Gesamtes Protokol
Schönenguten Tag! Die Sitzung ist eröffnet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Bericht der Bundesregierungzur Berufs- und Einkommenssituation von Frauenund Männern.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauenund Jugend, die Kollegin Dr. Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!Das Kabinett hat sich heute mit dem Bericht zur Berufs-und Einkommenssituation von Frauen und Männern undder Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Be-richt befasst. Dieser Bericht ist Teil unseres Programms„Frau und Beruf“, das wir 1999 beschlossen haben, weilwir ausgiebige Daten über die Einkommenssituation vonFrauen und Männern im Erwerbsleben haben wollten.Etwa zeitgleich hat auch der Deutsche Bundestag einensolchen Bericht eingefordert.Dieser Bericht wurde von einem wissenschaftlichenTeam unter Leitung des Wirtschafts- und Sozialwissen-schaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung er-stellt. Er informiert sehr detailliert über die Entwicklungder Berufs- und Einkommenssituation von Frauen undMännern. Er analysiert Ursachen für Ungleichheiten undgibt Hinweise auf konkrete Handlungsmöglichkeiten.Auch hat er – das finde ich bemerkenswert – interessanteOst-West-Vergleiche angestellt.Ich will Ihnen einige Ergebnisse präsentieren: PositiveEntwicklungen gibt es im Bereich der Ausbildung. Hierhaben Frauen gegenüber Männern beträchtlich aufgeholtund sie sogar überholt. Im Jahr 2000 machten 27 Prozentder Schülerinnen und 21 Prozent der Schüler Abitur.Im Bereich der Erwerbsbeteiligung von Frauen hat esim langfristigen Trend eine positive Entwicklung gege-ben. Frauen stellen mit rund 43 Prozent einen be-trächtlichen Teil der Erwerbstätigen in Deutschland. Al-lerdings müssen wir sehen, dass das Arbeitsvolumen derFrauen insgesamt in der gleichen Zeit eher gesunken ist.Das heißt, immer mehr Frauen teilen sich dieses Arbeits-volumen.Der Anteil der Frauen, die teilzeitbeschäftigt sind, istgroß. Hier besteht ein großer Unterschied zwischen Ostund West. In den alten Bundesländern sind es 42 Prozentgegenüber 23 Prozent in den neuen Bundesländern. Auchbei der Frauenerwerbsquote gibt es zwischen West undOst drastische Unterschiede. Sie hat in den alten Bundes-ländern enorm zugenommen und im Jahr 2000 mit unge-fähr 62 Prozent ihren höchsten Stand erreicht. Demgegen-über beträgt die Erwerbsquote von Frauen in den neuenBundesländern 72 Prozent. Sie hat sich, wie wir wissen,seit 1990 rückläufig entwickelt.Das leidige Thema „Frauen in Führungspositionen“wird durch Zahlen deutlich untermalt. Auch hier will ichIhnen den Vergleich zwischen Ost und West präsentieren:In den alten Bundesländern waren im Jahr 2000 nahezudoppelt so viele Männer wie Frauen in Führungspositio-nen tätig, wobei der Begriff der Führungsposition sehrniedrig angesetzt wurde. Das füge ich hinzu, weil wirhierzu auch andere Zahlen haben. Im Westen sind also20 Prozent der Männer gegenüber 10 Prozent der Frauenin Führungspositionen beschäftigt. Im Osten lagen dieZahlen insgesamt auf niedrigerem Niveau, dafür aber sehrviel näher beieinander. Was uns nicht überrascht und deut-lich belegt wurde: Während bislang für Männer die Kar-rierechancen mit zunehmendem Alter steigen, nehmen siefür Frauen mit zunehmendem Alter ab.Noch einige Zahlen zur Einkommenssituation, aufge-schlüsselt zwischen Ost und West: 1997 erreichten Frauenin den alten Bundesländern im Schnitt 75 Prozent desdurchschnittlichen Jahresbruttoeinkommens von Män-nern. In den neuen Bundesländern waren es 94 Prozent.Das spielte sich, wie wir alle wissen, auf einem niedrige-ren Niveau ab. Aber das gilt für Männer und Frauen in denneuen Bundesländern in gleichem Maße. Hier gibt es also23059
232. SitzungBerlin, Mittwoch, den 24. April 2002Beginn: 13.00 Uhrbeträchtliche Unterschiede. Dazu sage ich noch etwas,wenn ich auf die Ursachen zu sprechen komme.Die Situation ist bei den sehr jungen Frauen, den 20-bis 24-Jährigen, anders. In dieser Gruppe liegen die Ein-kommen von Frauen und Männern sehr nah beieinander.Aber die Einkommen entwickeln sich im Laufe desErwerbslebens immer mehr auseinander. Interessant istauch: Je höher das Ausbildungsniveau ist, desto größerfällt der geschlechtsspezifische Einkommensabstand aus.Das heißt also, Frauen ohne Qualifikation verdienen etwadurchschnittlich 82 Prozent des Einkommens der Männer,während Frauen mit Fachhochschulabschluss nur 69 Pro-zent verdienen. Höhere Qualifikation bedeutet für dieFrauen zwar höhere Einkommen. Gleichzeitig wird aberder geschlechtsspezifische Einkommensabstand größer.Daraus kann man deutlich ableiten, dass die Unter-schiede, die sich nachher bei den Renten niederschlagen,sehr groß sind; denn die Rente ist ja an die Erwerbsarbeitgekoppelt. Die Renten der Frauen in den alten Bundes-ländern liegen durchschnittlich bei 50 Prozent der Renten,die die Männer aufgrund ihrer eigenen Erwerbsarbeit er-halten. Die Renten der Frauen in den neuen Bundeslän-dern liegen trotz ihrer anderen Erwerbsbiografien beietwa 60 Prozent.Zur Situation bei der Aufteilung der Familien- undHausarbeit möchte ich nicht viele Worte verlieren. Sie istso, wie sie ist. Hier hat sich nicht viel verändert. Der über-wiegende Anteil der Familien- und Hausarbeit wird vonFrauen geleistet. Dafür gibt es vier Hauptursachen:Die traditionellen Geschlechterrollen wirken nach wievor sehr hartnäckig fort. Dies zeigt sich auch in der ge-schlechtsspezifischen Arbeitsteilung, also wenn es um dieFragen geht, wer für die Familien-, Erziehungs- und Pfle-gearbeit zuständig ist, wer die Erwerbsarbeit reduzierensoll und wer auf die berufliche Karriere verzichten soll.Des Weiteren lassen Arbeitsabläufe und betrieblicheOrganisationsstrukturen Beruf und Familie sehr schlechtmiteinander vereinbaren. Es gibt aber auch noch andereFaktoren, zum Beispiel das Berufswahlverhalten der jun-gen Frauen, wenn es also um die Frage geht, ob Fraueneher einen Beruf wählen, der gut bezahlt ist, oder ob siedie traditionellen Berufe bevorzugen. Wir wissen, wie dieSituation aussieht.Auch das Einstellungsverhalten der Betriebe trägt mitzu den geschilderten Lohn- und Einkommensdifferenzenbei.Zudem spielen die sozialen Sicherungssysteme hierbeieine Rolle. Das macht der Bericht sehr deutlich. Es istauch das nach wie vor völlig unbefriedigende Angebot anKinderbetreuungseinrichtungen vor allem in den altenBundesländern zu erwähnen, wenn es um die Vereinbar-keit von Beruf und Familie geht.Ich möchte noch hervorheben, dass der Bericht dieRichtung unserer Gleichstellungspolitik bestätigt. Wir ha-ben ja sofort begonnen, an all den Punkten anzusetzen, dieich als Ursache für die Ungleichbehandlung von Frauenund Männern angeführt habe. Schließlich sind sie nichtmehr neu. Der Bericht hat diese Punkte lediglich noch ein-mal deutlich gemacht. Wir kennen ja die Themen „Be-rufswahlverhalten“ und „Vereinbarkeit von Beruf und Fa-milie“. Wir haben massive Anstrengungen unternommen,um junge Frauen bei ihrer Berufswahl zu motivieren, indie Bereiche hineinzugehen, in denen man von vornhereinbesser bezahlt wird und in denen gute Aufstiegsmöglich-keiten bestehen.Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern,dass morgen der „Girls’ Day“ stattfindet. Ich hoffe, dasssich viele daran beteiligen werden. Wir versuchen ge-meinsam mit den Unternehmen und der D-21-Initiative,Mädchen Schnupperkurse anzubieten und Multiplikato-ren in die Schulen zu schicken, um sie für Berufe zu be-geistern, die sie bisher bei ihrer Berufswahl nicht so sehrberücksichtigt haben. Wir wollen so die Berufswahl jun-ger Mädchen auf eine breitere Grundlage stellen; dennMädchen können in den technischen Bereichen durchausdas Gleiche leisten wie junge Männer.Wir haben, wie Sie wissen, im Bereich der Vereinbar-keit von Beruf und Familie mit dem Elternzeitgesetz undmit dem Gesetz zur Regelung des Teilzeitanspruchs Be-dingungen geschaffen, die es in sehr viel besserem Maßeermöglichen, Arbeitszeiten zu reduzieren. Wir haben auchversucht, das Geschlechterverhalten zu verändern. Wirhaben darauf aufmerksam gemacht, dass die Vereinbar-keit von Beruf und Familie nicht nur ein Thema für Müt-ter und Frauen, sondern in gleicher Weise auch eines fürVäter ist. Wir haben das durch entsprechende Kampagnenbegleitet. Wir sind nach wie vor mit den Unternehmen imGespräch und haben Modelle entwickelt, um das ThemaFamilienfreundlichkeit besser in den Unternehmen zuverankern. Einige Unternehmen haben in dieser Hinsichtschon gute Fortschritte gemacht, und zwar im eigenen In-teresse: So langsam begreifen auch die Unternehmen,dass sie auf gut qualifizierte Frauen gar nicht verzichtenkönnen.Wir haben mit unserer Rentenreform wichtige Schrittegemacht, um die Ungleichheiten, die sich aus der unglei-chen Verteilung der Familienarbeit ergeben, zu beseitigen.Darauf zielte auch unser Zweites Gesetz zur Familienför-derung ab. Das, was wir hier auf den Weg gebracht haben,kann sich sehen lassen.Der letzte Punkt: Der Bericht thematisiert auch mittel-bare Diskriminierung durch Tarifgestaltung. Diesen Be-reich werden wir uns in den nächsten Jahren sehr genauangucken müssen. Hier ist nicht nur die Politik gefragt;das geht auch die Tarifpartner an, die überprüfen müssen,inwieweit die Tarifverträge geschlechtsspezifisch neutralsind. Die Bundesregierung wird dies im Hinblick auf denöffentlichen Dienst tun; das BMI arbeitet bereits daran.Es handelt sich um eines der Projekte im Rahmen desGender Mainstream, bei dem es auch darum geht, ob sichBewertungskriterien für Männer und Frauen unterschied-lich auswirken und welche Konsequenzen daraus gezo-gen werden müssen. Vor diesem Thema darf man jetztnicht zurückschrecken.Alles in allem zeigt dieser interessante Bericht, dasswir auf dem richtigen Weg sind. Wir wissen aber auch,dass wir noch eine beträchtliche Wegstrecke vor unshaben. Damit, dass wir in der nächsten Legislaturperiodedie Vereinbarkeit von Beruf und Familie gezielt fördern
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann23060
wollen – auch dadurch, dass der Bund Finanzmittel für dieGanztagsbetreuung aufwendet –, haben wir deutlich ge-macht, wie wir weiterarbeiten wollen.Danke.
Es gibt ei-
nige Fragen zu diesem Bericht der Frau Bundesministe-
rin. Zunächst gebe ich der Kollegin Fischbach das Wort.
Frau Ministerin, Sie
haben in Ihrem Bericht die sozialen Sicherungssysteme
und in diesem Zusammenhang die Renten der Frauen an-
gesprochen. Hier spielt auch die betriebliche Altersvor-
sorge eine Rolle. In einer Pressemeldung der „Süddeut-
schen Zeitung“ von gestern stellt nicht nur die CDU/CSU,
sondern auch die Finanzexpertin der Grünen, Frau Scheel,
fest, dass bei der betrieblichen Altersvorsorge vor allem
die Frauen schlechter gestellt sind und es hier einen drin-
genden Nachbesserungsbedarf gibt. Sehen auch Sie die-
sen Nachbesserungsbedarf und, wenn ja, wie wollen Sie
ihm Rechnung tragen? Im Vermittlungsausschuss ist
schon thematisiert worden, dass die Frauen in diesem Be-
reich schlechter gestellt werden; dennoch ist von Ihren
Kollegen Eichel und Riester abgeblockt worden. Wie se-
hen Sie dieses Thema und welche Möglichkeiten haben
Sie als Familienministerin, dieser Schlechterstellung ent-
gegenzuwirken?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Abgeordnete
Fischbach, dort, wo wir bei der Rentenreform eigene Ak-
zente setzen konnten, haben wir es zugunsten von Frauen
getan. Im Hinblick auf Teilzeitarbeit haben wir mit der
Rente nach Mindesteinkommen und der Aufstockung von
Beträgen einen gewissen Ausgleich geschaffen. Auch ha-
ben wir bei der privaten Säule sehr darauf geachtet, dass
sie den Frauen und insbesondere den Kinder erziehenden
Müttern zugute kommt. Allerdings befinden wir uns hier
zum Teil auch auf dem Gebiet des Tarifvertragsrechts;
dies fällt unter den von mir zuletzt genannten Punkt. Die
Tarifvertragsparteien müssen die Tarifverträge daraufhin
überprüfen, wie sich die Regelungen auswirken und wo
unter Umständen Änderungen erforderlich sind. Ich bin
zuversichtlich, dass es hierfür zumindest von der Ge-
werkschaftsseite her Unterstützung geben wird.
Frau
Schewe-Gerigk.
fest, dass es sehr positiv ist, dass sich die Einkommens-
situation der Frauen in den neuen Ländern sehr viel ge-
rechter als in den alten Bundesländern darstellt. Das In-
stitut der deutschen Wirtschaft hat vor kurzem berechnet,
dass es noch 86 Jahre dauern wird, bis Frauen das Gleiche
wie Männer verdienen, wenn die Lohnangleichung zwi-
schen Männern und Frauen mit der bisherigen Geschwin-
digkeit fortschreitet. Ich nehme an, dass Sie mit mir einer
Meinung sind, dass wir so lange nicht warten wollen. Da-
her frage ich Sie, welche Mittel es gibt, um diesen Prozess
abzukürzen. Bei den Gewerkschaften gibt es zwischen-
zeitlich zum Beispiel die Möglichkeit, die Arbeit anders
zu bewerten. Was halten Sie von solchen neuen analy-
tischen Verfahren, die dazu führen sollen, dass von Frauen
ausgeübte Tätigkeiten nicht schlechter als überwiegend
von Männern ausgeübte Tätigkeiten bewertet werden?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Abgeordnete
Schewe-Gerigk, ich bin mit Ihnen der Meinung, dass wir
nicht mehr 86 Jahre warten wollen, bis wir auf diesem Ge-
biet mehr Gerechtigkeit hergestellt haben werden. Die Ur-
sachen dafür, dass sich die Einkommenssituation in den
neuen Ländern gerechter darstellt, sind klar: In der Regel
waren Frauen dort vollzeitbeschäftigt und ohne größere
Unterbrechungen erwerbstätig und auch mehr in den Be-
reichen zu Hause, die eher von Männern dominiert sind.
Leider ist dies bei den jungen Frauen heute nicht mehr so
ausgeprägt.
Sie haben auch die Tarifvertragsgestaltung angespro-
chen: Hierzu enthält dieser Bericht sehr interessante und
ausführliche Darstellungen bestimmter Untersuchungen.
Es geht darum, dass wir EU-Recht umzusetzen haben,
nach dem die Gleichwertigkeit von Tätigkeiten zu berück-
sichtigen ist: Gleiche Tätigkeiten müssen gleich bezahlt
werden. Dies gilt bei uns in aller Regel bereits. Unmittel-
bare Diskriminierungen sind kaum noch festzustellen, je-
doch mittelbare.
Ich nenne ein Beispiel dafür: In der Altenpflege wird
körperliche Arbeit nicht als Bewertungskriterium heran-
gezogen, während sie aber im Metallbereich ein ganz ent-
scheidendes Kriterium für die Einstufung von Tätigkeiten
ist. Daran wird deutlich, worauf wir bei der Bewertung
achten müssen. Das ist ein Thema, das uns in der nächs-
ten Zeit sehr beschäftigen wird, natürlich in erster Linie
dort, wo wir selbst Arbeitgeber sind. Es gibt aber auch
Bemühungen auf europäischer Ebene. Wir werden im
Juni hier in Berlin mit Unterstützung der EU eine Konfe-
renz durchführen, bei der es darum geht, solche Bewer-
tungskriterien der Länder miteinander zu vergleichen und
zu analysieren, wo es Veränderungen geben muss, sowie
darum, die Bewertungskriterien auf den Prüfstand zu stel-
len, also das Thema einmal richtig in Angriff zu nehmen.
Frau Kolle-
gin Gradistanac.
Frau Ministerin, zunächsteinen zweifachen Dank: zum einen für Ihren mündlichenBericht, zum anderen aber vor allem für den schriftlichenBericht. Es war schon ein bisschen unzureichend, sich inder Vergangenheit nur auf die so genannten Leichtlohn-gruppen zu konzentrieren. Dieser Bericht trifft qualitativeine ganz andere Aussage, aus der wir Handlungsemp-fehlungen ableiten können.In der letzten Woche hatten wir eine ausführlichefamilienpolitische Debatte. Eines war klar: Wenn die
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann23061
Voraussetzungen für Frauen nicht gegeben sind, Familieund Erwerbsarbeit zu vereinbaren, wird es in Zukunftganz schwierig. Ich frage Sie: Was hat die Bundesregie-rung getan und was haben Sie noch vor?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau AbgeordneteGradistanac, Sie haben Recht: Wir können lange über dieEinkommenssituation reden, wenn wir nicht die Voraus-setzungen dafür schaffen, dass es für Männer und Frauenmöglich ist, Erwerbsarbeit mit Familienarbeit in Überein-stimmung zu bringen. Ich weise aber noch einmal daraufhin, dass wir in der Hinsicht in dieser Legislaturperiodeviele Steine aus dem Weg geräumt haben.Genannt sei das Elternzeitgesetz, nach dem es jetztmöglich ist, dass beide Elternteile zur gleichen Zeit El-ternzeit nehmen und die Reduzierung der Arbeitszeitnicht immer nur bei den Müttern hängen bleibt. Wir allewünschen uns viele Väter, die davon Gebrauch machen,auch deshalb, weil es für die Familie, für die Kinder undfür das Zusammenleben gut ist. Das Teilzeitgesetz setztdiese Bemühungen in ganz erheblichem Umfange fort.Kinderbetreuung muss sehr dringlich und gemeinsammit allen Partnern – mit den Kommunen, den Ländern unddem Bund – ausgebaut werden. Der Bund muss das zwarnicht tun, weil es verfassungsgemäß nicht seine Aufgabeist. Obwohl wir schon gescholten worden sind, wirmischten uns unzulässig in die Kompetenz der Länderein, kenne ich viele, die froh sind, wenn sie ein Stück weitunterstützt werden. Ich will erst einmal sehen, ob Ländersagen, sie wollten kein Geld vom Bund.Gleichzeitig haben hier auch die Unternehmen eineVerpflichtung. Es gibt bereits Unternehmen, die sich aufdiesem Gebiet engagieren. So bietet zum Beispiel dieTelekom Unterstützung in Form von Kinderbetreuung fürdie berühmten Brückentage an. Es ist ja eine Unsitte, dasses keine Kinderbetreuung gibt, wenn zwischen einemfreien Tag und einem Wochenende nur ein Arbeitstagliegt. Was macht dann eine alleinerziehende Mutter, wennniemand in der Nähe ist, der ihr das Problem der Kinder-betreuung abnehmen kann? Es gibt auch Unternehmen,die einen Familienservice anbieten oder Kinderbetreu-ungsmöglichkeiten in der Kommune mitfinanzieren.Die angesprochenen Unterschiede im Einkommenzwischen Ost und West zeigen deutlich: Das Vorhanden-sein von Kinderbetreuung führt dazu, dass Frauen in sehrviel größerem Umfang erwerbstätig sein können. DieserBericht besagt ebenso wie andere Studien, die auf unse-rem Tisch liegen: Die meisten Mütter wollen erwerbstätigsein. Sie wollen zum großen Teil mehr Stunden pro Wo-che erwerbstätig sein, als es jetzt möglich ist. Das Pro-blem ist: Wenn die Kita mittags schließt, haben dieMütter eben Pech gehabt, ebenso, wenn es dort kein Mit-tagessen gibt und sie noch kochen müssen.Die Verbesserung der Kinderbetreuung ist ein ganz we-sentlicher Schritt, der in der Folge zur Verbesserung derEinkommenssituation beitragen und berufliche Karrierenermöglichen wird. Aber wir müssen ebenfalls um die Auf-wertung der Familienarbeit bemüht sein sowie darum,von der vollen Verfügbarkeit als Grundlage für beruflicheKarrieren wegzukommen; auch bei reduzierter Arbeits-zeit sollen berufliche Karrieren und Führungspositioneninfrage kommen.Wir haben mit dem Gleichstellungsdurchsetzungs-gesetz einen Anfang für den öffentlichen Dienst gemacht.Darin ist auch festgelegt, dass es bei Bewerbungen keineBenachteiligungen geben darf. Auch Männer – manchmalbewerben sich Väter – kommen in diesen Genuss; die ent-sprechende Formulierung ist geschlechtsneutral. Bei Be-werbungen dürfen Ausfälle wegen Kinderbetreuung oderwegen Pflege nicht als Nachteil gewertet werden. Das istein ganz wichtiger Punkt. Da muss sich auch in den Köp-fen noch viel verändern.
Mein Vor-
schlag lautet: kurze Fragen, kurze Antworten. Sonst
schaffen wir unser Pensum nicht.
Frau Kollegin Bläss, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, Sie haben dasStichwort „Europäische Union“ bereits genannt. Es gibtklare Vorgaben in Form von Richtlinien, was das Vor-gehen gegen unmittelbare und mittelbare Entgeltdiskri-minierungen betrifft. Erste Frage: Inwieweit sehen Siesich auch als Frauenministerin im Kabinett jetzt gestärkt,auf diesem Gebiet offensiver vorzugehen, und wie sehenSie die nächsten strategischen Schritte, diese EU-Richt-linien konsequent umzusetzen?Meine nächste Frage betrifft die europäischen Erfah-rungen der 90er-Jahre. Insbesondere die Analysen undInitiativen Norwegens und des Nordischen Rates sind dieweitestgehenden gewesen. Es liegen also entsprechendeErgebnisse auf dem Tisch. Inwieweit sehen Sie Möglich-keiten, aus diesen Erfahrungen unmittelbar zu schöpfen? –Sie haben bereits etwas zu Möglichkeiten und Grenzen,in der Tarifpolitik Pflöcke zu setzen, gesagt. Ich fand denAnsatz, „Gender“ als Prüfungskriterium zu verwenden,sehr interessant. Inwiefern sehen Sie darin eine neue Qua-lität dafür, dass Politik Rahmenbedingungen für Tarifver-handlungen setzen kann?Letzte Frage: Sprechen die klaren Ergebnisse, die Siein Ihrem Vortrag genannt haben, nicht doch dafür, dass esauch in der Privatwirtschaft gesetzliche Regelungen zurFrauenförderung geben muss?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau AbgeordneteBläss, das waren mehrere Fragen.Ich will auf den europäischen Aspekt eingehen. Ichmuss klar sagen, dass es kein europäisches Land gibt,in dem es eine hundertprozentige Einkommensgleichheitgibt. Auch in den von uns immer wieder hochgelobtennordischen Ländern, die uns wirklich in vielem eine Na-senlänge voraus sind, gibt es noch ein Stück Ungleichheitbeim Einkommen und eine geschlechtsspezifische Seg-mentierung des Arbeitsmarktes.Natürlich sind die Aussagen des Berichts – zusätzlichzu dem, was es im europäischen Bereich gibt – sehr hilf-reich. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass wir im
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Renate Gradistanac23062
Juni – alle sind herzlich eingeladen – eine Konferenz ver-anstalten, auf der die Bewertungskriterien auf dem Gebietder Tarifverträge ein Thema sein werden. Auf dieser Kon-ferenz werden wir hören, wie weit die anderen Ländersind. Auch in Schweden arbeitet man an der Beantwor-tung der Frage: Wie kann man dort, wo Tarifautonomieherrscht, politische Zeichen setzen?Dieser Punkt spielt eine Rolle. Das hat sich auch indem Kriterienkatalog, der unsere Vereinbarungen mit denSpitzenverbänden der Wirtschaft enthält, niedergeschla-gen. Bei der Behandlung des Themas Chancengleichheitgeht es auch um Lohngleichheit. In den entsprechendenGremien wird man sich zusammensetzen müssen, um zuklären, wie eine Gender-gemäße Prüfung von Tarifver-trägen erfolgen sollte. Eine solche Prüfung wird – wie esso ist im Leben – an der einen Stelle schneller gehen alsan der anderen.Wir sollten mit gutem Beispiel vorangehen und ersteinmal den BAT entsprechend überprüfen. Das wäre ganzwichtig. Wir werden uns die Partner suchen, mit denenwir schrittweise vorangehen können. Einiges liegt schonauf dem Tisch. Auch Verdi hat bereits etwas vorgelegt.
Herr Kol-
lege Dehnel, bitte.
Frau Ministerin, Sie
haben gesagt, dass auch Frauen in führenden Positionen
praktisch immer benachteiligt sind; Sie haben eine Pro-
zentzahl genannt. Glauben Sie persönlich daran, dass es
vielfach an den Frauen selbst liegt – ich denke an die Art,
wie sie in den politischen Parteien oder in anderen Insti-
tutionen um ihre Rechte kämpfen –, ob sie Führungsposi-
tionen bekommen? Sollten Frauen Ihrer Meinung nach
ihre eigenen Interessen nicht viel stärker wahrnehmen?
Ich meine, dass Frauen auch in den Spitzenpositionen des
parlamentarischen Geschehens – ich denke auch an das
Amt des Bundespräsidenten – stärker vertreten sein sollten
und dass sie ihre Rechte dort stärker wahrnehmen sollten.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich sage dazu nur:
Kanzlerkandidatin.
Auch das ist so ein Punkt.
Die Parteien müssen Rahmenbedingungen setzen, und
zwar sehr unterschiedliche. Ich glaube, wir von der So-
zialdemokratischen Partei sind da nicht schlecht aufge-
stellt. Auch im Kabinett gibt es immerhin sechs Ministe-
rinnen; das sind gut 40 Prozent. Das ist nicht so schlecht.
Wenn wir uns das Verhältnis bei den Mitgliedern des
Bundestages und den Parlamentarischen anschauen, dann
glaube ich feststellen zu können, dass die Probleme nicht
auf unserer Seite liegen, sondern auf der anderen Seite.
Ich würde den schwarzen Peter aber nicht den Frauen in
die Schuhe schieben. Auch Männer sind dafür verantwort-
lich, dass der Verfassungsgrundsatz der Gleichberechti-
gung von Mann und Frau in der Gesellschaft umgesetzt
wird. Dafür muss man Rahmenbedingungen schaffen;
aber man muss auch Frauen ermutigen, damit diese genau
wissen, dass sie es schaffen können. Das haben wir mit un-
serer Quotenregelung erreicht. Dass wir jetzt im Gleich-
stellungsdurchsetzungsgesetz des Bundes für den öffent-
lichen Dienst wieder eine einzelfallbezogene Quote haben,
halte ich für sehr wichtig. Vor diesem Hintergrund wissen
Frauen genau, dass sie es schaffen können, wenn sie sich
für einen Job qualifiziert haben; denn die Quote ist ja im-
mer auf gleiche Qualifikation bezogen.
Frau Kolle-
gin Wolf.
Frau Ministerin, ichfinde es immer spannend, wenn die CDU/CSU-Fraktiondas Thema Quote anspricht und entsprechende Fragenstellt. Sie hat erstens keine und zweitens hat sie in ihren Rei-hen weniger Frauen als in der letzten Legislaturperiode.
Ich habe eine Frage zu Ihrem Bericht: Für mich ist esnicht überraschend, dass es immer noch Lohnungleich-heiten gibt. Das Überraschende für mich ist, dass die bes-ser Qualifizierten eigentlich schlechter wegkommen alsdie weniger Qualifizierten. Die Ursachen dafür muss mannatürlich analysieren. Mich würde interessieren, welcheMaßnahmen Sie schon ergriffen haben und welche Maß-nahmen Sie vorhaben. Gerade angesichts der Tatsache,dass die Wirtschaft Hochqualifizierte braucht und wir diebestqualifizierte Frauengeneration haben, muss es dochendlich einmal zu einer Gleichbehandlung bei der Bezah-lung kommen. Was macht die Bundesregierung in diesemBereich und was hat sie in Zukunft vor?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Wir verfolgen vor al-len Dingen zwei Strategien.Die eine ist, junge Frauen zu werben und zu überzeugen,auch in die gut bezahlten Bereiche hineinzugehen, in denenFachkräftemangel herrscht. Denken wir an den Bereich derInformationstechnologien. Dort sucht man nach wie vorhänderingend Fachkräfte. Wir sagen dabei nicht nur:„Mädchen, macht das einmal, das ist doch was für euch undschaut euch das einmal an“, sondern kooperieren wirklichmit den Unternehmen. Wichtig ist ja, dass auch die Unter-nehmen sagen: Wir wollen euch und bieten euch Auf-stiegsmöglichkeiten; ihr habt bei uns gute Chancen.Ich weise noch einmal auf den morgigen „Girls’ Day“hin. Gerade einige Unternehmen aus der D-21-Initiative
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann23063
werfen sich da richtig ins Zeug, nicht nur, weil sieMädchen so furchtbar nett finden, sondern weil sie ein-fach wissen, dass sie diese jungen Frauen brauchen. Wennsie einmal junge Frauen eingestellt haben, wissen sie, dassdiese so gut und so überzeugend sind, dass – das sagen siemir dann auch –, wenn sie die nicht hätten, es schlecht beiihnen aussähe. Das hat sich zwar noch nicht allgemeinherumgesprochen; aber beispielsweise habe ich geradevom Handwerksverband eine Mitteilung bekommen, dasssich da langsam die Nachwuchsfrage stelle. Man handeltalso nicht, weil man endlich Art. 3 der Verfassung gerechtwerden will, sondern weil man sich fragt, woher man an-gesichts geburtenschwacher Jahrgänge gute Leute be-kommen kann, und wirbt dann noch einmal verstärkt umMädchen.Das heißt zum Beispiel auch, dass man ihnen ordent-liche und nicht irgendwelche Positionen anbietet. Dennwenn man sich die verschiedenen Branchen anschaut,stellt man fest, dass in einigen relativ gut bezahlt wird– das sind eher Männer-Branchen – und in anderenschlecht bzw. im Niedriglohnbereich bezahlt wird; in die-sen findet man fast durchgehend Frauen. Man muss jetztdie Frauen fragen, warum sie sich für diese Branchen ent-scheiden, und sie auffordern, sich doch einmal zu über-legen, ob es nicht woanders genauso spannend für siewäre. Man muss sie auch ermutigen und ihnen sagen, dasssie das auch können.Zum anderen setzen wir wie bei der Vereinbarung da-rauf, dass man die Unternehmen auffordert, sich selberGedanken zu machen und es nicht dem Selbstlauf zuüberlassen. Wir fragen, was sie machen wollen, umMädchen zu gewinnen, wie für Ausbildungsplätze ge-worben wird, was gemacht wird, um Frauen in Führungs-positionen zu bekommen, und was zur besseren Verein-barkeit von Beruf und Familie getan wird. Da sind wirjetzt dran. 2003 gibt es, wie Sie wissen, eine Bestands-analyse. Bis dahin werden Daten ermittelt, erfasst undanalysiert, was nicht ganz einfach ist. Wenn anhand derBestandsanalyse 2003 festgestellt wird, dass diese Me-chanismen nichts bringen, werden – diese klare Aussagesteht im Raum – gesetzliche Maßnahmen gemäß derzweiten Stufe des Gesetzes ergriffen. Zurzeit greift nochdie erste Stufe des Gesetzes, wo allen überlassen ist, wassie tun wollen.
Herr Kol-
lege Koppelin.
Frau Ministerin, Sie haben
auch über die Einkommenssituation von Frauen und Män-
nern gesprochen. Nun haben Sie ja bei einem bestimmten
Klientel, nämlich bei den Alleinerziehenden, ein be-
stimmtes Image. Sie haben sich gegenüber Minister
Eichel damals nicht durchsetzen können, als im Zusam-
menhang mit der Kindergelderhöhung auch die Freibe-
träge bei den Alleinerziehenden gestrichen worden sind.
Können Sie uns sagen, warum Sie sich damals nicht ha-
ben durchsetzen können? Wie wollen Sie sich denn bei
dem, was Sie heute hier vortragen, durchsetzen, wenn Sie
sich schon bei solch einfachen Dingen nicht durchsetzen
konnten?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Koppelin, es
geht hier nicht um durchsetzen oder nicht durchsetzen.
Wir haben Beschlüsse von Karlsruhe; das muss sich doch
langsam in diesem Hause herumgesprochen haben.
Nach den Karlsruher Beschlüssen ist es nicht zulässig,
den Haushaltsfreibetrag in dieser Form zu gewähren und
die Alleinerziehenden besser zu stellen, obwohl das ja
einmal bewusst getan wurde als Ausgleich für das Split-
ting bei den Ehepaaren. Diese Beschlüsse mussten wir
umsetzen. Daran war niemand interessiert, das wollten
wir eigentlich gar nicht, aber das mussten wir machen.
Wir haben mit dem Abschmelzen eine Form gewählt,
durch die das einigermaßen verträglich geschah. Gleich-
zeitig haben wir die Möglichkeit geschaffen, Kinderbe-
treuungskosten von der Steuer abzusetzen, und wir haben
die Freibeträge erhöht. Dadurch haben wir versucht, einen
Ausgleich zu schaffen.
Sie wissen, dass wir uns auch weiterhin fragen: Was
können wir noch tun? Können wir die Grenzen verbes-
sern? Sind in dem Bereich weitere Verbesserungen mög-
lich? Dazu gibt es noch Beratungen. Wir werden zu einem
vernünftigen Ergebnis kommen, das ist ganz klar.
Bei den Punkten, auf die dieser Bericht hinweist, sind
wir schon wirklich an die Ursachen herangegangen. Ich
nenne hier nur die Themen Berufswahlverhalten, Verein-
barkeit von Beruf und Familie oder die Bemühungen,
Frauen in Führungspositionen zu bringen. Da haben wir
eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Wir können aber
in drei Jahren nicht alles aufarbeiten, was Sie in den 16 Jah-
ren vorher nicht getan haben. Das ist leider nicht möglich.
Mit dieser Strategie werden wir weitermachen; da sind
wir uns einig. Sie haben die Regierungserklärung des
Kanzlers hier gehört. Wir geben Geld in die Kinderbe-
treuung, das hat für uns Priorität. Wir setzen auf die guten,
qualifizierten Frauen. Wir wollen die Möglichkeiten
schaffen, damit sich jeder in seiner Familie so einrichten
kann, wie er das gern möchte, und nicht Frauen aufgrund
mangelnder Betreuung gezwungen werden, auf Erwerbs-
tätigkeit zu verzichten.
Frau Kolle-
gin Griese hat das Wort.
Frau Ministerin, Sie habenschon auf die positive Entwicklung bei der Ausbildung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann23064
von Mädchen und jungen Frauen hingewiesen, die jadurch die Bank bessere Schulabschlüsse machen. Nichts-destotrotz gibt es noch Unterschiede im Berufswahlver-halten. Mädchen streben immer noch sehr viel stärker inbestimmte Ausbildungsberufe, die später schlechter be-zahlt werden. Hier muss man an der Wurzel ansetzen.Deshalb meine Frage: Was tut die Bundesregierung, umdiesen indirekten Einkommensunterschieden schon da-durch vorzubeugen, dass auch Mädchen motiviert wer-den, in ihrem Berufswahlverhalten stärker auf Berufe zusetzen, die zumindest gleiche Einkommenschancen bie-ten wie die, die hauptsächlich von jungen Männern er-griffen werden, sodass dadurch mit dazu beigetragen wer-den kann, dass dort die Einkommensunterschiedeverringert werden?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Das Thema Berufs-wahlverhalten liegt mir sehr am Herzen. Ich sehe auf dereinen Seite diese guten, kompetenten jungen Frauen undauf der anderen Seite sehe ich, dass die meistenMädchen in zehn Berufe – darunter ist kein technischerBeruf, auch die neuen Berufe sind nicht darunter – ge-hen, obwohl sie anderes durchaus könnten. Nun wollenwir nicht alle zwingen, in die Informatik zu gehen. Aberwir wollen vor allen Dingen die Mädchen auch mit denneuen Berufen vertraut machen und ihnen klar machen:Ihr könnt das. – Man sollte ihnen zum Beispiel Schnup-perkurse anbieten.Wir haben in den letzten Monaten viele Veranstaltun-gen unter anderem mit den Industrie- und Handelskam-mern durchgeführt. In Berlin haben wir ganze Schulklas-sen und Unternehmen eingeladen. Die Schülerinnen undSchüler konnten sehen, was in den Unternehmen passiert,sie konnten am Computer spielen oder haben Termine ge-nannt bekommen, zu denen sie in die Unternehmen gehenkönnen – das, was wir eben auch morgen mit dem „Girls’Day“ machen. Die Schülerinnen und Schüler gehen in dieBetriebe, um zu erfahren, was sich hinter diesem oder je-nem Beruf, der manchmal wenig anschaulich klingt oderwenig Anreiz hat, verbirgt.Wir merken aber auch, dass in dem gesamten Umfeldder Jugendlichen immer noch traditionelle Rollenbildervermittelt werden. In einem Seminar bei Siemens, in demes darum ging, Mädchen auch für technische Berufe zubegeistern, sagte mir eine Schülerin, in der Schule sei ihrvon ihrer Koordinatorin, als sie Physik als Wahlfach neh-men wollte, gesagt worden: Ach, lass das mal. Nach ei-nem halben Jahr kommst du sowieso wieder und es gefälltdir nicht. – Das wurde der Schülerin gesagt, obwohl siePhysik studieren wollte. Wenn ich so etwas höre, ver-zweifle ich.Wir sagen immer: Auch in den neuen Berufen mussman nicht unbedingt in Mathematik eine Eins haben. Diehaben die jungen Männer, die in diese Berufe gehen, näm-lich auch nicht alle. Wir müssen den Mädchen sagen: Ihrkönnt das. Guckt euch da um. Macht das.Die Wissenschaftsministerin wirbt für Ingenieurbe-rufe, macht also Gleiches. – Wir haben da wirklich einbreites Netz geknüpft.Viel passiert auch vor Ort bei den Regionalstellen, dort,wo sich die Länder ebenfalls darum kümmern. Wir müs-sen jetzt sehen, dass das wirkt.Ich habe von der Bildungsministerin gehört, dass es imBereich der Informatik jetzt wieder eine Aufwärtsbewe-gung gibt. Da bewerben sich wieder mehr junge Frauen.Ich hoffe, dass die vereinten Bemühungen doch langsamzum Tragen kommen. Auch die Arbeitsämter haben dieAufgabe, sich in diesem Bereich kräftig mit um jungeFrauen zu kümmern.Was die Arbeitsmarktprogramme angeht, so führen wirgezielt dort Projekte bzw. Modelle durch, wo Mädchenunterrepräsentiert sind, insbesondere im technischen Be-reich. Es gibt viele Möglichkeiten. Aber es müssen auchviele mitziehen.
Frau
Blumenthal.
Frau Ministerin, Siehaben vorhin in einer Ihrer Antworten sowohl auf den An-spruch auf Elternzeit als auch auf das Recht auf Teilzeithingewiesen. Welche Entwicklungen gibt es bei dem An-spruch auf Elternzeit? Liegt die Zahl der Väter, die dasRecht in Anspruch nehmen, weiterhin bei unter 2 Prozent?Sie verfügen jetzt über einen Erfahrungszeitraum vonmehr als einem Jahr.Welche Entwicklungen haben Sie bei dem Recht aufTeilzeit festgestellt, zumal die Wirtschaft sagt, dass damitbeschäftigungshemmende Effekte verbunden sind?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Was die Frage nachder Elternzeit angeht, so haben wir noch keine neuen sta-tistischen Daten. Das Gesetz gibt es erst seit einem Jahr.Ich weiß nicht genau, wann wir die erste Statistik bekom-men. Das kann am Ende des Jahres oder erst im nächstenJahr der Fall sein.Grundsätzlich muss man Folgendes sagen: Wir habennoch nicht alle Väter, die das könnten, dazu gebracht, diesin Anspruch zu nehmen. Wir wissen, dass es sich um ei-nen Prozess der Überzeugung handelt, bei dem wir auchviel Unterstützung durch die Unternehmen brauchen.Ich war im Zusammenhang mit der Väterkampagne invielen kleinen und großen Unternehmen. Ich habe festge-stellt, dass es dort, wo die Unternehmensleitung das mitunterstützt, wo sie es zu ihrer Aufgabe macht und es nichtnur bei der Gleichstellungsbeauftragten ablädt und sagt:„Sie soll sich einmal darum kümmern“, wo auch die Be-triebsräte mitmachen und sagen: „Wie kriegen wir dasjetzt hin? Wie kriegen wir familienfreundliche Arbeits-zeiten und Arbeitsbedingungen? Wie bringen wir dasThema den Vätern nahe? Wie signalisieren wir, dassMitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die davon Gebrauchmachen, nicht als solche betrachtet werden, die an be-ruflicher Karriere nicht interessiert sind?“, positive
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Kerstin Griese23065
Erfahrungen gibt. Auch in diesen Unternehmen sind esnoch nicht 50 Prozent der Väter, die das in Anspruch neh-men. Aber es gibt dort Väter, die sagen: Ja, ich mache das.VW zum Beispiel veranstaltet Elternseminare, in de-nen Väter und Mütter gemeinsam über die vorhandenenMöglichkeiten beraten werden. Ich bin schon optimis-tisch, dass sich da einiges tun wird; denn wir wissen, dass20 Prozent der Väter das gerne möchten. Sie möchtenmehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Sie möchtennicht nur am Rande der Familie wahrgenommen werden.Diese wollen wir natürlich zuerst erreichen.Zu dem Teilzeitgesetz gibt es noch keine statistischenDaten.Eines muss man auch sagen – Sie haben das angespro-chen –: Es wird immer so getan, als sei das furchtbar fürUnternehmen. Die Unternehmen, die sich auf Elternzeit,Teilzeit, familienfreundliche Arbeitzeiten, Telearbeit– was auch immer – einlassen, sagen, dass es sich für sielohnt. Es macht mehr Arbeit und ist mit mehr Organisa-tion verbunden. Aber sie haben motivierte Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter und sie halten ihre qualifizierten Be-schäftigten. Das wird immer mehr ein Faktor, der imbetrieblichen Wettbewerb eine Rolle spielen wird, undzwar ein positiver; davon bin ich überzeugt. Wer sich daschneller auf den Weg macht, hat einen Vorteil.
Frau Kolle-
gin Rupprecht, darf ich Ihr Gespräch für die von Ihnen an-
gemeldete Frage einmal kurz unterbrechen?
Das ist eine Kollegin, die
man sonst nicht sieht; Entschuldigung.
– Nein, wir sehen uns so selten, weil unsere Räumlich-
keiten so weit voneinander entfernt sind. Aber darum ging
es in meiner Frage nicht.
Frau Ministerin, es gibt mehrere Untersuchungen zur
Entlohnung und Bezahlung von Frauen in der freien Wirt-
schaft. Unter anderem gibt es eine Untersuchung der Uni-
versität Hohenheim, die zu dem Ergebnis kommt, dass die
Bereitschaft der Unternehmen, junge Frauen, die Füh-
rungspositionen anstreben, genauso zu behandeln wie
junge Männer in derselben Situation, die die gleiche Qua-
lifikation und die gleichen Voraussetzungen haben, schon
bei der Einstellung nicht vorhanden ist. Es wurde errech-
net, dass Frauen, die sich bei gleicher Qualifikation und
gleichem Können beruflich gleich entwickeln, im Laufe
ihres Erwerbslebens etwa 350 000 DM – bzw. die Hälfte
in Euro – weniger als Männer bekommen. Wenn sie sich
entscheiden, Mutter zu werden, haben sie ungefähr
800 000 bis 850 000 DM Einkommenseinbußen, nur auf-
grund des Geschlechts. Das ist das so genannte Gender
Gap. Was können die Arbeitgeber da tatsächlich tun und
wie können wir die Arbeitgeber motivieren, dass sie sich
im Bereich der Führungskräfte bei gleicher Qualifikation
den Frauen gegenüber anders verhalten? Solche Unter-
schiede darf es nicht geben, wenn wir unsere Rolle darin
sehen, auch in der Wirtschaft Anreize für Gleichstellung
zu schaffen.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Abgeordnete
Rupprecht, der Bericht bringt zum Ausdruck, dass die Un-
terschiede zu Beginn des Berufslebens – allerdings ist das
die Gruppe der 20- bis 24-Jährigen, da ist man in der Re-
gel noch nicht in der obersten Führungsetage angekom-
men – relativ gering sind, im Osten noch geringer als im
Westen – das kann ich mir gar nicht erklären –, dass sie
aber im Laufe des Berufslebens, je weiter jemand im Be-
trieb aufsteigt, immer größer werden. Ich erwähnte be-
reits, dass Männer mit zunehmendem Alter eher in
Führungspositionen gelangen als Frauen. Wenn man nach
der Familienphase wieder einsteigt, fängt man meistens
wieder ganz unten an.
Da gibt es natürlich auch für die Arbeitgeber einen
großen Handlungsbedarf. Dabei geht es unter anderem
um das Thema Vereinbarkeit. Es geht darum, die Zeiten
außerhalb der Erwerbsarbeit relativ gering zu halten. Es
ist wichtig, auch während der Elternzeit im Betrieb wei-
ter qualifiziert zu werden, mitzulaufen, um den Wissens-
verlust einzugrenzen. Hier ist viel Handlungsspielraum;
dafür gibt es das eine oder andere gute Beispiel.
Ich will Ihnen aber noch eine erschütternde Zahl nen-
nen: Wenn man sich bei den über 60-Jährigen anschaut,
wie sich die Einkommensverluste im Laufe eines Berufs-
lebens auswirken, stellt man fest, dass Frauen ein kumu-
liertes Erwerbseinkommen haben, das im Durchschnitt
nur 42 Prozent des Männereinkommens beträgt.
Frau Kolle-
gin Lehder.
Danke schön, Herr Präsi-dent, dass Sie mir diese Frage trotz der zeitlichen Engenoch gestatten. – Frau Ministerin, der vorliegende Berichtzeigt, dass die Einkommensunterschiede zwischenFrauen und Männern in Ost und West sehr verschiedensind. In Ostdeutschland ist die Differenz zwischen denEinkommen von Frauen und Männern weitaus geringerals in Westdeutschland. Wodurch lassen sich diese Unter-schiede Ihrer Meinung nach begründen?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau AbgeordneteLehder, das hängt zum einen mit der kontinuierlichen Er-werbsarbeit zusammen. Die Erwerbsbiografien in Ost undWest sind unterschiedlich. Es handelt sich hierbei ja umLängsschnittstudien. Verdienstvoll an dem Bericht ist,dass Daten über 22 Jahre ausgewertet werden. Man kannfeststellen, dass die unterschiedlichen Zahlen mit der an-deren Akzeptanz der Erwerbsarbeit in den neuen Bundes-ländern zusammenhängen, die traditionellerweise bestehtund entsprechend gelebt wird. Das führt dazu, dass
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann23066
Frauen im Osten weniger Unterbrechungen haben undweniger Teilzeit arbeiten. Voraussetzung dafür ist natür-lich, dass für die Kinderbetreuung gesorgt wird. Sonstwäre das nicht möglich.Der zweite Faktor ist, dass die Frauen im Osten, je-denfalls in unserer Generation, sehr viel stärker in denMännerbranchen vertreten sind. Es gibt sehr viel mehr In-genieurinnen, zum Beispiel Bauingenieurinnen, als in denalten Bundesländern. Hinzu kommt, dass die Erwerbsar-beit von Frauen immer auf Eigenständigkeit ausgerichtetwar und es auch jetzt noch ist. Sie werden nicht als Zu-verdienerinnen gesehen. Was eine Zuverdienerin ist, habeich erst nach 1990 gelernt; ich weiß nicht, wie es Ihnengeht. Der Bericht sagt ganz klar, dass das ostdeutsche Mo-dell gleichberechtigte erwerbstätige Partner vorzieht,während es in den alten Bundesländern eher das Modellder Hauptverdiener und Zuverdiener gibt. Aber das ändertsich jetzt. Die jungen Frauen wollen das so nicht mehr.
Die letzte
Frage zum Bericht aus der Kabinettssitzung hat die Kol-
legin Fischbach.
Frau Ministerin, ich
möchte nachfragen. Der Sachverständigenrat zur Begut-
achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat fest-
gestellt, dass der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit eher
beschäftigungshemmend ist und dass dem Bedürfnis der
Eltern nach Teilzeit dadurch nicht Rechnung getragen
wird. Ich frage Sie daher, ob Sie diese Einschätzung tei-
len. Wenn diese Einschätzung des Sachverständigenrates
zutrifft: Welche Maßnahmen müssten Sie in Angriff neh-
men, um dafür zu sorgen, dass der Anspruch auf Teilzeit-
arbeit nicht beschäftigungshemmend ist und dass mehr
Teilzeitarbeitsplätze angeboten werden? Wäre es nicht
sinnvoll, diesen Rechtsanspruch zurückzunehmen?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich höre immer wie-
der die gerade von Ihnen vertretene Meinung. Ich kann sie
nach meinem Kenntnisstand nicht teilen. Wir sollten uns
einmal die Situation in den Nachbarländern anschauen,
die uns ansonsten als Vorbild dienen. Ich nenne zum Bei-
spiel die Niederlande, die sowohl bei Männern als auch
bei Frauen einen hohen Anteil von Teilzeitbeschäftigten
haben. Es ist ja nicht so, dass die Niederlande wirtschaft-
lich sehr schlecht dastehen würden.
Sie wissen auch, wie dieser Teilzeitanspruch ausge-
stattet ist. Es besteht die Möglichkeit, dass dieser An-
spruch – wie übrigens auch beim Elternzeitgesetz – aus
betrieblichen Gründen nicht erfüllt werden muss. Nach
meinen Erfahrungen ist es aber so, dass eher darüber ge-
klagt wird, dass versucht wird, den Beschäftigten diesen
Anspruch nicht zu erfüllen, obwohl keine betrieblichen
Gründe dagegen sprechen.
Nicht alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wol-
len nur noch 50, 60 oder 70 Prozent arbeiten. Wenn keine
betrieblichen Gründe dagegen sprechen, ist Teilzeitarbeit
aus meiner Sicht leistbar.
Ich danke
Ihnen, Frau Bundesministerin.
Es liegt noch eine so genannte sonstige Frage an die
Bundesregierung vor. Bitte, Herr Kollege Koppelin.
Nach der Wahl in Sachsen-
Anhalt, bei der die Koalitionsparteien zusammen nur
23 Prozent erhalten haben, hat der Bundeskanzler erklärt,
die Koalition müsse nun dichter zusammenrücken. Ich
habe immer gedacht, diese Parteien seien schon ganz
dicht zusammen und die Grünen seien fast erdrückt durch
das bisherige Zusammenrücken. Hat der Bundeskanzler
im Kabinett diese Aussage wiederholt? Hat er auch er-
klärt, was er mit dem dichteren Zusammenrücken der Ko-
alitionsparteien meint?
Der Staats-
minister im Kanzleramt, Herr Kollege Bury, wird darauf
antworten.
H
Es bestand kein Anlass, diese Aussage im Kabinett zu
wiederholen, da die Bundesregierung eng, vertrauensvoll,
gut und erfolgreich zusammenarbeitet.
Es gibt alsowenigsten einen, der sich an meinen Vorschlag „kurzeFrage, kurze Antwort“ hält.
– Ja.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:Fragestunde– Drucksache 14/8828 –Ich weise vorweg darauf hin, dass die Fragen aus denGeschäftsbereichen des Bundesministeriums des Innern,der Verteidigung, für Gesundheit und für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung schriftlich beantwortetwerden. Es handelt sich um die Frage 1 des KollegenErwin Marschewski, um die Fragen 5 und 6 des KollegenWerner Siemann, um die Fragen 7 und 8 des KollegenWolfgang Zöller und um die Frage 9 des Kollegen DirkNiebel.1Somit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragensteht die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. BarbaraHendricks zur Verfügung.
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann23067
1 Die Antwort zu Frage 9 lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wirdzu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt.Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Andreas Storm auf:Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die ge-samtwirtschaftlichen Rahmendaten vor, die die EU-Kommissionihrer Schätzung zugrunde gelegt hat, nach der für das Jahr 2002ein gesamtstaatliches Defizit der Bundesrepublik Deutschland inHöhe von 2,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwartet wird?D
Herr Kollege Storm, die
EU-Kommission stellt heute ihre Frühjahrsprognose der
Öffentlichkeit vor. Sie schätzt das gesamtwirtschaftliche
Wachstum in Deutschland für 2002 auf 0,8 Prozent. Dies
entspricht der Jahresprojektion der Bundesregierung. Die
Kommission geht wie nahezu alle Prognostiker – und
auch wie die Bundesregierung – von einer Überwindung
der weltwirtschaftlichen Schwäche zu Beginn dieses Jah-
res aus. Zudem trägt sie mit ihrer Prognose den günstigen
Konjunkturindikatoren in Deutschland Rechnung, wie
zum Beispiel dem günstigen Ifo-Geschäftsklimaindex,
den steigenden Auftragseingängen sowie den kräftig zu-
nehmenden Produktionsplänen.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin,
treffen nach Ihrem Kenntnisstand die heutigen Pressebe-
richte zu, wonach die EU-Kommission ihre Defizitschät-
zung für die Bundesrepublik Deutschland auf 2,8 Prozent
nach oben revidiert hat?
D
Ich habe die heutigen Pres-
seberichte noch nicht zur Kenntnis nehmen können, weil
ich den ganzen Morgen im Parlament war. Es ist aber
denkbar, dass die EU-Kommission die Defizitschätzung
auf 2,8 Prozent angehoben hat. Die Bundesregierung ist
jedoch weiterhin der Auffassung, dass ihre Schätzung von
2,5 Prozent des BIP zutreffend ist.
Ich rufe die
Frage 3 des Kollegen Andreas Storm auf:
Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber vor,
wie hoch die EU-Kommission bei der Schätzung des gesamt-
staatlichen Defizits der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr
2002 das anteilige Defizit des Sektors „Sozialversicherungen“ an-
gesetzt hat?
D
Die Europäische Kommis-
sion nimmt keine Einzelbetrachtung von Teilsektoren vor,
sondern schätzt die Entwicklung der relevanten Einnah-
men- und Ausgabenkomponenten lediglich für den Sektor
Staat insgesamt. Insofern ist keine Aussage über die An-
nahmen zur Entwicklung der Sozialversicherungsfinan-
zen in der Kommissionsprojektion möglich.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin,
beim Vergleich der Defizitentwicklung, die nach Meinung
der EU-Kommission eintreten wird, mit der Defizitschät-
zung der Bundesregierung ist von besonderem Interesse,
inwieweit sich die Steuerausfälle im ersten Quartal auf die
Defizitentwicklung auswirken. Beabsichtigt die Bundes-
regierung vor diesem Hintergrund, in den nächsten Wo-
chen ihre Defizitschätzung zu verändern und, wenn ja, in
welcher Größenordnung?
D
Die Bundesregierung hat
schon im Stabilitätsprogramm 2001 deutlich gemacht,
dass sich das Defizit in Deutschland bei einem Wachstum
von dreiviertel Prozent etwa auf dem Niveau des Vorjah-
res bewegen wird. In dieser Projektion sind konjunkturbe-
dingte Steuerausfälle gegenüber der letzten Finanzplanung
bereits berücksichtigt. Für genaue Daten müssen aller-
dings die Ergebnisse der gesamtwirtschaftlichen Projek-
tion Ende April – wir werden sie in einer Woche vorle-
gen – und der Steuerschätzung im Mai abgewartet werden.
Unter Berücksichtigung aller derzeit verfügbaren In-
formationen gehen wir für 2002 allerdings weiterhin von
einem Staatsdefizit von 2,5 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts aus.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Hans Michelbach.
Frau Staatssekretä-
rin, können Sie mir die Veröffentlichungen bestätigen,
wonach die Steuereinnahmen, die für das gesamtstaatli-
che Defizit eine große Rolle spielen, gegenüber der Pro-
gnose für das Jahr 2002 um etwa 10 Prozent zurückge-
gangen sind? Wie wollen Sie in diesem Zusammenhang
einen ausgeglichen Haushalt erreichen, wenn Sie dem
Parlament keinen Nachtragshaushalt vorlegen bzw. keine
wesentlichen Sparmaßnahmen für den Haushalt 2003
vorschlagen wollen?
D
Herr Kollege Michelbach,die Fragen des Herrn Kollegen Storm richteten sich aufdie Defizitquote des Jahres 2002.Wir haben die Steuern, die bis zum Ende des MonatsMärz zu entrichten waren, eingenommen. Auf diese wirk-ten sich Sondereinflüsse aus, sodass keine endgültigenVoraussagen bis zum Jahresende gemacht werden kön-nen. Wir sind zuversichtlich, dass sich die Steuereinnah-men im Jahresverlauf erholen werden. Ich kann Ihre An-nahme, dass die Steuereinnahmen im Vergleich zu denSchätzungen um 10 Prozent zurückgegangen sind, nichtbestätigen. Allerdings sind sie bis jetzt – bis zum erstenQuartal – unbefriedigend.Wir sind aber weiterhin zuversichtlich – ich sagte esgerade schon –, dass die Defizitquote des Gesamtstaatesweiterhin – bis zum Jahresende – 2,5 Prozent des BIP be-tragen wird. Wir gehen nicht davon aus, dass die Not-wendigkeit besteht, einen Nachtragshaushalt vorzulegenoder weitere besondere Sparanstrengungen vorzuneh-men; denn dieser Bundeshaushalt beruht auf den schon
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters23068
seit 1999 mit aller Anstrengung durch die rot-grüne Bun-desregierung und die sie tragenden Koalitionsparteienvorgenommenen Konsolidierungsanstrengungen, dieselbstverständlich auch in dieses Jahr hinein fortwirken.
Ich danke
Ihnen, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Wirtschaft und Technologie. Ich rufe die
Frage 4 des Kollegen Michelbach, die durch die Parla-
m
Was gedenkt die Bundesregierung an Fördermaßnahmen zur
Wettbewerbsgleichheit vor dem Hintergrund der neuesten Studie
des Deutschen Industrie- und Handelskammertages für Fir-
menstandorte in Deutschland, die hohe Defizite für die struktur-
schwächeren Räume zeigt, zu veranlassen?
M
Herzlichen
Dank, Herr Präsident. – Herr Michelbach, Sie wissen,
dass zugunsten von strukturschwachen Regionen bereits
ein breites regionalpolitisches Förderinstrumentarium
von Bund und Ländern, aber auch der EU zur Verfügung
steht. Die Bundesregierung unterstützt die wirtschaftliche
Entwicklung in strukturschwachen Gebieten insbeson-
dere mit der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-
gionalen Wirtschaftsstruktur“. Die Förderung von Inves-
titionen der gewerblichen Wirtschaft zielt darauf ab,
Standortnachteile von Betrieben in den Fördergebieten
abzubauen und so die Wettbewerbsfähigkeit der Unter-
nehmen zu verbessern.
Der Schwerpunkt der Förderung – das werden Sie wis-
sen – liegt weiterhin in den neuen Ländern, damit dort der
wirtschaftliche Aufholprozess fortgesetzt und eine mo-
derne wettbewerbsfähige Wirtschaftsstruktur geschaffen
werden können. Wir sind sehr erfreut, dass fünf Institute
festgestellt haben, dass dieser Aufholprozess langsam an
Fahrt gewinnt.
Kleine und mittlere Unternehmen erhalten deutliche
Förderpräferenzen. Darüber hinaus können kleine und
mittlere Unternehmen das ergänzende GA-Förderangebot
für nicht investive Unternehmensaktivitäten zur Stärkung
der Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft in An-
spruch nehmen. Dabei handelt es sich um die Förderung
von Beratungs- und Schulungsmaßnahmen, aber auch
von Humankapitalbildung und angewandter Forschung
und Entwicklung.
Wie Sie wissen, werden diese Instrumente in regel-
mäßigen Abständen, in der Regel in einem Rhythmus von
drei bis vier Jahren, überprüft und den strukturellen Ver-
änderungen angepasst. Folgende Indikatoren der einzel-
nen Arbeitsmarktregionen werden verglichen: Das ist
zum Ersten die durchschnittliche Arbeitslosen- respektive
Unterbeschäftigungsquote; das ist zum Zweiten das Ein-
kommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
pro Kopf und zum Dritten eine Erwerbstätigenprognose
sowie eine Infrastrukturprognose.
Herr Kollege Michelbach, wenn ich vielleicht noch ei-
nen Zusatz machen darf: In dem Gutachten, das Herr
Wansleben am 12. April 2002 vorgestellt hat, spielt die
Forderung an die Kommunen seitens der beteiligten
20 000 Unternehmen eine zentrale Rolle. Hier wird ge-
sagt, man müsse von den hohen Abgaben und Gebühren
herunter, die Verwaltung müsse schlanker werden und die
Behörden müssten schneller entscheiden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf das
Gutachten der Institute, das heute vorgelegt worden ist,
kommen: Ich bin ausgesprochen erfreut – das entspricht
dem Statement von Herrn Wansleben –, dass die Institute
empfehlen, dass die Abgabenerhöhungen der Städte und
Gemeinden sowie der Länder auf 1 Prozent zu begrenzen
sind. Ich bin des Weiteren darüber erfreut, dass es mit dem
Landkreistag und dem Deutschen Städtetag vonseiten
meines Hauses regelmäßige Treffen zu dem Thema gibt,
dass nicht nur 80 Prozent der Kommunen im Netz präsent
sind, sondern dass sie auch ihre Verwaltungsanforderun-
gen über das Netz abwickeln. Ich kann Ihnen mitteilen,
dass wir in diesem Zusammenhang einen Wettbewerb
durchführen. Er heißt „Media@com“ und hat das Ziel,
bürokratische Anforderungen der Verwaltungen der Kom-
munen zu reduzieren. Ich freue mich insbesondere, dass
das Land Bayern bereit ist, den Modellversuch „Einheit-
liche Unternehmensnummer“ zusammen mit uns zu rea-
lisieren.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretä-
rin, ich freue mich, dass Sie über meine Frage erfreut sind.
Aber ich bin mit Ihren Antworten nicht sehr einverstan-
den. Sie sind sehr global.
Deswegen eine Zusatzfrage: Sehen Sie nicht, dass es
spezielle Förderinstrumente geben muss und dass die
diesbezüglich vorhandenen Förderinstrumente im Mo-
ment nicht ausreichen, insbesondere vor dem Hinter-
grund, dass von 69 in der genannten DIHK-Umfrage er-
folgten Bewertungen zum Beispiel der oberfränkische
Firmenstandort Coburg auf Platz 55 und Bayreuth auf
Platz 62 liegen, das heißt am Schluss zu finden sind, und
es nur noch in den neuen Bundesländern schlechtere
Standorte gibt? Ist hier nicht dringend ein zielgenaues
Maßnahmenbündel notwendig, damit die Attraktivität des
Wirtschaftsstandortes der Region Oberfranken verbessert
werden kann?
M
Sehr geehrterHerr Kollege Michelbach, ich weiß nicht, ob es die Auf-gabe der Bundesregierung ist, den Wettbewerb zwischenden IHK-Bezirken tatsächlich auch monetär zu fördern.Ich bin Herrn Wansleben allerdings ausgesprochen dank-bar dafür, dass er sagt, es gebe einen Lichtblick, nämlicheine Stärkung des Wettbewerbs zwischen den IHK-Bezir-ken. Gerade auch deshalb hat der DHIK in der vorgeleg-ten Studie ein Ranking eingeführt. Dort ist zum Beispielausgewiesen, dass Frankfurt auf Platz eins und Aschaf-fenburg – das ja bekanntlich in Bayern liegt – auf Platzzwei kam. Vielleicht sollten Sie Ihrerseits in Gesprächengegenüber den dortigen IHK-Bezirken tätig werden. Ich
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks23069
werde das auch machen. Vielleicht müssen sich diese dortauch mehr als Dienstleister verstehen, um die Attraktivitätder Standorte zu fördern.Sie können in diesem Kontext darauf aufmerksam ma-chen, dass wir mit Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe auchMaßnahmen wie die Erschließung von Industrie- und Ge-werbegelände fördern, dass wir den Ausbau und die An-bindung von Verkehrsnetzen fördern, dass wir die Errich-tung von Abwasser- und Abfallanlagen fördern, dass wirzur Verbesserung der Infrastruktur für Tourismus beitragenund dass wir durchaus bereit sind, bei der Errichtung vonZentren der beruflichen Bildung und von Gründungszen-tren unterstützend unter die Arme zu greifen.
Ich danke
Ihnen, Frau Staatssekretärin.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzleramts
a
Hat Bundeskanzler Gerhard Schröder mit SPD-Generalse-
kretär Franz Müntefering dessen Verhalten gegenüber dem 1. Un-
tersuchungsausschuss besprochen bzw. war das Verhalten von
SPD-Generalsekretär Franz Müntefering gegenüber dem 1. Un-
tersuchungsausschuss mit Bundeskanzler Gerhard Schröder sogar
abgestimmt?
Hat Bundeskanzler Gerhard Schröder mit SPD-Schatzmeiste-
rin Inge Wettig-Danielmeier deren Verhalten gegenüber dem
1. Untersuchungsausschuss besprochen bzw. war das Verhalten
von SPD-Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier gegenüber
dem 1. Untersuchungsausschuss mit Bundeskanzler Gerhard
Schröder sogar abgestimmt?
H
Herr Kollege von Klaeden, Ihre Fragen beziehen sich
nicht auf Bereiche, für die die Bundesregierung mittelbar
oder unmittelbar verantwortlich ist. Deshalb erübrigt sich
an sich die Antwort in der Sache.
Nun kann ich grundsätzlich nicht ausschließen, dass
der Zweck einer Frage nicht darin besteht, eine Antwort
zu erhalten. Um hier nicht Raum für Spekulationen zu las-
sen, füge ich deshalb hinzu: Der Bundeskanzler hat weder
mit dem Generalsekretär noch mit der Schatzmeisterin
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands deren Ver-
halten im 1. Untersuchungsausschuss abgestimmt.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen von Klaeden.
Herr Staatsminis-
ter, billigt denn der Bundeskanzler das Verhalten zum Bei-
spiel des Generalsekretärs Müntefering am 21. März bei
seiner Vernehmung, angeblich eine Liste von Spendern
nicht gekannt zu haben, die dem Willy-Brandt-Haus be-
reits am 14. März per Einschreiben mit Rückschein zuge-
gangen ist?
H
Herr Kollege von Klaeden, ich darf Sie noch einmal
darauf hinweisen, dass Voraussetzung für die Zulässigkeit
von Fragen ist, dass diese sich auf Bereiche beziehen, für
die die Bundesregierung unmittelbar oder mittelbar ver-
antwortlich ist. Das ist beim vorliegenden Sachverhalt er-
kennbar nicht der Fall.
Allenfalls könnte sich bei Bundesminister a. D. Franz
Müntefering durch seine ehemalige Zugehörigkeit zur
Bundesregierung ein Bezug zur Verantwortlichkeit der
Bundesregierung ergeben. Bei der von Ihnen angespro-
chenen Aussage des Kollegen Müntefering vor dem
1. Untersuchungsausschuss liegt ein solcher Bezug je-
doch nicht vor. Aus diesem Grunde war das Bundeskabi-
nett auch nicht mit der Frage einer Aussagegenehmigung
für Herrn Bundesminister a. D. Müntefering befasst.
Die Abgeordnete Wettig-Danielmeier hingegen hat der
Bundesregierung niemals angehört. Ein Bezug zur Ver-
antwortlichkeit der Bundesregierung ist auch hier in kei-
ner Weise ersichtlich.
Eine zweite
Zusatzfrage.
Ist es denn richtig,
Herr Staatsminister, dass der Bundeskanzler im Zusam-
menhang mit der Kölner SPD-Spendenaffäre angekündigt
hat, alles zu unternehmen, um für eine rasche und gründ-
liche Aufklärung zu sorgen?
H
Richtig ist, dass der Parteivorsitzende der SPD an-
gekündigt hat, dass die Vorgänge in Köln konsequent auf-
geklärt und die Konsequenzen gezogen werden. Aber
auch dies liegt nicht in der mittelbaren oder unmittelbaren
Verantwortung der Bundesregierung und ist somit nicht
Gegenstand dessen, worauf sich Fragen in der Frage-
stunde des Bundestages beziehen können.
Eine Zusatz-
frage des Kollegen Koppelin.
Herr Staatsminister, hat es
mit dem Bundeskanzler zusammen im Bundeskanzleramt
Gespräche mit Herrn Müntefering oder anderen Personen
der SPD über die Spendenaffäre in Köln gegeben?
H
Herr Kollege Koppelin, ich verweise auf die bereits ge-
gebene Antwort auf die Frage des Kollegen von Klaeden.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Carstensen.
HerrStaatsminister, ich weiß nicht, ob ich richtig zugehörthabe, aber ich kann nicht erkennen, dass Sie die Frage desKollegen Koppelin im Nachgang zu der Frage des Kolle-gen von Klaeden beantwortet haben. Hier wurde gefragt,ob es Gespräche im Bundeskanzleramt gegeben hat. Kön-nen Sie dies mit Ja oder Nein beantworten?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Parl. Staatssekretärin Margareta Wolf23070
H
Herr Kollege, ich habe in der Antwort auf die Frage
des Kollegen von Klaeden bereits klargestellt, dass es
keine Abstimmung des Verhaltens des Generalsekretärs
oder der Schatzmeisterin im 1. Untersuchungsausschuss
mit dem Bundeskanzler gegeben hat. Sie können mich
auch fragen, wie die Bundesregierung die programmati-
schen Kontroversen innerhalb der Union oder die inner-
parteiliche Kritik am CSU/CDU-Kandidaten bewertet.
Auch das sind allerdings Fragen, die nicht Gegenstand der
Befragung der Bundesregierung oder der Fragestunde des
Deutschen Bundestages sind bzw. dort nicht von der Bun-
desregierung zu kommentieren sind.
Es gibt
keine weiteren Fragen. Herr Staatsminister, ich danke
Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes
auf. Zur Beantwortung steht Staatsminister Dr. Christoph
Zöpel zur Verfügung.
– Ich habe beide Fragen gemeinsam aufgerufen und sie
sind auch gemeinsam beantwortet worden. Es ist kein Wi-
derspruch erfolgt. Es tut mir Leid. Ich habe beide Fragen
aufgerufen. Der Staatsminister hat beide Fragen gemein-
sam beantwortet.
Wir sind also im Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Die Frage 12 der Abgeordneten Sylvia Bonitz
kann nicht beantwortet werden, weil die Kollegin nicht
anwesend ist. Es wird verfahren, wie in der Geschäfts-
ordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Hartmut
Koschyk auf:
Wie hat sich der Anteil deutscher Schüler an den deutschen
Auslandsschulen in den letzten Jahren entwickelt und wie bewer-
tet die Bundesregierung Presseberichte – „Frankfurter Rund-
schau“ vom 11. April 2002 –, wonach die aufgrund der Mittelkür-
zungen gestiegenen Schulgebühren für den Besuch einer
deutschen Schule im Ausland zu einem Rückgang bei den deut-
schen Schülerzahlen geführt haben?
D
Herr Präsident! Herr Kollege, im Rahmen der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik fördert das
Auswärtige Amt 117 Auslandsschulen. Davon sind
44 deutschsprachige Schulen, 48 Begegnungsschulen und
25 landessprachliche Schulen mit verstärktem Deutsch-
unterricht. Die Gesamtschülerzahl ist in den vergangenen
zehn Jahren mit rund 70 000 konstant geblieben. Gleiches
gilt für den Anteil deutscher Schülerinnen und Schüler bei
einer Schwankungsbreite zwischen circa 16 500 und
17 500 Schülern. Die Größe einzelner Schulen bzw. ihre
Schülerzahl variiert lokal sehr stark.
So stieg die Anzahl der Schüler an der deutschen
Schule in Peking von 113 Schülern 1995/96 auf
230 Schüler 2001/02 und an der deutschen Schule in
Schanghai in dem gleichen Jahresvergleich von elf auf
140 Schülern stark an. Aufgrund wirtschaftlicher und po-
litischer Probleme sind die Zahlen für den Vergleichszeit-
raum beispielsweise in Lagos rückläufig. Dort ging die
Anzahl der Schüler von 152 auf 77 zurück.
An Standorten mit schwierigeren Lebensumständen ist
tendenziell erkennbar, dass die Exportwirtschaft zuneh-
mend weniger Mitarbeiter aus Deutschland oder ihre Mit-
arbeiter nur vorübergehend bzw. ohne Familie entsendet,
was sich unmittelbar auf die Schülerzahl auswirkt.
Die Auslandsschulen bleiben von der Haushaltskonso-
lidierung nicht ausgenommen. Interne Umstrukturierun-
gen sichern gleichzeitig Qualität und Leistungsvermögen
der Schulen. Auf ergänzende Finanzierungsmöglichkei-
ten, beispielsweise erhöhte Schulgelder oder Sponsoring,
sind die Schulen gleichwohl verstärkt angewiesen. Ein
Zusammenhang zwischen Schulgelderhöhungen und dem
Rückgang von Schülerzahlen ist allerdings nicht nach-
weisbar.
Für viele Eltern sind andere internationale Schulen
keine Alternative, da sie an einer an deutschen Normen
orientierten Ausbildung interessiert sind. Hinzu kommt,
dass die deutschen Auslandsschulen im Vergleich zu bri-
tischen oder amerikanischen Schulen weiterhin ver-
gleichsweise günstige Schulgelder erheben.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister,
die Frage bezieht sich auf einen Pressebericht in der
„Frankfurter Rundschau“ vom 11. April 2002. In diesem
Pressebericht wird über den ersten Weltkongress der deut-
schen Auslandsschulen in Mexiko City berichtet und
Klage über die erheblichen Mittelkürzungen im Etat des
Auswärtigen Amtes für die deutschen Auslandsschulen
geführt. Das Auswärtige Amt war auf diesem Kongress
vertreten. Konnte die Bundesregierung den Vertretern der
deutschen Auslandsschulen in Aussicht stellen, dass im
Haushalt des nächsten Jahres eventuell eine Erhöhung der
Fördermittel für die deutschen Auslandsschulen vorgese-
hen wird? Denn der Rückgang hat ja inzwischen zu qua-
litativen Einbußen – bis hin zur Frage hinsichtlich der an
deutschen Auslandsschulen tätigen Lehrkräfte – geführt.
D
Herr Kollege, das Auswärtige Amt hat so etwas –mit guten Gründen – nicht in Aussicht gestellt. Es gibt garkeinen Zweifel daran, dass die Konsolidierungspolitikfortgeführt werden muss, schon allein, um im Einklangmit den entsprechenden Rahmenbedingungen der Euro-päischen Union zu bleiben. Das ist allgemein bekannt.Davon kann kein Ressort ausgenommen werden.Ich wiederhole einen Hinweis, den ich für wesentlichhalte und der eine Grundlage des deutschen Systems indiesem Zusammenhang ist: Amerikanische und britischeSchulen erheben vergleichsweise höhere Schulgelder. Ichglaube, dies ist eine der notwendigen und auch gewolltenFolgen der Reduzierung von Transferzahlungen in Haus-halten hoch entwickelter Staaten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002 23071
Eine zweite
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister,
folglich scheinen Angehörige deutscher Unternehmen im
Ausland andere Erfahrungen zu haben, als sie die Bun-
desregierung für sich in Anspruch nimmt. In dem zitierten
Presseartikel heißt es wörtlich:
Eine wachsende Zahl von Eltern, die aus beruflichen
Gründen ins Ausland geschickt wurden, kann sich den
Besuch einer deutschen Schule nicht mehr leisten.
Dies geht zurück auf Aussagen, die bei dem Kongress der
deutschen Auslandsschulen getätigt worden sind.
Ich frage erneut, ob sich das Auswärtige Amt nicht
doch noch einmal überlegt, die Förderung der deutschen
Auslandsschulen zu verstärken. Denn auch die deutsche
Wirtschaft – es gibt eine entsprechende Entschließung der
Konferenz der Wirtschaftsminister des Bundes und der
Länder – beklagt einen Substanzverlust bei den deutschen
Schulen im Ausland und fürchtet, dass der Anreiz für
junge Familien mit Kindern, für deutsche Unternehmen
ins Ausland zu gehen und somit den Wirtschaftsstandort
Deutschland im Ausland zu stärken, Schaden nimmt,
wenn hier nicht ein Kurswechsel erfolgt.
D
Herr Kollege, das Auswärtige Amt trägt die notwen-
dige Konsolidierungspolitik voll mit. Ich glaube, gerade in
den von Ihnen wiedergegebenen Berichten wird die
grundsätzliche gesellschaftliche Problematik der notwen-
digen Haushaltskonsolidierung und der damit verbunde-
nen steuerlichen Entlastung von Unternehmen deutlich.
Für den größten Teil der infrage kommenden Fälle
– soziale Härten kann man nie ausschließen; mit denen
sollte man sich individuell beschäftigen – wird die Frage,
wie von Unternehmen ins Ausland entsandte Mitarbeiter
ihre Kinder beschulen, Vertragsbestandteil zwischen die-
sen Mitarbeitern und den Unternehmen sein. Dies ent-
spricht auch der gesellschaftspolitischen Philosophie,
welche der entsprechenden Haushaltskonsolidierung und
Steuerentlastung zugrunde liegt.
Herr Staats-
minister, wir sind schon bei Frage 13. Es liegt an Ihnen,
ob Sie bereit sind – die Kollegin Bonitz ist gerade einge-
troffen –, die Frage 12 jetzt noch zu beantworten.
D
Ich bin immer bereit, alles das zu tun, was dem Par-
lamentarismus angemessen ist.
Können Sie
uns das schriftlich geben?
D
Das gebe ich Ihnen gerne schriftlich. Das ist eine
meiner ethischen Überzeugungen.
Dann rufe
ich die Frage 12 auf:
Ist die in der „Wirtschaftswoche“ vom 21. März 2002 zitierte
Äußerung des Bundesministers des Auswärtigen, Joseph Fischer,
„Wissen Sie, ich kann Interviews geben, wem ich will – Sie müs-
sen sich dafür immer erniedrigen“ gegenüber der ARD-Korres-
pondentin Hanni Hüsch korrekt wiedergegeben worden, und falls
ja, was versteht der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph
Fischer, ganz konkret unter der zitierten „Erniedrigung“?
D
Frau Kollegin, Herr Bundesaußenminister Fischer
pflegt einen engen und vertrauensvollen Umgang mit den
Medien. Dies können Sie auch daran feststellen, dass viel
über ihn geschrieben wird. Auf Ihre Frage kann ich Ihnen
nur eine grundsätzliche und alternativlose Antwort geben:
Die Bundesregierung sieht grundsätzlich keine Veranlas-
sung, nicht öffentliche vermeintliche oder tatsächliche
Äußerungen von Bundesministern zu kommentieren.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister,
zunächst ganz herzlichen Dank, dass Sie die Frage noch
beantworten. Es geht hier aber nicht darum, dass Sie die
Äußerung kommentieren, sondern darum, dass Sie sagen,
ob dieser Ausspruch von Herrn Fischer gegenüber einer
ARD-Korrespondentin überhaupt zutreffend wiedergege-
ben ist. Ich nenne das Zitat noch einmal: „Wissen Sie, ich
kann Interviews geben, wem ich will – Sie müssen sich
dafür immer erniedrigen.“
D
Frau Kollegin, die Bundesregierung – Sie fragen die
Bundesregierung – untersucht grundsätzlich nicht die un-
endliche Vielfalt von angeblichen, tatsächlichen, richtig,
modifiziert dargestellten Äußerungen von Bundesminis-
tern. Ich glaube, wenn sie es tun würde, würde das Parla-
ment die Bundesregierung zu Recht kritisieren, weil es
wichtigere Aufgaben gibt als diese.
Eine weitere
Zusatzfrage.
Es ist schon bemerkens-
wert, dass man als Parlamentarier keine Auskunft darüber
erhält, ob eine angebliche Aussage eines Ministers stimmt
oder nicht. Sieht die Bundesregierung denn einen Zusam-
menhang zu einer früheren Äußerung von Herrn Fischer,
die so auch bestätigt worden ist, als er Journalisten als
– ich zitiere – „Fünf-Mark-Huren“ bezeichnet hat? Dies
passt in den Zusammenhang.
Frau Kollegin, Sie wer-den mir nicht verübeln, dass ich die Frage zwingend ge-nauso wie die davor beantworte. Es gibt keine Stelle in derBundesregierung, die die unübersehbare Fülle von Bun-desministern zugeschriebenen Äußerungen – das findettäglich statt – daraufhin überprüft, ob es sie gibt und obsie richtig sind. Ich füge hinzu: Es ist sehr vernünftig, dasses eine solche Stelle nicht gibt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 200223072
Damit sind
wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs. Herr Staatsminis-
ter, ich danke Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
der Justiz auf. Die Fragen beantwortet der Parlamentari-
sche Staatssekretär, Professor Dr. Eckhart Pick.
Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Dr. Norbert Röttgen
auf:
Welche Gründe sprechen aus Sicht der Bundesregierung für
oder gegen eine Novellierung der Bundesgebührenordnung für
Rechtsanwälte, BRAGO, und in welchem Zeitraum müsste eine
solche Novellierung aus Sicht der Bundesregierung erfolgen?
D
Herr Präsident! Herr Kollege
Dr. Röttgen, das neue Vergütungsrecht der Rechtsanwälte
soll transparenter, anwenderfreundlicher und aufwands-
orientierter werden sowie den veränderten Strukturen der
Anwaltskanzlei Rechnung tragen. Im Hinblick darauf,
dass die Gebührensätze der Rechtsanwälte bekanntlich
seit 1994 nicht mehr angepasst worden sind, soll im Zuge
der Strukturreform eine Angleichung der Einkommen der
Anwaltschaft an die Einkommensentwicklung in anderen
Bereichen erfolgen. Daran arbeitet die Bundesregierung
mit Nachdruck.
Zusatzfrage.
Sehr geehrter Herr
Staatssekretär Professor Pick, allen Interessierten stellt
sich die Frage, zu welchem Ergebnis dieser Nachdruck
führt. Im letzten Sommer hat die Expertenkommission
das Gutachten vorgelegt. Die Verbände haben dazu Stel-
lung bezogen. Sie haben die Bedeutung dieses Vorhabens
gerade unterstrichen und betont, dass es Anlass gibt.
Die Legislaturperiode ist in fünf Monaten zu Ende. Ich
möchte Sie fragen: Wollen Sie noch in dieser Legislatur-
periode zu einem Ergebnis kommen? Anders gefragt: Was
sind die Gründe für die Schneckenhaftigkeit der Gesetz-
gebungsarbeit, die in diesem Bereich betrieben wird?
D
Herr Kollege Röttgen, ich weise den
Ausdruck „Schneckenhaftigkeit“ – natürlich mit der ge-
bührenden Empörung – zurück. Sie können aus der Tatsa-
che, dass die Strukturkommission am12.April dieses Jahres
erneut getagt und sich mit der Fortschreibung des Berichtes
und der Vorschläge beschäftigt hat, ersehen, dass wir mitten
in den Beratungen sind. Insofern hoffen wir, dass wir dieses
Unternehmen möglichst bald abschließen können.
Eine weitere
Zusatzfrage.
Um es noch ein-
mal auf den Punkt zu bringen: Wird es noch in dieser Le-
gislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf der
Bundesregierung geben?
D
Herr Kollege, die Bundesregierung
unternimmt alle Anstrengungen, um noch in dieser Legis-
laturperiode einen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen.
Ich rufe die
Frage 15 des Abgeordneten Röttgen auf:
Mit welchen anderen rechtspolitischen Projekten wie zum
Beispiel der Novellierung des Gerichtskostengesetzes, GKG, be-
absichtigt die Bundesregierung eine etwaige Novellierung der
BRAGO gegebenenfalls zu verknüpfen und warum?
D
Herr Kollege Dr. Röttgen, mit den
Ländern und den Repräsentanten der Anwaltschaft ist sich
die Bundesregierung darin einig, dass die Reform des an-
waltschaftlichen Gebührenrechts aus Gründen strukturel-
ler Abhängigkeiten und finanzieller Auswirkungen auf
die Länderjustizhaushalte in die Gesamtreform des Ge-
richtskostenrechts eingebettet sein muss.
Zusatzfrage.
Ist sich die Bun-
desregierung bewusst, dass durch die Verklammerung
beider Bereiche, anwaltliches Gebührenrecht und Ge-
richtskostengesetz, eine enorme Verzögerung im gesam-
ten Vorhaben bewirkt wird, was eine inhaltliche Bremse
bedeutet, ohne dass ein zwingender sachlicher Zusam-
menhang zwischen beiden Bereichen besteht? Nimmt die
Bundesregierung damit nicht in Kauf, dass aus dem Pro-
jekt nichts wird, sondern in die Rubrik Ankündigungs-
projekt einzugruppieren ist?
D
Herr Dr. Röttgen, es gibt keinenZweifel – darin war sich die Kommission, die die Bun-desministerin der Justiz eingesetzt hat, einig –, dass es ei-nen strukturellen Zusammenhang zwischen der Änderungder Struktur der Gebührenordnung für Anwälte und demGerichtskostenrecht gibt. Es war von Anfang an ein Zieldieser Kommission, zum Beispiel die Frage der Vergü-tung von Sachverständigen, Zeugen sowie ehrenamtli-chen Richterinnen und Richtern in diesem Zusammen-hang mit einzubringen. Das ist die Vorbemerkung.Sie werden verstehen, dass insbesondere die Ländermit Argusaugen darauf achten, dass sie bei dieser Reformaus ihrer Sicht nicht unter die Räder kommen. Insofernmuss es natürlich einen einigermaßen austarierten Aus-gleich zwischen den Belangen der Anwälte, die wir alleunterstützen – darin bin ich mit Ihnen einer Meinung –,und den Interessen der Länder geben. Darüber hinaus gibtes noch andere Beteiligte bei diesem Vorhaben, nämlichdie so genannten Konsumenten, diejenigen, die dieseKosten letztlich tragen müssen. Dazu gehören sicherlichauch Teile der Versicherungswirtschaft.Die Struktur dieses Vorhabens ist also grundsätzlichgerechtfertigt. Die Frage, ob es möglich ist, die Bundes-gebührenordnung für Rechtsanwälte aus dem Konzept
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002 23073
herauszulösen, ist noch nicht geklärt. Wir überlegen noch.Nur so viel ist klar: Insgesamt muss jedes Konzept mit derStruktur des Gerichtskostenrechts abgestimmt sein undgeklärt sein, was das bringt. Wir brauchen dazu keine aus-formulierte Gebührenordnung. Wir arbeiten an diesemThema. Ich hoffe, dass es uns bald gelingt, einen Refe-rentenentwurf in die Gremien einzubringen.
Die Fra-
gen 16 und 17 des Kollegen Dr. Jürgen Gehb werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 18 des Kollegen Volker Kauder auf:
Wird die Bundesregierung die von der Arbeitsgruppe Ge-
bührenrecht der Bundesrechtsanwaltskammer, BRAK, erarbeite-
ten Anregungen im Hinblick auf den von der Expertenkommis-
sion BRAGO-Strukturreform vorgelegten Entwurf eines RVG-E
aufgreifen und wenn nein, warum nicht?
D
Herr Kollege Kauder, die Stellung-
nahme der Bundesrechtsanwaltskammer wird wie auch
die Stellungnahmen der anderen Verbände – dazu gehört
auch die des Deutschen Anwalt-Vereins – im Bundesmi-
nisterium der Justiz geprüft und bewertet.
Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, können Sie uns mitteilen, wie viel Zeit
diese Prüfung noch in Anspruch nehmen wird? Die Fak-
ten liegen ja schon eine Zeit lang auf dem Tisch.
D
Wir sind auch mit der von Ihnen an-
gesprochenen Bundesrechtsanwaltskammer im Ge-
spräch. Das letzte Gespräch hat am 27. März dieses Jahres
in unserem Haus stattgefunden. Wir haben die Bundes-
rechtsanwaltskammer gebeten, sich noch einmal mit der
Versicherungswirtschaft in Verbindung zu setzen, weil es
offensichtlich unterschiedliche Einschätzungen gibt. Wir
haben gebeten, uns über das Ergebnis der Gespräche
– auch wir haben bereits mit der Versicherungswirtschaft
Gespräche geführt – in Kenntnis zu setzen. Das ist bisher
noch nicht erfolgt.
Im Übrigen habe ich bei der Beantwortung der Fragen
des Kollegen Dr. Röttgen schon darauf hingewiesen, dass
wir im Moment im Lichte der Stellungnahmen und mit-
hilfe der Kommission den Entwurf überarbeiten. Sobald
er einen gewissen Stand erreicht hat, wird er als Referen-
tenentwurf eingebracht werden.
Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, vielleicht kann ich Sie doch noch dazu
bringen, eine genauere Aussage im Namen der Bundesre-
gierung zu machen: Teilen Sie die Auffassung des rechts-
politischen Sprechers der Grünen, der die Novellierung
noch in dieser Legislaturperiode gefordert hat?
D
Es gibt keinen Zweifel, dass die An-
hebung der Gebühren wichtig ist. Aus unserer Sicht ist die
Strukturreform der Bundesgebührenordnung für Rechts-
anwälte genauso wichtig. Das ist eine vordringliche Auf-
gabe; denn wir sehen hier Nachholbedarf. Das Bundes-
ministerium der Justiz ist bemüht. Sie erkennen auch an
den Terminen, die es in der letzten Zeit gegeben hat, dass
diese Reform von uns nach wie vor als ein wichtiges Vor-
haben angesehen wird.
Ich rufe die
Frage 19 des Kollegen Volker Kauder auf:
Entspricht der Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Sonn-
tagszeitung“ vom 24. März 2002, nach dem Bundeskanzler
Gerhard Schröder das Vorhaben der Bundesministerin der Justiz,
Dr. Herta Däubler-Gmelin, zur besseren Vergütung von Rechtsan-
wälten im Kabinett gestoppt haben soll, den Tatsachen und wenn
ja, wie wirkt sich dies auf den Zeitplan für eine Novellierung der
BRAGO aus?
D
Herr Kollege Kauder, aus meinen
bisherigen Antworten dürfte sich bereits ergeben haben,
dass der Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Sonntags-
zeitung“ nicht den Tatsachen entsprechen kann; denn das
Bundesministerium der Justiz arbeitet nach wie vor mit
Nachdruck an dem Entwurf.
Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob aus Ihrem Hause ein
entsprechender Vermerk an das Bundeskanzleramt gege-
ben wurde, aus dem hervorgeht, wie sich der Bundes-
kanzler vielleicht in den nächsten Tagen bei der einen oder
anderen Veranstaltung äußern will?
D
Das Bundesministerium der Justiz
hat keinen Anlass, dem Herrn Bundeskanzler irgendwel-
che Vorgaben zu machen.
Haben Sie solche Vorga-
ben denn gemacht?
D
Wir haben keine solchen Vorgaben
gemacht.
Ich rufe die
Frage 20 des Kollegen Peter Weiß auf:
Trifft es zu, dass die Bundesregierung beabsichtigt, den von
der Bundesministerin der Justiz, Dr. Herta Däubler-Gmelin, erar-
beiteten Entwurf eines Gesetzes zur Verhinderung von Diskrimi-
nierungen im Zivilrecht nicht mehr in dieser Legislaturperiode in
den Deutschen Bundestag einzubringen?
D
Herr Kollege Weiß, der in Ihrer
Frage unterstellte Sachverhalt trifft nicht zu. Vielmehr
wird angestrebt, Regelungen zur Verhinderungen von
Diskriminierungen im Zivilrecht noch in dieser Legisla-
turperiode zu verwirklichen.
Zusatzfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick23074
Herr
Staatssekretär, können Sie bestätigen, dass Berichte zum
Beispiel im „Focus“, dass der Bundeskanzler der Bundes-
justizministerin mitgeteilt habe, dass er diesen Entwurf
auf keinen Fall als Regierungsentwurf einbringen wolle,
und Meldungen wie die im „Tagesspiegel“ von heute, wo-
nach feststehe, dass es zu keinem Regierungsentwurf
kommen, sondern allenfalls einen Entwurf der beiden Ko-
alitionsfraktionen geben werde und dass der rechtspoliti-
sche Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen festgestellt
habe, es gebe „bei der SPD ... starke Absetzbewegungen“,
den Gesetzentwurf als Entwurf der Koalitionsfraktionen
einzubringen, zutreffen? Wird es also zu keinem Regie-
rungsentwurf mehr kommen und wird damit die Bundes-
regierung ihr Versprechen brechen, das sie anlässlich der
Beratungen des Gleichstellungsgesetzes insbesondere
den Behindertenverbänden gegeben hat?
D
Der letzte Teil Ihrer Ausführungen
war wohl keine Frage, sondern schon eine vorwegge-
nommene Bewertung. Ich kann nur sagen, dass die Bun-
desregierung nach wie vor an dem Entwurf arbeitet. Wir
befinden uns in der Abstimmung mit den Ressorts. Inso-
fern handelt es sich hier um einen ganz normalen Vorgang.
Wir sind auch weiterhin bemüht – das habe ich bereits in
der letzten Woche auf entsprechende Fragen von Herrn
Dr. Seifert gesagt –, diesen Entwurf, in welcher Form
auch immer, noch in die Gremien zu bringen.
Zweite Zu-
satzfrage.
Herr
Staatssekretär, da mir das Thema Gleichstellung Behin-
derter besonders am Herzen liegt, frage ich Sie, ob es
nicht klüger gewesen wäre, die Bundesregierung hätte da-
ran festgehalten – das war ursprünglich geplant gewe-
sen –, im Gleichstellungsgesetz auch die Fragen der zivil-
rechtlichen Gleichstellung von Behinderten zu regeln,
statt diesen Teil herauszunehmen und jetzt in einen offen-
sichtlich eher dilettantisch zusammengestrickten und in
der Bundesregierung höchst umstrittenen Entwurf eines
Antidiskriminierungsgesetzes aufzunehmen? Im Übrigen
erinnere ich daran, dass das Bundesjustizministerium den
Referentenentwurf erst herausgerückt hat, nachdem die
Behindertenverbände angekündigt hatten, am 3. Dezem-
ber vergangenen Jahres hier in Berlin zu demonstrieren.
D
Das Konzept der Bundesregierung
beinhaltet, dass es zu einem zivilrechtlichen Antidiskri-
minierungsgesetz kommt. Insofern handelt es sich hier
um eine klare Entscheidung. Wie Sie vielleicht wissen,
haben wir auch schon zivilrechtliche Regelungen dort, wo
es sinnvoll war, aufgenommen, beispielsweise in das neue
Mietrecht. Dort ist im Einvernehmen mit den Verbänden
zum ersten Mal die Barrierefreiheit aufgenommen wor-
den. Wir haben uns also auch schon bei unseren bisheri-
gen Projekten bemüht, entsprechende Regelungen einzu-
bringen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen von Klaeden.
Herr Staatssekre-
tär, wird das Antidiskriminierungsgesetz zustimmungsbe-
dürftig sein und können Sie mir den Zeitplan erläutern,
nach dem dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode
verwirklicht werden soll?
D
Herr von Klaeden, ob das Gesetz zu-
stimmungsbedürftig ist, hängt von der Regelungsmaterie
ab, wie Sie als besonderer Kenner des Rechts natürlich
wissen.
Den zweiten Teil Ihrer Frage beanworte ich wie folgt:
Sie sind auch erfahren genug, um zu wissen, dass es un-
terschiedlichste Möglichkeiten gibt, um ein Projekt noch
vor Ende der Legislaturperiode durch die Gremien zu
bringen.
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Claudia Nolte.
Herr Staatssekretär, da
Zeitungsmeldungen doch relativ selten ganz und gar un-
wahr sind und ohne jeglichen Anlass erscheinen, frage ich
ausdrücklich nach: Sind die Berichte darüber, dass die
Bundesregierung nicht mehr beabsichtige, den Entwurf
eines Antidiskriminierungsgesetzes einzubringen, wahr
oder falsch?
D
Diese Berichte sind falsch.
Ich danke
Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentari-
sche Staatssekretär, Dr. Gerald Thalheim, zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 21 des Abgeordneten Peter Dreßen
auf:
Welche Gründe gibt es dafür, dass das Pflanzenschutzmittel
Lebaycid in Frankreich bis zehn Tage vor der Ernte gespritzt wer-
den darf, in Deutschland jedoch verboten ist, und wird dadurch
nach Ansicht der Bundesregierung nicht gegen den Gleichheits-
grundsatz in der Europäischen Union verstoßen?
Dr
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehr-ter Kollege Dreßen! Das Pflanzenschutzmittel Lebaycid,Wirkstoff Fenthion, wurde in Deutschland letztmals im
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002 23075
Jahre 1993 zugelassen. Schon aufgrund der damals nach-zuweisenden Zulassungsvoraussetzungen konnte dasPflanzenschutzmittel wegen seiner möglichen Auswir-kungen auf den Naturhaushalt nur nach einer Vertretbar-keitsabwägung zugelassen werden, und zwar befristet auffünf Jahre. Mit dem nachfolgenden Antrag auf erneuteZulassung konnten die schon früher bestehenden Beden-ken nicht ausgeräumt werden.Der Wirkstoff Fenthion wurde in der ersten Stufe dereuropäischen Überprüfung von Altwirkstoffen geprüft.Bis heute konnte noch keine Entscheidung über dieAufnahme dieses Wirkstoffes in Anhang I der Richt-linie 91/414/EWG getroffen werden. Es steht jedoch fest,dass man nach heutigem Stand der Bewertung höchstensgewillt ist, einer Köderanwendung zuzustimmen. EineFlächenanwendung mit deutlich höherem Mittelaufwandwie beim Einsatz zur Kirschfruchtfliegenbekämpfung istjedoch abzulehnen.Deutschland konnte aufgrund der Datenlage keinesichere, durch Daten belegte Anwendung identifizierenund spricht sich demzufolge gegen eine Aufnahme desWirkstoffes in Anhang I der Richtlinie 91/414/EWG aus.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe
eigentlich danach gefragt, warum dieses Mittel in
Frankreich zugelassen ist.
Mein Wahlkreis liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zur
französischen Grenze. Das heißt also, fünf Kilometer
westlich meines Wahlkreises darf Lebaycid verspritzt
werden, die Kirschen dürfen geerntet und anschließend
nach Deutschland eingeführt werden. Sehen Sie darin
nicht eine Ungerechtigkeit gegenüber den deutschen
Kirschbauern? Diese Landwirte haben jetzt tatsächlich
Existenzängste und Existenznöte, weil sie befürchten,
dass ihre Kirschen von Maden befallen sind, wenn sie die-
ses Mittel nicht mehr spritzen können.
Dr
In der Tat, Lebaycid ist ein Präparat, das
in Frankreich noch zugelassen ist. Die Zulassung in
Frankreich geht auf frühere Entscheidungen zurück.
Das Ziel der Bundesregierung ist eine Harmonisierung
im Pflanzenschutzrecht; es wurde auch in der von mir zi-
tierten Richtlinie 91/414/EWG festgelegt. Die von mir
ebenfalls angesprochene Aufnahme in Anhang I der ge-
nannten Richtlinie entspricht praktisch einer gemein-
schaftlichen europäischen Zulassung. Solange die Ent-
scheidung über die einzelnen Präparate in diesem Bereich
nicht erfolgt ist, gelten nach wie vor die alten Zulassun-
gen und damit die unterschiedliche Bewertung in den ein-
zelnen Mitgliedsländern.
Entscheidend für die Ablehnung in Deutschland war
die Umwelttoxikologie und in Übereinstimmung damit
das 1986 im Deutschen Bundestag erlassene Gesetz, das
dem Vorsorgegedanken sowohl im Umweltbereich als
auch im Bereich des Verbraucherschutzes Vorrang vor al-
len anderen wirtschaftlichen Überlegungen einräumt.
Herr Staatssekretär, das, was Sie
jetzt sagen, hilft den Landwirten natürlich sehr wenig. Sie
waren schon einmal so weit zu sagen, dass im Falle einer
Gefahr im Verzuge nach einer Lösung gesucht werden
muss.
Ich kann Ihnen versichern: Die Existenz einiger Be-
triebe steht auf dem Spiel. Sie sehen natürlich nicht ein,
dass fünf Kilometer weiter die Kirschen mit dem Mittel
gespritzt, nach Deutschland eingeführt und hier verkauft
werden dürfen, während unsere Kirschen nicht damit be-
handelt werden dürfen. Das ist unverständlich. Können
Sie mir deutlich machen, warum die Lage so ist? Wird in
den nächsten Tagen nicht doch noch einmal versucht wer-
den, eine Lösung herbeizuführen?
Dr
In der Tat habe ich vor einigen Wochen
hier in der Fragestunde die im Pflanzenschutzgesetz vor-
handene Möglichkeit angesprochen, Präparate mit dem
Hinweis „Gefahr im Verzug“ zuzulassen. Die Erwartun-
gen, die damit verbunden waren, hatten eine reale Grund-
lage, nämlich ein Gespräch mit dem Umweltbundesamt.
In diesem Gespräch ist seitens des Umweltbundesamtes
angedeutet worden, das einer Ausnahmegenehmigung
nichts entgegenstehe.
Die Biologische Bundesanstalt – sie ist bei Zulassun-
gen nach § 11 des Pflanzenschutzgesetzes einzig ent-
scheidend – ist zu einem anderen Ergebnis gekommen,
weil mit dem Wirkstoff Dimethoat eine Alternative zur
Verfügung steht. Ich möchte es folgendermaßen auf den
Punkt bringen: Wir haben keine beste Lösung, sondern
zwei zweitbeste Lösungen: Die eine ist die Anwendung
von Dimethoat – seine Zulassung besteht nur für begrenzte
Zeit –, die andere ist die Anwendung von Fenthion, mit
dem umwelttoxikologische Probleme einhergehen.
Wir geben dem Dimethoat den Vorzug; zumal sich in
der Zeit, die seit meiner Antwort im Deutschen Bundestag
vergangen ist, die Bewertung des Wirkstoffs Dimethoat in
der Europäischen Union geändert hat. Das heißt, der
Wirkstoff wird nach heutiger Kenntnis für die nächsten
drei Jahre zur Verfügung stehen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Koschyk.
Herr Staatssekretär,es überrascht mich jetzt doch, dass Sie heute auf einmalauf den anderen Wirkstoff – Sie können seinen schönenNamen besser als ich aussprechen – verweisen. Sie habennämlich in der Fragestunde am 13. März 2000 auf meineNachfrage hin gesagt:Gefahr im Verzuge besteht insofern, als wir außerdiesem einen Präparat Lebaycid über keine anwend-baren Alternativen verfügen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim23076
Sie haben damals darauf hingewiesen, dass bei Gefahr imVerzuge, eine Ausnahmegenehmigung für den Einsatzvon Lebaycid gewährt werden kann und dass keine Alter-native besteht. Jetzt verweisen Sie auf eine angeblicheAlternative, die vor allem die Praktiker in den Kirschan-baugebieten ablehnen.Ich wäre dafür dankbar, wenn sich die Bundesregie-rung nicht hinter der Alleinzuständigkeit einer Behördeverschanzen, sondern im Interesse der Existenz von vie-len Kirschanbaubetrieben – es gibt zahlreiche Kirsch-anbauregionen in Deutschland – nach einer praktikablenLösung suchen würde; zumal – der Kollege Dreßen hatdarauf hingewiesen – eine Ungleichbehandlung gegen-über den französischen Kirschanbauern besteht. HerrStaatssekretär, nach meiner Kenntnis bestehen gegenwär-tig vonseiten der EU keine rechtlichen Hürden für eineweitere Ausnahmeregelung in Deutschland.Dr
Herr Kollege Koschyk, die Bun-
desregierung ist nicht die für die Zulassung von Pflan-
zenschutzmitteln zuständige Behörde. Die Pflanzen-
schutzmittelzulassung geschieht auf der Basis des Pflan-
zenschutzgesetzes. Ich habe in meiner Antwort auf die
vorangegangene Frage schon deutlich gemacht: Die
Pflanzenschutzmittelzulassung beruht auf einer Gesetzes-
regelung aus dem Jahre 1986. Damals wurde in diesem
Gesetz dem Vorsorgegedanken sowohl im Hinblick auf
die menschliche Gesundheit als auch auf die Umwelt ab-
soluter Vorrang eingeräumt. Aufgrund dieser Regelung
musste die Biologische Bundesanstalt eine Abwägung
treffen. Sie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die An-
wendung von Dimethoat letztendlich der bessere Weg ist.
Der Grund für den Widerspruch zu meiner Antwort vor
einigen Wochen, den Sie angemerkt haben, liegt darin,
dass auf europäischer Ebene mittlerweile eine andere Be-
wertung von Dimethoat vorliegt. Auch in Deutschland hat
es in der Vergangenheit Versuche gegeben, die Kirsch-
fruchtfliege mit Dimethoat zu bekämpfen. Diese Versu-
che sind zwar nicht optimal verlaufen, hatten aber zumin-
dest ein praktikables Ergebnis – auch in Bayern. Insofern
sehen wir in der Anwendung von Dimethoat zur Kirsch-
fruchtfliegenbekämpfung eine durchaus machbare Lö-
sung für die Betriebe.
Herr Kol-
lege Urbaniak, bitte.
Herr Staatssekre-
tär, es ist für mich völlig unbefriedigend, dass die Existenz
der deutschen Bauern im Grenzbereich gefährdet ist,
während auf der anderen Seite der Grenze kräftig produ-
ziert werden kann, die Waren von dort auf den Märkten,
die bisher die in ihrer Existenz gefährdeten Bauern be-
dienten, abgesetzt werden und damit eine Ungleichbe-
handlung innerhalb der EU stattfindet. Wir haben das
auch in anderen Bereichen: So fordern wir andere Staaten
auf, in der Energiepolitik gleiche Regelungen wie bei uns
anzuwenden. Ist denn vonseiten der Bundesergierung
beabsichtigt, Initiativen zu unternehmen, um diesen un-
haltbaren Zustand im Südwesten der Republik zu beenden?
Dr
Es ist das Ziel der Bundesregierung, eine
Harmonisierung in diesem wichtigen Bereich zu errei-
chen. Ich durfte hier schon vortragen, dass ein Kernpunkt
der Harmonisierung eine europaweite Zulassung durch
Aufnahme in den so genannten Anhang I ist. Auf diesem
Gebiet sind wir in den letzten Jahren deutlich vorange-
kommen, aber noch nicht so weit, wie wir uns das wün-
schen.
Fenthion ist einer der Wirkstoffe, der in Frankreich
noch aufgrund einer früheren Zulassung angewandt wer-
den darf; diese Zulassung wird aber auch dort im nächs-
ten Jahr auslaufen. Wir sind auf dem Weg der Harmoni-
sierung, mit all den Problemen, die aus der Vergangenheit
herrühren. Allerdings sehen wir eine existenzbedrohende
Situation für die deutschen Kirschanbauer nicht, weil hier,
wie von mir dargestellt, mit dem Wirkstoff Dimethoat
eine Lösung, wenn auch keine optimale, zur Verfügung
steht.
Herr Kol-
lege Weiß, Emmendingen.
Herr Parla-
mentarischer Staatssekretär Dr. Thalheim, ist dem Bun-
desverbraucherministerium ein wenig die deutsche Wet-
terkarte bekannt? Können Sie vielleicht zugestehen, dass
der Wirkstoff Adimethoat, der nur mit einer Wartezeit von
21 Tagen verwandt werden darf, für den Kirschanbau in
Süddeutschland, insbesondere im Kaiserstuhl, vollkom-
men unbrauchbar ist, weil die Kirschen bei uns bei einer
Wartezeit von 21 Tagen nicht nur reif, sondern überreif
sind
und sich folglich für die Ernte, für den Verkauf und für das
Inverkehrbringen nicht mehr eignen? Von daher sind die
Feststellungen der Biologischen Bundesanstalt falsch.
Deswegen müsste es die von Ihnen aus § 11 des Pflanzen-
schutzgesetzes zitierte Regelung von Gefahr im Verzuge
in der Tat nahe legen, endlich grünes Licht dafür zu ge-
ben, dass in diesem Jahr ausnahmsweise noch einmal
Lebaycid angewandt werden kann.
Dr
Die Biologische Bundesanstalt als zu-ständige Zulassungsbehörde ist unter Abwägung der Ge-sichtspunkte zu dem Ergebnis gekommen, dass Fenthionnicht zugelassen werden kann. In der Tat müssen Dime-thoat-Präparate zu einem sehr frühen Zeitpunkt ange-wandt werden. Trotzdem sind wir der Auffassung, dassdie Wartezeit von 21 Tagen eingehalten werden kann. Einanderes Vorgehen der Bundesregierung – auch Sie spra-chen vom Verbraucherschutz – würde Sie möglicherweisein einigen Wochen zu Fragen danach provozieren, warumdie Bundesregierung ihre hochgesteckten Ziele im Ver-braucherschutz nicht erfüllt. Insofern sind wir unter
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Hartmut Koschyk23077
Abwägung der Widersprüche, die ich eben beschriebenhabe, der Meinung: Mit Dimethoat ist die Bekämpfungvon Kirschfruchtfliegen in Deutschland möglich, ohneden Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit und des Ver-braucherschutzes zu widersprechen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Schockenhoff.
Herr
Staatssekretär, nachdem Sie dem Kollegen Koschyk ge-
antwortet haben, die Bundesregierung sei nicht die Zulas-
sungsbehörde für Pflanzenschutzmittel, möchte ich Sie
fragen: Wem untersteht die Biologische Bundesanstalt?
Dr
Die Biologische Bundesanstalt untersteht
der Bundesministerin Frau Künast.
– Sie können ruhig murmeln. – Die Pflanzenschutzmittel-
zulassung ist zum Glück keine politische Entscheidung.
Ich kann mich während der Zeit meiner Zugehörigkeit
zum Bundestag auch an politisch begründete Anträge er-
innern, nach denen Pflanzenschutzmittel verboten werden
sollten. Wir haben hier deshalb klare gesetzliche Rege-
lungen, nach denen die Zulassung erfolgt. Das sind im
Übrigen Gesetze, die dieses Hohe Haus erlassen hat.
Wenn es zu anderen Regeln kommen soll, dann muss der
Gesetzgeber tätig werden. Das ist die ganz klare Argu-
mentation der Biologischen Bundesanstalt.
Ich darf noch einmal darauf verweisen: Der absolute
Vorrang des Vorsorgegedankens in Bezug auf Umwelt
und Verbraucher ist 1986 in das Pflanzenschutzgesetz ge-
schrieben worden.
Wir bleiben
beim Thema. Ich rufe die Frage 22 des Kollegen Dreßen
auf:
Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass durch das
Verbot des Pflanzenschutzmittels Lebaycid und das Versprühen
des Ersatzmittels Dimethoat bis maximal 21 Tage vor der Ernte
viele Kirschenanbauer in ihrer Existenz gefährdet sind, und wel-
che Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Existenz der
Kirschenanbauer zu erhalten?
Dr
Herr Kollege Dreßen, die Biologische
Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft hat im No-
vember 2001 ein Expertenkolloquium unter Beteiligung
des Berufsstandes zur Frage der Kirschfruchtfliegen-
bekämpfung durchgeführt. Die Experten kamen zu dem
Ergebnis, dass Dimethoat für die Kirschfruchtfliegen-
bekämpfung geeignet ist. Die Bestimmung des Einsatzter-
mines ist wegen der Wartezeit von 21 Tagen jedoch nicht
ganz einfach, aufgrund der Erfahrungen in der Schweiz, in
Österreich und insbesondere in der DDR aber durchaus
möglich.
Die Pflanzenschutzberatung der Länder hat dies aufge-
griffen. Um den Süßkirschenanbau in Deutschland mittel-
und langfristig zu sichern, muss jedoch nach weiteren
Wirkstoffen und Verfahren gesucht werden. Für die hierzu
notwendige Forschung führt das Bundesministerium für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft regel-
mäßig Abstimmungsgespräche mit den Ländern durch.
Herr Staatssekretär, der Kollege
Weiß hat gerade sehr aufgeregt auf eine Problematik hin-
gewiesen, die natürlich ihre Berechtigung hat. Ich möchte
Ihnen das Problem in aller Ruhe noch einmal darlegen.
Bei uns beträgt die Reifezeit höchstens 14 Tage. Wenn Di-
methoat 21 Tage vor der Ernte gespritzt werden muss,
dann reicht es eben nicht. Zu diesem Zeitpunkt ist die Kir-
sche noch sehr grün. Ein paar Tage später kommt dann
eben diese Fliege und setzt die Maden. Deswegen sagen
die Landwirte und die Kirschbauern mit Recht, dass Di-
methoat bei uns eben nicht die Wirkung haben kann.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass der Kaiserstuhl
die wärmste Region in Deutschland ist. Deshalb ist hier
die Reifezeit auch am kürzesten. Das mag in der Lüne-
burger Heide etwas anders sein, aber am Kaiserstuhl ist
das Problem so, wie ich versucht habe, es Ihnen zu be-
schreiben. Wenn die Kirsche noch gelb ist und gerade
anfängt, sich rot zu färben, dann muss das Mittel ge-
spritzt werden. Aber dann dauert es höchstens noch zehn
Tage bis zur Reife. Wenn Sie früher spritzen, ist alles
hinfällig, wenn nur ein Regenwetter kommt. Sie wissen,
dass die Kirschen, die mit Maden versehen sind, weder
in den Handel gebracht noch sonst verwendet werden
dürfen.
Die Biologische Bundesanstalt sagt selbst, dass es in
manchen Regionen problematisch ist. Sie haben es vorge-
lesen:
Die Bestimmung des Einsatztermines ist wegen der
Wartezeit von 21 Tagen jedoch nicht ganz einfach.
Am Kaiserstuhl ist es sehr gefährlich und sehr schwierig.
Deswegen stellt sich die Frage, ob man hier nicht zumin-
dest regional eine Ausnahmegenehmigung dafür erhalten
kann, das alte Mittel noch einmal zu verwenden. Oder was
muss getan werden, um die Not der Kirschbauern in ir-
gendeiner Form zu lindern?
Dr
Ich habe in der Beantwortung der voran-gegangenen Fragen deutlich gemacht: Dimethoat ist diezweitbeste Lösung, insbesondere weil es zu einem sehrfrühen Zeitpunkt angewandt werden muss. Aber die Er-fahrungen – aus der Schweiz und aus Österreich, in denenes vor allem um den Bodenseeraum mit klimatisch nichtso sehr anderen Verhältnissen geht – haben gezeigt, dassdieser Wirkstoff eingesetzt werden kann. Ich gehe davonaus, dass die Biologische Bundesanstalt bei der Bewer-tung dieses Antrags für eine Zulassung auf der Basis von
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim23078
§ 11 des Pflanzenschutzgesetzes auch die Argumente ge-prüft und gewürdigt hat, die Sie eben vorgetragen haben.
Herr Staatssekretär, eine letzte
Frage: Ist die Regierung vielleicht bereit, den Schaden in
irgendeiner Form auszugleichen, der dadurch entsteht,
dass 21 Tage vor der Ernte mit Dimethoat gespritzt wird
und es dann eben keinen Wert mehr haben wird?
Dr
Eine gesetzliche Grundlage, auf der ein
Schadensersatzausgleich erfolgen könnte, existiert nicht.
Herr Kol-
lege Koschyk.
Herr Staatssekretär,
ist denn die Bundesregierung bereit, mit der Biologischen
Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft in dieser An-
gelegenheit noch einmal zu sprechen? Mir liegt ein
Schreiben der Landesanstalt für Pflanzenbau und Pflan-
zenschutz des Landes Rheinland-Pfalz vor, also einer
Landesbehörde, die den Antrag des Herstellers auf Aus-
nahmegenehmigung für Lebaycid durch eine Stellung-
nahme unterstützt. Die Landesanstalt für Pflanzenbau und
Pflanzenschutz des Landes Rheinland-Pfalz kommt in
dieser Stellungnahme vom 4. April 2002 zu dem Ergeb-
nis, dass Dimethoat eben nicht eine wirksame Alternative
ist, und befürwortet den Antrag des Herstellers auf Aus-
nahmegenehmigung für Lebaycid ganz ausdrücklich.
Wenn es eine Landesbehörde gibt, die in dieser Frage
zu einem völlig anderen Ergebnis kommt als die Bundes-
anstalt, dann muss die Bundesregierung doch bereit sein,
ein Fachgespräch zwischen der Landesbehörde und der
Bundesbehörde zu moderieren. Sich einfach dahinter zu
verstecken, Herr Staatssekretär, dass eine Bundesbehörde
das alleinige Zulassungsrecht hat, ist angesichts der exis-
tenziell schwierigen Situation der Kirschanbaubetriebe
nach meiner Überzeugung nicht gerechtfertigt.
Dr
Herr Kollege Koschyk, ich bin gern be-
reit, ein solches Gespräch zu moderieren. Interpretieren
Sie aber bitte meine Antworten in der Fragestunde vom
13. März als Nachweis der Bemühungen der Bundes-
regierung im Hinblick auf die Entscheidung der Biologi-
schen Bundesanstalt, hier wirklich alle Gesichtspunkte zu
prüfen. Ich wiederhole jedoch: Die Biologische Bundes-
anstalt lässt bei der Zulassung nach § 11 des Pflanzen-
schutzgesetzes Pflanzenschutzmittel auf der Basis des
geltenden Pflanzenschutzgesetzes zu. Ich sage noch ein-
mal: Der Vorsorgegesichtspunkt ist dort der maßgebliche.
Er ist 1986 mit gutem Grund in das Gesetz geschrieben
worden.
Kollege
Weiß.
Herr Parla-
mentarischer Staatssekretär Dr. Thalheim, wenn die Bun-
desregierung aufgrund der Stellungnahme der Biologi-
schen Bundesanstalt unbedingt daran festhalten will, dass
Lebaycid keinesfalls mehr zum Einsatz kommen darf,
frage ich Sie: Warum wird dann nicht für den Einsatz von
Adimethoat in den Gebieten, in denen das von den klima-
tischen Bedingungen her geboten erscheint, wegen Ge-
fahr im Verzuge, also unter Anwendung von § 11 des
Pflanzenschutzgesetzes, eine verkürzte Wartezeit von
zum Beispiel zehn, zwölf oder vierzehn Tagen gestattet,
damit für den Kirschanbau tatsächlich ein sinnvoller
Pflanzenschutz möglich ist?
Wenn Sie dies in Ihrer Anwort ebenfalls ausschließen
wollen, dann frage ich Sie: Wird die Bundesregierung an-
dererseits den Import von Kirschen aus Frankreich, den
Niederlanden und anderen Staaten, in denen Adimethoat
mit einer kürzeren Wartezeit als 21 Tage eingesetzt wer-
den kann oder in denen Lebaycid angewendet werden
kann, verbieten und, falls Sie dieses Verbot nicht aus-
sprechen, welche inhaltliche Konzeption haben der
Verbraucherschutz und der Gesundheitsschutz dieser
Bundesregierung, wenn ich in Deutschland ohne jede Ein-
schränkung in diesem Jahr Kirschen zum Beispiel aus
Frankreich kaufen kann, die mit Lebaycid oder Adime-
thoat mit einer Wartezeit von zehn Tagen behandelt wor-
den sind, die deutschen Kirschen aber nicht in Verkehr ge-
bracht werden dürfen?
Dr
Herr Kollege, egal, aus welchem Land
und aus welcher Produktion Kirschen nach Deutschland
importiert werden oder hier angeboten werden, sie müs-
sen alle – ich betone: ausnahmslos alle – die gleichen
Rückstandswerte einhalten. Bei Dimethoat sind das
1 mg/kg, wobei zu dem Dimethoat der Wirkstoff Ome-
thoat, ein Anabolit des Dimethoats, dazuzurechnen ist.
Dieses Abbauprodukt hat eine zehnmal so hohe Toxizität
als der ursprüngliche Wirkstoff. – Sie lächeln. Wir sind
genau bei diesem Punkt. – Auch Kirschen, die aus Frank-
reich importiert werden, müssen diesem Rückstands-
höchstwert entsprechen. Das Problem ist – hier kommen
wir wieder zu dem Vorsorgegedanken –, dass es natürlich
leichter ist, diesen Rückstandshöchstwert bei einer Warte-
zeit von 21 Tagen einzuhalten – so ist die zustande ge-
kommen –, im Vergleich zu Frankreich mit den sieben Ta-
gen. Die Frage des Rückstandshöchstwerts hat nichts mit
der Entscheidung nach § 11 des Pflanzenschutzgesetzes,
der Zulassung, zu tun, sondern sie ist bundesrechtlich in
der Rückstandshöchstmengenverordnung geregelt. Das
heißt, diese Entscheidung ist nicht zu korrigieren.
Herr Kol-
lege Tappe.
Herr Staatssekretär, ichkomme aus einer Gegend, wo zurzeit etwa 160000 Kirsch-bäume in voller Blüte stehen. Dort gibt es viele, über 2 000,Kirschenanbauer, die unter der Not des Befalls durch dieKirschfruchtfliege leiden. Nun haben Sie eben gesagt, dass
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim23079
die Bundesregierung nicht regresspflichtig ist für Ausfälle,die sich durch das nicht so wirksame Mittel Dimethoat er-geben. Ist es dann eventuell die Zulassungsstelle, nämlichin diesem Fall die Biologische Bundesanstalt, die für Scha-densersatzleistungen in Anspruch genommen werdenkönnte?Dr
Herr Kollege Tappe, in Hessen, speziell
in Nordhessen, in dem Bundesland, aus dem Sie kommen,
dürften die Argumente, die insbesondere gegen Dime-
thoat vorgetragen wurden, vor allem die 21 Tage Karenz-
zeit, nicht in dem Maße zutreffen wie in den wärmsten
Gebieten, also am Kaiserstuhl. Das heißt, gerade in Hes-
sen dürfte, wie auch die Erfahrungen aus Franken bele-
gen, mit dem Wirkstoff Dimethoat eine erfolgreiche
Bekämpfung der Kirschfruchtfliege möglich sein.
Ich rufe die
Frage 23 des Kollegen Hartmut Koschyk auf:
Warum hat die Biologische Bundesanstalt für Land- und
Forstwirtschaft, BBA, auf den Antrag des Herstellers auf Ertei-
lung einer Ausnahmegenehmigung für das Pflanzenschutzmittel
Lebaycid vom 10. April 2002 hin bereits zu erkennen gegeben,
den Antrag ablehnen zu wollen, nachdem der Parlamentarische
Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft, Dr. Gerald Thalheim, in der Fra-
gestunde des Deutschen Bundestages vom 13. März 2002 die Er-
teilung einer solchen Ausnahmegenehmigung für möglich gehal-
ten hat, und ist seitens der BBA sichergestellt, dass der einzige
weitere zur Bekämpfung der Kirschfruchtfliege zugelassene
Wirkstoff Dimethoat bezüglich seiner Umwelteigenschaften dem-
selben hohen Standard genügt, an dem derzeit Lebaycid gemessen
wird?
Dr
Herr Kollege Koschyk, vor dem Hinter-
grund der aktuellen Diskussionen habe ich die Biologi-
sche Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, die als
zuständige Behörde die Entscheidungen über Zulassun-
gen oder Genehmigungen für Pflanzenschutzmittel zu
treffen hat, nochmals persönlich um erneute Prüfung der
Angelegenheit gebeten. Sie hat daraufhin mitgeteilt, dass
das bisher angewandte Pflanzenschutzmittel Lebaycid
mit dem Wirkstoff Fenthion in Deutschland seit 1998 we-
gen der gemeinsam von Biologischer Bundesanstalt für
Land- und Forstwirtschaft und Umweltbundesamt als un-
vertretbar bewerteten Auswirkungen auf den Naturhaus-
halt nicht mehr zugelassen ist. Eine Möglichkeit zur Er-
teilung einer Genehmigung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
des Pflanzenschutzgesetzes – Gefahr im Verzuge – sieht
sie daher auch nach erneuter Prüfung nicht.
Herr Staatssekretär,
Sie haben uns vorhin freundlicherweise gesagt, dass das
Umweltbundesamt, das nach Ihrer Aussage für eine sol-
che Entscheidung mit herangezogen worden ist, zu einem
anderen Ergebnis kommt als die Biologische Bundesan-
stalt für Land- und Forstwirtschaft. Ich habe gerade die
Stellungnahme der Landesanstalt für Pflanzenbau und
Pflanzenschutz des Landes Rheinland-Pfalz zitiert. Ich
bitte Sie wirklich noch einmal eindringlich, Folgendes zu
beachten: Niemand in Deutschland versteht, dass sich die
Bundesregierung hinter der alleinigen Zuständigkeit einer
Behörde verschanzt, wenn eine andere im Benehmen mit
zu hörende Behörde wie das Umweltbundesamt hier eine
Ausnahmeregelung weiter für möglich hält und eine Lan-
desbehörde – ich bin sicher, es gibt auch andere Landes-
behörden, die das so sehen; ich habe jetzt aber nur die
Stellungnahme von Rheinland-Pfalz – ebenfalls fachlich
zu einer anderen Auffassung kommt. Da kann sich doch
die Bundesregierung nicht zurücklehnen und sich auf eine
Behörde mit alleinigem Zulassungsrecht stützen. Ich wäre
Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie dem Haus hier heute
zusichern könnten, dass die Bundesregierung in dieser Sa-
che noch einmal entsprechende Aktivitäten unternimmt.
Dr
Die Antwort in der Fragestunde vom
13. März basierte auf den Bemühungen, die ich seinerzeit
unternommen hatte. Meine Antwort hat heute das Ergeb-
nis der speziell auch von mir persönlich initiierten Prü-
fungen der Biologischen Bundesanstalt dargelegt. Ich
habe darüber hinaus keinerlei Spielraum, auf die Biologi-
sche Bundesanstalt einzuwirken, da es, wie gesagt, nicht
in die politische Entscheidung gestellt ist, welche Pflan-
zenschutzmittel in Deutschland zugelassen werden.
Zu der Frage nach den Auskünften des Umweltbun-
desamtes, die Sie gestellt haben. Es handelte sich hier um
ein informelles Gespräch mit dem zuständigen Referats-
leiter, nicht um eine offizielle Stellungnahme. Aber das in-
formelle Gespräch hat mich motiviert, noch einmal auf
die Biologische Bundesanstalt zuzugehen. Das Ergebnis
ist bekannt.
Herr Staatssekretär,
liegt die Biologische Bundesanstalt für Land- und Forst-
wirtschaft in Ihrem Zuständigkeitsbereich?
Dr
Ja, die Biologische Bundesanstalt für
Land- und Forstwirtschaft ist eine Anstalt unseres Hauses.
Sehen Sie wirklich
keine Möglichkeit mehr, dass Ihr Haus noch einmal auf
die Biologische Bundesanstalt einwirkt?
Dr
Die Biologische Bundesanstalt muss Zu-lassungen von Pflanzenschutzmitteln nach dem Pflanzen-schutzgesetz vornehmen. Dort ist im Detail geregelt, nachwelchen Verfahren und unter welchen Abwägungs-gesichtspunkten eine Zulassung zu erfolgen hat. Insbe-sondere muss sich die Biologische Bundesanstalt bei
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Joachim Tappe23080
Zulassungen an den mehrmals von mir erwähnten Vorsor-gegedanken nach § 11 des Pflanzenschutzgesetzes halten.
Jetzt hat
sich der Kollege Schockenhoff zu einer Zusatzfrage ge-
meldet.
Herr Staats-
sekretär, warum hat die Biologische Bundesanstalt den Ein-
satz des Pflanzenschutzmittels Plantomycin in der vergan-
genen Woche nur für Versuchszwecke genehmigt und
damit den Anträgen der Pflanzenschutzämter der akut von
Feuerbrand bedrohten Regionen nur sehr eingeschränkt
entsprochen, nachdem doch der Bundeskanzler in einem
Schriftwechsel mit dem Oberbürgermeister von Friedrichs-
hafen mitgeteilt hatte, im Falle eines akuten Feuerbrandri-
sikos werde die zurzeit ruhende Zulassung von Plantomy-
cin für alle betroffenen Obstbauern modifiziert?
Dr
Die Zulassungen von Plantomycin und
Lebaycid sind in keiner Weise zu vergleichen. Bei der Zu-
lassung von Lebaycid hat der Gesichtspunkt der Umwelt-
toxikologie, also der Auswirkungen auf den Naturhaus-
halt, zur Ablehnung geführt. Im Falle von Plantomycin
waren Gesichtspunkte der Humantoxikologie maßgeb-
lich, also der Auswirkungen auf den Menschen, insbeson-
dere der Auswirkungen aufgrund von Rückständen im
Honig.
Die Sonderzulassung, die jetzt zu Versuchszwecken er-
folgt ist und die beinhaltet, dass jedes Bundesland die not-
wendigen Mengen an Plantomycin mit den entsprechen-
den Landesbehörden vereinbaren kann, hat das Ziel, den
Obstbauern die Bekämpfung der Schädlinge zu ermögli-
chen. Auf der anderen Seite soll aber sichergestellt sein,
dass der enge Grenzwert für Rückstandswerte im Honig
von 0,02 Milligramm pro Kilogramm eingehalten wird.
Das heißt, wir bewegen uns bei der Sonderzulassung des
Plantomycin eindeutig im Rechtsrahmen des Pflanzen-
schutzgesetzes. Bei der Zulassung von Lebaycid würden
wir diesen verlassen.
Jetzt hat
der Kollege Dreßen das Fragerecht.
Herr Staatssekretär, die Tatsa-
che, dass es in dieser Frage eine große Koalition in die-
sem Hause gibt – ich weise auf die Frage des Kollegen
Koschyk hin –, müsste Ihnen zeigen, dass hier ein ernstes
Problem vorliegt. Deswegen frage ich Sie: Besteht die
Möglichkeit, dass Sie mit dem Präsidenten der Biologi-
schen Bundesanstalt in den nächsten Tagen noch einmal
ein Gespräch führen, um zu einer befriedigenden Lösung
zu kommen?
Die jetzige Lösung ist nach Auffassung der Kirschbau-
ern nicht ausreichend. Sie haben die große Sorge, dass sie
die ganze Ernte vernichten müssen. Sollte daher in den
nächsten Tagen nicht ein Gespräch angestoßen werden, in
dem man noch einmal über die Probleme spricht? Ich
würde mich bereit erklären, daran teilzunehmen. Ich bin
mir sicher, dass auch andere Kollegen dazu bereit wären.
Denn das Ganze ist ja nicht nur ein Problem meines Wahl-
kreises. Drei oder vier Nachbarwahlkreise haben dasselbe
Problem.
Halten Sie ein Gespräch in den nächsten Tagen nicht
für dringend notwendig? Ich halte es für wichtig, dass
man ein solches Gespräch führt und dass man den Versuch
unternimmt, eine Ausnahmeregelung zu finden, die die
Kirschbauern in geeigneter Weise zufrieden stellt.
Dr
Herr Kollege Dreßen, meine Antwort auf
die Frage des Kollegen Koschyk hat eine solche Zusage
enthalten. Ich kann mir aber – das ist meine ganz persön-
liche Bewertung – die Erörterung dieser Frage lediglich
für Gebiete wie dem Kaiserstuhl vorstellen, wo eine be-
sondere klimatische Situation vorliegt. In den anderen
Kirschanbaugebieten Deutschlands – das betrifft insbe-
sondere Franken, Hessen und Ostdeutschland – ist mit
Präparaten auf der Wirkstoffbasis Dimethoat eine erfolg-
reiche Kirschfruchtfliegenbekämpfung – das haben Erfah-
rungen in der Vergangenheit gezeigt – möglich. Die Zu-
sage für ein Gespräch kann ich von dieser Stelle aus geben.
Die
nächste Frage hat der Kollege Kauder.
Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung die Po-
sition der Biologischen Bundesanstalt in Bezug auf den
Einsatz von Plantomycin vor dem Hintergrund der Aus-
sagen Ihres Hauses, dass außer Plantomycin derzeit kein
vergleichbarer wirksamer Stoff zur Bekämpfung des Feu-
erbrandes zur Verfügung steht? Wie will die Bundesre-
gierung angesichts der für das kommende Wochenende
ausgesprochenen Feuerbrandwarnung der für den deut-
schen Erwerbsobstbau nachteiligen Wettbewerbssituation
im Hinblick auf den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln
begegnen?
Dr
Herr Kollege, wenn Sie meine bisherigen
Antworten verfolgt hätten, wäre Ihnen deutlich gewor-
den, dass eine Genehmigung, also eine Zulassung, für die
Feuerbrandbekämpfung mit Plantomycin ausgesprochen
worden ist. Mit den jeweiligen Landesbehörden wurden
sogar Wirkstoffmengen vereinbart. In diesen Bundeslän-
dern ist die Feuerbrandbekämpfung geregelt. Es kann also
nicht die Rede davon sein, dass die Obstbauern in Gefahr
seien.
Kollege
Weiß hat eine Frage.
Herr Parla-mentarischer Staatssekretär Dr. Thalheim, können Sie uns
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim23081
Abgeordneten des Deutschen Bundestages und den Obst-bauern in Deutschland erklären, wie sich diese bezüglichihrer Erzeugnisse in diesem Jahr konkret verhalten sollen,da erstens nach der Ausnahmeregelung, die Sie jetzt er-lassen haben, der Einsatz von Plantomycin auf höchstenseinem Achtel der Anbaufläche möglich ist – im weit über-wiegenden Teil des Erwerbsobstbaus ist dies also nichtder Fall –
und zweitens, wie soeben erörtert, für die Bekämpfungder Kirschfruchtfliege sowohl der Einsatz von Lebaycidals auch der Einsatz von Adimethoat – mit einer dem Rei-fungsprozess der Kirschen angemessenen Wartezeit – vonder Bundesregierung nicht ermöglicht werden soll? Siehaben vorhin erwähnt, dass Sie bei der Anwendung vonPflanzenschutzmitteln die Höchstrückstandsmengen– diese gelten natürlich auch für importierte Waren – be-grenzen wollen. Da Sie etwas für den Verbraucherschutztun wollen, möchte ich Sie konkret fragen: Durch wenwird jede einzelne nach Deutschland importierte Kirscheauf eventuelle Rückstände geprüft?Dr
Herr Kollege, ich beginne mit der letzten
Frage. Die Untersuchung der Rückstände von Pflanzen-
schutzmitteln erfolgt durch die zuständigen Landesbehör-
den. Diese entscheiden auch darüber, wie hoch die Kon-
trolldichte ist. Wir können konstatieren – Herr Weiß, Sie
brauchen nicht zu lachen –, dass die Kontrollen in den
letzten Jahren intensiviert worden sind. In weniger als
1 Prozent der Proben wurden Pflanzenschutzmittel nach-
gewiesen. Soweit zu dem Teil der Frage, mit dem Sie da-
nach gefragt haben, was die Bundesregierung ganz kon-
kret macht.
Es ist nicht zutreffend, dass die Mengen an Plantomy-
cin nur für ein Achtel der Obstflächen reichen würden.
Verwendet man Plantomycin, ist unter Umständen eine
zweifache Behandlung notwendig. Insofern ist das der
eingrenzende Faktor. Aufgrund der Witterung in den letz-
ten Wochen muss in den stark befallenen Gebieten nicht
die gesamte Fläche behandelt werden. Das heißt, es wird
nur eine punktuelle Behandlung notwendig sein. Dafür
steht ausreichend Plantomycin zur Verfügung, wobei die
Bundesländer mit der Biologischen Bundesanstalt verein-
bart haben, dass diese Mengen gegebenenfalls noch er-
höht werden.
Bezüglich der Einhaltung der Rückstandswerte geht es
in dem ganz konkreten Fall um den Honig. Die Landes-
behörden, allen voran diejenige von Baden-Württemberg,
haben gemeinsam mit den Imkern und Obstbauern ver-
einbart, dass der Honig auf Rückstände untersucht wird.
Sollten die Grenzwerte überschritten werden, wird der
Honig nicht für den Verzehr durch Menschen freigegeben,
sondern vernichtet.
Ich denke, dies ist eine vernünftige Regelung. Es
wurde Vorsorge dafür getroffen, dass auf der einen Seite
den Erfordernissen des Obstbaus Rechnung getragen wird
und auf der anderen Seite keine Gefährdung der Verbrau-
cher eintritt.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär. Wir sind am Ende der Befra-
gung zu Ihrem Geschäftsbereich.
Ich komme jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwor-
tung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike
Mascher zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Wolfgang
Dehnel auf:
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, dass von den er-
heblichen Mittelkürzungen im Bereich der Arbeitsbeschaffungs-
maßnahmen, ABM, insbesondere die neuen Bundesländer betrof-
fen sind und die Kürzungen dort teilweise dramatische
Auswirkungen haben?
U
Herr Kollege
Dehnel, die Bundesregierung teilt nicht Ihre Auffassung,
dass von den erheblichen Mittelkürzungen im Bereich der
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen insbesondere die neuen
Bundesländer betroffen sind. Der von der Bundesregie-
rung genehmigte Haushaltsplan der Bundesanstalt für
Arbeit für das laufende Haushaltsjahr 2002 weist den Ar-
beitsämtern im Eingliederungstitel bundesweit 14,2 Mil-
liarden Euro zu. Das sind rund 200 Millionen Euro mehr,
als 2001 verausgabt wurden. Den Arbeitsämtern in den
neuen Bundesländern wurden für das laufende Haushalts-
jahr im Eingliederungstitel rund 6,9 Milliarden Euro und
damit 200Millionen Euro mehr zugewiesen, als 2001 ver-
ausgabt wurden. Die Bundesregierung teilt daher nicht die
Einschätzung, dass insbesondere die neuen Bundesländer
von erheblichen Mittelkürzungen betroffen sind.
Für die Bewilligung von Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
men sind die Arbeitsämter vor Ort zuständig. Diese erhal-
ten in einem so genannten Eingliederungstitel Mittel, die
sie für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere Er-
messensleistungen der aktiven Arbeitsförderung einset-
zen. Spezielle Arbeitsbeschaffungsmaßnahmenmittel
wurden den Arbeitsämtern letztmals im Haushaltsjahr
1997 zugewiesen. Bei der Zuweisung der Mittel im Rah-
men des Eingliederungstitels sind insbesondere die regio-
nale Entwicklung der Beschäftigung, die Nachfrage nach
Arbeitskräften, Art und Umfang der Arbeitslosigkeit so-
wie die jeweilige Ausgabenentwicklung im abgelaufenen
Haushaltsjahr zu berücksichtigen.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Dehnel.
Frau Staatssekretä-rin, wie erklären Sie sich dann, dass in den letzten zweiMonaten allein mir circa 20 Eingaben bzw. Briefe zuge-gangen sind, in denen sich Verbände und Vereine, aberauch Landratsämter und indirekt Arbeitsämter – denn inden Anfragen der Vereine waren Arbeitsämter genannt –darüber beklagen, dass entsprechende Mittel gekürzt undMaßnahmen, die bisher gang und gäbe gewesen sind, zumBeispiel Unterstützung von Sportverbänden sowie ande-ren Verbänden und Vereinen, nicht mehr gefördertwerden?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
PeterWeiß23082
U
Herr Abgeordne-
ter Dehnel, ich habe schon darauf hingewiesen, dass wir
im Rahmen des Eingliederungstitels keinen Rückgang bei
den Mittelzuweisungen zu verzeichnen haben und dass
die Arbeitsämter vor Ort entscheiden, wie sie die vorhan-
denen Mittel des Eingliederungstitels auf Arbeitsbeschaf-
fungsmaßnahmen oder auf andere Maßnahmen verteilen.
Daher ist die Frage zu stellen: Welche Entscheidungen ha-
ben die einzelnen Arbeitsämter bzw. die Verwaltungsaus-
schüsse, in denen die Tarifvertragsparteien, die Gewerk-
schaften und die Arbeitgeber, sowie die jeweilige
Kommune vertreten sind, getroffen?
Eine wei-
tere Zusatzfrage.
Einige Kolleginnen
von Ihnen aus der SPD-Fraktion haben mir berichtet, dass
sie ähnlich viele Schreiben über die Situation vor Ort be-
kommen haben. Hat auch die Bundesregierung solche
Schreiben bekommen? Ich kann mir das gut vorstellen,
weil teilweise erwähnt worden ist, dass Duplikate dieser
Briefe an die Bundesregierung geschickt worden sind.
Können Sie dem zustimmen?
U
Auch wir haben
solche Briefe bekommen. Nur, meine Antwort bleibt
gleich: Die Entscheidung liegt nicht bei der Bundesregie-
rung und auch nicht bei der Bundesanstalt für Arbeit. Viel-
mehr bekommen die örtlichen Arbeitsämter nach dem von
mir dargestellten Schlüssel – ich habe versucht, Ihnen an
einigen Punkten deutlich zu machen, woran sich dieser
Schlüssel bemisst – Mittel des Eingliederungstitels. Die
Arbeitsämter vor Ort entscheiden zusammen mit den Ver-
waltungsausschüssen, wie diese Mittel auf die unter-
schiedlichen Maßnahmen verteilt werden.
Dann
kommen wir zur Frage 25 des Kollegen Dehnel:
Wie steht die Bundesregierung zu den Forderungen aus den
Kommunen, Landkreisen und Verbänden bzw. Vereinen, die
ABM-Mittel wieder zu erhöhen bzw. nicht weiter zu kürzen?
U
Ich habe versucht,
Ihnen deutlich zu machen, dass der Umfang des Einsatzes
von Mitteln für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht
von der Bundesregierung, sondern von den örtlichen Ar-
beitsämtern und Verwaltungsausschüssen festgelegt wird.
In den Verwaltungsausschüssen entscheiden neben den
Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern auch die Kom-
munen darüber, wie hoch der Mitteleinsatz für Arbeitsbe-
schaffungsmaßnahmen im jeweiligen Haushaltsjahr sein
soll.
Darüber hinaus muss man auch immer sehen: Die För-
derung im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
ist ein zeitlich befristetes Instrument der individuellen
Förderung von Arbeitslosen. Damit werden also nicht In-
stitutionen oder Projekte gefördert, sondern es wird der
Arbeitslose X, also Meier, Müller, Schulze, gefördert. Das
bitte ich dabei immer zu berücksichtigen.
Zusatz-
frage, Kollege Dehnel.
Aber sind Sie mit mir
einer Meinung, dass diese ABM große Unterstützung ge-
rade im Bereich des Sports und im sozialen Bereich in den
neuen, aber auch in den alten Bundesländern geleistet ha-
ben? Es sind insbesondere Maßnahmen unterstützt wor-
den, um Jugendliche und Kinder von der Straße wegzu-
holen.
U
Herr Dehnel, ich
sehe es ganz genauso, dass die Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahmen in der Tat wichtige Maßnahmen sind, wobei in
der Vergangenheit insbesondere in den neuen Bundes-
ländern viele Einrichtungen der sozialen Infrastruktur
zunächst über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert
worden sind und es den Kommunen offensichtlich noch
nicht in ausreichendem Maße gelingt, solche Einrichtun-
gen ausschließlich aus eigenen Mitteln zu finanzieren.
Aber das ist nicht der eigentliche Sinn von Arbeits-
beschaffungsmaßnahmen. Der eigentliche Sinn von Ar-
beitsbeschaffungsmaßnahmen ist vielmehr, Menschen
eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Ich
möchte jedoch nicht irgendwelche Grundsätze hochhal-
ten, da ich weiß, welche Bedeutung Arbeitsbeschaffungs-
maßnahmen in den neuen Bundesländern haben. Des-
wegen haben wir auch keine Kürzung dieser Mittel
vorgenommen. Sie müssten also jeweils im Einzelfall bei
den Arbeitsämtern bzw. bei den Verwaltungsausschüssen
nachfragen, warum hier Mittel nicht mehr für Arbeits-
maßnahmen, sondern für Lohnkostenzuschüsse ausgege-
ben werden.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Urbaniak.
Frau Staatssekre-
tärin, es ist sehr erfreulich, dass Sie feststellen, dass die
Mittel nicht gekürzt worden sind. Wir haben immer Wert
darauf gelegt, dass genügend – ich formuliere es einmal
volkstümlich – Pulver in den Arbeitsämtern vorhanden
ist.
Welche Erfahrungen liegen der Bundesregierung vor,
dass dies, nachdem jetzt die Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
men vor Ort unmittelbar vergeben werden, also sozusagen
basisorientiert, weitaus besser funktioniert, als das in
früheren Zeiten der Fall war?
U
Ich meine, dassdie Politik der Bundesregierung, die Mittel für Eingliede-rungsmaßnahmen zu verstetigen, wichtig gewesen ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002 23083
Wir sind gegen hektische Ausschläge: Zunächst Dürre-jahre und dann im Jahr vor einer Bundestagswahl steigendie Mittel erheblich an.
Aber in der Tat stellen wir im Moment fest, dass in denneuen Bundesländern im Jahr 2002 nur noch 1,7 Mil-liarden Euro für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einge-setzt werden, während es im Jahr 2001 2,1 MilliardenEuro waren. Aber ich bitte, hier nicht mit dem Fingerauf die Bundesregierung zu zeigen. Die Entscheidungliegt bei den Arbeitsämtern vor Ort, bei den Verwal-tungsausschüssen – die Kommunen sind in den Verwal-tungsausschüssen –, wie viel Geld für Arbeitsbeschaf-fungsmaßnahmen und wie viel Geld für andere Einglie-derungsmaßnahmen ausgegeben wird.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin. Die Fragen der Kollegen
Austermann und Singhammer werden schriftlich beant-
wortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Zur Be-
antwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staats-
sekretär Stephan Hilsberg zur Verfügung.
Die Frage 29 des Kollegen Michelbach soll schriftlich
beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Grund auf:
Wann ist mit dem Baubeginn des Autobahnteilstücks
Leinefelde–Heiligenstadt im Zuge der Bundesautobahn A 38 von
Göttingen nach Halle zu rechnen, nachdem der vorgesehene Ter-
min schon um ein halbes Jahr überschritten wurde, und wie will
die Bundesregierung sicherstellen, dass es zu keinen weiteren Ver-
zögerungen kommt?
S
Sehr
geehrter Herr Präsident, für die Bundesautobahn A 38
Göttingen–Halle zwischen den Anschlussstellen Heilbad
Heiligenstadt und Leinefelde wird derzeit das Planfest-
stellungsverfahren durchgeführt. Auf der Basis von Plan-
genehmigungen wurde auf dem genannten Streckenab-
schnitt mit dem Bau der Steinbachtalbrücke am 4. Mai
2000 und mit dem Bau der Etzelsbachtalbrücke am
28. September 2000 begonnen.
Die Überfahrbarkeit der Etzelsbachtalbrücke ist Vo-
raussetzung für den Baubeginn des Streckenloses. Die
Bedingung für diesen Baubeginn ist jedoch ein rechts-
kräftiger Planfeststellungsbeschluss. Nach derzeitigem
Stand des Planfeststellungsverfahrens – der Erörterungs-
termin wurde ja bereits durchgeführt – ist mit dem Erd-
und Deckenbau nicht vor dem ersten Quartal des Jah-
res 2003 auszugehen.
Zusatz-
frage, Kollege Grund.
Herr Staatssekretär, wir
sind ja in zeitlichem Verzug. Der Bau dieses Streckenab-
schnittes hätte schon vor einem halben Jahr beginnen sol-
len. Wenn jetzt in diesem Bereich zum ersten Quar-
tal 2003 mit dem Baubeginn zu rechnen ist, wie wird denn
gewährleistet, dass das Ende der Baumaßnahmen, also die
durchgängige Befahrbarkeit der A 38, so wie seit Jahren
geplant, im Jahre 2005 realisiert werden kann?
S
Herr
Grund, diese Frage steht nicht in Zusammenhang mit dem
Verlauf, mit dem wir es gegenwärtig zu tun haben. Wie Sie
wissen, muss das Planfeststellungsverfahren ordentlich ab-
gearbeitet werden. Wir haben, wie das nach den rechtlichen
Rahmenbedingungen richtigerweise der Fall ist, keinen
Einfluss hierauf. Die Durchführung des Planfeststellungs-
verfahrens obliegt der Verwaltung des Freistaats Thürin-
gen. Diese muss das nach Recht und Gesetz abwickeln und
ist Herrin des Verfahrens. Der sachliche Zusammenhang,
wie er sich darstellt und wie ich ihn geschildert habe, führt
dazu, dass mit dem Bau erst im Jahre 2003 begonnen wird.
Das liegt nicht etwa an mangelndem Willen, das liegt auch
nicht an den Finanzen. So die Bauarbeiten zügig abge-
wickelt werden können, kann mit einem rechtzeitigen Fer-
tigstellen der A 38 gerechnet werden.
Nach-
frage, Kollege Grund.
Beim Bauabschnitt
Breitenworbis–Leinefelde haben es die Ausschreibungs-
unterlagen ermöglicht, dass ortsansässige mittelständi-
sche Unternehmer, die sich in einer Bietergemeinschaft
zusammengeschlossen haben, bei der Bauausführung ha-
ben zum Zuge kommen können, was sehr wichtig ist, auch
angesichts der regionalen Arbeitsmarktlage. Würde das
Ministerium Einfluss nehmen, dass auch die Ausschrei-
bungsunterlagen für den Abschnitt Leinefelde–Heiligen-
stadt so ausgestellt werden, dass wiederum eine orts-
ansässige Bietergemeinschaft zum Zuge kommen bzw.
sich bewerben könnte?
S
Dies,
Herr Grund, ist eine Frage, die einen völlig neuen The-
menbereich aufmacht. Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur
zusichern: An uns wird es nicht liegen. Wir sind gerne
bereit, die hierfür erforderlichen unterstützenden Maß-
nahmen zu ergreifen. Im Übrigen gehört es sowieso zu
den Rahmenbedingungen der Auftragsverwaltung, so
weit wie möglich ortsansässige Firmen an den Aufträgen
zu beteiligen.
Nun kom-men wir zur Frage 31 des Kollegen Grund:Was spricht dagegen, bereits jetzt mit dem Trassenbau unddem Bau weiterer Brückenbauwerke zu beginnen, auch wennletzte Entscheidungen zur Fahrbahnentwässerung noch zu treffensind?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher23084
S
Sehr ge-
ehrter Herr Grund, mit dem Trassenbau kann derzeit auf-
grund des noch laufenden Planfeststellungsverfahrens, in
dem von der Planfeststellungsbehörde auch eine Ent-
scheidung zur Entwässerungsproblematik getroffen wird,
nicht begonnen werden. Mit dem Bau weiterer Brücken
im oben genannten Streckenabschnitt kann, wenn im
Planfeststellungsverfahren keine Einwände gegen die
Trassenführung der Bundesautobahn A 38 erhoben wer-
den, mittels Plangenehmigung, sofern diese von der Plan-
feststellungsbehörde erteilt wird, vor Baurechtschaffung
für den Streckenbau begonnen werden.
Zusatz-
frage, Kollege Grund.
Die Fahrbahnentwäs-
serung kollidiert ja mit den Trinkwasserschutzzonen 1
und 2, durch die die Trasse der A 38 führt. Zurzeit werden
Bohrungen durchgeführt, um die Trinkwasserschutz-
zonen so zu verändern, dass Brunnen, die in diesem Be-
reich liegen, vielleicht entbehrlich werden. Die Sorge vor
Ort, insbesondere des zuständigen Trinkwasserverbandes,
ist, dass sich ein Teil des Problems auf den Trinkwasser-
verband verlagert, indem Quellen angeboten werden, die
vielleicht von der Qualität und von der Quantität her nicht
in der Lage sind, das jetzige Dargebot zu ersetzen. Ich
bitte Sie, mit dafür Sorge zu getragen, dass die vorhan-
denen Befürchtungen und Ängste zerstreut werden und
dass nicht ein Teil des Problems auf die Trinkwasserver-
bände verlagert wird.
S
Sehr ge-
ehrter Herr Grund, das war keine Frage, sondern eine
Bitte. Wie Sie wissen, ist das ein komplexes Problem, das
schon einige Jahre besteht. In vielen umfangreichen Ge-
sprächen, an denen unter anderen Sie selbst beteiligt wa-
ren, ist dies zu einer Lösung gebracht worden. Dies steht
kurz vor dem Abschluss. Ich bin sicher, dass auch die be-
teiligten Trinkwasserverbände in das Lösungsverfahren
mit einbezogen sind und dass keine Entscheidung erfolgt,
die eine unzumutbare Belastung des Trinkwasserhaushal-
tes in der dortigen Gegend nach sich zöge.
Die Fra-
ge 32 der Kollegin Gerda Hasselfeldt soll schriftlich be-
antwortet werden.
Damit kommen wir zur Frage 33 des Kollegen
Dr. Michael Luther:
Auf welcher Finanzierungsbasis ermittelte die Bundesregie-
rung die Gesamthöhe der Investitionen des im Investitionsbericht
Infrastruktur angekündigten langfristigen 90-Milliarden-Euro-In-
vestitionsprogramms für die Modernisierung, den Ausbau und die
bessere Vernetzung der Verkehrswege, und wie ist es beabsichtigt,
in den neuen Bundesländern einen Investitionsschwerpunkt zu
setzen?
S
Sehr ge-
ehrter Herr Luther, die Bundesregierung hat trotz der not-
wendigen und unstrittigen Haushaltskonsolidierung den
Infrastrukturinvestitionen Vorrang eingeräumt. Der Inves-
titionsanteil des Bau- und Verkehrshaushaltes konnte des-
halb von 45 Prozent im Jahre 1998 auf über 51 Prozent in
diesem Jahr erhöht werden. Dabei sind die Investitionen
der Bundesregierung in den neuen Ländern gemessen an
Bevölkerung und Fläche überproportional hoch.
Die Bundesregierung wird die bisherige Finanzie-
rungslinie fortsetzen. Bestandteile sind die Nutzung der
Spielräume, die sich aus der Konsolidierung des Bundes-
haushalts ergeben, die Mobilisierung privaten Kapitals
zum Beispiel mit privaten Betreibermodellen im Auto-
bahnausbau sowie die Reinvestition der Einnahmen aus
der LKW-Maut in die Verkehrsinfrastruktur. Mit dieser
Finanzierungslinie wird die Bundesregierung auf Basis
des neuen Bundesverkehrswegeplans ein 90-Milliarden-
Euro-Investitionsprogramm erarbeiten.
Mit dem Investitionsbericht vom 6. März dieses Jahres
hat die Bundesregierung zugleich festgelegt, dass einer
der Schwerpunkte des Zukunftsprogramms Mobilität die
weitere Stärkung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen
Ländern ist.
Zusatz-
frage, Kollege Luther.
Sehr geehrter Herr
Staatssekretär, ich habe eine Frage: Der Investitions-
bericht spricht von 90 Milliarden Euro. Für welchen Zeit-
raum sind diese vorgesehen?
S
In erster
Linie umreißt der Investitionsbericht mit dem Zukunfts-
programm Mobilität den Inhalt der Zukunftsaufgaben. Ich
kann Ihnen darüber hinaus aber sagen, dass es sich um
Maßnahmen handelt, die noch im Laufe dieses Jahrzehnts
abgearbeitet werden sollen.
Zusatz-
frage des Kollegen Dehnel.
Herr Staatssekretär,
Sie haben gerade den Bundesverkehrswegeplan erwähnt.
Wie kommt es, dass Ihnen die Erstellung Ihres Bundes-
verkehrswegeplans bis Ende des Jahres 2002 nicht ge-
lingt, während die Bundesregierung unter Helmut Kohl
einen Bundesverkehrswegeplan innerhalb von zwei Jah-
ren – also in sehr viel kürzerer Zeit und unter sehr viel
schwierigeren Problemen – vorgelegt hat, und zwar den
von 1991/1992? Wieso dauert die Ausarbeitung des Bun-
desverkehrswegeplans bei Ihnen so lange?
S
Sehr ge-ehrter Herr Dehnel, Ihre Frage hat mit der Fragestellungvon Herrn Luther in keiner Weise etwas zu tun. Ich bindennoch gerne bereit, Sie darauf hinzuweisen, dass derBundesverkehrswegeplan 1991/1992 seinerzeit unter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002 23085
ganz anderen Rahmenbedingungen und unter einem ganzanderen Zeitdruck erstellt wurde und es darin in ersterLinie um die Verknüpfung der ost- und westdeutschenInfrastruktur ging.Heute haben wir umfangreiche Modernisierungsaufga-ben zu erfüllen und müssen verkehrsträgerübergreifendeVerkehrskonzepte verwirklichen. Wir sind eng am Zeit-plan und werden diesen neuen Bundesverkehrswegeplanzu Beginn der neuen Legislaturperiode im Jahre 2003 ver-abschieden können.
Vielen
Dank.
Wir kommen nun zur Frage 34 des Kollegen Luther:
Nach welchen konkreten Gesichtspunkten wählte die Bundes-
regierung die Einzelprojekte für den „beschleunigten Bau von
etwa 300 Ortsumgehungen“ aus und wie viele dieser Ortsum-
gehungen befinden sich jeweils in den einzelnen Bundesländern?
S
Sehr ge-
ehrter Herr Luther, das Zukunftsprogramm Mobilität wird
2003 auf der Grundlage eines neuen Bundesverkehrswe-
geplans erarbeitet. Darin wird auch die Konkretisierung
des beschleunigten Baues von etwa 300 Ortsumgehungen
erfolgen.
Nach-
frage, Kollege Luther.
300 Ortsumgehun-
gen sind eine ganze Menge. Über die Wahrnehmung als
Wahlkampfthema hinaus interessiert die Menschen vor
Ort natürlich, welche 300 Ortsumgehungen dies sein sol-
len. Gibt es konkrete Überlegungen, welche 300 Ortsum-
gehungen gemeint sind?
S
Sehr ge-
ehrter Herr Luther, mit dem Zukunftsprogramm Mobilität
haben wir unsere verkehrspolitische Strategie für die
nächsten Jahre festgelegt, wie dies unsere Pflicht ist. Dies
wurde aufgrund der neu geschaffenen Finanzierungs-
spielräume ermöglicht, die bereits jetzt ihre segensreiche
Wirkung für die Verkehrsinfrastrukturinvestitionen ent-
faltet haben. Man muss Planungssicherheit schaffen. Das
bedeutet aber nicht, dass alle konkreten Projekte bereits
jetzt in einem solchen Stadium sind, dass eine Entschei-
dung bekannt gegeben werden kann. Es gibt gegenwärtig
auch noch keine Möglichkeit, eine solche Entscheidung
zu treffen, weil die Untersuchungsergebnisse in Vorberei-
tung des Bundesverkehrswegeplans noch nicht in Gänze
vorliegen.
Weitere
Zusatzfrage, Kollege Luther, bitte.
Ich habe noch eine
weitere Zusatzfrage. Einen Teil der zweiten Frage haben
Sie nicht beantwortet. Deswegen will ich noch einmal
konkret nachfragen. Sie haben von einem Investitions-
schwerpunkt für die neuen Bundesländer gesprochen.
Welcher Anteil von diesen 90 Milliarden Euro bzw. von
diesen 300 Ortsumgehungen kann in den neuen Bundes-
ländern in etwa erwartet werden? Wie viel entfällt – das
war die Frage – auf die einzelnen Bundesländer? Mich in-
teressiert hier konkret der Freistaat Sachsen.
S
Herr Luther, die Frage ist zwar verständlich. Ich weise
aber darauf hin, dass allein mit den drei Projekten, für
die bereits eine Entscheidung getroffen wurde, für Ost-
deutschland milliardenschwere Investitionen festgelegt
wurden. Als Beispiele nenne ich den Bau der Hochge-
schwindigkeitsstrecke von Leipzig über Erfurt nach
Nürnberg, für die allein 10 Milliarden DM zu investie-
ren sind, den Bau der A 14 zwischen Magdeburg, Lüne-
burg und Ludwigslust und den Bau der A 72, der einzig
und allein Ihrem hoch verehrten Bundesland Sachsen
zugute kommen wird.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Dehnel.
Herr Staatssekretär,
Sie sprachen gerade von der segensreichen Wirkung des
Investitionsplans. Stimmen Sie mir zu, dass der Bundes-
verkehrswegeplan noch unter der Kohl-Regierung ausge-
arbeitet wurde und die gesamten Maßnahmen bereits be-
inhaltete, die Sie in Ihren Investitionsplan eingearbeitet
haben und nun umsetzen, sodass dieser Segen also von
uns vorbereitet worden ist?
S
Ich
stimme Ihnen dahin gehend zu, dass die Planung für die
von Ihnen genannten Verkehrsprojekte „Deutsche Ein-
heit“ – ich nehme an, dass Sie davon sprechen – selbst-
verständlich in den 90er-Jahren erfolgt ist. Ich darf aber
gleichzeitig darauf hinweisen, dass sich die zur Verfügung
gestellten Mittel in der Zeit unserer Regierungsverant-
wortung zum Teil verdoppelt haben. Das führte dazu, dass
wir im Haushalt beispielsweise für den Straßenbau im
Jahr 2001 einen Investitionsanteil von fast 60 Prozent hat-
ten, der einzig und allein in die neuen Bundesländer ge-
flossen ist. Das war unter der alten Regierung nicht zu be-
obachten.
– Das stimmt exakt.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Urbaniak.
Herr Staatssekre-tär, in der Frage 34 wird im Zusammenhang mit Ortsum-gehungen die Zahl 300 genannt. Kann man davon ausge-hen, dass sowohl der finanzielle Rahmen als auch jener
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Parl. Staatssekretär Stephan Hilsberg23086
der Planfeststellungen so übereinstimmen, dass man dieMaßnahmen koordinieren und durchführen kann?Erfahrungsgemäß ist es immer so: Hast du eine Plan-feststellung, hast du kein Geld. Hast du Geld, hast dukeine Planfeststellung. Wie sieht das bei diesem Projektaus? Beides muss in Übereinstimmung gebracht werden.S
Sehr ge-
ehrter Herr Urbaniak, ich bin Ihnen für diese Frage dank-
bar. Das war einer der Gründe dafür, dass wir mit der
Erarbeitung eines neuen Bundesverkehrswegeplans vor-
fristig begonnen haben; denn der alte Bundesverkehrs-
wegeplan hat in keiner Weise mehr Planungssicherheit
ermöglicht. Die Umsetzung der dort enthaltenen Maß-
nahmen hätte angesichts des damals vorhandenen Finan-
zierungsspielraums zehn Jahre länger gedauert, als ur-
sprünglich gedacht war. Wir tragen dafür Sorge, dass die
bestehende Planungssicherheit, wie sie im Investitions-
programm geschaffen wurde, auch im neuen Bundes-
verkehrswegeplan die Grundlage unserer Verkehrsinfra-
strukturpolitik sein wird.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Schemken.
Herr Staatssekretär,
ich möchte die Frage von Herrn Urbaniak vertiefen. Sie
haben darauf nur eine halbe Antwort gegeben. Nach Ihrer
Aussage haben Sie die Prioritäten verändert oder zumin-
dest stärker auf die Finanzen abgestellt. Aber Herr
Urbaniak hat zu Recht gesagt: Wenn du Geld hast, hast du
keine Planung; wenn die Planung da ist, ist kein Geld da.
Wenn der vordringliche Plan im Vorhinein sehr eng ab-
gesteckt wird, dann gibt es kaum die Möglichkeit, mit ei-
ner vorhandenen Planfeststellung und dem dafür nötigen
Geld vor Ort zum Zuge zu kommen und anderen Maß-
nahmen, die nicht im Planfeststellungsverfahren enthal-
ten sind, Rechnung zu tragen. Sehen Sie darin nicht ein
Problem?
S
Sehr
geehrter Herr Schemken, ich möchte zuerst darauf hin-
weisen, dass wir den Finanzierungsspielraum für Ver-
kehrsinfrastrukturmaßnahmen im letzten Jahr im Zusam-
menhang mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm um
3 Milliarden DM verbessert haben. Das heißt, pro Jahr
stehen 3 Milliarden DM mehr zur Verfügung, als dies zu
Ihrer Regierungszeit der Fall gewesen ist.
Auch vor diesem Hintergrund ist die Lösung eines sol-
chen Problems, wie es Herr Urbaniak angesprochen hat
und wie es leider vorgekommen ist, heutzutage lange
nicht mehr so dringlich, wie das noch vor einigen Jahren
der Fall gewesen ist. Im Zusammenhang damit möchte ich
Ihnen Folgendes deutlich machen: Das Investitionspro-
gramm, das für den Zeitraum von 1999 bis 2002 gilt, ent-
hält keine einzige Maßnahme, die an den notwendigen Fi-
nanzierungsspielräumen gescheitert ist. Wir können und
konnten die geplanten Maßnahmen fast zu 100 Prozent
realisieren. Wir sind bei der Realisierung der Bedarfs-
planvorhaben im Plan.
Wir wollen uns gerne daran messen lassen, ob wir al-
les, was wir in einem Programm festgelegt haben, auch
realisiert haben. Das ist die Qualitätsrichtschnur für un-
sere Politik auch in den kommenden Jahren.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Wir sind am Ende der Fragestunde. Ich schließe diese.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung derBundesregierung zu aktuellen Vor-
schlägen, in der GKV die Lohnfortzahlung zu
kürzen und die Vorleistungspflicht der Kran-
kenversicherten einzuführen.
Das Wort zur Begründung hat als erste Rednerin die
Kollegin Hildegard Wester von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! CDU und CSU verfügen nach wie vorüber kein schlüssiges Konzept zur Weiterentwicklung desGesundheitswesens. Diese Konzeptlosigkeit hat sich inden jüngsten Äußerungen verschiedener Spitzenpolitikerder CDU/CSU gezeigt. Das gibt Anlass, heute darüber zudiskutieren, wie die Gesundheitspolitik aussehen wird,wenn Sie Gelegenheit haben sollten – das werden wir zuverhindern wissen –, Politik zu gestalten.Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merzhat davon gesprochen, dass die Patientinnen und Patien-ten eine Vollkaskomentalität hätten, die es abzuschaffengelte.
Offensichtlich hat Herr Merz nicht verstanden, dass eingroßer Teil der Behandlungskosten in der Krankenversi-cherung bei der Behandlung von chronisch Kranken so-wie älteren Bürgerinnen und Bürgern entsteht. Deswegenmüssen wir fragen: Wo stellen Sie bei diesen Menscheneigentlich eine Vollkaskomentalität fest? Wo wollen Siediesen Kranken,
die in hohem Maße Kosten verursachen, eine Teilkasko-versicherung anbieten? Welche Bereiche der medizinischnotwendigen Versorgung wollen Sie denn diesen Men-schen wegnehmen? Wie sollen chronisch Kranke die inIhrem Teilkaskomodell ausgeschlossene medizinischeVersorgung bezahlen? Oder unterstellen Sie etwa demGroßteil der Kranken, sie gingen ohne Grund zum Arzt,sie nähmen also ohne Not Leistungen in Anspruch, die dieGemeinschaft der Versicherten erbringt?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Hans-Eberhard Urbaniak23087
Wer den Patientinnen und Patienten unterstellt, sie näh-men wegen jedes Zipperleins die Krankenversicherung inAnspruch, ignoriert die Sorgen und Nöte der Menschen.Das muss hier ganz klar herausgestellt werden.
Das hat nichts, aber auch gar nichts mit der von Ihnen vielgepriesenen Mündigkeit der Patientinnen und Patientenzu tun. Ihnen geht es nicht darum, den mühsamen undkonfliktreichen Weg der Verbesserung der Qualität undder medizinischen Behandlungsabläufe zu gehen. IhreReformvorstellungen bezüglich des Gesundheitswesenssind die gleichen wie schon am Ende der letzten Legisla-turperiode, in der Sie die Verantwortung getragen haben.
Es geht Ihnen vor allem darum, Patientinnen und Patien-ten stärker zu belasten, Teile der Gesundheitsversorgungzu privatisieren und Lasten zuungunsten der Kranken zuverschieben.
So sollen Kranke und nicht etwa Gesunde demnächst500 Euro jährlich mehr zahlen,
wohlgemerkt für die gleiche medizinische Versorgung,wie sie sie jetzt haben.All dies geschieht unter dem Deckmantel der Stärkungder Eigenverantwortung der Versicherten. Eigenverant-wortung wollen die Menschen gerne übernehmen. Dashaben wir in den letzten Jahren erfahren. Aber wer Ei-genverantwortung so definiert wie Sie, der wird auchzukünftig weitere Lasten zuungunsten der Kranken ver-schieben, der wird Leistungen aus der Krankenversiche-rung ausgliedern wollen, die medizinisch notwendig sind.
Zusätzlich wollen Sie von der Union die Entgeltfort-zahlung im Krankheitsfall wieder begrenzen.
– Es gab einige entsprechende Stimmen, auch wenn dasHauptzitat zugegebenermaßen von Rexrodt stammt. Aberes gab auch aus Ihren Reihen Stimmen, dass man die Ent-geltfortzahlung überprüfen müsse.
– Es sind keine Spitzenpolitiker. Die Namen kann ich Ihnengleich noch nennen. Sie wissen das genauso gut wie ich.
– Sie kennen bei uns auch nicht jeden Politiker und jedePolitikerin, der bzw. die irgendwann einmal ein Interviewgegeben hat.Deutlich wird damit auf jeden Fall, dass Sie in IhrerKonzeptionslosigkeit sogar zu den Mitteln zurückgreifen,die Ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit – ich will nichtsagen: mit Sicherheit – eingehandelt haben, dass Sie 1998von der Regierung abgewählt worden sind:
die einseitige Abkassiererei bei den Erwerbstätigen undBeitragszahlern.
Wir haben diesen unsozialen Einschnitt der Kürzungder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gleich zu Beginnunserer Regierungsverantwortung zurückgenommen. Wirhaben auch die Zuzahlungen der Patientinnen und Patien-ten zurückgeführt
und Leistungsausgrenzungen wieder rückgängig ge-macht.
Wenn jetzt Ihr Kanzlerkandidat Stoiber eine Absage andie „Jahrzehnte gewachsene Versicherungs- und Versor-gungsmentalität“ fordert, ist dies ein weiteres klares Be-kenntnis dazu, dass er sich aus der Solidarität in der Kran-kenversicherung verabschieden will. Mit der KlageBayerns und anderer unionsregierter Länder gegen denRisikostrukturausgleich hat Stoiber auch deutlich ge-macht,
dass er das Eigeninteresse vor das Gemeininteresse setzt.
Frau Kol-
legin Wester, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme sofort zumSchluss. – Es gäbe zu diesem Punkt noch vieles zu sagen.Gott sei Dank reden noch Rednerinnen und Redner derKoalition nach mir.Eines muss deutlich werden: Wir werden uns nicht aufdiesen Weg begeben.
Wir werden all unsere Kräfte, die wir aufgrund desWählervotums mobilisieren können, nutzen, um zu ver-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Hildegard Wester23088
hindern, dass ein Weg beschritten wird, der aus der Soli-darität und Parität hinausführt.
Wir werden unser Gesundheitssystem stabilisieren.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Annette Widmann-Mauz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine lieben Kolleginnen, liebe Kollegen! FrauWester, was Sie und die SPD heute hier wieder zu insze-nieren versuchen, ist so einfältig und durchsichtig, dass esIhnen die Menschen wirklich nicht mehr abnehmen. Siehaben den Menschen so viel versprochen und dann habenSie alle Versprechen gebrochen.
Jetzt bekommen Sie kalte Füße und meinen, Sie könntenuns ein bisschen Feuer machen. Das passt doch nicht zu-sammen.
Wenn es überhaupt einen Grund gibt, warum wir heuteNachmittag in einer Aktuellen Stunde über die Gesund-heitspolitik diskutieren müssen, dann ist es doch wohl der,dass diese Bundesregierung in der Sozialpolitik auf derganzen Linie versagt hat und nichts tut, dass wir aber ganzdringend Reformen gerade in der Gesundheitspolitikbrauchen. Wie sieht denn Ihre Bilanz nach drei Jahrenaus? – Katastrophal! Die Lage der Krankenversicherungist desolat, die Versorgung der Patienten und Pflegebe-dürftigen verliert immer mehr an Qualität, die Ärzte unddas Pflegepersonal sind vielfach überlastet und die Kran-kenversicherungsbeiträge steigen landauf, landab.
Noch nie mussten die Menschen durch eine verfehlteGesundheitspolitik so viele Hiobsbotschaften gleichzeitigschlucken. Die gesetzliche Krankenversicherung ist ausden Fugen geraten. Wenn Sie es mir nicht glauben, dannglauben Sie es doch einfach einmal dem Vorsitzenden derDeutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten,Herrn Bahlo.
Er hat erklärt, die Versorgungssituation in der gesetzlichenKrankenversicherung werde von Ihnen schöngeredet. Ersagt, Eigenlob habe die notwendige kritische Analyse er-setzt. Recht hat er! Sie würden kein Wort über die schwe-ren Missstände in der Versorgung kranker Menschen, keinWort über die zum Teil verheerenden Zustände in derPflege und kein Wort über die längst praktizierte Zwei-klassenmedizin verlieren. Recht hat Herr Bahlo! Hören Sieendlich auf die Menschen; sie sagen es Ihnen.
Hinzu kommen die Entwicklung der Altersstruktur undall die in der Medizin vorhandenen Fortschritte. Mit dem„Weiter so“, das Sie heute Nachmittag wieder propagierthaben, werden die Beitragssätze mittelfristig auf 20 Pro-zent steigen. Sie tun überhaupt nichts dagegen. Ich frageSie: Wie lange wollen Sie das den Menschen in unseremLand eigentlich noch zumuten?Ich will Ihnen eines sagen: Eine Politik ist dann unso-zial, wenn die Menschen immer mehr bezahlen müssenund immer weniger dafür bekommen.
Angesichts Ihrer Politik ist es kein Wunder, wenn dieMenschen Sie – wie am vergangenen Sonntag in Sachsen-Anhalt – aus der Regierungsverantwortung jagen.
Sie wissen doch überhaupt nicht mehr, was es für dieMenschen bedeutet, Monat für Monat weniger in der Ta-sche zu haben, weil die Krankenversicherungsbeiträgeimmer höher werden.
Wenn Sie schon keinen Kontakt mehr zu den Men-schen in unserem Land haben, vielleicht hören Sie dannnoch auf die Demoskopen. Auch sie sagen Ihnen: Nur4 Prozent der Bevölkerung haben den Eindruck, dass sichdie Gesundheitsversorgung unter Rot-Grün verbesserthat. 37 Prozent sehen für die letzten drei Jahre eine Ver-schlechterung. 70 Prozent sehen Deutschland auf demWeg in die Zweiklassenmedizin.Je mehr persönliche Erfahrungen die Menschen mitdem Gesundheitswesen unter Rot-Grün haben, desto kri-tischer fällt ihre Bilanz aus. Nur noch 37 Prozent derernsthaft kranken Menschen halten das System für gut.Gesunde wie Kranke sind gleichermaßen davon über-zeugt, dass die Versorgung weiter reduziert werden wird.50 Prozent der Bevölkerung machen sich bereits Sorgen,nicht ausreichend versorgt zu werden.
43 Prozent der Patienten haben in den letzten zwei Jahrenaufgrund der von Ihnen veränderten gesetzlichen Vor-schriften auf Leistungen verzichten müssen. Das alleswollen Sie nicht wahrhaben.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sie haben ein gesun-des System mit Überschüssen und mit Rücklagen über-nommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Hildegard Wester23089
– Mit milliardenschweren Rücklagen. Darüber haben wirhier vor Wochen diskutiert. Lesen Sie es nach; in den Pro-tokollen finden Sie es schwarz auf weiß. Davon ist nichtsübrig geblieben.
Das, was wir Ihnen übergeben haben, war das Ergebnis ei-ner erfolgreichen Politik. Sie hat einen Namen, nämlichHorst Seehofer.
Was Andrea Fischer angerichtet hat, ist hinlänglich be-kannt: Rationierung, Budgetierung, Zweiklassenmedizin.Auch das, was Sie abgeliefert haben, Frau Schmidt, istnicht besser. Sie haben es mit Beruhigungspillen versucht.
Ich finde, die „Frankfurter Rundschau“ hat absolut Recht,wenn sie schreibt, dass bei den Beratungen am rundenTisch, mit dem Sie zwei Dutzend Verbände und das halbeGesundheitsministerium über Wochen lahm gelegt haben,ein Papier herausgekommen ist, das „die Grenze zur Sa-tire streift“. Das Ganze sei „eine Beschäftigungstherapiefür die Lobbyisten des Gesundheitswesens“. – Ich zitiereweiter:Der runde Tisch taugt nicht einmal mehr als Placebo.Dem ist nichts hinzuzufügen.Ihre Gesundheitspolitik geht immer mehr in RichtungBürokratie statt menschlicher Zuwendung, immer häufi-ger in Richtung Gängelung der Patienten statt freier Arzt-wahl, in Richtung Staats- und Listenmedizin statt Thera-piefreiheit. Statt den Wettbewerb auszubauen, werden dieWeichen in Richtung Einheitsversicherung gestellt. DasWahlprogramm der SPD verheißt hierzu nichts Gutes.Besserung ist nicht in Sicht.Was wollen denn die Menschen in unserem Land? Siewollen mehr Wahlfreiheit, mehr Transparenz und mehrInformation.
Das werden wir den Menschen anbieten.
Das Worthat jetzt die Kollegin Katrin Göring-Eckardt von Bünd-nis 90/Die Grünen.
gen! Frau Widmann-Mauz, Sie können so viele Statisti-ken vorlesen, wie Sie wollen: Wir werden die Probleme,die das deutsche Gesundheitswesen hat, nicht wegdisku-tieren, auch nicht anhand von Statistiken, sondern wirwerden sie lösen.
– In dieser Hinsicht können Sie ganz beruhigt sein,
weil wir auf einem guten Weg sind, weil wir viele wich-tige und unverzichtbare Dinge angepackt haben. Wirmussten im Sinne der Versicherten und Patienten eineReihe von Regelungen dringend zurücknehmen, die Sie inIhrer Regierungszeit auf den Weg gebracht hatten. Wirmussten sie zurücknehmen, weil das System, das Sie hin-terlassen haben, vor allen Dingen eines war: unsozial.
Sie haben jetzt aber die Katze aus dem Sack gelassen.
Frau Widmann-Mauz, Sie haben gerade gesagt, Sie woll-ten den Patientinnen und Patienten, den VersichertenWahlfreiheit, Transparenz und Information bieten. Ichsage Ihnen: Die Versicherten würden in Ihrem Systemzwischen schlechter und ganz schlechter Versorgungwählen können.
Sie würden in Ihrem System wissen, wie schlecht die Ver-sorgung ist. Die Beiträge würden weiter steigen. Sie wol-len keine wirkliche Reform des Systems.
Ihnen geht es nicht um Gesundheit und auch nicht umeine Reform des Systems, sondern ganz klar um die Ab-schaffung der Gerechtigkeit. Sie haben sich wieder ein-mal von der zentralen Frage der Gerechtigkeit im Gesund-heitssystem verabschiedet.
Ich will Ihnen auch sagen, woran man das erkennt: Daserkennt man unter anderem an der Tonlage, mit der IhrFraktionsvorsitzender die Versicherten und Patienten be-handelt. Wenn man sagt: „Wir wollen keine Vollkas-koversicherung mehr für jedes Zipperlein vorschreiben“,dann ist man nicht in der Realität der Patienten, der Pati-entinnen und der Versicherten in diesem Land; dann istman vielmehr in der Realität von Leuten, denen es gutgeht, die nicht krank sind und die genug Geld haben, fürGesundheit zu bezahlen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Annette Widmann-Mauz23090
Jedes Zipperlein wird in dieser Republik schon langenicht mehr versichert. Wenn man von „jedes Zipperlein“redet, dann weiß man nicht, wovon man redet. Jedenfallsredet man nicht von chronisch Kranken und von Leuten,die dringend eine qualitativ gute Versorgung brauchen.Zurzeit bekommen sie sie tatsächlich. Wir lehnen IhrePläne ab, weil sie ungerecht sind. Ihre Pläne machen sehrdeutlich, wohin Sie eigentlich wollen. Sie wollen dieAbkehr von der sozialen Gerechtigkeit.
Sie wollen eine Kostenerstattung. Dies soll ungefährfolgendermaßen funktionieren: Man geht als AOK-Ver-sicherter, dessen Portemonnaie möglicherweise nicht sovoll wie das des Herrn Merz ist, zum Arzt und an-schließend bekommt man eine Rechnung – man kenntderen Höhe vorher nicht –,
die man bezahlen muss, ohne zu wissen, wie. Geht manangesichts dieser so genannten Wahlfreiheit wirklich zumArzt?Insbesondere die FDP will die Reduzierung auf dasmedizinisch unbedingt Notwendige. Was ist medizinischunbedingt notwendig? Ist es das, wodurch man gesundwird, oder ist es vielleicht das, wodurch man gerade ein-mal überleben kann? Ich befürchte „medizinisch unbe-dingt notwendig“ heißt eher das Letztere.Sie haben die Idee der Selbstbeteiligung aufgenom-men. Die Selbstbeteiligung soll 500 Euro im Jahr betra-gen. Man kann sich dann überlegen, ob man es sich leis-ten kann, krank zu werden oder nicht. Ich sage Ihnen:Menschen sind keine Autos.
Insbesondere kranke Menschen sind keine Autos. Wir leh-nen diese Idee ab, weil sie nichts mit der Realität derKranken, weil sie nichts mit der Realität der Menschen indiesem Land zu tun hat.
Ich komme auf das Thema Lohnfortzahlung zusprechen. Herr Laumann, Sie haben dazu am 22. Aprileine Presseerklärung veröffentlicht, wofür es irgendeinenGrund gegeben haben muss. Sie haben in dieserPresseerklärung festgestellt, dass Sie die Lohnfortzahlungim Krankheitsfall, so wie sie ist, beibehalten wollen. Siehaben gesagt: Forderungen nach Einschränkungenmachen wenig Sinn. Ich kenne weder bei der SPD nochbei den Grünen jemanden, der gefordert hat, die Lohn-fortzahlung im Krankheitsfall einzuschränken. Vielmehrtaten dies die Herren Wadephul und Eckhoff. Beide sindin der Union.
–Wer das ist, müssen Sie besser wissen; denn es sind Mit-glieder Ihrer Partei.
Es sind auch nicht irgendwelche Mitglieder. Der eine istFraktionschef in Bremen und der andere ist ein Kollegeaus Schleswig-Holstein. Ihre Frage: „Wer ist das?“ dürftedamit beantwortet sein, Herr Lohmann. Außerdem sinddie Aussagen dieser Politiker der Grund für Ihre Presse-mitteilung, Herr Laumann.Ich sage Ihnen zum Schluss: Sie stellen dieGerechtigkeitsfrage neu. Sie wollen Gerechtigkeit aufKosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, undzwar dadurch, dass Sie einerseits zwar den Arbeitgeber-anteil festschreiben, andererseits aber den Arbeitnehmer-anteil zur Disposition stellen, dadurch, dass die Arbeits-losen die Familienleistungen bezahlen sollen, dadurch,dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht mehrganz so wichtig sein soll und dadurch, dass – nach demMotto: Patienten sind wie Autos – der Selbstbehalt erhöhtwerden soll.
Ich kann Ihnen sagen: Weder die Menschen in diesemLand noch Rot und Grün in diesem Parlament werden Ih-nen Ihre Behandlung der Gerechtigkeitsfrage so durchge-hen lassen.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wie tief muss der Schreckvon Sachsen-Anhalt in Ihre Glieder gefahren sein, dassSie heute mit einem derart durchsichtigem Manöver, wiedieser Aktuellen Stunde, einen Entlastungsangriff versu-chen!
Der Öffentlichkeit soll vorgegaukelt werden, bei einemRegierungswechsel im September drohe eine arbeitneh-merfeindliche Politik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das verfängt nicht mehr.Sie sollten wirklich zur Kenntnis genommen haben, dassam letzten Wochenende in Sachsen-Anhalt ebenso viele
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Katrin Göring-Eckardt23091
Arbeitnehmer und Arbeitslose FDP wie SPD gewählthaben.
– Da standen Arbeitsplätze zur Debatte, Frau Fuchs. Da-rüber reden wir hier. –
Das heißt: Die Menschen in unserem Lande haben mitt-lerweile sehr klare Vorstellungen davon, welche Konzepteund welcher Politikansatz im Ergebnis zu mehr Arbeits-plätzen führen wird.
Rot-Grün hat in den letzten drei Jahren auch und ge-rade in den Bereichen Arbeitsrechts-, Arbeitsmarkt- undGesundheitspolitik nichts, aber auch absolut nichtsdazugelernt.
Deswegen glauben Sie auch, hier weiter die Schlachtender Vergangenheit führen zu müssen, und diskutieren überLohnfortzahlung im Krankheitsfall und Gängelung vonPatienten. Wir von der FDP hingegen haben die Zeit ge-nutzt und neue Konzepte entwickelt, die für die Menschenin unserem Lande, gerade auch die Arbeitslosen, neueChancen eröffnen.
Die Positionen der FDP zu den vordringlichen Fragender Arbeitsrechts-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitiksind ganz klar.
Wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, in den Entwurfunseres Wahlprogramms zu sehen, bräuchten wir dieseDebatte hier heute eigentlich gar nicht zu führen.Schon am 11. April hat die Generalsekretärin der FDP,meine Kollegin Cornelia Pieper, der deutschen Öf-fentlichkeit das Wahlprogramm der FDP vorgestellt. Wirhaben damit als erste Partei auf Bundesebene klar unddeutlich und detailliert auf 82 Seiten – anders etwa als dasSPD-Programm – gesagt, was wir ab dem 22. Septemberin Deutschland verändern wollen.
Schon ab Seite 4 listen wir unter der Überschrift „Arbeits-plätze schaffen statt Arbeitslosigkeit verwalten“ und aufSeite 9 unter der Überschrift „Für eine Leistungsfähigeund bezahlbare Gesundheitsversorgung“ auf, wie wir denArbeitsmarkt aufbrechen und wieder mehr Menschen inArbeit und Brot bringen wollen. Ich nenne hier nur diewichtigsten Punkte:Wir wollen, dass betriebliche Bündnisse für Arbeitauch ohne Zustimmung der Tarifverbände möglich wer-den, weil die Menschen in den Betrieben – Arbeitnehmerund Arbeitgeber gleichermaßen – am besten wissen, wasnoch geht und wo die Grenze der Leistungsfähigkeit über-schritten wird.
Wir vertrauen hier eher den Menschen im Betrieb undmisstrauen den Funktionären. Deswegen muss das Tarif-vertragsrecht ebenso geändert werden wie das Günstig-keitsprinzip.
Wir wollen eine Beseitigung der Restriktion bei derBefristung von Arbeitsverhältnissen. Das neue Befris-tungsrecht hat beschäftigungshemmende Wirkung. Dassagt auch Ihr Sachverständigenrat.Wir wollen die Erleichterung und Entbürokratisierungvon Zeitarbeit. Lernen wir von unseren Nachbarn undstärken wir diese Brücke in den ersten Arbeitsmarkt.
Wir wollen keinen Rechtsanspruch auf Teilzeit, son-dern stattdessen die Förderung der Teilzeitarbeit auf frei-williger Basis.Wir wollen eine Reform des Kündigungsschutzes, undzwar ein Optionsmodell, welches Arbeitgebern und Ar-beitnehmern erlaubt, auszuhandeln, ob der gesetzlicheKündigungsschutz oder eine Abfindung oder eine Quali-fizierungsverpflichtung des Arbeitgebers gelten soll.Wir wollen eine mittelstandsfreundliche Reform derbetrieblichen Mitbestimmung, die die kleinen Betriebevon Kosten und Bürokratie entlastet, ohne die Arbeit-nehmer in ihren Rechten einzuschränken.
Das sind Eckpunkte unserer modernen, zukunftsfähi-gen Arbeitsmarktpolitik.
Das sind Reformkonzepte für mehr Arbeitsplätze undWachstum in der Bundesrepublik Deutschland.EineKürzung der Lohnfortzahlung nach demVorbild derReform von 1996 findet sich in unserem Programm nicht;das will ich hier sehr deutlich sagen. Ich sage Ihnen auchwarum: Eine Veränderung der Lohnfortzahlung würde ers-tens kurz- und mittelfristig gar keine Entlastung der Un-ternehmen bringen; zweitens würde ein solcher Vorschlageine Win-loose-Situation schaffen. Das heißt, es wird demeinengenommen,umdemanderenzugeben.Das ist aber einKonzept von gestern. Wir wollen mit unserem neuen struk-turellen Reformen am Arbeitsmarkt Win-win-Situationenschaffen. Es sind Veränderungen möglich, von denen alleprofitieren,Arbeitnehmer undArbeitgeber gleichermaßen.
Das zeichnet eine moderne Arbeitsmarktpolitik aus.Wir Liberale haben als einzige politische Kraft inDeutschland bisher wirkliche Reformkonzepte auf denTisch gelegt,
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Dr. Heinrich L. Kolb23092
die nicht auf Einschränkung von Leistungen setzen, son-dern auf neue, innovative und standortstärkende Elementezum Wohle der Unternehmen und Betriebe und auch derArbeitnehmer. Die Menschen beginnen, das zu honorie-ren, siehe Sachsen-Anhalt. Das war, glaube ich, deutlich.
Immer mehr Menschen verstehen: Ein Arbeitsplatz imRahmen eines Zeitarbeitsvertrages oder ein befristeter Ar-beitsvertrag ist eben besser als kein Arbeitsplatz. Immermehr in Arbeit stehende Menschen verstehen, dass es bes-ser ist, im Rahmen eines betrieblichen Bündnisses für Ar-beit einen sicheren Arbeitsplatz zu behalten, als die Pleitedes Arbeitgebers sehendes Auges herbeizuführen.
Immer mehr Menschen verstehen, dass nur die FDP füreine Politik eintritt, die hierfür die Rahmenbedingungenschafft.
Deswegen sehen wir mit Interesse den nächsten Monatenund auch dem September dieses Jahres entgegen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dr. Ruth Fuchs von der PDS-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Wie Kollegin Wester ausgeführt hat, sind An-lass der Aktuellen Stunde ein Interview von Herrn Merzin der „Bild am Sonntag“ sowie ein Vorschlag von CDU-und FDP-Politikern – Herr Rexrodt müsste Ihnen bekanntsein –, die die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wiederabschaffen wollen, falls Sie nach dem 22. September andie Regierung kommen.
Liebe Kollegin Widmann-Mauz, Herr Merz ist kein No-body.
Er ist Ihr Fraktionsvorsitzender. Herr Merz und Sie müs-sen wissen: Wenn er etwas sagt, wird das gleichgesetztmit den Zukunftsvorstellungen der CDU/CSU in der Ge-sundheitspolitik,
ob das nun in einem Konzept aufgeschrieben ist odernicht. Das ist einfach so.
Trotzdem oder gerade deshalb, meine Damen und Her-ren von der CDU/CSU, frage ich mich nach den Ankün-digungen Ihres Fraktionsvorsitzenden wirklich: Wo lebenSie? Und vor allem: Wo sind Sie und Ihr Herr Fraktions-vorsitzender eigentlich krankenversichert? Ganz sichernicht in der gesetzlichen Krankenversicherung; denn nachmeinen Erfahrungen – ich bin nämlich noch gesetzlichkrankenversichert – gibt es schon seit langer Zeit in dergesetzlichen Krankenversicherung keine Vollkaskoversi-cherung mehr. Eigenbeteiligung und Zuzahlung, vor al-lem durch Ihre Politik in die gesetzliche Krankenversi-cherung hereingebracht, sind doch schon lange gang undgäbe.
Abgesehen davon, lieber Kollege Lohmann, dass IhrFraktionsvorsitzender und auch Sie den Menschen wirk-lich erst einmal erklären müssen, welche Krankheit Siedem Begriff Zipperlein zuordnen, sage ich Ihnen: Sie wol-len ganz etwas anderes:
Es geht Ihnen um die Wiedereinführung von Elementender privaten Krankenversicherung in die gesetzliche Kran-kenversicherung, so wie es Herr Seehofer schon einmalversucht hat. Sie wollen die Probleme im Gesundheitswe-sen, die niemand leugnet, auf Kosten der Versicherten lö-sen, weil Sie zu feige sind, Reformen durchzuführen, umdie tatsächlichen Ursachen anzugehen.
– Ja, wie wir. –
Sie wollen durch Abwahl bzw. Zuwahl von Leistungen,durch Selbstbehalte und Kostenerstattungen in der gesetz-lichen Krankenversicherung diese Probleme lösen, undzwar nach dem Motto: Der Versicherte ist das schwächsteGlied in der Kette; er ist am besten zu verführen.Durch Kostenerstattung sollen den Versicherten Regel-und Wahlleistungen schmackhaft gemacht werden. Genaudas ist Ihr Ziel. Das Ganze verkaufen Sie den Versicher-ten unter dem verführerischen Deckmantel der höchstper-sönlichen freien Entscheidung,
das heißt, ohne Druck des Gesetzgebers allein über dieHöhe ihres Beitrages zu entscheiden. Aber vorher bitteschön erst einmal ein Obulus von 500 Euro auf den Tisch,damit bis zu dem Betrag die Beteiligung an den eigenenKrankheitskosten selbst getragen wird. Das ist natürlichein verführerisches Angebot. Aber für wen denn? Dochnur für junge und gesunde Versicherte. Die sparen Geld,das ist wahr. Aber verheerend ist es für Kranke und
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Dr. Heinrich L. Kolb23093
chronisch Kranke, die ständig auf medizinische Versor-gung angewiesen sind.Verheerend ist es vor allem für eine solidarische Kran-kenversicherung, deren Sinn damit völlig auf den Kopfgestellt wird. Wenn das Ihre Absicht ist – es hat ja keineretwas dagegen –, dann sagen Sie das den Menschen auch.
Haben Sie den Mut zu sagen, dass der Wert Solidarität fürSie out ist, dass Entsolidarisierung, weiterer Verlust anMenschlichkeit in der Medizin und zunehmende Diskri-minierung sozial schwacher, älterer und behinderter Men-schen Ihr Gesundheitskonzept für die Zukunft sind.Es gibt ein fantastisches Buch mit dem Titel „Zeit, dasVisier zu öffnen“. Es wurde 1998 nach Ihrer Wahlnieder-lage geschrieben. Der Autor heißt Heiner Geißler; den ken-nen Sie alle sehr gut. Was ist in dem Buch unter anderemzu lesen? Den folgenden Satz sollten Sie sich wirklich hin-ter die Ohren schreiben: „Mit einer Gesundheitsreformkann man zwar keine Wahl gewinnen, aber verlieren.“Bitte denken Sie darüber noch einmal intensiv nach.
Die Menschen in der ganzen Bundesrepublik sind nicht sodumm, dass sie nicht begreifen, dass Solidarität ein ganzwichtiger Wert ist. Sie wollen diese Solidarität nicht auf-geben.
Lieber Kollege Kolb, der Vorschlag von CDU/CSUund FDP, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wiederaufzuheben, ist doch nur ein weiteres Beispiel dafür, dassSolidarität für Sie out ist.
Er ist zudem realitätsfern. Der Krankenstand in Deutsch-land ist – das konnten wir erst vor wenigen Wochen lesen –noch nie so niedrig gewesen wie jetzt: bei den Betriebs-krankenkassen gut 3 Prozent. Anfang der 90er-Jahre warer doppelt so hoch.Was ich Ihnen jetzt sage, sind keine Erkenntnisse ausstaatlicher Gesundheitsvorsorge: Sozialpolitiker und Ar-beitsmarktpolitiker sagen, dass nach arbeitsmedizini-schen Erfahrungswerten ein Krankenstand von unter4 Prozent aus gesundheitlicher Sicht eher Anlass zurSorge bietet. Das bedeutet nämlich, dass eine zuneh-mende Anzahl von Beschäftigten am Arbeitsplatz ist, dieeigentlich – –
– Gehen Sie doch einmal in die Betriebe! Gehen Sie docheinmal in die Praxen in den neuen Bundesländern! Unter-halten Sie sich doch einmal mit den Patienten!
– Hören Sie auf, Mensch! Sie sind jetzt schon zwölf Jahrean der Regierung.
Frau Kol-
legin Fuchs, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mit einer so primitiven Argu-
mentation gewinnen Sie keine Wahl. Hören Sie doch auf!
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident: Wenn Sie
glauben, dass Sie mit solchen Methoden die Leute hinters
Licht führen können, dann irren Sie sich. So dumm sind
sie nicht – trotz PISA-Studie.
Für die
Bundesregierung spricht jetzt die Bundesministerin Ulla
Schmidt.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, ich glaubeschon, dass das, was am Wochenende erneut von führen-den Vertretern der CDU, der CSU und auch der FDP in In-terviews im Hinblick auf die Reformen in der gesetzli-chen Krankenversicherung geäußert wurde, dieseAktuelle Stunde rechtfertigt.
Denn wir müssen uns darüber unterhalten, ob auch in Zu-kunft das gilt, was in Deutschland in der Sozialversiche-rung gewachsen ist: dass jeder und jede ohne Ansehen derPerson und des Einkommens die medizinische Leistungerhält, die er oder sie braucht, um gesund zu werden,
um die Schmerzen zu lindern oder um – manchmal, amEnde des Lebens – noch ein Stück Lebensqualität zu er-halten.
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Dr. Ruth Fuchs23094
Ich gehöre nicht zu denen, denen man unterstellenkönnte, dass sie in all den Jahren im Bundestag reform-unfreudig gewesen seien. Ich weiß aber den Wert diesergesetzlichen Krankenversicherung zu schätzen.
Die gesetzliche Krankenversicherung ist in meinen Au-gen das Herzstück des Sozialstaates.
Denn inwieweit der einzelne Mensch in der Lage ist, amgesellschaftlichen Leben teilzunehmen, eine Familie zugründen, Kinder aufzuziehen, ältere Menschen zu pflegenoder auch durch eigene Erwerbsarbeit seinen Lebensun-terhalt zu verdienen, ist davon abhängig, inwieweit er ge-sundheitlich dazu in der Lage ist.
– Ich werde noch auf einzelne Dinge eingehen.Das Sozialgesetzbuch V ist eindeutig: Jeder Versi-cherte hat Anspruch auf eine angemessene und notwen-dige Leistung, die wirtschaftlich zu erbringen ist.
Die Kunst der Reform besteht darin, dafür zu sorgen, dassjeder einzelne Euro, der von Versicherten in die gesetzli-che Krankenversicherung eingezahlt wird, optimal einge-setzt wird,
und Über-, Unter- und Fehlversorgungen zu beseitigen.Wir müssen dafür sorgen, dass aufhört, was heute imGesundheitswesen passiert: dass der eine Arzt oft garnicht weiß, was die andere Ärztin macht, und dass das zu-lasten der Patientinnen und Patienten und deren Gesund-heit geht.
Wir müssen die integrierte Versorgung weiter auf den Wegbringen. Wir tun dies, Herr Kollege. Wir sind derzeit da-bei, die Programme für eine bessere Versorgung chronischkranker Menschen auf den Weg zu bringen; denn die chro-nisch kranken Menschen werden in diesem Lande nichtoptimal behandelt. Das liegt aber nicht, Kollegin Mauz,
an der Politik, sondern daran, dass zu wenig zusammen-gearbeitet wird, weil es zu wenig Abstimmung gibt. Dashat etwas mit den Strukturen in unserer Selbstverwaltungzu tun.Deshalb folgende Frage. Wenn Sie sagen, KolleginMauz, dass Leistungen nicht erbracht werden, dann passtdas doch nicht mit der Aussage vom Kollegen Merz zu-sammen, dass jedes Zimperlein bezahlt wird. Wenn Siebehaupten, die Menschen bekommen ihre Medikamentenicht mehr, dann erklären Sie mir doch einmal den hohenAnstieg der Kosten für Medikamente. Das passt doch al-les nicht zusammen.Im Gesundheitswesen fehlt es häufig an Abstimmung;das beeinträchtigt die Qualität. Dadurch werden die hohenKosten verursacht. Deshalb müssen wir da ansetzen: dieQualität der Versorgung verbessern
und Wirtschaftlichkeitsreserven erschließen. Aber wirmüssen auch dafür sorgen, dass dies nicht zulasten vonkranken Menschen geschieht.
Jetzt komme ich zu Ihren Vorschlägen. Zu den Grund-und Wahlleistungen sagen Sie gar nichts mehr,
weil niemand von Ihnen, weder von der FDPnoch von derCDU/CSU, mir sagen kann, welche Leistung er nicht er-halten möchte, wenn er krank ist.
– Welche Leistung? Sagen Sie es,
schriftlich! Aber die CDU/CSU ist da schon vorsichtiger.Deshalb sage ich: Wer anfängt, Leistungen auszu-grenzen,
der macht Schluss damit, dass, wie es heute der Fall ist,die Erbringung von Leistungen allein vom medizinischNotwendigen her definiert wird. Das ist der Unterschied.
Grund- und Wahlleistungen oder die Schaffung von,wie es jetzt so schön heißt, kleinen Paketchen,
bei denen jeder etwas abwählen kann, wodurch er Beiträgesparen kann, funktionieren vielleicht in der privaten
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Bundesministerin Ulla Schmidt23095
Versicherung; da hat jeder eine individuelle Versicherung.Aber was passiert mit Ihren Paketen, wenn der Ernährerder Familie – seltener ist es die Ernährerin – sagt: Ich binjung, brauche keine Rehabilitation, keine Hospize undauch für bestimmte andere Dinge keine Versicherung. Eroder sie weiß ja nicht, was vielleicht in der nächsten Mi-nute passiert. Aber was ist mit den Kindern? Ein Kind kannschon krank sein, ehe es das Licht der Welt erblickt hat.Die gesetzliche Krankenkasse, wie sie heute ist, mit ihremumfassenden Anspruch auf das medizinisch Notwendigefür alle, hat auch dafür gesorgt, dass jedes Kind in diesemLande eine Versorgung erhält. Andere Länder wären froh,wenn sie eine solche Versorgung hätten.
Ich kann nicht zulassen, dass jemand aus dieser Soli-dargemeinschaft, bei der das Familieneinkommen dieGrundlage für die Krankenversorgung der gesamten Fa-milie ist, etwas abwählt, wodurch auch die Versorgung fürdie Kinder eingeschränkt wird.
Sie können doch nicht ernsthaft vorschlagen, dass dieKinder davon ausgenommen werden. Das kann nicht sein.
– Sie haben vorgeschlagen, dass man Leistungen ab-wählen kann. Gilt das nur für den, der bezahlt? Gilt dasnicht für alle, die versichert sind? Wie funktioniert dennunser System?Zweitens. Wer wählt denn zum Beispiel die 500 EuroEigenbeteiligung?
Wählen das die älteren Menschen? – Nein. Wählen dasdie kranken Menschen? – Nein. Wählen das Menschenmit Behinderungen? – Nein. Wer wählt sie denn? Das sinddie jungen, gut verdienenden Männer! Den Kranken indiesem Versicherungssystem fehlt hierdurch das Geld fürdie Versorgung, die sie brauchen.
Das ist unsolidarisch. So funktioniert die Versicherungnicht.
Unter Ihrer Ägide sind die Krankenkassenbeiträge insechs Jahren um 1,2 Prozent gestiegen.
– Doch, ich kann es Ihnen nachweisen; ich kenne die maß-geblichen Statistiken. – Unter Rot-Grün sind sie in vierJahren im Schnitt nur um 0,35 Prozent gestiegen.Dritter Punkt. Wenn Sie den Weg der Kostenerstattung,wie sie in der privaten Krankenversicherung zu finden ist,einschlagen, dann nehmen Sie der gesetzlichen Kranken-kasse das Instrument, das sie braucht, um eine Qualitäts-kontrolle und eine Ausgabensteuerung durchführen zukönnen.
So kann man nicht vorgehen.Wir werden an diesem solidarischen, paritätisch finan-zierten System festhalten, weil es das einzige System ist,das den Menschen von der Geburt bis zu seinem Todedavor schützt, im Krankheitsfalle alleine gelassen zuwerden.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ulf Fink von der CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Es waren die Christlich De-mokratische und die Christlich-Soziale Union, die dasSystem der Gesundheitsversorgung in der Bundesrepu-blik Deutschland geschaffen haben.
Sie haben dafür gesorgt – das sagen alle internationalenStudien –, dass in unserem Land die Menschen, unabhän-gig von ihrem Einkommen, ihrem Alter und ihrer Stel-lung, in den Genuss der notwendigen medizinischen Leis-tungen kommen. Wir waren es, die dieses Systemgeschaffen haben, und zwar gegen zum Teil erheblicheWiderstände der Sozialdemokraten.
Deshalb ist für uns die Tatsache von allergrößter Be-deutung – sie erschreckt uns sehr –, dass in der Bundes-republik Deutschland die Versicherten in der gesetzlichenKrankenversicherung nach über drei Jahren rot-grünerRegierungskoalition zu über 50 Prozent befürchten, nichtmehr in den Genuss der notwendigen Leistungen zu kom-men.
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Bundesministerin Ulla Schmidt23096
Nach Untersuchungen von Allensbach sagen 24 Prozentder Bevölkerung, dass sie bereits die Folgen der Budgetie-rung dadurch zu spüren bekommen haben, dass ein Arzt einbestimmtes Medikament oder eine Behandlung verweigernmusste, da das ihm zugebilligte Budget ausgeschöpft war.Über dieses Thema müssen wir uns unterhalten.Angesichts der Tatsache, dass Zuckerkranke nichtmehr die zur Blutzuckerkontrolle notwendigen Teststrei-fen, dass Krebskranke nicht mehr die notwendige Lymph-drainage und dass Menschen, die an Schizophrenie er-krankt sind, von der gesetzlichen Krankenversicherungnicht mehr die modernen Neuroleptika bekommen, mussich sagen: Das ist für jeden vernünftig Denkenden ein Me-netekel in der Gesundheitspolitik.
Deshalb sage ich Ihnen, Frau Ministerin Schmidt:
Sie haben für meine Begriffe richtig gehandelt – damitstehen Sie im Gegensatz zu Ihrer Vorgängerin –, als Siedafür gesorgt haben, das Arzneimittelbudget abzuschaf-fen. Sie haben erkannt, dass das von der rot-grünen Koa-lition beschlossene Arzeimittelbudget falsch war.Es gibt aber noch weitere Budgets. Beispielsweise gibtes das Budget für die Ärzte. Die Konsequenz ist, dass esin Ostdeutschland mittlerweile eine Situation gibt, in derdie ambulante ärztliche Versorgung mit Hausärzten nichtmehr sichergestellt ist.
Über 500 Hausarztstellen in Ostdeutschland können näm-lich nicht mehr besetzt werden: 150 Stellen in Branden-burg, 120 Stellen in Sachsen-Anhalt, 107 Stellen in Meck-lenburg-Vorpommern, 80 Stellen in Sachsen und über100 Stellen in Thüringen. Das liegt doch nicht zuletzt da-ran, dass es ein Budget gibt.
Die Ärzte in Ostdeutschland haben nicht einmal75 Prozent des Verdienstes ihrer westdeutschen Kollegen.Auf der anderen Seite müssen sie aber mehr tun, weil dieMenschen in Ostdeutschland kränker als die Menschen inWestdeutschland sind. Das ist die Wahrheit.
Ich sage Ihnen zur Budgetierung in aller Klarheit:
Sie sagen – ich habe allerdings in Ihrem Regierungspro-gramm vergeblich ein Wort zur Budgetierung gesucht –,dass Sie die Budgetierung nicht abschaffen wollen. Darauskann ich nur entnehmen, dass Sie mit der Budgetierungerst einmal fortfahren wollen. Dann muss ich Ihnen abersagen: Budgetierung ist die brutalste Form der Selbstbe-teiligung, die man sich überhaupt vorstellen kann.
Leistungen werden den Menschen vorenthalten und esgibt keine Härtefall- und Überforderungsklauseln. Das isteine wahre soziale Ungerechtigkeit.
Deshalb sage ich Ihnen: Ich bin der Auffassung, dassman den Menschen auch im System der gesetzlichenKrankenversicherung mehr Entscheidungsfreiheit undSelbstbestimmung geben muss. Die Transparenz muss er-höht werden.
Es ist doch vernünftig, dass der FraktionsvorsitzendeFriedrich Merz gesagt hat, dass jemandem, der nicht dasvolle Leistungspaket, sondern beispielsweise etwas weni-ger erhalten will,
die Ersparnis daraus – es geht nicht nur um den Arbeit-nehmeranteil, sondern auch um den Anteil des Arbeitge-bers – ausgezahlt werden soll.
Es wäre doch gut, wenn die volle Ersparnis einer gemin-derten und sparsameren Inanspruchnahme des Leistungs-katalogs nicht dem Arbeitgeber, sondern dem Versicher-ten zugute kommen würde.
Das eine sage ich Ihnen zum Schluss: Die notwendigeSolidarität muss künftig mehr und mehr mit einer größe-ren Wahlfreiheit verbunden werden. Sie werden am22. September Ihr Desaster erleben, weil Sie den Bürgerbevormunden; Sie bürokratisieren. Das wollen die Men-schen nicht.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Knoche vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Fink, ich habe oftmalsdas Vergnügen, nach Ihnen zu sprechen. Sind Sie ernsthaftder Auffassung, dass Sie die Probleme, die Sie geschilderthaben, damit lösen können, dass Sie eine historische Zä-sur machen und aus der paritätischen Finanzierung aus-steigen?
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Ulf Fink23097
Nichts würde die Finanzierungsprobleme der Kranken-kasse tiefer treffen als ein Ausstieg aus der paritätischenFinanzierung und die Festschreibung des Arbeitgeber-anteils.
Kommen wir zum Kern der Sache. Was hat Herrn Merzeigentlich veranlasst, diese Bemerkungen zu machen?
Wollte er damit signalisieren, dass er sich mit den vorkurzem von der Arbeitgeberseite wieder vorgebrachtenForderungen konform fühlt, oder wollte er das, was dieFachdebatten im Gesundheitsbereich im Parlament prägt,nämlich die Finanzierungsprobleme der gesetzlichenKrankenkassen, unterstreichen? Wenn er einen konstruk-tiven Beitrag zur Stärkung der Finanzkraft der gesetzli-chen Krankenkassen leisten will, muss er allerdings dieFinger davon lassen, bei der Lohnfortzahlung im Krank-heitsfall Kürzungen vorzunehmen.
Ich weiß, es ist nicht die ganz feine Art, aber ich habees mir trotzdem nicht verkneifen können: Ich habe mireine Rede, die ich am 10. Oktober 1996 gehalten habe,herausgesucht. Herr Seehofer hatte damals dargelegt, ge-nau dieses in Gesetzesform gießen zu wollen.
Eine meiner Bemerkungen war damals, dass es eine Per-vertierung des Spargedankens ist, durch die Kürzung derLohnfortzahlung im Krankheitsfall eine Beitragssatz-stabilität erreichen zu wollen. Im Gegenteil: Nach demheutigen Stand würde die Umsetzung bei den gesetzlichenKrankenkassen zu Mindereinnahmen in Höhe von500 Millionen Euro führen.
Erzählen Sie mir bitte, wie Sie die angesprochenen Pro-bleme in den neuen Bundesländern gerechter lösen wol-len. Wie wollen Sie das finanzieren?
Abgesehen davon sage ich ohne jede Polemik, dass ichin dem System, das Herr Merz proklamiert hat, nicht altwerden möchte. Das würde ich auch meinen Kindern undder gesamten Bevölkerung nicht wünschen.
Warum nicht? – Sie haben Forderungen aufgestellt, dieden Sockel der Finanzierung und die Parität auflösen.
Das heißt, wenn Sie den Arbeitgeberanteil festschreiben,haben Sie eine frei floatende Zuzahlung aufseiten derer,die nicht ausreichend versichert sind, aber Patientinnenund Patient werden.
Woher sollen sie das Geld nehmen? – Das ist die ersteSache.Die zweite Sache ist: Sie sagen, Personen, die sichjung und gesund fühlen – sie können natürlich nichts vonihrer Zukunft wissen –, können sich in geringerem Um-fang versichern und werden dafür durch geringere Bei-tragssätze belohnt. Was heißt denn das? Auch das ent-zieht den gesetzlichen Krankenkassen Beiträge inMilliardenhöhe,
die sie brauchen, um eine qualitätsgesicherte Versorgungsicherstellen zu können.
Wenn Sie dann darüber hinaus auch noch auf die Ideekommen, eine Kostenerstattung einzuführen – die Patien-tinnen und Patienten sollen die entsprechenden Belege inder Arztpraxis abholen –, dann machen Sie die Kranken-kassen zu nichts anderem als zu einer Zahlstelle, abernicht zu einem Player im System, der die Interessen derVersicherten vertritt und in der Vertragsausgestaltung füreine auf Evidenz basierende Medizin sorgt. Das sindgrundlegende Dinge.Ich rate Ihnen in Ihrem Interesse – eigentlich möchteich ja keine Wahlkampfhelferin der CDU/CSU sein –,
dass Herr Merz einige basale und grundlegende Informa-tionen über die gesetzliche Krankenversicherung zurKenntnis nimmt, bevor er eine öffentliche Auseinander-setzung beginnt.
Da er nicht weiß, dass es schon lange eine weit verbreiteteMär ist, dass in der gesetzlichen KrankenversicherungZipperlein bezahlt werden, muss ich sagen: Er ist nicht upto date.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Monika Knoche23098
Er kennt sich nicht aus und weiß nicht, was Sache ist,und auch nicht, dass es schon immer im eigenen Beneh-men der Krankenversicherungen und der niederge-lassenen Ärzteschaft lag, das in den Leistungskatalogaufzunehmen, was für eine qualitätsgesicherte Gesund-heitsversorgung notwendig ist. Zipperlein hatten darinnoch nie einen Platz.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Horst Schmidbauer von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Wahlleistungen sindZahlleistungen. Wer für das CDU/CSU-Wahlsystem op-tiert, dem muss klar sein, dass auf der anderen Seite einZahlsystem für Patienten entsteht. Die Abwahlfreiheit istdie Doppelzahlkarte für chronisch Kranke in unseremLande.
Wir müssen sehen, dass derjenige, der für ein Wahlsystemist, zur Spaltung unserer Gesellschaft im Gesundheitswe-sen beiträgt.
Für den Fall, dass der Appell an die ethische Verant-wortung nicht ausreicht, darf ich an Adam Riese erinnern.Die Leistungen, die die Gesunden abwählen, müssen dieKranken bei gleichen Kostenbelastungen für die Gesund-heit in unserer Gesellschaft mit mehr Leistungen be-zahlen.
Es ist also völlig klar: Wenn abgewählt wird und gleicheAusgabenblöcke bestehen bleiben, muss der Kreis derKranken und vor allem jener der chronisch Kranken mehrzahlen.
Wenn die Gesunden, rein mathematisch betrachtet,ihren Gesamtbeitrag zur Krankenkasse um 4 Prozent re-duzieren würden, hätte das zur Folge, dass der GKV-Bei-trag der Kranken, in Euro betrachtet, um 20 Prozent er-höht werden müsste.
Das hängt damit zusammen – das haben die Kolleginnenund Kollegen von der CDU/CSU noch nicht begriffen –,
dass 20 Prozent der Versicherten 80 Prozent der Kostenbewirken. Wer das nicht nachvollziehen kann, der solltenoch einmal die Schulbank drücken.
Aber ich möchte hier nicht für Wahlsysteme eintreten, diein unserem Land letztendlich den Einstieg in eine Zwei-klassenmedizin bedeuten.Wir werden dafür sorgen, dass der Bevölkerung klarwird, was Sie vorhaben: Dies ist eine neue Form der Ab-zockerei. Die alte Form der Abzockerei, bei der Sie ganzplump den Versicherten – besser gesagt: den Kranken – indie Tasche gelangt haben, hat dazu geführt, dass die Ihnen1998 ganz kräftig auf die Finger geklopft haben.
Wenn Sie nicht davon ablassen, den Versicherten in dieBrieftasche zu langen, werden Ihnen die Versicherten am22. September genauso kräftig auf die Finger klopfen.
Wir müssen es ganz klar sehen: Hier wird eine ver-steckte Form der Abkassiererei kreiert. Sie wollten ge-wissermaßen die Dunkelkammer nutzen, um den Patien-ten in die Tasche zu greifen. Aber wir werden dafürsorgen, dass Ihre Vorstellungen durchschaubar, transpa-rent werden, damit die Menschen nachvollziehen können,was Sie mit ihnen vorhaben.
Wir haben in unserer Regierungszeit dafür gesorgt,dass fast 1 Milliarde Euro, also fast 2 Milliarden DM, andie Versicherten zurückgegeben worden sind, die Sie vor-her durch Zuzahlungen abgezockt haben.
Sie werden doch nicht glauben, dass wir zuschauen, wieSie das Geld, das wir den Versicherten zurückgegeben ha-ben, wieder abkassieren. Da machen wir nicht mit!
Viel schlimmer ist, glaube ich, dass in dieser Situation– ich habe gedacht, ich bin auf der falschen Veranstaltung –das, was Generationen von Menschen in diesem Landeaufgebaut haben, nämlich Solidarität und ein solidarischesSystem, von Ihnen derart madig gemacht und untergrabenwird. Ich habe den Eindruck, dass man selbst einem Kol-legen wie Herrn Fink, den ich als Sozialpolitiker sehr ge-schätzt habe, allmählich beibringen muss, wie Solidaritätbuchstabiert wird, damit wir wenigstens sagen können:Solidarität wird in unserem Lande groß geschrieben.
Schauen Sie sich in der nächsten Zeit einmal an, waswir Sozialdemokraten zum Thema Solidarität in unserWahlprogramm geschrieben haben. Wir werden es zum22. September auf den Punkt bringen und Sie werdendann große Augen machen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 232. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. April 2002
Monika Knoche23099
Das Wort
hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident,meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mirgut vorstellen, wie am Montag oder am Dienstagmorgenin den Fraktionsgremien der SPD die Idee geboren wor-den ist, diese Aktuelle Stunde zu beantragen:
Man steht nach dem Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt vordem Abgrund.
Man wertet alle Presseberichterstattungen des Wochenen-des aus und sucht irgendetwas, mit dem man dieCDU/CSU und die FDP vorführen kann. Am Sonntag-abend habe ich Ihren Generalsekretär gehört, der davonsprach, dass Sie den Stahlhelm jetzt etwas strammer auf-setzen wollten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn diese Aktuelle Stunde derneue Stahlhelm sein soll, haben Sie zurzeit noch einenStrohhut auf.
Viel mehr hat diese Aktuelle Stunde nicht an Bedeutung.Bei dem, was heute von Lafontaine in der Zeitung zulesen ist, fasst man sich an den Kopf. Lafontaine sagt,50 Prozent des Wahlergebnisses in Sachsen-Anhalt gin-gen auf das Konto der Bundes-SPD, die einen Kurswech-sel zu verantworten habe, bei dem Milliardengeschenkean die Unternehmen gemacht und Renten gekürzt würden.Lafontaine sagt, Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe undMilliardengeschenke an die Unternehmen seien unmög-lich; sogar Stoiber wolle die Erlöse aus Verkäufen von Be-teiligungen an Banken, Versicherungen und Großbetrie-ben wieder besteuern. Angesichts dessen müssen Sie hierim Bundestag nicht einen solchen Popanz aufbauen,
wenn sich Mitglieder der CDU/CSU, die nicht dem Bun-destag angehören, sondern nur eine regionale Bedeutungin der Partei haben, zur Frage der Lohnfortzahlung imKrankheitsfall äußern. Ich kann Ihnen sagen, dass dieCDU/CSU-Fraktion – Sie werden es am Montag in denZeitungen nachlesen können, wenn unser Regierungs-bzw. Wahlprogramm veröffentlicht wird –
nicht vorhat, hinsichtlich der Lohnfortzahlung etwas zuverändern.
Sehen wir uns einmal die tatsächliche Lage an: Wennman die Krankheitstage von einem bis drei Tagen zusam-menzählt, so kommt man zu dem Ergebnis, dass der da-durch bedingte Arbeitsausfall, verglichen mit den mehrals 2 Milliarden Arbeitsstunden, die in Deutschland ins-gesamt wegen Krankheit ausfallen, lediglich 0,1 Milliar-den Arbeitsstunden ausmacht.
Dagegen beträgt der Anteil derer, die länger als sechs Wo-chen krank sind, alleine 0,8 Milliarden Arbeitsstunden.Das ist im Übrigens auch das Ergebnis einer IAB-Studieund das IAB ist ja, zumindest unter Sozialpolitikern,durchaus als objektiv anerkannt.
Das macht deutlich, dass es in diesem Bereich überhauptkeinen Missbrauch gibt. Zudem ist – sicherlich auch auf-grund der schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt psycho-logisch bedingt – in den letzten Jahren ein Rückgang bei derZahl der Krankheitstage zu verzeichnen gewesen. Nach denStatistiken aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-land war es immer so: Ist die Arbeitsmarktlage schwierig,sinkt die Zahl der Krankheitstage. Ist die Arbeitsmarktlagenicht so schwierig, steigt die Zahl ein wenig.Ich kann für die CDU/CSU-Fraktion eindeutig sagen– Sie werden es am Montag auch in dem gemeinsamenRegierungsprogramm lesen –, dass solche Überlegungenvon uns nicht verfolgt werden
und wir dies auch nicht machen.
Ich sage Ihnen noch etwas: Die Veränderung bei derLohnfortzahlung 1996 war im Nachhinein aus mehrerenGründen ein Fehler. Dass es mir sehr schwer gefallen ist,zuzustimmen, wissen alle, die mich kennen. Wenn aberdie Arbeitgeber anschließend bei den ersten Tarifver-handlungen all diese Fragen wieder aufnehmen, dannsollte mir zumindest aus der Wirtschaft niemand mehr mitsolchen Vorschlägen kommen. Ich sage ganz klar: DieseFrage haben die Unternehmer und die Unternehmenslei-tungen selber verbraucht.
Wir sind in den letzen drei bis vier Jahren in der Sozi-alpolitik weitergegangen. Ich glaube, wir brauchen ein-fach intelligentere Modelle, die auf der einen Seite einebestimmte Flexibilität, eine bestimmte Zukunftsorientie-rung der sozialen Sicherungssysteme möglich machenund auf der anderen Seite für die Menschen Sicherheit be-deuten. Wie wir uns das vorstellen, werden Sie am Mon-tag im Regierungsprogramm von CDU und CSU im Ein-zelnen nachlesen können.Schönen Dank.
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Das Wort
hat die Kollegin Dr. Margrit Spielmann von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Laumann, so ge-
stalten sich die Sonntagabende ganz anders: Als ich am
Sonntag die „Bild“-Zeitung las, habe ich gedacht: Gut,
dass von den angekündigten Plänen zu lesen war. Ich bin
auch für diese Diskussion dankbar; denn es wird wieder
einmal offensichtlich: Sie wollen die Kranken bestrafen.
Sie kündigen in meinen Augen und in den Augen vieler
Menschen die Solidarität mit den Schwachen und mit den
Kranken in unserer Gesellschaft. Anders sind Ihre an-
gekündigten Pläne zur Kürzung der Fortzahlung im
Krankheitsfall – Rexrodt, Wadephul, Eckhoff und andere
haben sie benannt – nicht zu interpretieren. Sie haben of-
fenbar nicht verstanden, dass gerade die Kranken und
Schwachen in unserer Gesellschaft unsere Unterstützung
und unseren Rückhalt benötigen.
Wer sich so etwas ausdenkt, Herr Fink, der kennt die
Situation in den ostdeutschen Ländern nicht und scheint
sich auch nicht besonders dafür zu interessieren. Ich lebe
dort und weiß, wovon ich rede. Sie wissen alle: Wenn
diese Regelung käme, wären die ostdeutschen Länder be-
sonders hart betroffen. Bei der angespannten wirtschaftli-
chen Situation der Haushalte wäre es eine Katastrophe,
würde der Hauptverdiener krank oder ausfallen. Ich
denke, Sie haben schon des Öfteren zur Kenntnis nehmen
müssen, dass die Löhne und Gehälter im Osten in vielen
Bereichen eben noch nicht auf das Westniveau gestiegen
sind.
Sie stellen damit noch einmal die Solidarität mit den
ostdeutschen Ländern infrage. Wer Kranken die Entgelt-
fortzahlung um 20 Prozent kürzen will, setzt einseitig auf
die Belastung der Menschen.
Übrigens passt auch die Absage des Kanzlerkandidaten
Stoiber an die über Jahrezehnte gewachsene Versiche-
rungs- und Versorgungsmentalität in dieses Bild.
Das ist ein weiteres Bekenntnis, dass man sich von dem
Solidaritätsprinzip in der Krankenversicherung verab-
schieden will.
Ich denke, auch mit der Verfassungsklage gegen den
Risikostrukturausgleich haben Sie nichts anderes im Sinn.
Wenn der gesamte Risikostrukturausgleich zu Fall ge-
bracht würde,
bedeutete dies allein bei der AOK Ost eine Beitragssatz-
erhöhung um 7,5 Prozent. Dann hätten wir im Osten einen
Beitragssatz von 21,6 Prozent.
Der Risikostrukturausgleich ist dazu da, die Lasten-
verteilung innerhalb der GKV auszugleichen und eine
möglichst gerechte Beitragsverteilung für die Versicher-
ten zu erreichen. Er ist ein Instrument des Solidaritäts-
prinzips. Wer hierbei den Osten aussparen möchte,
dem geht es nicht darum – wie Stoiber immerzu sagt –,
Brücken zu bauen und Unterstützung für Ostdeutschland
zu leisten, sondern der möchte den gegenwärtigen Zu-
stand festschreiben und Ungleichheiten beibehalten.
Als ostdeutsche Abgeordnete, die lange Zeit Gesund-
heitspolitik im Osten gemacht hat, sage ich Ihnen: Ihre an-
gekündigten Pläne sind eine Strafaktion.
Sie bedeuten eine Entsolidarisierung mit den Menschen
im Osten, insbesondere wenn sie krank sind.
Herr Lohmann, ich bin zutiefst enttäuscht, dass die an-
gekündigten Maßnahmen – das muss ich an dieser Stelle
einmal sagen – Ihrem und auch meinem christlichen Men-
schenbild, welches sich klar zur Solidarität bekennt, in
keiner Weise entsprechen.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Aribert Wolf von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! In einer modernenZivilgesellschaft geht es „um mehr Eigenverantwortung,die zu Gemeinwohl führt“ und „ein Gesundheitswesenohne finanzielle, geistige und ... buchstäblich körperlicheSelbstbeteiligung der Versicherten“ ist „nicht mehr vor-stellbar“.
Dieser Satz stammt nicht von einem Unionspolitiker, wieSie jetzt vermuten, sondern von Gerhard Schröder höchst-persönlich,
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geschrieben im April 2000 in der Zeitschrift „Die NeueGesellschaft/Frankfurter Hefte“.
Dies zeigt, wie verlogen die Debatte derzeit von der SPDgeführt wird und wie wenig ehrlich Sie es mit IhrenKonzepten und damit mit den Bürgern draußen im Landmeinen.
Sie befinden sich in einer solch verzweifelten Situationund in einem solchen Abwärtsstrudel, dass Sie, statt IhrePolitik zu überprüfen und zu fragen, warum Sie nicht dieRichtung ändern, um Ihre miserable Leistungsbilanz inder Gesundheitspolitik zu verbessern, versuchen, dieLage schöner zu reden und unhaltbare Versprechen abzu-geben. Zugleich versuchen Sie, Konzepte der Union zuverdrehen und Unionspolitiker zu verleumden.Ihr Bundeskanzler hat heute Nachmittag sein neuesWahlprogramm vorgestellt.
Es lohnt sich wirklich, darin manches nachzulesen. ZumGesundheitswesen steht dort zum Beispiel in der Einlei-tung folgender bemerkenswerter Satz:Wer im Gesundheitswesen die Solidarität erhaltenund die Qualität stärken will, muss zu mutigen Re-formen bereit sein.
Rot-Grün ist seit dreieinhalb Jahren in der politischenVerantwortung. Was haben Sie denn in den letzten drei-einhalb Jahren an mutigen Reformen vorangebracht,meine Damen und Herren?
– Nichts. Ich will nur ein einziges Beispiel nennen: IhreArzneimittelpolitik.
Zu Beginn führten Sie die Budgetierung ein. Diese führtedazu, dass ein erheblicher Teil der Versicherten nicht mehrordentlich versorgt wurde, dass Medikamente nur nochdann verabreicht wurden, wenn der Versicherte sie selbstbezahlte, dass die Kosten dennoch in die Höhe schnellten.Nach einiger Zeit merkten Sie dann, dass Sie einen Feh-ler gemacht haben. Dann haben Sie die Budgetierung ab-geschafft und etwas Neues eingeführt, aber nichts, um dieKosten zu steuern. Plötzlich stellen Sie fest, dass die Arz-neimittelkosten explodieren. Alle Kosten steigen, alleswird teurer. Sie sagen: Schnell, schnell, wir müssen etwasNeues machen. Ihre Lösung ist: Budgetierung weg, jetztmachen wir ein Arzneimittelausgaben-Begrenzungsge-setz. Dazu stellen Sie einige Überlegungen an. Dann mar-schiert die Pharmaindustrie zum Bundeskanzler und er-klärt: Lieber Bundeskanzler, in dem Gesetz stehen einigeBestimmungen, die uns nicht passen. Diese sollen weg.Dafür legen wir 400 Millionen auf den Tisch. – Brav ma-chen das SPD und Grüne.
Jetzt frage ich Sie: Ist das Gerechtigkeit? Ist das diemutige Reformpolitik, von der Sie in Ihrem Wahlpro-gramm schreiben? – Das ist das Gegenteil davon!
Ich frage Sie weiter: Ist es die Gerechtigkeit, von derSie hier so gerne reden, wenn Sozialhilfeempfänger inArztpraxen besser als der Großteil der gesetzlich Versi-cherten versorgt werden?
Diejenigen, die Sozialabgaben zahlen und damit die So-zialhilfeempfänger finanzieren, bekommen eine schlech-tere medizinische Versorgung, weil sie anders als die So-zialhilfeempfänger von den Budgetierungszwängenbetroffen sind.Ist es vielleicht rot-grüne Gerechtigkeit, wenn die Bun-desbürger im Durchschnitt einen Krankenversicherungs-beitrag von 14 Prozent bezahlen müssen? Noch nie zuvorwurde in Deutschland so viel für die Krankenversiche-rung ausgegeben.
Das ist der rot-grüne Griff in die Taschen der Bürger. Dasist doch nicht die Gerechtigkeit, von der Sie hier immerreden.
Schauen wir uns einmal die Arbeitsbedingungen imKrankenhaus an! Wissen Sie, unter welchen BedingungenPflegekräfte heute zu arbeiten haben? Sehen wir nach Bay-ern; das machen Sie doch so gerne. Die AOK Bayern istaufgrund Ihrer schlechten Gesundheitspolitik gezwungen,für die Mutter-Kind-Kuren – das betrifft die Ärmsten inunserer Gesellschaft, die dringend Erholung brauchen –die Zuschüsse zu streichen. Das alles sind Folgen IhrerPolitik.
Ist das vielleicht Gerechtigkeit, was Rot-Grün damit aufden Weg gebracht hat? Sind das vielleicht mutige Refor-men? – Nein, das ist das Gegenteil. Aber Sie können hiernur andere verleumden und einen Popanz aufbauen, weilSie eine miserable Leistungsbilanz aufzuweisen haben.Schauen wir uns die Herausforderungen an, vor denenwir jetzt stehen! Die Alterspyramide in Deutschland ent-wickelt sich leider so, dass immer mehr Menschen Leis-tungen nachfragen, aber immer weniger Menschen dieBeiträge für diese Leistungen bezahlen. Jetzt frage ich:Wie will die SPD eigentlich die Versprechen halten, die
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Aribert Wolf23102
sie im Wahlprogramm gemacht hat? Dort steht, dass derLeistungskatalog nicht angetastet, gleichzeitig auch aufder Einnahmenseite nichts verändert werden soll.
Mich erinnert das fatal an etwas, was Sie gemacht ha-ben. 1998 haben Sie vor der Bundestagswahl bei derRente genau das gemacht, was Sie jetzt in der Gesund-heitspolitik versuchen. Sie wollten alles so lassen, wie esist. Kaum waren Sie in der Regierungsverantwortung, ha-ben Sie den Menschen eine Rentenreform beschert,
die das glatte Gegenteil von dem war, was Sie vor derWahl immer versprochen haben, und unter der viele Men-schen zu leiden haben.
Deswegen sage ich: Die rot-grüne Koalition hatte dieChance, in der Gesundheitspolitik zu zeigen, was siekann. Sie hat die Chance nicht genutzt. Sie hat auf einePolitik der ruhigen Hand gesetzt. Es ist Zeit, dass die Ver-antwortung wieder in andere politische Hände gelegtwird, dass die Krankenversicherung zukunftsfähig ge-macht wird und die Menschen die Wahrheit darüber er-fahren, was die Politiker vorhaben, die in die Regierungs-verantwortung gewählt werden. Es darf nicht das Blauevom Himmel versprochen werden, was ohnehin nicht ge-halten werden kann. Das wünsche ich mir. Ich bin über-zeugt davon, dass die Bürger eine solche Politik mehr ho-norieren als das, was Sie an den Tag legen.Ich bedanke mich.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Walter Hoffmann von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Kollege Laumann, es war amSonntag in der Tat eine bittere Niederlage für uns.
Daran führt kein Weg vorbei. Es ist auch nichts schönzu-reden. Sie können gewiss sein, dass wir daraus die ent-sprechenden Konsequenzen ziehen werden und sie bereitsziehen.Eine Konsequenz wird sein, dass wir den Menschen indiesem Land klarer und deutlicher als bisher sagen wer-den, was die anderen wollen,
was Sie in der Gesundheitspolitik vorschlagen und wel-che unmittelbaren Auswirkungen das für die Menschenhaben wird.
Es ist doch kein Zufall, wenn in mehreren Interviews andiesem Wochenende praktisch zeitgleich von Politikernder CDU aus der zweiten Reihe sowie maßgeblichen Re-präsentanten – wohlgemerkt vor allen Dingen der FDP –eine alte Kamelle ausgegraben wird, nämlich die Diskus-sion um die Einschränkung der Lohnfortzahlung imKrankheitsfall.
Das ist kein Zufall, sondern dahinter steckt System. Manschickt zuerst einmal die zweite Reihe vor, die den Bodenein wenig vorbereitet, damit dann die anderen den Vollzugdurchführen können.
Ich möchte daran erinnern, dass die Rücknahme derEinschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalleine der ersten Maßnahmen unserer Regierung in dieserWahlperiode war.
Für diese Entscheidung hat es gewichtige Gründe gegeben.
Die Entscheidung, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalleinzuschränken, war ein Produkt sozialer Kälte und desMisstrauens auch gegenüber den Bürgerinnen und Bür-gern in diesem Land, Herr Kolb. Sie hat vor allen DingenMenschen getroffen, die schon durch ihre Krankheit starkbelastet waren. Daran möchte ich, wie gesagt, deutlich er-innern. Diese Entscheidung machte Krankheit wieder zueinem finanziellen und individuellen Risiko. Sie war einRückschritt in alte, verstaubte und ideologisch verblen-dete Positionen, die die Bedürfnisse der Menschen in die-sem Land zugunsten von Anreizen ignorierte, die angeb-lich notwendig sind, um Menschen wieder zum Arbeitenzu bringen.Der Krankenstand ist – die Fakten sind ja schon vonmeinen Vorrednern dargestellt worden – auf dem niedrigs-ten Stand seit 1970, wohlgemerkt seit dem Jahr, in dem dieLohnfortzahlung im Krankheitsfall durch eine von uns ge-stellte Regierung gesetzgeberisch eingeführt wurde.
Der Krankenstand war im Jahresdurchschnitt im Zeit-raum von 1991 bis 1998 wesentlich höher als jetzt, da esdie volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder gibt.Ich möchte auch daran erinnern, dass die Lohnfortzah-lung im Krankheitsfall – darauf ist heute noch nicht hin-gewiesen worden – eine der großen historischen Errun-genschaften der deutschen Arbeiterbewegung war.14 Wochen wurde dafür in Schleswig-Holstein gestreikt.
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Aribert Wolf23103
Politisch betrachtet, haben wir die Lohnfortzahlung imKrankheitsfall der Union und der FDP im wahrsten Sinnedes Wortes abgetrotzt.
Deswegen sage ich: Wir Sozialdemokraten werden nichtzulassen, dass Sie die Uhren auf das 19. Jahrhundertzurückstellen. Darauf können Sie sich und – das ist nochviel wichtiger – die Menschen in unserem Land auch inZukunft fest verlassen.
Es ist gut, dass Sie gerade jetzt mit dieser Debatte be-ginnen. Von der FDP habe ich persönlich nichts Bessereserwartet. Aber auch die Union entlarvt durch die Äuße-rungen aus der zweiten Reihe endlich, was im Grunde rea-lisiert werden soll: Sie wollen durch eine Vielzahl vonMaßnahmen im Endeffekt die soziale Sicherung in dieserRepublik aushöhlen und die Rechte der Arbeitnehmereinschränken, wo immer Sie nur können.
Sie wollen die Entlastung der Arbeitgeber auf Kosten derArbeitnehmer. Sie wollen die Stärkung des Kapitals aufKosten der Beschäftigten.
Gute Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikmuss die Interessen beider Seiten, der Arbeitgeber und derArbeitnehmer, berücksichtigen und ausgleichen. Wir ha-ben das durch eine Fülle von Maßnahmen in der Tat ge-macht.
Wir haben die Arbeitgeber durch die Steuerreform, dieSenkung des Rentenversicherungsbeitrags und die Ver-besserung vieler anderer Rahmenbedingungen für die Un-ternehmen spürbar entlastet, ohne die Arbeitnehmer wei-ter zu belasten.
Wir haben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern inunserem Land wieder mehr soziale und finanzielle Si-cherheit gegeben und wieder für eine ausgeglichene Las-tenverteilung gesorgt.
Die Erfolge liegen klar auf der Hand: Wir haben über1 Million neue Arbeitsplätze entstehen lassen und die Ar-beitslosigkeit spürbar gesenkt. Sie wird – davon bin ichfelsenfest überzeugt – weiter sinken.
Wir haben jungen Menschen, Langzeitarbeitslosen, Stu-dierenden aus ärmeren Elternhäusern und Existenzgrün-dern neue Perspektiven und Chancen gegeben.
Wir haben die Bürgerinnen und Bürger massiv von Steu-ern und Abgaben entlastet. Wir haben dafür gesorgt, dassSpitzenverdiener ihren angemessenen Anteil an den Las-ten unseres Gemeinwesens tragen müssen. Wir haben denMenschen durch unsere Rentenreform wieder Sicherheitim Alter gegeben und unangemessene Härten Ihrer Re-form rückgängig gemacht.
Wir haben Familien durch höheres Kindergeld und höhe-res Wohngeld, durch die Modernisierung des Erziehungs-urlaubs hin zur Elternzeit und durch das Recht auf Teil-zeitarbeit erheblich gefördert. Wir haben für Recht undOrdnung auf dem Arbeitsmarkt gesorgt sowie endlichwirksame Maßnahmen gegen Schwarzarbeit und illegaleBeschäftigung ergriffen.
Herr Kol-
lege Hoffmann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich denke, dass
sich diese Politik für die Arbeitnehmer sehen lassen kann.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir werden die Arbeits-
losigkeit weiter abbauen. Der Aufschwung hat begonnen.
Ich bin sicher, dass die Menschen in unserem Land dies
am 22. September auch honorieren werden.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hans Urbaniak von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident!Kolleginnen und Kollegen! Ich habe hier zwei Meldun-gen vorliegen. Die Erste ist aus der „WestfälischenRundschau“ vom 22. April dieses Jahres. Dort steht:„Union will 500 Euro Selbstbeteiligung“. Das ist von Ih-nen hier nicht dementiert worden. Ich habe eine Mel-dung aus der „Berliner Morgenpost“, die wohl heute ver-öffentlicht worden ist und aus der hervorgeht, wasFriedrich Merz – das ist hier schon angesprochen wor-den – zum „Zipperlein“ gesagt hat. Er wird das sicher-lich selber noch begründen, aber von dem Wort kommter nicht mehr los.
Was er in Bezug auf das Gesundheitswesen damit meint,wird man ihm ständig vorwerfen müssen. Das ist eineDiskriminierung. Wir dürfen die sozialen Grundlagen derKrankenversicherung nicht aufgeben. Es muss so ge-macht werden, wie es Ulla Schmidt hier gesagt hat.
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Walter Hoffmann
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– Herr Kolb, Sie brauchen mir doch nichts zur Lohnfort-zahlung zu erzählen. Was sind Sie gegen Rexrodt? Das istdoch ein Kaliber.
Hier steht, was er sagte: Wir müssen daran gehen; diesmuss geändert werden. Darauf haben Sie doch gar keinenEinfluss mehr, da werden Sie doch heruntergefahren.Wir haben in den Jahren 1955/56 in der IG Metall umdie Einführung der Gleichstellung von Arbeitern und An-gestellten bei der Lohnfortzahlung gekämpft. Das war dererste Schritt.
Wir haben dann in der großen Koalition das entspre-chende Gesetz verabschiedet.
– Heinz Schemken, Du darfst es jetzt nicht nach unten re-formieren. Du musst Kurs halten. Das wäre eine vernünf-tige Position. Aber so etwas geht aus den Meldungen nichthervor.Wenn ich hier lese, was Ihr sehr verehrter KollegeStoiber so sagt, dann kommt mir das Grauen. Er will dasja ändern. Ferner haben sich ein CDU-Landesvorsitzen-der und ein CDU-Fraktionsvorsitzender – der einekommt aus Schleswig-Holstein, der andere aus Bremen –dahin gehend geäußert, die Lohnfortzahlung müsse an-gepackt und reformiert werden. Auch das ist eineschlimme Sache.
– Kollege Lohmann – –
– Es sind doch mehrere Lohmänner im Bundestag. HabenSie das in den vier Jahren noch nicht begriffen?
Ich habe den Eindruck, dass Sie einen Wahltarif ein-führen wollen. Er würde in der Arztpraxis folgender-maßen funktionieren: Da kommt ein Arbeitnehmer zumArzt und sagt: Herr Doktor, ich habe Schmaltarif, nur ab-tasten!
Alles andere ist nicht abgedeckt und Geld habe ich auchkeines, um zusätzliche Leistungen zu bezahlen. Dannkommt ein Zweiter mit einem gehobenen Tarif. Bei demist es schon ein bisschen besser. Er sagt: Ich habe den ge-hobenen Tarif, da müssen Sie ein bisschen mehr machen.Der Dritte hat den höchsten Tarif und hat Anspruch aufeine Vollversorgung.
Das ist menschenverachtend. Die Solidargemeinschaftmuss so bleiben, wie sie jetzt ist. Davon weichen wir nichtab; das sage ich in aller Deutlichkeit.
Ich werde mir erlauben, den Kollegen Merz als „MisterZipperlein“ zu bezeichnen. Die Grundlagen der Sozialpo-litik, insbesondere die der Krankenversicherung,
sind bei den Sozialdemokraten gut aufgehoben. Wir wer-den uns in der Sozialpolitik nicht überholen lassen undwir warnen die Bevölkerung vor einem verkehrtenSchritt; denn dann würde die Demontage der Sozialpoli-tik von Ihnen vollzogen.
Die Ak-
tuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss un-
serer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundesta-
ges auf morgen, Donnerstag, den 25.April 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.