Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Auf Wunsch der Fraktion der F.D.P. soll eine Änderungim Vermittlungsausschuss vorgenommen werden. DieFraktion teilt mit, dass der Kollege Jörg van Essen als or-dentliches Mitglied ausscheidet, und benennt dafür dieKollegin Irmgard Schwaetzer. Sind Sie damit einverstan-den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kolle-gin Irmgard Schwaetzer als ordentliches Mitglied imVermittlungsausschuss bestimmt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Reform und Verbesserung der Ausbildungs-förderung – Ausbildungsförderungsreform-gesetz
– Drucksache 14/4731 –
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Cornelia Pieper, Jürgen W. Möllemann,Detlef Parr, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs einesBundesausbildungsförderungsgesetzes
– Drucksache 14/2253 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung
– Drucksache 14/5276 –Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte Wimmer
Angelika VolquartzAntje HermenauCornelia PieperMaritta Böttcher
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksachen 14/5277, 14/5278 –Berichterstattung:Abgeordnete Steffen KampeterSiegrun KlemmerOswald MetzgerDr. Günter RexrodtDr. Christa LuftZum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Ent-schließungsantrag der Fraktion der PDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin für Bildung und Forschung, EdelgardBulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Herren und Damen! Mit dem Ausbildungsförde-rungsreformgesetz, das wir heute verabschieden, inves-tieren wir in die Bildung und in die Ausbildung der jun-gen Menschen in unserem Lande. Mit jährlich circa1 Milliarde DM zusätzlich für die Ausbildungsförderungwerden wir erstens rund 80 000 junge Menschen mehrfördern als bisher.
Wir werden sie zweitens stärker fördern als bisher.
Wir werden damit den jungen Menschen die Tür für einezukunftsweisende Ausbildung öffnen. Mit dieser Ausbil-dungsförderung erreichen wir, dass endlich alle jungenMenschen in unserem Land eine Chance auf eine mög-lichst gute Ausbildung haben.
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153. SitzungBerlin, Freitag, den 16. Februar 2001Beginn: 9.00 UhrDie Reform der Ausbildungsförderung ist ein wichti-ger Bestandteil der Erneuerung unserer Bildungs- undForschungslandschaft. Wir wollen Bildung und For-schung durch erhöhten Mitteleinsatz stärken und setzenzugleich auf mehr Leistungsfähigkeit und mehr Effizienzdurch strukturelle Reformen. Dafür haben wir ein diffe-renziertes Reformprojekt und -paket auf den Weg ge-bracht.Wir schaffen mit einer umfassenden Dienstrechts-reform attraktive Arbeitsplätze für den wissenschaftlichenNachwuchs
und wir schaffen – auch das ist in diesem Zusammenhangwichtig – durch eine Änderung des Besoldungsgesetzeseine stärkere Leistungsorientierung in der Besoldung vonHochschulpersonal.Wir stärken die Förderung von Nachwuchswissen-schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern; dennvon ihnen hängt unsere Zukunft ab. Wir verfolgen ein ehr-geiziges Programm zur Steigerung des Frauenanteils anden deutschen Hochschulen.
– Ich hätte mir gewünscht, dass wenigstens an dieserStelle die Kolleginnen und Kollegen von der rechten Seiteebenfalls klatschen.
Wir fördern die Internationalisierung der deutschenHochschullandschaft und wir werben offensiv um auslän-dische Studierende und Lehrende. Wir treiben die welt-weite Vernetzung unserer Hochschulen voran und förderndie Entwicklung von virtuellen Studiengängen, die einwichtiges Instrument für eine stärkere Internationalisie-rung sind. Wir führen eine effiziente Neustrukturierungim Bereich der Forschungsinstitute durch und verbesserndie Verwertung von Forschungsergebnissen.Seit dem Regierungswechsel haben wir die Investitio-nen für Bildung und Forschung kräftig erhöht,
allein in diesem Jahr um 9,5 Prozent auf fast 16 Milliar-den DM. Das ist wahrlich kein Pappenstiel.
Aus den UMTS-Zinserlösen fließen allein 1,8 Milliar-den DM in den Bereich Bildung und Forschung, davonmehr als 1 Milliarde DM in die „Zukunftsinitiative Hoch-schule“.Meine Damen und Herren, wenn Sie heute in die Stel-lenanzeigen der großen Tageszeitungen schauen, dann se-hen Sie ganz deutlich: Wir brauchen nicht weniger, son-dern mehr und besser ausgebildete Fachkräfte undHochschulabsolventen. Dass es noch immer viele begabtejunge Menschen aus einkommensschwächeren Familiengibt, aus Familien mit einem geringen oder einem mittle-ren Einkommen, die auf ein Studium verzichten müssen,weil ihre Eltern es nicht finanzieren können, ist nicht nursozial ungerecht. Angesichts des Fachkräftemangels inwichtigen Zukunftsbranchen, wie zum Beispiel der Bio-technologie oder der Informations- und Kommunikati-onstechnologie, ist es auch ökonomisch widersinnig.
Deshalb ist es unter beiden Gesichtspunkten – sowohldem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit als auchdem Gesichtspunkt der volkswirtschaftlichen bzw. öko-nomischen Notwendigkeit – richtig, dass wir mit dieserAusbildungsförderungsreform die Grundlage dafür schaf-fen, das gesamte Potenzial an Begabungen, an Fähigkei-ten, an Kompetenzen, die wir in unserem Land haben,endlich zur Entfaltung zu bringen.
Wir erreichen dies zum einen durch die Erhöhung derBedarfssätze, zum Zweiten durch die Nichtanrechnungdes Kindergeldes und zum Dritten durch die Anhebungder Freibeträge.Ich habe es schon immer als eine große Ungerechtig-keit empfunden, dass nach dem alten Gesetz die Einkom-mensschwächsten, die die höchste Förderung benötigen,gleichzeitig diejenigen sind, die ihr Studium mit demhöchsten Schuldenberg abschließen.
Deshalb verändern wir das mit diesem Gesetz. Wir be-grenzen die Gesamtdarlehensbelastung für jeden geför-derten Studierenden auf 20 000 DM.
In Zukunft wird also niemand mehr durch eine unkalku-lierbare Schuldenlast vom Studium abgehalten.Die Mehrheit der Hochschulabsolventen findet spätereinen Arbeitsplatz in der Wirtschaft. Wenn man die Stel-lenanzeigen liest, wird deutlich, dass Unternehmen Nach-wuchskräfte suchen, die nicht nur fachlich qualifiziertsind. Sie suchen Hochschulabsolventen, die außerdemFremdsprachenkenntnisse haben, Auslandserfahrung mit-bringen und möglichst schon während des Studiums auchpraktische Erfahrungen gesammelt haben.Die Internationalisierung unserer Hochschulen treibenwir mit konkreten Schritten, wie der internationalen Aus-richtung von Studiengängen, der Einführung von Bache-lor- und Masterabschlüssen und der wechselseitigenAnerkennung von Studienleistungen und Hochschulab-schlüssen, voran. Wir flankieren diesen Prozess mit einemstarken Fokus auf die neuen Medien, konkret mit demAusbau der virtuellen Studiengänge. Das BMBF fördertdie Entwicklung multimedialer Lehrangebote, neuerFernstudienangebote und Kombinationen mit der Prä-senzlehre.
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Mit dem Ausbildungsreformgesetz internationalisierenwir auch die Ausbildungsförderung. Wer ein Studium inDeutschland begonnen hat, kann in Zukunft nach zwei Se-mestern sein BAföG EU-weit mitnehmen.
Die Förderung wird zu Inlandssätzen innerhalb der För-derungshöchstdauer bis zum Studienabschluss fortge-setzt. Damit erhalten alle Studierenden die Möglichkeit,Auslandserfahrungen und Pluspunkte für ihren Berufs-einstieg zu sammeln. Natürlich kann man auch in Zukunftfür ein Jahr das BAföG in jedes außereuropäische Landmitnehmen. Auch das ist gewährleistet.Ein entscheidender Pluspunkt beim Berufseinstieg istneben dieser Internationalisierung auch die Fähigkeit,über die Grenzen der eigenen Fachdisziplin hinauszu-schauen. Masterstudiengänge werden bei uns künftiggenerell gefördert, auch wenn sie einen Bachelorstudien-gang interdisziplinär ergänzen. Damit gibt das Ausbil-dungsförderungsgesetz den Studierenden einen Schlüsselfür eine stärkere interdisziplinäre Ausrichtung ihrerAusbildung in die Hand. Genau das ist ebenfalls erforder-lich.
Damit komme ich zum dritten Punkt, der im Lebens-lauf von Berufseinsteigern heute nicht mehr fehlen darf,zur Praxiserfahrung. Damit meine ich nicht das Jobbenin der Kneipe oder am Fließband, obwohl auch das durch-aus hilfreich ist und Lebenserfahrung bringt.
Ich meine vielmehr Praktika in Unternehmen, in For-schungslabors oder in internationalen Organisationen.Hier sind vor allem die Bereitschaft der Betriebe, solchePraktikaplätze anzubieten, und die Eigeninitiative derStudierenden, Praktikumsplätze zu suchen, erforderlich.Auch Studierende aus Familien mit geringem oder mittle-rem Einkommen müssen in der vorlesungsfreien Zeit dieChance haben, solche Praktika durchzuführen, anstattjobben zu gehen.
Deshalb passen wir die Ausbildungsförderung wiederden tatsächlichen Lebenshaltungskosten an. Wir habenden Förderungshöchstsatz sogar noch einmal heraufge-setzt, und zwar von 1 030 auf nunmehr 1 140 DM.
Wenn man das Kindergeld, das wir nicht mehr gegen-rechnen, hinzuzählt, heißt das nach Adam Riese, dass denStudierenden durch den BAföG-Höchstsatz und das Kin-dergeld 1 410 DM zur Verfügung stehen werden.
Wir hatten uns in den Ausschussberatungen darauf ver-ständigt, den nachweisabhängigen Wohnzuschlag fürauswärtig Wohnende nochmals anzuheben. Damit brin-gen wir endlich Studien- und Lebenswirklichkeit wiederin Einklang.
Dazu gehört im Übrigen auch, dass Studium undFamilie künftig besser vereinbar sind, und zwar sowohlfür Frauen als auch für Männer. Denn studienzeitver-längernde Kindererziehungszeiten werden in Zukunftbesser berücksichtigt werden, sodass es nicht mehr einNachteil ist, wenn ich ein Kind erziehe.
Studierenden, die ihr Studium nicht innerhalb derRegelstudienzeit abschließen können, geben wir eine ver-lässliche Hilfe zum Studienabschluss, und zwar unabhän-gig von den Gründen, die zu einer Überschreitung derFörderungshöchstdauer geführt haben. Wir wollen nicht,dass diese Studierenden ihr Studium aus Geldnot abbre-chen müssen und dass damit die bisherigen Investitionennutzlos verfallen. Deshalb führen wir diese verlässlicheStudienabschlussförderung dauerhaft ein.
Denn es muss Schluss sein damit, dass hier, wie das in derVergangenheit der Fall war, ein Hin und Her besteht.Schließlich stellen wir die Ausbildungsförderung inOst und West gleich. Auch das ist überfällig.
Zusätzlich zu diesem von mir geschilderten Ausbil-dungsreformpaket legen wir ein Bildungskreditpro-gramm auf. Mit diesem Bildungskreditprogramm er-möglichen wir Studierenden, einkommensunabhängigzinsgünstige Bankkredite für Ausbildungszwecke in An-spruch zu nehmen. Das Bildungskreditprogramm wirdzeitgleich mit dem Ausbildungsförderungsreformgesetzin Kraft treten,
ist aber unabhängig von der Ausbildungsförderungs-reform und ergänzt die bestehenden Förderungsmöglich-keiten.Meine Herren und Damen, wir haben in den bisherigenBeratungen eine Vielzahl von Experten angehört, überDetailvorschläge diskutiert und einige vom Bundesratund vom Ausschuss vorgeschlagene Änderungen in denvorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen, zum Beispieldie Anhebung der Vermögensfreibeträge für die Auszu-bildenden selbst. Wir sind so zu einem abgerundeten und,wie ich finde, wirklich guten Reformpaket gelangt, daseine grundlegende und nachhaltige Stärkung der staat-lichen Ausbildungsförderung bedeutet.Der Erfolg unserer Bemühungen – in diesen Plural be-ziehe ich ganz bewusst die Kolleginnen und Kollegen von
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der Opposition ein – ist aber erst dann vollendet, wenn dasneue BAföG von den jungen Menschen auch tatsächlichgenutzt wird
und wenn es von vornherein in ihre Ausbildungsplanungeinbezogen wird. Deshalb messe ich der Aufklärung überdiese BAföG-Reform und dem Rückgewinn des Vertrau-ens in eine verlässliche Ausbildungsförderung eine ganzgroße Bedeutung zu.Das Vertrauen in die Ausbildungsförderung ist in denletzten zehn Jahren des – so muss man es eigentlich nen-nen – „Sparfög“ drastisch zurückgegangen. Wir müssenes zurückgewinnen, bei den Eltern und bei den Jugendli-chen selber.
Deshalb lade ich Sie alle ausdrücklich ein, daran mitzu-wirken, dieses Vertrauen zurückzugewinnen und daranjenseits aller politischen Scharmützel auch wirklich ge-meinsam zu arbeiten.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin davonüberzeugt, dass wir die Chancen, die wir in diesem Be-reich haben, mit diesem Gesetz genutzt haben, und hoffeund wünsche mir, dass wir die Chance, das Vertrauenzurückzugewinnen, ebenfalls nutzen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Gerhard Friedrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Minis-terin Bulmahn, Sie haben heute entgegen Ihrer sonstigenGewohnheit ganz darauf verzichtet, die Opposition oderdie frühere Regierung zu kritisieren. Das erleichtert esuns, Ihrem Gesetz zuzustimmen.
Leider ist diese friedliche Stimmung noch nicht bei allenMitgliedern der SPD-Fraktion und der Grünen angekom-men. Deshalb will ich doch noch einmal kurz auf die Ver-gangenheit eingehen.
– Herr Kollege Tauss, neben Ihnen sitzt die von mir per-sönlich sehr geschätzte Kollegin Wimmer.
Letzte Woche hat sie wieder eine Presseerklärung abge-geben. Darin steht, wir hätten das BAföG früher herun-tergewirtschaftet.
Die Frau Ministerin hat sich zu Recht vorsichtiger ausge-drückt. Das, was Sie, Frau Kollegin Wimmer, schildern,entspricht auch nicht der Wirklichkeit.Eines ist ja objektiv richtig – die Ministerin hat es an-gedeutet –: Die Ausgaben für das BAföG lagen in denJahren 1991, 1992 und 1993 bei 3,9 Milliarden DM undsind bis zum Jahre 1998 – was wir gemeinsam bedauern –auf 2,4 Milliarden DM abgesunken. Dabei spielt es si-cherlich auch eine Rolle, dass sich die Einkommensver-hältnisse in den neuen Bundesländern gebessert haben.Bei einem Sozialgesetz ist es ja so: Wenn Einkommenschnell steigen, dann fällt man aus den Voraussetzungenfür eine Sozialleistung heraus.Darüber hinaus – das will ich auch gar nicht bestreiten,sondern noch einmal ausdrücklich bestätigen – ist es unsleider nicht gelungen, das zu tun, was § 35 BAföG ei-gentlich vorsieht, nämlich die Bedarfssätze und dieFreibeträge kontinuierlich der allgemeinen Entwick-lung der Einkommen und der Lebenshaltungskostenanzupassen.Nur war es nicht so, dass die bösen Schwarzen etwasblockiert und die
Freundinnen und Freunde von der SPD geschlossen en-gagiert für Studentinnen und Studenten gekämpft haben.Ich habe Sie schon einmal daran erinnert und tue es heutewieder: Im Jahre 1997 gab es drei Beschlüsse derFinanzministerkonferenz, also auch der Finanzministerder Länder, in denen diese gesagt haben: Erstens. Jede Re-form muss kostenneutral sein. Zweitens. Die vorgelegtenModelle – damals hatte die SPD ein Modell vorgelegt undwir hatten das so genannte Bayern-Modell in die Diskus-sion gebracht – entsprechen nicht diesen Anforderungen.Sie haben also früher Vorschläge gemacht, die im Bun-desrat auch an Ihren eigenen Finanzministern gescheitertwären.
Meine Damen und Herren, der Kollege Catenhusen hatim Ausschuss, wenn ich mich recht entsinne, bezogen aufdie F.D.P., gesagt, die Opposition dürfe immer etwas mu-tiger sein und mehr verlangen als die jeweilige Regierung.Sie selber haben diesen Mut vor der Bundestagswahl sehrweit ausgelegt und Konzepte vorgelegt, die Sie inzwi-schen beerdigen mussten und die Ihre eigenen Finanzmi-nister im Bundesrat abgelehnt hätten.
Frau Kollegin Wimmer ist noch etwas weiter gegangenund hat erklärt, das, was die F.D.P. vorgeschlagen habe,sei unseriös.
– Finanzierbar ist das nicht. Aber dass Sie, Frau KolleginWimmer, ein Konzept als unseriös bezeichnen, das Ihreeigene Ministerin nach meiner Kenntnis erst im Januar2000 beerdigt hat, ist schon ein tolles Stück.
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Ihre Gedächtnislücken sind wirklich sehr, sehr groß.
Wir haben mit dem Gesetzentwurf, wie er jetzt vorge-legt wurde, und mit seiner Grundkonzeption deshalbkeine Probleme, weil wir uns schon immer für eine Re-form innerhalb des Systems eingesetzt haben.Mit dem Drei-Körbe-Modell, das durch das wesentli-che Element geprägt ist, dass Kinderfreibetrag, Kinder-geld und Ausbildungsfreibetrag zusammengefasst werdenund nicht den Eltern etwas gewährt wird, sondern einSockelbetrag bzw. ein Bildungsgeld direkt an den er-wachsenen Auszubildenden ausgezahlt wird, haben wiruns aus drei Gründen, die ich hier noch einmal zusam-menfassen möchte, nie anfreunden können.Erstens. Sie wissen, dass es erhebliche Konflikte mitdem Unterhaltsrecht
und mit dem Steuerrecht gibt. Die Finanzminister haben– ich habe den Beschluss bereits erwähnt – schon im Jahre1997 darauf hingewiesen, dass Eltern, die trotz des Bil-dungsgeldes ergänzenden Unterhalt leisten müssen, diesteuerlichen Begünstigungen wieder zurückrufen können.Es gibt also erhebliche Schwierigkeiten, die die SPD bisEnde des Jahres 1999 ignoriert hat.Zweitens. Wir haben schon immer gesagt – das standschon in unzähligen Vermerken des Kollegen Rüttgers –,dass das Bildungsgeld nicht finanzierbar ist. Jetzt hat unsauch Herr Catenhusen im Ausschuss mitgeteilt, dass einBildungsgeld von 400 DM Kosten in Höhe von 1,5 Milli-arden DM und eines von 500 DM Kosten in Höhe von3,5 bis 4 Milliarden DM verursachen würde.In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass derBund im Jahre 1998 insgesamt nur 1,5 Milliarden DMausgegeben hat und dass außerdem der Betrag von bis zu4 Milliarden DM gar nicht ausreicht, um die Bundesaus-bildungsförderung insgesamt zu sanieren. Viele sind ein-kommensabhängig auf ergänzende Leistungen angewie-sen. Auch dafür braucht man Geld. Von vornherein waralso klar, dass kein Finanzminister bereit und in der Lagewäre, so etwas zu finanzieren.Der dritte Grund, aus dem wir immer Nein gesagt ha-ben und das neue Konzept, das unserem früheren Kon-zept entspricht, akzeptieren, ist folgender: Das Bundes-verfassungsgericht hat in einem neueren Urteil dieFamilie als eine Erziehungs- und Wirtschaftsgemein-schaft bezeichnet. Nun kann man darüber reden, ob manerwachsene Kinder unabhängig von ihren Eltern machenwill. Das ist eine Diskussion, die man vernünftig führenkann. Allerdings ist immer übersehen worden, dass einBildungsgeld in Höhe von maximal 500 DM, ausbezahltan die Studierenden, die meisten von denen nicht unab-hängig von ihren Eltern macht. Vielmehr sind sie weiterauf ergänzende Leistungen angewiesen. Damit kann einBildungsgeld das Ziel, das angegeben worden ist, nichterreichen.Konsequent war – ich sehe ihn gerade – im Grunde nurder Kollege Berninger,
der einen Vorschlag vorgelegt hat, durch den Studierendewirklich unabhängig von ihren Eltern würden.
Herr Kollege Berninger, ich erkenne an – das habenauch viele andere bereits getan –, dass Sie die BaföG-Diskussion um einen interessanten Vorschlag bereicherthaben.
Er hatte allerdings einen ganz gewaltigen Nachteil: Jedersollte entsprechend seinem Bedarf aus einem Fonds Geldanfordern können. Allerdings sollte dieses Geld nicht alsZuschuss gewährt werden, sondern Kollege Berninger,der auch etwas von Finanzen versteht,
hat gesagt: Wenn die Leute im Beruf sind, dann müssensie das entsprechend ihrem Einkommen wieder zurück-zahlen.
In diesem Zusammenhang habe ich Sie nicht verstanden,Herr Kollege Berninger. Wenn es um die Unabhängigkeitvon den Eltern geht, spielt eine hohe Darlehensbelastungkeine Rolle. Sie ist dann Hemmnis für die Aufnahme ei-nes Studiums. Wenn aber andere fordern – nicht ich –,Studiengebühren einzuführen und denen, die aus einkom-mensschwachen Familien stammen, einen Kredit zu ge-währen, der später, wenn die Betreffenden etwas verdie-nen, zurückgezahlt werden muss, dann ist das Darlehen,das niedriger wäre als nach dem BAFF-Modell des Kol-legen Berninger, plötzlich ein Hemmnis für die Aufnahmeeine Studiums. Wir müssen also aufpassen: Diejenigen,die für Studiengebühren sind, können Ihre Argumentesehr gut verwenden. Aber zugegeben, Sie waren konse-quent.Meine Damen und Herren, wir haben am 9. November1999, einige Monate vor der Ministerin und noch mehrMonate vor den Regierungsfraktionen, die Eckpunkte un-seres BAföG-Konzepts vorgelegt. Wir haben auch mit un-seren Ländern darüber gesprochen. Es gab das Angebot,den Streit über das BAföG aus dem Parteienstreit heraus-zunehmen und zu einer gemeinsamen Lösung zu kom-men.Ich habe schon gesagt: Wir waren immer für eine Re-form im System. Wir wollten wie die Koalition dafür sor-gen, dass finanzielle Probleme kein Grund sind, auf denBesuch eines Gymnasiums und die anschließende Auf-nahme eines Studiums zu verzichten. Deshalb haben wirschon immer eine kräftige Erhöhung der Freibeträge undder Bedarfssätze vorgeschlagen. Einer Freibetragser-höhung kommt es gleich, wenn man sagt: Auf das Ein-kommen wird das Kindergeld nicht mehr angerechnet.Das hat noch einen weiteren Vorteil: Bisher haben die
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Dr. Gerhard Friedrich
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Leute nicht verstanden, warum bei einer Kindergeld-erhöhung die BAföG-Leistung gekürzt wurde.
Wir freuen uns, dass sich dieser Vorschlag nun im Ge-setzentwurf wiederfinden lässt.
– Auch wir freuen uns, dass Sie das langsam gelernt ha-ben. Es hat leider sehr lange gedauert.
Wir haben gemeinsam zur Kenntnis genommen, HerrKollege Tauss, dass von 100 Kindern aus einkommens-schwachen Familien 33 das Gymnasium besuchen, abernur acht einen Studienplatz einnehmen. Deshalb habenwir schon in unseren Eckpunkten vorgeschlagen, dieDarlehensobergrenze zu kappen. Auch die Hochschul-rektorenkonferenz hat uns gesagt, die hohe Darlehensbe-lastung könnte den einen oder anderen vom Studium ab-halten. – Herr Tauss nickt, aber in Ihrem Eckpunktepapierstand das noch nicht.
– Ja, Sie haben später nachgebessert. Das erleichtert unsauch die Zustimmung zu diesem Gesetz.Ich möchte an dieser Stelle anfügen: Wir sehen schonein gewisses Problem in der jetzt vorgesehenen Regelung;denn Sie sagen nicht, wie wir es gemacht hätten, die Stu-dienförderung, die zu 50 Prozent als Zuschuss und zu50 Prozent als Darlehen gewährt wird, wird auf 800 DModer einen anderen Betrag begrenzt und der darüber hi-nausgehende Betrag wird von vornherein als Zuschussausgezahlt. Das hätte nämlich bedeutet, dass diese Ver-besserungen sofort haushaltswirksam geworden wären.
Jetzt sehen Sie eine Regelung vor, in der erst am Endedes Studiums – ich weiß nicht einmal genau, wann; dassteht nämlich nicht im Gesetz –, wenn die Gesamtdarle-hensbelastung feststeht, festgelegt wird, dass dieDarlehenssumme, wenn sie über 20 000 DM liegt, ge-kappt wird. Herr Catenhusen hat meinen Verdacht be-stätigt: Diese Regelung wird erst im übernächsten Jahr-zehnt wirksam, weil der Erlass vielleicht erst in 20 Jahrenausgesprochen wird.
Finanziell solide ist das natürlich nicht.Sie erklären, Sie sparen und begrenzen die Kreditbe-lastung des Bundes, gleichzeitig verschieben Sie aber dieLasten in die Zukunft.
Hier sehen wir schon Probleme auf uns zukommen. Trotz-dem werden wir diesem Gesetz zustimmen. Im Großenund Ganzen finden wir das, was wir in unseren Eckpunk-ten als Kernelemente vorgelegt haben, in diesem Gesetzwieder. Deshalb kommen wir heute nach einer sehr lan-gen kontroversen Diskussion einerseits zwischen den Bil-dungspolitikern und andererseits zwischen den Bildungs-und den Finanzpolitikern zu einer einvernehmlichen Lö-sung.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es warschön, dem Loblied auf den Kollegen Berninger zu lau-schen, Herr Friedrich.
Es war auch interessant, dass Sie zumindest in SachenBAföG den bildungspolitischen Frieden von Berlin aus-gerufen haben. Das kann ich nur unterstützen. Ich glaubein der Tat, dass wir hier ein Paket geschnürt haben, dassich sehen lassen kann.Trotzdem möchte ich gerne den Blick zurückrichten,aber nicht im Sinne einer Abrechnung, sondern im Sinneeiner Bestandsaufnahme. Ich glaube, das ist erforderlich,um der Öffentlichkeit, die uns hier auch lauscht, klarzu-machen, an welchem Punkt wir gestartet sind.Es ist ja nicht unerheblich – das möchte ich betonen –,dass die Ausgaben im Rahmen des BAföG 1991 noch bei3,9Milliarden DM lagen und im Jahr 1998, als wir die Re-gierung übernommen haben, bei 2,3MilliardenDM. DieseReduzierung hat mit dem, was Sie im Hinblick auf dieneuen Bundesländer gesagt haben, relativ wenig zu tun;
denn die Quote sank ja schon zwischen 1982 und 1998 er-heblich.Wenn Sie dies wenigstens durch eine familien-freundliche Sozialpolitik, die das BAföG erübrigt oderweitestgehend erübrigt hätte, flankiert hätten, dannkönnte man sagen: Okay, es kommt nicht so auf dasBAföG an. Aber die Wahrheit ist, dass Sie sowohl steuer-politisch, sozialpolitisch, familienpolitisch als auch bil-dungspolitisch zurückgefahren haben und dass deshalbim Ergebnis die Situation für die Studentinnen und Stu-denten wesentlich schlechter war.Auch das sind interessante Zahlen: 1982, also langevor der Wiedervereinigung, wurden noch 28 Prozent allerStudierenden über das BAföG gefördert, im Jahre 1998waren es noch 12 Prozent. Das ist mehr als eine Halbie-rung.Ich will noch eine letzte Zahl nennen: Nach der aktu-ellen Erhebung des Deutschen Studentenwerkes ist der
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Anteil von Studenten aus – ein schreckliches Wort, dasgebe ich zu – niedrigen sozialen Herkunftsgruppen vonehemals 23 Prozent im Jahre 1982 auf 14 Prozent im Jahre1998 gesunken. Das heißt, nur noch 7 Prozent aller Hoch-schulabsolventen kommen aus einkommensschwachenFamilien.Man könnte das, jenseits aller Zahlen, vielleicht soformulieren: Während in den 70er-Jahren die Türen derUniversitäten für Arbeiterkinder weit aufgestoßen wurden,sind sie in den 90er-Jahren wieder geschlossen worden,
zumindest ein Stück weit, wenn vielleicht auch nicht vor-sätzlich. Das Ergebnis aber war schlecht und diese Ent-wicklung wollen wir umkehren.
Die Studienzeiten und die Höhe des BAföG bilden einSystem kommunizierender Röhren: Wenn das BAföGzurückgeht, muss mehr gearbeitet werden, und so verlän-gern sich die Studienzeiten. Das ist etwas, was im Grundegenommen jeder weiß. Auch in diesem Bereich wollenwir etwas verändern. Ich glaube, dazu kann das jetzt zuverabschiedende Gesetz einen wichtigen Beitrag leisten.Wichtig ist allerdings – darauf hat die Ministerin be-reits zu Recht hingewiesen –, dass wir es überhaupt erstwieder schaffen müssen, dem BAföG ein positives Imagezu geben. Gerade als Hochschullehrer kann ich sagen:Das BAföG hat bei den Studentinnen und Studenten heuteein total negatives Image; das muss man einfach sehen.Wir müssen den jungen Menschen erst wieder klarma-chen, dass man auch als Kind aus einkommensschwacherFamilie mit dem BAföG vernünftig studieren kann.
Auch hierzu die Zahlen: Förderberechtigt waren 1998etwas mehr als 1 Million Studentinnen und Studenten.Dies haben aber nur etwas mehr als 200 000 Studentinnenund Studenten in Anspruch genommen, also 20 Prozent.Das heißt, hier besteht großes Unwissen. Ich sehe es ge-nauso wie die Ministerin: Wir müssen mit einer Werbe-kampagne für das BAföG dafür sorgen, dass den Studen-tinnen und Studenten klar wird, dass sich hier eineMöglichkeit auftut.Der letzte Punkt betrifft die internationale Situation.Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir uns trotz des bil-dungspolitischen Friedens in dieser Angelegenheit nichtdie Welt schönreden. Die hier schon oft diskutierteOECD-Bildungsstudie zeigt leider aufgrund der gewach-senen Strukturen der letzten 20 Jahre im internationalenVergleich kein positives Bild Deutschlands. Im Durch-schnitt treten in der OECD, also in den westlichenIndustriestaaten, 40 Prozent aller junger Menschen einStudium an. Bei uns sind es 28 Prozent, jetzt mit leichtsteigender Tendenz. Das ist natürlich zu wenig. Außerdemerreichen bei uns nur 16 Prozent eines Altersjahrgangs aufihrem Bildungsweg einen akademischen Abschluss,während es OECD-weit 23 Prozent sind. Das ist ebenfallszu wenig. Wenn wir nicht zu einer Wissensgesellschaftmit permanentem Akademikermangel werden wollen,dann müssen wir das schleunigst ändern.
Das Gleiche gilt für die Studienzeiten. Diese sind beiuns mit im Schnitt 6,1 Jahren sehr lang. Hier werden wirnur noch von Griechenland und Österreich getoppt. Hinzukommt noch eine hohe Abbrecherquote. Summa sum-marum kann man sagen: Wir sind dabei, langsam wiederaus dem hochschulpolitischen Loch herauszukommen.
Dies wurde durch eine grundsätzliche – Geringschätzungwäre das falsche Wort – nicht angemessene Schätzung derRessource Bildung in unserer Gesellschaft verursacht.Wer in der Wissensgesellschaft bestehen will, braucht gutausgebildete junge Leute. Wir haben zu wenig Akademi-kerinnen und Akademiker. Das muss und soll sich ändern.
Fazit ist: Wir haben bei der Regierungsübernahme einesehr schwierige Situation vorgefunden. Man muss auchsagen – ein bisschen Polemik muss möglich sein –: HerrRüttgers hat zwar viel von der Ressource Bildung ge-sprochen,
aber als es um die Ressource Haushaltsmittel ging, hat ernichts erreicht.
Bei der F.D.P. – Frau Pieper wird gleich das wunder-bare Modell vortragen –
kann man sich schon fragen: Wo war die BildungsparteiF.D.P., als die Mittel für Bildung immer weiter zurückge-fahren worden sind? Sie waren so lange an der Regierungund haben das alles stillschweigend hingenommen!
Ich komme zum zweiten Teil. Vom Kollegen Friedrichist Ehrlichkeit in dieser Diskussion gefordert worden. Wirwollten ursprünglich eine stärkere Orientierung am Kri-terium der Elternunabhängigkeit. Das Modell, das Siegenannt haben, war unser Modell und hat auch im Koali-tionsvertrag seinen Niederschlag gefunden. Wir haben esin dieser Form nicht vollständig erreicht.
Das ist völlig richtig, das muss man hier konzedieren. In-sofern ist durchaus Selbstkritik angebracht.
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Dr. Reinhard Loske14983
Gleichwohl muss man sagen: Das, was wir hier vorle-gen, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Vorallen Dingen wird das BAföG endlich wieder als strategi-sches Instrument der Bildungspolitik begriffen. Die Zah-len sind von der Ministerin vorgetragen worden. Man sollsich zwar nicht nur mit Zahlen aufhalten, aber sie sindganz interessant: Mehr als 1 Milliarde DM zusätzlich proJahr wird für die Studentinnen- und Studentenförderungmobilisiert. Das ist viel Geld.
Die Ausgaben werden gegenüber 1998 um 50 Prozenterhöht. Soweit wir das heute abschätzen können – dashängt natürlich davon ab, inwieweit dies Anklang findet –,werden mit In-Kraft-Treten des Gesetzes zusätzlich über80 000 junge Leute in der Ausbildung gefördert. Das kannsich wirklich sehen lassen.Genauso ist es – das hat die Ministerin bereits be-schrieben – mit der Begrenzung der Gesamtdarlehens-belastung auf 20 000 DM. Die Belastungsobergrenzewird also gedeckelt. Dies gewährleistet ein Höchstmaß anSicherheit, Transparenz und Kalkulierbarkeit. Niemandmuss in Zukunft mehr Angst vor dem Schuldenberg da-nach haben.Es wird – auch das ist wichtig – eine verlässliche Stu-dienabschlussfinanzierung geben. Wer sein Studiumnicht innerhalb der Regelstudienzeit beendet, wird unab-hängig von den Gründen der Überschreitung für dieDauer der Abschlussphase einen Anspruch auf Förderungmit Bankdarlehen erhalten. Denn Biografien sind nichtimmer geradlinig. Es gibt gottlob immer noch Studentin-nen und Studenten, die während des Studiums Spaß daranfinden, sich politisch zu engagieren, sich in Bürgerinitia-tiven zu engagieren, sich in Tutorenprogrammen für aus-ländische Studentinnen und Studenten zu engagieren. Ichbin froh darüber, dass es so ist, auch wenn das Studiumdann etwas länger dauert. Diese Finanzierung der Ab-schlussphase ist ein wichtiger Beitrag, um solchen krum-men Biografien entgegenzukommen.
Wichtig ist auch, dass sich die Studienbedingungen fürStudierende mit Kindern in der Form verbessern, dassjetzt Erziehungsleistungen bis zum Alter der Kinder vonzehn Jahren angerechnet werden können.Das Kriterium der Internationalität ist ebenfalls sehrwichtig. Dadurch, dass das BAföG nach zwei SemesternStudium in Deutschland in jedes andere EU-Land mitge-nommen werden kann, wird die Internationalität unsererStudentinnen und Studenten gefördert. So wird vor allenDingen – was bisher nicht der Regelfall ist – das interna-tionale Studium auch für BAföG-Bezieherinnen und -Be-zieher möglich. Mit diesem Beschluss nimmt Deutschlandin Europa eine Vorreiterrolle ein. Ich glaube, es ist sehrwichtig, dass wir das Studium für unsere eigenen Studen-tinnen und Studenten internationaler machen, indem wirihnen ermöglichen, ins Ausland zu gehen. Eine aber min-destens ebenso wichtige Aufgabe ist es, dass wir unsereUniversitäten international attraktiver machen, dass wirmehr Studentinnen und Studenten aus dem Ausland an un-sere Universitäten holen. Das steht auf der Tagesordnung.Darüber müssen wir in den nächsten Jahren reden.Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Interdisziplinaritätvon Studiengängen wird in Zukunft gefördert. Studierendein Masterstudiengängen – so heißt es auf Englisch –, dieauf einem Bachelor aufbauen, erhalten künftig auch dannBAföG, wenn der Masterstudiengang eine interdiszi-plinäre Ergänzung darstellt. Hier wird ganz bewusst die In-terdisziplinarität gefördert.Der letzte Punkt: Das Gefälle beim BAföG zwischenWest und Ost ist eingeebnet worden. Das BAföG in Ost-deutschland wird auf das Westniveau angehoben. Das istgut so.
Für uns ist es sehr wichtig, parallel zu den Beschlüssen,die wir heute mit den Stimmen der Union verabschieden,ergänzend zur BAföG-Novelle ein elternunabhängigesBildungskreditprogramm aufzulegen. Dies ist ein inno-vatives Element der Studienfinanzierung. Wenn Stu-dentinnen und Studenten in einer bestimmten Lebenssi-tuation zusätzliche Mittel für ihr Studium benötigen, ohneeine Erwerbsarbeit aufnehmen zu wollen, dann ist dies einwichtiger Beitrag und kann Studienzeiten verkürzen. Wirals Grüne glauben, dass man bei der Vergabe von Kredi-ten unbedingt die Studentenwerke einbeziehen sollte;denn sie haben eine Menge Erfahrung mit der Ab-wicklung des BAföG. Sie sind in diesem Geschäft wich-tige Partner.Was uns zusammen mit den Kolleginnen und Kollegender SPD im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zusätz-lich gelungen ist, ist der nachweisabhängige Wohnzu-schlag. Er ist erhöht worden, sodass wir insgesamt bei1140 DM liegen. Die Ministerin hat es schon gesagt:Wenn man das Kindergeld hinzurechnet, kommt man auf1 400 DM. Das ist ein Budget, mit dem man ein Studiumbestreiten kann.
– Das ist uns in der Tat gemeinsam gelungen.Wenn man zusammenfasst, was wir erreicht haben, sokann man sagen: Die zentralen Elemente sind: wenigerBürokratie, mehr Gerechtigkeit, mehr Internationalität,mehr Interdisziplinarität und – das darf man ruhig sagen;denn wie Goethe schon wusste: „Am Gelde hängt‘s, zumGelde drängt doch letztlich alles“ – eben mehr Geld. Dasist ein großer Erfolg.
Ich will noch etwas zum Drei-Körbe-Modell derF.D.P. sagen; die Kollegen von der F.D.P. werden es unssicher gleich noch einmal darstellen. Ich will natürlichkonzedieren, dass eine gewisse Verwandtschaft zu demBAFF-Modell des Kollegen Matthias Berninger besteht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Dr. Reinhard Loske14984
Aber wenn ich es mir mit dem unvoreingenommenenBlick des Neulings vor Augen führe, dann muss ich schonsagen: Sie haben es sich sehr einfach gemacht. Mir fiel,nachdem sich die ganzen Regelungen dieses Gesetzent-wurfes nur auf das BAföG beziehen, folgender Satz amSchluss auf: „Die aus den genannten Neuregelungen fol-genden Änderungen des Unterhalts-, Sozial- und Steuer-rechts sollen von der Bundesregierung ebenfalls vorgelegtwerden“. Das ist keine komplette Regelung, sondern imGrunde genommen in typisch möllemannscher Manierein Windei.
Abschließend möchte ich sagen: Für uns ist es wichtig,dass verschiedene innovative Elemente in das BAföG auf-genommen worden sind. Es muss weiterentwickelt wer-den. Wir glauben, dass wir in der Frage der Bildungsfinan-zierung weiterarbeiten müssen. Das, was uns jetztgelungen ist, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung.Aber wir haben nicht umsonst den Rat zur Zukunft derBildungsfinanzierung ins Leben gerufen. Er wird seine Ar-beit bald aufnehmen. In diesem Rat sollen alle Kompo-nenten und Vorschläge für neue Konzepte geprüft werden.Vor allen Dingen sollen sie – auch das ist bei der F.D.P.nicht geschehen – in Einklang mit den Zielen Haushalts-konsolidierung, Steuerreform und Familienförderung ge-bracht werden.Dieses Thema wird uns sicherlich erhalten bleiben.Trotzdem können wir auf das, was wir heute gemeinsampräsentieren, stolz sein. Es ist ein guter Tag für die Stu-dentinnen und Studenten in Deutschland.Danke schön.
Ich erteile der Kolle-
gin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Es ist in der Tat bemerkenswert, dass wirheute zur Bundesausbildungsförderung zwei Gesetzent-würfe beraten: einen von der Bundesregierung und einenvon der F.D.P.-Bundestagsfraktion. Der Letzte ist eigent-lich der bemerkenswertere Gesetzentwurf,
weil er eine echte Reform der Bundesausbildungsförde-rung vorschlägt.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsko-alition, werden keinesfalls Ihrem Anspruch gerecht, eineder wichtigsten Bildungsreformen – Sie selbst haben sichvorgenommen, sie in dieser Legislaturperiode auf denWeg zu bringen – durchzusetzen. Mit Ihrem Gesetzent-wurf bleibt die Absicht einer echten BAföG-Reform aufder Strecke.Lassen Sie mich, bevor ich näher darauf eingehe, auseiner der vielen Pressemitteilungen des Deutschen Stu-dentenwerkes – da Sie unsere Argumente nicht hörenwollen, werden Sie doch wenigstens die Argumente derFachverbände und der Studenten interessieren – zitieren:Mit Novellen allein lässt sich eine Studienförderung,die den Anforderungen des nächsten Jahrtausends– gemeint ist dieses Jahrtausend –entspricht, nicht erreichen. Nur eine grundlegendeReform der Ausbildungsförderung kann das Ruderherumreißen ... Das Deutsche Studentenwerk forderterneut eine gerechte Ausbildungsförderung, die allenKindern aus allen Bevölkerungskreisen den Hoch-schulzugang ermöglicht.
Genau darin liegt der Knackpunkt, da die letzte Sozial-erhebung deutlich gemacht hat, dass von 100 Kindern auseinkommensschwächeren Schichten zurzeit noch 33 andie gymnasiale Oberschule, aber nur acht an die Hoch-schule kommen. Das ist das eigentliche Problem und daslösen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf nicht.
Ich möchte aus liberaler Sicht betonen, dass jederjunge Mensch am Start seines Berufslebens die gleichenBedingungen vorfinden muss. Er muss die Chance erhal-ten, unabhängig davon, aus welcher sozialen Schicht erstammt, sich durch Leistung in der Ausbildung seinen ei-genen Aufstieg erarbeiten zu können. Diesen Anspruchauf Chancengleichheit erfüllt Ihr Gesetzentwurf nicht.Auch andere wichtige Eckpunkte, wie die Stärkung derEigenverantwortung des jungen Menschen, finden inIhrem Gesetzentwurf keine Berücksichtigung. Ebensowenig tragen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf zu einemBürokratieabbau bei.
Lassen Sie mich auf die Chancengleichheit zurück-kommen: Sie erhöhen zwar über eine 21. Novelle die Frei-beträge und die Bedarfssätze, dies wird aber nur wenigenAnspruchsberechtigten zugute kommen. Ich erinnere da-ran: Im Berichtsjahr 1999/2000 wurden in den alten Bun-desländern erneut weniger Fördermittel ausgezahlt. Wirhaben dort einen Rückgang um 1,5 Prozent zu verzeich-nen. In den neuen Ländern war im gleichen Zeitraum zwarein Zuwachs von 9,9 Prozent festzustellen, aber die Ge-fördertenquote ist auch dort gesunken. Das hängt mit denschwierigeren sozialen Verhältnissen aufgrund einer sichverschlechternden Wirtschaftslage zusammen. So ist bun-desweit die Zahl der Förderungsfälle um insgesamt2,3 Prozent zurückgegangen.Wir sind bei der Beratung zu diesem Gesetzentwurfvon einer Gefördertenquote in Höhe von 13,4 Prozentausgegangen. Nach Ihrem Gesetzentwurf würden geradeeinmal 5 bis 6 Prozent mehr Personen Anspruch aufBundesausbildungsförderung haben. Somit erreichten Sieeine Gefördertenquote von circa 20 Prozent. Damit kön-nen Sie keine Chancengleichheit junger Menschen beiihrem Berufsstart erreichen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Dr. Reinhard Loske14985
Im Jahr der Einführung des BAföG hatten wir mehr alsdoppelt so viele Anspruchsberechtigte, was zeigt, wiestark die Gefördertenquote mittlerweile gesunken ist. Ichmuss zugeben, dass die F.D.P. an dieser Entwicklung nichtganz unschuldig war, weil sie dem damaligen Bildungs-minister der Union gefolgt ist.
Es gab aber, Herr Tauss, auch andere Zeiten. Ich erinneredaran, dass in der Amtszeit von BundesbildungsministerMöllemann die Bundesausbildungsförderung enorm auf-gestockt worden ist.
Ich finde, wir sollten endlich aufhören, uns bei diesemThema gegenseitig Schuldzuweisungen zu machen.
Das bringt uns nicht weiter, da ein solcher Streit auf demRücken der jungen Leute ausgetragen wird und uns in derSache nicht weiterhilft.Ich will an dieser Stelle sagen: Die Reparaturnovelle,die Sie vornehmen wollen, reicht nicht aus. Wir brauchenendlich eine Systemumstellung. Nicht umsonst haben wireine Expertenanhörung im Bildungsausschuss durch-geführt. Alle Experten – Herr Loske, ich sage Ihnen dasauch im Zusammenhang mit dem Unterhaltsrecht, HerrFriedrich – haben uns bestätigt, dass es aus unterhalts-rechtlicher oder verfassungsrechtlicher Sicht keine Vorbe-halte gibt. Auch unter Berücksichtigung des neuen Urteilsdes Bundesverfassungsgerichts wäre eine Systemum-stellung möglich, soweit man sie politisch will.
Genau das ist der Punkt: Sie wollen es politisch nichtoder Sie dürfen es nicht wollen, weil die Frau Ministerinvon ihrem eigenen Bundeskanzler zurückgepfiffen wor-den ist.
– Jawohl, von Ihrem Bundeskanzler! – Solange inDeutschland Bildungspolitik von den Regierungschefsbzw. von den Finanzministern gemacht wird, so langewird sich nichts in Richtung einer wirklichen Bildungs-reform bewegen lassen.
Wir brauchen ganz neue Koalitionen – das müssen Sieendlich erkennen –, um eine Bildungspolitik à la F.D.P.auf den Weg zu bringen.
Lassen Sie mich nach der Chancengleichheit noch einWort zur Eigenverantwortung junger Menschen sagen.Ich halte es für unverständlich, dass junge Menschen– immerhin handelt es sich um 20-Jährige, zum Teil auchum 25- bis 30-Jährige – noch immer von ihrem Elternhausabhängig sind, weil man ihnen kein eigenes Ausbildungs-geld zahlt, auf das sie meines Erachtens eigentlich einenAnspruch haben. Wir haben vorgeschlagen, dass jedemAuszubildenden, egal, ob er Student oder Berufsschülerist, der sich über den zweiten Bildungsweg qualifizierenmöchte, ein elternunabhängiges Ausbildungsgeld in Höhevon 500 DM gezahlt wird.
Das ist auch finanzierbar, wenn man die von mir ange-sprochene Systemumstellung vornimmt, wenn man Aus-bildungsfreibeträge, Steuerfreibeträge und das Kinder-geld zusammennimmt, diese Gelder in die BAföG-Kassenüberführt und sie direkt an die Auszubildenden zahlt. Daswäre ein wichtiger Beitrag, damit die jungen Leute in die-sem Land mehr Eigenverantwortung übernehmen können.Genau das sieht der F.D.P.-Gesetzentwurf vor. Das sogenannte Drei-Körbe-Modell – Sie haben es schon an-gesprochen – setzt sich aus einem elternunabhängigenAusbildungsgeld, einer Ausbildungshilfe in Form einesZuschusses für Auszubildende, die aus besonders ein-kommensschwachen Familien stammen, in Höhe von350 DM und einem Darlehen von bis zu 750 DM zu-sammen, das man nicht in Anspruch nehmen muss, aberin Anspruch nehmen kann. Genau das ist der Punkt, HerrFriedrich: Mit einem Gesamtbetrag von 1 600 DM mo-natlich werden die jungen Leute natürlich elternunabhän-gig. Dem Einzelnen stehen also nicht nur 500 DM Aus-bildungsgeld monatlich zur Verfügung. 1 600DM sind einBetrag, mit dem man seinen Lebensunterhalt während desStudiums finanzieren kann und der es einem ermöglicht,auf das Jobben neben dem Studium zu verzichten. Daswar auch ein wichtiger Punkt unseres Gesetzesvorhabens.
Wir wollten gemeinsam erreichen, dass Studenten indiesem Land ihr Studium wieder in der Regelstudienzeitabschließen können, dass sie sich nicht auf ihren Neben-job konzentrieren müssen, sondern dass sie sich ihremStudium widmen, um möglichst schnell ihren Abschlusszu machen.
Am 12. November 1998 hat die Bundesbildungsminis-terin im Deutschen Bundestag angekündigt, die große Bil-dungsreform komme in zwei Schritten: erstens Erhöhungder Mittel für den Hochschulbau und zweitens eineumfassende BAföG-Reform, durch die alle ausbildungs-bezogenen staatlichen Leistungen in ein elternunabhän-giges Ausbildungsgeld umgewandelt werden. Das warenIhre Worte, Frau Ministerin. So findet man es auch imKoalitionsvertrag von Rot-Grün wieder. Aber das, wasSie den jungen Menschen 1998 versprochen haben,scheint für Sie Schnee von gestern zu sein.
Noch nie war ein Koalitionsvertrag so sehr Makulatur wiezu Zeiten von Rot-Grün! Ich wiederhole: Bildungspolitikwird in diesem Land wahrscheinlich noch immer zu sehrvon den Regierungschefs und von den Finanzministernbestimmt. Solange das so ist, so lange verspielen wir dieZukunft der jungen Generation.
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Cornelia Pieper14986
Die Finanzierung einer echten Reform wäre möglichgewesen, wenn man es politisch nur gewollt hätte. Diejährlichen Darlehensrückflüsse in Höhe von rund 1,2Mil-liarden DM gehören eigentlich in die Bundesausbil-dungsförderungskasse und nicht in die Gesamtkasse vonFinanzminister Eichel. Auch diese Mittel könnten zur Ge-genfinanzierung des von uns vorgeschlagenen BAföG-Modells verwendet werden.
Sie hören nicht auf die F.D.P.
– Es ist Ihr Fehler, nicht auf uns zu hören. – Vielleichthören Sie auf die Hochschulrektorenkonferenz, aus derenStellungnahme ich zitieren möchte:Die HRK ist deshalb unverändert der Auffassung,dass ein grundlegender Systemwechsel vorgenom-men werden muss, da das derzeitige BAföG-Modellauch in novellierter Form die Anforderungen einerbreit angelegten, elternunabhängigen und effizientenStudienfinanzierung nicht erfüllen kann. Die HRKwird deswegen Grundlinien eines eigenen Ausbil-dungsförderungskonzepts entwickeln.Wir als F.D.P.-Fraktion werden diesen Weg weiterhin un-terstützen.Vielen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Maritta Böttcher, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Herr Friedrich, ich hatteden Eindruck, Sie betreiben hier Ablasshandel. Ihre Poli-tik wird nicht dadurch rehabilitiert werden, dass Sie demheutigen Gesetzentwurf zustimmen; denn die 16 Jahre Ih-rer Regierung haben wirklich das Ergebnis gebracht, daswir heute sehen.
Die Bundesregierung ist im Begriff, die Akte BAföG-Reform abzuschließen und in ihr gut ausgestattetes Ar-chiv der gescheiterten Reformprojekte zu geben. Die PDSwird dies nicht hinnehmen. Wir werden dafür kämpfen,dass die heutige BAföG-Debatte nicht der Ausstieg ausder Reform, sondern der Einstieg in eine strukturelle Er-neuerung der Ausbildungsförderung wird.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich willIhnen die BAföG-Novelle nicht kleinreden. Wir erkennenan, dass sich erstmals seit vielen Jahren die soziale LageStudierender nicht weiter verschlimmert, sondern dass siesich gravierend verbessert.
Damit will ich es aber auch bewenden lassen, wie Sie sichdenken können.Es war eine Lösung zum Greifen nah. Zusätzlich zuden vorliegenden Leistungsverbesserungen ließe sichdurch eine Neuordnung des Familienlastenausgleichs einwirklich elternunabhängiger Sockelbetrag für alleAuszubildenden realisieren. Sie selbst, Frau Bulmahn,haben mit der Forderung nach einer Zusammenfassungvon Kindergeld und Steuerfreibeträgen zu einer eltern-unabhängigen Sockelförderung den Wahlkampf 1998 be-stritten. Da lasse ich Ihnen nicht durchgehen, dass Sie sichaus der Verantwortung stehlen, indem Sie sich auf dieRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen.Allenfalls ergibt sich daraus – auch das ist rechtlich nichtzwingend –, dass die Sockelförderung eine bestimmteMindesthöhe nicht unterschreiten darf.Die PDS fordert daher eine elternunabhängige Sockel-förderung von 500DM monatlich für alle Auszubildenden.
Diese Sockelförderung stellt das Fundament für einestrukturelle Erneuerung der gesamten Ausbildungsförde-rung dar, die eine eltern- und partnerunabhängige, wirk-lich bedarfsdeckende Grundsicherung für Studierende so-wie Schülerinnen und Schüler gewährleistet. Studierendeaus Haushalten mit unterschiedlichen Einkommen müs-sen in vollem Umfang auf Zuschussbasis gefördert wer-den. Die Länge der Ausbildungsförderung muss dentatsächlichen Ausbildungszeiten entsprechen. Oder sollenes weiterhin die Studierenden ausbaden müssen, wennüberfüllte Seminare und fehlende Laborplätze sie am Stu-dienabschluss hindern?Auch die Höhe des BAföG muss eine Konzentrationauf Studium und Ausbildung ermöglichen.
Frau Ministerin, mit einem lustigen Studentenleben hat esnichts mehr zu tun, wenn sich junge Frauen und Männerdie Nächte nicht vor, sondern als Kellnerinnen und Kell-ner hinter dem Tresen um die Ohren schlagen müssen.Wer nach Strafgebühren für Langzeitstudenten ruft, solltesich erst einmal mit der Lebensrealität von Studentinnenund Studenten auseinander setzen.Wir halten es daher für einen kapitalen Fehler der Bun-desregierung, heute eine BAföG-Novelle zu verabschie-den, ohne gleichzeitig die Gebührenfreiheit des Hoch-schulstudiums bundesweit sicherzustellen.
Ohne Studiengebührenverbot büßt Ihre BAföG-Novelleerheblich an Wert ein.Auch können wir es uns nicht weiter leisten, nur28 Prozent eines Altersjahrgangs an die Hochschulen zulassen, während es in anderen Industrienationen weltweitschon 40 Prozent sind. Sehr geehrte Frau Ministerin, auchdas Argument mit den Schuldenlasten der Vorgängerre-gierung nutzt sich mit der Zeit ab.
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Cornelia Pieper14987
Ich halte es in dieser Frage mit dem Präsidenten der Hoch-schulrektorenkonferenz, Klaus Landfried, der das Ge-samtvolumen der BAföG-Ausgaben als „lächerlich undnicht akzeptabel“ kritisiert hat. Recht hat der HerrLandfried. Schauen Sie sich doch einmal den Bundes-haushalt 2001 genauer an! Der Bund gibt im Jahr 2001netto nicht einmal 200 Millionen DM für BAföG aus.
– Ich kann Ihnen die Zahlen dann geben oder Sie fragenmich später; ich habe jetzt nicht so viel Zeit. – Das ist inder Tat lächerlich und nicht akzeptabel. Mehr als drei Vier-tel der Ausgaben des Bundes für die Ausbildungsförde-rung von Studierenden wird von ehemaligen Studierendengetragen, die ihre Schulden abstottern. Es ist ein bildungs-und sozialpolitischer Skandal, dass die Haushaltslöchervon Herrn Eichel auf Kosten ehemaliger Studentinnen undStudenten gestopft werden.
Tragen Sie wenigstens dafür Sorge, dass die Zahlungenzweckgebunden, für eine Verbesserung der Ausbildungs-förderung, eingesetzt werden. Das ist das Mindeste, waswir von einer rot-grünen Regierung erwarten.Der Kanzler hat vor einem Jahr ein Machtwort gespro-chen und klargestellt, dass er – Koalitionsvertrag hin oderher – keine Strukturreform der Ausbildungsförderungwill – basta! Sie haben sich diesem Machtwort unterge-ordnet. Ich verstehe, dass das ein Stück weit wehtut; aberes ist in der Tat so. Sie versuchen nun auf der Basis einessystemimmanenten Reparaturkonzepts das BAföG zuverbessern. Aber auch wenn ich mich auf diesen Rahmen,den wir nie akzeptiert haben, einlasse, muss ich feststel-len: Mancher gute Gedanke wurde von Ihnen nicht kon-sequent genug umgesetzt.Beispiel Darlehensdeckelung: Wir begrüßen es, dassfür künftige Studierende die Darlehenslast auf maximal20 000 DM beschränkt werden soll. Aber warum gilt diesnicht für Studierende, deren BAföG als verzinslichesBankdarlehen geführt wird? Wir halten es generell fürfalsch, dass Studierende, die die Abschlussförderung inAnspruch nehmen oder ihr Studium um ein Jahr verlän-gern müssen, weil sie ihr Examen nicht bestanden haben,nur noch ein Bankdarlehen erhalten. Das verzinslicheBankdarlehen ist ein systemwidriger Fremdkörper in ei-nem Sozialleistungsgesetz wie dem BAföG und hat dortnichts verloren.
Dass diese Studierenden nun auch noch Schulden vonweit über 20 000 DM anhäufen müssen, verstärkt dieseUngerechtigkeit noch.Beispiel Altersgrenze: Warum halten Sie an der star-ren Altersgrenze von 30 Jahren fest? Die F.D.P. möchtedie Altersgrenze sogar auf 27 Jahre senken. Was ist mitMenschen, die auf Umwegen zum Hochschulstudiumkommen? Wie ernst nehmen Sie das in Sonntagsreden be-schworene Prinzip des lebenslangen Lernens? Wie ver-trägt es sich mit diesem Prinzip, dass Aufbau- und Vertie-fungsstudiengänge weiterhin nicht gefördert werden?Beispiel Behinderte: Warum sollen Studierende mitBehinderungen weiterhin systematisch benachteiligt wer-den?
Diese Studierenden müssen ihre Ansprüche und ihren zu-sätzlichen Bedarf nach dem Sozialgesetzbuch gegenüberverschiedenen Trägern geltend machen. Die Bewilligungdieser Leistungen ist an strengere Voraussetzungen alsbeim regulären BAföG gebunden.
Ich halte das für einen Verstoß gegen das Benachteili-gungsverbot des Grundgesetzes.
Die PDS unterstützt daher die Forderung des DeutschenStudentenwerkes nach einer Integration der Vorschriftenzur Förderung von Studierenden mit Behinderungenund/oder chronischen Krankheiten in das BAföG.
Beispiel Schüler-BAföG: Warum lässt die Bundesre-gierung die Schülerinnen und Schüler an weiterführendenallgemeinbildenden Schulen und an Berufsfachschulenim Regen stehen? Diese Schülerinnen und Schüler be-kommen weiterhin nur dann BAföG, wenn sie nicht beiihren Eltern wohnen und notwendigerweise, etwa weilkeine Schule in der Nähe liegt, auswärtig untergebrachtsind. Nur eine kleine Minderheit von Schülerinnen undSchülern wird gefördert und dabei soll es nach dem Wil-len der Bundesregierung auch bleiben.
Denken Sie auch an die jungen Menschen, die daraufangewiesen sind, ihre berufliche Ausbildung außerhalbdes dualen Systems zu absolvieren, weil es, wie in Ost-deutschland, einen strukturellen Lehrstellenmangel gibt.Diese jungen Leute werden doppelt bestraft: Sie müssenAusbildungen durchlaufen, die aufgrund der fehlendenbetrieblichen Praxis als zweitklassig gelten, und sie be-kommen weder Ausbildungsvergütung noch Ausbil-dungsförderung.Das Ausbildungsförderungsreformgesetz ist kein Re-formgesetz, sondern eine weitere Reparaturnovelle.
Es wäre daher ehrlicher, das Gesetz „21. BAföG-Novelle“zu nennen. Gleichwohl stimmt die PDS-Fraktion dieserReparaturnovelle zu, weil die Situation vieler Studieren-der, Auszubildender bzw. Schülerinnen und Schüler nachdem 1. April 2001 besser als vor dem 1. April sein wird.Diesem ersten Schritt müssen nun aber weitere folgen.Stimmen Sie daher unserem Entschließungsantrag zu, mitdem wir die Bundesregierung auffordern, diesen Weg zugehen. Denken Sie daran: Bildung ist Zukunft!
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Maritta Böttcher14988
Bevor ich die nächste
Rednerin aufrufe, habe ich das Vergnügen, auf der
Tribüne parlamentarische Kollegen begrüßen zu können.
Auf der Ehrentribüne hat fast die gesamte Hamburgische
Bürgerschaft mit ihrer Präsidentin Dr. Stapelfeldt Platz
genommen. Ich begrüße Sie herzlich.
Ihr Besuch ist für uns im wahrsten Sinne des Wortes bei-
spiellos. Es ist in der Geschichte des Deutschen Bundes-
tages offenkundig das erste Mal, dass uns das Parlament
eines Bundeslandes in toto seine Aufwartung macht.
Wir sind nicht so vermessen, zu glauben, dass Sie ge-
kommen sind, um sich bei uns Anregungen für Ihre par-
lamentarische Arbeit zu holen.
Umso mehr freut es uns, dass Sie den für echte Hanseaten
doch beschwerlichen Weg von der Waterkant ins Binnen-
land auf sich genommen haben,
um einmal nachzusehen, wie es uns in Berlin so geht.
Ich wünsche Ihnen für Ihre parlamentarische Arbeit al-
les Gute. Seien Sie herzlich willkommen!
Nun erteile ich Kollegin Brigitte Wimmer, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Vielen Dank,Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir be-schließen heute das BAföG-Reformgesetz. Das ist einguter Tag für die jungen Menschen in unserem Land,
nicht nur, aber vor allem für diejenigen, deren Elternniedrige oder mittlere Einkommen haben. Wir setzen mitdieser BAföG-Reform ein klares Signal für Chancen-gleichheit. Wir beenden endgültig den Niedergang desBAföG, den CDU/CSU und F.D.P. zu verantworten ha-ben. Wir bauen die Ausbildungsförderung neu auf und wirgeben das klare Signal: Es soll nicht mehr vom Einkom-men der Eltern abhängen, ob junge Menschen studierenkönnen oder nicht.
Wir wollen und wir brauchen mehr junge Menschen,die studieren können. Wir brauchen aber auch insgesamtmehr junge Menschen, die qualifiziert ausgebildet wer-den. Deswegen verbessern wir nicht nur das BAföG fürdie Studierenden, sondern auch die Berufsausbildungs-beihilfe, zu der nachher mein Kollege Walter Hoffmannreden wird.
Wir haben inzwischen, verehrte Kolleginnen und Kol-legen von der Opposition, in der Bildungs- und For-schungspolitik Zeichen gesetzt und Dinge erreicht, vondenen Sie noch nicht einmal zu träumen wagten, lieberHerr Kollege Friedrich.
Wir begrüßen es, dass die CDU/CSU diesem Gesetz zu-stimmen wird, und wir ertragen es mit großer Gelassen-heit, Frau Kollegin Pieper, dass sich die F.D.P. kraftvollder Stimme enthalten wird.
Nicht durchgehen lassen wir Ihnen allerdings IhrenVersuch, sich als Retter oder Retterin des BAföG aufzu-schwingen. Deshalb auch an einem bildungspolitischenFreudentag: Ihre Politik und Ihre Parteien bleiben im Ge-dächtnis der Menschen mit dem Abbau von Ausgaben fürBildungs- und Forschungspolitik verbunden;
sie bleiben mit dem Niedergang des BAföG verbunden,lieber Herr Kollege Friedrich. Das kann ich Ihnen nichtersparen.
Schauen Sie sich die Talsohle an, die Sie hinterlassenhaben. Das ist das Ergebnis 16-jähriger Regierungspolitikvon CDU/CSU und F.D.P.
Dazu noch einmal die Zahlen: 1982 waren es 37 Pro-zent der Studierenden, 1997 noch 17 Prozent der Studie-renden, die BAföG erhalten haben.
Die Bundesausgaben sind von 2,5 Milliarden DM 1992auf 1,5 Milliarden DM 1998 gefallen.Frau Kollegin Böttcher, es ist absurd, hier von200 Millionen DM Ausgaben des Bundes zu reden.Wir sind inzwischen wieder bei etwa 1,6 Milliar-den DM angelangt. Ihre Zahlen sind nun wirklich Fan-tasiezahlen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU undder CSU, zu Ihrem Verweis auf die bösen Finanzministerder Länder,
die alles verhindert haben – ich freue mich, dass sichheute Landespolitiker unter uns befinden –: Der Bundträgt zunächst einmal die Verantwortung. Mir ist kein ein-ziger heldenhafter Kampf Ihres früheren MinistersRüttgers für das BAföG bekannt,
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der an den bösen sozialdemokratischen Ländern geschei-tert wäre. Sie haben nicht gekämpft und deswegen habenSie auch nichts erreicht.
Wir sind froh, dass wir einen Regierungschef und einenFinanzminister haben, die begriffen haben, dass Bildungs-politik und Investition in die Bildung die Zu-kunftsinvestition überhaupt sind.
Wir haben viel mehr erreicht, als Sie sich jemals zu for-dern getraut haben.
Frau Kollegin Pieper, die Rede, die Sie hier halten wer-den, kann ich mir schon vorher ausmalen. Deshalb habeich überhaupt kein Problem, Ihnen zu sagen: Ja, wir woll-ten die elternunabhängige Förderung, wir wollten dasDrei-Körbe-Modell und wir haben sogar lange nach demUrteil des Verfassungsgerichts zu prüfen versucht, ob wires bekommen können. Das Urteil des Verfassungsgerichtswar auch eine schallende Ohrfeige für die Politik, die Sieuns hinterlassen haben. Wir mussten einfach feststellen:Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts war es nichtmehr möglich – davon waren wir früher alle miteinanderausgegangen –, die Zahlung dieses Ausbildungsgeldes aufStudierende zu begrenzen. Wir müssen jetzt das Ausbil-dungsgeld für alle Auszubildenden finanzieren.
– Ich kenne doch die Diskussionen. Kein Mensch hat inden Diskussionen früher davon geredet. Wir alle sind da-von ausgegangen, dass es zunächst einmal für die Studie-renden gezahlt wird. Machen Sie sich doch jetzt nicht klü-ger, als Sie damals waren. Wir haben ja alle dazugelernt.Dieses Ausbildungsgeld verursacht Kosten in derGrößenordnung von 3 bis 4 Milliarden DM. Das wissenSie. Deswegen, Frau Kollegin Pieper, habe ich IhrenGesetzentwurf unseriös genannt. Nicht das Drei-Körbe-Modell ist unseriös. Ich würde nie auf die Idee kommen,so etwas zu formulieren. Ihr Gesetzentwurf ist unseriös,
weil er überhaupt keine Antwort auf die Frage gibt, wiedas finanziert werden soll. Wir wollten nicht endlose De-batten um Geld, das wir dann doch nicht bekommen, undwollen dabei die Studierenden im Regen stehen lassen.Das war Ihre Politik, das ist nicht unsere Politik.
Kollegin Wimmer,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper? –
Bitte.
Verehrte Kollegin Wimmer,
stimmen Sie mir zu, dass die Bundesbildungsministerin
bei Regierungsantritt gesagt hat, dass sie die Zukunftsin-
vestitionen verdoppeln möchte? Und stimmen Sie mir zu,
dass der Bundeskanzler gesagt hat, er möchte das Drei-
Körbe-Modell nicht, weil er nicht verantworten könne,
dass die Eltern der Studierenden oder Auszubildenden
dann die Steuerfreibeträge nicht mehr zur Rückzahlung
der Raten für das Haus zur Verfügung hätten?
Verehrte Kolle-
gin Pieper, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts be-
wirkte ja, dass wir bestimmte Dinge, die wir ursprünglich
machen wollten, nicht mehr machen konnten. Wir müssen
doch das Urteil des Verfassungsgerichts respektieren.
Dass wir die Ausgaben für Bildung und Forschung mas-
siv erhöht haben, das können doch nicht einmal Sie be-
streiten.
Noch eine Nachfrage
der Kollegin Pieper.
Bitte schön.
Herr Präsident, davon ab-
gesehen, dass meine Frage nicht beantwortet wurde, habe
ich eine Nachfrage.
Frau Kollegin Wimmer, wenn ich mich richtig erin-
nere, sind auch Sie dabei gewesen, als nach dem BVG-Ur-
teil die Expertenanhörung mit Steuerrechtlern und Ver-
fassungsrechtlern stattfand. Ich kann mich an keine
Aussage erinnern – man hat uns, im Gegenteil, in der Idee
dieses elternunabhängigen Ausbildungsgeldes bestärkt –,
dass es verfassungsrechtlich nicht umsetzbar oder steuer-
rechtlich nicht machbar sei. Würden Sie mir bitte einmal
Ihre Erinnerung schildern, um zu verdeutlichen, was Sie
meinen?
Frau KolleginPieper, Sie fragen mich nach etwas, was ich gar nicht be-hauptet habe. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir,wollten wir das verfassungskonform umsetzen, 3 bis4 Milliarden DM benötigen würden und dass Sie mitIhrem Gesetzentwurf nicht die Antwort darauf geben, wowir diese 3 bis 4 Milliarden DM herbekommen.
Deswegen ist Ihr Gesetzentwurf unseriös.Wir wollten nicht fruchtlos streiten. Wir wollten für dieStudierenden die Situation sehr schnell verbessern. Wirhaben das gemacht. Wir haben gehandelt. Sie stehen mo-sernd und meckernd in der Ecke; wir verbessern die Situa-tion.
Deswegen noch einmal die zentralen Punkte, die wirverbessern werden: Es gibt keine Anrechnung des Kin-dergeldes beim BaföG mehr. Das Freibetragssystem wird
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Brigitte Wimmer
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vereinfacht, die Freibeträge werden deutlich angehoben.Ab 1.April werden alle Bedarfssätze deutlich angehoben.Diese Steigerung ist beträchtlich und kommt fast in dieNähe dessen, was Sie beschreiben. Wir erreichen eineVereinheitlichung der Förderung in den neuen und den al-ten Bundesländern.
Ich bin sehr froh, dass wir das jetzt haben. Ich hätte esgern schon früher gemacht.
– Nein, Sie sind nicht gescholten worden. Ihnen wurdenur gesagt, dass wir es im Moment nicht können.Wir haben eine dauerhafte Regelung hinsichtlich desStudienabschlusses – das ist eine verlässliche Hilfe –, un-abhängig von den Gründen, warum die Förderungsdauerüberschritten wird.Ich bin besonders stolz darauf – deshalb möchte ich einwenig näher auf diesen Punkt eingehen –, dass wir dieKindererziehungszeiten bei der Studienzeitverlänge-rung besser berücksichtigen. Die Ausweitung der Förde-rungsdauer, die bis zum zehnten Lebensjahr des Kindesmöglich ist, ist ein ganz wichtiger Punkt, bei dem Sie völ-lig versagt haben. Sie wollten lediglich eine Verlängerungum ein Semester. Wir haben jetzt eine Regelung geschaf-fen, die bis zur Vollendung des fünften Lebensjahres desKindes eine Verlängerung von einem Semester je Le-bensjahr vorsieht.
Für das sechste und siebte Lebensjahr gibt es eine Verlän-gerung um insgesamt ein Semester.
Für das achte bis zehnte Lebensjahr gibt es noch einmaleine Verlängerung um ein Semester. Insgesamt ist alsoeine Verlängerung um sieben Semester möglich. Das isteine große familienpolitische Leistung.
Wir halten keine Sonntagsreden.
Wir verbessern den Alltag von studierenden Eltern mitKindern. Das ist eine reife Leistung. Sie haben sich nie-mals getraut, solche Forderungen aufzustellen. Wir habenes aber geschafft.
Ich habe nichts dagegen, dass Sie unserem Gesetzent-wurf zustimmen. Ich will nur begründen, warum es rich-tig ist, dass Sie zustimmen. Es ist richtig, weil unser Ge-setz so gut ist.
Ich nenne beispielsweise die Internationalisierungund die EU-weite Mitnahme der Förderung. Frau Kolle-gin Volquartz, ich will auf diesen Punkt genauer eingehen,weil Sie nachher bestimmt darauf zu sprechen kommen.Wir haben lange darüber diskutiert, ob das Studiumzunächst für zwei Semester im Inland durchgeführt wer-den sollte. Wir haben Ihnen schon im Ausschuss gesagt– ich unterstreiche diesen Punkt noch einmal –: Dies istdie beste Regelung in ganz Europa. Aber wir sind offendafür, nach einer bestimmten Zeit zu überprüfen, ob esvernünftig ist, diese zwei Semester im Inland vorzuschal-ten. Wir sind in diesem Punkt nicht stur. Aber wir sind imMoment der Meinung, dass diese Regelung vernünftig ist.
Als weitere Punkte nenne ich die Stärkung der Inter-disziplinarität und die Begrenzung der Gesamtdarlehens-belastung auf 20 000 DM. Auch in diesem Punkt habenwir Ihnen bei der Diskussion im Ausschuss nachgewie-sen, dass unsere Regelung für die meisten Studierendenvorteilhafter und besser ist als das, was Sie fordern.Wir haben den Menschen vor der Wahl 1998 verspro-chen, dass wir für Innovation und für Gerechtigkeit sor-gen. Das vorliegende BAföG-Reformgesetz bringt Er-neuerung, stellt das Prinzip Chancengleichheit wieder inden Mittelpunkt des politischen Handelns und sorgt fürGerechtigkeit.Ich war heute zahmer, als ich es sonst bin. Ich hättenoch sehr viel mehr sagen können. Ich will zum Schlussnur noch unterstreichen, was unsere Ministerin gesagt hat,weil mir das außerordentlich wichtig ist: Wir alle sind auf-gerufen, bei den jungen Menschen wieder um Vertrauenfür das BAföG zu werben. Die Ausbildungsförderung hatwieder eine Grundlage, die dieses Vertrauen verdient. Esliegt im Interesse von uns allen, dass die jungen Men-schen ihr Recht und ihre Chancen wahrnehmen.Deswegen sage ich noch einmal: Prima, dass dieCDU/CSU zustimmt; prima, dass die PDS zustimmt. FrauPieper, Ihr Problem ist, dass sich die F.D.P. mit ihrem un-seriösen Gesetzentwurf in die Ecke stellt. Ich denke, es istein guter Tag für die jungen Menschen und für die Chan-cengleichheit in unserem Land.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Volquartz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächstein Wort an Sie, Frau Böttcher, richten. Sie haben gesagt,dass in den 16 Jahren unter der Kohl-Regierung alles denBach hinuntergegangen sei. Sie würden doch heute garnicht hier sitzen und in Freiheit reden können,
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Brigitte Wimmer
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wenn es die Kohl-Regierung nicht gegeben hätte. Das istdoch der Punkt.
Frau Kollegin Wimmer, Sie haben sich heute in der Tatsehr zahm gegeben, obwohl Sie es in Ihrem Herzen garnicht wollten. Wenn Sie von Innovation und Gerechtigkeitsprechen – das waren Ihre Versprechen vor der Wahl –,dann müssen Sie auch hinzufügen, dass Sie diese Wahl-versprechen gebrochen haben. Sie haben nämlich die el-ternunabhängige Förderung versprochen und haben die-ses Versprechen gebrochen. Die F.D.P. hat sich an das,was sie gesagt hat, gehalten, Sie nicht.
Wir sind doch darin einig, dass wir eine Reform brau-chen. Unsere Fraktion hat von Anfang an realistische Zah-len und realistische Vorschläge auf den Tisch gelegt. Siesind weiterhin bei Ihren Traumtänzereien aus dem Wahl-kampf geblieben, obwohl Sie ganz genau wussten, dassdas nicht zu finanzieren ist.Frau Wimmer, wenn Sie heute erklären, dass das nichtzu finanzieren sei, weil es mehr als 4 Milliarden DM kos-te, so muss ich Ihnen sagen: Sie haben doch vorher ge-wusst, was eine solche elternunabhängige Förderung kos-ten würde. Die Erklärung, die Sie abgegeben haben, istdoch sehr mäßig.
Es ist richtig, Frau Ministerin, worauf Sie hingewiesenhaben – Frau Wimmer hat das wiederholt – , dass das Ver-trauen der Schülerinnen und Schüler und der Studieren-den nachhaltig zerstört worden ist. Ursache dafür ist vorallem das nicht gehaltene Wahlversprechen, das Sie abge-geben haben.
Wir haben heute einen Gesetzentwurf zu verabschie-den, den wir schon vor einem Jahr hätten verabschiedenkönnen; denn die Reform innerhalb des bestehenden Sys-tems, also praktisch eine Fortführung der Politik vonCDU/CSU und F.D.P., die in den letzten 16 Jahren sehr er-folgreich war, hätten wir längst haben können. Damit hät-ten wir den Schülerinnen und Schülern und den Studie-renden einen großen Dienst erwiesen.
Ich muss noch einmal auf die Chronologie zu sprechenkommen. Herr Catenhusen, am 2. Dezember 1999 habenSie in einer Debatte hier gesagt:Wir stehen mit dieser BAföG-Reform – gemeint istdie strukturelle Reform – im Wort gegenüber denStudierenden. Ich glaube, dass wir dieses Verspre-chen auch einlösen werden.Der Glaube reicht nicht. Es hat nicht funktioniert. Siehaben es nicht eingelöst.
– Richtig.Den hohen Erwartungen, die Sie im Wahlkampf ge-weckt haben, mit denen Sie die Studierenden und dieSchüler zu ködern versucht haben als Sie versprachen,eine BAföG-Strukturreform durchzuführen, sind Sienicht gerecht geworden. Deshalb sage ich noch einmal aufIhre Anmerkung hin, Frau Ministerin: Es ist wahrlich not-wendig, dass Vertrauen zurückgewonnen wird, und zwarin vielerlei Hinsicht.Hier ist sehr viel von Finanzen gesprochen worden.Wie hat Herr Loske gesagt? Die Ressource Finanzen hatJürgen Rüttgers nicht beherrscht. Dazu sage ich einmalganz deutlich: Ihre Unabhängigkeit von den Finanzen,Frau Bulmahn, ist doch überhaupt nicht gegeben. Dawürde ich nicht Jürgen Rüttgers angreifen. Da müssen Siesich selber anschauen.
Der Kanzler hat gesagt: CDU/CSU-Eckpunkte sind inOrdnung. Basta, die werden genommen.
Wenn Sie und die Koalitionsfraktionen sich darauf be-rufen – Frau Wimmer hat das eben noch einmal getan –,dass Ihnen das Bundesverfassungsgericht mit seinen Be-schlüssen zum Familienlastenausgleich einen Strichdurch die Rechnung gemacht hat, dann kann ich mich nurwundern. Haben Sie je ernsthaft damit gerechnet, dass dieLänder und Ihr Bundesfinanzminister ein solches Modellfinanzieren können? Nein, aus der Erfahrung herauskonnten Sie damit gar nicht rechnen.Frau Ministerin, lassen Sie sich gesagt sein:Klugheit ist Erkennen der Grenzen. Höchste Klug-heit ist das Erkennen der eigenen Grenzen.Das hat der Schriftsteller Carl Endres gesagt.
Frau Ministerin, auch wenn Sie sich heute sehr mode-rat gegeben haben, in der Vergangenheit haben Sie ge-meinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün keine Gelegenheit ausgelassen, die Grenzen deralten Bundesregierung beim Thema BAföG aufzuzeigen.Sie haben dabei bewusst eines verschwiegen – mein Kol-lege Gerhard Friedrich hat schon darauf hingewiesen –:Den Verlauf der Grenzen gestalteten sozialdemokratischeLänderfinanzminister ganz wesentlich mit. Das ist dochein wichtiger Punkt gewesen.
Mit dem Festhalten an der Utopie „Strukturreform“ ha-ben Sie in jedem Fall – ich habe das schon deutlich ge-macht – Zeit verschenkt. Zeit ist bekanntlich Geld, in die-sem Falle verloren gegangenes Geld für Schülerinnen und
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Angelika Volquartz14992
Schüler sowie für Studierende, aber ein Gewinn für denFinanzminister, der der eigentliche Bildungsminister ist;Kollegin Pieper hat schon darauf hingewiesen.
Frau Ministerin, ich kann es Ihnen nicht ersparen, Siemit der Chronologie dieser Debatte zu konfrontieren.Noch am 26. Februar 1999 war Ihre wörtliche Aussage imParlament zur BAföG-Novelle:Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres einentscheidungsreifes Konzept vorlegen ... und Freibe-träge zu einer elternunabhängigen Förderung zusam-menfassen.Ich frage Sie: Können Sie eigentlich gut damit leben,dass Sie das damals gesagt haben und dass das Ende desJahres von Ihrem Staatssekretär wiederholt wurde? Ihnenwaren doch die Beschlüsse des Bundesverfassungs-gerichts längst bekannt. Sie hätten an dieser Stelle zurWahrheit neigen sollen. Das wäre Ihnen besser bekom-men.
Es kommt noch besser – Herr Catenhusen, ich möchteSie mit einer Aussage, die Sie Ende des Jahres 1999, undzwar am 2. Dezember 1999, gemacht haben, konfrontie-ren –:Sie– die Debatte –gibt uns aber keinen Anlass, von dem eingeschla-genen Weg der gründlichen Vorbereitung einer struk-turellen BAföG-Reform abzugehen ... Wir haben denEhrgeiz, unter schwierigen Umständen eine struktu-relle Reform auf den Weg zu bringen.Das war anderthalb Monate, bevor das „Basta!“ kam,das intern längst auf dem Tisch lag. Obwohl klar war, dassder jetzige Kanzler das heute berühmte „Basta“ sagen wirdund darauf dringen wird, dass die CDU/CSU-Eckpunkteumgesetzt werden, haben Sie es weiter bei Ankündigungenbelassen und immer noch keinen Gesetzentwurf vorgelegt.Es kommt noch besser: Im 13. BAföG-Bericht derBundesregierung, der am 4. Januar 2000 auf den Tisch ge-kommen ist, sprechen Sie noch davon, dass Ende 1999 dieberühmten Eckpunkte vorliegen. Diesen Bericht hättenSie – in Kenntnis dessen, dass diese Eckpunkte nicht vor-handen waren – doch gar nicht mehr herausgeben dürfen.
Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Ministerin, haben wir alsOpposition das Ziel nicht aus den Augen verloren. Wirsind im November 1999 bei dieser Reform der Taktgebergewesen.
Nun findet sie endlich statt.
– Herr Tauss, hören Sie gut zu! – Wenn sie heute verab-schiedet wird, dann sagen wir: Das ist ein vernünftigesReformprojekt,
so wie wir es von Anfang an gewollt haben.
Es fällt mir gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kol-legen leicht, das positiv zu sehen. Denn das Reformkon-zept basiert auf unseren Eckpunkten.
So hat die Bundesregierung zum Beispiel unsere For-derung aufgegriffen, die Darlehenslast für Förderungs-empfänger zu begrenzen. Das ist umso erfreulicher, alsder Antrag der Koalitionsfraktionen vom 14. März 2000eine entsprechende Regelung noch nicht enthielt. DieseNeuerung war notwendig, um die berechtigte Furcht ein-kommensschwacher Familien vor Überschuldung abzu-bauen. Denn – das einigt uns wieder – Bildung darf nichtvom Geldbeutel der Eltern abhängen.Die von der Bundesregierung gewählte Umsetzung derDarlehensbegrenzung ist aus unserer Sicht jedoch frag-würdig.Am Ende der Förderung – mein Kollege GerhardFriedrich hat vorhin schon kurz darauf hingewiesen –wird die Darlehenshöhe bei 20 000 DM gekappt. Dashört sich gut an, hat aber einen entscheidenden Hakenfür überdurchschnittlich gut und schnell Studierende:Die als Belohnung für herausragende Studienleistungeneingeräumten Erlassbeträge kommen vielfach nicht zurGeltung. Ein möglichst schnelles und erfolgreiches Stu-dium ist die beste Voraussetzung, um in einen guten Be-ruf hineinzukommen.Herr Kollege Loske, es ist ja richtig: Die Studiendauerist zu lang und die Zahl der Studienabbrecher ist zuhoch. Aber woran liegt denn das? Zum einen besteht infrüher sozialdemokratisch regierten Ländern bis heutenicht der Wille, die zwölfjährige Schulzeit flächen-deckend einzuführen. Statt dessen gibt es unverständlicheAbwehrübungen, obwohl auch diese Maßnahme zu einerVerkürzung der Ausbildungszeit insgesamt bei-trägt.
Zum anderen, Herr Loske, sind in den Schulen geradesozialdemokratisch regierter Länder schwere Ver-säumnisse, was die Lehrinhalte und Leistungen betrifft,zu verzeichnen. Dort wurde nach dem Motto: „Kinder,singt und spielt“ gehandelt, anstatt Kinder mit Freude zurLeistung zu motivieren. Aber genau das muss in denSchulen getan werden.
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Wir können uns im Ziel wieder treffen, Herr Loske: DieGesamtausbildungszeit muss verkürzt werden.Unser Vorschlag, eine monatliche Darlehensbegren-zung von 400 DM festzulegen, hätte die gewünschtenLeistungsanreize bewirkt. Dazu gab es aber leider einNein von den Regierenden.Auch hier spricht natürlich wieder der Finanzminister.Der Deckelungsansatz der Regierung wird erst imübernächsten Jahrzehnt für den Haushalt relevant. Das be-deutet im Klartext: Jetzt muss die Bundesregierung dafürnicht zahlen. Soll doch eine spätere Regierung damit klar-kommen. – Gut, wir nehmen die Herausforderung an. Wirwerden als Regierung damit klarkommen.
Bedauerlicherweise haben Sie in dem Entwurf einewichtige Gruppe vernachlässigt – das, liebe Kolleginnenund Kollegen der Koalitionsfraktionen, bedauere ichwirklich – nämlich die Gruppe der Waisenkinder. Der Ge-setzentwurf erhöht die Freibeträge für Waisenrente undWaisengelder um 6 Prozent. Im Vergleich zu den Er-höhungen der Freibeträge für Einkommen der Eltern istdies gering. Das ist insofern ungerecht, als WaisenbezügeUnterhaltsersatzleistungen sind und daher entsprechenddem Elterneinkommen behandelt werden sollten. Mankommt zu dem traurigen Ergebnis, dass der oder dieWaise von den Verbesserungen beim BAföG deutlichstärker profitieren würde, wenn der verstorbene Elternteilnoch lebte. Das kann doch nicht sein. Ich bitte, an dieserStelle noch einmal nachzudenken.
So bedauerlich die mangelnde Einsicht von Rot-Grünin diesem Punkt ist, so sehr begrüßen wir die neuen Re-gelungen zur Berücksichtigung von Kindererzie-hungszeiten. Auch das war einer unserer wesentlichenEckpunkte und ist ein wichtiger Schritt pro Familie. Vorallem die Frauen werden hiervon stark profitieren.Ebenso erfreulich ist es, dass die Forderung vonCDU/CSU, das Kindergeld künftig bei der Einkom-mensermittlung nicht mehr anzurechnen, in den Ge-setzentwurf eingeflossen ist. Kindergelderhöhungenwirken sich damit nicht mehr förderungsmindernd aus.Das ist uns ein zentrales Anliegen.Ein Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Än-derungsvorschlägen der rot-grünen Fraktion. Wir be-grüßen zum Beispiel die Internationalisierung der Förde-rung, die bereits mehrfach angesprochen wurde. DieFörderung eines Studiums im EU-Ausland auch bis zumAbschluss zu Inlandssätzen ist ein richtiger Schritt in dierichtige Richtung. Dieser Schritt hätte aber noch größerausfallen müssen. Denn, Frau Wimmer, große Schrittehätten hier auch große Erfolge bedeutet. Man hätte auf dasErfordernis verzichten können, zunächst zumindest zweiSemester in Deutschland zu studieren.Wir müssen uns doch der Herausforderung stellen,dass Studierende mehr und mehr auch die Bildungsange-bote ausländischer Hochschulen wahrnehmen wollen undmüssen. Im Zuge des Zusammenwachsens Europas müs-sen solche Bestrebungen gefördert werden. Das heißt vorallem: Schaffung unkomplizierter und unbürokratischerAuslandsförderung. Ich hoffe, dass wir schneller als ge-plant zu einer Änderung an diesem Punkt kommen. Mitetwas mehr Mut hätte hier ein deutlicheres Signal für dasZusammenwachsen Europas gesetzt werden können.
Frau Ministerin, im Rahmen der ersten Lesung des Ge-setzentwurfs haben Sie gesagt, die Oppositionsfraktionenmögen mithelfen, dass, wie Sie dies ausgedrückt haben,aus dem zukunftsweisenden Gesetzentwurf ein zukunfts-weisendes Gesetz werde. Wir haben das als Bitte verstan-den, konstruktiv etwas zur Verbesserung des ursprüngli-chen Entwurfs beizutragen bzw. daran mitzuwirken. Dassunsere Änderungsvorschläge, liebe Kolleginnen und Kol-legen, gänzlich unberücksichtigt geblieben sind, ist be-sonders engherzig von der Koalition.Wir sind allerdings großzügig.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollege Walter Hoffmann, SPD-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mankönnte eigentlich sagen: Die Argumente sind ausge-tauscht.
Es wiederholt sich jetzt einiges. Allerdings gibt es einenBereich, von dem ich meine, dass er bis jetzt eine unter-geordnete Rolle gespielt hat.Wenn man über BAföG redet, denkt man unwillkürlichan Studentinnen und Studenten an den Hochschulen undFachhochschulen. In diesem Zusammenhang wird ver-gessen, dass das BAföG auch für andere gilt,
beispielsweise für Schülerinnen und Schüler an weiter-führenden Schulen, wie Abendschulen, Berufsaufbau-schulen, Berufsfachschulen sowie Fach- und Fachober-schulen.Das BAföG hat aber auch Auswirkungen auf Auszu-bildende, die eine berufliche Ausbildung zum Beispiel imHandwerk oder in der Industrie absolvieren, und auf Teil-nehmer an einer berufsvorbereitenden Maßnahme derBundesanstalt für Arbeit.
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Angelika Volquartz14994
Diese Gruppen haben nach dem Sozialgesetzbuch IIIAnspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe. Diese Be-rufsausbildungsbeihilfe orientiert sich an den Regelndes Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Vorausset-zung ist, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst be-streiten und mit der Ausbildung verbundene Kostennicht selbst tragen können.Ausbildungsgeld erhalten auch Behinderte, die einerbesonderen Förderung bedürfen und deshalb in einer spe-ziellen Einrichtung für Behinderte, zum Beispiel in einemBerufsbildungswerk, ausgebildet werden. Auch diesesAusbildungsgeld für Behinderte orientiert sich an denRegelungen im BAföG.
Es war, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebeKolleginnen und Kollegen, immer Konsens in diesemHaus, dass der Bund alle Formen der weiterführenden be-ruflichen Bildung in den BAföG-Regelungen in analogerWeise unterstützt hat. Eine Studentin soll und darf einerAuszubildenden gegenüber nicht bevorzugt werden.
Beiden muss es ermöglicht werden, unabhängig vom ei-genen Einkommen oder dem der Eltern eine berufsquali-fizierende Ausbildung zu absolvieren.
Ich meine daher, dass es konsequent, bildungspolitischsinnvoll und gerecht ist, die mit diesem Ausbildungsför-derungsreformgesetz erreichten Verbesserungen in derSchüler- und Studentenförderung in gleichem Umfangauf die Auszubildenden und die Teilnehmer an berufsvor-bereitenden Maßnahmen auszudehnen. Das machen wirhiermit.
Unsere BAföG-Reform wird diesem Anspruch ge-recht. Vom 1. August dieses Jahres an werden auch Lehr-linge und sich auf den Beruf vorbereitende Jugendliche,ob behindert oder nicht, von der Erhöhung der Einkom-mensfreibeträge – im Durchschnitt 6 Prozent, wie wirgehört haben –, von der Nichtanrechnung des Kindergel-des, der Anhebung der Bedarfssätze und der Erhöhung derMietkostenpauschale profitieren. Das ist gut so.
Diese Erhöhung war überfällig, wie wir alle wissen,weil mit ihr die jahrelangen Versäumnisse der alten Ko-alition endlich ausgeglichen werden. Ein Auszubildendermuss sich jetzt weniger Sorgen darüber machen, ob ersich eine Ausbildung leisten kann oder nicht. Wir habenerreicht, dass der Geldbeutel der Eltern nicht mehr überdie Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmt, wiees Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regie-rungserklärung am 10. November 1998 formuliert hat.Damit haben wir ein weiteres unserer Wahlversprecheneingelöst.
Die Zeiten sind vorbei, in denen die Ausgaben für dieAusbildungsförderung real gekürzt wurden und immerweniger Studierende und Auszubildende Unterstützungerhielten. Sie gehören Gott sei Dank endlich der Vergan-genheit an. Heute werden wir entscheidende Verbesse-rungen nicht nur in der Leistungshöhe, sondern auch inder Struktur der Förderung von Auszubildenden undTeilnehmern an berufsvorbereitenden Maßnahmen durch-setzen.Wir entschlacken das SGB III von überflüssigen büro-kratischen Regelungen, schneiden alte Zöpfe ab und glei-chen die Regelungen in BAföG und SGB III stärker ein-ander an.
Bestes Beispiel ist die Abschaffung der unterschiedlichenFörderung von Auszubildenden nach Alter und Familien-stand. Wir meinen, dass diese Kriterien sich längst über-lebt haben und in der Praxis teilweise kontraproduktivwirken.Statt etlicher unterschiedlicher Förderungsgruppen jenach Alter, Familienstand und Ort der Ausbildungsstätte– Ost oder West – schaffen wir nun eine bundeseinheitli-che und übersichtliche Förderstruktur,
die sachgerecht die Höhe der Berufsausbildungsbeihilfenur noch nach zwei Kriterien festlegt: Erstens. Wohnt derAuszubildende bei den Eltern oder ist er auswärts unter-gebracht? Zweitens. Absolviert er eine berufliche Ausbil-dung oder nimmt er an einer berufsvorbereitenden Maß-nahme teil?In Zukunft ist es relativ einfach: Ein Auszubildenderin einer normalen beruflichen Ausbildung wird künftigStudierenden an Fachschulen gleichgestellt und kann biszu 865 DM bekommen. Teilnehmer an berufsvorberei-tenden Maßnahmen hingegen werden Berufsfach-schülern gleichgestellt und erhalten künftig je nach Un-terbringung zwischen 375 und 680 DM. Diese einfacheund klare Regelung wird es in Zukunft vielen Auszubil-denden erleichtern, ihren Anspruch auf Förderung wahr-zunehmen.
Meine Damen und Herren, für die verheirateten oderüber 21 Jahre alten Teilnehmer an einer berufsvorberei-tenden Maßnahme werden die Bedarfssätze allerdingsgekürzt. Dies ist aber aus unserer Sicht sachgerecht undstellt eine strukturelle Veränderung der Berufsausbil-dungsbeihilfe dar. Die Erfahrungen aus dem Jugendso-fortprogramm JUMP haben gezeigt, dass die relativ ho-hen Sätze in der Berufsvorbereitung den Übergang in einebetriebliche oder außerbetriebliche Ausbildung in vielenFällen blockieren und ganz besonders heimatferneAusbildungsangebote unattraktiv machen. Es kann nichtrichtig sein, dass Jugendliche in der Berufsvorbereitungmehr Geld erhalten als später in der anschließenden Be-rufsausbildung. Das korrigieren wir jetzt.Auch die Teilnahme an der JUMP-Maßnahme „Arbeitund Qualifizierung für noch nicht ausbildungsgeeignete
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Walter Hoffmann
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Jugendliche“ wurde sehr oft mit dem Hinweis auf diehöhere Entlohnung in der berufsvorbereitenden Bildungs-maßnahme abgelehnt. Das ändern wir durch dieses Ge-setz.
Tatsache ist auch: Es wird in Zukunft mehr Teilnehmeran berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen geben, dieFörderbeträge erhalten. In Zukunft wird vor allem dasEinkommen der Eltern und Ehegatten nicht angerechnet.Mit dieser Reform werden wir weitere wichtige Ver-besserungen umsetzen: Wir haben den Freibetrag fürAuszubildende bezüglich der Anrechnung der Aus-bildungsvergütung weiter erhöht. Mit diesem Gesetz wer-den wir zur weiteren Entschlackung den Bewilligungs-zeitraum für die Berufsausbildungsbeihilfe und dasAusbildungsgeld auf 18 Monate erhöhen, sodass der Aus-zubildende in Zukunft nur noch zweimal während einerregulären Ausbildung einen Antrag auf Förderung zu stel-len braucht. Das entlastet die Betroffenen und bedeuteteine erhebliche Erleichterung für die zuständigen Ämterund Behörden.
Die Berufsausbildungsbeihilfe kann in Zukunft wiederdurch Dritte aufgestockt werden. Besonders Bundeslän-der, in denen heute schon ein Mangel an Auszubildendenin vielen Berufen besteht, werden diese Möglichkeit zurbesseren Ausschöpfung des Ausbildungsstellenangebotesund zur besonderen Förderung der regionalen Mobilitätnutzen.Und: Zum Zwecke der Vereinfachung und der engerenAnbindung der Förderleistungen nach dem SGB III fügenwir Verweise ein, die künftige Erhöhungen beim BAföGautomatisch auf das SGB III ausdehnen.
Lassen Sie mich zusammenfassend noch einmal eineBewertung vornehmen: Diese Reform bedeutet Entbüro-kratisierung und Verwaltungsvereinfachung. Sie stellt dieBetroffenen finanziell besser und macht sie unabhängiger.
Sie realisiert mehr Gleichberechtigung zwischen berufli-cher und allgemeiner Bildung
und leistet einen entschiedenen Beitrag zur Verbesserungder Qualifikation der jungen Menschen.
Uns allen ist klar, dass wir die Herausforderungen derZukunft nur durch ein höheres Ausbildungsniveau erfolg-reich bewältigen können, und deswegen ist es gut, dassdas Haus diesem Gesetzentwurf überwiegend zustimmt.Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reformund Verbesserung der Ausbildungsförderung, Drucksa-chen 14/4731 und 14/5276.Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfes inder Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Stimm-enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthal-tung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-tion der PDS auf Drucksache 14/5279. Wer stimmt fürdiesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Stimmenthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mitden Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktionder PDS abgelehnt worden.Abstimmung über den Entwurf eines Bundesausbil-dungsförderungsgesetzes der Fraktion der F.D.P. aufDrucksache 14/2253. Der Ausschuss für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unterNr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache14/5276, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2253 zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen dieStimmen der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Damit entfälltnach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr dieTagesordnungspunkte 15 a und b auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
der Fraktion der CDU/CSUZukunft der friedlichen Nutzung der Kern-energie – Zukunft der Entsorgung– Drucksachen 14/1365, 14/5162 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu dem An-trag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr. Peter
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Paziorek, Dr. Klaus W. Lippold , wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUDie Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergiefür den Standort Deutschland– Drucksachen 14/3667, 14/4569 –Berichterstattung:Abgeordnete Horst KubatschkaKurt-Dieter GrillMichaele HustedtBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterZur Großen Anfrage liegt je ein Entschließungsantragder Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P.vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenHorst Kubatschka, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigenuns heute mit der Großen Anfrage der CDU/CSU „Zu-kunft der friedlichen Nutzung der Kernenergie – Zukunftder Entsorgung“. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich wahr-lich Mühe gegeben und 139 Fragen zu Papier gebracht.Sie hat sich viel Mühe gegeben für eine Technik des ver-gangenen Jahrhunderts. Sie hat viel Zeit investiert in dieVergangenheit. Sie macht sich immer noch die Hoffnun-gen der 50er- und 60er-Jahre. Damals versprach uns dieWissenschaft das Ende aller Energiesorgen. KritischeStimmen wurden nicht wahrgenommen. Ein Zeitalter desEnergieüberflusses wurde versprochen, sogar das Perpe-tuum mobile schien in Form des Schnellen Brüters ingreifbare Nähe zu rücken.Nur, die Hoffnungen der 50er- und 60er-Jahre habensich nicht erfüllt. Auf die Blütenträume der „Atome fürden Frieden“ fiel Raureif. Dieser Raureif hieß Harrisburgin den USA, Tschernobyl in der ehemaligen Sowjetunionund Tokaimura in Japan. Statt „Atome für den Frieden“blieben uns ungelöste Probleme. Ich möchte nur zweischwerpunktmäßig aufgreifen: erstens das Restrisiko undzweitens die Entsorgung.Es gibt nach wie vor ein Restrisiko, das sich nicht ver-nachlässigen lässt. Dem sehr geringen Risiko eines größ-ten anzunehmenden Unfalls steht die Gefahr des maxi-malen Schadens gegenüber. Man muss auch immerwieder darauf hinweisen: Wir hinterlassen unseren Enke-linnen und Enkeln eine strahlende Hypothek, eine wirkli-che Belastung. Auch in Frankreich, Japan oder den Verei-nigten Staaten von Amerika gibt es keine Lösung für dieEndlagerung. Die Wissenschaft hat keine endgültige Lö-sung gefunden. Nicht einmal in der Theorie ist sich dieWissenschaft einig. Von einem genehmigten Endlagersind wir noch weit entfernt.Eine Technik, die solche Zukunftsprobleme schafft, isteine Technik der Vergangenheit. Die Aufgabe lautet:Mehr als 100 000 Jahre muss der Atommüll sicher ver-wahrt werden. Nur um die Dimension darzustellen: InDeutschland wird in diesem Jahr der 300. GeburtstagPreußens gefeiert.Wie Goethes Zauberlehrling haben wir in den 50er-und 60er-Jahren den Besen aus der Ecke geholt. Der Zau-berlehrling schöpft immer noch Atommüll und wir habennoch keinen Meister, der diesen Besen in die Ecke ver-bannt.Mit den Antworten der Bundesregierung wird dieCDU/CSU – ich nehme an, auch die F.D.P. – nicht zufrie-den sein. Die rot-grüne Regierung kann Ihnen auch keineAntworten geben, die in Ihrem Sinne sind. Die richtigeAntwort lautet: Die rot-grüne Regierung und die sie tra-genden Fraktionen wollen kontrolliert aus der Kernener-gie aussteigen; nicht in einem Jahr, wie manche Umwelt-verbände fordern. Wir werden den Ausstieg kurz- undmittelfristig angehen. Damit geben wir ein Beispiel, wieeine Hightech-Nation aus einer überholten Technik derVergangenheit, der die CDU/CSU und die F.D.P. anhän-gen, aussteigt. Die Kernenergie in ihrer jetzigen Konzep-tion ist überholt.Wir haben vereinbart, im Konsens mit den EVUs aus-zusteigen. Es wird aber auch Zeit, dass wir im Konsensein Stück vorankommen. Die EVUs sind aufgefordert, dieKonsensvereinbarungen zu unterschreiben und damitden entscheidenden nächsten Schritt zu machen.Von den Kernkraftbefürwortern wird auch immer wie-der behauptet, dass Deutschland allein aus der Kernener-gie aussteigen will. Deutschland ist auf diesem schwieri-gen Weg des Ausstiegs nicht allein. Es wird immer wiedervergessen, dass die Mehrheit der EU-Staaten gar nicht indie Kernenergie eingestiegen ist oder sich ebenfalls aufdem Ausstiegspfad befindet.
– Ich habe von der EU gesprochen und Russland gehörtnicht dazu. Die gehen denselben Irrweg wie Sie, HerrKollege. Mich freut es weniger, dass Sie den gemeinsa-men Weg mit Russland für den richtigen Weg halten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,Ihre Große Anfrage ist in manchen Teilen irreführend,denn eine Zukunft der friedlichen Nutzung der Kernener-gie wird es in Deutschland nicht geben.Nun möchte ich mich dem CDU/CSU-Antrag „DieFolgen des Ausstiegs aus der Kernenergie für den Stand-ort Deutschland“ zuwenden. Schon einige Feststellungendes Antrages sind fragwürdig. Einige Beispiele möchteich aufführen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Atomkraft-werke muss angezweifelt werden. Niemand würde heuteaus Gründen der Wirtschaftlichkeit ein Kernkraftwerkbauen. Sie sind einfach zu teuer. Es gibt auch keine posi-tive Entwicklung zu neuen, inhärent sicheren Kernkraft-werken. Die jetzigen Konzeptionen bedeuten keine in sichsicheren Kernkraftwerke. Gäbe es diese, hätten wir nochimmer ein Problem, nämlich das der Entsorgung.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Präsident Wolfgang Thierse14997
Wir wollen die Kernkraftwerke auch nicht durchKohlekraftwerke ersetzen, wie Sie behaupten.
– Der Dreiklang heißt – damit beantworte ich Ihr „Son-dern?“ –: Energie sparen, Energieeffizienz und erneuer-bare Energien. Diese drei Möglichkeiten sind die Fix-punkte der zukünftigen Energiepolitik.Einiges haben wir schon auf den Weg gebracht – ichmöchte drei Beispiele aufzählen –:
Das 100000-Dächer-Programm für die Photovoltaik hateinen enormen Schub für diese Technik gebracht. Damitwollen wir die Kosten für den Strom aus Photovoltaikan-lagen senken und für die Anlagenhersteller eine Langzeit-perspektive entwickeln. Die notwendigen Produktionska-pazitäten werden aufgebaut. Dies ist eine Technik derZukunft.Manche Kernkraftwerksfreaks unterstellen uns, dasswir Kernkraftwerke durch die Photovoltaik ersetzen woll-ten. Das ist nicht der Fall und in absehbarer Zeit sicher-lich auch nicht möglich. Dass aber Photovoltaik bei In-selversorgung bereits heute wirtschaftlich ist, wirdniemand ernsthaft bestreiten. Diesen Weg werden wirweitergehen.
Auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Teildieses Konzeptes. Dieses Gesetz ist ein voller Erfolg.Ohne dieses Gesetz wären in Deutschland 20 000Arbeits-plätze vernichtet worden. Das Erneuerbare-Energien-Ge-setz hat in Deutschland die Windkraft gerettet, nachdemdas Stromeinspeisungsgesetz nicht mehr wirksam war.Durch dieses Gesetz stieg die Stromproduktion aus Wind-kraft von 5,5 Milliarden Kilowattstunden in einem Jahrauf 9,2 Milliarden Kilowattstunden. Das sind fast 2 Pro-zent der Stromerzeugung in Deutschland. Vor zehn Jahrenwäre das noch völlig unvorstellbar gewesen und als Uto-pie bezeichnet worden.Ähnliche Entwicklungen werden wir auch bei der Bio-masse erleben. Hier eröffnet sich für die Landwirtschafteine neue Zukunftschance. In die Zukunft schauendeLandwirte haben diese Chance bereits erkannt, haben siegenutzt und werden sie verstärkt nutzen. Ich möchte allenBürgerinnen und Bürgern danken, die auf diesem WegFantasie und Unternehmungsgeist bewiesen haben.
Mit ihnen werden wir es schaffen, in zehn Jahren den An-teil der erneuerbaren Energien in Deutschland zu verdop-peln. Damit haben wir eine einheimische Energiequellegesichert und Zehntausende von Arbeitsplätzen für dieZukunft geschaffen.Ich habe nur wenige Beispiele von unserem Konzeptausgeführt. Wir haben die ersten Schritte gemacht, wei-tere werden folgen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Atomenergiean-hänger werden behaupten, diese Maßnahmen würden nurdurch Subventionen ermöglicht. Um es klar zu sagen:Ohne Subventionen lassen sich erneuerbare Energiennicht auf dem Markt durchsetzen. Damit verhält es sichgenauso wie mit der Kernenergie in der Vergangenheit.Auch sie musste hoch subventioniert gegen die Braun-und Steinkohle durchgesetzt werden. Wären wir nicht indie Sackgasse der Kernenergie gelaufen, wären wir aufdem Gebiet der erneuerbaren Energien, der Energieeffizi-enz und der Energieeinsparung bedeutend weiter.In Ihren Antragsforderungen schreiben Sie auch vomEntsorgungsnachweis; die Entsorgung solle gewährleistetwerden. Dazu möchte ich Folgendes anmerken: Seit Be-ginn der kommerziellen Nutzung der Kernenergie habenwir uns etwas vorgemacht. Für uns war ein Kernkraftwerkentsorgt, wenn der Abtransport in eine Wiederaufberei-tungsanlage erfolgte. Die Wiederaufbereitungsanlage waralso der Entsorgungsnachweis. Tatsache ist: Die Wieder-aufbereitungsanlage hat die Entsorgung eher erschwertund verteuert. Deswegen werden wir die Wiederaufberei-tung beenden.Kein Kernkraftwerk in Deutschland ist wirklich ent-sorgt. Es gibt keine Endlager. Allein aus diesem Grundmüssen wir aus der Kernenergie aussteigen. Die Kern-energie ist eine Technik der Vergangenheit, der dieCDU/CSU und die F.D.P. anhängen.Im Rahmen dieser Debatte möchte ich einige kurzeAusführungen zum Kernkraftwerk Temelin in der Tsche-chischen Republik machen. Seit Jahren beschäftige ichmich mit diesem Thema. Das Kraftwerk liegt nicht weit– circa 60 Kilometer – von der deutschen Grenze entfernt.Ich möchte der tschechischen Regierung nicht in ihrenVerantwortungsbereich hineinreden, möchte aber beto-nen: Als Nachbar wären wir bei einem GAU betroffen.Dies ist die Lehre von Tschernobyl.
Die radioaktiven Belastungen, die freigesetzt werden, hal-ten sich bekanntlich nicht an Grenzen, höchstens an fran-zösische Grenzen.Unsere tschechischen Nachbarn müssten sich wegendes Kernkraftwerkes Temelin große Sorgen machen.
Dies hat der Probebetrieb bewiesen. Bei einer Belastungvon circa 35 Prozent kam es unter anderem zu Schwierig-keiten an der Turbine, also im konventionellen Teil. Nurzur Erinnerung: Der GAU in Tschernobyl wurde ebenfallsdurch einen Schaden im konventionellen Bereich der An-lage ausgelöst. Die tschechische Regierung wäre also gutberaten, im Interesse ihrer Bevölkerung Temelin nicht andas Netz zu nehmen.
Doch auch hier zeigt sich, dass es besser ist, gar nicht erstin die Kernenergie einzusteigen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Horst Kubatschka14998
Zum Schluss möchte ich zusammenfassend sagen: DieCDU/CSU-Fraktion hat fleißig Fragen im Zusammen-hang mit einer Technik der Vergangenheit gesammelt. Eswäre zukunftsweisender gewesen, wenn sie sich in einerGroßen Anfrage mit den erneuerbaren Energien auseinan-der gesetzt hätte. Aber bei diesen Fragen sitzt sie be-kanntlich im Bremserhäuschen.
Ich gebedem Kollegen Dr. Peter Paziorek für die CDU/CSU-Frak-tion das Wort.Dr. Peter Paziorek (von Abgeordnetender CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Die im Januar endlich vorge-legte Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfragezur friedlichen Nutzung der Kernenergie, insbesonderezur Entsorgung, ist in höchstem Maße unbefriedigend. Sielässt kein konkretes Konzept der Bundesregierung hin-sichtlich der Entsorgung radioaktiver Abfälle erken-nen. Die Tatsache, dass die Anfrage, die der Bundesregie-rung im Juni 1999 – also vor mehr als eineinhalb Jahren –vorgelegt wurde, erst jetzt beantwortet wird, zeigt, wieschwer sich die Bundesregierung tut, Antworten auf drän-gende Fragen zu finden.
Bei dem Eiertanz, den Umweltminister Trittin in denletzten beiden Tagen im Zusammenhang mit den Trans-porten von Hanau nach Frankreich veranstaltet hat, wirddeutlich: Die ideologische Verblendung früherer Jahrefällt heute auf die Verantwortlichen in der Regierungzurück.
Es ist wohl unbestritten: Auch derjenige, der gegen denWeiterbetrieb deutscher Atomkraftwerke ist, muss heuteverbindlich sagen können, wo er den atomaren Abfall la-gern will. Die rot-grüne Bundesregierung hat ohne Notden seit 1979 geltenden Entsorgungskonsens zwischenBund und Ländern aufgekündigt. Trotz der Beantwortungder Großen Anfrage bleibt die Bundesregierung den Be-weis dafür schuldig, warum sie das bisherige Entsor-gungskonzept für gescheitert erklärt hat. Die Bundesre-gierung hat in der Beantwortung unserer Anfrage keinschlüssiges Entsorgungskonzept vorgelegt.Man muss sich einmal vorstellen: Sie hat das alte Ent-sorgungskonzept aufgehoben und spricht heute nur da-von, dass sie zurzeit einen Entsorgungsplan vorbereitet,der die Untersuchung weiterer Standorte vorsieht. FürGorleben spricht sie ein Moratorium aus, obwohl sie zu-gestehen muss, dass keine Erkenntnisse vorliegen, die dieRealisierung eines Endlagers am Standort Gorleben aus-schließen würden. Wie unglaubwürdig UmweltministerTrittin bei seinem Entsorgungskurs geworden ist, wird da-durch deutlich, dass er gestern im Bundestag unterstellte,Gorleben sei von der Vorgängerregierung nur deshalbausgesucht worden, weil die Lage an der innerdeutschenGrenze politisch gut gewesen sei. Aber er hat im gleichenAtemzug verschwiegen, dass er als Umweltminister nochvor Kurzem eine Erklärung paraphiert hat, aus der her-vorgeht, dass Gorleben unter sachlichen Gesichtspunktenals Endlager geeignet ist. Herr Präsident, mit Ihrer Ge-nehmigung möchte ich aus der Anlage 4 zu der Verein-barung zwischen der Bundesregierung und den EVUszum Salzstock in Gorleben zitieren:Die analytisch bestimmten Hebungsraten des Salz-stockes lassen erwarten, dass im Hinblick auf mögli-che Hebungen auch in sehr langen Zeithorizonten
nicht mit
hierdurch verursachten Gefährdungen zu rechnenist. Es wurden keine nennenswerten Lösungs-, Gas-und Kondensateinschlüsse im Älteren Steinsalz ge-funden. Die bisherigen Erkenntnisse über ein dichtesGebirge und damit die Barrierefunktion des Salzeswurden positiv bestätigt.Diese Vereinbarung mit den EVUs hat die Bundesre-gierung paraphiert. Trotzdem tut man im Deutschen Bun-destag so, als ob die Bundesregierung nicht zugegebenhätte, dass der Salzstock Gorleben – wie sagen die Berg-leute? – höffig und geeignet ist. Das ist unredlich. Damitbeschädigen Sie in großem Maße Ihre sachliche Autorität,Herr Bundesumweltminister.
– Herr Kollege Hirche, das ist der eine Grund. Man stopptdas auch, damit man aus den Begründungsschwierigkei-ten, in denen man bezüglich der eigenen rot-grünen Basissteckt, herauskommt. Das ist der tatsächliche Grund.Obwohl also Endlagerstätten existieren, deren Eignungund Sicherheit außer Frage stehen, und Milliardenbeträgein die Endlagerprojekte Konrad und Gorleben investiertwurden, erzwingt nun diese Bundesregierung die Erkun-dung alternativer Standorte. Hier wird Kapital vernichtet,was für eine ideologiegeprägte Politik leider kennzeich-nend ist.In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSUerklärt die Bundesregierung – das muss man sich einmalvor Augen führen –, dass ein Endlager erst im Jahre 2030zur Verfügung stehen soll. Man muss die Bundesregie-rung fragen, wie sie darauf kommt. Man könnte genausogut am bisherigen Ziel festhalten, demgemäß ein Endla-ger schon im Jahr 2010 zur Verfügung stehen sollte. DieAntwort auf die Frage, warum man daran nicht festhält,kann doch nur in der Ideologie liegen. Man kann nur dannden Ausstiegskurs begründen, wenn man, wie es HerrKubatschka vorhin getan hat, sagt: Es steht im Augenblicknoch kein Endlager zur Verfügung.Die Politik wird unredlich, wenn man gleichzeitig sagt:Wir unternehmen auch nichts, damit bis zum Jahre 2010oder 2015 ein Endlager zur Verfügung steht. Wir sagenschon heute definitiv: Uns reicht es, wenn ein Endlagererst im Jahre 2030 zur Verfügung steht. – Was soll das?Will man bis dahin mit Zwischenlagern und Übergangs-genehmigungen arbeiten? Herr Kubatschka, Ihr Kurs ist
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Horst Kubatschka14999
in höchstem Maße unverantwortlich und muss deshalb indiesem Hause gerügt werden.
– Herr Kubatschka, es scheint doch so zu sein, dass mansich auf das Datum 2030 deshalb festgelegt hat, weil
diese Bundesregierung und diese rot-grüne Koalition diegroße Hoffnung haben, dass dann all die Protestierer undBlockierer alt und gebrechlich sind und nicht mehr in derLage sein werden, sich irgendwo auf die Schienen zu set-zen. Das ist der Grund, warum Sie sich auf das Datum2030 geeinigt haben. Sie haben keine Konzepte und ver-schieben deshalb die Entscheidung auf den Sankt-Nim-merleins-Tag.
– Ich bin 2030 sicherlich nicht mehr Mitglied dieses Hau-ses. Den Ehrgeiz habe ich nicht.Ich halte das Verhalten der Bundesregierung nicht nurunter aktuellen Gesichtspunkten für unverantwortlich. Ichhalte dieses Verhalten – das muss ich klar und deutlich sa-gen – auch gegenüber den kommenden Generationen fürin höchstem Maße unverantwortlich.
Ich verstehe überhaupt nicht, woher Sie, die jetzige Ge-neration, die moralische Berechtigung nehmen, die not-wendigen Entscheidungen zu blockieren, sie auf denSankt-Nimmerleins-Tag und damit auf die zukünftigenGenerationen zu verschieben. Genau das tun Sie, wennSie beschließen, dass ein Endlager erst im Jahre 2030 zurVerfügung stehen muss.
Dieses Verhalten deckt sich überhaupt nicht mit der ewigmoralisch angesäuerten Politik, die Sie betreiben. Ichhalte Ihr Verhalten in höchstem Maße für unverantwort-lich.
Man muss deutlich sagen, dass Deutschland seine in-ternationale Vorreiterrolle im Bereich der Entsorgungund der Sicherheitsvorsorge durch Ihre Politik verlierenwird. Deutschland wird – das ist ganz klar – seine Rolleals international anerkannter, kompetenter Gesprächs-partner und Impulsgeber im Bereich der Weiterentwick-lung der Kernenergie einbüßen. Deutschland wird – die-sen Anspruch hat es bisher erhoben – bei der sicherenAusgestaltung der Kernkraftwerke in unseren europä-ischen Nachbarländern nicht mehr mitreden können.Auch das halte ich moralisch für nicht tragbar.Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung imRahmen der Entsorgung radioaktiver Abfälle stellen so-mit keinen Zugewinn an Sicherheit dar. Die Übergangs-genehmigungen für die so genannten beweglichen Zwi-schenlager, jetzt zum Beispiel in Baden-Württembergausgesprochen, sind in höchstem Maße rechtlich bedenk-lich. Man muss sich einmal vorstellen, unter der Bundes-umweltministerin Frau Merkel wäre vom zuständigenBundesamt für Strahlenschutz die Genehmigung erteiltworden, dass außerhalb der genehmigten Zwischenlagerauf dem Gelände der Kraftwerke bewegliche Zwi-schenlager in Eisenbahnwaggons eingerichtet werdenkönnten; dann wäre ein Aufstand durch diese Republikgegangen.Sie versuchen jetzt mit allen juristischen Klimmzügen,auf diese unverantwortliche Position nicht hinweisen zumüssen, weil Sie genau wissen, dass das überhaupt nichtmit den Positionen übereinstimmt, die Sie über Jahre hin-weg eingenommen haben. Aber Sie stehen jetzt in der Ver-antwortung und erkennen, dass Sie mit all dem, was Sieüber Jahre als rot-grüne Position verteidigt haben, nichtklarkommen. Aus diesem Grunde sind Sie sogar bereit,aus meiner Sicht in höchstem Maße rechtlich bedenklicheÜbergangsgenehmigungen für bewegliche Zwischenla-ger auszusprechen. Dies kann unter keinem Gesichts-punkt toleriert werden, meine Damen und Herren.
Mit der Nichtinbetriebnahme des genehmigungsfähi-gen Endlagers Konrad ergeben sich absehbar schwerwiegende Engpässe für die Entsorgung, insbesondere fürAbfälle aus der Medizin, dem Gewerbe und der Industrie.Die Bundesregierung steht somit eigentlich vor der poli-tisch wichtigen Aufgabe, nach den Vereinbarungen mitder Atomindustrie die Entsorgung des Atomabfalls zu ge-währleisten und damit gegen die eigene Anhängerschaftdurchzusetzen. Aber die Diskussion bei den Grünen zeigtFolgendes: Die Geister, die Sie in den vergangenen Jah-ren gerufen haben, werden Sie nicht mehr los. Sie habenim Kampf um die politische Macht bürgerkriegsähnlicheZustände angezettelt. Heute richtet sich Ihr falsches Ver-halten gegen Sie. In Ihrer Hilflosigkeit im Umgang mit Ih-rer eigenen Basis greifen Sie nun zum nackten Opportu-nismus.
Sie stellen für 2030 ein neues Endlager in Aussicht,müssen bis dahin auf jeden Fall mit Provisorien arbeitenund tun dies ohne Rücksicht auf Langfristfolgen. Um dieaus Ihrer Sicht politisch missliebigen Transporte zu ver-meiden, gehen Sie so weit, die Abklingbecken der betrof-fenen kerntechnischen Anlagen vorübergehend auch alsZwischenlager anzuerkennen. Ihre Auslegung des Atom-rechts ist äußerst fragwürdig. Sie ist aber eindeutig kon-zeptlos und von purem Opportunismus geprägt.
– Sie verstopfen ganz gewaltig. Ich kann Ihnen nur einesdeutlich sagen, Herr Kubatschka: Ihr früherer Castor-kampf entwickelt sich jetzt eindeutig zu einem Entsor-gungskrampf. Genau so muss man im Augenblick die
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Dr. Peter Paziorek15000
rechtliche Situation beschreiben. Ihre eigene Basis rebel-liert gegen Sie. Das gilt auch für die Transporte, die unsnoch im März beschäftigen werden. Dazu gibt es interes-sante Positionen: Der Bundesvorsitzende der Grünen,Herr Kuhn, zeigt Sympathie für Demonstrationen.Dann stellt sich natürlich die große Frage, ob die Kon-zeptionslosigkeit der Bundesregierung in der Entsor-gungsfrage ihre Fortsetzung in der Frage der Transportevon Hanau nach Frankreich findet. Dabei, meine Damenund Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen sichnach der Diskussion des gestrigen Tages heute zumindestzwei Fragen: Erstens. Herr Minister, gibt es für alle Brenn-elemente aus Hanau eine Genehmigung zur Wiederaufbe-reitung in Frankreich? Zweitens. Wenn nein, wann wurdeder Bundesregierung bekannt, dass eventuell gar keineWiederaufbereitungsgenehmigung vorliegt, und gibt esauch Überlegungen in der Bundesregierung für einen sol-chen Fall, diesen rechtlichen Zustand durch Zurückholenzu heilen?Man muss sich einmal vorstellen, dass es einen Trans-port von radioaktiven Stoffen durch Deutschland mit demZiel gibt, dass sie zur Wiederaufbereitung ins Ausland ge-bracht werden. Dafür sind auch Genehmigungen des zu-ständigen Bundesamtes erteilt worden. Auch ist unbestrit-ten, dass zum Beispiel von der Cogema Erklärungenvorliegen, dass die Stoffe von ihr übernommen undtatsächlich zur Wiederaufbereitung in Frankreich benutztwürden. Pressemeldungen des gestrigen Tages zeigenaber eindeutig, dass diese Wiederaufbereitungsgenehmi-gung bisher gar nicht vorliegt. Selbst der zuständige Mit-arbeiter Ihres Hauses sagt der „Berliner Zeitung“, das seivöllig neu. Wenn das Material nicht aufgearbeitet werde,was nicht beabsichtigt sei, dann sei das überhaupt keinReststoff mehr, sondern nur noch Abfall.Stellen Sie sich einmal vor, in Deutschland hätte in derZeit, als Frau Merkel Umweltministerin war, ein Trans-port zum Zwecke der Wiederaufbereitung stattgefunden,ohne dass eine Wiederaufbereitungsgenehmigung vorge-legen hätte! Durch die grüne Basis und die rote Formationwäre ein Aufschrei gegangen.
Wir sind immer der Ansicht gewesen, Herr Kubatschka,dass das alles ganz klar an die atomrechtlichen Vorausset-zungen gebunden ist, was bedeutet, dass die rechtlichenVoraussetzungen eingehalten werden müssen.
Diese Feststellungen müssen Sie sich gefallen lassen. Auchheute stellt sich ganz klar die Frage, ob Transporte stattge-funden haben, für die es keine ausreichende rechtliche Ge-nehmigungsgrundlage gegeben hat. Diesbezüglich mussdie Bundesregierung in der Öffentlichkeit für Klarheit sor-gen. Das ist notwendig, damit das Vertrauen in einer solchwichtigen Angelegenheit wieder hergestellt wird.
Bei dieser Anfrage geht es aber nicht nur um die Entsor-gung, sondern auch um den Klimaschutz. Aufgrund vonErklärungen der Bundesregierung der letzten Tage mussman ganz deutlich sagen: Der Klimaschutz stagniert inDeutschland, er ist sogar rückläufig; alles, was die Bundes-regierung Ende des vergangenen Jahres zur Klimaschutz-politik in Deutschland erklärt hat, hat sich in Schall undRauch aufgelöst; die Entwicklung ist leider äußerst negativ.Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Bundes-regierung immer nur auf irgendwelche Klimaschutzkon-ferenzen kurzfristig und hektisch vorbereitet und dass ihrdie tatsächlichen Entwicklungen gar nicht bekannt sind.Der Bundesumweltminister stocherte am vorvergangenenWochenende hilflos herum, nachdem bekannt gewordenwar, dass der CO2-Ausstoß – unter einer rot-grünen Bun-desregierung! – zum ersten Mal seit Jahren wieder zuge-nommen hat. Der CO2-Ausstoß ist in der Regierungszeitvon CDU/CSU und F.D.P. seit 1990, also über Jahre hin-weg, reduziert worden. Im vergangenen Jahr ist es inDeutschland zum ersten Mal wieder zu einem CO2-An-stieg gekommen.Was war vom Bundesumweltminister zu hören? – Einhilfloses Stochern im Nebel seiner eigenen Klimaschutz-versprechen und dann ein sehr schwaches Protestieren ge-genüber der heimischen Wirtschaft, indem er sagte, esdränge sich nun der Verdacht auf, dass die deutsche Wirt-schaft die Selbstverpflichtungserklärung nicht mehr ein-halte. Was war der wahre Grund für den CO2-Anstieg? –In den neuen Bundesländern sind zwei moderne Braun-kohlekraftwerke ans Netz gegangen; aufgrund einer gutenwirtschaftlichen Konjunktur im vergangenen Jahr ist derStromverbrauch angestiegen und damit ist die Menge derin den beiden modernen Kraftwerken in den neuen Bun-desländern verwendeten Braunkohle größer geworden.
Anstatt jetzt deutlich zu sagen, Frau Hustedt, welchessinnvolle Konzept man hat, um die Klimaschutzpolitikmit einer sinnvollen Strukturpolitik für die Weiterent-wicklung der neuen Länder zu verbinden, praktiziert derBundesumweltminister ein pauschales Abwatschen undAbstrafen, weil er gar nicht in der Lage ist, darzulegen,wie eine saubere, neue Strukturpolitik für die östlichenBundesländer mit einer sinnvollen Klimaschutzpolitik inEinklang gebracht werden kann. Ein solcher Weg wäregut und zukunftsweisend gewesen.
Man kann ganz klar und deutlich sagen: Herr MinisterTrittin, wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie – dasist traurig – eine Belastung für die deutsche Klimaschutz-politik.
– Auf diesen Zuruf habe ich fast schon gewartet.
Ich habe selbst erlebt, wie Herr Trittin es genossen hat,von den Vertretern der deutschen Wirtschaft für seineÄußerungen vor der Klimaschutzkonferenz in Den Haag
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Dr. Peter Paziorek15001
zur Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Wirt-schaft gelobt zu werden. Er hat mit den Erfolgen der deut-schen Wirtschaft in Sachen Selbstverpflichtungser-klärung geglänzt und gesagt: Dieser Weg ist richtig, denwir weiterhin gehen müssen; die deutsche Wirtschaft istin dieser Hinsicht vorbildlich. Jetzt, ein paar Wochen nachDen Haag, passiert es, dass die CO2-Daten aufgrund derwirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern an-ders aussehen. Daraufhin hat dieser Bundesumwelt-minister am Sonntagabend im deutschen Fernsehen er-klärt: Jetzt kann man wieder sehen, dass die deutscheWirtschaft von ihrer Selbstverpflichtungserklärung ab-rückt; darüber muss man einmal nachdenken. – Wie willman mit einem solchen Bundesumweltminister eine wirk-lich sinnvolle, langfristige und gute Klimaschutzpolitikmachen? Ich kann Ihnen sagen: Nach den Äußerungen derletzten Tage sehen wir dafür überhaupt keine Chance.Vielen Dank.
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht nun die
Kollegin Michaele Hustedt.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Herr Paziorek fordert uns auf, endlich zu sagen, wohin mitdem Atommüll. Ich finde das ziemlich unverschämt.
Sie sollten einmal darüber nachdenken, wie Ihr Konzeptzur Entsorgung des Atommülls jahrzehntelang ausgese-hen hat. Sie haben jahrzehntelang Atomkraftwerke betrie-ben, ohne jemals ein solides Entsorgungskonzept vorzu-legen.
Die Grünen sind nicht dafür verantwortlich, dass wir indiesem Land Atomkraftwerke betreiben, Sie sehr wohl.Wir stehen jetzt in Regierungsverantwortung und über-nehmen die Aufgabe, mit Ihrer Altlast umzugehen.
Das tun wir sehr ernsthaft. Diese Bundesregierung mussdie Folgen Ihrer verfehlten Energiepolitik aufarbeiten.Nicht nur diese Bundesregierung, sondern auch viele wei-tere Generationen werden damit zu tun haben. Auch des-wegen ist es eine Unverschämtheit, wenn Sie hier die Ver-antwortung gegenüber zukünftigen Generationen insSpiel bringen.Mit den atomaren Altlasten geht diese Regierung sovernünftig um, wie es sich schon früher gehört hätte. Dazugehört erstens, dass wir die Menge des noch zu behan-delnden Atommülls durch den Atomkompromiss begrenzthaben,
ein sehr wichtiger Punkt und die Voraussetzung für allesWeitere. Deswegen fordere ich die Stromkonzerne sehrdeutlich auf, diesen Kompromiss endlich zu unterschrei-ben und nicht weiter hinauszuzögern. Es gab lange Ge-spräche und es ist wirklich Zeit, dass wir die Sache end-gültig rund machen.
Der zweite Punkt ist: Wir werden die Wiederaufbe-reitung beenden. Die Wiederaufbereitung war und istnach wie vor eine illegale Zwischenlagerung, weil näm-lich die Brennelemente nicht wieder eingesetzt werdenkönnen. Es ist keine Wiederaufbereitung, sondern nureine Umwandlung von Müll, durch die mehr Müll ent-steht, als vorher vorhanden war.Dieser Weg wurde von Ihnen nur deshalb eingeschla-gen, weil die Atomkraftwerke sonst keinen Entsorgungs-nachweis gehabt hätten und dann sofort vom Netz hättengehen müssen.
Drittens minimieren wir die Zahl der Transporte, in-dem wir Zwischenlager vor Ort schaffen, sodass der Müllnicht unsinnigerweise transportiert werden muss; dennbei jedem Transport gibt es im Endeffekt ein Restrisiko.Der Müll soll, solange wir kein Endlager haben, an denAtomkraftwerken verbleiben können.
Dies ist im Übrigen auch wirtschaftlicher. Von daher ha-ben wir dabei auch die Unterstützung der Stromkonzerne.Zu den wenigen, die noch dagegen sind, gehört zum Bei-spiel die bayerische Staatsregierung, die sich mit ihrer Po-litik zunehmend isoliert.
Viertens suchen wir jetzt in der Form ein Endlager,wie es sich auch schon zu Ihrer Regierungszeit gehörthätte. Sie haben die Erkundung des Endlagers Gorlebenohne solide gesellschaftliche Diskussion begonnen. Wirhaben seit dem 1. Oktober 2000 ein Moratorium für Gor-leben. Wir haben einen Arbeitskreis gegründet, der ersteinmal in einer gesellschaftlich breiten Diskussion Krite-rien für die Suche nach einem sinnvollen Endlager ent-wickelt. Später wird auch Gorleben wieder mit in die Dis-kussion kommen. Von daher wird hier nichts vernichtet.
– Weil es richtig ist, erst einmal die Kriterien gesell-schaftlich zu diskutieren. Warum haben Sie denn vor Ortkeine Akzeptanz für das Endlager?
Weil es keine gesellschaftlich breite Diskussion über dieausreichenden Kriterien für ein Endlager mit großer Ak-zeptanz gegeben hat.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Dr. Peter Paziorek15002
Das müssen wir jetzt nachholen und das holen wirnach. Wir haben in der Tat noch etwas Zeit, weil – HerrPaziorek, das müssten Sie wissen – die Brennstäbe erstabklingen müssen. Man kann sie zurzeit noch gar nichtendlagern.
Deswegen können wir jetzt die gesellschaftliche Debatteüber sinnvolle Kriterien nachholen. Dann werden wirauch über die Frage entscheiden, was ein mögliches End-lager in Deutschland sein könnte.
Kurz und gut: Die Bundesregierung geht sehr verant-wortlich mit den Altlasten, die Sie uns überlassen haben,mit dem radioaktiven Müll um und ich hoffe, dass wir inZukunft ein solides Entsorgungskonzept für den Atom-müll bekommen werden.Meine Damen und Herren, der potenzielle Kanzler-kandidat Herr Schäuble hat in einem Interview der „Wo-che“ angekündigt, er wolle mit Substanz in den Wahl-kampf gehen. Was die Energiepolitik betrifft, müssen Sieaber noch einiges nacharbeiten; denn Ihrerseits gibt eskaum Konzepte. Vielleicht hilft Ihnen die Enquete-Kom-mission ein Stückchen weiter. Im Grunde verdecken Siemit Ihren ewigen, langweiligen Atomdebatten, dass Siekein Klimaschutzkonzept haben, um den Treibhauseffektzu begrenzen.Es ist in der Tat richtig, Herr Paziorek, dass die CO2-Emissionen im letzten Jahr erstmals wieder gestiegensind. Mir ist aber entgangen, dass das damit zusammen-hängt, dass ein Atomkraftwerk vom Netz gegangen ist. Esist nur Ihre Behauptung, dass wir, wenn wir nicht aus derAtomkraft aussteigen würden, das Klima bewahren könn-ten. Es ist kein Atomkraftwerk vom Netz gegangen undtrotzdem gibt es wieder steigende CO2-Emissionen. Dasheißt, diese Entwicklung muss wohl noch mit anderenDingen zusammenhängen. In Ihrer Zeit haben wir dieCO2-Emissionen reduzieren können, weil vor allen Din-gen in Ostdeutschland die Wirtschaft zusammengebro-chen ist.
In Westdeutschland sind die CO2-Emissionen nicht ge-sunken, sondern während Ihrer Regierungszeit sogar ge-ringfügig angestiegen. Es gab zwar eine Entkoppelung,aber es gab keine Reduktion. Das bedeutet, dass Sie in Ih-rer Regierungszeit keine aktive Klimaschutzpolitik ver-folgt haben,
die für die Reduktion der CO2-Emissionen ursächlich ist,sondern dass lediglich das Abschalten von energieintensi-ven Industrieanlagen die Ursache für die sinkenden CO2-Emissionen in Deutschland gewesen ist.Der Atomausstieg trägt, im Gegenteil, aus meinerSicht zu einer zügigen Klimaschutzpolitik bei, und zwarweil die Atomenergie einer der Hauptgründe dafür ist,dass wir im Klimaschutz nicht vorankommen. Man siehtaus der Diskussion um die Kraft-Wärme-Koppelung, dasswir aus der Monopolzeit große Überkapazitäten haben.Wenn man große Überkapazitäten hat, ist die Bereitschaftzu investieren außerordentlich gering. Dann ist auch dieBereitschaft, in die neue Generation der Kraftwerkstech-nologien zu investieren, außerordentlich gering; dannsteht alles still. Man wird beim Klimaschutz nur außer-ordentlich schwer weiterkommen – das ist jetzt die De-batte um die Kraft-Wärme-Koppelung –, weil man gegenbestehende Kapazitäten moderne Klimaschutztechnolo-gien in den Markt bringen muss. Deswegen macht derAtomausstieg den Weg frei,
um tatsächlich moderne Klimaschutztechnik in der Ge-meinschaft auch mit den Stromkonzernen und mit derEnergiewirtschaft insgesamt voranzubringen.
Deswegen sind Atomausstieg und Klimaschutz kein Wi-derspruch, sondern, im Gegenteil, der Atomausstieg isteine Voraussetzung für den Klimaschutz.Wie wäre es denn, statt die leidige Atomdebatte oderÖkosteuerdebatte zum hunderttausendsten Mal zu führen,ohne dass wir einen Deut weiterkommen, einmal mit ei-ner qualifizierten Debatte über Zukunftsenergien,
über die Frage von Brennstoffzellen, über die Frage vonvirtuellen Kraftwerken und über die Frage von intelligen-ten Netzen, die die dezentrale Stromerzeugung miteinan-der verknüpfen, zu beginnen, sodass auch durch einedezentrale Energieerzeugung auf der Grundlage von er-neuerbaren Energien, beispielsweise Brennstoffzellen,Grundlast und Spitzenlast gefahren werden könnten?
Ich warte auf Ihre Konzepte.
Wir steigen in eine moderne Energiewirtschaft ein. Wirhaben ein Gesetz für erneuerbare Energien auf den Weggebracht, das einen ungeheuren, noch nie da gewesenenInvestitionsboom in Deutschland hervorgerufen hat.
Bei Wind, Photovoltaik und Biomasse ist die Situation so,dass wirklich Geld in die Hand genommen wird, sodass
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Michaele Hustedt15003
wir das Ziel der Verdoppelung des Anteils der erneuerba-ren Energien in zehn Jahren nicht nur erreichen – ich binoptimistisch –, sondern sogar weit übertreffen werden.Wir haben einen Schwerpunkt im Bereich der Energiefor-schung bei der Brennstoffzelle und den virtuellen Netzengesetzt. Wir haben den Haushaltsansatz für diesenSchwerpunkt trotz Sparhaushalt deutlich erhöht.Wir haben ein Altbausanierungsprogramm auf denWeg gebracht, um die Energieeinsparung voranzubrin-gen. Das ist etwas, was Herr Kollege Lippold immer ge-fordert hat, aber nie durchsetzen konnte. Trotz Sparhaus-halt haben wir mithilfe der UMTS-Milliarden ein solidesAltbausanierungsprogramm aufgelegt.
Wir stärken die Energieeinsparungsbemühungen durcheine ambitionierte Verordnung.Das sind unsere Konzepte. Ich habe aber von Ihnenauch diesmal nicht ein einziges Wort gehört, wie sich dieehemaligen Regierungsfraktionen CDU/CSU und F.D.P.eine aktive Klimaschutzpolitik vorstellen.
– Das ist sehr wohl das Thema, weil Sie das Thema Kli-maschutz und das Thema Atomkraft zusammen betrach-ten.
Man kann aber nicht einfach an der Meinung festhal-ten, dass die Atomkraft das Klima schütze. Man mussvielmehr deutlich machen, wie eine aktive Klimaschutz-politik ohne Atomkraft aussehen könnte. Das haben Sieaber nicht getan.
Ich gebe das
Wort der Kollegin Birgit Homburger für die Fraktion der
F.D.P.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es wundert mich nicht, FrauHustedt, dass Sie hier sagen, wir sollten uns einmal mitZukunftsenergien beschäftigen.
Ich würde das an Ihrer Stelle auch sagen, um davon abzu-lenken, dass Sie zu den eigentlichen Fragen überhauptnichts sagen können.
Ohne dass ich jetzt im Einzelnen auf alle Punkte ein-gehe, weil meine Redezeit dafür nicht ausreicht, will ichfolgenden Punkt aufgreifen. Sie sprechen immer davon,Sie würden Zukunftstechnologien fördern. Ich kanndazu nur sagen: Was Sie hinsichtlich des EEG und derKraft-Wärme-Kopplungs-Quote unternehmen, ist nichtsanderes als eine Anmaßung der Politik, die Technik vor-zugeben und darüber hinaus noch den Preis vorzuschrei-ben.
Damit machen Sie jegliche Kreativität in der Wissen-schaft kaputt. Das ist nicht Technologieförderung, son-dern Förderung von schon bekannten Techniken.
Es wundert mich nicht, dass Sie darüber reden, weil dieBundesregierung derzeit mit den Folgen ihrer eigenen un-logischen Argumentation konfrontiert wird. Währenddie Botschaft vor der Bundestagswahl noch lautete, dieKernenergie sei unverantwortbar und deswegen müsse esden Atomausstieg geben, lautet die Botschaft nun, dassKernenergie in der Bundesrepublik Deutschland sichersei und dass das hohe Sicherheitsniveau seit Beginn derNutzung der Kernenergie noch erhebliche Fortschrittedurch die Fortentwicklung der Sicherheitstechnik fürKernkraftwerke erfahren habe. So die Bundesregierung inihrer Antwort auf die Große Anfrage. Man höre undstaune.
Frau Hustedt, Sie gehen davon aus, dass auch Atom-mülltransporte sicher seien, sonst hätte Herr Trittin nie-mals eine Vereinbarung mit Frankreich unterzeichnenkönnen, nach der noch in diesem Frühjahr Castortrans-porte wieder aufgenommen werden. Im Übrigen wurdendie ersten Transporte vom Umweltminister genehmigt.Sie sagen jetzt, das alles sei verantwortbar, weil man ausder Kernenergie aussteige.
Herr Kubatschka, das war Ihre Argumentation. Wo bleibtdenn da die Logik?
Entweder die Kernenergie ist sicher, dann kann man sieauch weiterbetreiben,
oder sie ist nicht sicher, dann muss man sofort aussteigen.Das ist die Lage der Dinge.
Vom Ausstieg wird bisher nur geredet.
Bis jetzt sind Sie über Absichtserklärungen nicht hinaus-gekommen. Acht Monate ist es her, seit die Vereinbarungmit den Kernkraftwerksbetreibern geschlossen wurde.
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Michaele Hustedt15004
Aber seitdem haben Sie immer noch keinen Gesetzent-wurf vorgelegt.
Sie haben dieses Versäumnis selbst erkannt. Der Parla-mentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, HerrSchmidt, hat vorgestern die Bundesregierung aufgefor-dert, ein entsprechendes Gesetz bald vorzulegen.Herr Trittin, die Situation ist wieder einmal folgen-dermaßen: Es gibt einen Konflikt zwischen dem, wasder Umweltminister und die Grünen wollen, und dem,was der Wirtschaftsminister will. Dieser Konfliktwurde offensichtlich nicht ausdiskutiert. Sie haben fürIhre Klientel – dieses Problem haben Sie augenblick-lich – nichts anderes als weiße Salbe. Herr Trittin, Siehaben wieder einmal mit großen Tönen begonnen. Jetztaber stellt sich heraus, dass Sie nur ein zahnloser Tigersind.
Sie haben bis jetzt noch keine Antwort auf die Fragegegeben, wie Sie die Reduzierung der CO2-Emissio-nen, die Sie für die Erreichung des Klimaschutzzielesbrauchen, mit dem Ausstieg aus der Kernenergie verein-baren wollen.
Sie können noch so schöne Reden halten, Frau Hustedt:Auch hier fehlt Ihr Konzept.Die F.D.P. fordert die Bundesregierung auf, endlich einschlüssiges Energiekonzept vorzulegen, aus dem hervor-geht, wie das Klimaschutzziel bei gleichzeitiger Siche-rung der Energieversorgung in der BundesrepublikDeutschland erreicht werden soll.
Im Übrigen haben Sie bis heute trotz vollmundigerAnkündigungen vor der Wahl überhaupt kein Entsor-gungskonzept vorgelegt. Das hat sich hier in den Redenauch wieder herausgestellt. Dies kritisieren nicht nur wir,sondern dies kritisiert auch der Sprecher der niedersächsi-schen Grünenfraktion. Auch Frau Backhaus vom BUND-Landesverband Niedersachsen kritisiert, dass die Bundes-regierung den versprochenen nationalen Entsorgungsplanschuldig geblieben ist. Der fehlende Entsorgungsplan seischuld an einem Abenteuerwanderzirkus namens Castor-transport. Statt einer geordneten Endlagerung werde Flick-schusterei betrieben und bei der Zwischenlagerung greifedie Bundesregierung immer mehr zu Notlösungen, so dieBUND-Landesvorsitzende in Niedersachsen. Ich kannmich dieser Kritik nur anschließen.
In der Antwort auf die Große Anfrage, Herr Trittin – Ih-nen wird das Lachen noch vergehen –,
haben Sie wieder einmal erklärt, dass das Entsorgungs-konzept der alten Bundesregierung gescheitert sei. DieBegründung hierfür aber bleiben Sie in der Antwort wie-derum schuldig. In der Antwort sagen Sie lediglich,dass wesentliche Elemente des bisherigen Entsorgungs-konzepts nach Auffassung der Bundesregierung der Revi-sion bedürfen.Ich kann Ihnen nur sagen: Im Gegensatz zur jetzigenBundesregierung hat die alte Bundesregierung ein Kon-zept gehabt, das wir konsequent verfolgt haben.
Gorleben ist als Zwischenlager genehmigt. Es wäreals Endlager für hochradioaktive Abfälle wahrscheinlichgeeignet. Wir standen kurz davor, wirklich die Erkennt-nisse zusammen zu haben.
Dann haben Sie die Sache gestoppt. Das, was Sie da ma-chen, ist unverantwortlich.
Sie berufen sich auf die Entwicklung des Standes vonWissenschaft und Technik.
Diese habe dazu geführt, dass die bisherigen Kriterienhinsichtlich der Erfüllung der erforderlichen Schadens-vorsorge überprüft werden müssten. Die bisher an Endla-ger für wärmeentwickelnde radioaktive Abfälle gestelltenAnforderungen, wie sie in den 1983 veröffentlichten Kri-terien des BMI/RSK-Katalogs festgelegt worden sind,müssten im Lichte neuer Entwicklungen und Bewertun-gen von wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie neuerkonzeptioneller Überlegungen überprüft werden. Deswe-gen haben Sie einen Arbeitskreis eingesetzt, der die Si-cherheitskriterien überarbeiten soll.Frau Hustedt, Sie haben das hier auch gesagt. Ich kannIhnen nur sagen: Es hat gerade wieder eine internationaleExpertengruppe deutlich festgestellt, dass die Zweifel, diedie Bundesregierung an der Eignung hat, nicht neu sind,sondern schon seit Jahren kontrovers diskutiert werden.Genauso ist es. Sie haben keine neuen Erkenntnisse.
Sie bewerten nur die Dinge anders.Im Übrigen schließe – so die internationale Experten-kommission weiter – keiner der Punkte, die die Bundes-regierung anführe, eine sichere Endlagerung im Gorle-bener Salzstock aus.
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Birgit Homburger15005
Frau Hustedt, das, was Sie hier vorgetragen haben, unddas, was der Minister die ganze Zeit macht, deutet daraufhin, dass es langsam auf Ostern zugeht: Es ist eine einzigeEierei.
Sie wollen also die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppeabwarten und meinen, dann könne man darüber diskutie-ren, ob Gorleben geeignet sei. Wenn man jüngste Stel-lungnahmen aus der grünen Partei betrachtet, scheinendas die eigenen Leute auch nicht besonders überzeugendzu finden. So sagt zum Beispiel Fritz Kuhn, dass der Salz-stock in Gorleben seines Wissens nicht als Endlager ge-eignet sei. Frau Harms, Vorsitzende der niedersächsischenGrünen,
sagt, dass der Salzstock in Gorleben im Vergleich zu an-deren möglichen Standorten allenfalls dritte Wahl sei.Woher diese Erkenntnis stammt, ist mir schleierhaft. Siekann auch überhaupt keine Experten dafür anführen. DasEinzige, was hierdurch wieder belegt wird, ist, dass eshierbei überhaupt nicht um sachliche Erwägungen oderKriterien geht, sondern schlichtweg um ideologisch moti-vierte Maßnahmen.
Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.Statt Atommüll unterirdisch und sicher an den sorgfäl-tig dafür ausgesuchten Standorten zu lagern, erzwingt dieBundesregierung jetzt auch noch oberirdische Provisorienohne Rücksicht auf riskante Langfristfolgen. Um politischmissliebige Transporte hinauszuzögern, hat der Umwelt-minister darüber hinaus auch noch verfügt, dass Abkling-becken betroffener kerntechnischer Anlagen vorüber-gehend als Zwischenlager anerkannt werden.
Eine solche Auslegung atomrechtlicher Vorgaben, HerrTrittin, ist nicht nur fragwürdig und unverantwortlich.Das hätte nach der bisher bestehenden Gesetzeslage ei-gentlich zum Erlöschen der betreffenden Betriebserlaub-nis geführt.
Hätten wir so gehandelt, hätte das in Deutschland zu ei-nem Aufschrei geführt.Sie sind der Meinung, das alles könne man tun. Sievollführen nichts anderes als Klimmzüge, und dies mit ei-nem Ziel: Transporte von Atommüll sollen verhindertwerden. Die Bundesregierung leistet sich in diesem Zu-sammenhang eine gigantische Verschleuderung von Geld,das im Übrigen von den Stromkunden gezahlt wird. Ein-ziger Zweck dessen ist, Herrn Trittin möglichst Ärgervom Hals zu halten.
Die Absicht ist klar: Missliebige Transporte und dieEntscheidung über einen Endlagerstandort sollen so langehinausgezögert werden, bis eine neue Bundesregierungdiese Entscheidung treffen muss. Dann könnte man sich– so denken Sie wahrscheinlich – wieder entspanntzurücklehnen und zu den Demonstranten zurückkehren.Ich sage Ihnen eines: Diese Art einer zynischen Politik istein unverantwortlicher Wechsel auf die Zukunft.
Damit wird das ganze Chaos deutlich: Während sichdie designierte Vorsitzende der Grünen, Frau Roth, für dieTeilnahme an Protestveranstaltungen und für friedlicheBlockaden der Transporte ausspricht, billigt der Parteiratder Grünen Demonstrationen, bittet aber zugleich, aufTransportblockaden zu verzichten.
Der Umweltminister dagegen erklärt weder sein Einver-ständnis für Kundgebungen noch sein Einverständnis fürBlockaden. Proteste seien sinnlos, weil die TransporteBestandteil des so genannten Atomkonsenses und inso-weit erforderlich seien. Unterdessen äußert der Bundes-geschäftsführer der Grünen seine ganze Sympathie fürDemonstrationen gegen ein Endlager in Gorleben. – Dasist ein einziges Tohuwabohu!Trotz dieser Diskussion bei den Grünen lässt HerrTrittin heimlich, still und leise Atommüll transportierenund hat im Übrigen Castortransporte genehmigt. DieFolge ist – Herr Trittin, darauf weise ich Sie jetzt auchhin –: Polizisten werden den Transport schützen müssen.Sie sind mit schuld daran, dass das so ist. Denn die Grü-nen haben die Stimmung aufgepeitscht und die Öffent-lichkeit desinformiert. Zudem haben Sie selber einmal aufden Schienen gesessen. Das ist das Problem.
Die rot-grüne Genehmigung von Transporten ist nichtsanderes als die Genehmigungen, die früher erteilt wurden.Es gilt das gleiche Recht und Gesetz. Sie haben ein ver-queres Verständnis von Recht und Gesetz.
Die Menschen haben ein gutes Gespür für Ihre unter-schiedlichen Vorgehensweisen. Sie sind jetzt bei Ihrer ei-genen Klientel unglaubwürdig. Ich rate Ihnen: Wenn Siebei Ihrer Klientel, aber auch bei den Polizisten das Ver-trauen wieder herstellen wollen, sollten Sie beim erstenAtommülltransport vom Anfang bis Ende vorneweg lau-fen, um zu beweisen, dass von diesem Transport keinerleiSchaden ausgeht.
Die derzeitige Politik bringt nichts anderes als finanzi-elle Belastungen, die zu keinem ökologischen Nutzenführen. Sie nimmt in Kauf, dass wir bei der Sicherheits-technik zurückfallen. Die F.D.P. fordert die Bundesregie-rung auf, das derzeitige Chaos endlich zu beenden.
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Birgit Homburger15006
Ich gebe der
Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion der PDS
das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Jede Woche findet die gleicheDebatte mit den gleichen Fragen und den gleichen Ant-worten zum Atomausstieg statt.
Langsam wird es langweilig.
Die Fernsehzuschauer und die Zuhörer hier warten auf et-was, und zwar auf das, wofür Sie gewählt wurden, näm-lich dafür, den Atomausstieg durchzusetzen.
Ich frage Sie jetzt noch einmal: Wann wird endlich daserste Atomkraftwerk geschlossen?
– Auch wenn ich es noch 30-mal bis zum Ende der Legis-laturperiode anmahne, wird nichts passieren.Die Union beklagt in ihren Anträgen die Aufgabe des Be-schlusses der Regierungschefs des Bundes und der Länderzur Entsorgung radioaktiver Abfälle vom September 1979und die daraufhin gefassten Grundsätze zur Entsorgung vonKernkraftwerken vom März 1980. Der unter Führung desdamaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt erarbeiteteBeschluss sah im Wesentlichen die Errichtung von zwei ato-maren Zwischenlagern im nordrhein-westfälischen Ahausund im niedersächsischen Gorleben vor. Die Landesregie-rung in Hannover erklärte sich zudem bereit, in Gorlebenden Bau eines atomaren Endlagers zuzulassen.Die damaligen Beschlüsse haben die Probleme nochnicht näher reflektiert und die gewachsenen Sicherheits-bedenken gegen die Nutzung der Atomkraft noch nichtrichtig gesehen, obgleich der Unfall von Harrisburg be-reits geschehen war. Mittlerweile wissen wir um dieschrecklichen Folgen der Katastrophe von Tschernobyl.Die Front der Gegnerinnen und Gegner dieser Technik istseitdem immer weiter angewachsen. Ich hoffe, Ende Märzwird sich diese Front in Gorleben wirklich stark zeigen.Nach bundesweiten Protesten wurden die Pläne zumBau einer Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischenWackersdorf aufgegeben. Nachdem sich die Gewinnungvon Plutonium aus abgebrannten Brennstäben als einetechnologische und wirtschaftliche Sackgasse herausge-stellt hatte, wurde die Möglichkeit der direkten Endlage-rung als Alternative ins Atomgesetz aufgenommen.Die deutsche Einheit führte zur Stilllegung und zurAufgabe von Bauprojekten auf dem Gebiet der ehemali-gen DDR, was Ostdeutschland zwar noch nicht gänzlichvon allen Sorgen befreit hat, die mit den strahlendenHinterlassenschaften einhergehen, aber grundsätzlich isthier der Weg für eine soziale und ökologische Energie-versorgung von einer schweren Hypothek befreit.
Im Westen hingegen verschärft sich die Atommüllpro-blematik weiter. Mit den geplanten Atomkraftverstro-mungsmengen werden sich die hoch radioaktiven Abfällenoch einmal um die Menge verdoppeln, die seit Beginnder Nutzung angefallen sind. Die Wiederaufarbeitung vonBrennelementen aus deutschen Kernkraftwerken im Aus-land soll auch dann noch fortgesetzt werden, wenn nachdem Jahr 2005 keine weiteren Transporte mehr ins Aus-land gehen sollten. Kollegin Hustedt, Sie haben heute zuRecht erklärt, die Wiederaufarbeitung sei zu beenden,denn dies sei illegale Zwischenlagerung. Nur, ich frageSie: Warum nicht jetzt, sondern erst in fünf oder nochmehr Jahren?
Seit SPD und Grüne an der Regierung sind, haben sienichts mehr gegen den gesundheits- und umweltschädi-genden Prozess der Wiederaufarbeitung als solchen einzu-wenden, solange er nur nicht im eigenen Land stattfindet.
Auch die Plutonium-Uran-Mischoxid-Fabrik – MOX –wurde nur so lange als Sicherheitsrisiko attackiert, bissich russische Käufer für die Hanauer Anlage fanden.
Die Geschichte der vergangenen zwanzig Jahre hat ge-zeigt, dass die Entsorgungspläne der späten 70er-Jahre nieetwas anderes waren als eine Mauschelei zwischen Bun-desregierung und Regierungschefs der Länder.
Insofern waren sie nicht tragfähig.Mittlerweile hat sich die breite Front der Atomkraft-gegnerinnen und -gegner formiert und hat eine breite Ak-zeptanz in der Bevölkerung, vor allem in den betroffe-nen Gebieten.
Als Reaktion werden nunmehr zahlreiche Zwischen- undZwischenzwischenlager an den AKW-Standorten geneh-migt, errichtet und betrieben. Trotzdem kommen die Pro-teste nicht zur Ruhe, da die Lager für einen langfristigenWeiterbetrieb ausgelegt sind.Ich sage es noch einmal: Kapazitäten Gundremmingen.Die Genehmigung: Bis 2046 reicht die Kapazität – so eineAussage der AKW-Bewegung Gundremmingen, KollegeKubatschka.
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– Die Genehmigung lautet auf solch große Kapazitäten.
Ein langfristiger Weiterbetrieb ist aber keine Option.Schließlich räumt auch die Bundesregierung in ihrer Ant-wort auf die Große Anfrage der Union ein, dass die „Mög-lichkeit von Unfällen mit großen Freisetzungen ... nichtlediglich theoretisch“ besteht. Das heißt im Klartext: Sienimmt das Risiko von schweren Reaktorkatastrophen inKauf. Ich denke, das ist wirklich ein Skandal.Das ist aber auf Dauer keine durchhaltbare Position.Noch einmal: Dieser Konsens ist Nonsens; denn er istkein Konsens. Es gibt keine Übereinstimmung zwischenAtomkonzernen und der Bundesregierung. Die Atomkon-zerne wollen nicht abschalten
und diese rechte Opposition hier wird alles dafür tun, da-mit es nicht zu einem solchen Konsens kommt.Nun noch kurz zu den vorgestern bekannt gewordenenTransporten. Sie lassen sehr viele Fragen offen. Was sollmit unbestrahltem Uran und Plutonium in einer Wieder-aufarbeitungsanlage geschehen? Kann die Bundesregie-rung ausschließen, dass das Material in Kürze als MOX-Brennelement zurückkommt?
– Der Kollege bejaht es. Ich hätte aber die Antwort gernevon unserem Umweltminister gehört. Das wäre besser.
Schauen wir uns einmal die Reaktionen der Vertreterder Koalition an. Kollege Müller und die Sprecherin desBundesvorstandes der Grünen, Claudia Roth, mahnen öf-fentlich Informationen und Offenheit in diesen Fragen an.Wenn man dies schon nicht von den anderen erwartenkann, so kann man meines Erachtens zumindest von einerrot-grünen Regierung Offenheit erwarten. Daran fehlt esjedoch ganz, ganz grob.Die Demonstrationen in Gorleben formieren sich. DieScheinheiligkeit auch der Regierungsparteien ist ange-sichts der Aussagen vor allem seitens der Grünen bewie-sen.
– Ich gehe davon aus, dass die CDU nicht in Gorlebendemonstrieren wird, denn sie hetzt ja. Wie wir gestern inder Aktuellen Stunde gehört haben, haben einige Mitglie-der dieser Partei die Demonstranten in die Ecke derBuback-Mörder gestellt.
Ich halte dies für fatal und habe gestern dazu schon etwasgesagt.Demonstrantinnen und Demonstranten dürfen nichtkriminalisiert werden,
denn es geht hier um Zukunftsfähigkeit, um Nachhaltigkeit
und um die Zukunftschancen für unsere Kinder und Kin-deskinder. Deswegen sollten wir nicht immer nur über ei-nen Atomkonsens reden, sondern es muss endlich etwasgetan werden.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Christoph Matschie.
Herr Präsident! WerteKolleginnen und Kollegen! Das ist nicht die erste Debatte,die wir hier über Atomenergie führen. Leider ist sie, wieviele andere Debatten auch, die wir geführt haben, von Ih-rer Seite, von der Union und der F.D.P., mit dem Vorwurfbegonnen worden, hier sei ideologische Verblendung imSpiel. So etwas macht mich immer misstrauisch. Denndiejenigen, die anderen Ideologie oder ideologische Ver-blendung vorwerfen, versuchen meistens, damit sachli-chen Debatten auszuweichen. Werden solche Vorwürfeerhoben, kommt man nämlich gar nicht mehr zu einersachlichen Auseinandersetzung.
Genauso waren Ihre Reden angelegt.
Ich sage Ihnen noch einmal, worum es in all diesen De-batten hier geht und ging. Es geht um einen Grundkon-flikt. Sie von der Union und Sie von der F.D.P. halten dieAtomenergie, was das Risiko angeht, für vertretbar, Siehalten sie für gesellschaftlich akzeptiert, Sie halten sie fürzukunftsträchtig, aus europäischer Sicht für notwendigund klimapolitisch für notwendig.
Wir hingegen halten sie aus einer Risikobewertung herausnicht mehr für vertretbar, wir halten sie aber auch deshalbnicht mehr für vertretbar, weil es eine klare gesellschaftlicheMehrheit gegen die weitere Nutzung der Atomenergie gibt.
Frau Homburger, Sie treiben die Argumentation so weit,dass Sie sagen: Wir standen mit Gorleben sozusagen kurzvor der richtigen Erkenntnis. Dann kam aber der böseWähler, hat Sie abgewählt und Sie nicht mehr weiterma-chen lassen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Eva Bulling-Schröter15008
Wir müssen in dieser Auseinandersetzung um die Atom-energie den gesellschaftlichen Hintergrund sehr ernstnehmen. Wir müssen ernst nehmen, dass es in Deutsch-land eine deutliche Mehrheit gegen die weitere Nutzungder Atomenergie gibt. Sie sagen, das sei nicht richtig. Um-fragen belegen dies aber. Ich habe mir hierzu einmal Zah-len herausgesucht. Im letzten Jahr hat Forsa Umfragendurchgeführt. Danach waren 58 Prozent der Bevölkerungfür einen Ausstieg und nur 33 Prozent haben den Ausstiegabgelehnt. Übrigens waren die Anhänger Ihrer Partei, derF.D.P., zumindest zu 44 Prozent und die Anhänger derUnion zu etwas über 40 Prozent für einen Ausstieg.
Das ist also keine Debatte, die zwischen den Parteien ver-läuft, sondern auch innerhalb von Parteien. Deshalb soll-ten wir uns bemühen, sachlich miteinander umzugehen,und uns nicht gegenseitig ideologische Verblendung vor-werfen.
Ich will nun auf einige der von Ihnen aufgeworfenenBedenken eingehen. Sie sagen, das Risiko sei vertretbar.Ich möchte, da ich das nicht mit eigenen Worten be-schreiben will, da ich nicht meine eigene Risikoein-schätzung zum Besten geben will, nur einmal aus demletzten Gutachten des Sachverständigenrates für Umwelt-fragen zitieren:Der Umweltrat hält aufgrund der Charakteristikenbestrahlter Brennelemente und der darin begründe-ten, in weiten Teilen ungelösten Entsorgungspro-bleme eine weitere Nutzung der Atomenergie fürnicht verantwortbar.Die Menetekel der Risiken, die in der Nutzung derAtomenergie liegen, haben wir alle gesehen. Sie heißenHarrisburg, Tschernobyl und Tokaimura. Solche Zeichenmüssen wir ernst nehmen. Sie sagen uns: Es gibt kein aus-schließbares Risiko bei der Nutzung der Kernerenergie.
Frau Homburger, Sie haben gesagt, in der Anfrage stehe,dass die deutschen Kernkraftwerke über eine hohe Sicher-heit verfügen und die Transporte nach den Kriterien, die wirhaben, sicher sind, weil sie sonst gar nicht stattfinden könn-ten. Das widerspricht nicht der Logik des Ausstiegs,
sondern der Ausstieg erfolgt, weil man die noch verblei-benden Risiken trotz der hohen Sicherheit abwägen mussund weil wir politisch zu der Überzeugung gekommensind – auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichenDiskussion in der Bundesrepublik Deutschland –, dasswir das verbleibende Risiko und die ungelöste Entsor-gungsfrage nicht weiter verantworten können und deshalbkontrolliert aus der Nutzung der Atomenergie aussteigen.
Herr Kol-
lege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Dr. Gehb?
Selbstverständlich.
Herr Kollege
Matschie, Sie haben gerade Sachlichkeit in der Diskus-
sion angemahnt. Deshalb möchte ich Sie fragen: Ken-
nen Sie die Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts aus dem Jahre 1978 im so genannten Kalkar-
beschluss, in der ausgeführt wurde, dass die friedliche
Nutzung der Kernenergie zu den sozial-adäquat hin-
nehmbaren Restrisiken gehört? Ist Ihnen klar, dass die
Änderung der Sicherheitsphilosophie, die Sie gerade
genannt haben, weniger eine Änderung ist, die auf
Technik, Tatsachen und rechtlichen Erwägungen, son-
dern mehr auf dem Austausch der Sicherheitsphiloso-
phien beruht?
Sie haben gesagt, die weitere Nutzung von Kernkraft-
werken sei unverantwortbar – übrigens ist in dem Kon-
sens und im Atomgesetz eine ganz diametrale Aussage
enthalten –; teilen Sie daher meine Auffassung, dass man
den Betrieb sofort einstellen muss, wenn er nicht mehr
verantwortbar ist? Ich will dazu ein Beispiel nennen:
Wenn ein Haus baufällig ist, dann gibt es eine Ab-
bruchverfügung mit Sofortvollzug. Können Sie mir, dem
Haus und den Bürgern erklären, wie eine Technik, die un-
verantwortbar ist, überhaupt noch eine Sekunde weiterge-
führt werden soll
und inwiefern Ihre Auffassung mit der höchstrichterlichen
Rechtsprechung in Einklang steht?
Herr Kollege, lassen Siemich zunächst auf die höchstrichterliche Rechtsprechungeingehen, die, wie Sie sagen, aus dem Jahr 1978 stammt.Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich bei unserer Dis-kussion auf der Höhe der Zeit bewegen und nicht mit denArgumenten von vor über 20 Jahren die Debatte zu be-streiten versuchen.
In der Wissenschaft entwickeln sich die Dinge näm-lich immer weiter. Wer sich einmal mit der Sicherheitsli-teratur im Zusammenhang mit der Kernenergienutzungbefasst, stellt fest, dass wir dauernd auf neue Risiken, diewir bisher nicht gekannt haben, stoßen, weil sich die Si-cherheitsphilosophie und die Technologie weiterent-wickeln und weil wir mehr über die Nutzung und die Risi-ken der Nutzung lernen. Deshalb müssen wir auf der Höheder Zeit argumentieren.
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Christoph Matschie15009
Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen hatin seinem letzten Gutachten gesagt: Es gibt dauerndneue Erkenntnisse über Sicherheitsrisiken beim Betriebvon Kernkraftanlagen. Deshalb steht im Gesetz auch dieVerpflichtung, bei den Sicherheitsmaßnahmen der Kern-kraftwerke ständig auf der Höhe der Zeit zu sein. Des-wegen gibt es auch notwendige Nachrüstungen bei denKernkraftwerken. Wir können uns nicht damit begnü-gen, dass vor über 20 Jahren in einer Risikoabwägungfestgestellt worden ist: Wir halten das Risiko für vertret-bar. Wir halten es heute nicht mehr für vertretbar, HerrKollege.
Herr Kol-
lege Matschie, möchten Sie die Chance nutzen, Ihre Re-
dezeit weiter zu verlängern, indem Sie eine zweite Frage
zulassen?
Ich lasse noch eine
zweite Frage zu.
Es ist mir klar, dass
Ihnen ein Rekurrieren auf die 70er-Jahre vor dem Hinter-
grund dessen, was man heute so darüber hört, was in den
70er-Jahren passiert sein soll, nicht besonders recht ist.
Sie hinterfragten, ob ich auf der Höhe der Zeit bin. Wis-
sen Sie, dass Urteile, insbesondere Urteile des Bundes-
verfassungsgerichts, natürlich so lange Gültigkeit und Be-
stand haben, bis es eine irgendwie geartete Abänderung
dieser Urteile gibt?
Können Sie mir – insofern bin ich natürlich für jede Nach-
hilfe sehr dankbar; auch Juristen freuen sich, wenn ihnen
von so jungen Leuten wie Ihnen ein bisschen auf die
Sprünge geholfen wird – ein Urteil nennen, in dem von
der bisherigen Sicherheitsphilosophie abgewichen wor-
den ist?
Vor allen Dingen: Können Sie mir – –
– Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie, dass ich
mit der Mitte meiner Ausführungen den Beginn Ihres ers-
ten Zwischenrufs unterbrochen habe.
Vielleicht können Sie mir erstens den Teil der Frage,
die ich eben gestellt habe, noch beantworten, wie es zu
verantworten ist, etwas weiterzuführen, was unverant-
wortbar ist.
Vielleicht können Sie mir zweitens sagen, ob es neuere
Erkenntnisse und insbesondere eine neue Rechtsspre-
chung gibt.
Herr Kol-
lege Gehb, Sie sollten es bitte nicht übertreiben. Herr Kol-
lege Matschie hat jetzt das Recht, ausführlich darauf zu
antworten, ohne dass ihm das auf die Redezeit angerech-
net wird.
Zunächst noch einmal zuder Frage nach den neuen Erkenntnissen. Ich bin davonüberzeugt, dass es diese neuen Erkenntnisse gibt. Ichglaube auch, dass das Bundesverfassungsgericht, wenndie Ereignisse von Tschernobyl zum Zeitpunkt dieses Ur-teilsspruchs schon eingetreten gewesen wären, mög-licherweise zu einem anderen Urteil gelangt wäre.Die Tatsache, dass wir inzwischen keinen Fall in die-sem Zusammenhang vor dem Bundesverfassungsgerichthatten, wodurch eine neue Rechtsprechung möglich ge-worden wäre, heißt doch nicht, dass heute eine neue Si-cherheitsbewertung ausgeschlossen ist und dass mannicht zu einer neuen Sicherheitsbewertung kommenmuss, Herr Kollege.
Jetzt zu der Frage – ich drücke mich nicht vor der Be-antwortung dieser Frage –, warum nicht sofort ausgestie-gen wird, wenn man das Risiko in der Güterabwägungnicht mehr für verantwortbar hält. Das hat etwas damit zutun, dass wir uns in einem rechtsstaatlichen Rahmen be-wegen und dass es für diese Anlagen unbefristeteBetriebsgenehmigungen gibt. Das dürfte Ihnen ja auchnicht verborgen geblieben sein.
Wenn man diese Nutzung beenden will, muss man sich imRahmen der rechtlichen Möglichkeiten bewegen.
Übrigens hat uns auch der Sachverständigenrat fürUmweltfragen in seinem Gutachten bestätigt. Er empfahlnämlich, gemeinsam mit den Atomkraftwerksbetreiberneinen Ausstieg zu vereinbaren, ein Szenario des Ausstiegszu entwickeln und dann rechtlich umzusetzen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Christoph Matschie15010
Das hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen so be-stätigt.
Herr Kol-
lege Matschie, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
des – –
– Herr Kollege, die Beantwortung dieser Frage überlassen
Sie bitte dem Redner.
Herr Kollege Dr. Seifert hat darum gebeten, eine Zwi-
schenfrage stellen zu können. Herr Kollege Matschie lässt
sie zu. Bitte schön!
Vielen Dank, Herr KollegeMatschie.Sie haben gerade gesagt, dass die Atomkraftwerke eineunbefristete Betriebsgenehmigung haben. Wenn ich michrecht entsinne, werden Häusern auch keine befristetenStanderlaubnisse erteilt, wenn sie gebaut sind. Wie vorhinschon einmal eingeworfen wurde, müssen sie, wenn ihreBaufälligkeit festgestellt worden ist, sofort abgerissenwerden.Sie haben gerade zitiert, dass der Weiterbetrieb vonAtomkraftwerken unverantwortlich ist. Wäre dann nichtdiese gleiche Folgerung analog anzuwenden, indem mandie sofortige Abschaltung verfügt? Ich verstehe Ihre Ar-gumentation nicht.
Christoph Matschie [SPD]: Herr Kollege, das hat et-was mit der konkreten Gefährdungs- oder Sicherheitsbe-wertung zu tun.
– Nein, hören Sie doch einmal einen Moment zu!Der Umweltrat sagt in diesem Zusammenhang zumBeispiel – ich folge ihm in dieser Auffassung –, dass beider Bewertung der Risiken der Atomenergie die unge-löste Entsorgungsfrage im Vordergrund steht
und dass wir deshalb versuchen müssen,
über einen Ausstiegspfad im Rahmen der rechtlichenMöglichkeiten die Müllmenge zu begrenzen, was wir tun,und dann einen Endlagerstandort zu suchen, um die Ent-sorgung zu ermöglichen.Jetzt zitiere ich noch einmal den Umweltrat. Er ist da-von überzeugt, dass es keinen idealen Standort für Endla-ger für hochradioaktive Abfälle gibt. Er sagt weiter:Es ist davon auszugehen, dass mit der Endlagerungfrühestens in 20 bis 30 Jahren begonnen werden kann.Das heißt, unsere Risikobewertung und unser Ausstiegs-szenario passen zueinander. Sie bewegen sich in demrechtsstaatlich möglichen Rahmen. Es gibt Leute, dietrotzdem sagen: Wir wollen diese Kraftwerke alle sofortabstellen. Das ist nicht meine Position. Meine Positionist, dass wir innerhalb eines rechtlichen Rahmens einenAusstiegspfad definieren, ihn rechtlich absichern und da-mit die Risiken in verantwortbaren Grenzen halten müs-sen.
Die Frage, wie zukunftsträchtig die Atomenergie über-haupt ist, haben weder die Kollegen von der Union nochdie von der F.D.P. beantwortet. Auch wenn in einigenStaaten der Erde noch Kernkraftwerke gebaut werden, hates in der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahrzehntenkeinen Antrag auf einen Neubau mehr gegeben.
In den USA ist das letzte Kraftwerk 1979 ans Netz ge-gangen. In einer ganzen Reihe von Staaten der Europä-ischen Union erfolgt der Ausstieg aus derAtomenergie.
Zur Wahrheit gehört auch, dass mehr als die Hälfte derStaaten der Europäischen Union entweder von vornhereinauf die Nutzung der Atomenergie verzichtet hat oder istwie Italien und Österreich bereits ausgestiegen
oder ist dabei, auszusteigen, wie beispielsweise Belgienund Schweden.
Deshalb glaube ich, dass wir uns nicht isoliert auf demWeg des Ausstiegs, des kontrollierten Beendens der Nut-zung der Atomenergie befinden.Es gibt auch jede Menge wirtschaftliche Gründe fürden Ausstieg. Dazu gibt es Untersuchungen, die zu demErgebnis kommen, dass sich Kernkraftanlagen in liberali-sierten Energiemärkten überhaupt nicht mehr rechnen. Eswird empfohlen, die Nutzung der Kernenergie – unab-hängig von unserem Konzept des beschleunigten Aus-stiegs – in etwas längeren Zeiträumen zu beenden. Das istdie Wahrheit.
– Ob die Franzosen ihre Kernkraftwerke schließen, ist de-ren Sache und deren politische Entscheidung.
– Es gibt aber auch in Frankreich – um Ihnen das auch ganzdeutlich zu sagen, Herr Kollege, und das wissen Sie so gut
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wie ich – noch lange keinen liberalisierten Energiemarkt.Insofern sind dort die Bedingungen etwas anders.
Aber selbst wenn das alles funktionieren würde: So-weit wir im Moment absehen können, ist bei derzeitigemVerbrauch Uran noch etwa 60 Jahre verfügbar.
Die Frage, wie lange wir mit diesen verfügbaren ReservenAtomenergie nutzen können – vor allem, wenn Sie diesnoch ausbauen wollen – müssen Sie erst einmal beant-worten, bevor Sie sagen: Das ist die Zukunft der Energie-versorgung, alles andere ist Ideologie und vom Teufel.Dann bleibt – abgesehen von der ungelösten Entsor-gungsfrage – noch die wichtige Frage, wie dies umwelt-politisch zu werten ist. Sie sagen immer, wir brauchen denAusbau der Kernenergienutzung aus Gründen des Klima-schutzes. Auch hierzu kann ich Ihnen nur noch einmalden Sachverständigenrat für Umweltfragen aus seinem2000er Gutachten zitieren. Er sagt:Klimapolitischer Handlungsbedarf kann allerdingskein Argument gegen eine Beendigung der Nutzungder Atomenergie sein.
Vielmehr müssen parallel zur Festlegung von Rest-laufzeiten der Atomkraftwerke Rahmenbedingungengetroffen werden,
die die Stromversorgung durch Steigerung der Ener-gieeffizienz, durch Energieeinsparstrategien unddurch eine verstärkte Nutzung erneuerbarer Energie-träger ... gewährleisten.Soweit die wissenschaftliche Einschätzung des Sachver-ständigenrates für Umweltfragen.Wenn man sich ansieht, welchen Beitrag die Kern-energie im Moment weltweit zur Verringerung des CO2-Ausstoßes leisten kann, stellt man fest: Wir haben welt-weit etwa 440 Kernkraftwerke am Netz. Das sind7 Prozent der Primärenergieerzeugung.
Wenn die Primärenergieerzeugung über Kernkraftwerkeeinen nennenswerten Anteil ausmachen sollte, welchesAusbauszenarium muss man sich denn da vorstellen? Wieviele hundert Kernkraftwerke sollen denn weltweit ge-baut werden,
damit überhaupt ein nennenswerter Beitrag zum Klima-schutz geleistet werden kann? Diese Frage haben Sie,werte Kolleginnen und Kollegen, auch Sie, Herr Hirche,noch nie beantwortet.
Herr Kol-
lege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Vaatz?
Ich möchte meinen
Gedanken noch ausführen, dann gestatte ich die Zwi-
schenfrage.
Sie haben gesagt, dass die CO2-Emissionen trotz allergroßartigen Ankündigungen der Bundesregierung zum
Klimaschutz im letzten Jahr wieder angestiegen sind.
Das ist leider so. Aber ich würde hier nicht so hämisch
sein; denn wenn man sich einmal die Kurve zum Ausstoß
der letzten zehn Jahre anschaut, Herr Paziorek und Frau
Homburger, dann stellt man fest, dass Ihnen etwas ganz
Ähnliches passiert ist. Trotz all der großen Ankündigun-
gen zur Berliner Klimakonferenz 1995 mussten wir An-
fang 1996 feststellen, dass genau im Jahr 1995 die Kurve
nach oben geklettert ist. Das ist auch unter Ihrer Regie-
rung passiert.
Ich hoffe, dass diese Entwicklung im Jahr 2000 ähnli-
chen Entwicklungen wie damals geschuldet ist, nämlich
dem Zuschalten bestimmter Kraftwerkstypen, und dass es
keine langfristige Tendenz ist. Langfristig wird die Kurve
der CO2-Emissionen nach unten gehen. Wir werden dafürsorgen, dass wir unserem Ziel, den CO2-Ausstoß, wie ver-sprochen, zu reduzieren, näher kommen.
Herr Kol-
lege Vaatz.
Herr Kollege Matschie,Sie haben ausgeführt, wie die Franzosen mit ihren Kern-kraftwerken umgingen, sei deren Sache. Im Übrigen wei-sen Sie darauf hin, dass dort noch kein liberalisierterStrommarkt vorhanden sei.
Meine Frage ist: Wenn Sie Ihre Risikobetrachtung ernstnehmen, meinen Sie dann in der Tat, dass wir von einemeventuellen Risiko der französischen Kernkraftwerke alsDeutsche nicht betroffen sind? Das ist meine erste Frage.
Meine zweite Frage ist: Mir ist nicht klar, welchen Ein-fluss die Liberalisierung des Strommarktes auf die Si-
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cherheit von Kernkraftwerken hat. Könnten Sie das bitteeinmal ausführen.
Ihre letzte Frage kann
ich nicht beantworten. Ich habe nie behauptet, dass die Li-
beralisierung des Strommarktes Einfluss auf die Sicher-
heit von Kernkraftwerken hat.
Energiepolitik ist eine nationale Entscheidung. Auch
wenn unsere Einschätzung des Risikos so ist, dass wir die
Nutzung der Kernenergie beenden wollen, können wir un-
seren Nachbarn die Kernenergie nicht verbieten. Unsere
Nachbarn müssen selbst über ihre Energienutzung ent-
scheiden. Dass damit auch für uns Risiken verbunden
sind, ist unbestreitbar. Aber wir können nichts daran än-
dern. Wir können nur national anders entscheiden. Dies ist
eine souveräne Entscheidung der Nachbarstaaten.
Einige haben sich entschieden, aus der Nutzung der
Kernenergie auszusteigen, zum Beispiel Belgien und Ös-
terreich. In der Schweiz gibt es ein Moratorium. Vielleicht
wird es eines fernen Tages so sein, dass auch Frankreich
die Nutzung der Atomenergie beendet. Bis dahin werden
wir hierüber im Parlament noch eine ganze Menge De-
batten führen.
Ich gebe für
die CDU/CSU-Fraktion der Kollegin Dagmar Wöhrl das
Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Im Grünbuch zur Sicherungder Energieversorgung – von der Europäischen Kommis-sion im November letzten Jahres angenommen – wirdfestgestellt: Die EU deckt ihren Energiebedarf derzeit zu50 Prozent aus Importen. Weiterhin wird festgestellt, dassin den nächsten 20 bis 30 Jahren die Importabhängigkeitin Europa auf 70 Prozent steigen wird.Das ist eine Entwicklung, die nicht nur die Kommis-sion besorgniserregend findet, sondern mit dem ThemaVersorgungssicherheit hat die Kommissarin de Palacioauch bei Ihnen einen wunden Punkt getroffen. Warum?Weil das Thema Versorgungssicherheit in der Energiepo-litik von Rot-Grün überhaupt keine Rolle spielt.
Ihre Ausstiegspolitik – Sie bezeichnen sie immer alsHerzstück Ihrer Energiepolitik – wird unsere Abhängig-keit von Energieimporten massiv erhöhen und – das istnoch viel schlimmer – unsere Energieversorgung wirdsehr viel unsicherer werden.
Wir haben es geschafft, unsere Importabhängigkeit von1973 bis 1998 von ursprünglich 25 Prozent auf 17 Prozentzu reduzieren.
Seitdem Sie an der Regierung sind, konterkarieren Siediesen Erfolg und drehen das Rad zurück. Sie wissenauch, dass ein Drittel der Stromerzeugung in Deutschlandund zwei Drittel der Stromerzeugung in der Grundlastdurch erneuerbare Energien und Energieeinsparung nichtkompensiert werden können. Das wissen Sie genauso gutwie wir.
Realistischerweise gibt es nur zwei Möglichkeiten, denFortfall der Energieerzeugung durch Atomstrom auszu-gleichen: entweder Import von Elektrizität oder Importvon Gas, mit dem dann in neuen Gaskraftwerken Stromerzeugt wird. Eine andere Möglichkeit wäre, die beste-henden Kohlekraftwerke nach oben zu fahren. Sie wissenaber, dass dann eine Erhöhung des CO2-Ausstoßes dieFolge wäre, was die Klimaschutzpolitik beeinflusste.
– Fragen Sie doch einmal, wo das Gas herkommt, lieberKollege. 40 Prozent aller Gasimporte in der EU kommenaus Russland, und zwar mit steigender Tendenz.
Sie wissen ganz genau, dass die Lage in Russland nichtimmer stabil ist, und Sie wissen auch ganz genau, dassRussland sehr oft – auch in der Vergangenheit – seine Stel-lung als Energielieferant dazu verwendet hat, politischeAbhängigkeiten zu schaffen. Fragen Sie in diesem Zusam-menhang Kollegen aus mittel- und osteuropäischen Län-dern! Die können Ihnen ein Lied davon singen. Wollen Siedenn, dass wir zukünftig in eine solche Abhängigkeit kom-men? Wollen Sie, dass wir unsere zukünftige Außenpolitikunseren Energieinteressen unterordnen müssen? Sie müs-sen sich das genau überlegen, wenn Sie den einge-schlagenen Weg Ihrer Energiepolitik weitergehen wollen.
Im Interesse unserer Versorgungssicherheit – ich spre-che von der Versorgungssicherheit in Deutschland – müs-sen wir in Sachen Energieerzeugung ein starker Standortbleiben. Das wissen auch Sie.
– Wir sind doch einer Meinung, wenn es um das Ziel geht,den Anteil der Energieerzeugung aus erneuerbarenEnergien zu verdoppeln.
Wir widersprechen Ihnen doch in diesem Punkt gar nichtund dieser Konsens bestand auch in der letzten Legisla-turperiode. Wir wissen aber ganz genau, dass erneuerbare
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Energien – selbst wenn wir es schaffen, den Anteil zu ver-doppeln – niemals die Energieerzeugung aus Kernkraftals quasi einheimischem Energieträger ersetzen können.
– Er ist ein quasi einheimischer Energieträger. So ist es.Oder widersprechen Sie mir, Herr Kollege?Ich würde Ihnen wirklich raten, das angesprocheneGrünbuch einmal zur Hand zu nehmen und durchzulesen.Sie können dort die Meinungen von Sachverständigennachlesen; im Sachverständigenrat für Umweltfragen inDeutschland wurden die bisherigen Mitglieder größten-teils von Ihnen ausgetauscht.
Die Kommission warnt in dem Grünbuch, dass die CO2-Emissionen – in Deutschland steigen sie inzwischen wie-der – auch in Europa wieder ansteigen könnten. HerrMinister Trittin, die These, der Atomausstieg könne einenBeitrag zum Klimaschutz leisten, ist völlig abwegig.
Auch Kommissarin de Palacio folgt dieser Meinungnicht; sie hat vielmehr sehr starke Bedenken, ob es ge-lingt, zu einer Verringerung der Treibhausgase zu kom-men, wenn man aus der Kernkraft aussteigt. Sie weiß ganzgenau – und hat dies auch öffentlich geäußert –, dass Eu-ropa dieses Ziel ohne Festhalten an der Kernenergie nichterreichen wird.
Nehmen wir die deutschen Kernkraftwerke. Die deut-schen Kernkraftwerke helfen uns, einen sonst notwendi-gen CO2-Ausstoß im Umfang von 160 Millionen Tonnenzu vermeiden. Was heißt das? Eine solche Zahl kann mansich sehr schwer vorstellen. Diese Menge umfasst denCO2-Ausstoß des gesamten Straßenverkehrs bei uns inDeutschland, liebe Kollegen von Rot-Grün.
Und dann kommen Sie daher und erzählen uns, im Zu-sammenhang mit KWK bis zum Jahre 2010 23 Milli-onen Tonnen CO2 einzusparen,
und zwar mit einem milliardenschweren Subventionspro-gramm, das von den Verbrauchern finanziert werden soll.Es passt doch nicht zusammen: Auf der einen Seite 23Mil-lionen Tonnen Einsparung mit einem Aufwand von meh-reren Milliarden, finanziert durch die Verbraucher, und aufder anderen Seite eine tatsächliche Einsparung durch dieKernenergie von 160 Millionen Tonnen. Das passt dochnicht zusammen. Was ist das denn für eine Politik?
Kein Mensch sieht ein, welchen Sinn es machen soll,die sichersten und neuesten Kernkraftwerke in Deutsch-land abzuschalten und gleichzeitig im Ausland erzeug-ten Atomstrom in das deutsche Netz einzuspeisen.
Man weiß ganz genau, dass der importierte Strom vonKernkraftwerken stammen wird, die bei weitem nicht sosicher wie diejenigen sein werden,
die dann in Deutschland abgeschaltet worden sind.
– Hören Sie zu, lieber Kollege. – Sie haben das ja inzwi-schen – es hat allerdings ein bisschen gedauert – auch ge-merkt; denn Sie sprechen von schmutzigem Strom. Siewollen – das ist ganz toll – den Import dieses Stroms ver-bieten, indem Sie eine entsprechende Verordnungsermäch-tigung in das Energiewirtschaftsgesetz hineinschreiben.
Mit Ihrer Politik führen Sie die Öffentlichkeit bewussthinters Licht; denn ein solches Importverbot ist wederrechtlich noch praktisch möglich. Strom hat nun einmalkeine Farbe. Strom ist weder grün noch „yello“.
– Solche Debatten, wie wir sie jetzt führen, sind gut fürSie, weil sie jedes Mal Ihren Kenntnisstand ein bisschenerweitern. –
Sie werden die Herkunft des ausländischen Stroms an derGrenze nicht identifizieren können.
Wie sieht es denn rechtlich aus? Ich habe angesichts Ih-rer Politik manchmal das Gefühl, dass Recht und Gesetzüberhaupt keine Rolle mehr spielen.
Was ist denn mit dem freien Welthandel und der Ener-giecharta von 1994? Was ist mit dem kürzlich mit den EU-Beitrittskandidaten getroffenen Abkommen?
In diesem Abkommen verlangen die Beitrittskandidaten– das ist ein ganz wichtiger Punkt – Erleichterungen beimEnergietransit. Das scheint jetzt auf einmal keine Rollemehr zu spielen. Offenbar kann man alles verbieten.Den Ausstieg aus der Kernenergie schaffen Sie nur,wenn Sie den Import von ausländischer Energie erlauben.Es ist Augenwischerei, wenn man verkündet, dass dasEnde des Atomstroms in Deutschland bevorstehe.
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Das von Ihnen angestrebte Importverbot kann ganzeinfach umgangen werden. Ein theoretisches Beispiel:Österreich verkauft sauberen Wasserkraftstrom nachDeutschland, am besten mit einem Ökoaufschlag. Die inÖsterreich entstehende Stromlücke wird dann mit günsti-gen Strom-Importen aus der Ukraine geschlossen. Wassoll das? Damit verkaufen Sie unsere Bevölkerung dochfür dumm.In der letzten Woche haben die europäischen Wettbe-werbshüter der französischen EdF die Genehmigung er-teilt, sich an Energie Baden-Württemberg zu beteiligen.Es ist sehr positiv, dass die Franzosen endlich gezwungenwerden, ihren Markt ein bisschen mehr zu öffnen. DerEnergiemarkt – darauf haben Sie vorhin zu Recht hinge-wiesen – ist zwar leider noch immer nicht vollständigliberalisiert. Aber mit dem Einstieg von EdF bei EnBW isteines klar geworden: In Frankreich erzeugter Atomstromkann und wird zukünftig im deutschen Stromnetz fließen.Diese Tatsache – es gibt noch viele andere – führt dendeutschen Atomausstieg, den Sie ja im nationalen Allein-gang vereinbart haben, völlig ad absurdum.
– Aber Sie können klatschen. Ich würde mich freuen.
Ich möchte auch noch auf das Thema Endlager zu spre-chen kommen. Der Stopp der Erkundungen des Endla-gers Gorleben ohne neue wissenschaftliche Erkenntnisseist der fragwürdigste und unverantwortlichste Teil IhrerKernenergiepolitik, die Sie in letzter Zeit betrieben haben.
Die Erkundungsarbeiten in Gorleben – ich möchte garnicht darauf eingehen, dass schon Milliarden DM inves-tiert wurden – standen kurz vor dem Abschluss. Sie habenein Endlagerkonzept zerschlagen, ohne eine einzige Al-ternative anzubieten.Frau Hustedt hat gesagt, jetzt werde ein Arbeitskreisgegründet. Toll! Sie kennen den Spruch genauso gut wiewir: Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einenArbeitskreis. Hier wünsche ich Ihnen dann viel Erfolg,Frau Hustedt.
Die Erkundungsarbeiten für das Endlager in Gorlebenwerden gestoppt. Aber warum steht dann in den Verein-barungen mit den Energieversorgungsunternehmen, dasseiner möglichen Nutzung als Endlager nach vorliegendenErkenntnissen nichts im Wege steht?
Können Sie mir erklären, warum das in einer Vereinba-rung steht, die Sie mit paraphiert haben?
– Es heißt: „nach vorliegenden Erkenntnissen nichts imWege“. Wissen Sie, was Sie machen? Sie verschieben dieEntsorgungsaufgabe auf künftige Generationen. Wir ha-ben erkundet, Sie haben gestoppt.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie beunruhigen dochmit Ihrer Politik die Menschen.
Sie wissen ganz genau, für wie viele Menschen die End-lagerfrage wichtig ist.
Aber Sie wollen nicht an sie herangehen, weil dann, wenndiese Frage gelöst ist, Ihrer Antiatombewegung der Bodenentzogen ist. Es haben Sie also politische Gründe undnicht sachliche Gründe zu Ihrer Haltung bewogen.
Die Stromerzeugung aus Kernenergie war inDeutschland ein Standortfaktor; das wissen Sie. Siewissen auch, dass mit dem Ausstieg eine Strompreiser-höhung verbunden ist, was künftig eine Wettbewerbsbe-nachteiligung im Bereich stromintensiver Produktiondarstellen wird.
– Zementindustrie, Chemieindustrie, Aluminiumindus-trie, lieber Kollege.Sie kennen auch die Prognosen, dass mit diesem Aus-stieg deutschlandweit 150 000 Arbeitsplätze in Gefahrgebracht werden. Zu dem Thema habe ich von Ihnen über-haupt nichts gehört.
Sie verabschieden sich hier aus einer Hochtechnolo-giebranche. Das bedeutet das Quasiverbot einer ganzenSpitzentechnologie.
– Das ist keine Spitzentechnologie?
– Lieber Herr Kollege, können Sie mir dann einmal sagen,warum unsere Facharbeiter aus diesem Bereich die ge-fragtesten in der ganzen Welt sind?
Wenn wir in dieser Technologie nicht Spitze sind, werdann? Darauf können Sie mir keine Antwort geben.
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DagmarWöhrl15015
Wissen Sie, was Sie machen? Sie werden junge Leutekünftig nicht mehr motivieren können, hier ein Studiumzu ergreifen.
Wissen Sie, was dann kommen wird? Dann müssen Siefür diesen Bereich eine Green Card erfinden. Auf die Dis-kussion darüber freue ich mich heute schon.
Meine Damen und Herren, die Grünen haben im letz-ten Jahr von der Kernspaltung gern als Steinzeittechnolo-gie gesprochen. Neuerdings sprechen sie von der Über-gangstechnologie.Aber das ist falsch. Weltweit befindensich über 400 Kernkraftwerke in Betrieb. Knapp 40 sindim Bau; davon haben Sie nichts gesagt. In den USAwer-den bereits stillgelegte Reaktoren reaktiviert und die ge-setzlichen Laufzeiten verlängert. Da Sie vorhin von Eu-ropa gesprochen haben, füge ich hinzu: In Frankreich sindfür die Zeit nach 2010 neue Anlagen in Planung. Das fin-nische Parlament berät derzeit über den Bau des fünftenKernkraftwerks. In der Schweiz hat der Bundesrat jetztbeschlossen, dass die Laufzeiten der bestehenden Kraft-werke nicht mehr auf 40 Jahre begrenzt werden. In Tsche-chien und in der Slowakei, aber auch außerhalb Europas,nämlich in Indien, Südkorea und Brasilien gehen derzeitneue Reaktoren ans Netz. Sogar Russland setzt auf denAusbau der Kernenergie.Das alles zeigt, dass die Kernenergie keine Übergangs-technologie ist. Sie ist aber eine Technologie, die ständigweiterentwickelt werden muss.
Hier klinken wir uns aus; das ist das Gefährliche. DenkenSie nur an Reaktortypen wie den EPR und an die Kernfu-sion!Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-legen, im liberalisierten Weltmarkt für Strom verbietensich nationale Alleingänge.
Hier hat Rot-Grün ökonomisch, ökologisch, sicherheits-technisch und technologiepolitisch einen schweren Fehlerbegangen und es wird für uns sehr schwer sein, das ir-gendwann einmal wieder zu korrigieren.
Ich gebedem Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Frau Wöhrl, es wird für Sie in der Tat einbisschen schwierig; denn um das rückgängig zu machen,bedarf es der Erfüllung einer Voraussetzung: Sie müsstenwieder an die Regierung kommen.
– Das sehe ich: Daran arbeiten Sie nicht nur miteinander,sondern manchmal auch gegeneinander; insofern wün-sche ich gute Verrichtung!
Ich kann die Geschehnisse bei Ihnen durchaus sportiv ver-folgen.
Ich weiß gar nicht, wovon uns die rechte Seite diesesHauses zu überzeugen versucht: wie klasse Atomkraft ist?Was für eine Zukunftsherausforderung damit verbundenist? Ich rate Ihnen einfach Folgendes: Halten Sie diese Re-den nicht hier! Versuchen Sie diejenigen zu überzeugen,die mit der Produktion von Strom Geld verdienen. DieStromproduzenten haben – übrigens nicht nur in Deutsch-land, sondern überall dort, wo Wettbewerb und Markt-wirtschaft stattfindet, das heißt, wo nicht mehr subventio-niert wird, wo also das getan wird, was viele von Ihnen inSonntagsreden immer wieder fordern – eine klare Ent-scheidung getroffen: Atomkraft – nein, danke; die Atom-energie hat für uns aus Gründen der Wirtschaftlichkeitüberhaupt keine Perspektive.
Deswegen können wir diese Debatte eigentlich beenden.Aber damit hier nichts Falsches im Raum stehen bleibt,erlaube ich mir noch folgende Bemerkung: Zu den Äuße-rungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen,die der Kollege Matschie zitiert hat, kam von der rechtenSeite des Hauses gleich der Hinweis: Die sind doch alleausgewechselt worden. – Der Sachverständigenrat fürUmweltfragen, der dieses Gutachten erstellt hat, ist vonder Umweltministerin Dr.Angela Merkel berufen worden.
Ihm sagen Sie fälschlicherweise nach, er habe dem jetzi-gen Umweltministerium schlechte Noten erteilt. Sie soll-ten hinsichtlich der Quellen, auf die Sie sich berufen, viel-leicht ein bisschen vorsichtiger sein.
Die Rede, die der Kollege Claus gestern gehalten hat,fand ich gut. Es war ein wenig schade, dass Sie, FrauBulling-Schröter, sich gerade bei diesem Thema wieder indie Gemeinsamkeit der Opposition eingereiht haben. Sie
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DagmarWöhrl15016
wissen sehr wohl, wann das erste Atomkraftwerk stillge-legt wird: Das Atomkraftwerk Stade wird im Jahre 2003vom Netz gehen. Das ist ein Ergebnis des Atomkonsenses.Also war Ihre Frage nur rhetorisch.Mich verwundert die Gemeinsamkeit zwischen derPDS, der F.D.P. und der CDU in der Auffassung, dass mansowohl gegen Zwischenlager als auch gegen Atom-transporte ist. Ich rate, einmal darüber nachzudenken, obes nicht in Ihrem Denken ein kleines Entweder-oder ge-ben müsste. Die Koalitionen, die sich jetzt gebildet haben,finde ich teilweise sehr verwunderlich. Die Position derCDU lautet: Wir sind gegen ein dezentrales Zwischenla-ger, das nach dem Sicherheitsstandard des heutigen Stan-des der Technik funktioniert, weil man Atommüll nachAhaus transportieren kann.
Die Position der PDS lautet: Wir sind zwar vor Ort gegendas Zwischenlager; aber wir sind auch dagegen, dass derAtommüll in ein anderes zentrales Zwischenlager trans-portiert wird. Das heißt, Sie beide, CDU und PDS, sindgegen alles.Nun speziell zu Ihnen von der PDS: Was würde ei-gentlich passieren, wenn die Forderung nach einem So-fortausstieg gemeinsam durchgesetzt wäre? Dann hättenSie das gleiche Problem: Sie müssten den Atommüll, dervon der rechten Seite des Hauses in der Zeit, als sie die po-litische Verantwortung trug, ins Ausland befördert wor-den ist, zurücknehmen. Bis zu der Zeit, wo der Atommüllendlagerfähig ist – hierfür gilt das Datum 2030; es gehtdabei nicht um politischen Opportunismus, sondernschlicht und ergreifend um Physik –,
müssen Sie über Zwischenlagermöglichkeiten verfügen.Auch Sie müssten die Frage beantworten, ob man einezentrale Zwischenlagerung – das würde bedeuten, dassman mindestens zwei Transporte durchführt – oder einedezentrale Zwischenlagerung vornimmt, das heißt, dassman den Atommüll dort lagert, wo er jetzt ist, um ihn dannspäter in ein entsprechendes Endlager zu bringen.
Realpolitisch stehen wir vor genau dieser Alternative.Beide Seiten des Hauses versuchen leider, sich um dieseEntscheidung herumzudrücken.Frau Homburger, gelegentlich hat man es da mit dembaden-württembergischen Landrecht zu tun. Ich denke andie Frage, ob auch der Behälter, der zum Abtransport be-reitgestellt wurde, eigentlich Bestandteil des radioaktivenInventars einer Atomkraftanlage ist. Da gibt es eine so-litäre Rechtsauffassung der Landes-regierung Baden-Württemberg. Die hat sie nicht schon immer, sondern erstseit Mai 2000. Bis dahin war Baden-Württemberg wieBayern, wie Nordrhein-Westfalen, wie Schleswig-Hol-stein der Auffassung, dass das, was zum Abtransport be-reitsteht, nicht zum radioaktiven Inventar des Atomkraft-werks gehört.Weil die Landesregierung von Baden-Württembergdiese Rechtsauffassung aus durchsichtigen politischenGründen geändert hat, hat der Bundesumweltminister sieim Interesse eines einheitlichen Vollzuges des Atom-gesetzes entsprechend angewiesen. Wir sind dafür, dassdas Atomrecht nicht gebogen und nicht politisch aus-gelegt, sondern bundeseinheitlich praktiziert wird.
Das ist die Lage und ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei,dies gerichtlich anzugreifen.
– Ja, werde ich auch. Ich habe zum Beispiel gerade gehört,Herr Paziorek – das fand ich ganz interessant –, wie Sieein vehementes Plädoyer für unsere Änderung des Atom-gesetzes gehalten haben.
– Nein, ich freute mich darüber. Ich kann ja zwischen deneinzelnen Abgeordneten der Opposition unterscheidenund Sie wissen, dass ich Sie schätze. Deswegen hat esmich gefreut, dass Sie so auf uns zugegangen sind.Sie haben gesagt, Sie wollten, dass künftig vor derDurchführung eines Transportes geprüft werde, ob derAtommüll schadlos verwertet werde. Ich sage Ihneneines: Es bedurfte sehr harter Verhandlungen mit der In-dustrie, diesen Rechtstatbestand – der vom Bundesamt fürStrahlenschutz bei der Beförderungsgenehmigung heutenicht berücksichtigt werden darf – einzuführen,
sodass künftig vor dem Transport zusammen mit der Be-förderungsgenehmigung die Bestätigung von der jeweili-gen Behörde vorzulegen ist.Aber damit Sie sich keine Sorgen machen, weil Sie nunsagen könnten, möglicherweise habe eine Landesregierung,beispielsweise die hessische Landesregierung, rechtswidriggehandelt, will ich Sie nur darauf verweisen, dass diefranzösische Atomaufsicht uns nachdrücklich schriftlichbestätigt hat, dass es für die Wiederaufarbeitung dieserStoffe in der Anlage UP 2/400 selbstverständlich eineGenehmigung gebe. Das heißt, auch die hessische Be-hörde hat sich nicht rechtswidrig verhalten.
Eine letzte Bemerkung zum Komplex Atom und End-lager. Ich verstehe ja, Frau Wöhrl, dass Sie den Atommüllauf jeden Fall nach Norddeutschland transportiert habenwollen.
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Bundesminister Jürgen Trittin15017
Aber wenn Sie den Konsens zitieren, zitieren Sie ihn bitterichtig. An dem Punkt, an dem Herr Paziorek aufgehörthat, geht es nämlich weiter:Somit stehen die bisher gewonnenen geologischenBefunde– jetzt zuhören –einer Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorlebenzwar nicht entgegen.Was würde passieren, wenn da etwas anderes stünde? Waswäre, wenn die Eignungshöffigkeit widerlegt würde? Wirmüssten kein Moratorium schaffen, sondern wir müsstendie Bude sofort zumachen.
Hier steht nichts anderes, als dass die Eignungshöffigkeitnoch nicht widerlegt ist.
Dann geht es weiter:Vor allem folgende Fragestellungen begründenZweifel:– Die Beherrschbarkeit von Gasbildung in dichtemSalzgestein ...Außerdem sei die Frage der Rückholbarkeit internationalnicht geklärt.Auch dies ist keine solitäre Position der Bundesre-gierung, sondern eine mit den Unternehmen, die dieseganzen Erkundungsarbeiten zu bezahlen haben, abge-stimmte Position. Sie laufen sich die Birne ein, wenn Sieversuchen, uns zu erklären, dass sich die Unternehmengegen das Unternehmensinteresse verhalten,
wenn sie den fachlichen Einwänden gegen Gorlebennachgeben!Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zum Kli-maschutz machen. Die Bundesrepublik Deutschland istdas einzige Land, das Aussichten hat, das Klimaschutzzielin Europa zu erreichen. Es ist nicht so, dass der CO2-Ausstoß in anderen Ländern steigen könnte: Er steigt inanderen Ländern, um plus 10 Prozent in den Niederlandenusw.; ich könnte sie alle durchgehen.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein Istvon minus 15 Prozent. Wir sind heute auf dem Wege, dieReduzierung um 25 Prozent tatsächlich zu erreichen, undzwar gegen den massiven Widerstand von Leuten wieHerrn Ronsöhr und anderen. Sie haben versucht, dasErneuerbare-Energien-Gesetz mit einem Potenzial von10 Millionen Tonnen CO2 zu verhindern. So war es hierin diesem Bundestag!
Sie sind es zum Beispiel, die bei jeder Gelegenheit mitIhren Mitgliedern Straßenblockaden gegen die Ökos-teuer organisieren.
– Es ist doch so. Ihre Mitglieder beteiligen sich daran.
Ich bin ja tolerant für so etwas, aber Sie scheinen dasnicht zu sein.
Eine Bemerkung kann ich mir allerdings nichtverkneifen: Wenn Sie sich die jüngste Entwicklung beimKlima anschauen, stellen Sie fest: Wir haben festgehaltenan der Entkoppelung von Primärenergieeinsatz undWirtschaftswachstum, also weniger Primärenergieein-satz bei beachtlichem Wirtschaftswachstum. Dennoch istder CO2-Ausstoß gestiegen. Warum? Weil eine Ver-lagerung von hocheffizientem Gas auf Kohle eingetretenist; man kann das auch noch anders ausdrücken: weil wireine Verlagerung von besteuerten Energieträgern wieGas auf unbesteuerte zu verzeichnen haben, weil wirnach wie vor einen Wettbewerbsnachteil für klimafre-undliche Energie-träger wie Gas haben. Das ist die Situ-ation. Daraus bleibt der simple Schluss zu ziehen: Mitdieser Klimabilanz hat etwas tatsächlich seine Wirk-samkeit bewiesen, nämlich Preissignale, und das ist dieRechtfertigung für die ökolo-gische Steuerreform.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich nun der Kollegin Eva Bulling-
Schröter das Wort.
Herr Minister Trittin,Sie haben die PDS mit der rechten Opposition gleich-gestellt und behauptet, wir seien gegen alles.
– Die CDU fühlt sich beleidigt, aber die können es jaauch selbst darlegen.Diese Argumentation habe ich schon einmal gehört,und zwar vor einigen Jahren, als diese rechte Opposition
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hier die Grünen beschimpft hat, sie seien gegen alles.Und Sie übernehmen jetzt diese Argumente.
Fakt ist: Wir, die PDS, stehen für den sofortigenAusstieg aus der Atomenergie. Wir lehnen Zwischenlagerdeswegen ab, weil wir wissen, dass damit die Laufzeitenverlängert werden. Das wird bestätigt.
Ich habe schon einige Male von dem Antrag zum AKWGundremmingen berichtet, in dem eine Kapazitätgenehmigt werden soll, die bis 2046 läuft. Solche Dingelehnen wir ab. Wir wollen den sofortigen Ausstieg. Wirwollen natürlich dann ein Endlager, das ist ganz klar.
Uns ist auch bewusst, dass das sehr schwer in derBevölkerung durchzusetzen ist, aber es ist eine Notwen-digkeit. Ich meine, wir haben eine Verantwortung.Hier wurde das Gutachten des Wissenschaftsratesbezüglich der Problematik der Entsorgung angesprochen.Diese Problematik wird noch sehr lange weiter bestehen.Das heißt, wir brauchen jetzt dringend ein Handeln. Wirmeinen, dass es nicht mit Zwischenlagern getan ist, son-dern wir wollen in Übereinstimmung mit allenUmweltverbänden den Sofortausstieg.
Zur Er-
widerung der Bundesminister Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Liebe Frau Bulling-Schröter,
ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, indem ich Sie un-
gerechtfertigt in die Nähe der Union rückte.
Um die Frage allerdings haben Sie sich herumge-
drückt. Unterstellt, Sie würden sich mit Ihrer politischen
Auffassung durchsetzen und es wäre möglich, jetzt sofort
auszusteigen, dann bleibt ein Zeitfenster von 25 bis
30 Jahren. In dieser Zeit werden Sie zwischenlagern
müssen und irgendwann Transporte in ein Endlager
durchführen müssen. Wenn Sie mit uns dazu bereit sind,
sind wir in einem rationalen Diskurs ein ganzes Stück
näher zueinander gekommen, auch wenn wir die Positio-
nen nicht teilen.
Ich möchte eine zweite Bemerkung anfügen; sie
bezieht sich auf die Menge des Mülls. Wir haben mit dem
Atomkonsens nicht 1:1 das durchgesetzt, was wir wollten.
Es war ein Kompromiss, und in diesem Kompromiss
haben verschiedene Seiten Zugeständnisse machen
müssen. Aber eines können Sie doch nicht leugnen: Wenn
wir den Stopp der Zulieferungen an die Wiederaufar-
beitung im Jahr 2005 umsetzen, was heißt das? Das heißt,
dass die Wiederaufarbeitung von europäischem Atom-
müll in La Hague faktisch beendet wird. Es heißt ganz
konkret: Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung nicht nur in
Deutschland, sondern faktisch in Gesamteuropa, weil nur
noch die Deutschen die Anlagen in La Hague und Sella-
field finanziell am Laufen halten.
Mit dem Übergang zu einem Konzept der direkten
Endlagerung können Sie uns eines nicht absprechen, näm-
lich dass wir auf diese Weise aus bisher drei Transporten
– nämlich in die Wiederaufarbeitung, aus der Wieder-
aufarbeitung nach Gorleben und aus Gorleben zu einem
Endlager – nur noch einen Transport gemacht haben. Wir
haben also ganz in Ihrem Sinne dafür gesorgt, dass das
Aufkommen der Transporte auf ein Drittel gesunken ist.
Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich nunmehr für die SPD-
Fraktion dem Kollegen Michael Müller das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Es ist richtig, dass in der Ver-gangenheit große Teile dieses Hauses gemeinsam an demAusbau der Atomenergie beteiligt waren. Diese Positionstand im Zusammenhang mit bestimmten Wachstums-prognosen und Fortschrittsideen. Ich war daran nichtbeteiligt. Trotzdem sage ich, dass wir eine gemeinsameVerantwortung haben, diese Altlast zu beseitigen.Man kann uns deshalb nicht vorwerfen – auch denennicht, die diese Position damals nicht bezogen haben –,dass wir uns heute verantwortungsbewusst um die Lösungder Probleme, die sich aus der Nutzung der Atomenergieergeben, kümmern wollen. Eine derartige Debatte weisteine große Schieflage auf.
Natürlich wäre vielen von uns der ganz schnelleAusstieg lieber. Aber wir können doch nicht leugnen, dasses unterschiedliche Risiken gibt, auf die mit unter-schiedlichen Strategien reagiert werden kann. Man mussalso eine Abwägung treffen. Die entscheidende Frage ist,ob unter den Rahmenbedingungen, die wir für dieserechtlich und ökonomisch privilegierte Energietechnikgeschaffen haben, ein Weg gegangen werden kann, dermöglichst risikofrei ist. Man kann uns nicht zum Vorwurfmachen, dass wir das versuchen. Man muss vielmehr fra-gen, wieso die Atomenergie in der Vergangenheit über-haupt derartig privilegiert werden konnte.
Dass ist die eigentliche Frage!
Wir bekennen uns zu der Verantwortung, die sich ausder Politik ergibt, die damals im Bundestag von vielen ge-tragen wurde. Man muss jedoch in diesem Zusammenhangdie Unglücksfälle erwähnen: Es gab beispielsweise denStörfall in Harrisburg. Nur wenige Minuten haben gefehlt,
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Eva Bulling-Schröter15019
um dort einen Super-GAU auszulösen. Es gab die Katas-trophe von Tschernobyl und die kontaminierten Transport-behälter. Die Entsorgungsfrage ist ungeklärt. In der Politikist die Schlüsselfrage, ob man lernfähig ist. Die Politikwird immer Fehler machen. Entscheidend ist aber, dasswir aus diesen Fehlern lernen. Darin unterscheiden sich inder Tat die beiden Seiten dieses Hauses.
Es gibt einen weiteren zentralen Unterschied. Wir wis-sen heute, dass Alternativen nicht nur realisierbar, son-dern auch vorteilhaft sind. In den Alternativen liegt dieChance für eine bessere Zukunft und für das Wieder-erlangen eines Konsenses in der Bevölkerung. Es bestehtnämlich schon lange kein Konsens über die Atomenergiemehr. Konsens besteht nur unter denjenigen, in deren In-teresse die Nutzung der Atomenergie liegt. Aber in derBevölkerung gibt es diesen Konsens nicht mehr. Das zeigtjede Umfrage seit den 80er-Jahren. Insofern vollzieht diePolitik einen Teil der demokratischen Willensbildung inunserem Volk, was richtig ist.Der Ausstieg aus der Atomenergie ist für uns eineRichtungsentscheidung, auch für den Klimaschutz.
– Wenn Sie sich tiefer gehend mit dieser Frage befassenwürden, dann wüssten Sie, dass die von Ihnen immerwieder in die Diskussion gebrachte Alternative, nämlichdie Atomenergie durch aus Gas oder Kohle gewonneneEnergie zu ersetzen, nicht die wahre Alternative ist. Sieentspricht vielmehr einem antiquierten Denken. Darausergibt sich der Streit, den wir führen.
Es geht im Hinblick auf eine moderne Energiepolitikum eine ganz andere Kernfrage: Unter welchen Bedin-gungen kann man optimal Energie sparen und optimal dieEnergieeffizienz erhöhen? Wenn Sie nicht wie FrauHomburger völlig verblendet sind, dann werden Sie zuder Antwort kommen, dass die entscheidende Frage ist,wie man in Zukunft möglichst hohe Wirkungsgrade erzie-len kann. Hohe Wirkungsgrade sind aber mit der Atom-energie nicht zu erreichen. Die Formel „Atomenergie undEnergieeinsparung“ geht im Strombereich nicht auf. Dasist der entscheidende Punkt, den Sie immer noch nicht be-griffen haben.
Gucken Sie sich die Energiekonferenzen, die in denletzten Jahrzehnten in der Welt stattgefunden haben, an:Ob Cannes, ob Montreal, ob Tokio, ob Madrid, überallwurden Szenarien mit dem Ausbau der Atomenergievorgelegt. Aber nicht ein einziges dieser Szenarien hat dasKlimaproblem lösen können, und zwar ganz einfach des-halb nicht, weil man an einer ineffizienten Großstrukturfestgehalten hat, die nur auf der Basis hohen Stromab-satzes und hoher Reservemargen funktioniert.
Das heißt, das ist ein System, das aus sich heraus einen hohenStromabsatz produziert. Genau dies ist nicht zukunfts-verträglich.
Übrigens waren da die Vertreter Ihrer Partei einmalwesentlich weiter. Ich erinnere nur daran, dass wir einmalgemeinsam in der Enquete-Kommission festgestellt haben,dass genau dieser Pfad das Klimaproblem nicht lösen kann,sondern dass Energiedienstleistungen, das heißt Verän-derungen der Nachfrage, die entscheidende Antwort sind,um das Klimaproblem zu lösen. Das ist in der Tat derAnsatz, und da ist eben die Grenze der Atomenergie.
– Energiedienstleistung ist ein feststehender Begriff.Wenn Sie die Debatte kennten, würden Sie das nichtsagen.Hinzu kommt die ungelöste Entsorgungsfrage. Wirkönnen in dieser Frage nicht die Position vertreten: ausden Augen, aus dem Sinn. Es wird so getan, als würde dieBundesregierung die Frage der Entsorgung ganz leicht-fertig behandeln. Nein, meine Damen und Herren, vonAnfang an war die Atomenergie wie ein Flugzeug, dasgestartet ist, ohne eine Landebahn zu haben. Das ist dieeigentliche Wahrheit bei der Atomenergie. Bis heute gibtes kein gesichertes, verantwortbares Entsorgungskonzept.Das ist das eigentliche Problem.
Jetzt sind wir dabei, eine Lösung zu finden, und zwarerstens, indem wir auf die direkte Endlagerung um-steuern, und zweitens, indem wir unter klaren Kriterieneine Endlagerstätte suchen. Es gibt auch keinen anderenWeg. Dieser Weg ist vernünftig, zumal wir jetzt durch dieAusstiegsszenarien wissen, wie viel Atommüll anfällt.Auch das ist ein wichtiger Punkt, um Planungssicherheitin dieser Frage zu erreichen. Das heißt, wir machen einendeutlichen Schritt in Richtung auf eine verantwortbareLösung für das Entsorgungsproblem. Das ist gut so.Zu sagen – dies ist in der Vergangenheit oft geschehen,beispielsweise seitens der Bundesländer Bayern undBaden-Württemberg –: „Wir wollen die Atomenergie,aber mit der Entsorgungsproblematik haben wir nichts zutun“, ist keine verantwortbare Position. Deshalb sagen wirauch: Den Atommüll, den wir in Deutschland produzierthaben, werden wir auch in Deutschland sichern. Deshalbsind wir auf diesem Weg hin zu einem Endlagerkonzept.Wir werden dafür entsprechende Lösungen finden.
Wir werden den Konsens, der in der Bevölkerungschon lange da ist, in der Energiepolitik durchsetzen.
Der Ausstieg ist ein wesentlicher Bestandteil, aber nichtnur er. Es geht auch um die Frage, welche Antwort wir aufdie Entwicklung auf den europäischen Strommärkten ge-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Michael Müller
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ben. Wir müssen auch eine Antwort auf die Frage finden,wie wir in Zukunft Stromerzeugung, Beschäftigung undUmweltschutz in der Bundesrepublik Deutschland si-chern. Das heißt, wir stehen vor weitreichenden Struk-turänderungen. Der Ausstieg aus der Atomenergie ist eineChance, diesen Prozess zu beschleunigen und ihm jetzteine klare Richtung zu geben. Das tun wir.Ich beobachte mit großem Interesse, dass das M-Teamder CDU, also Frau Merkel, Herr Merz und Herr Meyer,immer darüber redet, dass endlich die Zukunftsdebatte ge-führt werden muss, sich dann aber heftig über die Rolleder CDU und über Kanzlerkandidaten streitet. Das istscheinbar die Zukunftsdebatte. So etwas machen wirnicht. Wir führen eine wirkliche Zukunftsdebatte. Es wirdnoch lange dauern, bis Sie dazu kommen.
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstim-
mungen, zunächst zu Tagesordnungspunkt 15 a. Hierzu
liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/5320 vor. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Stimmenthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ab-
gelehnt.
Weiterhin liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. auf Drucksache 14/5267 vor. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Stimmenthaltungen? – Auch dieser Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.
abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 15 b, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu
den Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie für den
Standort Deutschland auf Drucksache 14/4569. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3667 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 16 a und
16 b auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organisa-
tionsreform in der landwirtschaftlichen Sozial-
versicherung
– Drucksache 14/5314 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Landwirtschaftliche Sozialversicherung zukunfts-
orientiert gestalten
– Drucksache 14/3774 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind die Frak-
tionen damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen Peter
Dreßen für die Fraktion der SPD das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Der Volksmund sagt: Wer bezahlt, be-stimmt. – Dass diese Regel nicht immer zutrifft, beweisendie landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger. Ins-gesamt finanziert der Bund in der landwirtschaftlichenSozialversicherung über 50 Prozent aller Ausgaben.
– Herr Ronsöhr, bevor Sie schimpfen, sollten Sie erst ein-mal zuhören.
Im Einzelnen sind dies in der Altersversicherung4,3 Milliarden DM bzw. 72 Prozent der Gesamtausgaben.In der Krankenversicherung trug der Bund 19992,18 Milliarden DM bzw. 55 Prozent der Gesamtausga-ben. In der landwirtschaftlichen Unfallversicherung gabder Bund im Jahr 1999 550 Millionen DM bzw. 32 Pro-zent der Bruttoumlage aus. Auch unter Berücksichtigungdes Haushaltssanierungsgesetzes wurden im Jahre 2000annähernd 7 Milliarden DM für die landwirtschaftlicheSozialversicherung ausgegeben.Angesichts dieser Situation muss ich mich schon fra-gen, was der Vorwurf eigentlich soll, wir würden für dieBauern in diesem Land nichts tun. Kein anderer Berufs-stand in diesem Land erhält so viele Zuschüsse zur Sozi-alversicherung wie die Bauern.
– Kein anderer Berufsstand erhält so viel wie die Land-wirtschaft. Wenn Sie das mit der Knappschaft vergleichenund alles, auch die Krankenversicherung und die Berufs-genossenschaft, berücksichtigen, dann kommen Sie nichtauf diese Prozentzahl.
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Michael Müller
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Die Bundesregierung hat im Bundestag Rechenschaftdarüber abzulegen, dass die bewilligten Bundesmittelzweckentsprechend, wirtschaftlich und sparsam einge-setzt werden. Zur Sparsamkeit gehört, dass die Bauern-verbände über diese Kassen nicht noch zusätzlich fi-nanziert werden, wie das in Baden-Württemberg der Fallwar. Dazu muss man feststellen: Das grenzte wirklich ankriminelle Machenschaften. Das konnten wir so nichtakzeptieren. Die Staatsanwaltschaft war ja damit be-schäftigt. Mich hat nur gewundert, dass die Ministerin, dieeine Überprüfung dieser Vorgänge veranlasst hat, dannauch noch entsprechend Ärger mit den Bauernverbändenund der CDU-Fraktion bekommen hat. Ich finde, es warnotwendig, dass einmal geklärt worden ist, was da abge-gangen ist.Dennoch hat der Bund keine Möglichkeit, un-wirtschaftliches Verhalten der überwiegend landesunmit-telbaren LSV-Träger zu verhindern.Ich hoffe, ich habe Ihnen hiermit deutlich gemacht,dass mein Eingangssatz „Wer bezahlt, bestimmt“ indiesem Fall eben nicht zutrifft. Ich stimme dem Bun-desrechnungshof und dem Rechnungsprüfungsausschussvoll zu: Eine bundesweite Kammer wäre betriebs-wirtschaftlich, aber auch volkswirtschaftlich gesehen amsparsamsten und am effektivsten. Dies lässt jedoch lei-der – ich sage bewusst: leider – unser Föderalismus nichtzu.So kommen wir heute zu einer Minimallösung. Auchwenn man schon hört, dass in der Anhörung noch Än-derungswünsche von Verbänden vorgebracht werdensollen, so hoffe ich doch, dass diese Minimallösung imBundesrat eine Mehrheit finden wird. Immerhin wirdnach der Reform der Bund im Jahre 2001 23 Millio-nen DM, im Jahre 2002 55 Millionen DM und im Jahre2004 56 Millionen DM einsparen. Hinzu kommt, dass dieSozialversicherungsträger im Jahre 2004 nochmals rund59 Millionen DM einsparen werden. Gemessen an demGesamtvolumen, das wir ausgeben, ist es nicht einmal1 Prozent, was wir hier einsparen.Aus ursprünglich 20, heute 17, werden 8 plus 1 Lan-dessozialversicherungsträger. Hinzu kommt, dass Quer-schnittsaufgaben wie Beitragseinzug, EDV, Rentenaus-zahlung und -anpassung zentral erledigt werden sollen. –Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, fällt mir dazu nurein.Diese Minimallösung wird, so hoffen wir alle, zur Ver-schlankung der Strukturen und zu mehr, aber nicht opti-maler Wirtschaftlichkeit im Interesse der Steuerzahlerführen.
Im § 119 a SGB VII haben wir als spätesten Zeitpunkt,zu dem die durchzuführenden Vereinigungen vorgenom-men werden sollen, den 1. Januar 2003 festgelegt. Hier istauch ein Appell an die Selbstverwaltung formuliert, dieentsprechenden Beschlüsse zu fassen. Falls dies nichtpassiert, sind die entsprechenden Aufsichtsbehörden derLänder gefordert. Dabei wurde Rücksicht auf die Lan-dessozialversicherungsträger genommen, die schon jetztBeschlüsse gefasst haben.Dass eine rot-grüne Bundesregierung dabei die Be-lange der Beschäftigten berücksichtigt, ist wohl selbst-verständlich und muss eigentlich nicht erwähnt werden.Ob allerdings die angestrebte Stärkung der Ein-wirkungsmöglichkeiten des Bundes erreicht wird, wirduns die Zukunft zeigen. An diesem Gesetzesvorhaben, dasja auch noch eine Anhörung erfahren wird, wird deutlich,dass wir uns hier in diesem Hause einmal intensiv überden Föderalismus – darüber, wo er wirklich nachteiligwirkt – unterhalten sollten.
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Max Straubinger von der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen SPDund Bündnis 90/Die Grünen bringen heute einen Gesetz-entwurf zur Reform der landwirtschaftlichen Sozialver-sicherungsträger ein. Sie kommen damit einer Forderungder CDU/CSU nach
– selbstverständlich, Frau Lemke –, welche bereits mitAntrag vom 4. Juli 2000 Eckpunkte vorgegeben hat.Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes muss sein, die Kostenin den Verwaltungen zu reduzieren und die Effizienz zusteigern.
Wir stimmen darin überein, dass die Reduzierungder Anzahl der landwirtschaftlichen Sozialversiche-rungsträger von derzeit 20 auf nunmehr neun einrichtiger Ansatz ist. Dies werden wir sicherlich mittragen.Die Selbstverwaltungen haben diese Entwicklung aberbereits aus eigenem Antrieb weit vorangetrieben. Insofernist die gesetzliche Grundlage vielleicht nur noch imNachhinein zu betrachten.Ich hoffe auch, dass die Festlegung auf die jetzt imGesetzentwurf vorgesehenen Träger eine endgültige Ab-sage der SPD an zentralistische Lösungen sein wird. IhreAusführungen, Herr Kollege Dreßen, haben eigentlichwieder gezeigt, dass die SPD nur für Zentralismus steht.
– Doch. – Diese Zentralisierung hätte aber hinsichtlich derVersichertennähe bzw. bei der Verteilung der regionalenArbeitsplätze enorme Nachteile gebracht. Vor allen Din-gen, Herr Kollege Dreßen: Eine zentrale Einrichtung
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Peter Dreßen15022
muss nicht unbedingt effizienter und billiger arbeiten alseine dezentrale.
Mit dem Gesetz wird eine Verschlankung der Organi-sationsstrukturen, das Ausschöpfen von Wirtschaftlich-keitsreserven und – das ist meines Erachtens sehr bedeut-sam – der sparsame Umgang mit den eingesetztenBundesmitteln angestrebt. Dies kann auch erreicht werden.Dem hohen Anteil von Bundesmitteln soll durch einestärkere Einflussmöglichkeit des BundesRechnung ge-tragen werden.Die im Gesetzentwurf vorgesehene Regeldichte unddie Übertragung von Kompetenzen auf die Spitzen-verbände schießen aber weit über das Ziel hinaus.
Es macht doch keinen Sinn, Herr Dreßen, durch Fusionengrößere und leistungsfähigere Einheiten zu schaffen, de-nen man dann aber nur noch einen Bruchteil an Kompe-tenzen zutraut.
Ich glaube, dass dies mit kleineren Einheiten genauso er-reicht werden kann.Zum Beispiel ist nicht einzusehen, dass, wenn sichsämtliche LSV-Träger bereits auf ein Rechenzentrummit zwei Betriebszentren geeinigt haben und dies als Ar-beitsgemeinschaft unter Einbeziehung der Spitzenver-bände betreiben wollen, per Gesetz im letzten Momentdem Gesamtverband der landwirtschaftlichen Alterskas-sen die Befugnis über die gesamte Organisation und sogarüber die Festlegung des Sitzes eines Rechenzentrums zu-gewiesen werden soll. Hier wird der Grundsatz, dass frei-willige Einigungen Vorrang vor gesetzgeberischenZwangsmaßnahmen haben sollen, schlichtweg auf denKopf gestellt.
Ebenso wenig ist einzusehen, warum die Spitzenver-bände die erforderlichen EDV-Verfahren und -Pro-gramme für ihre Mitglieder ausschließlich selbst ent-wickeln sollen. Der bestehende IT-Kooperationsvertragder LSV-Träger würde damit vollends unterlaufen, undzwar mit einer unnütz scharfen Bestimmung, die nochdazu zur Erreichung des angestrebten Ziels völlig unge-eignet ist. Aus gutem Grund werden die EDV-Entwick-lungsaufgaben – man höre und staune – auch bei den an-deren gesetzlichen Rentenversicherungen dezentralerledigt. Ich sehe also keinen Grund, warum der Gesetz-geber eine Zentralisierung vorschreiben sollte.
– Das machen die ja auf freiwilliger Basis. Das muss abernicht vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden.Bei der Durchführung von Rückforderungen bringteine Konzentration dieser Aufgaben auf die Spitzenver-bände ebenfalls keine Verbesserungen, sondern eine mas-sive Verschlechterung. Vor Ort, bei den einzelnen Trä-gern, ist nämlich das Detailwissen für den Einzelfallvorhanden, aus dem sich Ansatzpunkte für eine erfolgrei-che Rückforderung ergeben. Vom weit entfernten „grünenTisch“ dagegen ist nichts zu erreichen.
Nachdem ursprünglich vorgesehen war, die Verteilungauf die einzelnen Reha-Einrichtungen in ganz Deutsch-land zentral zu steuern, wodurch die sozialistische Plan-wirtschaft fröhliche Urständ gefeiert hätte
– ja, so ist es –, soll nun eine gemeinsame Einrichtung be-trieben werden, um die Verteilung auf die Reha-Einrich-tungen zu koordinieren. Unseres Erachtens reicht es je-doch aus, wenn in einem Informationspool, für alle Trägerzugänglich, alle Daten angeboten werden und die Trägerdurch die Belegung von Teilen dieses Angebotes dies fürdie erforderliche Zeit für sich reservieren können.Folgendes wäre modellhaft für das gesamte Gesetz:Mit dem gesetzlichen Rahmen werden nur die zu errei-chenden Ziele festgelegt. Durch zentrale Bereitstellungvon Information wird der Weg dorthin erleichtert. An-sonsten entscheiden die Selbstverwaltungen nach ihrenspeziellen Gegebenheiten, wie sie die Arbeit optimierenund das Ziel möglichst günstig erreichen können.Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen bisins letzte Detail reduzieren dagegen nicht nur die Effekti-vität, sondern auch die Gültigkeitsdauer des Gesetzes, daswegen vieler Details sicherlich bald wieder nachgebessertwerden müsste. Dies ist aber auch im Sinne einer von SPDund Grünen getragenen Bundesregierung.Schlichtweg unrealistisch erscheinen die im Gesetzent-wurf vorgesehenen Einsparungen bei den Verwaltungs-kosten in den Jahren 2002 und 2003. Bereits der jetzigeAnsatz hat sich bundesweit als zu gering herausgestellt.Wenn nun für Umorganisationen Investitionen getätigtwerden müssen, entstehen daraus erfahrungsgemäß an-fangs Mehrkosten und keine Einsparungen. Es ist dahervöllig abwegig, bereits für die kommenden zwei Jahreweitere Budgetkürzungen festzulegen, die keinesfalls ein-zuhalten sind. Oder will man damit die Unfähigkeit derLSV-Träger zum Sparen beweisen, um über diese Hinter-tür doch noch eine zentralistische Lösung zu erreichen?Auch dies ist hier meines Erachtens zu bedenken.Herr Dreßen, Sie haben ausgeführt, dass hier seitensdes Bundes großartige Leistungen getätigt würden. Ichmöchte Sie aber schon darauf hinweisen, dass die rot-grüne Bundesregierung gerade im Agrarsozialetat ständig
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Max Straubinger15023
gekürzt hat: zwischen 1999 und 2000 um über 400 Milli-onen DM. Dies kann nicht im Sinne unserer Landwirt-schaft sein.
Insgesamt können daher im Gesetzentwurf Ansätze füreine sinnvolle Organisationsstruktur gesehen werden,aber bei den genannten Punkten müssen noch wesentlicheNachbesserungen bei den Beratungen erreicht werden.Wir werden bei den Ausschussberatungen auf diesePunkte detailliert eingehen.Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke,
Bündnis 90/Die Grünen.
WerterHerr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrStraubinger, warum Sie mich zu Beginn Ihrer Rede zumLächeln oder Lachen gebracht haben, lag daran, dass wirbereits in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben,eine solche Strukturreform durchzuführen. Wir habenalso nicht auf Ihren Antrag gewartet, sondern das standschon in unserer Koalitionsvereinbarung.
Bis dahin waren Sie ja noch verantwortlich und dasProblem bestand darin, dass Sie 1995 eine Sachreform inder Sozialversicherung durchgeführt, aber die Struktur-reform ausgesessen haben, weil es sich zugegebener-maßen um ein hochkontroverses, strittiges Thema han-delt, bei dem Standort- und Mitarbeiterbelange betroffensind
und bei dem sich in den letzten Jahren schlicht und ein-fach ein System herausgebildet hat, das nicht mehr zeit-gemäß gewesen ist.Ich möchte das noch einmal vor Augen führen: Es gab20 regionale Versicherungsträger, die sich in die BereicheUnfall- und Krankenversicherung und Alterssicherungaufgespalten haben.
Das hat in der Summe jährlich 600Millionen DM an Ver-waltungskosten verursacht.Wenn man relativ starke Beitragssätze hat und im Be-rufsstand Unmut über die Beitragszahlung herrscht, dannist der Gesetzgeber in der Verantwortung, ein System zuentwickeln, mit dem er erstens das eigenständige Versi-cherungssystem der Landwirte aufrechterhalten kann, weiles auf die spezifischen Belange der Landwirtschaft besserals ein anderes System eingeht, und mit dem er zweitensalles tun kann, was zu tun ist – ich appelliere an die Län-der, sich hier ebenfalls in den Verhandlungen über den Ge-setzentwurf zu engagieren –, um das, was an Verwaltungs-aufwand notwendig ist, so gering und so kosteneffizientwie möglich zu halten. Das sind unsere Leitlinien für einesolche Strukturreform gewesen.Schauen wir uns die Zahlen an: Von 1996 bis 2007 wer-den wir selbst im besten Fall eine Abnahme der Anzahlder Versicherten um 37 Prozent haben. Da kann man dochnicht allen Ernstes behaupten, dass man bei den Versiche-rungsträgern auf dem gleichen Niveau wie vorher bleibenkann.
Das heißt, wir haben diese Sache angefasst, wohlwissend,dass das schwierige Verhandlungen mit den Ländern mitsich bringen wird. Wir sind den Ländern mit unserem Ge-setzentwurf sehr weit entgegengekommen und haben denGesetzentwurf an den Zielen soziale Flankierung desStrukturwandels, Abmilderung regional unterschiedlicherWettbewerbsbedingungen, Stabilisierung der landwirt-schaftlichen Einkommen und effiziente Kostenstruktur inder Verwaltung ausgerichtet.
Wir werden die Funktion der landwirtschaftlichen So-zialversicherung mit unserem Gesetzentwurf stärken, da-mit sie zukunftsfähig ist und von den Versicherten auchwirklich als ihre Versicherung akzeptiert wird. Dazugehört auch, dass die Verwaltungskosten auf einem ver-nünftigen Niveau sind.Die Anzahl derTrägerwird um mehr als die Hälfte re-duziert werden. Zentrale Aufgaben werden bei den Bun-desverbänden der landwirtschaftlichen Berufsgenossen-schaften und der landwirtschaftlichen Krankenkassensowie beim Gesamtverband der landwirtschaftlichen Al-terskassen gebündelt. Darüber hinaus wird ein gemeinsa-mes Rechenzentrum für alle landwirtschaftlichen Ver-sicherungsträger geschaffen.Das wird ein schwieriger Prozess. Mir ist dabei insbe-sondere wichtig, dass wir auf die Belange der Beschäftig-ten in diesem Umstrukturierungsprozess Rücksicht neh-men. Deshalb wird sich der Prozess auch über mehrereJahre hinziehen.Heute schon werden 57 Prozent der Gesamtkosten, diein diesem System anfallen, von der öffentlichen Handübernommen. Deshalb hat der Bund nicht nur das Recht,bei der Mittelverwendung mitzureden, sondern er stehtauch in der Pflicht, das zu tun; denn Missstände hat es dortin der Vergangenheit mit Sicherheit gegeben.Ich glaube, dass eine halbherzige Reform nach dem inden Diskussionen der letzten Zeit teilweise vertretenenMotto, dies alles dem Selbstlauf und den Trägern zu über-lassen, sich nicht einzumischen, sondern darauf zu setzen,dass die Träger die Reform vollkommen uneigennützigallein bewerkstelligen werden, nichts genützt und letzt-endlich den Bestand einer eigenständigen Versicherungfür die Landwirte gefährdet hätte.
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Max Straubinger15024
Deshalb lade ich dazu ein, die Beratungen im Aus-schuss konstruktiv anzugehen. Insbesondere aber, HerrStraubinger, sollten Sie sich dafür einsetzen, dass sichauch Bayern weiterhin sehr konstruktiv in diesen Prozesseinbringt.
Das gilt im Übrigen auch für alle anderen Bundesländer.Denn nur dann werden wir die landwirtschaftliche Sozi-alversicherung gemeinsam im Interesse der Versichertenaufrechterhalten können.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marita Sehn von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich muss ehrlich gestehen: DiesenPunkt würde ich gerne mit Herrn Funke diskutieren.Wahrscheinlich war sein mangelndes Vertrauen in dielandwirtschaftlichen Sozialversicherungen mit ein Grunddafür, dass er doch eine Karriere als Minister vorgezogenhat. Zumindest über seine Altersvorsorge müssen wir unswohl keine Sorgen mehr machen.
Aber mal abgesehen von unserem ehemaligen Landwirt-schaftsminister: Die landwirtschaftlichen Sozialversiche-rungen sind den gleichen gesellschaftlichen Entwicklungenunterworfen wie die allgemeinen Sozialversicherungen,Herr Dreßen. Die Zahl der Beitragszahler sinkt, während dieZahl der Beitragsempfänger steigt. Die Brisanz wird aller-dings in der Landwirtschaft zusätzlich durch den Struktur-wandel verschärft.Berücksichtigt man die veränderten Verhältnisse, so istunstrittig: Reformen sind notwendig. Eine konsequenteReform zieht die veränderten Rahmenbedingungen in Be-tracht und garantiert die Zukunftssicherheit des Systems.Die F.D.P. unterstützt die Forderung nach Kosten-senkungen und effizienteren Strukturen in der landwirt-schaftlichen Sozialversicherung.
Ebenso befürworten wir den Wunsch des Bundes nach ei-nem verstärkten Mitspracherecht bei den Haushaltsplänender Sozialversicherungsträger.
Es ist erfreulich, dass sich auch die Bundesregierungvon ihrer Forderung nach einer zentralen Bundesversi-cherungsanstalt verabschiedet hat.
Noch vor einem Jahr haben rot-grüne Politiker gemein-sam eine zentrale Organisation der landwirtschaftlichenSozialversicherung gefordert. Das hilflose Agieren derBundesregierung um die Einführung einer einheitlichenBundesversicherungsanstalt war meiner Meinung nachpeinlich. Das Ganze erinnerte an einen Politiktango: Dawerden zunächst zwei Schritte nach vorne gemacht, dannkommen ein Wechselschritt und eine leichte Drehung unddann geht es schleunigst wieder einen Schritt zurück.
– Das wird so getanzt, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr. – Diesalles war nicht dazu angetan, das Vertrauen der Versicher-ten in die Sozialversicherung zu stärken.
Meine Damen und Herren, mit der Reform der Struk-tur der landwirtschaftlichen Sozialversicherungen ist erstein kleiner Schritt getan. Über die Notwendigkeit vonStrukturanpassungen sind wir uns weitgehend einig. Ichsehe allerdings noch erheblichen Diskussions- und Klä-rungsbedarf, was die Durchführung weiterer Einspa-rungsmaßnahmen anbetrifft. Eine willkürliche und un-koordinierte Kürzung von Leistungen wird es mit derF.D.P. nicht geben.
– Herr Herzog, wir werden Vorschläge machen.Ich hoffe, dass wir im Mai bei der Anhörung gemein-sam mit den Vertretern des Berufsstandes ein Modell füreine zukunftsfähige landwirtschaftliche Sozialversiche-rung entwickeln können.Die F.D.P. hat bereits konkrete Vorstellungen, wie einmöglicher Lösungsansatz aussehen könnte. Wir möchten,dass sich die Regierung zu ihrer Verantwortung gegen-über den Bäuerinnen und Bauern bekennt.
Deshalb muss sie den landwirtschaftlichen Sozialversi-cherungen einen Neuanfang ermöglichen, Herr Dreßen.Konkret heißt dies für uns:Die aufgelaufenen Leistungsansprüche gegenüber denVersicherungsträgern, die manchmal auch unsensibel als„alte Lasten“ bezeichnet werden, muss der Staat überneh-men.Um in Zukunft der Entstehung neuer „alter Lasten“vorzubeugen, muss das System zumindest teilweise aufdas Kapitaldeckungsverfahren umgestellt werden.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, wie wich-tig gerade eine gesicherte Altersvorsorge für die Bevölke-rung im ländlichen Raum ist. Die Sozialversicherungenhatten und haben immer auch agrarpolitische Zielsetzun-gen zu berücksichtigen. Ein in sich schlüssiges Konzeptfür eine zukunftsfähige landwirtschaftliche Sozialversi-cherung wäre ein Signal an die ländliche Bevölkerung.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Steffi Lemke15025
Die F.D.P. bekennt sich klar und eindeutig zu einer star-ken und selbstbewussten deutschen Landwirtschaft.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün, wir stimmen mit Ihnen darin überein, dass
die landwirtschaftliche Sozialversicherung reformiert
werden muss. Aber ob der vorliegende Gesetzentwurf
tatsächlich schon das sprichwörtliche „Gelbe vom Ei“ ist,
bezweifle ich.
Worum geht es? Es geht erstens um Geldverschwen-
dung durch unwirtschaftliche Strukturen.
Man muss handeln, wenn der Bundesrechnungshof pro-
gnostiziert, dass durch eine Organisationsreform jährlich
mindestens 100 Millionen DM eingespart werden könn-
ten. Dies wären immerhin rund 17 Prozent der Verwal-
tungs- und Verfahrenskosten der landwirtschaftlichen So-
zialversicherung.
Zweitens besteht Handlungsbedarf allein schon we-
gen des ungebremsten Strukturwandels, der dazu führt,
dass sich die Schere zwischen Leistungsempfängern und
Beitragszahlern immer weiter öffnet.
Laut jüngstem Agrarbericht ging die Zahl der land-
wirtschaftlichen Betriebe im Jahr 2000 um weitere rund
13 000 Betriebe – das sind 3 Prozent – zurück. Bis zum
Jahre 2010 soll sich die Zahl der Betriebe halbieren.
Selbst wenn es zum Beispiel durch die Ausweitung des
Ökolandbaus gelingt, neue Arbeitsplätze zu schaffen,
bleibt auf jeden Fall die Tendenz der insgesamt weniger
werdenden Beitragszahler.
Ihr Entwurf, meine Damen und Herren der Regie-
rungskoalition, gibt keine Antwort auf wesentliche Fra-
gen wie zum Beispiel die Frage: Wie werden sich die
Einsparungen, Bundeszuschüsse und Beiträge für die
nächsten Jahre voraussichtlich gestalten? Hierzu erwarte
ich bald ein Begleitdokument.
In der Gesetzesbegründung wird ein Einsparvolumen
in Höhe von 116 Millionen DM für das Jahr 2004 ausge-
wiesen. Das entspricht in etwa dem vom Bundesrech-
nungshof genannten Betrag. Allerdings gibt es einen Un-
terschied: Während der Bundesrechnungshof sein
Einsparvolumen untersetzt, fehlt in der Vorlage jede
Quantifizierung. Ich möchte schon wissen, wie sich die
116 Millionen DM zusammensetzen. Immerhin waren
von den 100 Millionen DM des Bundesrechnungshofes
84 Millionen DM Personalkosten. Wie viel soll es hier
sein? Die Aussage, dass dieses Modell auch sozialver-
trägliche Personalmaßnahmen ermögliche, reicht mir
und denjenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, nicht.
Erläutern Sie mir auch die Aussage, dass „jede Nut-
zung von Einsparmöglichkeiten unmittelbar die Höhe der
Bundesmittel verringert“!
Mir geht es darum, dass Einsparungen in einem ver-
nünftigen Verhältnis sowohl dem Bund als auch den Ver-
sicherungsträgern und damit letztendlich den Landwirten
zugute kommen. Sollte nur der Bund profitieren, wäre das
ein eklatanter Konstruktionsfehler.
Die Versicherungsträger müssen einen Anreiz zum Sparen
haben. Inwieweit das der Fall sein soll, ist anhand des vor-
liegenden Textes nicht erkennbar.
Wichtig ist auch, dass ein gesundes Verhältnis zwi-
schen Aufgabenbündelung und Zentralisierung einer-
seits sowie der Nutzung der Möglichkeit einer dezentra-
len Aufgabenerledigung andererseits gefunden wird, zum
Beispiel beim Beitragseinzug.
Klärungsbedarf sehe ich ebenfalls bei der Frage, ob
bzw. wie sich Aufgabenbündelung und Zentralisierung
auf die rund 280 Verwaltungsstellen der landwirtschaftli-
chen Sozialversicherungsträger auswirken werden. Letzt-
endlich darf die Zentralisierung nicht dazu führen, dass
die ortsnahe Beratung wegfällt oder unzumutbar einge-
schränkt wird.
Allein diese wenigen Punkte zeigen, dass es erforder-
lich ist, den Gesetzentwurf in den nächsten Wochen
gründlich und unter Einbeziehung der Betroffenen zu prü-
fen. Die PDS wird dies auf jeden Fall tun.
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrterHerr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde hiergerne auf viele Fragen antworten, aber die Redezeit ist zukurz. Darum gehe ich nur auf einiges ein.Herr Straubinger, gut aufgepasst! Wenn Sie jetzt zu-hören, können Sie noch einiges nicht nur zur Kompetenz-verteilung auf die Bundesverbände, sondern auch in Be-zug auf das Rechenzentrum lernen.
Frau Sehn, ich glaube nicht, dass die Bemühungen fürein Bundesmodell peinlich gewesen sind. Ich bin vorcirca einem Jahr eine der Verfechterinnen dieses Modellsgewesen und glaube, dass es genau aus diesem Grund in-nerhalb der Länder und Träger zu Bewegungen gekom-men ist. Ich glaube, auch Sie wissen das.Mein Fraktionsvorsitzender Peter Struck predigt im-mer das strucksche Gesetz. Es bedeutet: Niemals kommtein Gesetzentwurf so aus dem Bundestag heraus, wie er
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Marita Sehn15026
hineingekommen ist. Das heißt, es ist eine intensive Be-ratung gefragt. Das sage ich auch in Richtung der PDS.Ich habe vor einem Jahr hier vorne gestanden und ge-sagt: Heißes Eisen auf der einen Seite, Mauern und Blo-ckaden auf der anderen Seite. Ich glaube, daran hat sichnichts geändert. Damals habe ich geglaubt, wir seienschon in der Umsetzungsphase. Doch jetzt bringen wir ei-nen Gesetzentwurf ein, der von unserer Seite durch großeKompromissbereitschaft gekennzeichnet ist.In der Zwischenzeit gab es bei den Trägern, den Ge-werkschaften und auch innerhalb einiger Landesregierun-gen viel Bewegung. Diese haben entschieden dazu beige-tragen, dass es zu freiwilligen Fusionen kam.
Das ist positiv zu sehen. Dennoch will ich nicht verheh-len, dass ich glaube, dass wir immer noch zu kurz sprin-gen. Das föderale System bleibt nun erhalten. Das habendie Länder so gewünscht. Wir sind diesen Schritt mitge-gangen. Aber wir haben unserer Arbeit die Kriterien desBundesrechnungshofes zugrunde gelegt. Diese sindschon mehrfach von Frau Lemke und auch von HerrnDreßen angesprochen worden.Ich will deshalb nur auf drei Dinge eingehen, nämlichauf die Notwendigkeit der Reform, auf das Einsparpoten-zial und damit die Stärkung des Bundeseinflusses sowieauf die einheitliche Rechtsanwendung.Zum ersten Punkt: Niemand stellt diese Reform in Ab-rede. Es ging in den harten Kämpfen nur um die Kompe-tenzverteilung. Ganz Deutschland blickte lange auf Nie-dersachsen. Dort gab es nämlich Vorreiter, die einekurzfristige Fusion von Hannover, Braunschweig und Ol-denburg ermöglicht hätten. Ich spreche an dieser Stellebewusst von „hätten“; denn als wir unseren Referenten-entwurf präsentiert haben, der als endgültiges Datum den1. Januar 2003 vorschrieb, lehnten sich die kleinen Sozi-alversicherungsträger wieder bequem zurück, weil sienoch genügend Zeit sahen. Im Interesse der Versichertenund der Steuerzahler war dies völlig unverantwortlich.Aber dies ist kein Einzelfall. Bayern erscheint im Mo-ment sehr fortschrittlich, Herr Straubinger.
Aber über kurz oder lang werden auch Sie nicht umhin-kommen, einen gemeinsamen Träger für Bayern zu in-stallieren. Zudem gibt es noch den kleinen Träger in Sach-sen, der einmal zu Berlin gehörte. Viel Zeit für einefreiwillige Fusion bleibt nicht mehr. Auch der Träger desSaarlandes sollte sich dies einmal zu Herzen nehmen. Esgab in Deutschland immer wieder Bewegung, aber stetsnur auf unseren Druck hin. Von dieser Stelle fordere ichdie Landesregierungen noch einmal auf, ihrer Verantwor-tung nachzukommen.Zur Stärkung des Bundeseinflusses und zum Einspar-potenzial: Ein wichtiger Bestandteil ist der Bereich derEDV. Zurzeit bestehen sechs Rechenzentren, die470 000 Versicherte verwalten.
Über diese Zahlen sollte man besser nicht lange nachden-ken. In anderen Systemen sieht es anders aus. Unser Zielist ein Rechenzentrum für ganz Deutschland, das beimBundesverband beheimatet ist.
Jeder Insider weiß, dass hier große Einsparpotenziale lie-gen.Warum soll das Rechenzentrum beim Bundesverbandangesiedelt werden? Die Antwort ist ganz einfach: DiePraxis der Vergangenheit hat eine deutliche Sprache ge-sprochen. Der Bund muss bei der Defizithaftung in derAlterskasse über 70 Prozent der Kosten übernehmen. Dieeinzelnen Träger haben es in der Praxis oft so gemacht,dass sie die Mittel zur Rentenauszahlung oft Tage früherals notwendig abgerufen haben. Dadurch sind dem Bundan dieser Stelle riesige Kosten entstanden. Selbst mit denRichtlinien, die vom Bund daraufhin erlassen wurden,konnte man dem nicht abhelfen.Genauso sieht es mit dem Beitragseinzug im Bereichder Alterskasse aus; das ist der zweite triftige Grund. Hierhaben wir aus dem Jahre 1999 noch immer Rückständevon 102,5 Millionen DM zu verzeichnen. Man kann zwarsagen, dass die Defizithaftung des Bundes nicht das ei-gene Geld kostet, aber erklären Sie das einmal dem Steu-erzahler. – Mit einem einzigen Rechenzentrum sind wirauf dem richtigen Weg.Ich habe vorhin erklärt, dass ich Verfechterin einesBundesmodells war. Aber auch ich bin lernfähig. Wir ha-ben im Laufe des Prozesses versucht, gemeinsam mit denLändern einen Weg zu finden, um diesen Gesetzesvor-schlag heute dem Parlament zu unterbreiten.Zur Rechtsanwendung möchte ich noch sagen, dassich damit ein großes Problem habe. In Art. 3 § 58 b desEntwurfs werden die zu erlassenden Richtlinien mit gere-gelt. Es wird von Musterrichtlinien gesprochen, die vomBundesverband erarbeitet werden können. Ich glaube,dass wir an dieser Stelle noch Hausaufgaben zu machenhaben. Denn wenn wir eine einheitliche Rechtsanwen-dung innerhalb aller Träger für alle Versicherten erreichenwollen, dürfen wir – wie in anderen sozialen Sicherungs-systemen auch – nicht nur von Musterrichtlinien spre-chen, vielmehr muss der Bundesverband die Möglichkeithaben, Richtlinien für die Träger zu erlassen.
– Genau das habe ich gesagt, aber wenn man dazwi-schenspricht, kann man natürlich nicht zuhören.Ich möchte noch etwas zum Zeitplan sagen: Wir wol-len, dass der Gesetzentwurf den Bundestag im Juni diesesJahres in zweiter und dritter Lesung passiert. Wir ladenSie ein mitzumachen. Wir möchten, dass dieses Gesetzzum 1. August 2001 in Kraft treten kann.
Der Gesetzentwurf berücksichtigt sehr viele Kompro-misse und ich hoffe, dass die Länder dem Entwurf zu-stimmen.
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Waltraud Wolff
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Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5314 und 14/3774 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Evelyn Kenzler, Monika Balt, Dr. Dietmar
Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
– Drucksache 14/5127 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
sechs Minuten erhalten soll. –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir alle sind über die fort-dauernden rechtsextremistischen Umtriebe in unseremLand schockiert. Was kann, ja, was muss der Gesetzgeberdagegen tun?Wir beantragen beim Bundesverfassungsgericht dasVerbot der NPD. Die Mehrheit des Bundestages wirddemnächst über einen Antrag „Gegen Rechtsextremis-mus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt“beschließen. Einverstanden. Aber reicht das aus?Wir sind uns wohl darin einig, dass wesentlich mehrgetan werden muss – sowohl mit breit angelegten gesell-schaftlichen Gegenkonzepten als auch in der politischenAuseinandersetzung –, um die braune Gefahr zu stoppen.Auf rechtlichem Gebiet wird der Ruf nach Strafverschär-fung lauter. Manche raten auch, wir sollten das Versamm-lungsrecht generell einschränken. Ich halte das nicht füreinen Erfolg versprechenden Weg, sondern sehe darineher eine Gefährdung verfassungsrechtlich verbürgterGrundrechte.
Wir sollten deshalb mit solchen Maßnahmen vorsichtigsein.Wir schlagen auf der Ebene der Verfassung einen an-deren Weg vor. Der 20. Bundeskongress der Gewerk-schaft der Polizei hat 1994 in einer Resolution gefordert,dass das Grundgesetz dahin gehend ergänzt wird, dassnicht nur wie bisher gegen das friedliche Zusammenlebender Völker gerichtete Handlungen nach Art. 26 Grundge-setz, sondern auch Bestrebungen zur Wiederbelebung na-tionalsozialistischen Gedankengutes für verfassungswid-rig erklärt werden. Diese Forderung greifen wir mitunserem Antrag auf.
Wir schlagen vor, in Art. 26 Grundgesetz der Ächtungdes Angriffskrieges die Ächtung des Faschismus hinzu-zufügen.
Der Schwur von Buchenwald lautete bekanntlich: Niewieder Krieg, nie wieder Faschismus! – Unser Vorschlagwürde bewirken, dass auch der zweite Teil diesesSchwurs, ebenso wie der erste, Eingang in die Verfassungfindet.
Alfred Dietel, einer der Autoren der Resolution der Po-lizeigewerkschaft, hat in der Februar-Ausgabe der Zeit-schrift der Polizeigewerkschaft geschrieben:Es wäre an der Zeit, den Kongressbeschluss neu indie parlamentarische und die öffentliche Diskussionzu bringen, was nicht ganz leicht ist.Lassen Sie uns gemeinsam diese Befürchtung AlfredDietels widerlegen und überlegen, wie auch auf der Ebeneder Verfassung die notwendigen Weichen gestellt werdenkönnen. Wir haben einen Vorschlag unterbreitet, sind aberauch für andere sachgerechte Vorschläge jederzeit offen.Die Annahme unseres Vorschlags hätte zweifellos aucheinen hohen Symbolgehalt. Wir betrachten ihn natürlichnicht als ein Allheilmittel. Aber eine antifaschistischeKlausel im Grundgesetz wäre ein Zeichen auch gegen-über dem Ausland, dass das vereinigte Deutschland seinepolitisch-moralische und juristische Verpflichtung ernstnimmt, für die Unwiederholbarkeit der Verbrechen desdeutschen Faschismus Sorge zu tragen.
Eine solche Klausel, wie wir sie vorschlagen, wäre auchein Signal in unsere Gesellschaft hinein und an die zu-ständigen Behörden, Widerstand gegen neofaschistischeUmtriebe in noch stärkerem Maße als bisher zu leisten,weil damit die Verfassung verteidigt würde.Die Wiederbelebung nationalsozialistischen Ge-dankenguts für verfassungswidrig zu erklären entsprichtdem antifaschistischen Impetus des Grundgesetzes. Dasgilt vor allem für die Grundrechte, insbesondere für Art. 1des Grundgesetzes, der bekanntermaßen die Würde desMenschen für unantastbar erklärt und alle Staatsgewaltverpflichtet, die Menschenwürde nicht nur zu achten, son-dern auch zu schützen. Mit einer antifaschistischen Klau-sel im Grundgesetz würde klargestellt, dass die Wieder-belebung nationalsozialistischen Gedankenguts eine
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Waltraud Wolff
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schwer wiegende Verletzung der Menschenwürde dar-stellt.
Sie hätte aber auch eine praktische Bedeutung. DieVerfassungswidrigkeit von Handlungen, die darauf abzie-len, nationalsozialistisches Gedankengut wiederzubele-ben, wäre unmittelbar geltendes Verfassungsrecht. Damitwäre das Dilemma beseitigt, dass sich Neonazis bei ihrenUmtrieben auf die Grundrechte berufen und die Polizeisie auch noch schützen muss. Die zuständigen Behördenkönnten Demonstrationen mit neofaschistischer Zielstel-lung mit größerer Aussicht auf Erfolg untersagen.
Die Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedanken-guts wäre dann eindeutig keine von den Grundrechten ge-deckte Betätigung mehr.Da Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes das Gebot enthält,solche Handlungen unter Strafe zu stellen, die geeignetsind und in der Absicht vorgenommen werden, das fried-liche Zusammenleben der Völker zu stören, wird mannatürlich auch prüfen müssen, ob die geltenden Strafbe-stimmungen in allen Punkten ausreichen. Gegebenenfallsmüssen dezidierte Anpassungen in diese Richtung vorge-nommen werden, jedoch keine generellen Strafverschär-fungen. Die PDS-Fraktion hat zum Beispiel den Vor-schlag in den Bundestag eingebracht, die Verherrlichungverbotener nationalsozialistischer Organisationen durchÄnderung des Strafgesetzbuches unter Strafe zu stellen.
Sicherlich hätte eine antifaschistische Klausel schonfrüher in das Grundgesetz aufgenommen werden müssen;denn die neonazistische Gefahr ist ja keinesfalls neu. ImVerlauf der letzten zehn Jahre, seit der deutschen Einheit,ist jedoch eine neue Situation entstanden. Rechtsextre-mistische Bestrebungen haben ein solches Ausmaß undeine solche Intensität erreicht, dass sie eine ernsthafte Ge-fahr für die Verfassungsordnung unseres Landes darstel-len. Es ist deshalb höchste Zeit, ein deutliches Zeichen zusetzen, auch in unserem Grundgesetz. Jetzt haben wir dieMöglichkeit.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Erika Simm
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Gesetze, zumal die Verfassung, sollteman nur ändern, wenn dafür eine Notwendigkeit besteht.
Ich sehe keine Notwendigkeit, Art. 26 des Grundgesetzeszu ändern, wie es im Antrag der PDS vorgeschlagen wird.
Im Gegenteil: Die ausführliche Begründung des Antrages,in dem die geltende Verfassungs- und Rechtslage zutref-fend dargestellt wird, beweist in meinen Augen, dass wirkeine Grundgesetzänderung brauchen, weil sowohl un-sere Verfassung als auch die allgemeinen Gesetze ausrei-chen, um rechtsextremistische Tendenzen in unsererGesellschaft wirkungsvoll zu bekämpfen.
– Daran werden Sie auch mit einer symbolischen Gesetz-gebung nichts ändern.Zu Recht wird in der Begründung des PDS-Antragesdarauf hingewiesen, dass unser Grundgesetz von einer an-tifaschistischen Tendenz geprägt sei, mehr noch: Es ver-körpert geradezu die Abkehr vom Nationalsozialismus.Alle Überlegungen und Bemühungen der Verfasser desGrundgesetzes waren darauf gerichtet, jeden Ansatz einesWiederauflebens totalitärer Bestrebungen im Keim zu er-sticken. Deswegen wurde gleich an den Anfang desGrundgesetzes ein umfassender Grundrechtsteil gestellt,der weitgehend die Grundrechte des Bürgers gegenüberdem Staat normiert, die als subjektive Rechte ausgestaltetsind und mithilfe eines starken Verfassungsgerichtes auchdurchgesetzt werden können.Das dahinter stehende Menschenbild unterscheidetsich fundamental vom Menschenbild des Nationalsozia-lismus. Beispielhaft sei nur Art. 3, der Gleichheitsgrund-satz, genannt, der von der Gleichheit aller Menschen aus-geht und damit im Widerspruch zur nationalsozialis-tischen Rassenlehre steht.Durch Art. 79 Abs. 3 werden zudem wesentliche Ver-fassungsnormen, so die Grundrechte, aber zum Beispielauch die föderale Verfassung unseres Staatswesens, fürunabänderbar erklärt. Diese sogar dem Gesetzgeber auf-erlegte Beschränkung ist natürlich aus den schmerzlichenErfahrungen zu erklären, welche die Väter und Mütter desGrundgesetzes mit Hitlers Ermächtigungsgesetz von1933 gemacht haben.Darüber hinaus enthält das Grundgesetz eine Reihevon Normen, die den unmittelbaren Zweck haben, verfas-sungsfeindliche Bestrebungen abzuwehren, die unserefreiheitliche, demokratische Rechts- und Gesellschafts-ordnung gefährden könnten. Ich verweise auf die Art. 9und 21, die das Verbot verfassungsfeindlicher Vereini-gungen und Parteien ermöglichen, auf Art. 18, wonach dieGrundrechte verwirkt, wer diese zum Kampf gegen diefreiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht,und auf Art. 26, der die Bundesrepublik verpflichtet, mitden anderen Völkern friedlich zusammenzuleben.Flankiert werden diese Festlegungen in der Verfassungdurch eine Vielzahl einfachgesetzlicher Regelungen,insbesondere auch Strafnormen, die verfassungswidrigesVerhalten sanktionieren. Nur beispielhaft seien genannt:§ 80 StGB, wonach die Vorbereitung eines Angriffskrie-ges mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden kann.Das ist die Umsetzung des Art. 26 Grundgesetz. Nach den§§ 81 bis 83 StGB werden Taten bestraft, die sich gegenden Bestand der Bundesrepublik und unsere verfassungs-mäßige Ordnung richten. § 84 StGB stellt das Fortführeneiner verfassungswidrigen Partei, § 85 StGB den Verstoßgegen ein Vereinigungsverbot unter Strafe. Nach § 86
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Dr. Evelyn Kenzler15029
StGB ist die Verbreitung von Propagandamaterial einerverfassungswidrigen Organisation, nach § 86 a StGB dieVerwendung von Kennzeichen solcher Organisationenmit Strafe bedroht. Nach § 130 Abs. 3 StGB sind dieLeugnung und Verharmlosung des Holocaust strafbar.Nicht nur die zuletzt genannte Strafvorschrift, sondernauch die anderen einschlägigen Tatbestände erfassenebenso Handlungen, denen eine rechtsextremistische, aufnationalsozialistischem Gedankengut basierende Motiva-tion zugrunde liegt.
Frau Kol-
legin Simm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Seifert?
Ja, bitte.
Bitte,
Herr Seifert.
Frau Kollegin Simm, Sie zählen
gerade auf, was alles laut Grundgesetz schon verboten ist.
Unser Antrag zielt doch aber auf eine Anerkennung der
antifaschistischen Tradition dieses Deutschland ab
und will erreichen, dass wir Antifaschismus als etwas Po-
sitives sehen. Unabhängig davon, dass es kein Schaden
wäre, wenn eine solche Bestimmung zusätzlich aufge-
nommen würde, frage ich Sie, ob Sie es nicht als positi-
ven Aspekt sähen, wenn das Grundgesetz eine antifaschis-
tische Klausel enthielte und festlegte, dass es ver-
fassungswidrig ist, sich faschistisch zu betätigen. Das ist
momentan nicht gegeben; Ihre Aufzählung enthält ja doch
etwas anderes.
Ich bin der Meinung – ich denke,
das ausgeführt zu haben –, dass das Grundgesetz als
Ganzes eindeutig antifaschistisch ist – das schreiben Sie
im Übrigen in der Begründung Ihres eigenen Antrags –
und dass es einer solchen Klarstellung im Detail nicht be-
darf. Im Gegenteil, eine solche Klarstellung im Detail
könnte möglicherweise den Schluss nahe legen, das
Grundgesetz sei in seiner Grundposition nicht so eindeu-
tig gegen den Faschismus gerichtet.
Ich halte auch nichts von symbolischer Gesetzgebung. Ich
vermisse beispielsweise Ihre konkreten Vorschläge, im
Bereich der einfachgesetzlichen Regelungen, weil Sie das
ja auch ausdrücklich strafbewehren wollen.
Nicht nur die zuletzt genannte Strafvorschrift, also
§ 130 Abs. 3 StGB, sondern auch die anderen einschlägi-
gen Tatbestände erfassen Handlungen, denen eine extre-
mistische, auf nationalsozialistischem Gedankengut basie-
rende Motivation zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund
bin ich der Meinung, dass es der von der PDS beantragten
Verfassungsänderung nicht bedarf. Abgesehen davon,
dass diese Änderung bei Art. 26 Grundgesetz auch rechts-
systematisch falsch angesiedelt wäre – Art. 26Grundgesetz
hat nämlich einen ganz anderen Inhalt –, vermag ich nicht
zu erkennen, dass durch eine solche Änderung mehr Effi-
zienz bei der Bekämpfung rechtsextremistischer Bestre-
bungen zu erreichen wäre. Das uns zur Verfügung stehende
Instrumentarium halte ich für ausreichend. Dass wir bereit
sind, dieses Instrumentarium auch anzuwenden, hat die
Mehrheit dieses Hauses mit dem Antrag auf Verbot der
NPD unter Beweis gestellt.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sind unsdarin einig, dass mit allen gebotenen Mitteln gegen neo-nazistische Umtriebe vorgegangen werden muss. Für denvorliegenden Gesetzentwurf der PDS-Fraktion bestehtaber – diese Ansicht teilen wir mit der SPD-Fraktion –kein verfassungsrechtlicher Bedarf. Er wäre nur gegeben,wenn wir keine ausreichenden einfachgesetzlichen Rege-lungen hätten, um die Verbreitung nationalsozialisti-schen Gedankenguts wirksam bekämpfen und bestrafenzu können. Das ist aber nicht der Fall.Ich möchte auf die Vorschriften hinweisen, die meineVorrednerin, die Kollegin Simm, bereits erwähnt hat:§ 80 ff. StGB und insbesondere § 84 ff. StGB, wo es umdie Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats geht.Außerdem weise ich auf § 86 StGB hin, wo es um die Ver-breitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Or-ganisationen geht. In § 86Abs. 1 Nr. 4 ist das Verbot bzw.die Strafbarkeit der Anwendung nationalsozialistischerPropagandamittel ausdrücklich geregelt. Ich verweiseauch auf § 130 StGB – er muss hier ebenfalls erwähnt wer-den –, wo es um Volksverhetzung geht. § 130Abs. 3 StGBbehandelt das Leugnen des Holocaust.Das Verbot der Verbreitung von nationalsozialisti-schem Gedankengut ist gesetzlich umfassend geregelt.Wir sollten das Grundgesetz nicht mit weiteren, nicht not-wendigen Bestimmungen überfrachten. Es gibt keineLücke und es gibt auch kein „Dilemma“ – in der Begrün-dung des Gesetzentwurfs der PDS-Fraktion ist davon dieRede –, in dem sich die „Verwaltungsbehörden, Polizeiund Verwaltungsgerichte“ angeblich befinden, „neonazis-tische Umtriebe im Namen der Freiheitsrechte der Ver-fassung schützen zu müssen“.Sie widersprechen sich hier übrigens selber, wenn Siein Ihrem Gesetzentwurf – ich zitiere mit Genehmigungdes Präsidenten – an anderer Stelle schreiben:Handlungen, die geeignet sind und in der Absichtvorgenommen werden, nationalsozialistisches Ge-dankengut wieder zu beleben, sind durch die Grund-
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Erika Simm15030
rechte nicht gedeckt, weil sie auf die Abschaffungdieser Rechte und der freiheitlichen demokratischenGrundordnung gerichtet sind.Das ist in der Tat so. Nur, warum schreiben Sie dann in Ih-rer Begründung kurz vorher das Gegenteil? Es genügt,wenn ich darauf hinweise, dass Sie Ihre eigene Begrün-dung ad absurdum führen.
Neonazistische Umtriebe sind durch unsere Verfassungselbstverständlich nicht geschützt, da strafbare Handlun-gen durch die Verfassung niemals geschützt sind.
Die Juristen unter Ihnen sollten das wissen.Frau Kollegin Simm hat schon darauf hingewiesen,dass es nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Ver-sammlungsrecht, im Vereinsrecht und natürlich in unsererVerfassung – Art. 9, Art. 21, insbesondere Abs. 2,Art. 18 und Art. 26 Grundgesetz – klare Regelungen zurBekämpfung neonazistischer Umtriebe gibt.Der Verstoß gegen die einschlägigen Bestimmungenwird von den Sicherheitsbehörden rigoros verfolgt. Daskann ich jedenfalls für die unionsregierten Länder sagen.Inwieweit das für die Länder zutrifft, in denen die PDSmittelbar oder unmittelbar an der Regierung beteiligt ist,kann ich natürlich nicht sagen.Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen,dass konsequente Sicherheitspolitik gegen extremistischeBestrebungen aus unserer Sicht vor allem drei Kompo-nenten beinhaltet: erstens die Schaffung der notwendigengesetzlichen Grundlagen für unsere Sicherheitsbehör-den, wo dies nötig ist; zweitens die konsequente Nutzungdieser gesetzlichen Möglichkeiten beim Vorgehen gegenden Extremismus; drittens eine intensive Aufklärungs-und Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich der Ziele von ver-fassungsfeindlichen Bestrebungen.Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Bekämpfungdes Extremismus ist die enge Zusammenarbeit zwischenVerfassungsschutz und Polizei. Dazu habe ich von derPDS bislang allerdings noch gar nichts Brauchbaresgehört.
Die Gründe sind natürlich nahe liegend; wir können sieuns alle denken.Da kein verfassungsrechtlicher Bedarf für die PDS-Forderungen nach dieser Grundgesetzergänzung besteht,
entstünde im Falle einer solchen Ergänzung des Art. 26,wie es der PDS-Gesetzentwurf vorsieht, möglicherweiseder Eindruck, die Bundesrepublik Deutschland hätte bis-lang nicht genug getan, um neonazistische Umtriebewirksam zu bekämpfen.
Die PDS will diesen Eindruck vielleicht erwecken; ichweiß es nicht. Manchmal kann ich mich des Eindrucksnicht erwehren.
Der Gesetzentwurf ist im Übrigen an ideologischerEinseitigkeit kaum noch zu überbieten. Er bezieht sich nurauf nationalsozialistisches Gedankengut und er bezeich-net den Kampf gegen den Nationalsozialismus als Antifa-schismus.
Dazu möchte ich dann doch etwas sagen. Der Antifa-schismus ist ein zentraler Kampfbegriff und fester Be-standteil der kommunistischen Terminologie und Stra-tegie.
Ich darf – mit Genehmigung des Präsidenten – nocheinmal zitieren, und zwar etwas, was Ihnen selber am bes-ten geläufig ist. Ich habe zu Hause in meinem Archivnachgesehen und das „Kleine Politische Wörterbuch“ derDDR aus dem Jahre 1985 herausgekramt
und dort unter dem Stichwort „Antifaschismus“ gelesen:A. ist Teil des internationalen Klassenkampfes ...Außerdem heißt es:Konsequentester Träger des A. ist die Arbeiterklassemit ihrer marxistisch-leninistischen Partei an derSpitze.Das sind Sie.
Mehr möchte ich zum Begriff Antifaschismus nicht sa-gen. Die SED lässt grüßen.Auch wenn manches bei uns in den letzten Monaten andiesen aufgesetzten, verordneten Antifaschismus unseli-ger DDR-Zeiten erinnert – Ralph Giordano hat übrigensein lesenswertes Buch über den verordneten Antifa-schismus geschrieben –, so hat er bei uns dennoch nichtsverloren, schon gar nicht im Grundgesetz.
– Ich rede von dem Antifaschismus, wie er im Sinne derkommunistischen Terminologie zu verstehen ist, FrauKollegin. Wenn Sie diesen Begriff verwenden, sollten Siewissen, dass er eindeutig besetzt ist. Ansonsten sollten Siedie Wissenslücke – das ist die einzige Lücke, die ich beider heutigen Debatte erkennen kann – möglichst schnellschließen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Dr. Wolfgang Götzer15031
Das Grundgesetz ist eine antitotalitäre Verfassung unddarauf sind wir stolz. Unsere Verfassung ist vom Geist derFreiheit, der Demokratie und des Rechtsstaats geprägt.Wenn ich von Demokratie rede, dann meine ich die wehr-hafte Demokratie, wie sie in unserer Verfassung zumAusdruck kommt, eine wehrhafte Demokratie, die ent-schlossen ist, die Freiheit gegen ihre Feinde zu verteidi-gen, gleich, woher diese Feinde kommen, von rechtsaußen oder von links außen.
– Nein, das ist nicht ideologisch, sondern das ist die wehr-hafte Demokratie. Sie sollten sich damit einmal näher be-fassen.
Wenn Sie behaupten, Sie stünden auf dem Boden dieserVerfassung, dann müssen Sie das mittragen können.Dass sich der Gesetzentwurf der PDS einseitig nur ge-gen nationalsozialistisches Gedankengut und nicht auchgegen anderes totalitäres, insbesondere kommunistisches,Gedankengut richtet, verwundert angesichts ihrer Vergan-genheit allerdings nicht. Etwas anderes wäre wohl auch zuviel erwartet von einer Partei, die bis heute im alljährli-chen Verfassungsschutzbericht regelmäßig unter dem Ka-pitel „Linksextremistische Bestrebungen“ zu finden ist.
Der Gesetzentwurf ist aus den genannten Gründen ab-zulehnen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Beck vom Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Kollege Götzer, obwohl ich zum selben Ergebnis
komme, kann ich kaum eines Ihrer Argumente in dieser
Form teilen.
Es gibt durchaus die Notwendigkeit zu sagen: Wir müs-
sen zur Bekämpfung von Rassismus, Neonazismus
und Rechtsextremismus in Deutschland noch viel mehr
tun. – Der Bundesinnenminister hat es kürzlich noch ein-
mal bekannt gegeben: Wir hatten im letzten Jahr einen
dramatischen Anstieg bei ausländerfeindlichen und anti-
semitischen Gewalttaten zu verzeichnen. Das ist ein riesi-
ges Problem. Wir dürfen nicht zur Ruhe kommen, bevor
wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen haben.
Sie sagten vorhin in Ihrer Rede – das sagt man gern in
solchen Debatten, bevor man zur Ablehnung kommt –:
„Wir alle sind uns einig, dass man gegen Rechtsextremis-
mus mit allen Maßnahmen vorgehen muss“ und sugge-
rierten damit eine scheinbare Einigkeit in diesem Hause
auch in anderer Beziehung bei diesem Thema. Ich möchte
Sie daran erinnern, dass Sie von der Union alles, was wir
im Bundeshaushalt zur Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus, zur Hilfe für Opfer von Gewalttaten und rechts-
extremistischen Anschlägen eingestellt haben, abgelehnt
haben. Wir werden in den nächsten Wochen im Bundes-
tag einen Antrag verabschieden, wobei ich gehört habe,
dass die Unionsfraktion als einzige Fraktion dem nicht
beitritt. Also kann man in diesem Zusammenhang nicht
von „allen“ reden. Vielmehr streiten wir – das ist ja auch
legitim – über die Wahl der Mittel. Aber ich würde gern
einmal sehen, was die Union tatsächlich hierzu beitragen
will.
Herr Kol-
lege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Bitte schön.
Herr Kollege Beck, kön-
nen Sie kurz erklären, warum die Koalition, vor allem
auch Bündnis 90/Die Grünen, den Antrag der F.D.P. ab-
gelehnt hat, im Einzelplan 60 250 Millionen DM für den
Kampf gegen den Rechtsextremismus zur Verfügung zu
stellen?
Ich erinnere mich, dass es Maßnahmen im Bereich derBildungspolitik waren. Wir haben Schwerpunkte im Be-reich des Familienministeriums, des Justizministeriums,im Bereich der Gewaltbekämpfung gesetzt. Ich glaube,das, was wir hier gemacht haben, war richtig und verant-wortbar. Es kann nicht sein, dass man seinen Anti-faschismus beweisen muss, indem man jedem Finanz-antrag der Opposition, der dieses Wort auch nur in der Be-gründung nennt, zustimmt.
So einfach kann man es sich nicht machen. Es gibt aberkeine Vorschläge aus der Union, mit einem anderen Kon-zept – darüber kann man ja reden – dem Thema näher zukommen und etwas zu tun. Vielmehr lehnt die Union imEndeffekt jede Maßnahme in diesem Bereich ab und re-det – das war auch die Essenz des Beitrags von HerrnGötzer – das Problem klein. Das finde ich illegitim. Wirdürfen über die Methoden streiten und müssen schauen,was zum Ziel führt, und dann gemeinsam danach streben,hier voranzukommen.Aber nun zu dem Antrag der PDS. Die PDS schreibt inihrem Antrag, das Grundgesetz habe eine antifaschisti-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Dr. Wolfgang Götzer15032
sche Grundtendenz. Ich glaube, es ist zu wenig, was Siehier sagen. Das Grundgesetz ist die Negation desNationalsozialismus, es ist die direkte Kehrtwende undes ist das verfassungsrechtliche „Nie wieder Auschwitzund nie wieder Krieg“. Es sind zu nennen: Art. 1, derSchutz der Menschenwürde, als zentraler Ausgangspunkt,der Schutz des demokratischen und föderalen Rechtsstaa-tes, der auch einer Veränderung des Verfassungsgesetz-gebers entzogen ist, und Art. 3, den ich als Negation derSelektionspolitik des Nationalsozialismus sehen würde,indem er alle Menschen gleich an Würde und Menschen-rechten macht, unabhängig davon, nach welchen Krite-rien wir sie klassifizieren wollten oder könnten.Deshalb, meine Damen und Herren, muss man diesenCharakter erst einmal zur Kenntnis nehmen, bevor manbewertet, ob das, was Sie hier beantragen, notwendig undnützlich ist. Ich verstehe Ihre Intention. Ich finde diese In-tention auch legitim. Ich glaube lediglich, dass Sie juris-tisch auf diesem Weg nicht zu dem von Ihnen gewünsch-ten Ziel kommen. Sie sagen, der Terminus „national-sozialistisches Gedankengut“ sei genau zu definieren, undSie zitieren interessanterweise in Ihrer Begründung dieEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozia-listischen Reichspartei. Dazu hat Frau Limbach heute imVerbotsverfahren gegen die NPD erklärt, dass die Urteilegegen die SRP und die KPD im aktuellen Verbotsverfah-ren nicht mehr herangezogen werden könnten, weil dieRechtsprechung diesbezüglich völlig veraltet sei undheute keine Relevanz mehr habe. Wer soll denn beurtei-len, ab wann Rassismus und Totalitarismus von rechtsschon nationalsozialistisches Gedankengut sind? Dies al-les ist nicht justiziabel und führt daher letztendlich nichtweiter.Eine entsprechende Änderung des Grundgesetzesist nicht notwendig; denn es gibt Möglichkeiten, Partei-en, die die freiheitliche demokratische Grundordnunggefährden, durch das Parteienverbot nach Art. 21 desGrundgesetzes hinreichend zu begegnen. Bei anderen Or-ganisationen kann man durch Anwendung von verwal-tungsrechtlichen Verboten und von entsprechenden Straf-normen tätig werden.Hinsichtlich der Verherrlichung nationalsozialistischerOrganisationen, die Sie ebenfalls angesprochen haben,kann man mit unserer Fraktion reden, ob wir eine ent-sprechende Bestimmung im Strafgesetzbuch brauchen.Diese müsste allerdings – darauf gehen Sie in Ihrem An-trag nicht ein – dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotinsoweit genügen, dass klar ist, was verboten ist und wasdurch die Strafrechtsnorm nicht erfasst wird. Zu dieserFrage äußern Sie sich aber nicht.Wir müssen über dieses Thema weiter reden. Ich teileauch den Gedanken, den die Kollegin Kenzler vorgetra-gen hat: Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Gefahr desNationalsozialismus und des Rechtsradikalismus dazuführt, dass die Freiheitsrechte aller – dazu gehört auch dasDemonstrationsrecht – eingeschränkt werden. Aber ichbin der Meinung, dass der von Ihnen vorgeschlagene Wegjuristisch nicht zum Ziel führt. Er ist auch nicht notwen-dig, weil unsere Verfassung, übrigens auch in Art. 139, dienotwendige Klarheit über die Zielrichtung des Grundge-setzes enthält.Mit Ihrem Vorschlag werden wir in keiner Weise recht-lich weiterkommen. Deswegen werden wir wohl nach derFachberatung in den Ausschüssen diesen Gesetzentwurfzu den Akten nehmen müssen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Rainer Funke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Der Vorschlag der PDS, in Art. 26 Abs. 1 desGrundgesetzes eine so genannte antifaschistische Klauselaufzunehmen, scheint auf den ersten Blick ganz sinnvollzu sein.Diese Idee ist nicht ganz neu – Sie haben es selbst er-wähnt, Frau Dr. Kenzler –; ein entsprechender Vorschlagwurde bereits von der Polizeigewerkschaft unterbreitet.Er ist auch durchaus verständlich angesichts der Tatsache,dass sich die Polizei schwer tut, bei Versammlungen die-jenigen zu schützen, die rechtsextremistisches Gedanken-gut verbreiten. Ich habe durchaus Verständnis für die Po-lizisten, die nichts mit diesen Rechtsextremisten zu tunhaben wollen.
Denn sie wollen natürlich nicht in die geistige Nähe die-ser Rechtsextremisten gerückt werden, nur weil sie dieseaufgrund ihres polizeilichen Auftrages zu schützen haben.Dennoch ist der vorliegende Gesetzentwurf nicht ge-eignet, die Probleme zu lösen.
Eine Gesetzesänderung oder gar eine Verfassungsände-rung ändert nämlich an dem Problem des Rechtsextre-mismus überhaupt nichts. Der Rechtsextremismus musspolitisch und nicht ausschließlich durch Gesetzebekämpft werden.
Mit solchen Verfassungsänderungen können uner-wünschte Meinungsäußerungen oder Kundgebungennicht verhindert werden. Sie werden mich persönlich,aber auch sicherlich meine Partei immer an Ihrer Seite fin-den, wenn es darum geht, den Rechtsextremismus poli-tisch zu bekämpfen.Die PDS liefert in ihrer Begründung für den Gesetz-entwurf – darauf hat Frau Simm schon hingewiesen –zahlreiche Belege dafür, dass unser Grundgesetz ausrei-chend Möglichkeiten bietet, den Rechtsextremismus mitGesetzen zu bekämpfen. Frau Simm hat zu Recht auf dievielen strafrechtlichen und polizeilichen Bestimmungenhingewiesen, die ausreichen, den Rechtsextremismus zubekämpfen. Trotzdem sind wir alle aufgerufen, dieRechtsextremisten entschieden politisch zu bekämpfen.Ich glaube, dass eine derartige Änderung des Grund-gesetzes zu ganz erheblichen Auslegungsschwierigkeiten
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Volker Beck
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führen würde, die durch das Bundesverfassungsgerichtgeklärt werden müssten.Sie wollen sicherlich erreichen – das kann ich durch-aus nachvollziehen –, dass durch eine Änderung vonArt. 26 Grundgesetz das Demonstrationsrecht für dieRechtsextremisten sozusagen nach unten gezont wird.Aber ich glaube, das Demonstrationsrecht ist eine unsererganz wichtigen Verfassungsbestimmungen. Deswegenwollen wir das Demonstrationsrecht in Art. 8 nicht relati-viert wissen.Hinzu kommt, dass Sie – darauf hat die Frau KolleginSimm schon hingewiesen – rechtssystematisch mit IhremAntrag etwas schief liegen; denn Art. 26 Grundgesetzdient dem friedlichen Zusammenleben der Völker, bein-haltet also eine Außenwirkung, aber nicht die Binnenwir-kung, die Sie erreichen wollen.Lassen Sie uns also lieber mit den richtigen politi-schen, vielleicht auch noch mit polizeilichen Mitteln ge-gen den Rechtsextremismus vorgehen. Reine Symbolpo-litik – das ist das, was Sie hier beantragen – lehnen wir alsF.D.P. ab.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Wir führen die heutige Diskussion überden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundge-setzes, den die PDS vorgelegt hat, kurz bevor die offiziel-len Zahlen zu den rechtsextremistisch motivierten Strafta-ten aus dem Jahre 2000 vorgelegt werden. Nach den unsvorliegenden Zahlen für die Zeit von Januar bis Novem-ber 2000 müssen wir davon ausgehen, dass sich die Zahlder rechtsextremistisch motivierten Straftaten im Jahre2000 gegenüber dem Vorjahr von etwa 10 000 auf 14 000erhöht hat.Es gibt seit Sommer 2000 öffentlich eine vermehrteAufmerksamkeit für das Thema Rechtsextremismus. Dasbegrüße ich außerordentlich. Aber – das müssen wir unsnicht zuletzt selbstkritisch vor Augen halten – auch in Jah-ren, in denen wir 10 000 Straftaten hatten, also in Jahren,in denen Tag für Tag rund 30 rechtsextremistisch moti-vierte Delikte begangen worden sind, hätten wir allemalGrund gehabt, auch parlamentarisch der Frage von geeig-neten Wegen zur Bekämpfung des Rechtsextremismusmehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Deswegen ist es – jedenfalls für meine Fraktion – eineSelbstverständlichkeit, jede parlamentarische Initiative,gleich, von welcher Fraktion sie kommt, sorgfältig da-raufhin zu prüfen, ob sie geeignet ist, einen Beitrag zurBekämpfung des Rechtsextremismus zu leisten.Wir haben gerade in dieser Woche einen wesentlichenSchritt gemacht, um in einigen Wochen hier im Plenumgemeinsam einen Antrag beraten und verabschieden zukönnen, der nicht nur von der Koalition, sondern auchvon den Fraktionen der F.D.P. und der PDS getragenwird. Ich finde es eigentlich wichtig, dass wir bei The-men, bei denen es um Kernbestandteile der Demokratiegeht, deutlich machen, dass wir über die Partei- undFraktionsgrenzen hinweg an einem Konsens interessiertsind.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob die von der PDSvorgelegte Initiative, die wir in den Ausschüssen im Ein-zelnen zu diskutieren haben werden, geeignet sein kann,etwas zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zu leisten.Ich habe da Zweifel und will diese Zweifel an dieser Stelleauch begründen.Das entscheidende Moment in der Begegnung desRechtsextremismus sehe ich in einem Bereich, in dem wirgute Fortschritte gemacht haben, nämlich in einer Stär-kung des zivilen bürgerschaftlichen Engagements. Ichwill daher, trotz des fortgeschrittenen Freitags, die Gele-genheit wahrnehmen, von dieser Stelle aus all den Men-schen zu danken, die in den vergangenen Monaten auf dieStraße gegangen sind und die deutlich gemacht haben:Wir lassen diese Demokratie nicht von Feinden der De-mokratie beschädigen.
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeu-gung: Auch wenn die Regierung die bestdenkbaren Be-schlüsse fasst, wird es entscheidend darauf ankommen,dass eine Verfassung nicht nur auf dem Papier besteht,sondern ihre Verwirklichung darin findet, dass die Bürge-rinnen und Bürger in diesem Land als Demokraten selbst-bewusst sagen: Wir wollen die Demokratie nicht beschä-digen lassen; wir übernehmen Verantwortung für andere;diese Verantwortung endet nicht am Gartentor, sondernumfasst die Nachbarschaft und die Frage, was in diesemLand passiert.Die Kollegin Erika Simm und einige andere Juristen– ich selber bin kein Jurist – haben darauf hingewiesen,dass, zumindest rechtssystematisch, Zweifel daran beste-hen, ob durch eine Änderung des Art. 26 des Grundgeset-zes, wie dies von der PDS vorgeschlagen wird, im Bereichder Bekämpfung des Rechtsextremismus wirklich einFortschritt zu vollziehen ist. Ich möchte, ohne der Bera-tung in den Ausschüssen vorzugreifen, folgende Fragestellen: Ist es sinnvoll, dass wir hier im Parlament denEindruck erwecken, als ob der entscheidende Schalthebelzur Bekämpfung des Rechtsextremismus die Änderungvon Gesetzen sei, oder sollten wir nicht vielmehr deutlichmachen, dass es darauf ankommt, das Grundgesetz mitLeben zu erfüllen?
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Rainer Funke15034
Wenn wir sicherstellen, dass Art. 1 des Grundgesetzes,wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, gelebtwird und nicht nur im Grundgesetz steht, würden wirdeutlich weiterkommen.Wir sollten an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen– ich denke dabei an die kommenden Beratungen des frak-tionsübergreifenden Antrages, in dem sehr viele Einzel-maßnahmen aufgeführt sind, die wir für sinnvoll halten –:Beim Thema Rechtsextremismus geht es nicht um Aktio-nismus und nicht nur darum, Symbole hochzuhalten, son-dern darum, deutlich zu machen, dass einem Kernbestand-teil der Demokratie in diesem Land auf Dauer Schadendroht, wenn eine zunehmende Zahl von Menschen hinzu-nehmen bereit wäre, dass eine kleine Minderheit dieWürde und die Rechte von Menschen mit Füßen tritt.Vielen Dank.
Ich schlie-
ße die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/5127 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie zu dem Antrag der Ab-
geordneten Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun
, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.
Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschafts-
politischer Zuständigkeiten
– Drucksachen 14/2707, 14/3988 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
Ihr Einverständnis vorausgesetzt, wollen alle zu die-
sem Tagesordnungspunkt vorgesehenen Redner ihre Re-
den zu Protokoll geben.1) Ich sehe keinen Widerspruch. –
Dann werden wir so verfahren.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Frak-
tion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine sachgerechte Auf-
teilung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten“, Druck-
sache 14/3988. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2707 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Be-
richten über die Gründe zum Eintritt in den
Kosovo-Krieg
Zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Barbara Höll
das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wir haben eine Aktuelle Stunde zur Hal-
tung der Bundesregierung zu aktuellen Berichten über die
Gründe zum Eintritt in den Kosovo-Krieg beantragt. Ich
möchte hiermit namens der Fraktion der PDS die Herbei-
rufung des Ministers der Verteidigung, Herrn Scharping,
beantragen.
Natürlich haben wir registriert, dass die Frau Parla-
mentarische Staatssekretärin anwesend ist. Aber wir den-
ken, die in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Infor-
mationen, die zum Anlass dieser Aktuellen Stunde
wurden, erfordern es, dass die Bundesregierung hier auf
höchster Ebene ihre politische Verantwortung wahrnimmt
und sich der öffentlichen Diskussion im Rahmen dieser
Aktuellen Stunde stellt.
Eine wei-
tere Wortmeldung zur Geschäftsordnung. Herr Koppelin.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Nach der Sendung „Es begannmit einer Lüge“, die vor kurzem vom WDR gezeigtwurde, sind viele Fragen gestellt, aber bisher von der Bun-desregierung keine Antworten gegeben worden.Die Freien Demokraten haben in ihrer Fraktion sehr in-tensiv und ernsthaft diskutiert. Jeder hat noch einmal seinepersönlichen Beweggründe dargelegt, warum er sich da-mals für oder gegen den NATO-Einsatz ausgesprochenhat. Ich habe damals dagegen gestimmt. Aber ich akzep-tiere die ernsthafte Entscheidung meiner Kollegen.Da es aber jetzt eine solch ernsthafte Diskussion überden Bericht gibt – sowohl in unserer Fraktion als auch inanderen Fraktionen; wir haben im Übrigen den Text derSendung, der vorlag, an alle Fraktionsmitglieder verteilt,damit sie sich noch einmal intensiv mit diesem Thema be-schäftigen können –, ist es notwendig, dass der Bun-desverteidigungsminister dazu Stellung nimmt.
Es kann nicht angehen, dass sich der Bundesverteidi-gungsminister in Fragen der Öffentlichkeit drückt.
Ich erlebe es in unserer Fraktion: Es kommen immer mehrZuschriften, es werden immer mehr Fragen von Bürgerngestellt.
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Sebastian Edathy15035
1) Anlage 2– Beruhigen Sie sich doch! Die Sache ist einfach zu ernst,als dass Sie dazwischenkrakeelen.
Die Bürger stellen Fragen, aber es gibt keine Antwor-ten des Verteidigungsministers. Insofern werden wir denAntrag der PDS unterstützen.
Zur Ge-
schäftsordnung gebe ich jetzt der Kollegin Susanne
Kastner von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Das Ansinnen der PDS macht
es nicht erforderlich, den Bundesverteidigungsminister zu
rufen. Wie Sie ja sehen, ist die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Brigitte Schulte anwesend. Es war von jeher üblich,
dass bei einer Aktuellen Stunde die Parlamentarische Staats-
sekretärin oder der Parlamentarische Staatssekretär im Ple-
num anwesend ist.
Im Übrigen muss ich Ihnen, Herr Koppelin, da Sie sich
auf diese WDR-Sendung beziehen, sagen: Diese Sendung
hatte – mit Verlaub – nicht ein Niveau, das es rechtferti-
gen würde, deshalb den Bundesverteidigungsminister ins
Plenum zu rufen.
Wir lehnen deshalb den Geschäftsordnungsantrag ab.
Ebenfalls
zur Geschäftsordnung der Kollege Manfred Grund von
der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Auch wir würden es
für besser halten, wenn der Bundesminister der Verteidi-
gung heute hier wäre.
Wir sehen allerdings die Bundesregierung durch zwei
Staatssekretäre, zum einen aus dem Verteidigungsminis-
terium und zum anderen aus dem Außenministerium, aus-
reichend vertreten und werden uns diesem Antrag nicht
anschließen.
Wir kom-
men damit zur Abstimmung über diesen Antrag. Wer
stimmt dem Antrag zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Antrag ist mit klarer Mehrheit abgelehnt.
Somit hat in der Aktuellen Stunde als erster Redner für
den Antragsteller der Kollege Dr. Gregor Gysi von der
PDS-Fraktion das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich stelle fest, dass das Interesse derParlamentarier der Regierungsfraktionen an den Antwor-ten ihrer Regierung immer weiter abnimmt, und finde dasin gewisser Hinsicht schon enttäuschend. Ich finde auchnicht, dass man über den Film, der ARD-weit ausgestrahltwurde, derart hinweggehen kann, wie das gerade gesche-hen ist,
schon deshalb übrigens nicht, weil er eine beachtliche öf-fentliche Wirkung hat. Wenigstens müsste sich die Regie-rung mit ihm auseinander setzen.Dieser Krieg – der Angriff auf Jugoslawien damals –war ja, wie Sie wissen, höchst umstritten, und zwar so-wohl völkerrechtlich als auch moralisch als auch poli-tisch. Wir haben hier im Bundestag sehr heftige Debattenhierüber geführt. Ich bin seinerzeit für meine Haltungscharf kritisiert worden.
– Das ist im Augenblick gar nicht mein Problem. Ich willdie Debatte auch gar nicht wiederholen, sondern ich willauf etwas anderes eingehen.Wenn das, was wir inzwischen erfahren haben, stimmt,dass nämlich in dieser Zeit sehr vieles, was seinerzeit alsBegründung diente, manipuliert wurde, ja sogar falschwar,
dass auch der Bundesverteidigungsminister andereskannte – wobei wir uns übrigens von Anfang an alle da-rüber einig waren, dass es selbstverständlich schlimmeMenschenrechtsverletzungen in Jugoslawien gab –, dannhabe ich den Eindruck, dass der Bundesverteidigungsmi-nister und übrigens auch der Bundesaußenminister da-mals offenkundig der Meinung waren, dass das Tatsächli-che nicht genügte, um die Zustimmung des Bundestagesund der breiten Öffentlichkeit zu erreichen.
Das ist der einzig denkbare Grund dafür, dass man derartüberzogen und zum Teil auch mit falschen Fakten operierthat.Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang gern eineSituation schildern, an die ich mich noch gut erinnere.Der Bundesverteidigungsminister hat von einem KZ – erhat dieses Wort ja nicht zufällig gewählt – im Stadionvon Pristina gesprochen. Dazu will ich Ihnen zunächstFolgendes sagen: Wir sollten es lassen, zu versuchen, ineinem anderen Land Zustände herbeizureden, wie siezwischen 1933 und 1945 in Deutschland geherrscht ha-ben.
Wir finden keinen zweiten Hitler auf der Welt. DerAußenminister ist noch weiter gegangen und hat die Zu-stände sogar mit Auschwitz verglichen, was unerträglich
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Jürgen Koppelin15036
war. Ich hatte gehofft, dass er sich dafür irgendwann ein-mal entschuldigt.
Nun habe ich gehört, dass das, was im Zusammenhangmit den Kerzen auf den Dächern gesagt wurde, technischüberhaupt nicht geht. Es sind also reine Enten verkauftworden.
– Hören Sie einmal zu! Ihr Minister ist ja nicht da. Er willnicht antworten. Das ist das Problem. Er wird schon seineGründe haben, warum er nicht antworten will.
Nehmen Sie das angebliche Massaker von Rugovo. Indem Film sehe ich, wie ein deutscher Polizeioffizier er-klärt, dass er seinerzeit der erste am Ort gewesen sei. Erselbst habe sozusagen in Augenschein genommen, dass essich um Tote nach einem Gefecht handelte, dass dasUCK-Kämpfer waren. Seiner Darstellung nach wurdendie Toten von verschiedenen Orten zusammengetragenund dann fotografiert. Uns wurde das als Massaker an Zi-vilisten präsentiert.
– Hören Sie zu! – Dieser Offizier fügte hinzu, nach derersten Falschmeldung habe er im Bundesverteidigungs-ministerium angerufen und gesagt: Das stimmt so nicht.Die Situation war eine andere. – Niemand hat die Mel-dung korrigiert. Was also ist damals eigentlich passiert?
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich seinerzeitbei „Sabine Christiansen“ eingeladen war. Dort habe ich,der ich gegen den Krieg bin, gesessen, während die ande-ren dafür waren. Zum Mindestmaß an Fairness gehörtdoch, dass man in einem solchen Streit mit Tatsachen ge-geneinander operiert. Der Bundesverteidigungsministeraber hat dort gesagt: Lehrer werden vor den Augen ihrerSchüler erschossen. – Dafür hat es aber nie einen Nach-weis gegeben. – Er sagte, es habe ein Massaker stattge-funden. Er sagt, an Türen sei ein „S“ angebracht worden– was offensichtlich aber nie der Fall war –, um Serben zuschützen. Das alles erzählt er in dieser Sendung. In einemsolchen Moment kann ich doch gar nicht wissen, ob dasstimmt oder nicht.
– Hören Sie zu! Ich habe in der Sendung auch nicht Neingesagt. Er konfrontiert mich damit in der Sekunde.Warum? – Er weiß: Dort sitzt ein Gegner des Krieges.
Den bringe ich jetzt einmal in eine moralisch ganzschlimme Ecke, aus der er nicht herauskommt. – So etwasist grob unfair.
Er hätte ja auch versuchen können, seinen Krieg mit Tat-sachen zu verteidigen, nicht aber mit Erfindungen, mit de-nen Kriegsgegner in eine Ecke gedrängt werden, in derjemand, der in einer solchen Situation gegen einen völ-kerrechtswidrigen Krieg auftritt, fast wie ein Schweinwirkt. So etwas darf man übel nehmen. Das darf man auchals Parlamentarier übel nehmen.
Deshalb frage ich: Hätte es ohne falsche Sachverhalts-darstellungen auch hier im Bundestag eine Zustimmungzu diesem Krieg gegeben? Das war doch nicht nur die Ok-tober-Entscheidung.Wir haben hier öfter darüber beraten.Das müsste doch eigentlich auch eine Frage für CDU/CSU und F.D.P. sein. Übrigens haben damals nicht we-nige SPD-Abgeordnete gesagt, dass sie größte Bauch-schmerzen damit haben, aber angesichts dieser Faktennicht anders könnten. Auch sie müssten sich doch, wenndie Fakten nicht stimmen, fragen, ob sie sich vielleicht an-ders entschieden hätten. Wir haben das Recht, nicht belo-gen und betrogen zu werden.
Dieses Recht hat auch die deutsche Öffentlichkeit. Dasgilt insbesondere in einer so wichtigen Frage wie derFrage von Frieden und Krieg.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Reinhold
Robbe von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wenn das Thema, mit demwir uns heute in der Aktuellen Stunde befassen, nicht soernst wäre, Herr Gysi, könnte man schnell darüber hin-weggehen, zumal es sich um einen Antrag der PDS handelt.
Weil die PDS aber – übrigens nicht zum ersten Mal; daswill ich hinzufügen – den Versuch unternimmt, dieNATO-Luftangriffe gegen das serbische Jugoslawien alsunbegründet und völkerrechtswidrig darzustellen, mussdiesem erneuten Versuch der ideologischen Geschichts-klitterung und nachträglichen Rechtfertigung von unmög-lichen politischen Positionen energisch widersprochenwerden.Worum geht es eigentlich in dieser Debatte? Einschlecht recherchierter und nach meiner Auffassung vonvornherein einseitig ausgerichteter Fernsehbericht desWDR stellt die These auf, dass insbesondere Verteidi-gungsminister Rudolf Scharping – ich zitiere mit Erlaub-nis des Präsidenten –... mit bewussten Fälschungen versucht hat, NATO-Luftangriffe zu begründen.Unter der Überschrift „Es begann mit einer Lüge“ werdenwenige Ereignisse wahllos als Belege dafür aufgeführt,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Dr. Gregor Gysi15037
dass die deutsche Bevölkerung über die wahren Gescheh-nisse im Kosovo bewusst getäuscht wurde.Ich will an dieser Stelle in aller Deutlichkeit feststel-len – ich glaube, dass ich hierbei auch die Auffassung derbreiten Mehrheit im Deutschen Bundestag wiedergebe –,dass es völlig unerheblich ist, ob bei einem Massaker,Herr Gysi, in Rugovo die hinterrücks erschossenen Ko-sovo-Albaner vielleicht auch einen Mitgliedsausweis derUCK bei sich trugen. Das ist vollkommen unerheblich.
Fest steht, dass es Serben waren, die im Auftrag desverbrecherischen Diktators Milosevic bereits ein Jahrfrüher Hunderttausende von Kosovo-Albanern systema-tisch aus ihrer Heimat vertrieben haben. Fest steht, dassnach Angaben des UNHCR allein zwischen Januar undMitte März 1999 – also unmittelbar vor Beginn derNATO-Luftangriffe – rund 200 000 neue Flüchtlinge ausihren Häusern vertrieben wurden.Fest steht, dass die Menschen im Kosovo nicht zuletztdeshalb ihre Heimat verließen, weil sie genau wussten,dass Milosevic und seine verbrecherischen Generäle be-reits in Bosnien die dort lebenden Menschen vertrieben,verfolgt und zum Teil bestialisch ermordet hatten. Feststeht weiterhin, dass Milosevic nicht zu einer politischenLösung des Balkankonflikts bereit war und stattdessen diegesamte zivilisierte westliche Welt an der Nase herumge-führt hat.
Fest steht auch – hören Sie gut zu –, dass die Europä-ische Union, die NATO und damit selbstverständlich auchdie Bundesrepublik Deutschland überhaupt keine andereWahl hatten, als dem verbrecherischen Treiben des HerrnMilosevic und seinen Schergen mit militärischer Gewaltein Ende zu setzen. Deswegen ist der Eingriff erfolgt, des-wegen begannen die Luftangriffe.
Vor diesem Hintergrund ist es schon mehr als dreist,Herr Gysi, wenn sich die PDS heute hinstellt, um auf derGrundlage eines – ich möchte es vorsichtig formulieren –außerordentlich fragwürdigen Fernsehberichts den Ver-such zu unternehmen, die Bundesregierung, den Bundes-verteidigungsminister und die Mehrheit des DeutschenBundestages an den Pranger zu stellen.Umgekehrt, meine Damen und Herren, wird ein Schuhdaraus: Gott sei Dank sind wir heute aufgrund gut funk-tionierender Archive in der Lage, auch Unangenehmesschnell zutage zu befördern, wenn es wirklich angebrachtist. Ich zeige Ihnen jetzt mit Erlaubnis des Präsidenten einFoto aus dem „Spiegel“, das am 14. April 1999, also etwadrei Wochen nach Beginn der NATO-Luftangriffe gegendas Milosevic-Regime, aufgenommen wurde.
Es zeigt Herrn Gysi, den wir gerade gehört haben, undHerrn Milosevic. Ich hoffe, Sie, insbesondere Sie, HerrGysi, können erkennen, dass Herr Milosevic in einer of-fensichtlich sehr entspannten Atmosphäre dem damaligenVorsitzenden der PDS-Bundestagsfraktion freundschaft-lich die Hand schüttelt.
Das muss man sich wirklich vor Augen führen, dasmuss man sich richtig reinziehen, wie die jungen Leuteheute sagen: Während die gesamte westliche Welt denKriegstreiber und als Kriegsverbrecher gesuchten Dikta-tor Milosevic verurteilt und ächtet, fährt Herr Gysi nachBelgrad, um sich mit diesem Schlächter an einen Tisch zusetzen.Seit dem Treffen zwischen Gysi und Milosevic hat diePDS jeden, aber auch wirklich jeden Anspruch auf Glaub-würdigkeit und Seriosität verspielt.
– Herr Gysi, wer Kriegsverbrechern die Hand reicht,während gleichzeitig unschuldige Menschen umgebracht,verfolgt und vertrieben werden, stellt sich auf die Seite derTäter und beleidigt gleichzeitig die Opfer.
Für mich persönlich, meine Damen und Herren – ichsage das in aller Offenheit und mache aus meiner Mei-nung dazu überhaupt keinen Hehl; so habe ich mich im-mer verhalten –, ist es nicht zuletzt deshalb mehr als eineZumutung, mit solchen Leuten wie Gregor Gysi in einemParlament sitzen zu müssen.
Der PDS-Antrag zur Durchführung dieser AktuellenStunde belegt wieder einmal aufs Neue, dass in der PDSdie Altkommunisten das Sagen haben
und dass diese Partei im Deutschen Bundestag überhauptnichts zu suchen hat.
Als
nächster Redner hat Kollege Christian Schmidt von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol-lege Robbe hat eine Bemerkung zur Rolle der PDS undderer, die sie tragen, gemacht, die Herr Kollege Adam si-cherlich gern nach Mecklenburg-Vorpommern mitneh-men wird; aber das ist nicht das heutige Thema.
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Reinhold Robbe15038
Wir reden über einen Punkt, bei dem ich in der Tat denHerrn Außenminister und nicht nur den Verteidigungsmi-nister gern gesehen hätte. Ich weiß, er hat heute andereszu tun, er hat andere Sorgen; aber hier geht es um eineFrage, die notwendigerweise beantwortet werden muss.
Dieses Problem muss geklärt werden, weil Missver-ständnisse und Missinterpretationen auch bei denen be-stehen, die nicht auf der äußerst linken Seite dieses Hau-ses sitzen. Das sieht man ja an dem genannten Film desWDR. Ich persönlich gestehe ein, dass ich die Dokumen-tationen der BBC zu den Konflikten auf dem Balkan fürsehr viel aufschlussreicher halte als das, was uns von die-sem Sender gegenwärtig präsentiert wird.
Aber es gibt Fragen. Selbst seriöse Zeitungen wie die„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ stellen in ihrem Feuil-leton Fragen, überschreiben ihre Artikel mit solchenÜberschriften wie „Geleimt – Der Anlass des Kosovo-Krieges eine Erfindung der NATO“. Es ist schon überra-schend, wie weit Verwirrung und Irritation bestehen.Ich sage ganz klar: Wenn heute die gleiche Entschei-dung anstünde, würden wir wieder zustimmen, weil eseine völlig falsche Vorstellung ist, die mancher Journalisthaben mag, es wäre so, dass ein singuläres Ereignis einelang andauernde Entwicklung allein ausmache und dieschwer wiegende Entscheidung, die auch dieses Parla-ment getroffen hat, tragen würde.Deswegen kommt es auf das, was der finnische Unter-suchungsbericht über Racak aussagt, nicht im Detail an,obwohl – das müssen Sie sich schon anhören, Herr Gysi –dieser Untersuchungsbericht nicht als Zeuge dafür in An-spruch genommen werden kann, dass friedliebende Ser-ben von bösen Albanern verkleidet dort hingelegt wordenwären. Wir wissen sehr genau, dass viele Dinge nichtmehr aufgeklärt werden können. Wir wissen auch, dassdie Propagandamaschinerie des Herrn Milosevic eineaußerordentlich effiziente war.
Ich habe mich schon manchmal gewundert, mit wel-cher Leichtfertigkeit auch öffentlich-rechtliche deutscheSender das Bildmaterial, das ihnen vom serbischen Fern-sehen überlassen worden ist, übernommen haben. Manch-mal hatte man den Eindruck, dass dies geschehen ist, ohnegegenzurecherchieren, ob denn das, was da gezeigt wird,stimmt.
Der Kern des Problems, mit dem wir uns hier zu be-fassen haben, ist ein anderer. Der Versuch, den politischenFarbbeuteln auszuweichen, hat dazu geführt, dass zu Be-gründungen für diesen Einsatz gegriffen werden musste,die nicht akzeptabel sind. Ich erinnere mich noch sehr ge-nau daran, als Joschka Fischer Milosevic mit Hitler ver-glichen hat. Das war am Abend nach der G-8-Konferenzauf dem Petersberg. Wir – die Obleute oder der Aus-schuss; ich weiß es nicht mehr – saßen in Bonn und da fieldieses Wort.
Wer sagt, Milosevic ist wie Hitler, der muss Milosevicwie Hitler behandeln. Hat denn jemals jemand die totaleKapitulation, die bedingungslose Kapitulation erreichen,den bindungslosen Krieg führen wollen? Ich hoffe dochnicht.Wenn man dann allerdings zu begründen versucht,wieso man solch einen Krieg führen muss, einem Konfliktentgegentreten muss, Menschenrechtsverletzungen ent-gegentreten muss, dann muss man sich davor hüten, dasin Kategorien jenseits des Diskutierbaren zu heben.
Das ist das Problem, das Herr Fischer erzeugt hat. Dashat sehr viel nicht nur mit denjenigen zu tun, die hier, inseiner eigenen Fraktion, sitzen, sondern vielleicht nochmehr mit den Mitgliedern seiner eigenen Partei. Über die-ses Thema müssen wir reden.Wir müssen auch darüber reden, dass es nicht gut ist,wenn ein Verteidigungsminister emotional an dieses Red-nerpult tritt und mit Bildern dokumentieren zu müssenglaubt, was er politisch für notwendig hält. Hier brauchenwir jemanden, der mit kühlem Kopf sagt: In Belgrad isteiner vom Archetypus der miesen kleinen Diktatoren amSpiel, der ohne Rücksicht auf das Leben der Bürger sei-nes Landes gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit, vorallem der Albaner, versucht, seine eigene Existenz, dieaus Korruption, Machtgier und Familienclan besteht, zuwahren. Die Folgen für Europa sind angesichts der Gefahrder Ausdehnung eines solchen Brandherdes nicht abseh-bar. Dem, der bereits den vierten Krieg angezettelt hat –es war ja nicht der erste –, muss Einhalt geboten werden.Übrigens: Die Bereitschaft, loszufliegen, wenn sichnichts mehr tut, bestand zum ersten Mal nicht nach Ram-bouillet, sondern ein entsprechender Beschluss ist bereitsweit vorher erlassen worden. Das wäre die richtige Argu-mentation.Dass man dann in der Not zweifelhafte Hufeisenpläneund Vergleiche zwischen Hitler und Milosevic herbeizie-hen musste, ist das Problem der rot-grünen Regierung.Das ist nicht das Problem dieses Konflikts.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Beer vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
HerrPräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich willhier in Erinnerung rufen: Der politische Entschluss, even-tuell militärisch im Kosovo einzugreifen, ist am 16. Ok-tober 1998 im Deutschen Bundestag gefasst worden.
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Christian Schmidt
15039
Denn der Krieg des Milosevic-Regimes gegen die Alba-ner im Kosovo war bereits im Sommer 1998 in vollemGange. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es mehrere Hun-derttausend Vertriebene, davon mehrere Zehntausend inNachbarstaaten, und eine unbekannte Zahl an Toten in derZivilbevölkerung. Die Lage war also zu diesem Zeitpunktschon sehr kritisch und wird in der Resolution Nr. 1199des UN-Sicherheitsrates vom 23. September 1998 be-schrieben.Der Vorwurf des Films „Es begann mit einer Lüge“greift schon deshalb nicht, weil er aus meiner Sicht fahr-lässig die gesamte Vorgeschichte ignoriert,
eine Vorgeschichte, die spätestens mit der Verfassungsän-derung von 1989 begonnen hat, mit der der Autonomie-status der Kosovo-Albaner aufgehoben wurde.Wir hatten im Herbst 1998 die Hoffnung, dass erneuteVerhandlungen vor dem Hintergrund der Drohung einesmilitärischen Schlages zur Entspannung führen würden.Aus diesem Grunde wurde über Verhandlungen mit allenSeiten versucht – wir haben alles getan –, eine internatio-nale Lösung zu erreichen. Die jugoslawische Regierungaber hat ungeachtet der diplomatischen Versuche ihre na-tionalistische Politik weitergeführt und weiter gehendeMaßnahmen gegen die albanische Bevölkerung im Ko-sovo vorbereitet.Der Versuch, uns heute zu unterstellen, wir hätten dieEntscheidung zum NATO-Einsatz, eine Entscheidung ineiner so zentralen Frage, nämlich ob sich Deutschland aneinem Krieg beteiligt oder nicht, an Einzelereignissen wiezum Beispiel Racak, festgemacht, geht absolut ins Leere.
Die Entscheidung, im Kosovo militärisch einzugrei-fen, stand damals in einem klaren politischen Kontext.Diesen will ich noch einmal in Erinnerung rufen. Er hattezwei Ebenen: erstens die humanitäre Lage im Kosovo, diejahrelang andauernden, zum Teil gravierenden Men-schenrechtsverletzungen im Kosovo von serbischer Seite,und zweitens die Entwicklung in der Gesamtregion, dieGefahr einer zunehmenden politischen Destabilisierungder Region durch die kontraproduktive Wirkung der Poli-tik des Milosevic-Regimes. Ich erinnere nur an den Bos-nien-Krieg. Wir können doch nicht vergessen, dassMilosevic für vier Kriege auf dem Balkan verantwortlichist!
Aus dieser europäischen Verantwortung heraus habenwir im März in einer zugespitzten Situation den Beschlussvom Oktober des Vorjahres umsetzen müssen. BeideAspekte, der humanitäre und der regionalpolitische, wa-ren damals für uns von entscheidender Bedeutung.Mit dem Einsatz von KFOR und UNMIK sowie demStabilitätspakt für die ganze Region ist es uns unter demStrich gelungen, ein Fundament für die Stabilisierung derRegion und damit eine Perspektive zu schaffen.Wer heute eine Debatte über den Kosovo beantragt, dersollte unter Berücksichtigung der aktuellen, mehr als an-gespannten Situation im Kosovo auf die Frage Südserbienund Presevo eingehen. Was können wir tun? Wo wirkenunsere präventiven Mittel, um eine neue Eskalation zuverhindern? Wir bemühen uns, zum Beispiel um einAbdriften Montenegros und damit möglicherweise dienächste Eskalation zu verhindern. Was tun wir, um zuversuchen, die militanten UCK-Kräfte in der GSZ einzu-dämmen, damit sie nicht eine Frühjahrsoffensive begin-nen und den, wenn auch labilen, anhaltenden Waffenstill-stand destabilisieren und neue Gefechte provozieren?Wir wissen, dass wir mit KFOR und UNMIK nochJahre dort sein werden, weil die Traumata der Kriegser-fahrung zwischen den Ethnien nicht von heute auf morgenin Versöhnung umschlagen werden. Das sind die Punkte,über die wir heute reden müssen. An dieser Stelle möchteich ausdrücklich unseren Soldaten, unseren Polizisten undden Hilfsorganisationen für ihren Einsatz danken.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe damalsam 25. März 1999 gesagt: Wir werden uns kritischen Fra-gen stellen. Das tun wir auch.
Ich habe dies gesagt, weil wir wussten, dass es keinen„sauberen Krieg“ gibt. Wir wussten, dass es bei einemKrieg keine Gewinner und keine Verlierer geben kann,sondern dass er auf allen Seiten Opfer mit sich bringt.
Wer uns zugehört hat, der weiß, dass wir uns selbstkriti-sche Fragen gestellt haben und auch heute noch stellen:über die Kriterien der Entscheidung über einen Mi-litäreinsatz, die deutsche Beteiligung, die europäischeRolle und vor allem darüber, wann sich deutsche Soldatenan einem Einsatz beteiligen sollen und wann nicht.Zum Schluss möchte ich noch die Frage des Einsatzesvon uranhaltiger Munition ansprechen.
Selbstkritik hat nichts damit zu tun, bei verleumderischenUnterstellungen den Kopf einzuziehen und zu sagen: Eswar alles falsch.
Nein, die Historie auf dem Balkan gilt es zu berücksichti-gen.
KommenSie bitte zum Schluss.
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Angelika Beer15040
Herr
Präsident, der letzte Satz. – Nach unseren Erfahrungen –
wir haben es uns mit der Intervention in Bosnien, dem Ko-
sovo-Krieg und vielen anderen Konflikten seit dem Ende
des Kalten Krieges nicht leicht gemacht – bilanziere ich:
Das Ziel der Gewaltfreiheit geben wir nicht auf.
Unsere Politik ist darauf gerichtet, die Anwendung von
Gewalt immer weiter zurückzudrängen. Das tut diese
Bundesregierung im nationalen wie auch im internati-
onalen Rahmen, indem wir präventive Instrumente auf-
bauen und hoffentlich so zukünftig militärische Eskala-
tionen vermeiden können.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hildebrecht Braun von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Gysiund Sie, meine Damen und Herren von der PDS, ichmöchte in aller Klarheit sagen: Der Deutsche Bundestaggeht Ihnen nicht auf den Leim. Was Sie hier vortragen,knüpft an den peinlichen Besuch bei Milosevic an, für denSie sich vor der deutschen Öffentlichkeit nie entschuldigthaben, obwohl Sie das längst hätten tun müssen.
Das, was Sie machen, ist, an eine miserable Praxis des„Neuen Deutschlands“ vor und nach der Wende anzu-knüpfen. Diese Zeitung hat am 8. Februar dieses Jahresüber diesen Bericht bei „Monitor“ gejubelt. Dabei werdenzwei Journalisten zu nützlichen Idioten der Propagandader PDS, der alten SED, gemacht.
Die Botschaft war: Kriegstreiber ist die NATO.Scharping und Co sind Lügner. Die Bundeswehr muss denKosovo und Bosnien-Herzegowina verlassen. – Nein, soeinfach ist das nicht. Das war wie zu schlimmsten Zeitender DDR. Es werden Feindbilder in einem Maße aufge-baut, wie wir es nicht akzeptieren können. Der DeutscheBundestag hat sich mit großer Mehrheit nach ver-antwortlichem Nachdenken dazu entschlossen, die Bun-deswehr an dem Einsatz im Kosovo zu beteiligen.
Die Gründe, die er dafür hatte, sind nach wie vor richtig.Darauf komme ich noch zu sprechen.Ich will nicht ausschließen, dass Fotos falsch verwen-det oder falsch interpretiert wurden. Ich weiß es nicht undkann es von hier aus nicht überprüfen. Ich will auch nichtausschließen, dass bestimmte Fotos und ihre Interpreta-tion dazu geeignet waren, schwankende Vertreter in derSPD oder speziell bei den Grünen doch davon zu über-zeugen, dass Gewaltanwendung notwendig ist, um einehumanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern oder zubeenden.Ich bin auch der Meinung, dass wir jede Frage, die indem Beitrag von „Monitor“ angesprochen wurde, sehrpräzise werden klären müssen. Es sind Fragen aufgewor-fen worden, die wir vorher nicht gestellt haben und dieseFragen werden von den zuständigen Ministerien – auchvom Außenministerium – im Einzelnen geklärt werdenmüssen. Keine Frage!
Ich traue, ehrlich gesagt, Herrn Scharping viel zu, abernicht, dass er mit Bildern, von denen er weiß, dass siefalsch sind, argumentiert und damit versucht, die Mehr-heit des Bundestages zu gewinnen. In dieser Form solltenwir nicht miteinander umgehen.
Wollen wir uns bitte daran erinnern: Am 15. Januar1999 geschahen die Vorfälle in Racak, am 29. Januar inRugovo, am 6. Februar begannen die Verhandlungen inRambouillet und erst sechs Wochen danach begann derAngriff auf das serbische Jugoslawien. Das heißt, dieseBilder – selbst wenn sie falsch gewesen wären – warennicht ursächlich dafür, dass der Deutsche Bundestagsagte: Wir müssen aus Verantwortung für die Menschenim Kosovo handeln.
Das Problem ist, dass Serbien, mit Milosevic an derSpitze, seit 1988 die Situation heraufbeschworen hat, diein der Entscheidung der NATO, mit militärischen Mittelneinzugreifen, kulminierte. Ich muss nicht wiederholen– andere haben es bereits angesprochen –: Es waren die-ser verdammte Nationalismus und dieser Rassismus, diedie serbische Politik ausgezeichnet haben und die letztlichdazu geführt haben, dass dieser Krieg stattfand, und in derFolge dazu geführt haben, dass Serben im Kosovo derzeitleider nicht angstfrei leben können.Gerade wir Deutschen wissen, was es bedeutet, wennman eine Aggression gegen Nachbarn oder andere Völkervom Zaun bricht. Ein solches Verhalten bleibt nicht ohneFolgen. Insofern zahlen viele einzelne Serben jetzt leidertrotz unserer Bemühungen den Preis für die Politik ihresfrüheren Präsidenten Milosevic.Wir wollen nicht davor die Augen verschließen, dass esvor der Entscheidung der NATO und vor der Entschei-dung des Deutschen Bundestages Massenvertreibungenim Kosovo gegeben hat, dass Hunderttausende im Winterin die Wälder getrieben wurden und dort unter miserablenBedingungen versucht haben zu überleben. Es war son-nenklar: Das System der ethnischen Säuberung war Poli-tik der Serben. Diese wollten, weil sie meinten, Kosovogehöre zu Serbien, eine ethnische Säuberung dadurch er-reichen, dass sie die Kosovo-Albaner aus ihrer Heimat
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vertrieben. Das war sonnenklar und zu dieser Meinungstehe ich bis zum heutigen Tag.Ich bin der Meinung, dass wir uns an keiner Ge-schichtsklitterung beteiligen wollen und dürfen.
Die damalige Entscheidung war richtig und auch das Er-gebnis des Einsatzes der NATO war hilfreich. Ich stehebis zum heutigen Tag zu der damaligen Entscheidung.Was ist denn heute anders als früher? Die Opfer der ser-bischen Aggression konnten zurückkehren. Die Völkerum Serbien herum leben nicht mehr in Angst vor Serbien.Ein sehr wichtiges Ergebnis ist auch: Serbien ist demo-kratisch geworden. Auch das ist eine Folge des NATO-Angriffs. Mit anderen Worten: Die gesamte Region hateine Zukunft und sie hat sie deshalb, weil die Weltge-meinschaft ihre Verantwortung ernst genommen und ein-gegriffen hat, und zwar nur deshalb. Das sollten auch Sieerkennen.
Jetzt hat
der Kollege Eberhard Brecht von der SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Es hat in der Neuzeit wohl noch keine kriegerische Aus-einandersetzung gegeben, die in den Medien nicht eineentsprechende Resonanz gefunden hätte. Das heißt, beisolchen kriegerischen Auseinandersetzungen geht es im-mer um die Meinungsführerschaft. Ich denke, vor allenDingen die unmittelbaren Konfliktparteien – in diesemFall die Serben und die Albaner – haben mit Sicherheitversucht, die Weltöffentlichkeit zu informieren, aber auchzu desinformieren, um ihre Gegner zu dämonisieren. Da-her ist es legitim, dass man heute, mit einem gewissenzeitlichen Abstand, die damaligen Informationen und de-ren Bewertung einer kritischen Revision unterzieht.Die WDR-Journalisten Angerer und Werth haben sichleider des gleichen Verfahrens bedient, das sie ihrerseitsder Bundesregierung fälschlicherweise unterstellt haben.Sie sind deduktiv vorgegangen und haben versucht, ihreThese mit Informationen entsprechend zu unterfüttern.Ihrer Meinung nach haben sich die serbischen Sicher-heitskräfte im Kosovo im Rahmen des herrschenden Bür-gerkrieges mit der UCK im Großen und Ganzen ordent-lich benommen, während die NATO zwanghaft bemühtwar, einen Grund zur Intervention zu konstruieren. Dassdabei die Aussagen der Kronzeugen, die der HerrenHensch und Loquai und der Frau Brown, die sie in ihremBericht zitieren, teilweise im Gegensatz zu den Darstel-lungen der OSZE, des UNHCR und der vielen Men-schenrechtsorganisationen stehen, ficht die Autorenoffensichtlich nicht an. Die Darstellungen dieser Organi-sationen beruhen immerhin auf den Aussagen Tausendervon Augenzeugen.Am 16. Oktober 1998 – vielleicht kann sich der eineoder andere noch erinnern – konnte ich dem Beschlussüber mögliche militärische Maßnahmen gegen dasMilosevic-Regime nicht zustimmen. Ich war und bin zwarder Auffassung, dass man im Völkerrecht humanitäre In-terventionen unter definierten Bedingungen legalisierensollte. Aber man kann nicht neues Recht dadurch schaf-fen, dass man altes Recht bricht. Auch wenn ich damalsdie Legalität der NATO-Intervention im Kosovo infragestellte, so gab es weder damals noch heute ernsthafteZweifel an der Legitimität dieses Einsatzes. Dafür spre-chen folgende Tatsachen:Erstens. Nach vier von ihm zu verantwortenden Krie-gen auf dem Balkan, nach Vukovar 1991, nach Srebrenica1995 und nach Denica 1998 konnte an der Skrupellosig-keit und der Brutalität eines Slobodan Milosevic keinZweifel mehr bestehen.
Die PDS pflegt dagegen gern das Bild eines Milosevic,der sich erst durch die NATO-Angriffe im März 1999 voneinem Mr. Jekyll in einen Mr. Hyde verwandelte,
indem er erst zu diesem Zeitpunkt Vertreibungen undMassaker seiner Schergen hinnahm oder anordnete.
– Entschuldigung, bitte nehmen Sie das zurück!
Zweitens. Der Krieg im Kosovo begann nicht mit einermedialen Inszenierung der deutschen Bundesregierungim Frühjahr 1999, sondern mit der systematischen Unter-drückung der albanischstämmigen Mehrheit nach Aufhe-bung des Autonomiestatus 1989. Es blieb ja nicht nur beiVerboten von Schulbesuchen und der Berufsausübung.Menschen wurden willkürlich verhaftet, gefoltert undauch umgebracht.Drittens. Später, also nach dem Entstehen eines be-waffneten albanischen Widerstandes, töteten serbischeSicherheitskräfte nicht nur UCK-Kämpfer, sondern inVergeltungsaktionen auch Zivilisten. So wird in derSicherheitsratsresolution 1199 vom 31. März 1998 auf-grund von Recherchen des UNHCR von exzessiver undwahlloser Gewaltanwendung seitens der serbischen Si-cherheitskräfte und der jugoslawischen Armee mit zahl-reichen Opfern unter der zivilen Bevölkerung und von in-ternen und externen Vertreibungen HunderttausenderKosovo-Albaner berichtet.Während der Verhandlungen in Rambouillet, alsovor den NATO-Luftschlägen, wurden vom UNHCR210000 Binnenvertriebene und 50 000 Flüchtlinge außer-halb des Kosovo gezählt. Nach Angaben internationalerMenschenrechtsorganisationen befanden sich unter denim Jahr 1998 getöteten Albanern – es waren immerhinmehr als 2 000 – 219 Frauen, 213 Kinder und 395 alteMenschen, also insgesamt 827 Zivilisten. Ihre Namen,Herr Gysi, sind dokumentiert. Nach serbischen Angaben
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Hildebrecht Braun
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kamen im gleichen Zeitraum nur 115 serbische Polizistenund 165 Zivilisten ums Leben.
Allein beim Vergleich dieser Zahlen fällt die Behaup-tung der WDR-Autoren in sich zusammen, es habe sichhier um einen gewöhnlichen Bürgerkrieg gehandelt.
Angesichts der Tatsache, dass das Schicksal von3 000 vermissten Kosovaren nicht aufgeklärt ist, ist der-zeit eine Bilanz über die Gesamtzahl an Opfern unter derZivilbevölkerung noch nicht möglich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Brecht, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum
Schluss, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen
und Herren, die ständig perpetuierte Legende einer
kriegslüsternen NATO mit imperialen Ansprüchen auf
dem Balkan ist zu absurd, um Gegenstand ernsthafter his-
torischer Untersuchungen zu sein.
Interessanter sind sicherlich Beurteilungen, inwieweit
durch präventive Maßnahmen die aus vier Akten beste-
hende Tragödie des Balkans in den 90er-Jahren zu ver-
hindern gewesen wäre. Ich befürchte nämlich, die Kritik
der Historiker an Unterlassenem wird uns eines Tages
mehr zu schaffen machen als die abstrusen Ver-
schwörungstheorien von Ihnen, liebe Kollegen der PDS.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte angesichts
der erhitzten Debatte darum, dass die Auseinandersetzun-
gen, die im Hause üblich sind, auch auf dem Niveau des
Hauses stattfinden und nicht dem Stil des Hohen Hauses
entgegenlaufen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, ichwerde mir Mühe geben.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mir eigent-lich vorgenommen, eine sehr kühle und ruhige Rede zuhalten, in der ich versuche, den erhobenen Vorwürfennachzugehen und sie abzuwägen. Allerdings geht dasnach einigen Dingen, die hier abgelaufen sind, nicht mehr.Ich sage auch ehrlich, dass ich sehr bitter über diesesThema debattiere. Ich bin überhaupt sehr bitter über die-sen Krieg sowie darüber, wie Deutschland in diesen Krieggebracht worden ist.Ich möchte Herrn Robbe sagen, dass ich ihn verstehenkann, dass er nicht mit meinem Kollegen Gysi – ich hoffe,auch nicht mit mir – zusammen im Deutschen Bundestagsitzen möchte. Das Problem kann man ganz einfach lösen:Gehen Sie raus! Dann hat sich das erledigt.
Ansonsten sollten Sie die Entscheidung den Wählerinnenund Wählern überlassen; denn diese sind vom Grund-gesetz dazu legitimiert.
Ich fand es schon in gewisser Weise bedrückend, wieSie hier wieder mit Fotos hantiert haben: Gregor Gysi undMilosevic.
– Hören Sie jetzt zu! – Ich zeige Ihnen die Fotos vonJoschka Fischer und Milosevic,
ich zeige Ihnen die Fotos von Clinton und Milosevic, ichzeige Ihnen die Unterschriften von Clinton und Milosevicunter gemeinsam abgeschlossenen Verträgen. – So geht esnicht!
Ich weiß, wie sehr wir uns mit der Frage gequält haben,ob wir die Möglichkeit nutzen, in letzter Sekunde in die-sem Krieg auf Milosevic einzuwirken, damit er sich an dieUNO wendet, weil wir wussten, dass es in einen Krieggeht. Gregor Gysi hat entgegen dem, wie es hier interpre-tiert wird, Milosevic gesagt: Wer die UNO nicht will, wirddie NATO erhalten.
– Leider war die Geschichte so. Gregor Gysi war in einerFriedensmission bei Milosevic und hat sich mit ihm aus-einander gesetzt; er war nicht dort, um einen Diktator zubestätigen.
Warum kann man nicht anständig miteinander umgehen,anstatt sich Falsches zu unterstellen?
Wir hatten es in Jugoslawien mit einem Bürgerkriegmit allen Grausamkeiten eines Bürgerkrieges zu tun.
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Dr. Eberhard Brecht15043
Lesen Sie einmal nach, wie grausam der spanische Bür-gerkrieg war, wie grausam andere Bürgerkriege waren.
Es war ein Bürgerkrieg mit allen Grausamkeiten. Manmusste aber die Grausamkeiten nicht ins Monströse über-höhen. Man brauchte den Vergleich Kosovo/Rampe vonAuschwitz eigentlich nicht, als es um Menschenrechts-verletzungen gegangen ist.
Man brauchte hier keine Reden von aufgeschlitzten Bäu-chen und herausgeschnittenen Föten. Man brauchte nichtdie Umdeutung von Rambouillet. Was dort geschehen ist,kann man ja mittlerweile in den Dokumenten nachlesen.Warum eigentlich dieses Monströse, das heute Gegen-stand der Debatte ist?
Dazu sagen Sie nichts.
Aus meiner Sicht gibt es nur eine Begründung: Es warrelativ klar, dass die USA, wenn sich Deutschland nichtan der NATO-Entscheidung beteiligt hätte, allein nicht inder Lage gewesen wären, diesen Krieg zu führen.
– Deutschland war in Europa in dieser Frage entschei-dend; das kann doch niemand leugnen.
Weil es so ist und diese Regierung sich ihrer Mehrheitnicht sicher war – nicht hier im Hause, schon gar nicht inder Bevölkerung –, musste diese Überhöhung, diesesMonströse als politisches Kampfmittel eingesetzt werden,um diesen Krieg mehrheitsfähig zu machen.
Das ist der gesamte Hintergrund, der nicht mehr zu leug-nen ist. Dazu brauchen Sie hier nicht Stellung zu nehmen.Der „Stern“ schreibt in seiner Ausgabe 8/2001:„Fischer und Scharping haben ihre Bürger beschwindelt,belogen und betrogen.“
– Das schreibt der „Stern“.
Wenn Sie der Auffassung sind, dass das, was andereschreiben, nicht wahr ist, dann müssen Sie es glaubwür-dig dementieren.
Scharping hat deswegen noch nichts dementiert, weil ernichts dementieren kann.
Weil er nichts dementieren kann, stelle ich mich hinter dieBehauptung vom „Stern“: Scharping hat die Bevölkerungbeschwindelt, belogen und betrogen. Damit ist der Kriegmehrheitsfähig gemacht worden. Nichts anderes ist dieWahrheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Dr. Helmut Lippelt.
Frau Präsidentin! Lieber Kollege Gehrcke, lieber KollegeGysi, ich will Überhöhungen in der Rhetorik von Minis-tern, die in einer Verantwortung gestanden haben, die sievielleicht etwas weitergetrieben hat, als es richtig gewe-sen ist, nicht verteidigen. Ich will Ihnen das Bild, das Sieim Zusammenhang mit Milosevic gezeichnet haben, inkeiner Weise vorwerfen. Ich sage nur: Bei aller Erfahrung,die man hatte, war man ein bisschen naiv. Daraus aller-dings jetzt die Schlussfolgerung zu ziehen, dass wir auf-grund von Lügen in einen Krieg hineingetrieben wordensind, ist großer Unsinn.
Man sollte sich die Beweismittel, die inzwischen vorlie-gen, etwas genauer anschauen.Das Problem ist aber, dass wir immer noch in einer Zeitder Halbwahrheiten, der Halbhistoriker und der Legen-denbildung leben. Seit den letzten eineinhalb Jahren lie-gen uns sehr viel mehr Einzelfakten vor. Diese Einzelfak-ten werden von all denjenigen, die meinen, es schonimmer gewusst zu haben, jetzt zur Stützung ihrer Sicht se-lektiv sortiert.
Allerdings wird keine der Einzelfakten in einen Zu-sammenhang gestellt und es gibt keine Interpretation derEinzelfakten. Man sagt, dass historische Forschung anund für sich 30 Jahre braucht. Ich hatte gehofft, es geheschneller. Ich stelle aber fest: Die selektiven Untermaue-rungen, die darauf abzielen, das zu stützen, was man im-mer schon gemeint hat, sind nach zwei Jahren noch ver-hängnisvoller.Nachdem ich diese Sendung gesehen hatte, habe ich mirihren Text besorgt, um mich mit dem, was dort geschildertworden ist, zu beschäftigen. Eine wichtige Frage lautet:Woran macht man etwas fest? Ich empfehle Ihnen allen undvor allem der PDS, sich mit dem Untersuchungsbericht derunabhängigen internationalen Kommission gründlich zubeschäftigen. Sie wurde vor anderthalb Jahren von GöranPersson, Schweden, und der Olof-Palme-Stiftung einge-setzt, die sich bekanntlich immer mehr für Friedensthemenals für Kriegsthemen interessierte. In dieser Kommission
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Wolfgang Gehrcke15044
haben elf anerkannte Leute aus elf Ländern mitgearbeitet.Unter ihnen waren Hanna Nashravi, Palästina, einelangjährige Friedensaktivistin in der internationalen Frie-densbewegung sowie ein russischer Botschafter. Die Zu-sammensetzung dieser Kommission war also gut.Vergleichen Sie einmal die Fakten dieses Berichts mitall Ihren generalisierenden Behauptungen! Wenn Sie dasgetan haben, dann werden Sie beispielsweise feststellen,dass diese „Monitor“-Sendung der Höhepunkt von un-glaublichen Unverschämtheiten ist. Das gilt bereits für dieDarstellung der Erklärung des Kanzlers im Hinblick aufdie Gründe der deutschen Teilnahme an der Intervention.In dieser Erklärung spricht er von einer drohenden huma-nitären Katastrophe. Wir alle hier wussten doch, was da-mit gemeint war. Damit gemeint war, dass im Jahre zuvorungefähr 200 000 Menschen in die Nachbarländer ge-flüchtet waren und dass dann 300 000 interne Flüchtlingeherumirrten. Nach dem Milosevic/Holbrooke-Abkom-men sank die Anzahl dieser Menschen im Winter vo-rübergehend und ab Januar stieg sie erneut. Diese Zahlenkönnen Sie hier alle nachlesen.Zweitens. Die Zahl der Toten wird total verharmlost. Indem Fernsehbericht heißt es an einer Stelle, die OSZE, diedoch alles beobachten konnte, zähle für März genau39 Tote. Wissen Sie, was hier steht? Hier steht, dass sichder Zahlen zu vergewissern wahnsinnig schwer ist, dasses von März 1998 bis August 1998 laut UNHCR etwa300 Tote gegeben habe, dass man in den nächsten vierWochen ungefähr 700 Tote nachgewiesen habe, dass dannzu der Zeit der OSZE-Beobachter die Zahl etwas gesun-ken sei, dass man aber bei den Zahlen nicht ganz sichersei. Ich sage nur: Allein die Vorgeschichte weist schonmehr als 1 000 Umgebrachte nach.
– Jetzt lasst mich mal reden; ich habe ja auch nicht da-zwischengeredet.Jetzt kommen wir zu einem interessanten Punkt, näm-lich zum Monat März und der OSZE-Zahl 39. WarumMärz? Vorher waren die Massaker. Auch die sind in derSendung geleugnet worden, über ein Beispiel, dem wirjetzt im Einzelnen nicht nachgehen können. Ich habe esversucht, aber dazu habe ich nichts gefunden.Aber es gab zwei Massaker, die vollkommen eindeu-tig waren. Das war zum einen das Ausgangsmassaker imFebruar 1998 an einer ganzen Sippe Jashari, die mitKind und Kegel, mit Frauen und Kindern – ihr habt dochin den Fernsehbildern gesehen, wie die Kleinen imStraßengraben lagen – von Sondereinheiten der serbi-schen Militärpolizei ausgerottet worden ist. Da ging eslos.Zum anderen gab es das Massaker von Racak. Warumist Racak in der Sendung nicht erwähnt worden? Wir ha-ben über Racak so viel diskutiert und inzwischen hat diefinnische gerichtsmedizinische Kommission klargestellt,dass dieses Massaker an 45 Zivilisten geschehen ist.
Aber es ist im Januar geschehen und geht deshalb nichtin die Märzzahlen ein.Ich habe eine Bitte an Herrn Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Lippelt,
ich muss Sie dringend an Ihre Redezeit erinnern. Dies ist
eine Aktuelle Stunde.
Ich bin gleich am Ende. Ich möchte nur noch diese Bitte
äußern.
Herr Gysi, es gibt den Wunsch von Den Haag auf Aus-
lieferung des Herrn Lukic. Er war der Kommandeur der
polizeilichen Sondereinheiten im Kosovo. Das ganze Ma-
terial über Racak liegt – deshalb haben wir es nicht – in
Den Haag. Dieser Prozess ist sehr gut vorbereitet. Mit der
Auslieferung von Lukic würde er beginnen. Ich bitte, dass
Sie alle Kontakte, die Sie haben, dafür einsetzen, dass er
ausgeliefert wird und wir über Racak von einem inter-
nationalen Gericht, das über alle Zweifel erhaben ist, die
Wahrheit erfahren. Das wäre ein großes Verdienst. In
diese Richtung muss es gehen.
Ich glaube auch, alle Versuche – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Lippelt, ich
bitte Sie wirklich dringend, Ihre Rede jetzt zu beenden,
das Verständnis aller Kolleginnen und Kollegen voraus-
gesetzt.
Ich höre auf. – Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Wort
erteile, möchte ich noch einmal darauf verweisen, dass es
nicht dem Stil des Hauses angemessen ist, Kollegen und
Kolleginnen des eigenen Hauses, aber auch Personen
außerhalb persönlich zu diffamieren. Deshalb weise ich
den Ausdruck „Sie Lügner“, während der Rede des Kol-
legen Brecht gefallen, ausdrücklich zurück.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian
Schwarz-Schilling für die CDU/CSU-Fraktion.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Wieso kam es zu dem Krieg im Kosovo? – Weil sichMilosevic in Dayton unter Androhung, die Konferenz zuverlassen, geweigert hat, das Thema Kosovo in Daytonmit zu behandeln.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Dr. Helmut Lippelt15045
Das war die Ursache. Er führte nämlich bereits dort imSchilde, die Macht über dieses Land, das er noch nichtrichtig erobert hatte, zu erlangen. Darüber durfte nicht ge-redet werden.Die internationale Gemeinschaft hat den weiteren Feh-ler gemacht, nicht unmittelbar nach Dayton eine Kosovo-Konferenz im gleichen Sinne einzuberufen, um dann dasimmer aktueller werdende Thema Kosovo zu behandeln,sondern hat erst wieder auf das gewartet, was anschlie-ßend geschehen ist. Wer hat sich denn für die Berichte derOECD und des UNHCR seit 1989 wirklich interessiert,dafür, was sich dort abgespielt hat? Es wurde von dersteigenden Repression, vom Nichtgebrauchendürfen deralbanischen Sprache in den Schulen, von dem Unter-grund, in den die Albaner gehen mussten, um ihre Kindernoch ausbilden zu lassen, von der Vertreibung der Leuteaus den Positionen berichtet. Das alles war also bereits be-kannt. Dann, meine Damen und Herren, entstand die Si-tuation, die wir nun alle kennen und die ich hier nicht wei-ter nachzeichnen möchte.Es ist nur interessant, dass die PDS immer wieder ei-nen Grund sucht, in diesen Geschichten herumzubohren.Am 5. April 2000 hat Herr Carsten Hübner schon einmaldie Frage gestellt: über die Verteidigungsminister und dasnach dem in dem Beitrag über die Papiere Gesagte, überHufeisen. Die nächste Frage betraf Racak, ebenfalls inentsprechender Breite von Herrn Hübner dargestellt, undwurde dann von der Regierung schlecht oder recht beant-wortet.Ich möchte dazu nur eines sagen: Sie haben überhauptkein Recht, sich bei solchen Fragen selbstgefällig hierhinzustellen.
Ich hätte gern gewusst, was mit Ihnen allen passiert wäre,wenn damals Herr Honecker, der das Massaker am Tianan-men im Jahre 1989 ausdrücklich begrüßt hatte, nicht denHinweis von Gorbatschow bekommen hätte, dass russischeTruppen nicht eingreifen werden. Wo stünden Sie dannalle?
Da hätten Sie Ihren Mund aufmachen sollen; denn Sie ha-ben ja damals auch in der DDR gelebt. Da war kein Mutvorhanden.Zum Zweiten. Es gab bereits am 12. Oktober 1998 – dieSprecherin der Grünen hat darauf hingewiesen – einen An-trag aller demokratischen Parteien dieses Hauses, der am16. Oktober hier behandelt wurde. Darin stehen schon dieBegründungen, dazu haben wir nicht auf das Massaker ge-wartet. Es ist interessant gewesen, dass beide Seiten, Op-position von gestern und von heute, Regierung von gesternund von heute, gleichzeitig denselben Antrag gestellt ha-ben. Warum? – Weil man sich vonseiten der Regierung, dieim Jahre 1998 abgewählt wurde, darüber im Klaren war,dass man Verantwortung trug und es der nächsten Regie-rung nicht zu schwer machen durfte. Damals haben wirdiesen Antrag noch gestellt. Die neue Regierung war da-durch in der Lage, den Kurs fortzusetzen und nicht plötz-lich in ihren eigenen Reihen den Widerstand zu erfahren,den sie bis dahin gegenüber allen NATO-Ereignissenhatte. Wir müssen uns einmal daran erinnern, dass wir von-seiten der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung schon im Jahre1992 Adria-Schiffe für die Boykottmaßnahmen gegenüberJugoslawien eingesetzt hatten. Wir wurden von den ande-ren Parteien wütend vor dem Verfassungsgericht ange-klagt. Wir waren ganz alleine. Die CDU/CSU-Fraktionwar die einzige, die das verteidigt hat. Es waren noch alledagegen. Man muss einmal sehen, wie die Dinge wirklichgelaufen sind.Nun zum Dritten. Hier wurde gerade erwähnt, dass dieMassaker in Srebrenica offensichtlich total vergessenworden sind. Das war im Februar/März 1998, zunächstmit 29 Toten, dann mit 58 Toten. Herr Rüb, der etwas vonder Gegend versteht, hat am 19. Januar 2001 in der Zei-tung geschrieben, spätestens das sei der Beginn des Krie-ges im Kosovo gewesen. In dieser Zeit sind Hunderttau-sende verjagt worden. In den Zeiten der angeblichenFriedensverhandlungen von Rambouillet sind ungefähr40 000 bis 50 000 Polizeieinsätze mit schwerem militäri-schen Gerät nach Kosovo befördert worden. Damals gabes diese Verstärkungen, um dann den entsprechendenSchlag führen zu können.Angesichts dieser Tatsachen müssen wir eine andereFrage stellen, die allerdings für alle in diesem Hause be-trüblich ist: Warum haben wir die Zustände nicht zurKenntnis genommen und haben noch bis weit in das Jahr1998 Menschen aus dem Kosovo mit ihren Familien inden Kosovo abgeschoben? Darüber müssten wir uns hierunterhalten.
Wir müssten eigentlich die Frage stellen, wie es dazukommen konnte, dass wir trotz dieser unsäglichen Zu-stände, die von allen internationalen Organisationen be-kannt gemacht wurden, die Beschlüsse aufrecht hieltenund sie nicht an die neue Situation angepasst haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schwarz-Schilling, auch Sie muss ich leider auf Ihre ab-
gelaufene Redezeit aufmerksam machen.
Ichkomme zum Schluss. – Ich glaube, diejenigen, die dieseFragen nicht gestellt haben, sollten bescheidener auftre-ten. Sie haben überhaupt kein Recht, sich in dieser An-gelegenheit zu äußern.
Wir werden uns jeder echten Frage stellen. Aber Sie ha-ben polemische Fragen gestellt, um die haltlosen Zu-stände, die Sie traditionsgemäß in Ihrer Partei haben,rechtfertigen zu können.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dieter Schloten für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wir haben uns in diesem Hausedaran gewöhnen müssen, dass die PDS-Fraktion jede Ge-legenheit wahrnimmt, um die Außen- und Sicherheitspo-litik der Regierung zu attackieren.
Das ist legitim. Aber es ist schon ein starkes Stück, dassSie heute die Neuauflage einer Verschwörungstheorie, dieauf jüngsten Veröffentlichungen einiger Medien beruht, indie Debatte bringen.Der dubiose „Monitor“-Bericht behauptet schlichtweg,dass sämtliche demokratischen Politiker der westlichenWelt als Brandschatzer ein friedliebendes Land überfielenund – ich habe den Text sehr genau gelesen – dass es prak-tisch keine Vorgeschichte der Unterdrückung, der Vertrei-bung und der im Kosovo spätestens seit 1989 ausgeübtenApartheid gab. Ferner kritisiert dieser Beitrag die angeb-lich westliche Propaganda. Aber er gibt sich nicht ab mitder in Einzelfällen berechtigten Kritik an mancher Rheto-rik oder auch Methode, die hier wie auch von der Parla-mentarischen Versammlung der NATO, die kürzlich inBerlin getagt hat, zu Recht schon kritisiert worden ist.Der „Monitor“-Bericht geht noch viel weiter. Er ver-fällt in eine Gegenpropaganda, die gegenüber den Opfernder serbischen Aggression menschenverachtend ist. HerrGehrcke, ich werfe Ihnen vor, dass Sie vorhin in IhremBeitrag einfach nur von einem Bürgerkrieg gesprochenhaben.
Natürlich war es auch ein Bürgerkrieg. Aber wenn manden Begriff Bürgerkrieg so wie Sie gebraucht, dann wirdverschleiert, wer Täter und wer Opfer ist. Das war sowohlim Bosnien-Krieg als auch im Kosovo-Krieg so, bevor dieNATO dort eingegriffen hat.Sie berufen sich auch auf die Berichterstattung der„Berliner Zeitung“ von Mitte Januar zur Untersuchungder schrecklichen Vorfälle in Racak. Was ist eigentlich dasso grundlegend Neue, das Sie dazu bewegt, der Bundes-regierung Täuschung der Öffentlichkeit und des Bundes-tages vorzuwerfen? Es ist Unsinn, zu behaupten – KollegeBraun hat bereits darauf hingewiesen –, Racak sei der ein-zige wesentliche Auslöser des NATO-Einsatzes gewesen.Im Gegenteil: Das Blutbad von Racak hat zu verstärktenAnstrengungen bei den Verhandlungen in Rambouilletgeführt, die leider nicht zum Ziele geführt haben.
Was Sie gegen die Annahme eines Massenmordes insFeld führen können, ist, dass die Ergebnisse der finni-schen Untersuchungskommission eine Massenhinrich-tung von Zivilisten nicht eindeutig belegen können. Aberebenso wenig belegen sie das Gegenteil.
– Herr Gehrcke, Tatsache ist doch, dass in Racak 45 alba-nische Opfer zu beklagen gewesen sind.
Ist es da so entscheidend, ob all diese Menschen aus demOrt selbst stammten oder auch aus anderen Dörfern, obeinzelne UCK-Kämpfer unter ihnen waren oder nicht?Fakten gibt es genug. Herr Lippelt hat den entspre-chenden Bericht dargestellt. Ich brauche darauf nicht wei-ter einzugehen. Aber manchmal wird vergessen, was dortgeschehen ist, und das alles vor dem Hintergrund der grau-samen Erfahrungen, die wir in Bosnien gemacht haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, WillyBrandt hat einmal gesagt: Wer Unrecht geschehen lässt,bahnt neuem den Weg.
Das galt und gilt, Herr Seifert, auch für die Situation imKosovo. Selbst wenn Racak falsch interpretiert worden istund manches andere Bild dazu, ein falsches Bild – das tunauch mehrere falsche Bilder nicht –
ändert nichts an der grundsätzlichen Berechtigung desNATO-Einsatzes im Kosovo.Wenn Sie der NATO nun die Absicht unterstellen, eineimperialistische Interessenpolitik auf dem Balkan zubetreiben, dann kann ich nur sagen: Das Gegenteil istwahr. Der Militäreinsatz hat letztlich dazu geführt, dassMilosevic mit seiner brutalen Vertreibungs- und Expan-sionspolitik in die Schranken gewiesen worden ist. Heuteeröffnen sich der Region mit dem Stabilitätspakt für Süd-osteuropa, mit dem massiven Engagement der westlichenStaatengemeinschaft endlich Perspektiven für eine demo-kratische, rechtsstaatliche, europäische Zukunft. WollenSie etwa behaupten, das alles sei ohne das Eingreifen derNATO möglich gewesen?Jeder zweite KFOR-Soldat wird dort heute zum Schutzvon Minderheiten eingesetzt. Wir sind auf dem Wege– viel zu langsam, aber Schritt für Schritt – in eine demo-kratische Zivilgesellschaft. Der Stabilitätspakt wird dasSeine dazu tun, dass wir dort weiterkommen. Verschwö-rungstheorien und Gespenster, wie sie hier von der PDSherumgetragen werden, helfen uns dabei nicht weiter.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
Dr. Christian Schwarz-Schilling15047
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Ulrich Adam für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Auch ich werde den Verdachtnicht los, dass die Stoßrichtung des Antragstellers dieserAktuellen Stunde in erster Linie gegen die NATO gerichtetist.
Um es vorweg ganz klar und deutlich zu sagen: DieNATO war – davon bin ich fest überzeugt – ein wesentli-ches Standbein bei der Wiederherstellung der deutschenEinheit.
Gerade im Kalten Krieg konnten wir im Osten beobach-ten, wie die NATO jederzeit uneingeschränkt zur Bundes-republik Deutschland gestanden hat.
Die NATO hat nicht zuletzt deshalb einen wichtigen Bei-trag dazu geleistet, dass wir 1990 die deutsche Einheitvollziehen konnten.
Auch die gegenwärtigen Anstrengungen der Staaten Mit-tel- und Osteuropas, der NATO beizutreten, beweisendoch, dass die NATO immer noch einen hohen Stellen-wert hat und eine wichtige Rolle spielt. Ich halte es fürsehr wichtig, dies einmal ausdrücklich zu betonen.Durch persönliche Erfahrungen bei mehrfachen Besu-chen in Ex-Jugoslawien, zuletzt im Dezember 2000, binich von der Notwendigkeit des Einsatzes der NATO unddamit auch der deutschen Soldaten in dieser Region über-zeugt. Sollten wir uns zum jetzigen Zeitpunkt von dortzurückziehen, würde es unweigerlich zum erneuten Aus-bruch von Auseinandersetzungen zwischen den Volks-gruppen kommen. Dies wird sowohl durch Aussagen derDienst tuenden Soldaten als auch der Bevölkerung sowieder verschiedenen Hilfsorganisationen vor Ort bestätigt.Deshalb geht es bei der jetzigen Diskussion auch nichtdarum, dass die NATO gegenwärtig oder zukünftig keineRolle mehr spielen wird; denn die bestehende wichtigeBedeutung der NATO steht völlig außer Frage.Hier geht es aber auch um konkrete Aussagen vonMinister Scharping, die er zu Beginn und im Verlauf desKosovo-Krieges gemacht hat. Diese erfordern doch eineerhebliche Aufklärung, Herr Scharping. Ich erwarte vonIhnen, aber auch von Ihnen, Herr Minister Fischer, eineAntwort auf die erhobenen Vorwürfe. Hierzu müssen SieStellung beziehen.So geht es mir zum Beispiel um den Beweis der Exis-tenz des bereits mehrfach angesprochenen Hufeisenplans.Um es deutlich zu sagen: Unsere Entscheidung zur Betei-ligung an der humanitären Aktion der NATO war richtig.Sie war notwendig. Daran ändern auch die Diskussionenüber die Existenz oder Nichtexistenz des Hufeisenplanesnichts.Trotzdem fordere ich Sie eindringlich auf, hier Klarheitzu schaffen und die offenen Fragen zu beantworten. Ha-ben Sie die Öffentlichkeit und uns falsch informiert oderTatsachen verfälscht?
Herr Scharping, sollten Sie den Beweis hier nicht öffent-lich darlegen können, so denke ich doch, dass Sie zumin-dest den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses mög-liche existierende Geheimpapiere vorlegen müssten.
Meine Damen und Herren, bei den gegenwärtigen Dis-kussionen über mögliche falsche Aussagen des Ministersim Zusammenhang mit dem Kosovo-Einsatz sehe ich mitgroßer Sorge eine Parallele zu den in den letzten Wochenstattgefundenen Standortdiskussionen im Rahmen derBundeswehrreform.
– Es geht um die Aussagen. – Erst vor einem guten halbenJahr hat der Minister im Beisein des Kanzlers zum Bei-spiel in Eggesin betont, dass dieser Standort erhaltenbleibt. Diese Zusage hat er vergessen; die entsprechendeEntscheidung ist ja heute gefallen. Seine damaligenÄußerungen relativiert er damit, dass er nicht von Egge-sin, sondern vom „Großstandort in dieser Region“ ge-sprochen hat.
Auch in diesem Bereich ist der Minister gefordert, klareFakten auf den Tisch zu legen, damit sich Ihr gegenwärti-ges nicht sehr glaubwürdiges Erscheinungsbild nicht wei-ter verfestigt.Deshalb erwarte ich – und natürlich auch die betroffe-nen Soldaten und die Bürger dieses Landes – von Ihnen,dass man endlich wieder Vertrauen in Ihre Aussagen ge-winnen kann, und das in zweierlei Hinsicht:Erstens. Ich fordere Sie auf, dass Sie die Vorwürfe be-züglich der Ereignisse im Kosovo nachhaltig entkräften.Zweitens. Hören Sie auf, den Menschen im Rahmender Bundeswehrreform eine Zukunft zu versprechen
und sie dann, so wie dies angesichts der heutigen Entschei-dungen erfolgt ist – ich meine zum Beispiel die StandorteEggesin und Basepohl –, maßlos zu enttäuschen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 200115048
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Aktuellen Stunde ist der Kollege Gerhard Neumann
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wortwahl des The-
mas der heutigen Aktuellen Stunde erfüllt mich mit Be-
troffenheit – und noch mehr mit Sorge. Wie so oft in letz-
ter Zeit folgt nach einer kritischen Fernsehsendung oder
Presseveröffentlichung eine große Betriebsamkeit einiger
Abgeordneter, besonders der der Fraktion der PDS.
Die tatsächlichen Zusammenhänge spielen dabei oft
eine untergeordnete Rolle.
Wichtiger ist: Die Regierung, ein Minister wird belastet,
die Unwahrheit gesagt zu haben.
Das Strickmuster ist immer das gleiche: Belastet die
Regierung oder – noch besser – ein einzelnes Regie-
rungsmitglied mit fragwürdigen Fakten der Vergangen-
heit! Es wird schon etwas Negatives hängen bleiben.
Dies lenkt von eigener politischer Konzeptionslosigkeit
ab. Leider geht diese Taktik oft auf: Die Menschen wer-
den verunsichert. Wir müssen uns in der Folge aber nicht
wundern, dass unser Ansehen als Politiker allgemein
sinkt.
Nun ein neuer ungeheuerlicher Verdacht: Die Regie-
rung hat die öffentliche Meinung manipuliert, um deut-
sche Soldaten wieder in einen Krieg zu führen.
Ich sehe die Bilder aus dem Kosovo noch vor mir, als sei
es gestern gewesen: hilflose Frauen und Kinder, Opfer
von Vertreibung und Opfer von Gewalt, Todesopfer. Ich
habe so etwas als Vertriebener im Zweiten Weltkrieg
selbst erlebt. Meine Kindheit, mein Leben wurde davon
geprägt. Ich hasse Krieg; aber ich hasse auch die Vertrei-
bung von Frauen und Kindern, die Tötung von Menschen
anderer Nationalität.
Erinnern wir uns daran, was in Bosnien passiert ist:
Wie viele Menschen wurden umgebracht? Wie viele
Frauen wurden vergewaltigt? Wir haben uns damals ge-
fragt: Haben wir nicht zu spät eingegriffen?
Die schrecklichen Bilder aus dem Kosovo sind gerade
zwei Jahre alt. Sind diese Bilder bei einigen von uns schon
aus dem Bewusstsein gestrichen?
Hat nicht schon die erste Welle der Vertreibung im
Sommer und Herbst 1998 mit 300 000 Flüchtlingen genug
Elend gebracht? Milosevic brach seine Zusagen erneut. Er
startete im Winter 1999 eine zweite Vertreibungswelle.
Weitere 250 000 Menschen wurden heimatlos. Die Zahl
der Toten wird für immer ungeklärt bleiben. Sollen die
Leiden der Opfer nachträglich bagatellisiert werden, in-
dem zwei Jahre danach ein Streit über Einzelvorkomm-
nisse entfacht wird und sich einige von uns daran taten-
durstig beteiligen?
Soll das Leid der Opfer, sollen die Taten der Mörder
verdrängt werden? Oder schlimmer noch – ich wage es
kaum zu denken –: Vielleicht sind die Erfolge der deut-
schen Außenpolitik einigen ein Dorn im Auge.
Sie ertragen es nicht, dass durch das ausgewogene Ver-
halten der Bundesregierung in der Kosovo-Krise das in-
ternationale Ansehen und die Achtung unseres Landes in
der Welt spürbar gestärkt wurden.
Ich war gemeinsam mit anderen Kollegen vor Ort im
Kosovo. Wir konnten den Dank und die Sympathien der
Einwohner erleben, als wir Soldaten aus unseren Wahl-
kreisen dort besucht haben. Wir haben allgemein gespürt,
dass das, was unsere Soldaten, aber auch die anderen Or-
ganisationen dort geleistet haben, von den Menschen an-
erkannt und dankbar angenommen wird.
Rudolf Scharping, Joschka Fischer und besonders die
Bundeswehr haben durch ihren Einsatz und ihre konkrete
Arbeit Außerordentliches zur Krisenbewältigung auf dem
Balkan beigetragen. Sie haben Menschen in Not geholfen.
Der Versuch, diese Leistungen aus tagespolitischem Kal-
kül herabzuwürdigen, ist nicht nur verwerflich, nein, er
schadet uns allen.
Ich bin sicher, der Versuch wird scheitern, weil diese
Politik den Menschen Gutes gebracht hat,
weil die Menschen eine solche Politik verstehen. Die Bür-
ger erfüllt es mit Hoffnung, dass die demokratische Völ-
kergemeinschaft es nicht mehr duldet, dass Verbrecher
ungestraft Mord begehen und Vertreibung an ganzen Völ-
kern praktizieren können.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Aktuelle Stundeist beendet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit amSchluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001 15049
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf Mittwoch, den 7. März 2001, 13 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.