Gesamtes Protokol
Guten Morgen!
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Zusatzpunkte 10 und 11 auf:
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz
Thönnes, Klaus Wiesehügel, Leyla Onur, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Kerstin Müller , Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Eckpunkte zur Verbesserung der Bekämpfung
von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit
– Drucksache 14/5270 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz
Thönnes, Doris Barnett, Klaus Brandner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Ekin Deligöz,
Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Jobrotation im Arbeitsförderungsrecht veran-
kern
– Drucksache 14/5245 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Aus-
sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Kein Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute
Morgen über zwei sehr wichtige Themenfelder der
Reformpolitik der Bundesregierung. Ich will mich dabei
auf das Feld konzentrieren, das ganz zentral etwas mit
dem Projekt „Arbeit, Bildung, Innovation“ zu tun hat. Es
geht um Modernisierung und Gerechtigkeit. Es geht bei
dem Thema Jobrotation um das Prinzip der Teilhabe an
Arbeit, Bildung und Gesellschaft.
Ich glaube, dass dieses Prinzip – bis vielleicht auf ei-
nige Detailfragen – in diesem Haus in großer Überein-
stimmung diskutiert werden kann. Es geht nämlich um die
sinnvolle Verbindung der Herausforderung des Abbaus
von Arbeitslosigkeit mit der Herausforderung, die Men-
schen zu qualifizieren, die Arbeitnehmer weiterzubilden,
damit sie den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ge-
recht werden können.
Beides hat etwas mit Teilhabe zu tun: mit Teilhabe am Ar-
beitsprozess, Teilhabe am Bildungsprozess und damit
auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Wer Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit zur
Kenntnis nimmt, der weiß, dass bis zum Jahre 2010 die
Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten erheb-
lich steigen werden. Prognosen machen deutlich, dass sich
der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
Hauptschulabschluss an der Gesamtzahl der Beschäftigten
halbieren wird, dass diejenigen, die eine Berufsausbildung
haben, im Jahre 2010 einen Anteil von 59,6 Prozent haben
werden – das ist eine Steigerung um 3 Prozent –, dass sich
die Anteile der Fachschüler und der Fachhochschüler fast
verdoppeln werden und dass der Anteil der Hochschüler
um 56 Prozent steigen wird. Das heißt, die Anforderungen
an Qualifikation werden immer größer.
15283
156. Sitzung
Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Beginn: 9.00 Uhr
Die Weiterbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern mit der Integration von Arbeitslosen in den Be-
trieb zu verbinden, das ist das zentrale Prinzip der Job-
rotation. Es gibt eigentlich auf allen Seiten nur Gewinner
dieses Prozesses. Im Idealfall haben die Unternehmer den
Vorteil, dass die Qualifikation und die Motivation der Be-
schäftigen steigen, dass die Wettbewerbsfähigkeit des
Unternehmens erhöht wird, dass Produktivität und Qua-
lität der Produkte sich verbessern und dass bei Neuein-
stellungen zeitaufwendige, intensive Personalauswahl-
verfahren entfallen.
Für die Arbeitnehmer gibt es drei zentrale Vorteile: Ihre
Beschäftigungsfähigkeit wird gesteigert; ihre flexible
Einsetzbarkeit wird erhöht; zusätzliche Qualifikation si-
chert ihre Beschäftigung.
Was ganz wichtig ist: Menschen, die arbeitslos sind
und wieder nach einer Perspektive suchen, bekommen die
Möglichkeit, ihre Qualifikationen zu erweitern. Sie kön-
nen neue, praktische Berufserfahrungen sammeln. Ihre
Vermittlungsfähigkeit in Bezug auf den Arbeitsmarkt
wird erhöht. Was auch noch wichtig ist: Sie werden wie-
der in einen ganz zentralen Bereich unserer Gesellschaft
integriert. Sie sind nicht ausgegrenzt. Sie haben Kontakte
zu anderen Arbeitnehmern. Sie können sich beweisen.
Das ist für alle ein Gewinn. Das ist ein Beweis dafür, dass
man Modernisierung und Gerechtigkeit sinnvoll mitei-
nander verknüpfen kann.
Wenn wir über die Landesgrenze hinaus in den Norden
Europas schauen, sehen wir, dass uns die Dänen hier ein
Vorbild sind. Seit 1993 arbeiten sie mit diesem Prinzip der
Jobrotation. Das heißt, dass ein Arbeitnehmer, der sich
weiterbildet, von einem Arbeitslosen ersetzt wird, der in
dieser Zeit im Betrieb als Stellvertreter arbeitet. In Däne-
mark hat dieses Element zusammen mit anderen Ele-
menten der aktiven Arbeitsmarktpolitik dazu beigetragen,
dass die Arbeitslosigkeit Ende 2000 mit 5,5 Prozent na-
hezu halbiert wurde.
Wie uns das Arbeitsamt Kopenhagen Ende des Jah-
res 2000 deutlich aufgezeigt hat, hat dies in Dänemark
ferner zu folgendem Ergebnis geführt: 80 Prozent derje-
nigen Arbeitslosen, die mit einer Stellvertreterregelung
im Betrieb die Möglichkeit hatten, wieder zu arbeiten,
sind später in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen
worden. Dies ist ein eindeutiger Beweis dafür: Kreative
Arbeitsmarktpolitik kann dazu beitragen, Menschen wie-
der in Arbeit und Beschäftigung zu bringen.
Diese Idee haben die Mitglieder des Bündnisses für Ar-
beit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit aufgegriffen
und anhand einer Vielzahl von ADAPT-Projekten ausge-
wertet, die in Deutschland praktiziert worden sind. Seit
Anfang der 90er-Jahre gibt es Studien, die belegen: Im
Jahre 2005 werden 80 Prozent der Arbeitnehmer ihre Ar-
beit auf der Basis einer Ausbildung erledigen, die zehn
Jahre zurückliegt. Aber gleichzeitig werden 80 Prozent
unserer Technologien jünger als zehn Jahre sein. Diese
Zahlen zeigen die Notwendigkeit zu handeln und die He-
rausforderungen, denen mit den ADAPT-Projekten und
der Jobrotation Rechnung getragen wird.
740 Unternehmen aus dem Mittelstand wurden bei einer
Untersuchung während der ADAPT-Projekte befragt.
2 030 Weiterbildungsteilnehmer haben an den Projekten
teilgenommen, darunter 986 Stellvertreter. Das gute Ergeb-
nis hier in Deutschland ist: 61 Prozent haben im Anschluss
daran wieder eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit
aufgenommen. 43 Prozent von ihnen waren Langzeit-
arbeitslose. Auch hier wird deutlich: Modernisierung und
Gerechtigkeit lassen sich miteinander verknüpfen.
Jetzt geht es darum, mit der SGB-III-Reform und un-
serem Antrag, den wir heute vorgelegt haben, neuen
Schwung in den deutschen Arbeitsmarkt zu bringen. Dabei
wird es darauf ankommen, eine passgenaue Vermittlung
zwischen den Interessen zu organisieren, die im Betrieb lie-
gen, und den Qualifikationsangeboten der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, die Arbeit suchen. Deswegen wol-
len wir, dass die Arbeitgeber, die sich an diesen Projekten
beteiligen, einen Zuschuss für die befristete Beschäftigung
des Stellvertreters bekommen, dass die Voraussetzungen
für die berufliche Weiterbildung eines Beschäftigten vom
Arbeitgeber geschaffen und auch getragen werden und dass
diejenigen, die als Arbeitslose in den Betrieb hineinkom-
men, tarifvertraglich entlohnt werden.
Es wird im weiteren Verfahren zu überlegen sein, ob
wir ein Coaching, eine Begleitung, benötigen. Ich will
keine allzu großen Erwartungen wecken, weil ich weiß,
dass es sich um ein sehr filigranes Element der Arbeits-
marktpolitik handelt. Aber es wird notwendig sein, auch
diejenigen, die im Vermittlungsbereich der Arbeitsver-
waltung tätig sind, entsprechend zu qualifizieren, damit
sie sich noch stärker auf die Bedürfnisse der Betriebe und
die vorhandenen Qualifikationsangebote der Arbeitslosen
konzentrieren können.
Wir wollen, dass Jobrotation zu einem Regelinstru-
ment der Arbeitsförderung wird. Wir glauben, dass auch
in Deutschland Menschen, die lange darauf warten, wie-
der Arbeit und damit eine Perspektive für sich und ihre Fa-
milie zu bekommen, eine Chance haben müssen, eine
neue Tätigkeit zu finden. Wir wollen, dass die Arbeitsäm-
ter die Integration Arbeitsloser formieren, mit der Mög-
lichkeit, die uns der Eingliederungstitel in der Arbeits-
marktpolitik gibt, vor Ort sehr flexibel arbeiten und sich
den Bedürfnissen in ihrer Region genau zuwenden.
Wir glauben, dass die deutsche Arbeitsmarktpolitik mit
der Jobrotation einen kräftigen Schub nach vorne bekom-
men kann und dass das deutlich wird, was wir am Anfang
dieser Legislaturperiode zugesagt haben: Modernisierung
und Gerechtigkeit sind zwei Seiten ein und derselben Me-
daille. Dass das sinnvoll zu verknüpfen ist, werden wir
nach außen darstellen.
Danke.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Birgit Schnieber-Jastram.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Franz Thönnes15284
Frau Präsi-dentin! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Thönnes, „die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mirfehlt der Glaube“!
Nach knapp einem Jahr Schamfrist haben Sie Ihre Bera-tungsresistenz aufgegeben und endlich unseren Vorschlagzur Einführung eines Jobrotation-Programms aufgenom-men.
Das sind erste Anzeichen von Lernfähigkeit, die uns hof-fen lassen, und zwar darauf, dass die Regierungskoalitionauch unsere anderen Vorschläge zur Qualifizierung undBeschäftigung älterer Menschen übernehmen wird. Wirhaben diese ja vor kurzem im Plenum eingebracht und dis-kutiert. Vielleicht geht Ihre bessere Einsicht ja sogar soweit, dass die Vernunft auch bei der Rentenreform, derNeuregelung des Betriebsverfassungsgesetzes und ande-ren Vorhaben greift. Das würde uns ganz besonders freuen.Ich habe es gesagt: Sie haben unseren Vorschlag zumJobrotation-Programm aufgegriffen. Vielleicht ist das eingutes Zeichen und auf gute Zeichen am Arbeitsmarkt war-ten derzeit ungefähr 5,2 Millionen, nach manchen Schät-zungen sogar 5,7 Millionen Menschen; denn die Arbeits-losigkeit, die offizielle und die verdeckte, ist nun einmalso hoch.Diese Menschen haben am vergangenen Sonntag wie-der einmal gewartet, aber vergebens. Denn es ist sehrdeutlich geworden: Was in des Kanzlers Konsensrundeverabschiedet wurde, bedeutet „Stillstand statt Auf-bruch“. „Nach achtmonatiger Vorbereitungszeit ist solchein Ergebnis nur blamabel zu nennen.“ Dieses Resümeezieht die „Süddeutsche Zeitung“, die bekanntlich kein Or-gan der Opposition ist.
Schauen wir uns doch einmal an, was die Beteiligtendes Treffens am Sonntag als Ergebnis festgehalten haben.Der Kanzler hat betont, dass es seine Rolle sei, den Ver-such zu machen, „wirtschaftliche Vernunft zu realisieren“und dann „für einen Ausgleich der Interessen zu sorgen“.Davon abgesehen, dass es an der wirtschaftlichen Ver-nunft der Regierung berechtigte Zweifel geben kann,
scheint ihm die Vermittlerrolle ja in der Tat hervorragendgelungen zu sein. Der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundtspricht von einem „2:0-Erfolg für uns“, also für die Ar-beitgeber. Anscheinend hat er Recht, denn Dieter Schulte,der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, dem diemeisten von Ihnen ja in besonderer Weise zugetan sind, hatlaut „Frankfurter Rundschau“ eine Niederlage eingeräumt.
IG-Metall-Chef Klaus Zwickel – auch er ist für Sie allekein Fremder – hat gesagt, das Bündnis fürArbeit sei un-ter dem Aspekt der Beschäftigung „kein ausreichenderErfolg“; er hat von „unverbindlichen Vereinbarungen“ ge-sprochen und hat mit einer „schwierigen, möglicherweiseexplosiven“ Tarifrunde gedroht. Das ist Ihr Verdienst.
Wenn der Kanzler schon glaubt, bei den Treffen der Ta-rifpartner
den Moderator geben zu müssen, dann sollte er, finde ich,jedenfalls für Ergebnisse sorgen, bei denen sich nicht einePartei als Sieger und die andere Partei als Verlierer fühlt.Manches Gewerkschaftsmitglied wird sich wirklich fra-gen, wem man 1998 mit Millionen aus Beiträgen zurKanzlerschaft verholfen hat. Was ist die Ernte? Was wirdbeim Bündnis für Arbeit vermittelt?
– Ihnen fällt wirklich nichts Besseres ein, Herr Thönnes.Welche konkreten Maßnahmen sind nun vereinbartworden? Die Antwort ist einfach: Keine.
Was wurde vereinbart, um die Millionen Erwerbslosen inArbeit zu bringen? Nichts.
Was waren die zählbaren Ergebnisse des Treffens amSonntag? Achteinhalb Seiten heiße Luft und Absichts-erklärungen nach dem Motto: Wie schön, dass wir malwieder darüber geredet haben!
Die Liste der Teilnehmer ist länger als alle Passagen dergemeinsamen Erklärung zu den wirklichen Problem-gruppen des Arbeitsmarktes. Die Einzigen, denen dasTreffen zusätzliche Beschäftigung gebracht hat, sind dieMitarbeiter, die für Organisation und Einladung sorgenmussten.
Wenn die Bundesregierung den Gesprächen mit denTarifpartnern wirklich einen Sinn geben will, dann musssie endlich die Themen in die Debatte einbringen, die derSchaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland entgegen-stehen. Das sind folgende Fragen: Wie kann die fort-schreitende Überregulierung des Arbeitsmarktes endlichgestoppt und wie können überflüssige Vorschriften end-lich abgebaut werden?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001 15285
Wie können die 43 Milliarden DM für aktive Arbeits-marktpolitik sinnvoller und effektiver als bisher verwandtwerden? Wie können Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe soverknüpft werden, dass Anreize zur Arbeit geschaffenwerden? Wie können für Geringqualifizierte zusätzlicheArbeitsplätze geschaffen werden? Zu all diesen Themenherrscht Schweigen, wenn die Tarifpartner mit dem Kanz-ler Tee trinken.Was mir beim besten Willen nicht einleuchten will, istdie Tatsache, dass die erschreckende Arbeitsmarktsitua-tion in den neuen Ländern in der gemeinsamen Er-klärung mit so gut wie keinem Wort angesprochen wird.
Ich hatte gehört – ich denke, Sie auch –, dass der Kanzlerdie Angelegenheiten der neuen Länder zur Chefsache ma-chen wollte.
Sie scheinen ihm aber nicht so wichtig zu sein, um siebeim Bündnis für Arbeit zu diskutieren.Was hat der Kanzler in der Chefsache bisher erreicht?Ich zitiere in diesem Zusammenhang aus der Mitglieder-zeitschrift der IG Metall: extrem hohe Arbeitslosigkeit,viel zu wenig Lehrstellen, Flucht von qualifiziertenArbeitnehmern in den Westen.Gestern stand in der „Bild“-Zeitung, der glücklichsteMann in der brandenburgischen Stadt Wittenberge sei derUmzugsunternehmer, da jedes Jahr durchschnittlich1 400 Bürger ihre Koffer packen, um dem Schicksal derArbeitslosigkeit – es gibt dort eine Arbeitslosenquote von18 Prozent – zu entfliehen. Geht das so weiter, ist die Stadtin 20 Jahren ohne Einwohner.
Die Krönung ist: Das Bundesarbeitsministerium gönntden neuen Bundesländern in seiner Kommentierung derneuesten Arbeitslosenzahlen nur einen Satz:In Ostdeutschland hat sich die Zahl der Arbeitslosen
Das war es. Es folgen weder Erklärungen noch Lösungs-vorschläge; denn was Sie nicht mit Siegerlächeln verkün-den können, wollen Sie unter den Teppich kehren.
Ich frage nochmals: Warum hat die Bundesregierungdie neuen Länder nicht zum Hauptthema des Bündnissesfür Arbeit gemacht? Ich vermute als Grund, die Bundes-regierung hätte sonst eingestehen müssen, dass die tat-sächliche Arbeitslosigkeit in vielen ArbeitsamtsbezirkenMecklenburg-Vorpommerns, Sachsen-Anhalts und ande-rer neuer Bundesländer doppelt so hoch ist, wie die Datender offiziellen Statistik es ausweisen. Wenn man dieArbeitsuchenden dazuzählt, die zeitlich befristet an öf-fentlich geförderten Beschäftigungs- und Qualifizie-rungsmaßnahmen teilnehmen, dann ergibt sich, dass oft-mals vier von zehn Erwerbstätigen nicht auf dem erstenArbeitsmarkt beschäftigt werden. Ich sage nur: ChefsacheOst.
Schauen wir uns doch einmal ein anderes Programmetwas näher an, auf das Sie auch sehr stolz sind. Da gibtes das legendäre JUMP-Programm für junge Menschen.Legenden haftet ja oftmals eine etwas freiere Auslegungder Wahrheit an;
aber ich sage Ihnen eins: Das JUMP-Programm istschlichtweg eine Münchhausen-Geschichte.
Seit rund zwei Jahren fließen jährlich 800 Millionen DMaus diesem Programm in die neuen Länder. Jetzt sollen esjährlich 1 Milliarde DM werden. Das Ergebnis – Sie ha-ben das immer noch nicht wahrgenommen –: Anstieg derJugendarbeitslosigkeit in den neuen Ländern imletzten Jahr um sage und schreibe 13,1 Prozent! Das istdas Ergebnis dieses Münchhausen-Programms.
Sie machen hier – Sie wissen es in Wirklichkeit ganzgenau, Herr Thönnes – Programme und Programme fürzig Milliarden Mark und wissen noch nicht einmal, wemsie nutzen; Hauptsache, es werden wieder ein paar Er-werbslose aus der Statistik verschwinden. Das ist Ihre In-tention.Das gilt auch für die älteren Arbeitslosen, für die dieBundesregierung sich ja jetzt angeblich so energisch ein-setzen will.
– Jetzt hören Sie doch mal zu! Wir reden nun über die äl-teren Arbeitslosen.Ich will Ihnen meine Ausführungen anhand zweierZahlen verdeutlichen, die uns die Bundesregierung selbstin einer Antwort auf eine Kleine Anfrage übermittelt hat:Im Jahresdurchschnitt 2000 lag der Anteil der über50-Jährigen an den durch die Instrumente der aktivenArbeitsmarktpolitik geförderten Personen bei 20,3 Pro-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Birgit Schnieber-Jastram15286
zent; bei den Maßnahmen zur Förderung der beruflichenWeiterbildung lag er gerade bei 7,3 Prozent. Diese Zahlenzeigen sehr deutlich, wo die Zielsetzung der Bundesre-gierung zu suchen ist: im Drehtüreffekt und nicht darin,ältere Menschen im ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.
Es gibt noch andere interessante Aussagen. Zum Bei-spiel:Gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über dietatsächlichen Erklärungsfaktoren für die Höhe derErwerbstätigenquote älterer Menschen liegen derBundesregierung nicht vor.So sagt die Bundesregierung. Stochern Sie denn wirklichüberall nur im Nebel herum?Die Passage Ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage, inder die „weit verbreitete Frühverrentung“ zu einer Maß-nahme erklärt wird, die die „Zustimmung aller Betroffe-nen“ gefunden habe, halte ich sogar für zynisch. Ich binmir nicht so sicher, dass wirklich alle Betroffenen un-glaublich begeistert davon waren, mit 50 Jahren oderfrüher oder später in Frührente zu gehen. Ich erlebe et-was anderes.
Ich weiß nicht, wie ein Vater seinen erwachsenen Kindernerklären soll, dass er nun ohne Arbeit ist und mit knapp55 Jahren in Frührente geht.
Wir sind im Gegensatz zu Ihnen der Meinung, dass Ar-beit nicht nur Broterwerb ist, sondern auch viel mit Würde,Selbstbewusstsein und sozialer Teilhabe zu tun hat.
so-
wie des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.] – FranzThönnes [SPD]: Wie viel Arbeitslose habt ihrdenn hinterlassen?)Deshalb ist Erwerbstätigkeit auch und gerade für ältereMenschen in jedem Fall besser als die Teilnahme an ar-beitsmarktpolitischen Maßnahmen.
Liebe Kollegen,
rufen Sie bitte nicht dauernd dazwischen! Ansonsten kann
die Rednerin gar nicht Luft holen.
Insofern
halte ich es für erstaunlich, dass Herr Ostertag in der letz-
ten Woche in einer Debatte erklärt hat, dass er stolz sei,
dass die Erwerbstätigenquote der 50- bis 65-Jährigen
mit 48,2 Prozent nur knapp unter dem EU-Durchschnitt
von 48,6 Prozent liege. Woran orientieren Sie sich eigent-
lich? Offenbar am unteren Mittelmaß. Es gibt Länder wie
die Schweiz, wie Norwegen, Dänemark, Großbritannien
– diese Länder sind gar nicht so weit entfernt – oder die
USA, in denen die Erwerbstätigenquote älterer Menschen
bei bis zu 70 Prozent liegt. Das ist das Ziel, das wir errei-
chen müssen. Aber davon sind Sie weit entfernt.
Sie haben keine konsequente Linie in der Arbeitsmarkt-
politik und denken bestenfalls in Monatszeiträumen.
Zum Abschluss möchte ich noch etwas zu Ihrem An-
trag „Eckpunkte zur Verbesserung der Bekämpfung ille-
galer Beschäftigung und Schwarzarbeit“ sagen. Wir stim-
men zwar der darin zum Ausdruck kommenden
Grundintention durchaus zu. Aber wir sind natürlich mit
der dort enthaltenen Passage über die erfolgreiche Wirt-
schafts- und Steuerpolitik der rot-grünen Regierungsko-
alition überhaupt nicht einverstanden. An dieser Stelle
können wir den Antrag nicht mehr mittragen.
Herr Thönnes, es gibt viel zu tun, nicht nur für Sie und
für alle Ihre Fraktionskollegen, sondern auch für die Re-
gierung, die zwei Jahre lang nur untätig zugeschaut hat.
Die Zahlen sind ein deutlicher Beleg dafür.
Machen Sie endlich was!
Danke.
Jetzt hat die Ab-
geordnete Thea Dückert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wir diskutieren hier – ich glaube, das muss ich in Er-innerung rufen – eigentlich über zwei Anträge, nämlichüber den Antrag zur Jobrotation und über den Antrag zurVerbesserung der Bekämpfung der illegalen Beschäfti-gung.Frau Schnieber-Jastram, Sie haben wirklich ein Kunst-stück vollbracht;
denn Sie haben von zehn Minuten Ihrer Redezeit – ichschätze einmal – jeweils nur zehn Sekunden zur Jobrota-tion und zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung ge-sprochen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Birgit Schnieber-Jastram15287
Die beiden Botschaften, die Sie uns übermitteln wollten,lassen sich in etwa wie folgt umreißen: Sie nehmen bei derJobrotation das Urheberrecht in Anspruch und zurBekämpfung der illegalen Beschäftigung sagen Sie:Dagegen wollten wir schon immer etwas tun. Wenn dasIhr ganzer beschäftigungspolitischer Ansatz ist, dannweiß ich, warum Sie von zehn Minuten nur 20 Sekundenzu den Themen der vorliegenden Anträge gesprochen ha-ben.
Die CDU/CSU nimmt für sich in Anspruch, Erfinderder Jobrotation zu sein. Aber das Instrument der Jobrota-tion existiert bereits seit 1994 in Dänemark. Ich weise nurdarauf hin, weil Sie sich auf unsere Nachbarländer beru-fen haben.
Die Jobrotation ist ein sehr erfolgreiches Instrument.Auch wir haben in rot-grün regierten Ländern wie Nord-rhein-Westfalen sehr gute Erfahrungen mit diesem Instru-ment gemacht. Deswegen ist die Zeit jetzt reif, das Prin-zip der Jobrotation in der ganzen BundesrepublikDeutschland einzuführen.
Nur, was ich überhaupt nicht leiden kann, FrauSchnieber-Jastram, ist, wenn Sie hier in Krokodilstränenausbrechen, obwohl doch ganz deutlich belegbar ist, dassSie bereits seit 1994 einem guten Beispiel aus dem Aus-land hätten nacheifern können, aber sage und schreibe erstim Frühjahr des Jahres 2001 einen sehr mageren Antragzu diesem Thema vorlegen. Das hat mit einer Beschäfti-gungspolitik, die versucht, sich mit den Erfahrungen, mitdem, was um uns herum passiert, auseinander zu setzenund für Deutschland kreative neue Instrumente anzubie-ten, überhaupt nichts zu tun.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland eingroßes Problem: Für uns als rot-grüne Koalition steht Be-schäftigungspolitik auf der politischen Agenda ganz oben.Aber wir haben einen desolaten Arbeitsmarkt und eine de-solate Beschäftigungspolitik übernommen und im Hin-blick darauf müssen wir Schritt für Schritt eine Moderni-sierung einführen.Wir haben – das ist nachweisbar – seit Herbst 1999 ei-nen stetigen Abbau der Arbeitslosigkeit und ein stetigesAnsteigen der Beschäftigung zu verzeichnen.
Das reicht nicht; das sage ich auch. Und im Vergleich zuden europäischen Nachbarländernmüssen wir noch ei-niges lernen. Warum ist das so? – Weil Ihre Regierung dieEntwicklung um uns herum seit Anfang der 90er-Jahresystematisch verschlafen hat. Die Nachbarländer sind unsum Nasenlängen voraus.Mit dem, was wir heute vorschlagen – ich freue michbesonders darüber, weil meine Fraktion seit mehr als ei-nem Jahr an diesem Projekt arbeitet –,
nämlich die Jobrotation in der Bundesrepublik Deutsch-land zu übernehmen, machen wir endlich einen ersten,wenn auch kleinen Schritt in Richtung einer modernenBeschäftigungspolitik, der durch viele andere Maßnah-men ergänzt wird.
– Herr Laumann und Frau Schnieber-Jastram, ich kannSie wirklich beruhigen. Sie brauchen sich gar nicht so auf-zuregen. Wir werden im Sommer dieses Jahres eine Re-form des SGB III in Gang bringen, die im Kern die be-schäftigungspolitischen Instrumente zum Inhalt hat.
– Sie mögen im Sommer vielleicht nicht hier sein, HerrLaumann. Wir aber werden hier sein,
weil gerade im Sommer angesichts der entspannten Ar-beitsmarktsituation eine gute Zeit ist, endlich die Reform-projekte anzugehen.Ich kann Ihnen nur sagen: Das, was Sie hier abgelieferthaben, bestätigt eigentlich wieder, dass Sie uns einen ho-hen Berg von Arbeitslosen hinterlassen haben. Es be-stätigt, dass Sie in Ihrer Regierungszeit überhaupt keinFünkchen Kreativität und Modernität in der Beschäfti-gungspolitik hatten.
Ich finde es gut, dass Sie nachträglich auf diesen Zugaufspringen wollen. Seien Sie herzlich begrüßt.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute überzwei recht interessante und nicht ganz unwichtige An-träge. Dass dafür nur eine halbe Stunde zur Verfügung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Dr. Thea Dückert15288
steht, zeigt den Stellenwert, den die Regierung diesen An-trägen zumisst.
Aber der Kanzler kümmert sich auch sonst nicht sosehr um Zahlen. Was sind denn 500 000Arbeitslose mehroder weniger? Überhaupt: Wenn sich jemand nach geradeeinmal zwei Jahren Kanzlerschaft schon selbst als altenZirkusgaul in der Manege bezeichnet, denkt man eigent-lich eher an das Altenteil als an Regierungsfähigkeit.
Ich befürchte nur, wir werden auch diesen Kleppernoch bis 2002 durchfüttern müssen. Dann gibt es zweiMöglichkeiten: Entweder bekommt er eine Frischzellen-kur oder er geht zum Pferdemetzger.
Ich glaube, das
war jetzt ein bisschen an der Grenze, Herr Kollege.
Jawoll, Frau Präsidentin.
Das Thema Arbeitsplatzrotation ist nicht neu. Wir ken-nen das Ganze aus Dänemark. Wir müssen in Ruhe dieVor- und Nachteile abwägen. Wir müssen schauen, obnicht womöglich der bürokratische Moloch, von dem wirbefürchten, dass Sie ihn – wie bei anderen Gesetzen –wieder aufbauen, dieses Instrument wegen des damit zu-sammenhängenden hohen organisatorischen und finanzi-ellen Aufwands gerade für kleine und mittlere Betriebeungeeignet macht.
Darüber hinaus möchte ich zu bedenken geben, dass esmanchmal gar nicht so leicht sein wird, den passendenStellvertreter zu finden. Schauen Sie nach Baden-Würt-temberg. Wir haben in manchen Regionen des Landesaufgrund der hervorragenden Wirtschaftpolitik vonWalter Döring und den Freien Demokraten fast eine Si-tuation der Vollbeschäftigung mit einer Drei vor demKomma.
Sie müssen erst einmal gucken, wie Sie die passendenStellvertreter in die Betriebe bekommen, die Sie mit einerweiteren Subvention ködern wollen.Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass mandieses Thema im Zusammenhang mit den Bereichen Fle-xibilisierung der Arbeitszeit, Lebensarbeitszeitkonten,Arbeitnehmerüberlassung und Zeitarbeit diskutierenmuss. Im Grunde ist dieses Thema interessant. Besondersgut gefällt mir, dass Sie einen weiteren Schritt in RichtungDezentralisierung gehen, dass Sie mehr Kompetenzen aufdie örtliche Ebene verlagern und dass Sie eine regionalereArbeitsmarktpolitik machen wollen. Das ist vernünftig;davon brauchen wir mehr.
Ich erinnere an meinen Vorschlag zu den Globalhaushal-ten für die Arbeitsämter. Darüber sollten wir noch einmaldiskutieren.Was die Schwarzarbeit anbetrifft, möchte ich daran er-innern, dass die Freien Demokraten dazu bereits vor un-gefähr einem Jahr, am 23. März letzten Jahres, einen An-trag eingebracht haben. Bisher hat man ihn noch nicht fürso wichtig erachtet, dass man dieses Thema im Plenumhier behandelt. Angesichts eines geschätzten Volumensder Schwarzarbeit in Höhe von 658 Milliarden DM undangesichts von Bußgeldern in Höhe von 325 Milli-onen DM allein im letzten Jahr haben wir es mit einerwahren Boombranche zu tun. Ich würde mich freuen,wenn die Konjunktur in der regulären Wirtschaft genausobrummen würde; aber sie wird durch Ihre Gesetzge-bungsverfahren bisher ja abgewürgt.
Um Schwarzarbeit bekämpfen zu können, muss dasLohnabstandsgebot durchgesetzt werden. Um das zuerreichen, müssen wir die Arbeitnehmereinkommen vonAbgaben und Steuern wesentlich mehr entlasten, als esjetzt der Fall ist. Es muss sich lohnen zu arbeiten. Esmuss zwischen staatlicher Transferleistung und Er-werbseinkommen eine deutliche Differenz erkennbarsein. Die Steuerreform darf nicht bei dem stehen blei-ben, was bisher vorgelegt worden ist. Das kann nur einerster kleiner Schritt in Richtung echter Entlastungengewesen sein.Wir müssen auch die Lohnnebenkosten ins Auge fas-sen. Wir hätten seit über einem Jahr die Beiträge für dieArbeitslosenversicherung um einen Prozentpunkt senkenkönnen. Sie wollten das nicht, weil Sie diese Senkung erstim nächsten Jahr vornehmen wollen. Wir alle wissen,warum: Da ist Bundestagswahl. So wird es nicht funktio-nieren; die Entlastungen für Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer brauchen wir früher.
Um Schwarzarbeit zu verhindern, brauchen wir An-reize, eine reguläre Arbeit anzunehmen. Wir brauchen eineindeutig reformiertes Arbeitsgenehmigungsrecht. Wersich in diesem Land aufhalten darf, der muss für die Dauerdes erlaubten Aufenthaltes in die Lage versetzt werden,selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und nichtzwangsweise an den Tropf der Sozialkassen gehängt zuwerden. Wenn jemand arbeiten möchte und arbeiten kannund auf der anderen Seite ein Arbeitgeber einen Arbeits-platz nicht besetzen kann, dann finden sich andere Wege,ins Geschäft zu kommen. Solche Reformen haben Siebisher verhindert. Selbst die kleinen Schritte, die Sie seit
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Dirk Niebel15289
Januar dieses Jahres in die richtige Richtung gegangensind, haben Sie nur auf Druck der Opposition eingeleitet.Kehren Sie um!
Wir brauchen mehr F.D.P. in diesem Land.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.
Verehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren – KollegeThönnes, Sie haben 1992 genannt – ist das Projekt Job-rotation bekannt. Zumindest seit 1993 besteht die Forde-rung, so etwas auch in Deutschland durchzuführen. Dasheißt, dass Sie auf der rechten Seite fünf Jahre lang Gele-genheit hatten, das durchzuführen; Sie auf der linken Seitehatten zwei Jahre Zeit. In den vergangenen sieben Jahrenhat man es also nicht geschafft. Nun steht dieses Themaauf der Tagesordnung. Wir halten Jobrotation für notwen-dig. Wir unterstützen jede Maßnahme, die einigermaßenvernünftig ist; aus diesem Grunde gilt unsere Unterstüt-zung auch dem Prinzip der Jobrotation.
Die CDU hat zwar vor einem Jahr den Antrag 14/2909eingebracht; aber wir haben ihm damals nicht zuge-stimmt, weil er einen wesentlichen Mangel hatte: Siewollten, dass die Arbeitslosen zu nicht tariflichen Ent-gelten eingestellt werden können. Das ist sozial ungerechtund mit uns nicht zu machen. Dieser Mangel ist beho-ben; deshalb findet der Antrag von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen unsere Zustimmung.
Was die Lage der älteren Arbeitnehmer betrifft, kannich Ihre Erwartungshaltung allerdings nicht teilen. MeineErwartung ist eher gedämpft. Die Ursache für die hoheAnzahl arbeitsloser älterer Arbeitnehmer hat nicht so sehretwas mit ihrer Qualifikation zu tun, sondern liegt in de-ren Alter. Das Jobrotation-Vorhaben müsste daher eigent-lich um ein Programm erweitert werden, mit dem die Ar-beitgeber davon überzeugt werden, dass die älterenArbeitnehmer sinnvoll in den Arbeitsmarkt integriertwerden können.
Solange Ihnen diese Überzeugungsarbeit nicht gelingt,wird Ihr Vorhaben nicht den von Ihnen erwarteten Erfolghaben. Trotzdem erkenne ich an, dass es eine Möglichkeitunter mehreren ist.Sie haben auf die Einigung im Bündnis für Arbeitverwiesen. Das ist für mich sehr interessant. In Bezug aufJobrotation hat man im Bündnis für Arbeit eine Einigunggefunden, während das Thema Überstundenabbau – eineweitere Möglichkeit, die Arbeitslosigkeit abzubauen –nicht behandelt worden ist;
deshalb ist dieses Thema in diesem Parlament auch nichtzur Diskussion gestellt worden.
Die Frage ist: Wer entscheidet wo und was?Ein Weiteres will und kann ich Ihnen nicht ersparen.Seit mehr als zwei Jahren bringt die PDS-Fraktion An-träge zur Veränderung des SGB III ein.
Sie haben alle Anträge rundherum mit der Begründungabgelehnt, dass es sich um Einzelmaßnahmen handele,aber ein neues SGB III komme. Was ist denn nun Ihre Job-rotation-Maßnahme anderes als eine Einzelmaßnahme?Was wollen Sie denn nun eigentlich? Wollen Sie ein neuesSGB III oder wollen Sie es nicht?
Ein paar Bemerkungen zur Schwarzarbeit: Wir habenuns mit dem Problem der Schwarzarbeit und der illegalenBeschäftigung erst vor zwei Monaten im Zusammenhangmit dem Bericht der Bundesregierung zur Bekämpfungder illegalen Beschäftigung befasst. Darin wurde deut-lich, dass das Ausmaß der Schwarzarbeit und der illega-len Beschäftigung, über das niemand etwas Genauesweiß, da es keine genauen Zahlen gibt, über das aber allereden, trotz verstärkter Maßnahmen bei der Bekämpfungund verschärfter Sanktionen gestiegen ist. In Ihrer jetzi-gen Vorlage ist nichts anderes vorgesehen, als die Sank-tionen weiter zu verschärfen: Die Abschreckungswirkungsoll erhöht und die Effizienz der Verfolgungsbehördenverbessert werden. Neben diesen kopflastigen Ansätzensteht ganz klein die Prävention.Ich meine, man sollte sich mehr auf Prävention stützenund dabei auch im Auge haben, dass Schwarzarbeit erstdadurch ermöglicht wird, dass gewisse Leute Schwarz-arbeit anbieten
und andere sie annehmen, weil sie keine andere Möglich-keit haben, eine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zufinden, ihren Unterhalt zu verdienen und ihre Familien zuversorgen.
Setzen Sie dort an! Schützen Sie die Arbeitnehmerrechte!Auch das ist eine Möglichkeit, der Schwarzarbeit zu be-gegnen. So kommen wir ein Stückchen weiter.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Dirk Niebel15290
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Wiesehügel.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Ich bin manchmalschon erstaunt, wenn ich Ihre Debattenbeiträge höre.Aber, Herr Niebel, das, was Sie eben über den Bundes-kanzler gesagt haben, sollten Sie einmal nachlesen.
– Ich meine das mit dem Pferdemetzger. Sie sollten ein-mal selbst lesen, was Sie da gesagt haben. Ich weiß zwar,dass Sie eine schlechte Kinderstube hatten. Das habe ichschon an vielen Ihrer Äußerungen bemerkt.
Aber was Sie da gerade gesagt haben, entspricht nun wirk-lich nicht unserem Umgang miteinander. Das ist schonmehr als unterste Talsohle.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, über dieSchwarzarbeit ist auch in der Vergangenheit viel geredetworden. Es gibt einige Dinge, die unbestritten sind. Un-bestritten ist, dass 15 Prozent des Bruttosozialprodukts– das ist ungefähr ein Siebtel – in diesem Bereich erwirt-schaftet werden. Es ist immer schwierig, bei der Illegalitätgenaue Zahlen zu benennen, aber nach Studien summie-ren sich die Erträge aus der Schwarzarbeit und der Il-legalität auf wahrscheinlich über 600 Milliarden DM.Diese Summe ist für sich genommen schon schlimm ge-nug. Wenn man aber bedenkt, dass nur ungefähr 70 Pro-zent in den normalen Wirtschaftskreislauf zurückfließen,bleiben 100 Milliarden DM, die dem Staat an Steuernund Sozialversicherungsbeiträgen entzogen werden.Wenn wir diese Summe im Haushalt zusätzlich zur Ver-fügung hätten, würde manch schwierige Debatte, die wirüber das Sparen führen müssen, überflüssig. Von dahersollte man in diesem Bereich alle Anstrengungen unter-nehmen, um von diesen 100 Milliarden DM einen großenTeil wieder in die Legalität zu führen.
Hinzu kommt, dass Schwarzarbeit zu ordnungspoli-tisch unerwünschten Wettbewerbsverzerrungen führt undsich bedrohlich auf die Seriosität und das öffentliche An-sehen ganzer Branchen auswirkt. Manche Branchen wer-den heute derart mit Illegalität und Schwarzarbeit in Ver-bindung gebracht, dass sie enorme Schwierigkeitenhaben, sich öffentlich besser darzustellen.Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wurdenbereits vielfach genannt. Auch ich möchte sie noch einmalsehr deutlich machen: Wir wissen, dass durch 100 000 il-legal Beschäftigte 60 000 legale Arbeitsplätze verdrängtwerden. Für diese 60 000 müssen wir nicht nur Transfer-leistungen bezahlen, sondern sie bedeuten auch einen Ver-lust an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen in Höhevon 3,1 Milliarden DM. Dies ist insgesamt ein Bereich, indem wir wirklich etwas tun müssen. Darin sind sich jaauch alle einig.Über die Begriffe Schwarzarbeit und Illegalität ist dieEinigkeit allerdings nicht mehr ganz so groß. Wir habenja die Kampagne der alten Bundesregierung erlebt. Ichkann mich sehr lebhaft an die Kampagne von NorbertBlüm gegen Schwarzarbeit erinnern. Er hat Schwarz-arbeit nur als Arbeitnehmerschwarzarbeit darzustellenversucht. Er hat versucht, Handwerker und Arbeitnehmerdafür öffentlich an den Pranger zu stellen. Dass es aber ei-nen viel größeren Anteil von unternehmerischer Schwarz-arbeit und damit von organisierter Kriminalität gibt, istbei Ihnen nie wirklich angekommen. Diese Erkenntnis istdamit auch nie Bestandteil Ihrer Politik gewesen. Deswe-gen konnten Sie auch nicht erfolgreich sein.
– Das stimmt wohl. Schauen Sie sich doch einmal die al-ten Kampagnen an, Herr Niebel! Ihre Partei war ja mitdafür verantwortlich.
– Hören Sie doch damit auf, immer von „Gewerkschafter“zu sprechen!
Ich möchte einmal erleben, dass Sie bei einer Rede vonFrau Wöhrl dazwischenrufen: Ach, eine Vertreterin desdeutschen Handels! – Sie protestieren ja auch nicht, wennLobbyisten aus anderen Bereichen sprechen, Herr Niebel.Hören Sie also auf, von „Gewerkschafter“ zu sprechen!
In dem vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionenhaben wir das Problem auf den Punkt gebracht und – dies-mal ohne einseitige Schuldzuweisungen – in seinerganzen Bandbreite als organisierte Kriminalität undunternehmerische Schwarzarbeit erfasst. Im Übrigenmöchte ich feststellen: Wenn keine Handwerkerrechnungausgestellt wird, weil die Mehrwertsteuer eingespart wer-den soll, dann gehört das für mich auch zur Schwarzarbeitund damit in den Bereich der Illegalität.
Man darf nicht sagen, dass das eine weniger schlimm istals das andere. Man muss vielmehr die gesamte Band-breite sehen. Dies tun wir mit unserem Antrag.Es gibt vielfältige Vorschläge, wie man in diesem Be-reich erfolgreich sein kann. Sie sind dem Antrag zu ent-nehmen. Die Regierung kann diese Vorschläge umsetzen.Entsprechende Gesetze sind dringend erforderlich, wasdie Praxis ganz deutlich zeigt.
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Ich will einige wesentliche Punkte ansprechen. Wirbrauchen Verbesserungen im Bereich der Abschreckungund des Vollzugs. Dabei geht es nicht nur um die Erhöhungdes Strafrahmens oder um die Erhöhung der Bußgelder,sondern dazu gehört auch die Einbeziehung von Maßnah-men im Falle der Hinterziehung von Sozialabgaben. Wennjemand Sozialabgaben nicht weiterleitet, dann ist das fürmich genauso ein unredlicher und krimineller Akt wieSteuerhinterziehung. Dieser Tatbestand muss also auchberücksichtigt werden. Wir tun dies in unserem Antrag.Auch die Effizienz der Arbeit der Vollzugsbehördenist zu prüfen. Auch das ist im Antrag sehr deutlich darge-stellt. Aus der Praxis weiß ich, dass wir zum Beispiel inHamburg 13 und in anderen Gebietskörperschaften auchmindestens zehn verschiedene Behörden haben, die ne-beneinander her kontrollieren. Der Gesetzgeber sprichtlediglich davon, dass sie die Informationen austauschensollen. Wenn also eine Behörde Missstände festgestellthat, die nicht in ihre Kompetenz fallen, dann muss sieselbst entscheiden, ob sie der zuständigen Behörde Be-scheid sagt oder nicht. Das führt in der Regel dazu, dassnicht Bescheid gesagt wird. Der Zustand, dass viele Miss-stände bei Kontrollen aufgedeckt werden, aber nicht andie zuständige Behörde weitergeleitet werden, muss be-endet werden. Wir brauchen eine Verknüpfung der Kom-petenzen. Die zuständigen Vollzugsbehörden müssen zurZusammenarbeit verbindlich veranlasst werden.
Wir müssen bestehende Gesetze wie das Arbeitneh-merentsendegesetz integrieren; wir müssen die Zusam-menarbeit der Behörden auch in dieser Frage besser ko-ordinieren. Es kann ja nicht sein, dass ein Steuerbeamter,der ein Unternehmen prüft und der dabei eine illegale Be-schäftigung feststellt, sich nicht zuständig fühlt – er denktsich vielleicht: Es ist Freitag, 13 Uhr, jetzt müsste ich ei-gentlich noch einen Bericht schreiben und diesen denKollegen in der zuständigen Behörde schicken; das mussich aber nicht unbedingt tun – und dementsprechend dieInformation nicht weitergibt. Ich bin dem Beamten garnicht böse, wenn er so denkt; denn der Bericht könnte jaumfangreich ausfallen und der Vorgesetzte könnte nach-fragen. Wir müssen davon wegkommen, dass es auf Frei-willigkeit beruht, Verstöße gegen Gesetze den zuständi-gen Behörden zu melden. Wir müssen vielmehr dafürsorgen, dass dies verbindlich geschieht.Einen weiteren Punkt halte ich ebenfalls für sehr wich-tig. Hinsichtlich der Hinterziehung von Sozialversiche-rungsbeiträgen – ich habe diesen Punkt vorhin schonangesprochen – gibt es noch ein ganz besonderes Pro-blem. Wenn sich Menschen, die hier illegal beschäftigtwerden, dem Zugriff durch Flucht über die Grenze ent-ziehen können, dann haben wir keine Chance mehr, sie zubelangen. Im Sozialversicherungsbereich gibt es nämlichnur ein entsprechendes Abkommen mit Österreich. Mit al-len anderen Ländern wäre es aber durchaus möglich.
Herr Kollege,
ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie Ihre Redezeit er-
heblich überzogen haben.
Ich komme sofort zum
Schluss. – Diejenigen, die sich als Schlepper betätigen
– ich will sie einmal als Lumpenpack bezeichnen –, sind
durchaus in der Lage, über die Grenze zu entkommen.
Wir können ihrer dann nicht mehr habhaft werden.
Wir brauchen eine Ausweitung des dinglichen Arres-
tes. Das versetzt uns zumindest in die Lage, harte Maß-
nahmen zu ergreifen, damit diejenigen, die sich auf kri-
minelle Weise in unserem Land betätigen, zur
Rechenschaft gezogen werden.
Es gäbe noch viel zu sagen, auch auf das, was Sie ge-
rade völlig falsch einwerfen, aber meine Redezeit ist lei-
der zu Ende. Ich hoffe, wir werden die Schwarzarbeit und
die Illegalität erfolgreich bekämpfen.
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5270 und 14/5245 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ein-
verstanden? – Dann verfahren wir so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy,
Dr. Klaus W. Lippold , weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Konzept für die zukünftige Finanzierung der
Bundesverkehrswege
– Drucksache 14/5317 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-
spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Eduard Oswald.
Frau Präsidentin!Meine Kolleginnen und Kollegen! Leistungsfähige Ver-kehrswege sind die Grundvoraussetzung für ein Ver-kehrssystem, das in der Lage sein muss, auch künftigenVerkehrszuwachs reibungslos, sicher und umweltscho-nend zu bewältigen. Ganz sicher sind wir gemeinsam derMeinung, dass die Qualität unseres Verkehrssystems auch
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Klaus Wiesehügel15292
in den kommenden Jahrzehnten ein maßgeblicher Faktorfür Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum sein wird.Wir müssen jetzt die notwendigen Weichen stellen, damitErhalt sowie Aus- und Neubau der Verkehrsinfrastrukturin unserem Land auch in der Zukunft auf einer ökono-misch und ökologisch tragfähigen Basis den steigendenMobilitätsansprüchen von Gesellschaft und Wirt-schaft gerecht werden.
Gemeinsam wissen wir, dass sich die Haushaltsfinan-zierung in mancherlei Hinsicht als investitionshemmenderwiesen hat. Mit dem vorgelegten Bericht der Kom-mission „Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ sindkonkrete Empfehlungen für die künftige Finanzierung derVerkehrswege erarbeitet worden. Mein Dank gilt demVorsitzenden der Kommission, Dr.Wilhelm Pällmann, fürseine Offenheit und seinen Mut zur Klarheit, die sich indem in dieser schwierigen Situation unter seiner Verant-wortung entstandenen Bericht widerspiegeln.Nach unserer Auffassung sind die Empfehlungen derKommission eine gute und geeignete Grundlage für dienotwendigen weiteren Beratungen und für unsere ge-meinsame Suche nach neuen, zukunftsorientiertenFinanzierungsmöglichkeiten für die Bundesverkehrs-wege. Es geht natürlich nicht, dass man sich nur einzelnePunkte, die einem möglicherweise politisch gefallen, ausdem Bericht herausholt und diese dann realisiert, ohne dasGesamtpaket einer intensiven Diskussion zu unterziehen.Den Bericht nur als Argumentationshilfe für die Höhe derLKW-Maut zu nutzen, wäre der falsche Weg. Wir wollenerreichen, dass Sie auf der Grundlage des Berichtes einKonzept für eine zukunftsorientierte Gestaltung der Ver-kehrsinfrastrukturinvestitionen vorlegen.
Dies ist deswegen so notwendig, weil sich der Verkehrin erheblichem Maße anders entwickelt hat, als dies derBundesverkehrswegeplan prognostiziert:Erstens. Insbesondere die schnelle Entwicklung nachder Öffnung zu den mittel- und osteuropäischen Nachbar-staaten hat im Personen- und vor allem im Güterverkehrzu beträchtlichen Veränderungen gegenüber den bisheri-gen Voraussetzungen geführt.Zweitens. Der Straßengüterverkehr hat überproportio-nal zugenommen.Drittens. Der Schienengüterverkehr liegt dagegen nurbei der Hälfte des vorausgesagten Wertes.Aus der Erkenntnis, dass die Schiene weiter Anteile andie Straße verlieren wird, sind die verkehrs- und umwelt-politisch notwendigen Folgerungen zu ziehen. Für uns giltunverändert, dass Eisenbahnen und Binnenschifffahrtin unserem Verkehrssystem auch zukünftig unverzichtbarsind. Sie müssen aber in Zukunft mehr als nur eine Er-gänzungsfunktion erfüllen. Sie müssen ihre sys-temtypischen Stärken besser zur Geltung bringen und wirmüssen sie dabei weiter in besonderer Weise unterstützen.Wenn die Kommission betont, dass es nach ihrer Über-zeugung nicht nur darum gehen kann, nach zusätzlichenMöglichkeiten der Mobilisierung privaten Kapitals fürdie Finanzierung der Bundesverkehrswege zu suchen,dann ist dies richtig. Die Kommission hat für die zukünf-tige Finanzierung der Bundesverkehrswege daher weitergehende Überlegungen angestellt. Dazu gehören erstenseine Umstellung auf Nutzerfinanzierung, zweitens dieAnwendung des Verursacherprinzips, drittens die Aus-gliederung der Bundesverkehrswege aus der Bundesver-waltung, viertens eine Überprüfung der Abgrenzung derBundesverkehrswege, fünftens die Erweiterung der Mög-lichkeiten der Privatfinanzierung und sechstens die Betei-ligung Dritter an der Finanzierung der Bundesverkehrs-wege.Weil wir in die Infrastruktur investieren müssen, müs-sen wir auch neue Wege gehen. Es geht um unseren Wirt-schaftsstandort, es geht um Ökologie und es geht auch umunsere individuellen Bewegungsmöglichkeiten sowie umdie Verkehrssicherheit. Wir fordern Sie also auf, ein Kon-zept vorzulegen. Dies ist Ihre Aufgabe, Herr KollegeSchmidt. Ihren Zwischenruf habe ich sehr wohl aufge-nommen. Es ist Aufgabe der Regierung, nicht Aufgabeder Opposition, auf der Grundlage des Kommissionsbe-richts ein Konzept zu erstellen und diesem Hause vorzu-legen. Das ist unsere unmissverständliche Forderung. Siekönnen sich hier nicht aus der Verantwortung heraussteh-len.
– Es ist ja gut, wenn es jetzt ein bisschen lebhaft wird. DieUnruhe zeigt mir nur, dass Sie in einigen Punkten einschlechtes Gewissen haben. Anders kann man diese Un-ruhe überhaupt nicht werten.
Für ein solches Konzept gilt Folgendes:Erstens. Die verkehrspolitischen Probleme in unseremLande dulden keinen Aufschub.Zweitens. Legen Sie Ihre Positionen auf den Tisch. DieVerkehrsinfrastruktur braucht den Aus- und Neubau undnicht Erklärungen.Drittens. Treffen Sie Entscheidungen in der Frage derTrennung von Netz und Betrieb bei der Bahn.Viertens. Sagen Sie den Speditionen, was auf sie zu-kommt, mit welcher Mauthöhe sie zu rechnen haben undwie die Kompensation aussieht. Schieben Sie diesesThema nicht vor sich her.Der Pällmann-Bericht ist eine große Chance, die Ver-kehrsinfrastruktur nach vorne zu bringen. Wir sind hiergern zur Zusammenarbeit bereit.
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Eduard Oswald15293
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis.
Frau Präsidentin!Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Antrag, der künftigeFinanzierungskonzepte für Bundesverkehrswege ver-heißt, klingt auf jeden Fall interessant. Er klingt nicht nurnach viel Geld, sondern ist auch millionenschwer. Umsoenttäuschender ist es, wenn der vorliegende Antrag derCDU/CSU diesem Anspruch nicht gerecht wird. Wir kön-nen in ihm nicht einen einzigen Anflug eines eigenen Ge-dankens erkennen, wohin ein solches künftiges Finanzie-rungskonzept nach Meinung der CDU/CSU-Fraktiongehen könnte.
Es gibt keinen Hinweis darauf, mit welchen Kriteriendie CDU/CSU-Fraktion an die Prüfung eines solchenKonzeptes herangehen würde. Dabei gibt es dafür Stoffgenug. Vor einem halben Jahr hat die Pällmann-Kom-mission, deren Bericht unser Ausschussvorsitzender ebenvorgestellt hat, neue Vorschläge zur Finanzierung vonBundesverkehrswegen gemacht. Sie folgte damit einerEinladung unseres ehemaligen BundesverkehrsministersMüntefering, der früh erkannt hatte, dass die vorige Bun-desregierung im Verkehrshaushalt Schlaglöcher in Mil-lionenhöhe – bei Löchern muss man eigentlich „Tiefe“ sa-gen – hinterlassen hatte,
die aus normalen Haushaltsmitteln nicht zu stopfen sind.Die Pällmann-Kommission hat nach erstaunlich kurzerZeit mutige Vorschläge mit zum Teil auch spektakulärenAuswirkungen gemacht. Diese Feststellung ist keine Kri-tik von mir; es ist das gute Recht einer jeden Experten-kommission, ja, es ist ihre Aufgabe, sich auch mit radika-len Vorschlägen zu Wort zu melden. Es ist aber auch dasgute Recht und die Aufgabe der Politiker, eine sorgfältigeAuswahl zu treffen, welche dieser Vorschläge weiterver-folgt werden sollen und können, welche sinnvoll umge-setzt werden können und welche eher als abwegig er-scheinen. Der Antrag der CDU/CSU, der nichts von einersolchen Differenzierung enthält, ist als bloße Aufforde-rung zur Auswertung deshalb nach unserer Meinungziemlich überflüssig.
Es ist natürlich auch das gute Recht der Oppositions-parteien, in Sachen Vorschläge Blindekuh zu spielen. Soein Antrag kostet nichts, man kann nichts falsch machen,das ist bequem und es lenkt davon ab, dass die Pällmann-Kommission den ehemaligen Regierungsparteien, derheutigen Opposition, nicht nur Freundlichkeiten insStammbuch geschrieben hat.
Jedenfalls beschreibt die Pällmann-Kommission ausführ-lich die Instandhaltungskrise des Bundesverkehrswege-netzes, die sich seit Beginn der 90er-Jahre mit jährlichenUnterhaltungsrückständen von 7,5 Milliarden DM aufge-baut hat und die Sie zu verantworten haben.
– Hören Sie zu; ich komme auf diesen Einwand noch zusprechen.Aus der Vielzahl der Kommissionsvorschläge und dendortigen Bewertungen möchte ich im Folgenden beispiel-haft einige herausgreifen.Erstens möchte ich gleich auf Ihren Einwurf eingehen.Die Koalitionsparteien haben nämlich bereits Konse-quenzen aus der geschilderten Instandhaltungskrise gezo-gen.
Im laufenden Jahr, also 2001, werden wir die Rekord-summe von 10,8 Milliarden DM in das Straßennetzstecken, und zwar für die Schwerpunkte Engpassbeseiti-gung und Bestandserhaltung.
Zu einer solchen Leistung waren Sie nicht fähig. Wir ma-chen das, ohne dabei die Schiene zu vernachlässigen. Zu-sätzlich gibt es in den nächsten drei Jahren 6 Milliar-den DM für den Schienenausbau.
Das leider heute reparaturanfällige Schienennetz wollenwir mit einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen an die An-forderungen des modernen Personen- und Güterverkehrsanpassen.
Zweitens. Durch das starke Plädoyer von Pällmann fürdie möglichst rasche Einführung einer entfernungsab-hängigen LKW-Gebühr fühlen wir uns kräftig unter-stützt. Wir werden diese LKW-Maut pünktlich zum Jahr2003 einführen und damit in der EU technologisches Neu-land betreten. Eine ganze Reihe von Nachbarstaaten sindinteressiert, sich an diesem System zu beteiligen.Interessant ist nun die Herleitung der von derPällmann-Kommission vorgeschlagenen Gebührenhöhevon 25 Pfennig pro Kilometer. Diese Höhe orientiert sichan den tatsächlichen Wegekosten und bleibt im gängigeneuropäischen Rahmen. Das muss aber nicht das letzteWort sein, denn Sie wissen, dass für die EU-Genehmi-gung der Gebühr eine Wegekostenanalyse erarbeitet wer-den muss, die so von der Kommission nicht vorgelegtwerden konnte. Wir warten gespannt auf die Ergebnissedieser Analyse und die daraus abgeleitete tatsächliche Ge-bührenhöhe.
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Entnehmen Sie bitte diesen Sätzen, dass die Gebührnicht politisch, sondern entsprechend EU-Recht durch dietatsächlichen Wegekosten bestimmt wird. Mehr ist bei al-len Begehrlichkeiten, von denen hier und da zu hören ist,auch gar nicht genehmigungsfähig.
Wir werden aus dem Gebührenaufkommen dann zumBeispiel das Anti-Stau-Programm finanzieren. Wir wer-den Langsamfahrstrecken und Engpässe auf Autobahnen,Schienenwegen und Wasserstraßen beseitigen.
– Für das Anti-Stau-Programm haben wir einen Termin-plan vorgelegt. Diese Frage kann mit Jahreszahl beant-wortet werden.
Drittens. In einem anderen Punkt kann man derPällmann-Kommission nur widersprechen. Eine Reser-vierung der LKW-Maut nur für Investitionen in die Straßeist nicht zwingend. Dies wäre zum Beispiel eine reichlichverkürzte Sicht von Güterverkehrspolitik.
Wir wollen den Güterverkehr auf der Schiene von jetzt biszum Jahre 2015 verdoppeln. Unser Ausschussvorsitzen-der hat die Erreichung dieses Ziels auch als notwendig be-schrieben.
Das geht nur, wenn wir auch mutig in das Schienennetzinvestieren. Generell gilt: Jede Tonne, die zusätzlich aufder Schiene transportiert wird, entlastet die Straße, unddas kann ein effektiverer Mitteleinsatz sein.Viertens. Auch dem Vorschlag einer PKW-Maut wer-den wir nicht folgen. Es hätte mich im Zusammenhangmit diesem Antrag der CDU/CSU-Fraktion schon interes-siert, ob der Vorschlag der Landesregierungen von Baden-Württemberg und Bayern aus dem Jahr 1967,
eine PKW-Maut einzuführen, nun durch die Feststellun-gen der Pällmann-Kommission in den Forderungskatalogder CDU/CSU-Bundestagsfraktion Eingang gefundenhat. Ich denke, dass ist eine für die Öffentlichkeit interes-sante Frage.
Wir wollen das nicht. Aus dem Großversuch auf derA 555 wissen wir, dass eine elektronische Mauterhebungin jedem PKW zur Totalüberwachung eines jeden Auto-fahrers werden würde. Das lehnen wir ab.Wir halten es auch für vernünftig, uns bei der Erhebungder Straßenbenutzungsgebühr auf den Hauptkostenverur-sacher, nämlich den schweren LKW, zu konzentrieren. In-sofern sehen wir auch die generelle Nutzerfinanzierungder Verkehrswege, wie von der Pällmann-Kommissionvorgeschlagen, als problematisch an. Das Prinzip werdenwir aber für den Hauptkostenverursacher übernehmen.Fünftens. Überhaupt sollte man die Vorstellung von derNutzerfinanzierung aller Verkehrswege nicht überstrapa-zieren. Meines Erachtens ist zum Beispiel die Idee von derPrivatisierung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungenreichlich abenteuerlich. Hier sind wirklich Differenzie-rungen angesagt.
Sechstens. Positiv bewerten wir die Vorschläge zurweiteren Anwendung des Fernstraßenbauprivatfinanzie-rungsgesetzes. Dieses dürfte ein sinnvoller Weg sein, umgezielt zusätzliches Kapital außerhalb der Haushalts-finanzierung zu mobilisieren.Siebtens. Was die Bahnstruktur betrifft, so werden wirsehr sorgfältig prüfen, wie das Verhältnis zwischenSchienennetz und -betrieb zukunftsfähig gestaltet wer-den kann. Diese Entscheidung dürfen wir nicht übers Kniebrechen. Es gibt bisher nur schlechte Beispiele für Versu-che dieser Art. Wir haben die Bundesregierung aufgefor-dert, Chancen und Risiken unterschiedlicher Organisati-onsformen umfassend zu bewerten. Dabei werdennatürlich auch die Vorschläge der Pällmann-Kommissioneinzubeziehen sein. Auf der Basis dieser Bewertungenwerden wir als Parlament dann entscheiden müssen. Die-ser Weg ist übrigens nicht spektakulär und neu, sondernschon durch die Bahnreform, die wir gemeinsam be-schlossen haben, so vorgezeichnet.Ich fasse zusammen: Meines Erachtens müssen wir dieGemeinwohlverpflichtung sehr ernst nehmen. Das heißt,die Infrastrukturverantwortung für das gesamte Verkehrs-wegenetz muss bei den politisch Verantwortlichen blei-ben. Dies ist die Voraussetzung für eine Infrastruktur auseinem Guss. Die Entscheidungen über die Struktur derVerkehrswege, über die Mittelverteilung, über den Aus-baustandard aller Verkehrswege und über regionaleSchwerpunkte gehören in staatliche Verantwortung.
Ansonsten werden wir unser Ziel, das integrierte Ver-kehrsnetz, in dem alle Verkehrsträger entsprechend ihrenjeweiligen Vorzügen aufeinander bezogen sind, nicht er-reichen.Die Vorschläge der Pällmann-Kommission zur künfti-gen Finanzierung der Bundesverkehrswege sind einaußerordentlich interessanter Beitrag in der politischenMeinungsbildung. Ich freue mich schon auf die Diskus-sion mit dem Vorsitzenden der Kommission, der in derkommenden Woche Gast im Ausschuss für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen sein wird. Es wird auch eine sehrspannende Aufgabe sein, in der parlamentarischen Arbeitzielstrebig Schlussfolgerungen und Konsequenzen zu zie-hen.Ich habe dargelegt, in welcher Richtung wir von vorn-herein für diese Vorschläge offen und bei welchen
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Reinhard Weis
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Akzenten wir eher skeptisch sind. Auf jeden Fall werdenwir uns – dies hätten wir auch ohne Ihren Antrag getan –vorurteilsfrei mit den Aussagen der Kommission be-schäftigen. Von dieser Stelle aus richte ich deshalb einenherzlichen Dank an die Kommission für ihre umfassendeArbeit und die Grundlagen, die sie uns dadurch gegebenhat.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol-lege Weis, wenn ich Ihren Schlusssatz, dass Sie sich vor-urteilsfrei mit dem befassen, was Herr Pällmann und seineKommission vorgelegt haben, als Maßstab nehme und dasRevue passieren lasse, was Sie in Ihrer Rede gesagt ha-ben, dann stelle ich im Ergebnis fest, dass Sie sich mitHerrn Pällmann nur in der Höhe der entfernungsbezoge-nen Maut für LKW identifizieren. Alles andere haben Siein Ihrer Rede eigentlich bereits im Vorfeld abgelehnt.
Das Schlimme daran ist: Die Verkehrsinfrastruktur inDeutschland hätte tatsächlich etwas Besseres verdient,nämlich dass man sich mit dem, was die Pällmann-Kom-mission vorschlägt, intensiv befasst.
Dass die F.D.P. diejenige Fraktion ist, die mit diesen Vor-schlägen die wenigsten Probleme hat, überrascht eigent-lich niemanden.
Denn bereits vor Einsetzung der Pällmann-Kommissionhaben wir das angesprochen, was jetzt die Union in ihremAntrag fordert.Unser Programm „Straßenbau statt Autostau“ bein-haltet im Wesentlichen genau die Elemente, die auchPällmann für wichtig erachtet. Überraschenderweise ist esvon Ihnen abgelehnt worden. – Sie wollten ja vorurteils-frei prüfen! – Bezeichnenderweise hat auch die Uniondieses Programm, das wir im Rahmen eines Antrages ein-gebracht haben, nicht mitgetragen. Dazu komme ich abernoch später.In einem Land, in dem zwei Drittel des gesamtenEU-Verkehrs stattfinden, in dem sich das Verkehrsauf-kommen seit 1960 um 900 Prozent erhöht hat, währendder Verkehrsinfrastrukturausbau lediglich um 50 Prozentzugenommen hat, sollte man eigentlich erkennen, dass dieklassische Form der Haushaltsfinanzierung offensichtlichan Grenzen gestoßen ist.
Die Segnungen einer zusätzlichen Finanzierung durch dieErlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen unddurch Privatisierungen, die Sie eigentlich gar nicht mit-getragen haben und deren Erfolge Sie jetzt verwerten,
sind einmalig und können nicht auf Dauer eingerechnetwerden. Ich bin gespannt, was in den Haushaltsansätzendes Jahres 2002, die keine UMTS-Lizenzerlöse mehrenthalten, steht.Eines, Herr Kollege Schmidt, ist absehbar: Die ersteRate von 2 Milliarden DM, die die Bahn erhält, ist in die-sem Jahr wahrscheinlich nicht verwendbar. Es ist ein of-fenes Geheimnis, dass frühestens im Herbst dieses Jahresmit Ausschreibungen begonnen werden kann.
Schauen wir also einmal, wie es weitergeht.
Auch im letzten Jahr hat die Bahn 1,1 Milliarden DMnicht verbauen können. Ich bin auf die weitere Entwick-lung gespannt.Als der Antrag mit der Überschrift „Konzept für diezukünftige Finanzierung der Bundesverkehrswege“ vonder Union vorgelegt wurde, dachte ich, man könne dorterfahren, welche Vorstellungen die Union hat.
Ich bin schon einigermaßen erstaunt, dass Sie lediglichdarstellen, was Herr Pällmann vorgeschlagen hat, und dieBundesregierung auffordern, ein Konzept vorzulegen. In-teressant wäre zu erfahren, welche Vorstellungen Sieselbst haben.
Denn es hilft natürlich nicht, zu verlangen, es müsse sichetwas ändern, aber selbst nicht zu sagen, was man poli-tisch mitträgt.Wir sind da ein bisschen weiter. Wir haben Anträge zuden entscheidenden Verkehrsträgern vorgelegt. Wir tra-gen die Ergebnisse der Pällmann-Kommission mit.
Wir sind für eine tatsächliche Umstellung der Finanzie-rung – und das, Herr Kollege Weis, ohne dass die hoheit-lichen Aufgaben dem Staat abgenommen werden. Wirwollen – auch das ist eine klare Aussage; das will ich hierwiederholen, damit das nicht untergeht – die Privatfinan-
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Reinhard Weis
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zierung nicht auf die jetzige Belastung der Autofahrerdraufsetzen. Es muss zu einer Gesamtlösung kommen,mit der die bisherigen Belastungen reduziert werden unddie Finanzierung umgestellt wird. Eine Lösung in derForm, dass diese Finanzierung zusätzlich auf den deut-schen Autofahrer umgelegt wird, tragen wir nicht mit. Da-rüber müssen wir ernsthaft diskutieren.
Zum Abschluss möchte ich feststellen: Der Bericht derKommission hat mehr verdient als lediglich das Führeneiner Diskussion über das enge Fenster, wie eine LKW-Gebühr ausgestaltet sein kann und wie hoch sie seinmüsste. In diesem Bericht sind sehr viele bedenkenswerteAnsätze enthalten, die wir gezwungenermaßen umsetzensollten, wenn wir bei der Verkehrsinfrastruktur nicht an-dauernd den Entwicklungen hinterherlaufen wollen, son-dern endlich auch einmal in der Lage sein wollen, vo-rausschauend zu planen. Dabei geht es selbstverständlichauch um das immer größer werdende Problem des Erhaltsder Infrastruktur.Insofern freue ich mich auf die offene Diskussion überden Bericht der Kommission. Ich bin allerdings gespannt,was die Union selbst nach dieser Diskussion politisch willund erklärt.
Das würde mich schon interessieren. Der vorliegende An-trag hilft uns in der jetzigen Situation nicht weiter.Danke sehr.
Jetzt hat derKollege Albert Schmidt das Wort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eines vorweg: Die Koalition hat es nicht nötig,über Finanzkonzepte im Verkehrswegebau ausgerechnetvon denen belehrt zu werden, die über Jahre die Ver-kehrsinvestitionen zusammengestrichen bzw. gekürzt ha-ben.
Ich kann es Ihnen als Einstieg nicht ersparen, einigeZahlen zu nennen:Die Investitionen im Straßenbau betrugen 1998 un-ter Waigel und Wissmann 8,5 Milliarden DM. Heute sindes 9,1 Milliarden DM und 2003, wenn das Anti-Stau-Pro-gramm greift, werden es 9,6 Milliarden DM sein. Das isteine Steigerung um 1,1 Milliarden DM innerhalb von vierJahren.
Wenn Sie das nur ein einziges Mal geschafft hätten, hät-ten Sie sich die Finger geleckt.Die Bahninvestitionen betrugen 1998, als wir die Re-gierung übernommen haben, nur noch 5,8Milliarden DM.Heute sind es 8,8 Milliarden DM und im Jahr 2003, wenndas Anti-Stau-Programm greift, werden es 9,2 Milliar-den DM, zusammen mit den Schieneninvestitionen nachdem GVFG sogar 9,7 Milliarden DM sein. Das heißt, wirhaben innerhalb von drei Jahren die Schieneninvestitio-nen real um über 50 Prozent gesteigert. Davon konntenSie nur träumen.
Wir haben mit dem Anti-Stau-Programm und mit demZukunftsinvestitionsprogramm durchfinanzierte Infra-strukturprogramme aufgelegt, und dies – das ist der ent-scheidende Punkt – trotz Sparhaushalten, bei gleichzeiti-ger Steuersenkung und gleichzeitigem Schuldenabbau.Das ist der eigentliche qualitative Unterschied zwischenIhrer und unserer Politik.
Dennoch steckt hinter Ihrem Antrag ein ernstes Anlie-gen; das will ich gar nicht in Abrede stellen.
– Verehrter Herr Kollege Oswald, ich habe Ihren Antragmit Interesse gelesen und darin gesucht, was die Unionnun eigentlich will. Ich habe sogar auf der Rückseitenachgeschaut. Auf der Rückseite stand es auch nicht. Siereferieren nur, was wir alle schon im Bericht derPällmann-Kommission lesen konnten. Wo steht denn ei-gentlich, was Sie wollen? Worauf wollen Sie hinaus? Esist doch billig, nur das abzuschreiben, was Pällmann vielbesser dargelegt hat. Ein bisschen Oppositionsseriositätwünsche ich mir schon.
Der Kern Ihres Anliegens ist doch folgender – das müs-sen wir alle gemeinsam feststellen –: Erstens. Wir habenes mit erheblichen Investitionsrückständen, mit einem In-vestitionsnachholbedarf zu tun, und zwar insbesondereim Schienennetz. Ich glaube, das ist unstrittig. Zweitensgibt es unabweisbare Sparzwänge in allen öffentlichenHaushalten, von den kommunalen Haushalten bis zumBundeshaushalt. Drittens haben wir zunehmend höhereKosten für die bloße Instandhaltung von Verkehrswe-gen – das gilt gleichermaßen für Straße wie für Schiene –,
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schon allein dadurch, dass wir große Verkehrsnetze habenund dass Kunstbauwerke wie Tunnel und Brücken all-mählich in ein kritisches Alter kommen und sanierungs-bedürftig werden. Das heißt, wir stehen vor der Situation,trotz der Verknappung öffentlicher Mittel den erhöhtenAnsprüchen für die Unterhaltung von Verkehrswegen ge-recht werden zu müssen. Vor diesem Hintergrund hat derBundesverkehrsminister der Pällmann-Kommission denAuftrag erteilt, einmal zu prüfen, inwieweit andere Fi-nanzierungsmodelle geeignet sind, dieses Dilemma auf-zulösen.Die Grundidee der Pällmann-Kommission ist doch, zu-mindest bei der Unterhaltung der Verkehrswege schritt-weise von der Steuerfinanzierung auf eine Nutzerfinan-zierung überzugehen. Dieser Kerngedanke ist richtig,
und zwar deshalb – dazu bekennen wir uns im Gegensatzzu Ihnen, Herr Oswald – weil es ein verursachergerechterAnsatz ist. Wir werden ab 2003 die LKW-Maut entfer-nungs- und gewichtsbezogen einführen, um die verursa-chergerechte Anlastung der Wegekosten im Verhältnis 1:1umzusetzen.
Das ist auch deshalb notwendig, weil wir faktisch schoneine Schienenmaut haben; denn schon heute wird für je-den Güterzug Kilometer für Kilometer ein Trassenpreisbezahlt. Diese Schieflage müssen wir beseitigen.Zum Thema „LKW-Maut“ füge ich hinzu, dass wirGrünen davon ausgehen, dass in einem zweiten Schrittauch im nachgeordneten Straßennetz diese Gebühren-pflicht bestehen muss;
denn wir wollen keine Verdrängung von der gebühren-pflichtigen Autobahn auf die gebührenfreie Bundesstraßeund Ortsdurchfahrt. Das kann letztlich nicht die Perspek-tive sein.
Nun zur PKW-Maut.Auch um dieses Thema drückenSie sich herum, Herr Kollege Oswald. Was ist denn mitder PKW-Maut? Wiesheu sagt es heute so, Waigel sagtefrüher etwas anderes. Was sagt Oswald?
Die PKW-Maut ist nach Auffassung von Bündnis 90/DieGrünen vom Prinzip her ein richtiger Ansatz; aber es gibtaus unserer Sicht eine Reihe ungeklärter, offener Fragen:Die technische Funktionsfähigkeit eines solchen Systemsist aus unserer Sicht nicht ausreichend erprobt. Es gibtauch noch Datenschutzprobleme. Ich jedenfalls möchtenicht, dass Bewegungsprofile eines gläsernen Autofahrerserstellt werden, die nachher missbräuchlich genutzt wer-den könnten.
Aber wenn irgendwann – nicht in nächster Zeit – eineNutzerfinanzierung des Autobahnnetzes auch für PKWPlatz greifen soll, dann geht das nach unserer Einschät-zung nur unter zwei Bedingungen – beide Bedingungenhat übrigens auch die Pällmann-Kommission formuliert –:Erstens. Die Planungshoheit, also die Entscheidungs-gewalt darüber, wer wo Straßen baut und welche Straßenvorrangig zu realisieren sind, muss ebenso wie das Ei-gentum in öffentlicher Hand bleiben.
– Da sind wir uns einig, wunderbar. – Das bedeutet, dassdie Entscheidungsbefugnis über Aus- und Neubau vonStraßen ebenso wie das Eigentum dauerhaft in öffentli-cher Hand bleiben sollen.Zweitens. Die Gesamtbelastung für den Autofahrerdarf sich unterm Strich nicht erhöhen.
Auch das hat die Pällmann-Kommission mit Recht fest-gehalten. Man müsste dann an anderer Stelle, etwa bei denVerkehrsteuern, nachgeben.
Es darf unterm Strich zu keiner Mehrbelastung für denPKW-Fahrer kommen.Das heißt, dass nach unserer Einschätzung das Zu-kunftsmodell ein Mischsystem aus öffentlicher Zustän-digkeit und privater Refinanzierung in Bezug auf die Un-terhaltung dieser Verkehrswege ist.
Dies setzt eine klare Aufgabenverteilung voraus: Ei-gentümer, Aufgabenträger ist die öffentliche Hand. Siehat auch die Planungshoheit. Die Infrastrukturgesell-schaften könnten hingegen Aufgabenmanager sein, diedie Infrastruktur unterhalten, bewirtschaften und Maß-nahmen umsetzen.Zu Ende gedacht, muss am Ende natürlich auch für dieSchiene ein vergleichbares Modell kommen.
Es ist nicht notwendig, noch zusätzliche Gründe anzu-führen. Natürlich ist auch bei der Bahn eine bilanzielleund unternehmerische Entflechtung von Netz und Betriebin puncto diskriminierungsfreier Wettbewerb besser.
Natürlich ist es auch besser für die Bilanz eines Unter-nehmens, wenn die öffentliche Infrastruktur nicht brutaldem Diktat der Eigenwirtschaftlichkeit unterworfen wird,was wir heute bei der Schiene faktisch tun, bei der Straße
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aber nicht. Das kann nicht aufgehen. Diese Asymmetriemuss über kurz oder lang beseitigt werden.Ich freue mich auf eine qualifizierte und lebhafte Be-ratung der, wie ich finde, nicht nur höchst interessanten,sondern wegweisenden Vorschläge der Pällmann-Kom-mission. Wir sollten dieses Gutachten nicht in den Pa-pierkorb werfen, sonst müssen wir es eines Tages mit denZähnen wieder herausholen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.
Werte Präsidentin! Werte
Kolleginnen! Werte Kollegen! Ich glaube, man kann sa-
gen, dass wir momentan einen Wettstreit darüber erleben,
wie weiße Salbe in den parlamentarischen Betrieb einge-
bracht werden kann. Wir haben dies gestern Abend beim
Thema Euro-Führerschein erlebt und erleben es heute bei
dem Antrag für ein „Konzept für die zukünftige Finanzie-
rung der Bundesverkehrswege“. Hier wird referiert, was
die Pällmann-Kommission sagte. Wir werden aufgefor-
dert, das zu tun, was sie sagt, was im Prinzip auch die
Bundesregierung sagt, tun zu wollen. Wir können hier
eine Art pikfeine Volksfront erreichen nach dem Motto:
Alle sind einverstanden, aber nichts passiert.
Ich glaube, dass wir tiefer ansetzen müssen, und zwar
bei der Geschichte, bei den realen Kosten und bei dem
Thema „Markt und Plan“.
Erstens zur Geschichte. Ich glaube, dass die einzelnen
Verkehrsträger extrem ungleiche Ausgangsbedingungen
haben. Die Eisenbahn hat zunächst 130 Jahre lang Ge-
winne gemacht. Verkehrswege und Betrieb waren dabei
immer vereint und die Gewinne wurden abgeschöpft. In
den letzten 40 Jahren hat die Bahn Verluste gemacht, wo-
hingegen die anderen Verkehrsträger stark subventioniert
wurden. Umgekehrt waren Straßen, Wasserwege und
Flughäfen immer staatlich. Über 100 Jahre lang wurde
dort immer hineingebuttert. Jetzt sind sie vielleicht unter
ganz bestimmten Bedingungen gewinnbringend. Diese
Unterschiede wären anzurechnen.
Zweitens zu den realen Kosten. CDU/CSU und die
Pällmann-Kommission sagen, dass man auf eine Nutzer-
finanzierung und auf das Verursacherprinzip umstellen
soll. Die Frage ist nur, was dabei mit einbezogen wird.
Dazu ein Zitat:
Als Faustregel für den Straßenfraß durch LKW gilt
das Gesetz der vierten Potenz. Danach zerstört ein
einziger LKW mit 40 Tonnen und zehn Rädern so
viel Straßenbelag wie 163 840 vierrädrige Mittel-
klassewagen von je 1 Tonne Gewicht.
Cambridge University, 1990. – Ist dies sowie die Frage
der Umweltzerstörung durch Flugverkehr konkret einge-
rechnet? Sind die 2MilliardenDM an Steuersubventionen
für den A 380 eingerechnet?
Drittens: Markt und Plan. Pällmann und die
CDU/CSU sind der Auffassung, dass die Verkehrswege
aus der Bundesverwaltung generell ausgegliedert werden
und sich selbst finanzieren sollten. Das klingt gut. Die
PDS ist grundsätzlich dafür. Aber: Soll dies ohne jede
Vorgabe, ohne jede Planung und ohne jegliche Priorität
stattfinden? Dabei frage ich mich: Was bedeutet das zum
Beispiel in Bezug auf die Wasserwege? Der Rhein-Main-
Donau-Kanal – Ihre wunderschöne Landschaft in Bayern,
Herr Kollege Oswald – läuft sozusagen aus, wenn Sie ihn
an die Börse bringen. Sie sagen, die Verkehrswege sollen
sich selbst finanzieren. Aber wenn 95 Prozent des Rhein-
Main-Donau-Kanals subventioniert werden, dann wissen
wir, dass nur 5 Prozent durch den Verkehr gedeckt wer-
den. Wollen wir das? Im Interesse der Freunde der
Binnenschifffahrt im Parlament sage ich: Trotz dieser
Kosten soll die Binnenschifffahrt insgesamt erhalten blei-
ben, weil sie zum größten Teil umweltfreundlich ist.
Zum Schluss: Sozialismus, ja oder nein? Ein bisschen
Planung muss sein, bei Verkehrswegen sogar sehr viel
Planung. Dies muss, Kollege Oswald, aus Verantwortung
gegenüber folgenden Generationen, aus umweltpoliti-
scher Sicht und für die Grundvorsorge geschehen. Ich bin
für schwarzen Sozialismus, wie uns vorgestern der Tenor
aus Bayreuth, der Kollege Friedrich, mit Blick auf den In-
terregio-Antrag von Bayern und Baden-Württemberg ge-
sagt hat. Es kann sinnvoll sein, schwarzen Sozialismus
anzuwenden, wenn „schwarz“ „konservativ“ meint, und
zwar im ursprünglichen Sinne von „conservare“, natur-
erhaltend, und damit eine lebenswerte Umwelt erhaltend.
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer.
Frau Präsiden-tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der deut-sche Autofahrer steht im Stau. Der Bahnkunde wartet vielzu oft auf unpünktliche Züge. Tiefe Schlaglöcher und einmarodes Schienennetz bergen erhebliche Sicherheitsrisi-ken.
Im Luftverkehr werden die Kapazitäten knapp. AufDeutschlands Rollfeldern droht der Kollaps. Auch der de-solate Zustand unserer Kanäle, insbesondere in den neuenBundesländern, ist besorgniserregend.
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Die Koalition versucht, statt als Regierung zu handeln,mit der Vergangenheit zu argumentieren und uns Vor-würfe zu machen.
Das ist völlig unbegründet, weil Sie, gemessen am Haus-halt 1998 und der mittelfristigen Finanzplanung des Fi-nanzministers Waigel und des VerkehrsministersWissmann, die Investitionen 1999 massiv – auch mittel-fristig – zurückgefahren haben.
Nachdem Sie die Mittel für den Straßenbau bei der mit-telfristigen Finanzplanung um 5 Milliarden gekürzt ha-ben, versuchen Sie jetzt den Trick, durch eine kleine Er-höhung prozentuale Zuwächse zu suggerieren, die es garnicht gibt. Das Niveau ist gegenüber 1998 dramatisch ab-gefallen.
Herr Schmidt, ich habe Ihnen das Zahlenwerk schondrei- oder viermal vorgetragen.
Ich habe keine Lust, dies am Freitagmorgen ein weiteresMal zu tun, um das, was ich eben gesagt habe, zu belegen.Das Niveau der Investitionen ist gesunken. Deswegen hatdas Infrastruktursystem in Deutschland mit der jetzigen,rot-grünen Koalition qualitativ einen deutlichen Abstiegerfahren. Das muss man zur Kenntnis nehmen.
Wenn Sie, Herr Schmidt, zu verantwortlichem Han-deln unfähig sind, dann bedeutet dies in einer Demokra-tie: Wenn ich meine Aufgabe nicht richtig erfüllen kann,gebe ich das Mandat an den Wähler zurück. In dem Fallmüssen dann andere her, die es besser machen.
Die Schwachstellen sind vielfältig. Die Behandlungdieser Probleme aber ist für unser Land und für Europarichtungsweisend. Deutschland und Europa braucheneine leistungsfähige Infrastruktur;
denn nur gut ausgebaute Verkehrswege, die eine gut ver-netzte, zuverlässige und kostengünstige Mobilität vonPersonen und Gütern ermöglichen, stärken den Standortim internationalen Wettbewerb. Investitionen in dieVerkehrsinfrastruktur sind Investitionen in die Wirtschaftmit positiven Impulsen für den Arbeitsmarkt; denn wirwissen, dass jeder fünfte Arbeitsplatz direkt oder indirektvon der Verkehrswirtschaft in unserem Lande abhängigist.
Diese Bundesregierung stochert aber völlig orientie-rungslos im Nebel herum.
Der Beitrag vom Kollegen Schmidt hat dies deutlich ge-macht.
Er hat nichts zur Zukunft, zu Konzeptionen, Entscheidun-gen oder Tatsachen gesagt,
sondern er hat im Grunde genommen eine wüste Ankla-gerede gehalten. Aber eine Regierungskonzeption war inkeinem Satz Ihrer Ausführungen erkennbar.
Herr Schmidt, statt ein schlüssiges Konzept zur Finan-zierung der Bundesverkehrswege vorzulegen, verstricktsich diese Bundesregierung in immer neuen Ankündigun-gen und Programmen,
bei denen immerhin ein roter Faden zu erkennen ist: Nureinmal vorhandene Mittel werden Land und Leuten inimmer veränderter Verpackung und Benennung als neueInvestitionen verkauft.
Das bedeutet, dass das gleiche Geld das eine Mal so unddas andere Mal so zusammengepackt und mit anderenÜberschriften versehen wird,
um den Leuten weiszumachen, es käme insgesamt mehrGeld. Es kommt aber nicht mehr Geld und das ist dasTraurige an dieser Strategie.
Ihre Strategie setzt nicht auf Sachleistung, sondern aufPropaganda.
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Deswegen ist diese Regierung Schröder nur dabei, ihreverantwortungslosen Kürzungen bei den Investitionen ge-schickt zu verschleiern. Aber eine solche Politik richtetsich selbst.
Es ist Deutschland und Europa eigentlich nur zu wün-schen, dass dieses sehr bald geschieht, damit wir im Ni-veau nicht immer weiter zurückfallen. Denn hinterherwird der Aufholprozess für die künftig Verantwortlichenumso schwieriger zu bewältigen sein.
Wann begreift Rot-Grün, dass nur nachhaltige Lösungendem Problem Rechnung tragen können?
Wir fordern die Bundesregierung auf, den Bundesver-kehrswegeplan zügig zu überarbeiten – das steht dochauch in der Koalitionsvereinbarung – und die Fortschrei-bung mit den entsprechenden Gesetzesänderungen fürden notwendigen Ausbau von Straße und Schiene unsjetzt endlich auf den Tisch zu legen. Die bisherigen ge-setzlichen Grundlagen sind im Jahre 2000 ausgelaufen;entgegen dem gesetzlichen Auftrag schreibt diese Regie-rung das nicht fort und legt dem Parlament das nichtpünktlich vor. Das ist ein übles, gesetzwidriges Verhaltendieser Bundesregierung.
Der Gesetzgeber muss noch in dieser Wahlperiode Ge-legenheit haben, den Menschen im Lande im Hinblick aufdie Wahl 2002 deutlich zu sagen, was Sache ist. Sie wol-len sich aber daran vorbeimogeln.
Nach dem Motto „Immer davon reden, nie daran denken!“wollen Sie die Fantasie der Leute beflügeln, legen demParlament aber nichts vor, sodass der Wähler auch keinedemokratische Kontrolle ausüben kann. Das ist Ihr Um-gang mit den wahlberechtigten Bürgern.
Meine Damen und Herren, Sie müssen das frühzeitigtun. Das Parlament braucht für die Behandlung von etwa7 500 Einzelprojekten eine ausreichende Beratungszeit,die nach früheren Erfahrungen mehrere Monate beträgt.Die Länder brauchen Klarheit für ihre Projekte im Bun-desfernstraßenbau. Die Bahn braucht einen gesichertenPlanungsrahmen,
und zwar etwa bis 2015. Der Luftverkehr muss in denBundesverkehrswegeplan einbezogen werden, um dieKapazitäten der dynamischen Entwicklung am Luftver-kehrsmarkt besser anpassen zu können. Wir haben im Be-reich des Luftverkehrs in den nächsten 10 bis 15 Jahrenein prognostiziertes Wachstum von etwa 5 bis 6 Prozentjährlich. Das ist eine gewaltige Steigerung und damit eineHerausforderung.
Auch für die Binnenschifffahrt ist eine aktuelle objektiveBedarfsermittlung wichtig, um Strukturengpässe in die-sem Sektor beseitigen und den Gütertransport von ande-ren Verkehrsträgern auf die Wasserstraße verlagern zukönnen.Unser Verkehrssystem muss für die Anforderungendes 21. Jahrhunderts ertüchtigt werden. Ohne eine ziel-führende Engpassbeseitigung zu Lande, zu Wasser und inder Luft sind künftige Verkehrszuwächse unbeherrschbar.Die Verweigerung zukunftsorientierter Investitionen be-hindert das Wirtschaftswachstum und vernichtet Arbeits-plätze. Der Wohlstand der Menschen wird gefährdet. Derökonomisch und ökologisch ausgewogene Neu- und Aus-bau der Bundesfernstraßen ist dringend geboten.
In der Zukunft ist die Mineralölsteuer teilweise, die elek-tronische, nutzungsabhängige LKW-Maut vollständigzweckgebunden für den Straßenbau aufzuwenden. DieLeistungsfähigkeit der Schienenwege sichern heißt inWahrheit, Personennah-, Personenfern- und Güterverkehrzumindest in den Ballungsräumen und auf hoch belaste-ten Strecken zu entmischen. Das sind Investitionen, diegetätigt werden müssen.
Die Wachstumsbranche Luftverkehr verlangt zu Recht,die Qualität deutscher Flughäfen den internationalen Er-fordernissen zeitnah anzupassen und Kapazitätsengpässeabzubauen. Die Experten sagen, dass wir in den nächstenzehn Jahren in Deutschland vier interkontfähige Start-und Landebahnen brauchen, um dem Wachstum im Luft-verkehr entsprechen und gerecht werden zu können.
Damit die Binnenschifffahrt mehr als nur eine Ergän-zungsfunktion erfüllen kann, müssen das bestehendeWasserstraßennetz saniert und die Ost-West-Verbindungsowie die Binnenhäfen ausgebaut werden.Zur Bewältigung dieser finanziellen Herausforderun-gen, die man sich einmal verdeutlichen muss, sind diekonkreten Empfehlungen der Pällmann-Kommissioneine solide und hilfreiche Beratungsgrundlage. Wir wer-den das in der nächsten Woche anpacken und die Regie-rung zwingen, Ross und Reiter zu nennen, sich zu den
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Notwendigkeiten zu bekennen und nicht nur mit solchenBerichten zu spielen. Sie sollte sie nutzen und ihre Er-kenntnisse sinnvoll umsetzen.
Die speziellen Lösungskonzepte der Kommission fürdie Bundesfernstraßen, die Bundesschienenwege und dieBundeswasserstraßen entsprechen in vielen grundsätzli-chen Punkten unseren Überzeugungen und unseren frühe-ren Forderungen. Dies betrifft zum Beispiel die Gründungvon Finanzierungs- und Managementgesellschaften fürdie Verkehrswege. Die Ausgliederung der DB Netz AGaus der DB Holding AG – Kollege Horst Friedrich hat diesin einem Zwischenruf angesprochen – bedeutet eine Ver-selbstständigung des Netzes und die Überführung in staat-liche Verantwortung. Das ist eine Voraussetzung für einenungehinderten Wettbewerb im Schienenverkehr. Ich willan dieser Stelle sagen: Wenn der Wechsel von Herrn Vogelzu Herrn Frenzel im Vorsitz des Aufsichtsrates der DB AGdie Absage der DB AG und des Bundesministers Bodewig– entgegen seinem Bekenntnis im Plenum – an eine Tren-nung von Netz und Betrieb bedeutet, dann werden Sie mitIhrer Schienenverkehrspolitik nachhaltig scheitern.
Ich sage Ihnen voraus: Es wird in der Zukunft keine Bör-senfähigkeit der DB Holding AG, zu der noch die Netz AGgehört, geben. Dies wird nach meiner Überzeugung völ-lig unmöglich sein.
Die Erhebung streckenbezogener und belastungsab-hängiger Gebühren für den LKW-Verkehr und die erwei-terte Privatfinanzierung sind ergebnisorientierte Ansätzeund als solche zu begrüßen. Wir fordern die Bundesregie-rung mit unserem Antrag auf, umgehend auf der Grund-lage des Berichtes der Pällmann-Kommission ein brauch-bares langfristiges Konzept für die Finanzierung derBundesverkehrswege vorzulegen.Die Tatsache, dass Bundesverkehrsminister Bodewignicht da ist, obwohl es seiner Pflicht als Bundestagsabge-ordneter und Fachminister entsprechen würde, ist nachunserer Auffassung ein Beweis dafür, dass er mit demThema und mit dem Parlament ausgesprochen desinteres-siert und lax umgeht. Wir werden das als Opposition beijeder sich bietenden Gelegenheit nachhaltig kritisieren.So behandelt man das Parlament nicht.
Ihre Zustimmung zu unserem Antrag wäre ein Be-kenntnis zu einem qualifizierten und qualitativ hochwer-tigen Verkehrssystem, und damit zu wirtschaftlichemWachstum und dauerhaftem Wohlstand in Deutschlandund Europa.
Deshalb müssen Sie zustimmen.
Jetzt erhält der
Abgeordnete Klaus Hasenfratz das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wieman in einer solchen Lautstärke so viel Unsinn erzählenkann. Dazu gehört sicherlich viel Mut.
Ich möchte eines deutlich machen, um einer Legen-denbildung vorzubeugen: Sie sagen, wir hätten den Ver-kehrshaushalt heruntergefahren. Ich nehme einfach maldie alte Gleichung Ihres ehemaligen BundesministersDr. Norbert Blüm, der gefragt hat: Sind 8,7 Milliar-den DM für die Schiene mehr als 6 Milliarden DM? Manbraucht nicht lange nachzurechnen.Sie haben den Schienenhaushalt in Ihrer Zeit auf knapp6 Milliarden DM heruntergefahren.
Wir fahren ihn jetzt kontinuierlich Jahr für Jahr auf insge-samt 8,7 Milliarden DM hoch. Ich weiß nicht, wo Sie indiesem Konzept Luftbuchungen festgestellt haben wollen.
Sie müssen einmal die Konzepte lesen und sich die Pla-nungen vergegenwärtigen.Wir fahren den Straßenhaushalt auf den höchsten Standder letzten zehn Jahre hoch. Davon konnten Sie doch nurträumen. Wir haben mit dem Anti-Stau-Programm einKonzept vorgelegt, das Planungssicherheit gibt. Wir habendaneben das Investitionsprogramm und das ZIP vorgelegt.Ich weiß nicht, warum Sie diese Konzepte nicht lesen.
Sie stellen sich hin und spucken Rotz und Galle, ohne über-haupt – wie Sie das im Ausschuss immer ankündigen – eineVorlage zu haben. Ich weiß nicht, woher Sie den Mut dazunehmen. Das nimmt Ihnen doch kein Mensch mehr ab.
Sie haben während Ihrer Regierungszeit Luftbuchun-gen in den Bundesverkehrswegeplan eingestellt.
Jeder Sachverständige wird Ihnen dokumentarisch bele-gen können, dass der Bundesverkehrswegeplan – – Aber
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ich kenne ja Ihre Antwort schon: Der Bundesverkehrswe-geplan ist kein Investitionsplan.
Aber in Ihrer Planung fehlten 80 Milliarden bis 120 Mil-liarden DM, um die entsprechenden Projekte zu finanzie-ren.
Wenn jemand angesichts dieser Planung von Seriosität,Planungssicherheit und Zukunftssicherheit spricht, dannweiß ich nicht, auf welchem Stern der lebt.
Herr Fischer, wir haben ein Programm vorgelegt, dasder Bauwirtschaft, insbesondere der Straßenbauwirt-schaft, den Ländern und den Kommunen für die ZukunftPlanungssicherheit auf sehr hohem Niveau gibt. Davonkönnen Sie nur träumen. Sie werden sich noch wundern,welche Investitionen die Bundesregierung für die Ver-kehrswege noch möglich machen wird.
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5317 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Marita Sehn, Ina Albowitz, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der F.D.P.
Steuerrecht vereinfachen – Schaumweinsteuer
abschaffen
– Drucksache 14/5337 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat die Abgeord-
nete Marita Sehn das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Die marinen Großmachtsträumesind ausgeträumt. Die preußische Monarchie gibt es nichtmehr. Nur die Sektsteuer hat überlebt. Diese Steuer ist füruns ein Musterbeispiel für die Überlebensfähigkeit vonSteuern. Unterstellt man einmal der Bundesregierung,dass sie keine Flottenpolitik mehr betreiben möchte, dannfragt sich doch jeder: Warum gibt es diese Steuer noch?Haben Sie eine Antwort darauf?
Ich finde es sehr interessant, dass eine Regierung, diesich mit dem Pazifismus schmückt, bei ihrer Mittelbe-schaffung gerne auf die Relikte des preußischen Milita-rismus zurückgreift. Aber wie heißt es doch so schön: Zu-erst kommt das Fressen und dann die Moral!
Was, bitte schön, bezwecken Sie mit der Sektsteuer?Wollen Sie die Leute vom Sektkonsum abhalten, oderwas? – Ich denke, wir alle kennen die Antwort. Wir habendie Sektsteuer,
– Herr Herzog, weil es sie nun einmal gibt und weil sie soeinen schönen, stetigen Finanzfluss in die chronischklammen Kassen von Herrn Eichel bewirkt. Rund 1 Mil-liarde DM, Herr Herzog, sind ja auch alles andere als einPappenstiel. Darüber sind wir uns einig. Aber reicht diesdenn wirklich, um die Existenz dieser Steuer zu rechtfer-tigen? Die Antwort der F.D.P. lautet: Nein! Der Staatsollte den Mut haben, eine Steuer, die sich historisch über-lebt hat und keinerlei Lenkungsfunktion mehr erfüllt,abzuschaffen.
Die F.D.P. hat diese Entwicklung schon immer kritischbeobachtet: Da werden Steuern eingeführt und später,wenn sie sich historisch längst überlebt haben, beibehal-ten. Man braucht ja schließlich das Geld. Der Solidari-tätsbeitrag droht in diesem Sinne zur Sektsteuer der Zu-kunft zu werden. Warum auch abschaffen, wo der Rubeldoch so schön rollt? Aber darf ein demokratischer Staatauf solche fragwürdigen Finanzierungstricks zurückgrei-fen? Die F.D.P. hat schon frühzeitig eine kritische Dis-kussion über den Sinn des Solidaritätsbeitrags gefordert.Wir werden auch in Zukunft genauestens darauf achten,dass Steuern und Abgaben nur dort erhoben werden, woes auch Sinn macht.
Die Bundesregierung rühmt sich ihrer Steuerreform alsgroßen Schritt. Aber warum hat sie denn nicht mit denganzen steuerpolitischen Anachronismen aufgeräumt?Eine Steuerreform, die diesen Namen wirklich verdient,hätte mit diesen Relikten aus der Zeit deutscher Groß-machtsträume aufgeräumt. Die F.D.P. hat sich schon im-mer für eine Vereinfachung unseres Steuersystems ein-gesetzt. Es geht uns bei unserem Antrag auf Abschaffungder Sektsteuer deshalb nicht nur darum, eine überflüssigeSteuer zu beseitigen. Es geht uns um mehr: Wir Liberalensind für Steuerehrlichkeit und für steuerliche Transparenz.Nur ein transparentes und einfaches Steuersystem wird als
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gerecht empfunden. Die Abschaffung einer Steuerart wieder Sektsteuer ist dazu ein – wenn auch kleiner – Beitrag.
Der Staat muss viele Aufgaben übernehmen. Dafürbraucht er entsprechende Finanzmittel. Diese muss er sichbeschaffen. Aber die Beschaffung der Finanzmittel mussfür die Bürger nachvollziehbar sein. Der Staat darf sichder Kontrolle durch die Bürger nicht entziehen. Eine Fi-nanzbeschaffung nach dem Motto „Ein bisschen hier, einbisschen dort und hoffentlich merkt es keiner“ ist demo-kratiefeindlich und unwürdig. Mit welchem Recht fordertder Finanzminister eine Steuermoral bei unseren Bürge-rinnen und Bürgern ein, wenn er sich gleichzeitig gegenden Blick in seine Kassenbücher wehrt?Machen wir uns nichts vor: Steuern werden immer alslästig empfunden. Umso wichtiger ist es deshalb, dass derBürger auch weiß, wofür er an welcher Stelle Steuern be-zahlen muss.Die Abschaffung der Sektsteuer wäre immerhin ein ers-tes Signal an die Bürgerinnen und Bürger, dass der Staatauch seine Finanzierung kritisch hinterfragt und bereit ist,auf steuerliche Anachronismen zu verzichten. Wir Libe-ralen fordern, dass alle Steuern und Abgaben regelmäßigauf den Prüfstand müssen; denn nur ein offener und ehr-licher Staat darf auch von seinen Bürgern Ehrlichkeit undOffenheit erwarten.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Schild.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Zu dieser Gelegenheit hätte sich vielleicht
auch ein Gläschen Schaumwein angeboten.
Die Zeiten sind
vorbei, Herr Abgeordneter.
Die Karnevalszeit ist leider vor-bei, Kollege Seiffert. Aber ich habe schon den Eindruck,dass wir das Thema nicht losgelöst vom Landtagswahl-kampf in Rheinland-Pfalz behandeln können.
Die F.D.P. hat festgestellt, dass es die kaiserliche Flottenicht mehr gibt.
Dafür haben Sie lange gebraucht; denn es gibt sie be-kanntlich schon seit einigen Jahren nicht mehr. Wenn Siedieses Thema für so bedeutsam halten, hätte es sich si-cherlich angeboten, dass Sie über dieses Thema bereitswährend der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung einmalernsthaft nachgedacht hätten. Stattdessen haben Sie aufdie Oppositionszeit gewartet, um all das zu fordern, wozuSie in der Regierungsverantwortung nicht bereit waren.
– Sie hören das nicht gerne. Aber es stellt sich doch für je-den Betrachter die Frage, wieso man, wenn die Abschaf-fung der kaiserlichen Marine der Grund dafür ist, dassman heute die Abschaffung der Schaumweinsteuer für ge-boten hält, nicht eher auf den Trichter kam.
Was im Übrigen die Historie von Steuern anlangt, sogibt es ja dieses Bändchen „Unsere Steuern“, das TheoWaigel wohl letztmalig herausgegeben hat. Das ist eineinteressante Quelle. Er hat nämlich verheimlicht, dass esda einen Zusammenhang gibt. Er hat schlichtweg gesagt,das sei 1902 als Banderolensteuer eingeführt worden.Vielleicht haben Sie deswegen nicht wahrgenommen,dass das etwas mit der kaiserlichen Marine zu tun hat.Wie gesagt, die närrische Zeit ist vorbei. Der Antraghätte besser in diese Zeit gepasst.
Aber vielleicht haben Sie dabei auch den heimlichenGanzjahreskarnevalisten im Auge.Ich stelle mir vor, Sie hätten das in Ihrer Regierungs-zeit gemacht – das wäre auch viel amüsanter gewesen –und der damalige Kollege Kleinert hätte die Chance ge-habt, diesen Antrag vor dem Hohen Hause zu begründen.
Ich denke, da hätten wir alle an diesem Antrag auf Ab-schaffung der Schaumweinsteuer großen Spaß gehabt.Aber auf eines hätte der Kollege Kleinert sicherlich auchgroßen Wert gelegt, nämlich dass diese Forderung dannauch mit der Forderung nach Abschaffung der Biersteuerverbunden worden wäre. Diese Konsequenz geht IhremAntrag ab. Nur Sekttrinker zu fördern ist natürlich einegrobe Missachtung und Diskriminierung der Biertrinkerin diesem Lande.
ben nicht verstanden, um was es uns wirklichgeht!)– Doch, das haben wir schon verstanden. Deswegen stelleich mich ungefähr auf das ein, was ernsthafterweise da-hinter steckt. Vor einer Abschaffung der Biersteuerschrecken Sie möglicherweise deshalb zurück, weil sichbereits im 15. Jahrhundert – auch das ist der Broschüre„Unsere Steuern“ zu entnehmen – die Landesfürsten derBiersteuer bemächtigt haben. Landesfürsten gibt es be-kanntlich heute noch.
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Man könnte auch überlegen, ob vielleicht auch ein tie-ferer gesundheitspolitischer Gesichtspunkt dahinter steht.
– Ich sage nur einmal eines: Wo sind denn eigentlich dieFinanzpolitiker Ihrer Fraktion? Ich habe sie bei den inIhrem Antrag aufgeführten Namen vermisst.
– Das war ein anderer Abgeordneter, der diesem Hausemittlerweile nicht mehr angehört.Der Hintergrund dieses Antrags könnte gesundheitspo-litischer Art sein; Sie kennen vielleicht den so genanntenSnobeffekt. Wenn man diesen Effekt zugrunde legenwürde, dann würde das bedeuten, dass die Senkung derSektpreise dazu führt, dass der Sektverbrauch zurückgeht.
Die Abschaffung der Schaumweinsteuer wäre dann in derTat ein Akt, sich um die Volksgesundheit verdient zu ma-chen.Um noch ein bisschen ernster zu werden:
Der Kollege Thiele – er ist im Moment nicht anwesend;er hat den Antrag auch nicht unterschrieben –
– ja, Sie kennen ihn, Herr Seiffert – hat in der letzten Sit-zung des Finanzausschusses die Konsolidierung des Bun-deshaushaltes durch die Politik des BundesministersEichel begrüßt. Wenn das die Auffassung Ihrer Fraktionist, dann hätten Sie in den Antrag vielleicht einmal ein paarWorte zur Gegenfinanzierung hineinschreiben können. Esgeht um Steuerausfälle durch die Abschaffung derSchaumweinsteuer. Würde man auch die Biersteuer ab-schaffen, dann käme es zu Ausfällen bei der Umsatzsteuer.Sie sollten sich in Ihrer Hoffnung nicht entmutigen las-sen, eines Tages wieder Regierungsverantwortung zuübernehmen. Sie werden feststellen, dass wir zwar keinekaiserliche Marine mehr haben,
wohl aber eine Bundesmarine, deren chronische Unterfi-nanzierung Sie in den letzten Tagen vehement beklagt ha-ben.Danke schön.
Jetzt hat der Ab-
geordnete Norbert Schindler zehneinhalb Minuten Gele-
genheit, zu diesem Thema zu sprechen.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Besu-chertribüne dieses Plenarsaals! Die Sektsteuer – ein Re-likt von 1902 – gehört abgeschafft. Das muss man einfachnüchtern feststellen. Frau Staatssekretärin Hendrickskann bestätigen, dass ich mich in Briefen vom Mai 1999und vom Mai 2000 vehement dafür eingesetzt habe, die-ses Relikt endlich aus der Steuergesetzgebung zu entfernen.Ein erster Schritt, Steuervereinfachungen vorzunehmen,war, dass die alte Koalition 1992/1993 die Abschaffung derZuckersteuer, der Teesteuer, der Leuchtmittelsteuer – Licht-steuer, Fensterbeleuchtung und alles, was damit zusammen-hing – und der berühmten alten Salzsteuer auf den Weg ge-bracht hat.
Deswegen ist diese Idee der F.D.P. nicht neu. Die SPDhätte diese Idee vielleicht gerne vorgetragen, auch wennsie sie aus den verschiedensten Gründen zurückweisenwird.Bestimmte Genussmittel wie Sekt sind heute keinLuxusartikel mehr, wie der Kaiser und das Parlament da-mals meinten; vielmehr sind sie allgemeine Gebrauchs-güter geworden. Nebenbei gesagt – das sagen auch dieÄrzte –: Sekt dient, in Maßen genossen, eindeutig der Ge-sundheit.
Auch das muss man heute einmal feststellen.Bei einer Abschaffung der Schaumweinsteuer hättenwir, so lautet die Schätzung, in diesem Jahr Steuerausfällein Höhe von 700 Millionen DM zu verzeichnen. Im Jahre1998 hätten die Steuerausfälle bei rund 1 Milliarde DMgelegen. Frau Staatssekretärin Hendricks – Sie werdenspäter darauf eingehen –, ich könnte den Brief vorlesen,den Sie mir in dieser Sache vor einem Jahr geschriebenhaben.Die Höhe der UMTS-Erlöse liegt bei 99MilliardenDM.Im Zuge der europäischen Steuergleichstellung hat man inDeutschland neue Sondersteuerarten eingeführt. Die Sekt-steuer ist in Deutschland eine Sondersteuer. In einerEU-Vorschrift wird ausdrücklich festgelegt, dass Wein-und Alkoholsteuern abzuschaffen sind. Von daher habenwir innerhalb der Europäischen Union die Möglichkeit,dies zu tun.Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Steuer-sätze in den Staaten der Europäischen Union bedeutet dieÖkosteuer eine zusätzliche Belastung für die deutscheLandwirtschaft.
Das ist nicht gut. Deswegen soll man wenigstens hier denVersuch unternehmen, eine Steuerangleichung auf eu-ropäischem Niveau vorzunehmen. Die Belastung pro Li-ter Sekt inklusive Mehrwertsteuer beträgt – das geht in derRegel unter – 2,60 DM. Damit liegen wir europaweit ander Spitze. Man muss einmal kundtun, wie hoch die Ver-braucher durch eine Sondersteuer belastet werden, die mitdazu dient, den Staatshaushalt zu finanzieren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Horst Schild15305
Die Steuererhebung läuft folgendermaßen ab: DieWinzer, auch die in Rheinland-Pfalz, und alle anderen inder Sektwirtschaft Tätigen sind dann, wenn der Sekt dasSteuerlager verlässt, zur Steuerzahlung verpflichtet. Siemüssen also in Vorleistung für ein Produkt treten, für dasvielleicht erst zwei oder drei Jahre später ein Verkaufs-erlös erzielt wird. So lange kann die Refinanzierung dau-ern. Der Wettbewerb gegenüber Prosecco und Perlweinenist dadurch deutlich verzerrt.Man kann feststellen, dass die Einnahmen aus derSektsteuer Jahr für Jahr kontinuierlich zurückgehen, weilman auf ähnliche Produkte des europäischen Binnen-marktes ausweicht. Diese Tatsache macht mir Sorge. Blei-ben wir in Deutschland stur bei der hohen steuerlichenHürde, werden wir vielleicht, ob wir das wollen odernicht, die Sektsteuer quasi selbst abschaffen. Die Frageder Abschaffung der Sektsteuer sollte man sowohl vordem Hintergrund des Ziels der Steuervereinfachung undder Tatsache der zurückgehenden Steuereinnahmen alsauch vor dem Hintergrund des europaweiten Wettbewerbssehen.
Jeder versucht ja, seinen Weg zu gehen. Die Italienermachen uns vor, wie es erfolgreich geht; auch die deut-sche Weinwirtschaft hat davon einiges übernommen. ImVergleich stehen Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg ja nicht schlecht da. Gerade vor diesem Hin-tergrund sollten wir nicht stur an einer veralteten Rege-lung festhalten, sondern sie beseitigen.Ich möchte aber auch, Kollegin Sehn, ein ernstes Wortan unsere F.D.P. richten.
– Natürlich, wir haben ja momentan Wahlkampf in Rhein-land-Pfalz. Da ich aus Rheinland-Pfalz komme, sage ichdas ganz bewusst.Ich hätte mir gewünscht, dass die Initiative der F.D.P.,mit der meine Partei und auch ich schon seit Jahrenübereinstimmen, auch von einer Bundesratsinitiative, dieunsere sozial-liberal geführte Regierung in Mainz auf denWeg hätte bringen müssen, begleitet worden wäre.
Das jetzige Verhalten erinnert mich schon ein wenig anden Begriff der Doppelzüngigkeit, den wir ja alle von KarlMays Winnetou kennen: Hier wird mit gespaltener Zungegesprochen.
Dies sage ich mit vollem Ernst. Wir können dieses Themabei der Beratung des Antrages heute zwar publizistischbesetzen, um es aber auf Dauer mit Inhalten zu erfüllen,wäre es schon sehr hilfreich, wenn auch Rheinland-PfalzFlagge zeigte.
Ich fordere unsere Regierung in Mainz auf, dieses vor derWahl zu tun und nicht erst nach dem 25. März gemäß demMotto: Wir gehen dann wieder zur normalen Tagesord-nung über.Meine Damen und Herren, die Steuerungerechtigkei-ten in diesem Land – das wurde auch in der AktuellenStunde vorgestern in Bezug auf die Ökosteuer noch ein-mal angesprochen – sind symptomatisch für den Umgangdes Staates mit seinen Bürgern: Bestimmte Klientelenwerden abgestraft, seien es die Kraftfahrzeugindustrieoder die Bauwirtschaft, die ja auch von der Ökosteuer beiihren Transporten betroffen ist, sei es die deutsche Land-wirtschaft, die vor dem Problem steht, wie mit den Folge-kosten von BSE umgegangen wird. 2Milliarden DM wer-den hierfür benötigt. Gestern stritt man sich über dieFinanzierung, kam zu keinem Ergebnis und vertagte sichauf Ende April. Weiterhin frage ich: Wie geht es mit derdeutschen Fleischwirtschaft weiter, welche Zukunft ha-ben die Schlachthöfe, auch die in Rheinland-Pfalz? WasSie machen, kann man nicht als verantwortungsvolle Po-litik bezeichnen.Ich bin tief enttäuscht über die Äußerungen des Bun-desfinanzministers, der vor zwei Tagen im Finanzaus-schuss auf meine Frage, wie denn die Kosten zugeordnetwerden sollen, locker vom Hocker und schnoddrig ant-wortete: Das geht uns eigentlich nichts an; was die Län-der vorgelegt haben, akzeptiere ich nicht. – Gesundheits-vorsorge ist eine allgemeine Aufgabe und Verpflichtungsowohl des Bundes – diesen nenne ich an erster Stelle –als auch der Länder. Was hier an Zeit vertan wurde – dasgilt mittlerweile auch für die neue Verbraucher-schutzministerin –, ist nicht mehr zu verantworten.
Dass wir heute die Abschaffung der Sektsteuer disku-tieren, kann ich für die CDU/CSU nur ausdrücklich be-grüßen. Ich hoffe darauf, dass wir dieses gesunde Produktweiteren Verbraucherschichten öffnen können, indem wirder Weinwirtschaft die Möglichkeit geben, mit dem ein-gesparten Steuergeld günstigere Angebote auf den Marktzu bringen.
Ich hoffe auf die Einsicht der Regierungskoalition,vielleicht nicht heute und morgen, aber im Laufe der Be-ratung dieses Antrages. Mit der Abschaffung dieser Steuertun wir etwas Gutes für die Steuervereinfachung inDeutschland und für die Steuerangleichung in Europa.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die KolleginChristine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen, hat ihre Redezu Protokoll gegeben.1) – Ich sehe Einverständnis im ge-samten Hause.
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Norbert Schindler15306
1) Anlage 3Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dietmar Bartschfür die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Dem Thema sollte eine halbtrockene
Rede angemessen sein, so wie sie Herr Schild gehalten
hat.
Die Erkenntnis der F.D.P. nach ewiger Regierungszeit
kommt zwar etwas spät. Aber die Abgeordneten der PDS,
die „Rotkäppchen“ im Deutschen Bundestag, unterstüt-
zen die Initiative zur Abschaffung der Sektsteuer.
Die Liberalen muten uns zugegebenermaßen keinen
übertrieben großen Schritt zu. Sie wollen den Menschen
eine Last nehmen, von deren Existenz bislang wohl nur
die Wenigsten wussten.
Von Massenpetitionen oder von Großdemonstrationen ist
zumindest uns nichts bekannt.
Ich glaube auch nicht, dass sofort die Korken knallen,
wenn die Portemonnaies der Bürgerinnen und Bürger um
etwas mehr als 12 DM im Jahr – statistisch gesehen; wir
wissen ja, wie das mit dem Durchschnitt ist – entlastet
werden. Allerdings möchte ich Sie angesichts der großzü-
gig gefassten Begründung Ihres Antrages beim Wort neh-
men. Sie wissen ja: Im Wein liegt die Wahrheit.
In Ihrem Bestreben, das Steuerrecht zu vereinfachen,
werden Sie stets unsere Unterstützung finden. Eine radi-
kale Vereinfachung, Transparenz und Entbürokratisie-
rung des Steuerrechts sind die Voraussetzungen für
mehr Demokratie und Gerechtigkeit.
Wir wurden auch auf die verfassungsrechtliche Di-
mension der zu behandelnden Fragen hingewiesen. Mit
großem Interesse habe ich zur Kenntnis genommen, dass
die F.D.P. der Spaltung unserer Gesellschaft in Arm und
Reich zu Leibe rücken will. Zu Beginn des neuen Jahr-
tausends könnte die Prosecco/Champagner-Trennlinie
fallen und wir sind dabei gewesen.
„Sekt für alle“ ist sicherlich eine gute Devise. Nur
müssen die Menschen in diesem Land mehr Gründe zum
Anstoßen haben. Ich bin deshalb gespannt, welche weite-
ren Initiativen zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger
und für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit Sie
nun auf den Weg bringen werden. Gerade hier gilt doch:
Manchmal muss Mumm sein.
Wenn Steuern und Abgaben in diesem Land so refor-
miert werden, dass die Massenerwerbslosigkeit wirksam
bekämpft, soziale Sicherheit gewährleistet, reale Gleich-
stellung der Geschlechter unterstützt und eine ökologisch
nachhaltige Wirtschaftsentwicklung gefördert werden,
dann können sich die Menschen über den Wegfall der Al-
ternative „Sekt oder Selters“ freuen. Dann werden wir uns
gern dieser Debatte erinnern und gemeinsam mit der
Fraktion der F.D.P. in den Ruf einstimmen: Trink,
Brüderle, trink!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Parlamentarische Staatssekretärin
Barbara Hendricks.
D
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Man könnte ja versucht sein, in denRuf einzustimmen: Sekttrinker aller Länder, vereinigteuch hinter der blau-gelben Fahne des Liberalismus!
Werft die Ketten der Ausbeutung ab, damit ihr die 2 DMpro Flasche, die ihr seit 1902 bezahlen müsst, endlich los-werdet!
Damit haben wir dann auch noch die Vereinfachung desSteuerrechts erreicht.
Wenn man es sich so einfach macht, das Steuerrechtdurch die Abschaffung von ganzen Steuerarten reformie-ren zu wollen, dann ist das leider ein bisschen fantasielos.
Man wird sich schon sozusagen um die innere Strukturder jeweiligen Steuer kümmern müssen, so wie wir daszum Beispiel gerade bei der Körperschaftsteuer mit ei-nem wesentlichen Vereinfachungsschritt gemacht haben.Steuern einfach abzuschaffen ist keine Steuerverein-fachung.
Ich will Ihnen einmal sagen, wie die Situation bei derSektsteuer ist: Wir haben im letzten Jahr 930 Milli-onen DM Einnahmen gehabt. Die Bearbeitung bei den5 500 Steuerpflichtigen wurde bundesweit von 56 Zöll-nern durchgeführt, deren Besoldung rund 6MillionenDMkostet. Das ist also gerade etwas mehr als ein halbes Pro-zent des Ertrages, den wir bei den 5 500 Steuerpflichtigeneinnehmen können, die naturgemäß die Steuer auf denVerbraucher abwälzen. Es ist so ungefähr die einfachsteSteuer, die man sich vorstellen kann. Mit 56 Leuten bei5 500 Steuerpflichtigen rund 1 Milliarde DM einholen,das ist ein vernünftiger Ertrag.
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Vizepräsidentin Petra Bläss15307
Es wäre schön, wenn alle Steuern so einfach zu handha-ben wären.Natürlich haben wir keine kaiserliche Flotte mehr; dasist völlig klar. Aber wir haben eine republikanische, de-mokratisch legitimierte Flotte, die ebenfalls Geld braucht.Erst gestern, auf Ihren Antrag hin, haben Sie hier eineStunde lang die angebliche Unterfinanzierung der Bun-deswehr beklagt. Natürlich ist die Sektsteuer nicht zweck-gebunden zur Finanzierung der Bundeswehr;
sie würde leider auch nicht ausreichen, weil die Bundes-wehr ungefähr 44 Milliarden DM im Jahr und nicht nur1 Milliarde DM braucht.Aber ich möchte wenigstens den Versuch machen, eineallererste Einführung in die Grundzüge des Steuer-rechts, sozusagen privatissime et gratis für die F.D.P.-Fraktion, zu geben.
Es gibt so genannte direkte Steuern; sie werden auf Ge-winn und Einkommen erhoben, progressiv, jeweils ab-hängig von der Höhe des Gewinns und des Einkommens.Dann gibt es indirekte Steuern, hier insbesondere die Ver-brauchsteuern – die wesentlichste von diesen ist die Um-satzsteuer – und die speziellen Verbrauchsteuern; dazugehört die Sektsteuer.
Sie wird nach Verbrauch erhoben, wie der Name schonsagt, in diesem Fall 2 DM auf 0,75 Liter einer normalenSektflasche.Das ist auch nicht verschleiert. Da hat Minister Eichelnicht irgendwie seine Bücher zugehalten, wie Sie das be-haupten. Die Sektsteuer ist nun fast 100 Jahre alt und hatsich im Prinzip kaum geändert,
außer dass sie in der Höhe differiert hat. Jetzt liegt sie seitungefähr 20 Jahren auf derselben Höhe. Was also solldaran verschleiert sein? Jeder Bürger weiß das oder kannes zumindest wissen. Was haben Sie davon, wenn die Fla-sche jetzt 2 DM billiger wird? Es war von gesundem Ver-brauch, „in Maßen genossen“, die Rede, lieber KollegeSchindler. Du als Winzer hast natürlich ein spezielles In-teresse; das muss man den Bürgerinnen und Bürgern aufder Tribüne vielleicht einmal sagen.
Was heißt, „in Maßen“? Bezieht sich das vielleicht aufden durchschnittlichen Verbrauch pro Kopf, also etwasechs Flaschen im Jahr? Sonst kämen die vom KollegenBartsch genannten 12 DM pro Jahr ja nicht zustande. Wassoll daran entscheidend sein, dass der Mensch sechsmalim Jahr 2 DM spart oder nicht?
– Doch, darum geht es wohl.
Steuern sind allgemeine Deckungsmittel für die Deckungder Bedürfnisse des gesamten Haushaltes. Sie, KollegeSchindler, haben am Ende Ihrer Rede lautstark beklagt,was im Zusammenhang mit BSE alles noch passierenmuss, dass es allein in diesem Jahr ein Risiko von über2 Milliarden DM gibt.
– Ja, natürlich! Allein wegen der BSE-Krise haben wir indiesem Jahr ein Haushaltsrisiko von mindestens 2 Milli-arden DM. – Aber im selben Atemzug sagen Sie, wir soll-ten leichthin auf die 1 Milliarde DM aus der Sektsteuerverzichten.
– Die Einnahmen aus den UMTS-Erlösen haben wir zumSchuldenabbau gebraucht, und zwar zum Abbau derSchulden, die Sie uns hinterlassen haben. Mit den100 Milliarden DM konnten wir natürlich nur einen klei-nen Teil davon abbauen.
14 mal 100 Milliarden DM sind es dann immer noch anSchulden. Auch die müssen wir irgendwann noch tilgen.Das ist die tatsächliche „Erblast“. Ich will dieses Wort jaeigentlich nicht benutzen, aber wenn Sie mich herausfor-dern, muss ich es doch einmal sagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
D
Aber klar.
Frau Staats-
sekretärin Hendricks, Gott sei Dank können wir persön-
lich eigentlich gut miteinander.
Dann werden Sie mir in Bezug auf die Schulden in Höhe
von 1,4 Billionen DM, die Sie jetzt wieder genüsslich vor-
führen, doch zugestehen: Dabei ging es um die beste In-
vestition in Deutschlands Zukunft, nämlich darum, die
Wiederherstellung der deutschen Einheit auch finanziell
zu gewährleisten. Ich bin auf diese Schulden ausdrücklich
stolz. Das sollte man in diesem Zusammenhang doch
wirklich in allem Ernst feststellen. Oder ist es anders?
D
Herr Kollege Schindler, dawill ich Ihnen gerne zustimmen. Ich sehe durchaus die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 156. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. März 2001
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks15308
Tatsache, dass etwa die Hälfte dieses hohen Schuldenber-ges
dadurch entstanden ist, dass wir das finanzielle Problemder deutschen Einheit schultern mussten; wir müssen esauch weiter schultern. Deswegen gibt es auch keinen An-lass, sich zurückzulehnen und zu sagen, die Sache sei jetzterledigt. Sie wissen, dass wir in Verhandlungen über denSolidarpakt II eintreten. Sie wissen, dass wir eine beson-dere Finanzierung zur Entwicklung der neuen Länderauch in der Zukunft brauchen werden. Darum ist es nichtso einfach, hier oder da auf Einnahmen zu verzichten. Siehaben den Solidaritätszuschlag angesprochen. Den wer-den wir auch in Zukunft brauchen, solange wir die beson-dere finanzielle Belastung, die im Gefolge der deutschenEinheit entstanden ist, noch haben.
Darum ist es eben nicht verantwortlich, einfach so zu tun,als könnten wir leichthin auf 1 Milliarde DM verzichten.Noch einmal: Die UMTS-Erlöse in Höhe von 100Mil-liarden DM haben wir tatsächlich zum Schuldentilgenverwandt, das wissen Sie. Das sind 100 Milliarden DMvon 15 mal 100Milliarden DM gewesen. 14 mal 100Mil-liarden DM bleiben bestehen und müssen mit Zinsen inHöhe von jährlich 80 Milliarden DM bedient werden.Auch das muss man sich vergegenwärtigen. Das bekom-men wir nicht von heute auf morgen weg, KollegeSchindler. Deswegen bitte ich Sie, mir zuzugestehen, dasswir die Milliarden nicht einfach so verschenken können,wenn wir verantwortungsbewusst handeln, zumal es of-fenbar ist, dass die Menschen durch die Sektsteuer einetatsächliche Belastung weder erfahren noch spüren.
Herr Kollege Schindler, obwohl Sie mir durch IhreZwischenfrage Gelegenheit gegeben haben, meine Rede-zeit auszudehnen, will ich davon keinen Gebrauch ma-chen. Die Argumente liegen auf der Hand. Man sollte essich nicht so einfach machen, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der F.D.P., sondern man muss sich zum ThemaSteuervereinfachungen schon ein paar Gedanken machen.Erlauben Sie mir eine Bemerkung zum Schluss: Im An-trag der F.D.P. heißt es, die Bundesregierung möge „einenGesetzentwurf über die Abschaffung der Sektsteuer“ vor-legen. Ich erkläre für die Bundesregierung, dass wir dasnicht tun. Aber was mich bei diesem Antrag gewunderthat, ist folgender Tatbestand: Die Erarbeitung eines Ge-setzentwurfs zur Abschaffung der Sektsteuer, dem ich,wie gesagt, inhaltlich nicht zustimme, ist ein ausgespro-chen einfacher gesetzestechnischer Vorgang. Ihre Frak-tion, die etwa zur Hälfte aus ehemaligen Regierungsmit-gliedern besteht, hätte diesen Gesetzentwurf zumindestselber formulieren können.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5337 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tags auf Mittwoch, den 14. März 2001, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.