaufstellung
vorliegen, Herr Kollege Grund. Ich kann das jetzt so
schnell nicht zusammenrechnen. Vielleicht können wir
das, wenn Sie einverstanden sind, gleich bilateral klären.
Nächste Zusatzfrage, Frau Kollegin Blank.
Frau Staatssekretärin, da diese ICE-Trasse Nürnberg–Er-
furt nicht nur für Thüringen, sondern natürlich auch für
Bayern und für ganz Deutschland von Bedeutung ist
– zumindest europaweit, Kollege Grund –, erlaube ich mir
noch eine Detailfrage: Die Bundesregierung hat in der
letzten Legislaturperiode das S-Bahn-Projekt Nürn-
berg–Forchheim vom Neubau der ICE-Trasse abgekop-
pelt. Dieses S-Bahn-Projekt ist jetzt im Grunde genom-
men auf Eis gelegt. Meine Frage: Ist die Bundesregierung
nach wie vor dazu bereit, das S-Bahn-Projekt Nürn-
berg–Forchheim abgekoppelt vom Bau der ICE-Trasse
Nürnberg–Erfurt – der, wie wir gehört haben, noch etwas
dauern wird – zu sehen und seine Finanzierung weiter im
Programm zu belassen?
I
Frau Abgeordnete Blank, auf der Ausbaustrecke Nürn-
berg–Ebensfeld – das ist der Abschnitt Nürnberg–Forch-
heim – wird mit den Mitteln aus dem Anti-Stau-
Programm in Höhe von rund 204 Millionen Euro sicher-
gestellt, dass die Realisierung der notwendigen Zusam-
menhangsmaßnahmen, insbesondere der viergleisige
Ausbau zwischen Nürnberg und Fürth und der Ausbau der
S-Bahn-Strecke Nürnberg–Forchheim, ab 2003 finanziert
werden kann. Die Finanzierungsvereinbarung hierzu be-
findet sich auch in der Vorbereitung.
Nun rufe ich die Frage 30, die ebenfalls vom Kollegen
Vogel stammt, auf:
Welche Vorhaben plant die Bundesregierung in den Jahren
2003 und 2004 als Baumaßnahmen für die Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2 und handelt es sich dabei um
punktuelle baurechtserhaltende Maßnahmen oder um den fakti-
schen Weiterbau?
I
Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Parl. Staatssekretärin Iris GleickeHerr Abgeordneter Vogel, die Bundesregierung finan-ziert die Investitionen in das Schienennetz des Bundes.Die konkrete Umsetzung obliegt der Deutschen Bahn AGim Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit ausgerich-tet an den konkreten Notwendigkeiten vor Ort. Die Bun-desregierung geht entsprechend ihrer Entscheidung zumWeiterbau davon aus, dass nunmehr der vollständigeAusbau erfolgt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Vogel.
Frau Staatssekretärin, können Sie als Bundesregierung
damit ausschließen, dass die Bahn nur bestimmte Maß-
nahmen fortführt, damit das Baurecht oder andere Ge-
nehmigungen nicht verloren gehen?
I
Herr Kollege Vogel, ich habe das vorhin schon einmal
gesagt: Es gibt vorzeitige Baubeginne an den Stellen, an
denen das Baurecht erhalten wird. Aber wir gehen selbst-
verständlich davon aus, dass die Bahn selbst ein Interesse
daran hat, die Strecke insgesamt zu Ende zu bauen.
Gibt es eine weitere Zusatzfrage?
Ja. – Sehen Sie die Bahn aus jetzigem Kenntnisstand –
es klingt ja recht deutlich, dass die Bahn in der Lage ist,
das Gesamtvorhaben tatsächlich zu Ende zu bringen – mit
ihren finanziellen Mitteln in der Lage, das Ganze tatsäch-
lich zum Abschluss zu bringen, oder muss hier nachge-
schossen werden?
I
Ich sehe die Bahn sehr wohl in der Lage, das zu Ende
zu bringen.
Herr Kollege Kranz, ich bitte um Nachsicht, dass ich
Sie vorhin offenkundig übersehen habe. Falls sich Ihre
Zusatzfrage auf die vorherige Frage beziehen sollte, wer-
den wir das selbstverständlich großzügig handhaben.
Danke, Herr Vorsitzender. – Da sich die CDU Thürin-
gen ja sehr für die Erweiterung des Schienennetzes be-
sonders in Thüringen interessiert, möchte ich betonen,
dass auch wir als SPD uns dafür einsetzen.
Frau Staatssekretärin, könnten Sie einmal, da die
Schienenverbindung, um die es gerade ging, also Ber-
lin–Erfurt, besonders wichtig für uns ist, darstellen, wie
sie sich in das gesamte Netzausbauprogramm der
Bahn AG eingliedert?
I
Der Bundeskanzler hat am 10. März 2002 öffentlich
verkündet, dass die Strecke 8.1 weitergebaut wird. Die
Deutsche Bahn AG hat diesen Ausbau begrüßt und be-
treibt die Planung und den Weiterbau auch in Bezug auf
die Finanzierung. Dieses Vorhaben in Thüringen ist ein
sehr großes und teures Projekt, das sich natürlich in die
Planungen der Deutschen Bahn AG in Thüringen, was das
Schienennetz betrifft, einzuordnen hat.
Herr Kollege Grund.
Wir freuen uns im Interesse nicht nur des Landes
Thüringen, sondern auch der Bahnkunden natürlich über
jeden Verbündeten, wenn es darum geht, diese Strecke zu
realisieren. Wir freuen uns ferner über jeden, der, auch
wenn er in den letzten vier Jahren etwas abseits stand, jetzt
dabei ist, wenn es darum geht, das Projekt voranzubringen.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gesagt, dass die Deut-
sche Bahn AG ein Interesse am zügigen Weiterbau dieser
Strecke hat. Wie lässt sich denn die Bundesregierung von
der Bahn unterrichten bzw. wie unterrichtet die Deutsche
Bahn AG die Bundesregierung über den Fortgang der
Baumaßnahmen?
I
Sie wissen, dass ein beamteter Staatssekretär des Ver-
kehrsministeriums im Aufsichtsrat der Bahn sitzt. Die re-
gelmäßigen Informationen laufen ganz normal über die
Abteilungen des Hauses.
Frau Kollegin Nolte.
Bei der Inaussichtstellung, dass bereits im Jahre 2015
Züge dort entlangrollen können, ist für mich die Frage in-
teressant, was die Bundesregierung tun wird, um die
ganze Zeit über Baurecht sicherzustellen, also um zu ver-
hindern, dass es verfällt und nicht mehr gültig ist.
I
Es ist sichergestellt, dass das Baurecht dort, wo esschon vorhanden ist, nicht verfallen wird, indem gebaut
502
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 503
wird. Ich gehe davon aus, dass das auch im Zuge des wei-teren Verlaufs der Maßnahme so erfolgt.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwor-
tung der Fragen.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung auf. Für die Beantwortung der Fragen steht Staatsse-
kretär Stather zur Verfügung.
Zunächst rufe ich Frage 31 der Kollegin Mayer auf:
Welche durchschnittliche jährliche Steigerungsrate des Mittel-
ansatzes im Einzelplan 23, Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, setzt die Bundesregierung
nach gegenwärtiger Kalkulation bis zum Jahre 2006 an, um die
Verpflichtung aus der Vereinbarung mit den EU-Mitgliedstaaten
vom Barcelona-Gipfel und aus der Koalitionsvereinbarung von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu erfüllen, den Anteil der deut-
schen Entwicklungsausgaben am Bruttonationaleinkommen, BNE,
auf 0,33 Prozent zu steigern?
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr verehrte Frau Abgeordnete, im Rahmen des Eu-
ropäischen Rates am 15. und 16. März 2002 haben die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Blick auf die
Konferenz in Monterrey beschlossen, dass sie bis zum
Jahre 2006 die durchschnittliche ODA-Quote auf 0,39 Pro-
zent anheben wollen. Die Bundesregierung hat sich ver-
pflichtet, den Anteil der deutschen Entwicklungshilfeaus-
gaben am Bruttonationaleinkommen bis zum Jahre 2006
auf 0,33 Prozent anzuheben. Dies spiegelt sich in der Ko-
alitionsvereinbarung, in der Regierungserklärung des
Bundeskanzlers sowie in der Finanzplanung des Bundes-
kabinetts, die noch in der alten Legislaturperiode be-
schlossen wurde, wider. Nach der jetzigen Finanzplanung
wird unser Anteil – ausgehend von 3,8Milliarden Euro im
Jahre 2003 – bis zum Jahre 2006 auf 4 Milliarden Euro im
Einzelplan 23 steigen.
Man muss jedoch wissen, dass die ODA-Quote ein Ge-
samtkunstwerk ist. Sie besteht aus den Leistungen des
Einzelplanes 23, sie besteht in erheblichem Umfang aus
den deutschen Leistungen an die Europäische Union, sie
besteht aus Anteilen anderer Ressorts, aus Anteilen der
Bundesländer und vor allen Dingen – und in den kom-
menden Jahren besonders verstärkt – aus der Entschul-
dungsinitiative und den daraus anfallenden Anteilen der
jeweiligen Haushalte. Auf der Basis der Finanzplanung
und der genannten Faktoren, die zum großen Teil Steige-
rungsraten vorsehen, gehen wir davon aus, dass wir die-
ses Ziel bis zum Jahre 2006 erreichen können.
Zusatzfragen, bitte schön.
Ich frage einmal ganz konkret nach: Wird die Bundes-
regierung in der kommenden Woche mit der Verabschie-
dung einer neuen Haushaltsvorlage eine mittelfristige
Finanzplanung beschließen, die gewährleistet, dass die
deutschen Entwicklungshilfeausgaben bis zum Jahre
2006 auf 0,33 Prozent steigen können?
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe die beschlossene Finanzplanung bereits ange-
sprochen. Das Bundeskabinett wird am 20. November den
Haushalt für das Jahr 2003 beschließen, den der Finanzmi-
nister vorlegen wird. Ich möchte dem Finanzminister und
auch den Beratungen durch die Bundesregierung nicht vor-
greifen, gehe aber davon aus, dass die Finanzplanung Be-
stand hat.
Ich rufe die Frage 32 des Kollegen Peter Weiß auf:
Hat die Festlegung in der Koalitionsvereinbarung von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, bis zum Jahr 2006 den Anteil der
deutschen Entwicklungshilfeausgaben am BNE auf 0,33 Prozent
zu steigern, zur Folge, dass der Mittelansatz für den Einzelplan 23
im Entwurf für den Nachtragshaushalt 2002 gegenüber dem der-
zeit geltenden Bundeshaushalt 2002 gesteigert wird?
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Fragen 32 und 33 gehören zusammen. Ich würde
sie gern zusammen beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 33 des Abgeordneten
Peter Weiß auf:
Hat die Festlegung in der Koalitionsvereinbarung von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, bis zum Jahr 2006 den Anteil der
deutschen Entwicklungshilfeausgaben am BNE auf 0,33 Prozent
zu steigern, zur Folge, dass der Mittelansatz für den Einzelplan 23
im neuen Entwurf für den Bundeshaushalt 2003 gegenüber dem
Mittelansatz im bisherigen Entwurf für den Bundeshaushalt 2003,
Bundestagsdrucksache 14/9750, gesteigert wird?
Er
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich beantworte die erste Frage mit Nein und die zweite
Frage mit Nein.
Jetzt gibt es gleich viermal die Möglichkeit, diesen
außergewöhnlich präzisen Antworten Nachfragen entge-
genzusetzen, bitte schön.
Herr Staatssekretär, obwohl Sie vorhin dargestellt ha-ben, wie sich die ODA-Quote zusammensetzt, müssen Siedoch zugeben, dass mit der mittelfristigen Finanzplanungbis zum Jahre 2006, da der Entwicklungshilfehaushalt auf3 960 Millionen Euro ansteigen soll, die ODA-Quote von0,33 Prozent keinesfalls erreicht werden kann.Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
PeterWeiß
Die anderen großen Blöcke, die Sie genannt haben, wiezum Beispiel der EU-Entwicklungshilfehaushalt, steigennach den Planungen, die die EU vorgelegt hat, nicht be-sonders an, sondern bleiben etwa gleich, sodass die ande-ren Argumente, die Sie zum Erreichen der Quote von0,33 Prozent brauchen, nicht ziehen. Sie müssen doch zu-geben, dass das 0,33-Prozent-Ziel nur zu erreichen ist,wenn der deutsche Beitrag zur Entwicklungshilfe, nämlichder Einzelplan 23, über das Maß hinaus gesteigert wird, dasderzeit in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen ist.E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt immer unterschiedliche Interpretationen. Ich
weiß nicht, welche Zahlen Ihnen vorliegen, aber die mir
vorliegenden Prognosen für den EU-Haushalt sagen ein-
deutig, dass eine Steigerung zu erwarten ist. Allein vom
Jahre 2001 auf das Jahr 2002 liegt eine Steigerung von
etwa 800 Millionen Euro auf 1,2 Milliarden Euro vor, um
eine konkrete Zahl zu nennen.
Die Anteile der Ressorts sowie die Anteile am Ge-
samtvolumen der Entschuldungsmaßnahmen sind auch
deutlich steigend. Das Gesamtvolumen beträgt etwa
6 Milliarden Euro, die die Bundesrepublik den Entwick-
lungsländern erlassen hat. Dies wird in den nächsten Jah-
ren deutlich spürbar werden. Diese können auf die ODA-
Quote voll angerechnet werden und werden zu einem
deutlichen Anstieg unserer ODA-Quote führen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Aufgrund unserer Kalkula-
tionen und Berechnungen, die wir auch zusammen mit an-
deren erstellen, sind wir unter Berücksichtigung verschie-
dener Unsicherheitsfaktoren wie des Anstiegs des
Bruttosozialprodukts bzw. der Wachstumsraten auf der
Basis unseres Haushaltes und des Einzelplans 23 der Auf-
fassung, dass dieses Ziel erreichbar ist. Aber sicher kann
es passieren, dass wir in den einzelnen Haushaltsjahren
– wir reden über die Finanzplanung – Nachjustierungen
vornehmen müssen. Dazu hat sich der Bundeskanzler be-
kannt und dazu bekennt sich die Koalitionsvereinbarung.
Nächste Zusatzfrage, bitte schön.
Herr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Geht die Bundesregierung davon aus, dass das
Bruttonationaleinkommen in den nächsten Jahren insbe-
sondere aufgrund der Maßnahmen, die derzeit im Bun-
destag diskutiert werden, sinkt und damit die Quote von
0,33 Prozent erreicht wird?
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, davon geht die Bundesregierung nicht aus. Ich
sagte Ihnen ja bereits, dass die jetzige Finanzplanung auf
dem Haushalt basiert, der noch vor der Bundestagswahl
verabschiedet worden ist. Sie haben wahrscheinlich Recht
– man müsste einmal nachrechnen –, wenn Sie sagen, dass
das 0,33-Prozent-Ziel leichter zu erreichen sein werde,
wenn das Wachstum zurückgehe, als wenn es deutlich
steige.
Eine Zusatzfrage, Herr Weiß.
Herr Staatssekretär, genauso ist es. Deswegen war eine
solche Frage nicht scherzhaft, sondern ernsthaft gemeint.
Sie haben behauptet, dass Sie auf der Grundlage der
derzeitigen mittelfristigen Finanzplanung im Jahr 2006
einen Entwicklungshilfehaushalt in Höhe von 3,96 Milli-
arden Euro erreichen wollen. Das ist übrigens, wenn ich
das nebenbei bemerken darf, weniger als das, was 1998
im letzten von der CDU/CSU-FDP-Regierung zu verant-
wortenden Bundeshaushalt für die Entwicklungshilfe vor-
gesehen war.
Können Sie darlegen, welche Elemente – deutscher
Beitrag aus dem BMZ-Haushalt, deutscher Beitrag zum
EU-Haushalt und Entschuldungsmaßnahmen – nach
Ihren Berechnungen in welcher Höhe dazu beitragen, dass
2006 das 0,33-Prozent-Ziel erreicht werden wird?
Er
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, der Ansatz für 2006 liegt bei 4 Mil-
liarden Euro. Es hilft nichts, ihn auf 3,96 Milliarden Euro
herunterzurechnen.
Wir gehen nach gegenwärtiger Einschätzung – wie ge-
sagt, bis 2006 müssen wir noch viele Faktoren beachten –
davon aus, dass wir ein Volumen von roundabout 7 Milli-
arden Euro benötigen. Wenn ich davon ausgehe, dass der
deutsche Beitrag aus dem BMZ-Haushalt bei 4Milliarden
Euro und der deutsche Beitrag zum EU-Haushalt bei etwa
1,2 Milliarden bis 1,5 Milliarden Euro – gegenwärtig be-
trägt er schon 1,2 Milliarden Euro – liegt, dass die Ent-
schuldung etwa 1,5 Milliarden bis 2 Milliarden Euro
bringt und dass der gesamte Beitrag der einzelnen Res-
sorts, der gegenwärtig bei 600 Millionen Euro liegt, auf
bis zu 800 Millionen bis 900 Millionen Euro gesteigert
wird, dann stelle ich fest – das ist eine Milchmädchen-
rechnung –, dass wir schon bei gut 7 Milliarden Euro an-
gelangt sind.
Eine letzte Zusatzfrage? – Herr Kollege Weiß verzich-tet. Dann sind wir am Ende des Geschäftsbereichs desBundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung.Wir kommen nun noch zum Geschäftsbereich des Bun-deskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Frau Staatsmi-nisterin Dr. Weiss zur Verfügung.
504
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 505
Die Fragen 34 und 35 des Kollegen Barthle werden ge-nauso schriftlich beantwortet wie die Fragen 36 und 37des Kollegen Otto .Ich rufe die Frage 38 des Kollegen von Stetten auf:Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussichten darauf, dassin Anbetracht ihres bestimmenden Einflusses auf den DeutschenMusikrat Projektträger und andere Gläubiger des Deutschen Mu-sikrates den Bund selbst unter dem Gesichtspunkt der insolvenz-rechtlichen Durchgriffshaftung in Anspruch nehmen werden?D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter von Stetten, ein bestimmender Ein-
fluss des Bundes auf den Zuwendungsempfänger Deut-
scher Musikrat ist nicht gegeben, sodass eine direkte In-
anspruchnahme der Bundesregierung durch Gläubiger
des Deutschen Musikrates nicht möglich ist.
Eine Zusatzfrage? – Herr von Stetten hat keine.
Dann rufe ich die Frage 39 des Abgeordneten von
Stetten auf:
Wie sinnvoll erscheint es der Bundesregierung, unter Abwä-
gung der letztlich auf sie zurückfallenden Verantwortlichkeiten,
mit allen damit verbundenen Nachteilen für die betroffenen Mu-
siker und musikalischen Einrichtungen im Lande sowie für die
Durchführung der haushaltsgesetzlich vorgegebenen Programme
ein Insolvenzverfahren zu betreiben, und welche Möglichkeiten
sieht sie, den Deutschen Musikrat auf eine andere Weise so zu
strukturieren, dass er künftig weiter und mit größerer Transparenz
und Effizienz die Aufgaben eines zentralen Mittlers im deutschen
Musikleben wahrnehmen kann?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter von Stetten, nicht die Bundesregie-
rung betreibt das Insolvenzverfahren. Vielmehr ist nach
den gesetzlichen Vorschriften der betroffene Rechtsträger
für die Prüfung verantwortlich, ob die Eröffnung eines In-
solvenzverfahrens zu beantragen ist. Er muss, wenn die
Prüfung positiv ausfällt, die entsprechenden Schritte ein-
leiten. Zwischenzeitlich wurde ein Insolvenzantrag ge-
stellt. Die Entwicklung einer neuen Struktur, die eine
größere Transparenz und vor allem auch Effizienz bei der
Aufgabenerfüllung und damit die Wahrnehmung der Auf-
gabe eines zentralen Mittlers im deutschen Musikleben
ermöglichen soll, ist daher die ureigene Aufgabe des
rechtlich selbstständigen Vereins.
Die Bundesregierung ist aber nicht nur für konstruktive
Vorschläge offen. Sie beteiligt sich vielmehr seit längerem
auch an den Planungen einer völligen Neustrukturierung
des Deutschen Musikrates. So hat sie zusammen mit dem
Deutschen Musikrat einen Gesamtfinanzierungsplan für
das Haushaltsjahr 2003 entwickelt, der die notwendige
Transparenz und Flexibilität für eine effiziente Mittelver-
wendung ermöglichen sollte.
Darüber hinaus hat die Beauftragte für Kultur und Me-
dien eine Untersuchung der Organisations- und Personal-
struktur des gesamten Deutschen Musikrates veranlasst,
deren Ergebnis noch aussteht. Aber die Prüfung läuft schon.
Herr von Stetten.
Frau Staatsministerin, in der Frage des Kollegen Barthle,
die schriftlich beantwortet wird, ist bereits ein bisschen von
dem enthalten, wonach ich fragen möchte. Da aber gleich
eine Sitzung des Kulturausschusses stattfindet, möchte ich
nur noch eben fragen, seit wann der Bundesregierung die
Probleme beim Deutschen Musikrat bekannt waren.
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Probleme beim Deutschen Musikrat, insbesondere
das Problem der Überschuldung, hat die Bundesregierung
erst Anfang Oktober 2002 zur Kenntnis erhalten.
Es war allerdings seit längerem bekannt, dass die
Haushaltsführung des Deutschen Musikrates nicht pro-
blemlos war. Ein Grund dafür ist die sehr komplexe För-
derstruktur. Zur Vereinfachung arbeiten wir an einer Or-
ganisationsneustruktur. So werden im Moment zum
Beispiel die Mittel der BKM nahezu vollständig von der
Kulturstiftung der Länder, da sie das als eigene Angele-
genheit ansehen, und nur zu einem geringen Teil vom
Bundesverwaltungsamt zugewendet und geprüft. Weitere
Zuwendungsgeber – auch das zeigt, wie kompliziert das
System bei den Geldzuwendungen ist – sind das Auswär-
tige Amt, das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sowie das Sekretariat der Kultusmi-
nisterkonferenz der Länder.
Um die hieraus resultierenden Probleme zu beheben,
wurde – das habe ich schon gesagt – für das Haushalts-
jahr 2003 zusammen mit dem Deutschen Musikrat unter
Beteiligung der Kulturstiftung der Länder und des BVA
eine Prüfung eingeleitet. Ein Gesamtfinanzierungsplan
soll entwickelt werden, der die notwendige Transparenz
der Mittelverwendung herstellen und die Mittelverwen-
dung flexibler machen wird.
Die Prüfung der Organisationsstruktur und der Perso-
nalstruktur habe ich ebenfalls schon erwähnt.
Vielen Dank, Frau Weiss.Die Zeit für die Fragestunde ist schon überschritten.Ich habe Ihnen fairerweise aber noch die Gelegenheit zueiner Nachfrage gegeben.Die übrigen Fragen werden nach den Regeln unsererGeschäftsordnung schriftlich beantwortet. Wir sind amEnde der Fragestunde.Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENAktuelle Vorwürfe von Verstößen gegen dasParteiengesetz durch mögliche illegale Finanz-zuflüsse bei der FDPVizepräsident Dr. Norbert Lammert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002
Vizepräsident Dr. Norbert LammertAls erster Redner hat der Kollege Hofmann von derSPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Im Juli hatten wir im DeutschenBundestag eine Debatte anlässlich der Vorlage des Ab-schlussberichts des Untersuchungsausschusses zu HelmutKohl und zur CDU-Spendenaffäre. Ich denke, wir alle ha-ben uns gewünscht, dass damit dieses Thema beendet sei.Jetzt werden Verstöße gegen das neue Parteiengesetzbekannt.
– Ich mache keinen Sprung und es war auch nicht schein-heilig, Herr Kollege. Auch wir hatten in Köln einen Par-teispendenskandal; das ist keine Frage.
Aber im Mittelpunkt stand die CDU und deren Partei-spendenskandal.Mir stellt sich die Frage, ob Herr Möllemann und an-dere weitergemacht haben, obwohl es ein neues Parteien-gesetz gegeben hat und obwohl man Ende 1999 gesehenhat, wie alleine Helmut Kohl dastand und welche Bedeu-tung das alles für die CDU hatte. Wenn Personen in derFDP trotzdem weitergemacht haben, dann, finde ich, istdas eine besondere Dreistigkeit.Seit Wochen steht nun das Finanzgebaren der FDP inNordrhein-Westfalen im Blickpunkt. Seit Wochen lädt dieFDP alle Schuld bei Möllemann ab. Für mich steht fest:Es handelt sich dabei nicht um eine „Affäre Möllemann“;denn es gab Mitwisser, Mitläufer und Personen, die mit-gemacht haben.Die Aufklärungsbemühungen von Herrn Rexrodt ge-hen aus meiner Sicht in die richtige Richtung. Sie greifenallerdings zu kurz. Richtig ist, dass man Auskunft ver-langt und Schadenersatz einfordert. Diesen Weg geht auchdie SPD in Köln. Das ist richtig so, wir unterstützen das.Die FDP muss allerdings gründlicher vorgehen. Siedarf nicht erst dann mit Prüfungen beginnen, wenn diePresse neue Unregelmäßigkeiten aufdeckt. Die Auf-klärung muss umfassend sein und muss deshalb bis in die90er-Jahre zurückgehen, bis zum Panzerdeal mit denFuchs-Spürpanzern und den Schmiergeldzahlungen vonThyssen. Es ging immerhin – das wissen Sie alle – umSchmiergeldzahlungen in Höhe von 220 Millionen DM.Der Anteil des langjährigen Weggefährten und Geschäfts-partners von Herrn Möllemann Rolf Wegener als Treu-händer der Briefkastenfirma Great Aziz belief sich dabeiauf 8,93 Millionen. Dieses politisch heikle Panzergeschäftmit Saudi-Arabien aus dem Jahr 1991 hat uns im Unter-suchungsausschuss lange Zeit beschäftigt. Es beschäftigtheute noch Justiz und Fiskus.Sehr geehrte Damen und Herren, es geht um eine mög-liche Bestechung in Millionenhöhe und einen neuen,schwerwiegenden Verdacht: Möllemann, der einstige bun-desdeutsche Vizekanzler, könnte an dem Geschäft mit-verdient und zwei FDP-Wahlkämpfe mit ebendiesenSchmiergeldern bezahlt haben.
Fahnder des Düsseldorfer Finanzamtes gehen diesem Ver-dacht nach. – So die Presse. Wenn das stimmt, hätte dieFDP-Affäre Kohl-Niveau erreicht. Falls sich der Ver-dacht, dass der Ex-Bundeswirtschaftsminister über einenStrohmann an dem Panzerdeal mitverdiente, erhärtet,wäre das einer der größten politischen Skandale der Nach-kriegszeit. Es ginge dann nicht mehr nur um politischeKorruption – Herr Stadler, über diesen Begriff haben wirgestritten –, sondern damit wäre der Nachweis gelungen,dass die schwarz-gelbe Regierung genau das war, wasFDP und Union bis heute wortreich bestreiten, nämlichbestechlich. Das hat eine andere Dimension.Das lässt sich nicht mehr auf den Fall Möllemann ein-grenzen, wie es der FDP-Parteivorsitzende gerne tut. Hierist die FDP gefordert, im wahrsten Sinne des Wortes auf-zuklären. Herr Westerwelle schiebt die Verantwortung aufdie Staatsanwaltschaft. Ich sage: Für den Saustall der FDPist Herr Westerwelle und nicht die Staatsanwaltschaft ver-antwortlich.
Es ist seine Aufgabe, den Saustall aufzuräumen. Der FDP-Bundesvorsitzende sieht sich selbst fest im Sattel. Hat eraber auch die Zügel in der Hand? Bestimmt er auch dieRichtung oder sitzt er lediglich auf einem Schaukelpferd?
Dass es den FDP-Parteichefs an Einfluss auf ihre Parteimangelt, ist nicht neu. Schon unter Herrn Gerhardt hat dieBundes-FDP gezeigt, wie schwach ihr Einfluss zum Bei-spiel auf die hessische Landesfürstin Ruth Wagner war.
Das hat man damals der Person Gerhardt angelastet. DerEinfluss von Herrn Westerwelle auf die FDP in NRW istoffenbar nicht größer. Es scheint also nicht unbedingt al-lein an der Person zu liegen; es ist ein politisches Problemder FDP. Es hat mit politischer Beliebigkeit, mangelnderEhrlichkeit, mangelnder Glaubwürdigkeit, mangelndemAufklärungswillen und mit Machterhalt zu tun.
Ruth Wagner klebt an Roland Koch,
obwohl er im Zusammenhang mit dem hessischen Honig-topf im Süden mehrmals gelogen und aktiv an der Ver-schleierung mitgewirkt hat. So steht es im Abschluss-bericht des Untersuchungsausschusses.Bei Möllemann liegen die Interessen von Ruth Wagneranders. Ihn fordert sie auf, aus der FDP auszutreten. Hierwird das falsche Spiel der hessischen FDP aktuell noch
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einmal deutlich. Es ist Ausdruck einer Doppelmoral, dasssich Ruth Wagner und die hessische FDP nun gegenMöllemann und seine Mitwisser, Mitmacher und Mit-läufer wenden. Das macht sie vollends unglaubwürdig.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Der Aufklärungswille der FDPmuss sich erkenn-
bar zeigen. Die bisherigen Prämissen, unter denen Herr
Westerwelle die Aufklärung betreiben lässt, lauten: nicht
in die Tiefe gehen, nicht in die 90er-Jahre zurückgehen
und nicht andere beschädigen. Ich sage: Die FDPmuss die
Kraft aufbringen, alles schnell, gründlich – und ohne auf
das Ansehen der Personen zu achten – aufzudecken.
Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Stadler das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Kollege Hofmann, nach meiner Erinnerunghaben wir hier im Juli in der Tat über Spendenskandale,nämlich den der CDU, aber auch den der SPD in Nord-rhein-Westfalen, debattiert. – So viel einleitend zur Klar-stellung.Wir haben auch über ein neues Parteiengesetz, das dieFDP mitgetragen hat, diskutiert. Niemand von uns aberhat geahnt, dass wir uns jetzt schon wieder damit befas-sen müssen.
Wir bedauern es sehr, dass der Anlass hierzu aus den Rei-hen der FDP gekommen ist. Verstöße gegen das Parteien-gesetz können wir in keiner Weise akzeptieren.
Am selben Tag, da diese Aktuelle Stunde beantragtworden ist, tauchten bei der CDU in Leverkusen fast137 000 Euro auf, deren Herkunft ungeklärt ist.
Einen Tag zuvor konnte ein CSU-Landtagsabgeordneterin München nicht erklären, warum er Spendenquittungenausgestellt hat, obwohl gar keine entsprechenden Spen-dengelder bei seiner Partei eingegangen waren.Die Vorgänge sind natürlich nicht miteinander ver-gleichbar. Ich nenne sie auch nicht, um von den Vorgän-gen in der FDP abzulenken.
Aber es zeigt sich eines, Herr Wiefelspütz: Bei der De-batte über das neue Parteiengesetz haben manche Skepti-ker hier an diesem Rednerpult Folgendes formuliert – siescheinen leider Recht zu behalten –: Das beste Gesetznützt dann nichts, wenn Einzelne mit krimineller Energiebewusst dagegen verstoßen.
Wenn dies passiert, dann hat eine Partei eine Pflicht: Siemuss sofort von sich aus umfassend aufklären.
Genau das tut die FDP und genau das tut Herr Rexrodt.
Es werden allerdings auch Vorwürfe erhoben, die un-zutreffend sind und die wir zurückweisen müssen. Heutegibt es eine Presseberichterstattung über angeblichschwarze Fraktionskassen der FDP. Daran ist nichts Zu-treffendes. Herr Gerhardt und Herr Hahn haben dies heutedeutlich zurückgewiesen. Darauf beziehe ich mich.
Herr Hofmann hat in Zweifel gezogen, dass durch dieFDP hinreichende Aufklärungsarbeit geleistet würde. Derumstrittene Flyer, um dessen Finanzierung es zunächstgeht – nicht nur, aber auch – ist am Ende des Wahlkamp-fes aufgetaucht. Unmittelbar nach dem Wahltag ist vonder FDP auf der Arbeitsebene mit dem Bundestagspräsi-dium und dem damaligen Geschäftsführer der FDP inNordrhein-Westfalen Kontakt aufgenommen worden, umzu klären, ob gegen die Veröffentlichungspflicht bei einerGroßspende verstoßen worden ist. Am 2. Oktober hatHerr Rexrodt Herrn Möllemann geschrieben und hat ihmeine Frist bis zum 4. Oktober gesetzt, um den Vorgangaufzuklären. Wirtschaftsprüfer und die Innenrevision sindbeauftragt worden. Es gab interne Nachforschungen. Ichwill Ihnen die Details ersparen.
Wichtig ist eines: Am 30. Oktober hat die FDP Aus-kunftsklage gegen Herrn Möllemann wegen der Herkunftder Spende erhoben – ein Verfahren, das wir der CDU im-mer wieder angeraten haben, das aber bei der CDU im Ge-gensatz zur FDP nicht praktiziert worden ist.
Frank Hofmann
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Dr. Max StadlerVon der FDP wird zeitnah aufgeklärt. Die Aufklärungs-arbeit läuft.
Die Schlussberichte werden demnächst vorgelegt werden.Ich sage Ihnen noch eines: In dem Untersuchungsaus-schuss, in dem wir mit den Vorgängen der CDU und derSPD befasst waren, haben wir es von der FDP bewusstvermieden, mit irgendeiner besserwisserischen Attitüdeauf Vorfälle in den anderen Parteien einzugehen.
Wir nehmen für uns in Anspruch, dass wir das, was dortverhandelt worden ist, objektiv bewertet haben. Die deut-sche Öffentlichkeit erwartet von Ihnen, dass Sie die Auf-klärungsarbeit der FDP ähnlich fair bewerten. Das istmein Wunsch am Ende dieser Ausführungen.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Täglichneue Meldungen über den Verdacht von finanziellen Un-regelmäßigkeiten und illegalen Praktiken bei der FDP bishin zum Verdacht der Bestechlichkeit. Es stellen sich im-mer mehr Fragen nach Verantwortung, Hintergründen,Mitwisser- und Mittäterschaft. Mehr Fragen als Antwor-ten hat die bisherige Aufklärungsarbeit der FDP ergeben.Herr Westerwelle hat sich im Mai 2001 vor den FDP-Parteitag mit dem Anspruch gestellt, das Schiff der FDPzu steuern: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt,gibt’s einen, der die Sache regelt – und das bin ich.“
Die letzten Monate haben gezeigt: Der Kapitän war unterDeck; auf der Brücke führte der Klabautermann das Kom-mando.
Der FDP-Skandal hat zwei Dimensionen – nur eine da-von haben Sie überhaupt erörtert, Herr Kollege Stadler –:Es geht zum einen um das Dulden einer antisemitischenKampagne durch den Parteivorsitzenden
und zum anderen um die damit im Zusammenhang ste-henden illegalen Finanzierungspraktiken insbesondereim Umfeld des nordrhein-westfälischen Landesverban-des.Man muss nicht so streng sein wie der KollegeRexrodt, der die Meinung vertreten hat, ein Büroleitersei auch für das Versagen seiner Mitarbeiter verantwort-lich,
um an dieser Stelle festzustellen, dass es sich auch umeine Affäre Westerwelle handelt. Im Frühjahr, alsMöllemann in einem Interview mit der „taz“ Selbstmord-attentate gerechtfertigt
und antisemitische Ausfälle gegen Michel Friedman ge-macht hat, hat der FDP-Vorsitzende seinen Stellvertreterverteidigt, man müsse doch auch einmal Israel kritisierendürfen, und hat dadurch selbst mit einem antisemitischenTopos das Handeln seines Vize zu decken versucht.Westerwelle erinnerte damit sehr stark an den Kapitän derTitanic.
Wie dieser die Gefahr der Eisberge ignorierte, übersah je-ner geflissentlich die antisemitischen Umtriebe seinesStellvertreters. Die Affäre Möllemann ist die Quittung fürdie Mutlosigkeit bei der politischen Führung und sie istdeshalb auch eine Affäre Westerwelle.
Der Kapitän Westerwelle hat sich als Leichtmatrose er-wiesen.
Er hat den „Spiegel“ zu Hilfe gerufen, um die FDP bei derAufklärung der illegalen Praktiken bei der Parteienfinan-zierung zu unterstützen. Wir kommen diesen Aufklä-rungsbemühungen heute mit der Aktuellen Stunde ent-gegen.
Meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion,wenn Sie uns herzlich bitten, werden wir Ihnen auch nochmit einem Parlamentarischen Untersuchungsausschussunterstützend zur Seite springen. Denn es gibt eine Reihevon Fragen, die bis heute nicht beantwortet wurden und zudenen ich auch von Ihnen, Herr Stadler, nichts gehört habe:Wer hat an der Finanzierung des antisemitischen Fly-ers mitgewirkt? Wer hat wann davon gewusst und wer hatwann dazu geschwiegen? Wer hat nichts dagegen getan?Welche Summen sind von wem für welche Wahlkämpfeder FDP illegal in die Kassen geflossen? Wer wollte mitwelchen Interessen und welchen Hintergedanken womög-lich politisch stärkend auf bestimmte Personen in der FDPEinfluss nehmen?Düsseldorfer Steuerbeamte sind im Oktober bei einerBetriebsprüfung von Möllemanns Firma Web/Tec aufHinweise gestoßen, dass Möllemann zwei Wahlkämpfemit Geldern aus Liechtenstein geführt haben könnte. Zwi-schen 1995 und 1999 seien in fünf Tranchen insgesamt5,2 Millionen DM von einer Briefkastenfirma namensCurl AG in Vaduz auf ein Web/Tec-Konto transferiert
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worden. Woher kommt dieses Geld, dessen Herkunft undBegründbarkeit von den Steuerbeamten nicht festgestelltwerden konnte?
Auch sind angeblich zwischen 1996 und 1997 rund510 000 Euro aus Monaco auf einem Web/Tec-Konto ein-gegangen. Welche Funktion hat in diesem Zusammenhangder ominöse Möllemann-Freund, Herr Rolf Wegener? Wel-che Zusammenhänge bestehen mit der Tatsache, dass We-geners Briefkastenfirma Great Aziz Corp. von 1991 bis1994 für die Vermittlung der Lieferung der Fuchs-Panzerdurch Thyssen nach Saudi-Arabien 8,93MillionenDM Pro-vision erhalten hat? Ist ein Teil des Geldes über Web/Tec anMöllemann und am Ende an die FDP geflossen?
Das alles sind Fragen, die wir klären müssen.Neben den strafrechtlich relevanten Fragen, die sich indiesem Zusammenhang stellen und die womöglich dieStaatsanwaltschaften zu klären haben, hat sicherlich auchdie Öffentlichkeit einen Anspruch darauf, die Hinter-gründe zu erfahren. Denn die Staatsanwälte und Straf-richter müssen sich allein mit der Frage befassen, ob einstrafbares Delikt vorliegt. Wir aber wollen auch wissen,welche Interessen dahinter standen, welche Zusammen-hänge es gab und wer für diese Vorgänge die politischeVerantwortung übernehmen muss.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Röttgen, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Jede Finanzaffäre, jede Spendenaffäre und jede Kor-ruptionsaffäre im Bereich der politischen Parteienschwächt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger indie Parteien, in uns alle, die politische Verantwortung tra-gen, und insofern auch in das Parlament. Wenn diese Ent-täuschung begleitet wird von der Enttäuschung über dieUnfähigkeit einer gerade erst gewählten Regierung, mitden Problemen dieses Landes fertig zu werden
– ich sage es bewusst ganz ruhig, ernst und besorgt –,
dann kommen wir in die Gefahr, dass wir das Vertrauen indie Parteiendemokratie, in ihre Seriosität und in ihre Pro-blemlösungskompetenz erschüttern und dass wir die Ak-zeptanz verlieren.
Wenn das zusammenkommt, wenn der Zweifel an der In-tegrität der handelnden Personen
verbunden wird mit dem Zweifel an der Fähigkeit, derPflicht nachzukommen, Probleme zu lösen, dann kannsich das zu einem Problem unserer Parteiendemokratieauswachsen.Ich möchte drei Anmerkungen zum Umgang mit die-sen Affären machen.
– Reden wir doch vernünftig miteinander über ein ernst-haftes Problem!Erstens. Niemand von uns kann eine Garantie dafürübernehmen, dass es in Zukunft nicht mehr zu Gesetzes-verletzungen kommt. Wir haben gerade erst ein neues Ge-setz beschlossen. Dafür, dass in einem Kreisverband, ineinem Landesverband oder auch in einem BundesverbandVerantwortliche nicht erneut gegen Gesetze verstoßen,kann niemand eine Garantie übernehmen. Darum ist esdas Entscheidende, wie diejenigen, wie wir, die wir Ver-antwortung tragen, wie auch die Parteien, in deren Ver-antwortungsbereich Gesetzesverletzungen vorkommen,mit solchen Verstößen umgehen. Es ist entscheidend, obsie aufklären oder ob sie vertuschen wollen, ob sie dieWahrheit sprechen oder nicht. Ich muss sagen, dass ichkeine Versäumnisse der FDP feststellen kann, was dieAufklärung angeht.
Das sollte für andere durchaus vorbildlich sein.
Das gilt auch in anderen Bereichen, was etwa die SPD inKöln anbelangt. Es geht also um den Umgang mit Ver-stößen, wenn denn Verstöße festgestellt worden sind.Dann dürfen sich auch die Konkurrenten mahnend zuWort melden.Zweitens. Wir haben gerade ein neues Parteiengesetzbeschlossen. Die Parteien haben Verantwortung fürihren eigenen Bereich. Aber wir als Parlament haben dieVerantwortung dafür, dass die rechtlichen Vorausset-zungen, die Rahmenbedingungen so sind, dass der An-spruch der Bürger auf Transparenz und Kontrolle aucherfüllt werden kann. Darum haben wir ein neues Partei-engesetz beschlossen, das mehr Transparenz ermög-licht, mehr Kontrolle bedeutet und mehr Sanktionenvorsieht.Es ist ein Teil der Wahrheit, die wir hier doch ruhig aus-sprechen sollten, dass diese Affären, so schlimm sie sind,Volker Beck
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Dr. Norbert Röttgenauch immer ein Gutes haben, weil sie nämlich einen Rei-nigungsprozess im Parlament initiieren.
– Empören Sie sich doch nicht so künstlich, verehrter HerrWiefelspütz! – Es ist ein Teil der Wahrheit, dass wir ohnedie CDU-Spendenaffäre die Gesetzesinitiativen der letztenLegislaturperiode wahrscheinlich nicht ergriffen hätten.
Es ist ein zweiter Teil der Wahrheit, dass Sie von derSPD-Fraktion uns nicht so weit entgegengekommenwären, wenn Sie nicht Ihre Affären in Köln und Wuppertalgehabt hätten.
So ist doch die Wahrheit. Das weiß jeder. Bestreiten Sienicht das, was jeder weiß, meine Damen und Herren!
Das Dritte, für mich Wichtigste und eigentlich Ent-scheidende ist meine und unsere Bitte, ist mein und unserAppell als CDU/CSU-Fraktion an das Parlament: Hörenwir damit auf, die jeweilige Affäre des politischen Kon-kurrenten zum vermeintlichen eigenen Vorteil zu instru-mentalisieren! Hören wir mit dieser Haltung auf! Hörenwir damit auf, schon deshalb, weil es unter den Parteienkeine Gewinner gibt! Wir alle sind die Verlierer, wenn wirversuchen, aus Verstößen, die beim politischen Gegnervorkommen, für uns politisches Kapital zu schlagen. Wiralle sind die Verlierer, weil die Bevölkerung dann sagt: Ihrseid alle gleich. – Darum ist es unsere Aufgabe, Konse-quenzen zu ziehen. Suchen wir nicht den kleinen politi-schen Vorteil aus Verstößen, die das Vertrauen in die par-lamentarische Demokratie erschüttern, sondern ziehenwir Konsequenzen!Darum müssen wir fragen, ob wir mit dieser AktuellenStunde dieser Verantwortung gerecht werden.
Wenn diese Aktuelle Stunde vorbei ist, sollten wir einmalüberlegen, ob es eine gute Stunde war. Sie sind der Anfor-derung, Konsequenzen zu ziehen, nicht gerecht geworden.Schon der Titel dieser Aktuellen Stunde ist verräterisch.Sie beantragen eine Aktuelle Stunde über mögliche Finanz-zuflüsse. Sie rühren die Themen Finanzzuflüsse, Spekula-tionen, Berichterstattungen und Antisemitismus zusam-men.
Sie beleidigen und machen mit dem Instrument der Spe-kulationen Vorwürfe.Die Informationen, die wir haben, kommen größten-teils von der FDP selbst. Sie spekulieren, Sie reden überZeitungsartikel und Sie erheben Vorwürfe, ohne dass wirden Sachverhalt überhaupt kennen. Die Angeklagten vongestern schwingen sich heute als Ankläger auf, ohne dassder Sachverhalt überhaupt schon feststeht.
Herr Kollege Röttgen, kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie haben heute keinen guten Beitrag dazu geleistet,
das Vertrauen in unsere Parteiendemokratie zu stärken.
Ich bedauere sehr, dass Sie diese Aktuelle Stunde bean-
tragt und wie Sie sie bislang gestaltet haben.
Nächster Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kol-
lege Edathy, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Röttgen, es wäre sicherlich begrüßenswert gewesen,wenn Sie zur Sache gesprochen hätten.
Diese Angelegenheit ist nämlich sehr gravierend. DieFDP-Affäre, die die Republik seit Wochen beschäftigt, istzum einen – Herr Kollege Hofmann hat das deutlich ge-macht – eine Frage des Brechens von Gesetzen. Sie of-fenbart aber zum anderen etwas, was uns Demokratenmindestens ebenso große Sorgen machen muss: Eine Par-tei, die für das politische Spektrum der Bundesrepublikvon nicht geringer Bedeutung ist, die in zwölf von15 Wahlperioden an der Bundesregierung beteiligt gewe-sen ist, die aktuell in sechs Landesregierungen sitzt, einesolche Partei, nämlich die FDP, hat in den letzten Jahren ei-nen Weg eingeschlagen, der mit dem Begriff Beliebigkeitkeineswegs verkürzt, sondern hinreichend beschrieben ist.
Wenn eine gestandene liberale Politikerin wie unserefrühere Kollegin Hildegard Hamm-Brücher erklärt – diesist jüngst geschehen –, die FDP sei nicht mehr ihre politi-sche Heimat, dann unterstreicht dies: Jenseits einer ver-bandsorientierten Wirtschaftspolitik verfügt die FDP überkeine inhaltliche Orientierung mehr.
Erst der Verlust an politischer Substanz, einhergehendmit dem Verlust des bürgerrechtlichen Flügels der FDP,
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konnte dazu führen, dass Ihre Partei, liebe Kolleginnenund Kollegen von der rechten Seite des Hauses, in eine Si-tuation geraten ist, in der ein skrupelloser Populist wieJürgen Möllemann eine derartig zentrale Machtpositionerlangen konnte. Es mag ja so sein – Sie argumentierenauch so –, dass Herr Möllemann die FDP zum Teil miss-braucht hat. Aber – das muss man einmal öffentlich fest-halten – diese FDP hat sich gerne missbrauchen lassen,weil sie ihren inneren Kompass längst verloren hat.
Weil das so ist, haben wir es nicht mit einerMöllemann-Affäre, sondern mit einer FDP-Affäre zu tun.
Man wird erinnern dürfen: Dem Versuch von HerrnMöllemann, antisemitische Befindlichkeiten zum Zweckedes Gewinns von Wählerstimmen zu instrumentalisieren,ist von der FDP-Führung lange Zeit nicht entschieden ent-gegengetreten worden. Es wurde stattdessen beschwich-tigt, verharmlost und bagatellisiert. Man muss sich das vorAugen halten: Eine Partei, der Menschen wie BurkhardHirsch und Gerhart Baum angehören, eine Partei, der einMensch wie Ignatz Bubis angehört hat, eine Partei, die sichtraditionell dem Ziel gewidmet hat, das Feuer des Antise-mitismus, das Feuer der Intoleranz, das Feuer der Frem-denfeindlichkeit zu löschen, hat es zumindest hingenom-men und gebilligt, dass mit diesem Feuer gespielt wird,
weil das Ziel des Wahlerfolgs in ihren Augen offenkundigalle Mittel zu rechtfertigen schien.
In dieser Angelegenheit haben die gesamte FDP und vorallem ihr schwacher Vorsitzender versagt.Zur Beliebigkeit der FDP gehört auch – ich ziehe dasnicht an den Haaren herbei –, sich in Hamburg an einerRegierung unter Einschluss des Rechtspopulisten RonaldSchill zu beteiligen.
Man muss nicht dabei gewesen sein, als Herr Schill vorder Bundestagswahl hier, im Bundestag, gesprochen hat,um behaupten zu können: Die Tatsache, dass CDU undFDP dafür sorgen, dass Herr Schill in Hamburg Regie-rungsverantwortung tragen kann, ist ein Skandal für sich.
Dass die aktuelle Affäre nicht nur eine Möllemann-Af-färe ist, zeigt auch ein Blick nach Hessen, wo FrauWagner, FDP-Landesvorsitzende, stellvertretende Minis-terpräsidentin, Ministerin im Kabinett Koch, jüngst er-klärt hat, Herr Möllemann müsse aus der FDP ausge-schlossen werden, weil es offenkundig so ist, dass derLandtagswahlkampf der FDP in Nordrhein-Westfalen ausschwarzen Kassen finanziert worden ist.
Dieselbe Frau Wagner hat allerdings keine Bedenkengehabt, mit Roland Koch in Hessen eine Koalition einzu-gehen, mit einem Mann, dessen Wahlkampf ebenfalls ausschwarzen Kassen finanziert worden ist und der oben-drein auch noch einen fremdenfeindlichen Wahlkampfgeführt hat.
Das macht deutlich: Es tut sich bei einer Partei ein be-fremdliches Rechtsstaatsverständnis auf, die sich selberimmer als Rechtsstaatspartei definiert hat und, wie ichglaube, in der Vergangenheit auch nicht ganz zu Unrecht.Lassen Sie es mich klar sagen, meine Damen und Her-ren: Das Streben nach Regierungsverantwortung kannman keiner Partei zum Vorwurf machen.
Der Vorwurf, den sich die FDP gefallen lassen muss, istein anderer, nämlich, dass sie offenkundig, um in Regie-rungsverantwortung zu gelangen und zu bleiben, zu je-dem beliebigen Mittel greift,
dass sie gewissermaßen auf dem Schiff des HerrnWesterwelle den Kompass über Bord geworfen, dasSteuerrad abgebaut hat und sich nur noch vom Wind trei-ben lässt.
Dazu kann man nur sagen: Wer sich als Partei nur nochvom Wind des Populismus treiben lässt, kommt vielleichtvorwärts, aber nicht mehr ans Ziel.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich habe in denletzten Wochen
sehr aufmerksam die Debatten hier im Bundestag ver-folgt. Ich habe auch verfolgt, mit welcher Besserwisserei,Häme und Verbissenheit die FDP diese Regierung kri-tisiert hat.
Wenn die FDP am 22. September wirklich die Wahl ge-wonnen hätte, dann wäre die Situation dieses Landes, dassich aufgrund der wirtschaftlichen Lage in einer schwie-rigen Situation befindet, wirklich problematisch, denndann hätten wir jetzt eine massive Regierungskrise.
Sebastian Edathy
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Sebastian EdathyEs ist gut, dass uns dies erspart geblieben ist.
Die FDP sollte die Chance nutzen, sich in der Oppositioninhaltlich und personell zu erneuern und wieder zu politi-scher Handlungsfähigkeit zu finden.Lassen Sie mich abschließend feststellen: Ich habenicht die Sorge, dass der politische Liberalismus –
Herr Kollege, das ist jetzt die zweite abschließende
Feststellung von Ihnen, die wie die erste deutlich nach
Ende der Redezeit erfolgt.
– ein Satz – in Deutschland keine Zukunft mehr hat, ich
bezweifele aber, dass dessen Heimat in Zukunft die FDP
ist.
Vielen Dank.
Bevor ich dem Kollegen Dr. Friedrich für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort gebe, möchte ich noch ein-
mal darauf hinweisen, dass die Redezeit in Aktuellen
Stunden präzise fünf Minuten beträgt.
Ich werde mich daran halten.Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Lieber Kollege Edathy, die Botschaftist angekommen: Jeder, der Ihre unfähige rot-grüne Re-gierung kritisiert, wird mit rüpelhaftem Verhalten und Po-lemik überzogen. Das haben wir alle verstanden. Das istunglaublich.
Sie haben das Koalitionsverhalten anderer Parteiennicht zu kritisieren, weil Sie selber mit Kommunisten pak-tieren. Das sollten Sie sich immer vor Augen halten.
Gestatten Sie mir, dass ich mit einem Kompliment be-ginne. Als vor vier Wochen die ersten Meldungen in derPresse zu lesen waren – wo hat Möllemann das Geld fürsein Flugblatt her, steckt ein neuer Spendenskandal da-hinter? –, da hatten viele, die den Möllemann vielleichtnicht leiden können oder ihm alles Mögliche zutrauen, dieUnterstellung, dass da vielleicht doch etwas dran seinkönnte, für etwas starken Tobak gehalten. Mein Kompli-ment an die Damen und Herren von der Presse, die hart-näckig an der Sache drangeblieben sind: Sie haben sich inden letzten vier Wochen dadurch, dass sie immer wiederFragen gestellt und nicht locker gelassen haben,
auch ein Stück weit um die Hygiene unseres politischenSystems verdient gemacht. Das verdient, wie ich denke,allergrößten Respekt.Dass für solche Fragen inzwischen Sensibilität in un-serem politischen System vorhanden ist, ist, wie ichglaube, positiv. Wir haben das bei der CDU-Spendenaf-färe, bei den Fällen von Korruptionsverdacht bei der SPDund – in jüngster Zeit – auch bei der Bonusmeilenaffärekurz vor der Wahl gespürt.
Auch wenn die Dinge sicherlich unterschiedlich zu ge-wichten sind, gibt es hier doch eine Gemeinsamkeit. DieBotschaft heißt nämlich: Nicht der Ehrliche ist derDumme, sondern der, der sich nicht an die Spielregeln undan Gesetz und Recht hält, ist am Schluss der Dumme.
Ich finde, das ist ein positiver Aspekt, den man der ganzenSache auch abgewinnen sollte.
Was einen aufregt, ärgert und nervt – dazu haben Sie,lieber Kollege Hofmann, wieder beigetragen –, ist dieseunglaubliche Heuchelei, mit der jetzt versucht wird, dieseAffäre hochzuziehen und parteipolitisch zu instrumenta-lisieren. Wer wie Sie so tief im Schlamassel sitzt – ich darfnoch einmal an Nordrhein-Westfalen, an Wuppertal undKöln, erinnern –, der darf nicht mit dem Finger auf anderezeigen, wahrlich nicht.
Ich kann mich noch erinnern, Frau Wettig-Danielmeier,Herr Neumann, dass das Prüfprotokoll der Revisoren derSPD in Wuppertal, das bereits im Oktober 2000 vorlag,Herrn Müntefering, der inzwischen Fraktionsvorsitzenderist, ein Jahr später nicht davon abgehalten hat, sich in bo-denloser Heuchelei moralisch über die CDU zu erheben.Das ist Ihnen dann hinterher gewaltig um die Ohren ge-flogen.
Beim Thema Möllemann stellt, wenn ich das der Zei-tung richtig entnehme, die Staatsanwaltschaft kritischeFragen,
ermittelt der „Kommissar“ Rexrodt, wenn ich das Ihremneuen Titel so entnehmen darf, ist eine Auskunftsklage er-hoben worden. Es wird also eigentlich alles getan, um dieAufklärung voranzutreiben. Wenn Sie jetzt sagen, dabei
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müsse noch weiter zurückgegangen werden, bis in die90er- und die 80er-Jahre, dann frage ich Sie, HerrHofmann: Sind wir denn zurückgegangen bis zu HerrnNau und zu Herrn Halstenberg? Soll ich Ihnen die Proto-kolle der Anhörung von Herrn von Brauchitsch vom Juni2000 einmal vorlesen?
Wollen wir aufgrund dessen einmal zurückgehen bei derSPD?
Dann viel Vergnügen! Frau Wettig-Danielmeier wirdschon ganz blass.Worum geht es denn heute wirklich? Es gibt verschie-dene Möglichkeiten. Vielleicht versucht ja Herr Beck,eine neue Spielwiese für Herrn Ströbele zu finden, nachdem Motto: Dann hat er was zu tun, dann stört er unsereKreise nicht mehr,
dann stört er nicht mehr den unaufhaltsamen Selbstkas-trationsprozess der Grünen.Oder aber war es die Idee der SPD, diese AktuelleStunde zu beantragen? Dann können wir über Nordrhein-Westfalen, über Köln, über Trienekens, über Steinmüllerreden, dann kommen wir vielleicht auch in die Nähe Ihresneuen Superministers. Wir können in diesem Zusammen-hang über viele Dinge reden.Oder aber geht es um etwas ganz anderes? Das habe ichein bisschen bei Ihnen gedacht, Herr Edathy, als Sie FrauWagner genannt haben und in ein anderes Bundesland,nämlich Hessen, abgelenkt haben. Vielleicht versuchenSie ja, von der Unfähigkeit dieser Regierung, das Landanständig und ordentlich zu regieren, abzulenken. Dassteckt vermutlich dahinter.
Ich sage Ihnen: Es wird Ihnen kein zweites Mal gelin-gen, monatelang den Schleier über Ihre Unfähigkeit zu le-gen und in der Öffentlichkeit davon abzulenken, dass Siedieses Land in Grund und Boden regieren.
Da können Sie mit einem Untersuchungsausschuss undAktuellen Stunden drohen, das wird Ihnen trotzdem nichtgelingen.Ich fordere an dieser Stelle
die FDP auf, ihren Aufklärungskurs fortzusetzen und sichnicht beirren zu lassen. Die Koalition fordere ich auf, beider nächsten Aktuellen Stunde über die wirklich aktuel-len, wichtigen Probleme, die die Menschen im Land an-gehen und betreffen, zu diskutieren, statt das Parlamentmit solchen Veranstaltungen aufzuhalten.Vielen Dank.
Das Einhalten der Redezeit wird vielleicht etwas er-leichtert, wenn sich die Anzahl der Zwischenrufe in über-schaubaren Grenzen hält.
– Dem will ich in keiner Weise im Wege stehen. Aber esschadet ja nichts, wenn zwischen den Zwischenrufen dieRedner auch noch zu Wort kommen können.
Nun hat der Kollege Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen,das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Friedrich, Sie haben die Presse gelobt; dem kann ichmich anschließen. Warum haben Sie dann aber nicht zumThema geredet
und etwas darüber erzählt, wo eigentlich die Spenden-blocks Ihres Kollegen Thomas Zimmermann in Münchengeblieben sind und welche Spenden er quittiert hat, die garnicht gegeben worden sind? Das hätte uns interessiert.Ebenso hätte der Kollege Röttgen ein paar Sätze überLeverkusen verlieren können und über die 130 000 Euro,die dort jetzt in einer Kasse aufgetaucht sind und von de-nen keiner weiß, woher sie kommen. Dafür treffen wir unshier und heute doch: damit wir der Öffentlichkeit und derBevölkerung diese Fragen beantworten. Dazu haben Sienichts beigetragen. Sie haben sich vielmehr wieder in ei-ner Debatte verloren, die Sie selber immer wieder kriti-siert haben.
Ich frage mich: Wo ist der BundestagsabgeordneteMöllemann eigentlich?
– Der Kollege Westerwelle ist auch nicht da. – Ich be-dauere außerordentlich, dass die Geschäftsordnung unsDr. Hans-Peter Friedrich
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Hans-Christian Ströbelekeine Möglichkeit gibt, auch Bundestagsabgeordnete her-beizuzitieren.
Es wäre doch einmal etwas Hervorragendes, dass sie hier-her kommen, wenn es um ihre Machenschaften geht, undhier, vor dem deutschen Parlament, Rede und Antwort ste-hen.
– Ja, der Kollege Möllemann.
– Herr Wiefelspütz, jetzt bin ich dran. Sie dürfen gleich.
Am 2. Dezember 1999, vor fast drei Jahren, habe ichhier schon einmal gestanden. Das war zu dem Zeitpunkt,als Herr Kollege Schäuble ein Geständnis abgelegt hat –jedenfalls ein Teilgeständnis. Da habe ich meine Rede da-mit angefangen, dass ich gesagt habe: Ich verstehe nicht,wieso sich die FDP – damals vertreten durch HerrnKoppelin – so auf die Seite der CDU stellt, warum sie sichso schützend davor stellt. Des Weiteren habe ich gesagt,dass ich am selben Tag im „Stern“ gelesen habe, dass auchder Kollege Möllemann und noch ein anderer Geld be-kommen haben sollen. Da ist Herr Westerwelle, der jaheute leider nicht anwesend ist, aufgesprungen und hateine Zwischenfrage gestellt. In zwei Sätzen kam dreimaldas Wort Unverschämtheit vor, die er mir damals vorge-worfen hat.Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie damals das, wasder „Stern“ geschrieben hat und was ich im DeutschenBundestag erklärt habe, ernst genommen hätten, dann hät-ten Sie sich schon damals hingesetzt und hätten angefan-gen, die Affäre Möllemann aufzuklären. Dann wäre unsund dem deutschen Volk viel erspart geblieben.
– Wenn Sie es immer noch nicht gelesen haben: Da steht,dass Herr Möllemann seinerzeit nicht nur den Panzerdealmit Saudi-Arabien gefördert hat und die Firma Thyssendamals so lange mit dem Panzerdeal gewartet hat, bisMöllemann Wirtschaftsminister geworden ist, sonderndass auch die FDP in Nordrhein-Westfalen damals über300 000 DM bekommen haben soll, und zwar nicht in den80er-Jahren, sondern 1994 im Zusammenhang mit diesemPanzerdeal. Wären Sie doch einmal dieser Sache nachge-gangen! Aber das haben Sie nicht gemacht.
Jetzt versuchen Sie aufzuklären und alle loben denKollegen Rexrodt. Ich sage ganz ungeschützt im Deut-schen Bundestag: Herr Kollege Rexrodt, ich habe auchbei Ihnen Zweifel, ob Sie der geeignete Mann sind, einesolche Affäre aufzuklären.
Denn ich weiß, Herr Kollege Rexrodt, dass Sie im Jahre1995, unter der Regierung Kohl – da waren Sie Minister –,mit nach Kanada gefahren sind und sich bei der damali-gen Regierung vehement für das Panzerprojekt von HerrnSchreiber, das Bearhead-Projekt, eingesetzt haben.
Ich frage mich: Was haben die Zahlungen an die FDP inden Jahren darauf – gerade auch an den Landesverband inNordrhein-Westfalen, wo wir jetzt nicht wissen, aus wel-chen Mitteln der letzte Landtagswahlkampf finanziertworden ist – mit diesen Unterstützungshandlungen etwades Kollegen Rexrodt zu tun?
Die Affäre des Kollegen Möllemann ist genauso wenigeine Affäre nur des Kollegen Möllemann, wie das SystemKohl nur ein System des ehemaligen Abgeordneten undBundeskanzlers Kohl war. Vielmehr ist die Affäre desKollegen Möllemann eine Affäre der FDP.
Das kann nicht Herr Möllemann alleine gewesen sein, derin 158 Bankfilialen erschienen ist und dort Geld einge-zahlt hat. Da waren noch mehr Leute am Werk. Es ist rich-tig und wichtig, dass Sie ihn verklagen. Aber warum las-sen Sie die anderen alle außen vor?
Dieses System stinkt weiter. Dieses System stinkt auchin die Vergangenheit. Es hat sich nicht nur ausgewirktetwa bei dem Flugblatt kurz vor der letzten Bundestags-wahl, sondern, wie wir inzwischen wissen, wahrschein-lich auch im Jahr der Landtagswahl in Nordrhein-West-falen, als sich Herr Möllemann seinerzeit den glorreichenSieg auf seine Fahnen geschrieben hat.Wir wollen von Ihnen wissen: Woher kommt diesesGeld? Es gibt den dringenden Verdacht, dass dieses Geldaus arabischen Quellen gekommen ist.
Das haben nicht nur Zeitungen berichtet, sondern das er-gibt sich möglicherweise – auch ich weiß nichts Näheres –
aus den engen Connections des Kollegen Möllemann undder FDPhin in den arabischen Raum. Schließlich war HerrMöllemann derjenige, der bereits Anfang der 90er-Jahrearabischen Wünschen etwa nach Waffenlieferungen imgroßen Umfang entsprochen hat.Solange Herr Möllemann nicht sagt, woher er das Geldhat, ist jede Spekulation, auch in diese Richtung, begrün-det. Wenn sein antisemitisches Flugblatt mit arabischen
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Geldern finanziert worden ist, dann ist der Skandal voll-ständig.
Deshalb: Es muss sofort und vollständig aufgeklärt werden.
Das Wort hat der Kollege Thomas Strobl, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Lassen Sie mich in aller Ruhe drei Bemerkungen ma-chen.Erstens. Die Geschehnisse um den FDP-PolitikerMöllemann sind äußerst bedauerlich, nicht nur für dieFDP, sondern für die Demokratie und ihre Institutioneninsgesamt. Wieder einmal nimmt die Politik Schaden undes besteht die Gefahr, dass das Vertrauen der Bevölkerunginsgesamt Schaden nimmt.Zweitens. Die FDP-Führung hat freilich zugesagt,möglichst alles aufzuklären. Ich habe derzeit durchausden Eindruck, dass dies ernst gemeint ist und dass sie wil-lens ist, eine entsprechende Auskunft sogar gerichtlicheinzuklagen.Drittens. Natürlich muss die Staatsanwaltschaft ihrePflicht tun. Sie hat mögliche strafrechtliche Verfehlungenzu untersuchen und gegebenenfalls anzuklagen. Ich habeauch hier keinen Zweifel, dass die Staatsanwaltschaft ihreAufgabe erfüllt. Ich weiß nicht, was es hierzu in einer Ak-tuellen Stunde zu debattieren gäbe.
– Eine Aktuelle Stunde sollte eine Aussprache über einThema von allgemeinem aktuellen Interesse sein, HerrWiefelspütz.
Die Frage ist daher, ob das heutige Thema von allgemei-nem Interesse ist – der eine oder andere Debattenbeitraghat diesbezüglich zu Zweifeln Anlass gegeben – oder obes sich um ein sehr durchsichtiges Manöver handelt, umvon den wahren Problemen in unserem Land und von dertiefen Krise, in der sich unser Land befindet, abzulenken.
Offensichtlich geht es der SPD darum – Ihnen verdan-ken wir ja die Aktuelle Stunde –,
vom kompletten Chaos der ersten rot-grünen Regierungs-wochen in Ihrer zweiten Legislaturperiode abzulenken.Draußen demonstrieren die Menschen, die durch die ka-tastrophale Politik der Bundesregierung in Bedrängnisgeraten sind,
für den Fortbestand ihrer nackten Existenz und gegen dierot-grüne Politik für höhere Steuern und höhere Abgaben.Aber die SPD eröffnet wieder einmal einen Nebenkriegs-schauplatz, indem sie diese Aktuelle Stunde beantragt hat,die in keiner Weise auf Erkenntnisgewinn zielt, sondernlediglich dazu geeignet ist, von den wahren Problemendieses Landes und der Unfähigkeit von Rot-Grün, sie zulösen, abzulenken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD,wenn Sie schon mit einem so hohen moralischen An-spruch auf andere herabsehen, dann sollten Sie diese mo-ralische Messlatte an sich selbst anlegen,
nach dem Motto: Ein jeder kehr’ vor seiner Tür und sau-ber ist das Stadtquartier.
Übrigens: Gegen wie viele Oberbürgermeister aus denReihen der SPD laufen eigentlich gerade Ermittlungsver-fahren wegen Betruges, wegen Untreue und wegen Be-stechlichkeit?
Wo sind denn die Aufklärer in der SPD, wenn es um denGenossenfilz in Nordrhein-Westfalen, in Bremen, inSchleswig-Holstein oder wo auch immer geht?
Wer im Glashaus sitzt, verehrter Herr Kollege Edathy, dersollte nicht mit Steinen werfen, schon gar nicht, wenn erwie Sie in die Nähe von Felsbrocken geraten ist.
In Köln ist die SPD in einen Korruptions- und Spen-denskandal verwickelt.
Namhafte Vertreter der SPD sollen über ScheinfirmenSchmiergelder in Millionenhöhe erhalten haben. Gegen38 Kölner SPD-Politiker ermittelt die Staatsanwaltschaftwegen des Verdachts der Steuerhinterziehung, der Un-treue, der Beihilfe zum Betrug usw.Als weitere Beispiele nenne ich den Saarbrücker Ober-bürgermeister Hajo Hoffmann von der SPD, der wegenHans-Christian Ströbele
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Thomas Strobl
Untreue in zwei Fällen vom Amtsgericht Saarbrücken zueiner Geldstrafe verurteilt worden ist, der aber immernoch im Amt ist, und weiter die Korruptionsaffäre derLandesregierung in Schleswig-Holstein, bei der es eben-falls um Kreditbetrug, Steuerhinterziehung, Bestechlich-keit usw. geht. Es gibt weitere Affären in Gladbeck, Reck-linghausen und Mülheim. Sie alle aufzuführen, dazureicht die Zeit nicht.
Bei Matthäus steht geschrieben: „Was siehst du aberden Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht ge-wahr des Balkens in deinem Auge.“
Ich kann Ihnen, meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen von der SPD, nur raten: Hören Sie auf, ständigFehler bei anderen zu suchen und anzuprangern, solangeSie nicht bereit sind, eigene Fehler einzuräumen!
Hören Sie auf, ständig den Versuch zu unternehmen, vonden wahren Problemen dieses Landes abzulenken!
Produzieren Sie keine Scheindebatten und Nebenkriegs-schauplätze!
Wenden Sie sich vielmehr den Problemen dieses Landes,der Arbeitslosigkeit, der steigenden Staatsverschuldung,dem mangelnden Wirtschaftswachstum und der Bedro-hung der inneren Sicherheit, zu! Tragen Sie damit dazubei, dass die Bürgerinnen und Bürger insgesamt wiedermehr Vertrauen in die Politik gewinnen! Wenn jeder beisich selbst anfängt, wenn jeder seine Aufgaben wahr-nimmt,
dann – aber auch nur dann – kann uns das gemeinsamglaubhaft gelingen.Besten Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Fograscher, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Fast drei Jahre lang hat sich der Untersuchungsaus-schuss der vergangenen Legislaturperiode mit illegalenParteispenden und der möglichen Beeinflussung staat-lichen Handelns durch finanzielle Zuwendungen anAmtsträger, Parteien oder Institutionen befasst. Zwarwurde der Abschlussbericht des Untersuchungsausschus-ses noch vorgelegt; doch war uns allen klar, dass die Auf-klärung nicht zu Ende ist. Zu viele Fragen blieben offen.Es ist und bleibt natürlich von aktuellem Interesse, diesenFragen weiterhin nachzugehen.Dazu haben Sie, Herr Röttgen, Herr Friedrich und HerrStrobl, nichts gesagt. Woher kam denn das Geld, das sichin den schwarzen Kassen von Helmut Kohl befand?
Zu welchem Zweck wurde es gezahlt? Von wem kam esund wie wurde es verwendet?
Schien die Flugblattaffäre um Jürgen Möllemannzunächst eine regional begrenzte und auf den FDP-Lan-deschef beschränkte Affäre zu sein, zieht das Ganze in-zwischen weitere Kreise. Obwohl Herr Rexrodt und HerrWesterwelle angeblich alles zur Aufklärung tun, fühlenwir uns stark an die Machenschaften von Kohl, Kiep undCo erinnert.
„Spur nach Liechtenstein“ – so der „Spiegel“ in seiner ak-tuellen Ausgabe. Er bringt ebenso wie die Steuerfahndungin Düsseldorf Altbekanntes in Verbindung mitMöllemann. Sie bleiben mit Ihrer Aufklärung im Jahre2000 stecken. Sie müssen aber weiter zurückgehen: Siemüssen den Deal mit den Fuchs-Spürpanzern undMöllemanns Kontakte nach Saudi-Arabien untersuchenund Sie müssen nachschauen, was er mit der Briefkasten-firma Great Aziz zu tun hat.
Auch der Umgang mit ominösen Geldern ist altbe-kannt. Zunächst werden die Geldgeber verschleiert odernicht genannt – Helmut Kohl lässt grüßen.
Dann wird das Geld für zweideutige Kampagnen imWahlkampf genutzt – Roland Koch lässt grüßen – und inHessen tut die FDP alles, um an der Macht zu bleiben, undwenig dazu, um aufzuklären.Es gibt noch mehr Parallelen: Jürgen Möllemann ent-wickelt sich immer mehr zum nordrhein-westfälischenHelmut Kohl unter einem angeblich liberalen Deckmän-telchen.
Möllemann hat die FDP zu seiner eigenen Profilierungebenso instrumentalisiert, wie Helmut Kohl es mit derCDU getan hat.
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Die FDPhat Möllemann viel zu lange gewähren lassen, sowie es auch die CDU mit Helmut Kohl getan hat.
Die FDP versucht, diese Affäre als Einmannstück darzu-stellen. Dies hat sie von der CDU gelernt.Es ist wahr: Kein noch so gutes und strafbewehrtes Par-teiengesetz kann verhindern, dass Einzelne mit entspre-chender krimineller Energie Vorschriften zu umgehenversuchen. Aber differenzieren sollte man schon, wennman sich die einzelnen Affären anschaut. Es macht zwarstrafrechtlich keinen Unterschied, ob ein Bundeskanzlerwährend seiner Amtszeit, ob ein Jürgen W. Möllemann alsamtierender Landes- und Fraktionsvorsitzender undLandtags- und Bundestagsabgeordneter oder ob ein Kom-munalpolitiker gegen das Parteiengesetz verstößt.
Aber politisch ist das auf keinen Fall gleichzusetzen. HerrStrobl, Herr Friedrich, mit Ihrem andauernden Versuch ei-ner Gleichsetzung
drücken Sie sich vor Ihrer politischen Verantwortung. Dashaben Sie im Untersuchungsausschuss stets getan.
Es macht auch einen Unterschied, ob mit Geldern du-bioser Herkunft eine Kommunalwahl oder eine Landtags-oder gar Bundestagswahl beeinflusst werden soll.
„Transparenz gegen politische Korruption“ – unter dieserÜberschrift zitiert der Abschlussbericht des Parteispen-den-Untersuchungsausschusses den Bericht des Flick-Un-tersuchungsausschusses.
Ich zitiere:Politische Parteien und deren Repräsentanten, insbe-sondere wenn sie in politischen Spitzenämtern Verant-wortung tragen, wirken in der auf Rechtstaatlichkeitgründenden parlamentarischen Demokratie prägendauf den Umgang mit Verfassung und Gesetzen.Weiter heißt es: Sie tragenbesondere Verantwortung dafür, dass die Bürgerin-nen und Bürger hinlängliche Sicherheit für korrektesstaatliches Handeln haben.Sorgen Sie von Union und FDP für Aufklärung undTransparenz! Ziehen Sie endlich die Konsequenzen, an-statt sie nur anzukündigen!
Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Rexrodt für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte die Vorgänge um die Spendenpraxis in Nord-rhein-Westfalen – wenn man es genau betrachtet: im un-mittelbaren Umfeld von Jürgen Möllemann – hier in kei-ner Weise bagatellisieren. Ich möchte sie auch gar nichtrelativieren,
etwa unter Hinweis auf die Vorgänge in anderen Par-teien. Aber ich möchte, wenn das erlaubt ist, an diesemPult ein Stück Betroffenheit über die Kolleginnen undKollegen von der SPD äußern. Die stellen sich hier hinund schlagen um sich: Sie hauen auf die Union und aufdie FDP ein – mit Vorgängen, die man politisch beim Na-men nennen muss, die man auch geißeln kann und auf-arbeiten muss –, haben dann aber nicht die Fairness unddie Kraft,
vor ihrer eigenen Tür zu kehren, ja, vermeiden es, ihre ei-genen Verfehlungen und Skandale überhaupt nur zu er-wähnen.
Das macht mich fassungslos. Wie kann ein Abgeordneter,wie eine Abgeordnete des Deutschen Bundestages auf diebeiden genannten Parteien losprügeln und gleichzeitig sotun, als sei in den eigenen Reihen überhaupt nichts pas-siert? Sie legen hier eine Chuzpe an den Tag und eineSchamlosigkeit, die verwundert.
Ich möchte für meine Partei und für meine Personmit Entschiedenheit das zurückweisen, was Sie, HerrHofmann, am Anfang gesagt haben, nämlich dass es amWillen fehle, diese Dinge gründlich aufzuarbeiten.
– Herr Edathy, dass Sie mit langer Vorbereitungszeit da-ran gearbeitet haben, heute eine Rede zu halten, in der Siesich auch persönlich profilieren können,
haben wir alle gemerkt.
Es ist Ihnen ja auch bedingt gelungen.Ich sage mit aller Deutlichkeit: Wir sind nie getriebenworden. Wir waren es, die über die Spendenvorgänge in-formiert haben und an die Öffentlichkeit gegangen sind,Gabriele Fograscher
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Dr. Günter Rexrodtohne von einer Staatsanwaltschaft dazu gezwungen odervon Journalisten dazu gedrängt worden zu sein.
Wir sind diejenigen gewesen, die von sich aus den Bun-destagspräsidenten informiert haben. Wir sind an die Pressegegangen und haben immer wieder Daten, Fakten, rele-vante Erkenntnisse an die Öffentlichkeit gebracht,
weil wir der Meinung sind, dass der Bundestagspräsident,das Parlament, die Menschen ein Anrecht haben, um dieseVorgänge zu wissen und sie aufbereitet zu bekommen.Eine solche Gründlichkeit, eine solche Offenheit – ichsage auch: eine solche Ehrlichkeit – hat es bisher bei kei-ner anderen Partei gegeben.
Ich habe in dieser Angelegenheit – zusammen mit mei-nen Kollegen, die das vor Ort in Düsseldorf bearbeiten –hier und anderswo alles gesagt, was ich weiß.
Wenn es relevante Tatbestände gäbe, die zu wissen sichlohnt, dann werde ich sie der Öffentlichkeit zur Kenntnisbringen. Bei uns ist ein Aufklärungswille vorhanden, derin anderen Parteien seinesgleichen sucht.
– Das Ergebnis haben wir noch nicht.
Wenn Sie – damit komme ich zum zweiten Punkt – Er-kenntnisse haben, die hilfreich sind, um die Spender zufinden und die Hintergründe aufzuklären, dann teilen Siedas mit.
Der Weltmeister in diesen Dingen ist Herr Ströbele mitVerdächten und der großen Keule. Im Hintergrund warenPanzer und dieses und jenes.
Herr Ströbele, das haben Sie ja drauf und wir brauchen imParlament auch solche Leute.
Aber nur mit Verdächten zu arbeiten und nur Begriffe inden Raum zu stellen, ohne etwas zu wissen und ohne Er-kenntnisse zu haben – wenn Sie diese hätten und uns nichtmitteilten, dann wäre das ein Versäumnis, Herr Ströbele –,ist eine billige Methode der parlamentarischen Auseinan-dersetzung.
Nähren Sie keine Verdächte!Dann stellt sich Herr Ströbele auch noch hin und sagt:Der Kollege Rexrodt ist nicht der Richtige, um das auf-zuklären, weil er 1995 in Kanada über den Panzer ver-handelt hat.
Herr Ströbele, mit Kanada und anderen Verbündeten ver-handelt Ihre Regierung jeden Tag über wehrtechnischenAustausch, über Exporte und Importe.
Nun möchte ich Ihnen eins sagen, Herr Ströbele:
– Hören Sie doch einmal zu! – Ich habe bei dieser Reisenie ein Wort oder eine Bemerkung oder auch nur ein Au-genzwinkern darauf verwendet, über dieses Projekt, dasSie ansprechen, in Kanada zu verhandeln.
Nehmen Sie das zur Kenntnis oder prüfen Sie es nach!Kommen Sie nicht dauernd mit Verdächten! Kommen Siemit Fakten! Helfen Sie uns aufzuklären!
Nun zum letzten Punkt: Ich komme zum schäbigenVersuch von Herrn Beck und in besonders persönlich pro-filierter Form von Ihnen, Herr Edathy, unsere Partei nunin die Ecke zu stellen als eine Partei, die über diese Affäreihre Seele verloren und ihre Programmatik aufgegebenhat. Als ob die Menschen draußen Ihnen das abnehmenwürden! Das ist ein unverzeihlicher und über alle Maßenbedauerlicher Vorgang. Aber von diesem Vorgang habenwir uns als gesamte Partei durch entschlossenes Auftretenund durch unseren Wahlkampf immer distanziert. Wirsind eine Partei der Weltoffenheit.
Wir sind eine Partei der Toleranz. Wir sind kosmopoli-tisch und offen.
– Wer schreit, ist im Unrecht.
Als ob Sie nicht wüssten, dass wir eine andere Parteisind als die, zu der Sie uns durch diese Affäre machen wol-len! Die Affäre ist schlimm genug; aber unsere liberalePartei, die FDP, war und bleibt das, was sie immer war.
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Nächster Redner ist der Kollege Montag für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie, HerrRexrodt, versuchen, eine Spendenaffäre in Ihrer Parteiaufzuklären. Ich werfe Ihnen, solange ich keine Beweisehabe, nicht vor, dass Sie das nicht richtig und nicht voll-ständig machen würden. Aber es ist etwas scheinheilig,wenn man so tut, als ob man einen Anlass gebraucht hätte– über den Anlass werde ich noch reden –, um sich über-haupt Gedanken über die Spenden an die FDP zu ma-chen.Im Rückblick auf die Bundestagswahl sage ich Ihnen:Der Bundestagswahlkampf der FDP war mit dem Geldder FDP nie zu finanzieren. Das weiß ich deswegen, weilich als Landesvorsitzender der bayerischen Grünen – dieGrößenordnungen sind hierbei ungefähr gleich – selberfür einen Bundestagswahlkampf politisch und auch fi-nanziell verantwortlich war. Deswegen weiß ich, was manmit dem Geld, das man offiziell hat, machen kann und wasnicht. Mir jedenfalls war klar, dass Ihr Wahlkampf vonIhrem Geld nicht zu finanzieren war. Das konnte nurdurch Schulden oder Spenden geschehen.
Diese Millionenspenden – die haben Sie in Nordrhein-Westfalen augenzwinkernd eingesteckt und sich gedacht,Herr Möllemann sei so ein toller Spendeneintreiber –wären für Sie Anlass gewesen, sich von Anfang an inner-parteilich um Ihr Spendenwesen zu kümmern. Hätten Siedas getan, bräuchten Sie jetzt nicht in den Einwohner-meldeämtern in Nordrhein-Westfalen mühsam nach ir-gendwelchen Scheinadressen zu suchen, dann hätten Siedas von vornherein klären können.
Ich will zu diesem Anlass – es fängt immer mit einerkleinen Sache an und wird dann zu einer Lawine – nurFolgendes sagen: Die Deutsche Post hat einen Fehler ge-macht und hat von einem falschen Konto ein paar Milli-onen Mark abgezogen.
– Genau so ist es gewesen. Herr Möllemann hat dannplötzlich gemerkt, dass es von seinem Privatkonto abgeht.Damit ist die ganze Lawine überhaupt erst ins Rollen ge-kommen.Aber schon nach einigen Tagen erkennen wir – ver-schließen Sie als Wirtschaftspartei doch nicht die Augenvor folgenden Fakten –: Es wird nur ein paar Tage languntersucht und schon tauchen auf: Liechtenstein, Kontenvon Treuhändern, Firmen, die nur Briefkastenfirmen sind.Der Name eines Great Aziz taucht auf. Es gibt ein Schar-nier zwischen diesen Fakten, die wir alle kennen, unddem, was in einem anderen Untersuchungsausschussschon besprochen worden ist, nämlich Herrn Schreiber.Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass dieses Scharnierbesteht.Vielleicht interessiert dies die Staatsanwaltschaft nicht,aber uns im Parlament interessiert schon, welche Verbin-dungen es über dieses Scharnier zwischen dem Waffen-handel bis in den arabischen Raum hinein und Ihrer Par-tei mit Herrn Möllemann gegeben hat.
– Diese wenigen Fakten, die wir haben,
reichen schon aus, um sich Gedanken zu machen. Diesollten Sie sich machen.Herr Rexrodt, ich will zum Inhalt des Flugblatteszurückkommen,
das Ausgangspunkt der ganzen Geschichte gewesen ist.Auch dies interessiert die Öffentlichkeit und interessiertuns. In diesem Flugblatt sind zwei Menschen abgebildetworden, Herr Scharon und Herr Friedman, ein Israeliund ein Deutscher. Beide haben mit dem Bundestags-wahlkampf der FDP überhaupt nichts zu tun gehabt
und wurden benutzt – ich sage: sie wurden missbraucht –,
um mit diesem Flugblatt zwei Topoi, zwei Idiome zu be-dienen. Das erste Idiom ist: Man muss in Deutschlandendlich wieder einmal etwas sagen dürfen; als ob dies inDeutschland nicht möglich wäre. Das zweite ist vorder-gründig angeblich eine Kritik an der israelischen Regie-rung. Geht man aber tiefer, stellt man fest: Es ist sozusa-gen das Idiom dafür, dass man Juden in Deutschland nichtkritisieren dürfe, und dies sollte man endlich wieder tundürfen.Dafür haben Sie bei der Bundestagswahl ein respek-tables Ergebnis bekommen. Ich hätte Ihnen ein schlechte-res Ergebnis gewünscht. Sie haben dieses Ergebnis er-zielt, weil Sie den rechten Rand bedient haben.
Deswegen liegt für mich über die Spendenaffäre hinausder tiefere Sinn einer solchen Stunde und einer solchenDebatte darin zu erkennen, dass die FDP radikal nachrechts in eine antisemitische Ecke gerutscht ist. Deswe-gen ist Frau Hamm-Brücher aus Ihrer Partei ausge-treten, und deswegen sage ich zum Schluss: Wir solltendarüber aufklären, wo diese Partei, die einst für Rechts-staatsliberalismus gestanden hat, heute angekommenist, nämlich am rechten Eck der Gesellschaft, weilSie Herrn Möllemann allzu lange haben gewähren las-sen.
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Jerzy MontagDanke schön.
Letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde ist die Kolle-
gin Dorothee Mantel. – Nein? Entschuldigung, es spricht
danach noch der Kollege Wend. Dies wäre mir wegen des
virtuosen Umgangs des Kollegen Wiefelspütz mit seiner
angemeldeten Rede fast entgangen.
Gleichwohl hat zunächst die Kollegin Mantel das Wort.
Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! GestattenSie mir zunächst ein persönliches Wort, bevor ich mitmeiner Rede beginne. Dies ist meine erste Rede im Deut-schen Bundestag. Es ist für mich keine Selbstverständ-lichkeit, heute hier zu stehen. Es macht mich unheimlichstolz und ich freue mich sehr, dass ich heute hier sein darf.Ich hätte es mir allerdings gewünscht, zu einem anderenThema sprechen zu können, aber dies kann man sich lei-der nicht aussuchen.
Ich bin etwas verwundert, dass die alte und leider auchneue Koalition mit dieser Debatte ganz offensichtlich vonden wirklich wichtigen Fragen in unserem Land ablenkenwill.
Ich habe ursprünglich gedacht, dass sich der DeutscheBundestag mit der Lösung der wirklich wichtigen Pro-bleme unseres Landes beschäftigt. Ich habe heute in der„FAZ“ die Prognose eines Wirtschaftsforschers gelesen,dass allein durch den Anstieg der Beiträge zur Rentenver-sicherung und zur Krankenversicherung 100 000 Stellenverloren gingen.
Diese Nachricht ist kein Zufall, sondern symptomatischfür jeden Tag der letzten Wochen. Die Probleme inDeutschland sind die Rentenversicherung, der Arbeits-markt, das Gesundheitssystem, die Konjunktur und derHaushalt. Meine Generation verlangt in diesen Bereichennach Antworten.
Da reicht es nicht, wenn Sie die mehr als berechtigtenProteste in Ihren eigenen Reihen beseitigen, indem Sie diehundertste Kommission zur Besänftigung beschäftigen.Die Generationengerechtigkeit ist ein Thema, über daswir hier und heute debattieren sollten.
Sie nutzen jede noch so kleine Gelegenheit, um von denrichtigen Problemen abzulenken. Da greifen Sie nach je-dem Strohhalm.
– Ich habe von Kollegen aller Fraktionen einmal gehört,dass es üblich sei, bei der ersten Rede eines neuen Kolle-gen nicht dazwischenzurufen.
Das war wohl früher einmal so, als wir noch an der Re-gierung waren. Jetzt scheint der Umgang miteinander an-ders geworden zu sein.
Ich möchte nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ichhabe kein Verständnis für Gesetzesverstöße. Ich bin froh,dass das Parteiengesetz in der vergangenen Wahlperiodegemeinsam auf eine neue Basis gestellt wurde. Es stehtalso außer Frage, dass nach Aufklärung der Tatsachenauch in dem jetzigen Fall entsprechende Konsequenzengezogen werden müssen. Aber dies hat die FDP in allerDeutlichkeit getan. Sie hat uns alles erklärt. Ich wünschemir also, dass wir hier jetzt andere Sachen besprechen.
Aus meinen Gesprächen mit Bürgern vor Ort weiß ich,dass solche Vorgänge wie der jetzt zur Debatte stehendedas Vertrauen zwischen den Wählern und uns, den Ge-wählten, zerstören und zu Politikverdrossenheit führen.Ich weiß aber auch, dass es richtig ist, sich in Parteien undParlamenten für das Gemeinwohl einzusetzen. Ich lassemir mein persönliches Engagement in der Politik durchsolche Affären nicht kaputtmachen.
Aber am nachhaltigsten wird Politikverdrossenheit durcheine ungerechte Regierungspolitik hervorgerufen; denndie Wähler beurteilen die Vergehen Einzelner anders alsein verwerfliches Handeln, das der Politik ganz allgemeinzuzuschreiben ist.
Ich nenne Ihnen als Beispiel einen ehemaligen Kollegenaus Ihrer Koalition. Ihr ehemaliger Kollege Metzger, derja nicht irgendwer, sondern haushaltspolitischer Sprecherder Fraktion der Grünen war, hat gestern Abend in „Fron-tal 21“ gesagt:
In einem Abwägungsprozess – wollen wir weiter re-gieren? – hat sich die SPD und die Bundesregierungund auch der Bundeskanzler fürs Weiterregieren ent-schieden
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– jetzt kommt es –und gegen die Ehrlichkeit.So etwas nenne ich verwerfliches Handeln, das zu Politik-verdrossenheit führt.
Denn hier geht es nicht um Verfehlungen Einzelner. Esgeht vielmehr um eine bewusste Wählertäuschung, umdas Haushaltsloch bis nach der Bundestagswahl zu ver-schweigen. So etwas zerstört Vertrauen und ist unverzeih-lich. So etwas führt zu Politikverdrossenheit.
Das gilt für die Frage des Haushalts, aber auch für vieleweitere Versprechen. Ich finde es nicht in Ordnung, dassSie mit der heutigen Aktuellen Stunde von den eigentli-chen Problemen unseres Landes ablenken wollen.
– Ich muss ganz ehrlich sagen, auch wenn es verboten ist:Das Nicken auf der Zuschauertribüne gibt mir Recht, dasalles in meiner Rede anzusprechen.
Gerade Sie sollten sich bei Ihrer Selbstgerechtigkeitüberlegen, wo noch Nachholbedarf besteht. Dieser be-steht – mein Kollege Friedrich hat schon darauf hinge-wiesen – zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen. Korrup-tionsaffären werden von den Wählern noch ganz anderseingestuft als Parteispendenaffären. Ich verweise bei-spielsweise auf Wuppertal.Ich möchte Ihnen noch ein aktuelles Beispiel aus mei-nem Bundesland geben. Bei der „Coburger NeuenPresse“, der „Frankenpost“ oder dem „NordbayerischenKurier“ – das sind alles Zeitungen aus meiner nächstenNähe – hat die SPD mit einer Beteiligung von 30 Prozentfaktisch eine beherrschende Stellung.
Ihre Schatzmeisterin sagt:Auch dort, wo wir nur 30 oder 40 Prozent haben,kann in der Regel nichts ohne uns passieren.Erzählen Sie mir also bitte nicht, dass dies ohne Auswir-kungen auf die Schwerpunktsetzung bei der Bericht-erstattung bleibt.
– Ich habe dort schon gearbeitet. Ich glaube nicht, dass Siedie Berichterstattung besser beurteilen können als ich.
Ich komme zum Schluss. Eine Debatte wie die heutigebietet schon genug Stoff für diese Zeitungen und lenktwieder einmal von den wirklichen Problemen unseresLandes ab, weil Ihre hoch bezahlten Tageszeitungen – dassind diejenigen, die wirklich Macht in unserem Staat ha-ben – das anders kommentieren werden. Transparenz tutalso auch bei Ihnen Not!Vielen Dank.
Frau Kollegin Mantel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede im Deutschen Bundestag,
die Sie sich allerdings zu einem anderen Thema und ohne
Zwischenrufe gewünscht hätten. Da die meisten Reden in
diesem Parlament mit Zwischenrufen angereichert werden,
sind Sie auf die nächste Rede, die Sie hoffentlich zu einem
Thema halten, das Sie sich noch mehr wünschen, bestens
vorbereitet.
Als letzter Redner hat nun der Kollege Rainer Wend für
die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich richteein Wort an die Kollegin, die gerade gesprochen hat. Siehat sich gewünscht, dass sie zu einem anderen Themahätte sprechen können. Den Wunsch hat sie sich selber er-füllt; denn sie hat zu dem Thema, das auf der Tagesord-nung steht, nichts gesagt.
Gestatten Sie mir, dass ich versuche, die Gräben, diesich zwischen SPD und Grünen einerseits und CDU/CSUund FDP andererseits aufgetan haben, etwas anders be-leuchte. Ich möchte – Herr Stadler, bitte fassen Sie dasnicht als belehrend auf – zwei Dinge positiv bewerten.Das eine ist die starke Präsenz Ihrer Fraktion; damit meineich nicht Herrn Westerwelle, der seine Gründe dafür ha-ben wird, dass er nicht da ist. Dadurch zeigt Ihre Fraktion,dass sie sich der Verantwortung stellt und sich damit aus-einander setzt. Das war bei den Kolleginnen und Kollegenvon der CDU nicht immer so, wenn wir über diese The-men gesprochen haben.
Zweitens. Ich glaube, bei einem Teil der Aufklärungliegen die Gräben nicht zwischen Rot-Grün einerseits undCDU/CSU und FDP andererseits, sondern zwischen Rot-Grün und FDP auf der einen Seite und CDU/CSU auf deranderen Seite.
Was will ich damit sagen? Alle Parteien mit Ausnahme derGrünen, ob die Sozialdemokraten in Köln, die CDU wegenDorothee Mantel
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Dr. RainerWendHelmut Kohl oder jetzt die FDP wegen Möllemann, ha-ben – das ist mehrfach gesagt worden – beträchtliche Pro-bleme. Bei der Aufklärung dieser Probleme bestehen so-wohl Parallelen wie auch Unterschiede. Ich kann zumBeispiel folgenden Unterschied feststellen: Im Untersu-chungsausschuss hatten wir das Problem, dass sich Kohl,Weyrauch und wie sie alle hießen am Ende, als es um dieBeantwortung der Frage ging, wer die Spender waren, aufihr Schweigerecht berufen und nichts gesagt haben. Damitwaren uns alle Wege versperrt. Wir kamen an der Stellenicht weiter; Herr Stadler, Sie erinnern sich daran.
Wir haben immer gefordert, gegen die Leute, die für il-legale Spenden verantwortlich sind, Auskunftsklage zuerheben, um zivilrechtlich aus ihnen herauszubekommen,wer die Spender sind. Als wir im Untersuchungsausschussnicht weiterkamen, haben wir gefordert, dass Auskunfts-klagen erhoben werden. Wir selber haben zum Beispiel inKöln eine solche Auskunftsklage erhoben. Sie von derFDP strengen eine solche bei Möllemann an. Ich hoffe,Sie halten das bis zum Ende durch. Die CDU/CSU hat bisheute keine Auskunftsklage erhoben. Merkel deckt bisheute den Mantel des Schweigens über den Skandal vonHelmut Kohl.
In Köln wurden die verantwortlichen Sozialdemokra-ten aus der Partei ausgeschlossen. Das werden Sie beiMöllemann auch tun, wenn er nicht selbst austritt; da binich mir sicher. Bei uns ist ebenso wie bei Ihnen von derFDP eine Auskunftsklage angestrengt worden. DochHelmut Kohl ist bis heute Ehrenvorsitzender der CDU.Wie können Sie damit überhaupt leben?
Das Mädchen – wie Helmut Kohl von Angela Merkelsprach – deckt den Schleier des Vergessens darüber.
Ich lese in der Zeitung, dass sich Frau Merkel mitHerrn Koch darüber streitet, wer in Zukunft die Führungbei der CDU übernimmt. Frau Merkel ist diejenige – ichwiederhole das –, die über die politische Korruption vonHelmut Kohl den Mantel des Schweigens deckt. HerrKoch ist jemand, der mit Geldern aus illegalen KassenMinisterpräsident geworden ist.
Wenn sich zwei solche Menschen in meiner Partei um dieSpitze bewerben würden, ich würde depressiv undschwermütig und nicht so aggressiv, wie Sie in dieser De-batte sind.
Da ich zwei positive Dinge zur FDP gesagt habe, ge-statten Sie mir auch zwei Bitten.
Erste Bitte. Das System Möllemann umfasst nach mei-ner Wahrnehmung drei Dinge: Das Erste sind schwarzeKassen und eine illegale Finanzierung. Das Zweite ist einim weitesten Sinne populistischer brauner Sumpf mit demZiel, Stimmen an sich zu binden, um neue Mehrheiten zuorganisieren.
Das Dritte ist ein gewisser Größenwahn – ich nenne dieStichworte 18 Prozent und Kanzlerkandidat.
Meiner Meinung nach haben Sie sich ein Stück zuweit – halb gezogen, halb getrieben – auf das SystemMöllemann eingelassen. Nicht nur aufgrund des Geldes,sondern auch aufgrund der inhaltlichen Verfehlungen die-ser Person – und auch der Personengruppe – kann ich andieser Stelle nur die Bitte an Sie richten – das ist wirklichnicht scheinheilig gemeint –, einen klaren Trennungs-strich zu ziehen.
Das sind Sie sich und auch der deutschen Demokratieschuldig.
Bei meiner zweiten Bitte nenne ich das StichwortHessen. In den Zeitungen wird schon jetzt teilweise ge-schrieben: Na gut, der Möllemann ist am Ende, deswegenhauen die Liberalen drauf und machen es sich leicht. Ichfinde es richtig, dass Sie das auch weiterhin tun. Wenn Siedas aber mit gutem Gewissen tun wollen, dürfen Sie inHessen nicht anders operieren. Möllemann wollte mit ille-galem Geld an die Macht kommen. Herr Koch ist mit ille-galem Geld an die Macht gekommen und die FDPhält ihmnoch die Treue.
Wenn Sie die Trennung konsequent zu Ende bringen wol-len, müssen Sie auch in Hessen sagen: Mit Geld, das unsrechtsstaatlich nicht gehört, wollen wir nicht regieren.Diesen Trennungsstrich müssen Sie ziehen, um bei derAufklärung glaubwürdig zu werden.
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(C)
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 13. November 2002 523
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Ak-
tuellen Stunde und damit zugleich am Ende unserer heu-
tigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundesta-
ges auf morgen, Donnerstag, den 14. November, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.