Protokoll:
14153

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 153

  • date_rangeDatum: 15. Februar 2001

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:33 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Bestimmung der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer als ordentliches Mitglied im Ver- mittlungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14977 A Begrüßung der Präsidentin der Hamburgi- schen Bürgerschaft, Frau Dr. Dorothee Stapelfeldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14989 A Tagesordnungspunkt 14: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Reform und Verbesserung der Ausbildungsförde- rung – Ausbildungsförderungsreform- gesetz (AföRG) (Drucksachen 14/4731, 14/5276, 14/5277) 14977 B – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper, Jürgen W. Möllemann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Bundesausbildungs- förderungsgesetzes (BAföG) (Drucksachen 14/2253, 14/5276, 14/5278) 14977 B Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMB 14977 D Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) CDU/CSU 14980 B Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14982 C Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14985 B Maritta Böttcher PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14987 B Brigitte Wimmer (Karlsruhe) SPD . . . . . . . . 14989 B Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 14990 B Angelika Volquartz CDU/CSU . . . . . . . . . . . 14991 D Walter Hoffmann (Darmstadt) SPD . . . . . . . 14994 D Tagesordnungspunkt 15: a) Große Anfrage der Abgeordneten Kurt- Dieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold (Of- fenbach), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Zukunft der friedlichen Nutzung der Kernener- gie – Zukunft der Entsorgung (Drucksachen 14/1365, 14/5162) . . . . 14996 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr. Peter Paziorek, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion CDU/CSU: Die Folgen des Ausstiegs aus der Kern- energie für den Standort Deutschland (Drucksachen 14/3667, 14/4569) . . . . 14996 D Horst Kubatschka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14997 A Dr. Peter Paziorek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 14999 A Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15002 A Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 15004 B Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 15007 A Christoph Matschie SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 15008 C Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU . . . . . . . . . . . 15009 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15011 A Arnold Vaatz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 15012 D Dagmar Wöhrl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 15013 B Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 15016 B Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 15018 D Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 15019 B Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . . . . . . . 15019 C Plenarprotokoll 14/153 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 153. Sitzung Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 16: a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organisationsreform in der land- wirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVOrgG) (Drucksache 14/5314) . . . . . . . . . . . . . 15021 B b) Antrag der Fraktion CDU/CSU: Land- wirtschaftliche Sozialversicherung zu- kunftsorientiert gestalten (Drucksache 14/3774) . . . . . . . . . . . . . 15021 C Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15021 C Max Straubinger CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 15022 C Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15024 A Marita Sehn F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15025 A Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 15026 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD . . . . . . . . 15026 D Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Monika Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion PDS einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Grundgesetzes (Art. 26 Abs. 1, Antifaschistische Klausel) (Drucksache 14/5127) . . . . . . . . . . . . . . . 15028 A Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 15028 B Erika Simm SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15029 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15030 A Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU . . . . . . . . . . 15030 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15032 B Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 15032 C Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15033 C Sebastian Edathy SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15034 B Tagesordnungspunkt 18: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten (Drucksachen 14/2707, 14/3988) . . . . . . . 15035 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde betr. Haltung derBundes- regierung zu aktuellen Berichten über die Gründe zum Eintritt in den Kosovo- Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15035 C Dr. Barbara Höll PDS (zur GO) . . . . . . . . . . 15035 C Jürgen Koppelin F.D.P. (zur GO) . . . . . . . . . 15035 D Susanne Kastner SPD (zur GO) . . . . . . . . . . 15036 A Manfred Grund CDU/CSU (zur GO) . . . . . . 15036 B Dr. Gregor Gysi PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15036 C Reinhold Robbe SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15037 D Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . 15038 D Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15039 D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . 15041 A Dr. Eberhard Brecht SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 15042 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 15043 B Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15044 C Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU 15045 D Dieter Schloten SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15047 A Ulrich Adam CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 15048 A Gerhard Neumann (Gotha) SPD . . . . . . . . . . 15049 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15050 A Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15051 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Berichts: Für eine sachgerechte Aufteilung wirt- schaftspolitischer Zuständigkeiten (Tagesord- nungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15052 A Dr. Ditmar Staffelt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 15052 B Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 15053 C Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15054 D Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15055 C Rolf Kutzmutz PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15056 A Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15056 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001 Vizepräsidentin Petra Bläss 15050 (C)(A) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001 15051 (C) (D) (A) (B) Andres, Gerd SPD 16.02.2001 Austermann, Dietrich CDU/CSU 16.02.2001 Dr. Bartsch, Dietmar PDS 16.02.2001 Behrendt, Wolfgang SPD 16.02.2001* Dr. Blens, Heribert CDU/CSU 16.02.2001 Brüderle, Rainer F.D.P. 16.02.2001 Dr. Bürsch, Michael SPD 16.02.2001 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 16.02.2001 Herta Friedhoff, Paul K. F.D.P. 16.02.2001 Dr. Fuchs, Ruth PDS 16.02.2001 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 16.02.2001 Dr. Gerhardt, Wolfgang F.D.P. 16.02.2001 Glos, Michael CDU/CSU 16.02.2001 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 16.02.2001 DIE GRÜNEN Götz, Peter CDU/CSU 16.02.2001 Heinrich, Ulrich F.D.P. 16.02.2001 Hemker, Reinhold SPD 16.02.2001 Hempel, Frank SPD 16.02.2001 Henke, Hans Jochen CDU/CSU 16.02.2001 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 16.02.2001 DIE GRÜNEN Hilsberg, Stephan SPD 16.02.2001 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 16.02.2001 DIE GRÜNEN Hollerith, Josef CDU/CSU 16.02.2001 Dr. Hornhues, CDU/CSU 16.02.2001 Karl-Heinz Hornung, Siegfried CDU/CSU 16.02.2001* Klappert, Marianne SPD 16.02.2001 Dr. Knake-Werner, PDS 16.02.2001 Heidi Kossendey, Thomas CDU/CSU 16.02.2001 Dr. Küster, Uwe SPD 16.02.2001 Dr. Lamers, (Heidelberg) CDU/CSU 16.02.2001 Karl A. Lippmann, Heidi PDS 16.02.2001 Lohmann (Neubranden- SPD 16.02.2001 burg), Götz-Peter Mattischeck, Heide SPD 16.02.2001 Müller (Berlin), PDS 16.02.2001* Manfred Dr. Niese, Rolf SPD 16.02.2001 Nolte, Claudia CDU/CSU 16.02.2001 Otto (Frankfurt), F.D.P. 16.02.2001 Hans-Joachim Reinhardt, Erika CDU/CSU 16.02.2001 Schemken, Heinz CDU/CSU 16.02.2001 Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 90/ 16.02.2001 DIE GRÜNEN Schlee, Dietmar CDU/CSU 16.02.2001 Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 16.02.2001 Schmitt (Berg), Heinz SPD 16.02.2001 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 16.02.2001 Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 16.02.2001 Schröder, Gerhard SPD 16.02.2001 Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 16.02.2001 Schultz (Everswinkel), SPD 16.02.2001 Reinhard Schurer, Ewald SPD 16.02.2001 Sebastian, CDU/CSU 16.02.2001 Wilhelm-Josef Seidenthal, Bodo SPD 16.02.2001 Dr. Stadler, Max F.D.P. 16.02.2001 Steinbach, Erika CDU/CSU 16.02.2001 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 16.02.2001 Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 16.02.2001 entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 200115052 (C) (D) (A) (B) Vogt (Pforzheim), Ute SPD 16.02.2001 Voß, Sylvia BÜNDNIS 90/ 16.02.2001 DIE GRÜNEN Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 16.02.2001 Wegener, Hedi SPD 16.02.2001 Willsch, Klaus-Peter CDU/CSU 16.02.2001 Wohlleben, Verena SPD 16.02.2001 Wolf, Aribert CDU/CSU 16.02.2001 Dr. Wolf, Winfried PDS 16.02.2001 Zierer, Benno CDU/CSU 16.02.2001* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zurBeratung des Berichts: Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschaftspolitischer Zuständigkei- ten (Tagesordnungspunkt 18) Dr. Ditmar Staffelt (SPD): Es ist schon erstaunlich, auf welche Ideen die Opposition kommt und dass sie auch noch meint, diese hier im Plenum diskutieren zu müssen. Heute geht es also um formale Zuständigkeiten zwischen Bundeswirtschafts- und Bundesfinanzministerium. Noch erstaunlicher sind die Forderungen in dem Antrag. In dem Antrag „Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschafts- politischer Zuständigkeiten“ fordern die F.D.P. unter an- derem die Rückverlagerung der Abteilung VII Geld und Kredit aus dem Bundesministerium der Finanzen in das Bundeswirtschaftsministerium. Diese Abteilung war ja seinerzeit von Helmut Schmidt in das Bundesfinanzmi- nisterium übertragen worden. Das heißt, diese Abteilung ist nicht erst seit unserer Regierungsübernahme im Fi- nanzministerium angesiedelt und macht dort hervorra- gende Arbeit, sondern seit über 20 Jahren. Wenn der F.D.P. wirklich so viel an der Rückverlage- rung liegt, dann frage ich mich allen Ernstes: Warum ha- ben Sie dem die 16 Jahre nicht genutzt, diesen Wunsch umzusetzen? Ich meine jetzt nicht Herrn Brüderle per- sönlich – er war ja nie Bundeswirtschaftsminister –, son- dern seine Kollegen von der F.D.P., von Graf Lambsdorff bis hin zu Herrn Rexrodt. Keiner dieser Bundeswirtschaftsminister von der F.D.P. hat auch nur Anzeichen gemacht, die Abteilung Geld und Kredit ins Bundeswirtschaftsministerium zu- rückzuholen. Aber in der Opposition sieht man mitunter einiges anders. entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Nun zu dem nächsten Punkt, der Verlagerung zentra- ler allgemeiner wirtschaftspolitischer Kompetenz aus dem BMWi in das BMF. Für diese Frage lohnt sich durchaus einmal ein Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Die jetzige Aufteilung zwischen Wirtschafts- und Finanzressorts ist ja keine Erfindung der SPD oder von Bündnis 90/Die Grünen. In einer Vielzahl bedeutender Länder sind die Zustän- digkeiten von Finanzpolitik und gesamtwirtschaftlichen Fragen in einer Hand konzentriert. Ich will nur einige we- nige nennen: Frankreich, das Vereinigte Königreich, Ita- lien, Kanada und nicht zuletzt die USA. Und dass der Res- sortzuschnitt in diesen Ländern zu einer schlechten Wirtschafts- und Finanzpolitik geführt hat, kann man wohl nicht behaupten. Wir haben mit dem neuen Zuschnitt einen großen Wurf geschafft, nämlich beide Ministerien mit der Regierungs- übernahme zu stärken. Wir haben ein schlagkräftiges und auch in den internationalen Verhandlungen starkes Bun- desfinanzministerium geschaffen, dessen Reputation deutlich gestiegen ist. Darüber hinaus haben wir auch das Bundeswirt- schaftsministerium gestärkt, und zwar durch die neue Ab- teilung für Post und Telekommunikation, durch neue Technologiekompetenz und nicht zuletzt durch die He- reinnahme der Sherpa-Funktion im Bundesministerium für Wirtschaft. Damit ist insbesondere der internationale Aufgabenbereich kräftig angewachsen. Natürlich kann man immer wieder überlegen, ob nicht auch andere Be- reiche besser im Bundesministerium für Wirtschaft ange- siedelt werden können. Ich hätte ja auch nichts dagegen, wenn wir auf Bundesebene die Weinfragen im Wirt- schaftsministerium ansiedeln würden, wie in der schönen Heimat von Herrn Brüderle, der Pfalz. Damit komme ich zum nächsten Argument der F.D.P. Sie betonen, dass in dem Neuzuschnitt eine völlig neue ordnungspolitische Ausrichtung liegt. Das mag ja sein und wir haben uns dabei auch durchaus etwas gedacht. Aber ich kann beim besten Willen hierin keinen ord- nungspolitischen Verstoß in dem Neuzuschnitt erkennen. Nur weil die zwei Referate der kurz- und mittelfristigen Konjunkturprognose in das Finanzministerium verlagert worden sind, muss ja nicht die Ordnungspolitik schlech- ter werden – und auch nicht in der Tatsache, dass nun der Jahreswirtschaftsbericht im Bundesfinanzministerium fe- derführend behandelt wird. Auch schon zu Ihrer Zeit wurde der Jahreswirtschaftsbericht traditionell zwischen allen Ressorts abgestimmt. Um dieses Argument zu stärken, werden Sie in Ihrem Antrag besonders „tricky“: Sie zählen den Anteil von steuer- und finanzpolitischen Themen im letzten Jahres- wirtschaftsbericht – und was stellen Sie fest? Höre und staune ein ganzes Viertel des Jahreswirtschaftsberichtes ist steuer- und finanzpolitischen Fragen gewidmet. Da kann ich nur sagen: Das ist ja allerhand. Ich frage mich allen Ernstes: Was will uns der Verfas- ser des Antrages, Herr Brüderle, mit diesen Zahlen sagen? Sicherlich, dass dies ein eindeutiges Zeichen dafür ist, dass wirtschaftspolitisch relevante Fragen nur noch stief- mütterlich behandelt werden. Es ist schon erstaunlich, welche mechanischen Vorstellungen Sie für gesamtwirt- schaftliche Zusammenhänge haben. Ich empfehle Ihnen die Lektüre des Jahresgutachtens des Sachverständigenrates oder den „Wold Economic Outlook“ des Internationalen Währungsfonds. Ob Sie nationale oder internationale wirtschafts- und finanzpoli- tische Empfehlungen studieren, die von Ihnen hochgehal- tene Trennung finden Sie nirgendwo. Im Gegenteil, steuer- und finanzpolitische Vorschläge stehen überall an erster Stelle für eine dynamische Wachstumspolitik für mehr Beschäftigung. Und im Übrigen: Gestatten Sie der Bundesregierung auch einmal, dass sie ihre Erfolge in der Steuer- und Fi- nanzpolitik besonders hervorhebt. Wir haben hervorra- gende Arbeit geleistet, was uns von Wirtschaft und inter- nationalen Finanzmärkten voll attestiert wird, und wir schreiben diese auch gern in aller Bescheidenheit in den Jahreswirtschaftsbericht. Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, wenn ich die heutige Debatte auch dazu nutze, um auf die Er- folge dieser Bundesregierung hinzuweisen, und zwar nicht trotz des neuen Zuschnitts, sondern wegen der Ressorts- zuständigkeiten: Wir hatten im Jahr 2000 ein Wachstum von 3,1 Prozent, eine Zahl, von der Sie während Ihrer Re- gierungszeit nur geträumt haben. Und auch in diesem Jahr werden wir, trotz abgeschwächter Dynamik der Weltwirt- schaft, ein stabiles Wachstum von real 2,75 Prozent in Deutschland erreichen. Der Abbau der Arbeitslosigkeit wird auch im Jahr 2001 anhalten, und zwar nicht aus de- mographischen Gründen, wie die Opposition immer wie- der behauptet. Im Jahresdurchschnitt rechnen wir mit ei- nem Anstieg der Erwerbstätigenzahl um fast eine halbe Million; die Arbeitslosigkeit wird damit im Jahr 2001 auf 9 Prozent oder auf 3,6 Millionen Menschen sinken. Dies ist das Ergebnis einer mutigen Reformpolitik, die unserer Wirtschaft den notwendigen stabilen Rahmen vorgibt und ihr gleichzeitig die richtigen Impulse verleiht. Was haben denn die von Ihnen so gebeutelten Ressorts gemeinsam – ich sage noch einmal: gemeinsam; denn Kenn- zeichen unserer Politik ist das gemeinsame Vorgehen – auf den Weg gebracht? Wir haben mit einer mutigen Steuerre- form die Wirtschaft wirksam entlastet. Wir haben mit un- serem Zukunftsprogramm eine konsequente Konsolidie- rungspolitik eingeleitet, zu der Sie in 16 Jahren nicht in der Lage waren. Wir haben eine Rentenreform auf den Weg gebracht, die für stabile Renten sorgt und erstmalig die pri- vate Beteiligung und Eigenverantwortung einführt. Wir haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Deutschland wieder einen Spitzenplatz in der Informati- onstechnologie erreicht hat. Wir haben die Innovations- kraft in diesem Land wieder angeregt und damit die Mo- dernisierung und den Strukturwandel beschleunigt. Ich will an dieser Stelle nicht weiter all die Erfolge der Bundesregierung aufzählen. Vielen von Ihnen ist dies ja be- kannt und die positiven Zahlen sprechen eine klare Sprache. Dies alles zeigt für die heutige Debatte jedoch eines in aller Klarheit: Der Erfolg von Wirtschafts- und Finanzpolitik ist keine Frage des Ressortszuschnitts, sondern eine Frage der Zusammenarbeit aller und der praktischen Politik. Das Team Eichel/Müller und ihre Mannschaften haben den Standort Deutschland in enger und kooperativer Zu- sammenarbeit auch im internationalen Wettbewerb kräf- tig aufgewertet. Dass Sie von der Opposition das möglicherweise an- ders sehen, kann mich nicht beunruhigen. Sie hatten im- merhin 16 Jahre Zeit, um uns eines Besseren zu belehren. Wenn Sie mit dem alten Zuschnitt eine bessere Politik ge- macht hätten, wäre dies sicherlich vom Wähler honoriert worden. Es stimmt mich schon sehr bedenklich, wenn die Op- position ihre Kritik an formalen und institutionellen Zu- ständigkeiten festmacht. Für uns stehen jedenfalls mehr die Inhalte im Mittelpunkt, nicht die formalen Zuständig- keiten. Darauf sollten wir uns auch in den Diskussionen hier im Plenum konzentrieren – und nicht auf die Frage, ob nun eine Abteilung besser in diesem oder jenem Res- sort untergebracht ist. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der organisatori- sche und strukturelle Rahmen für Wirtschafts- und Ord- nungspolitik der Bundesrepublik Deutschland ist in kei- nem vernünftigen Verhältnis mehr. Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, dass zwar allgemein und in allen Par- teien immer wieder über die besondere Bedeutung der Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und zur Sicherung von Wohlstand gesprochen wird, dass jedoch zeitgleich die Rolle und Aufgabenstellung des Wirtschaftsministeriums, das zentral zur Erledigung die- ser Aufgabenstellung zuständig sein müsste, an allen Ecken und Kanten beschnitten und eingeschränkt wird. Der Antrag der F.D.P. zielt darum uneingeschränkt in die richtige Richtung. Die Liste der Beschneidungen von Zu- ständigkeiten des Wirtschaftsministeriums ist lang. Der Redlichkeit halber muss man sagen, dass die Verkleine- rung der Zuständigkeiten dieses Hauses nicht erst mit der rot-grünen Koalition begonnen hat. Dieser Erosionspro- zess hat leider auch in der CDU/F.D.P.-Koalition begon- nen. Allerdings ist er mit den Entscheidungen unter Bun- deskanzler Schröder in einer sachwidrigen und schädlichen Weise fortgesetzt und beschleunigt worden, wie ich mir das nicht habe vorstellen können. Wir fordern darum alle Beteiligten auf, sich diesem Sachverhalt mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu nähern und einmal gemeinsam zu überlegen, nicht ob die- ser Prozess umgekehrt werden muss, sondern in welcher Weise dies vernünftigerweise geschehen kann. Für die CDU/CSU steht fest, dass eine sachgerechte Aufgabenzuordnung zum Wirtschaftsministerium eine we- sentliche Voraussetzung für die Wiedergewinnung von wirtschaftlichem Wachstum und zur nachhaltigen Bekämp- fung von Arbeitslosigkeit ist. Es ist richtig, geboten und sinnvoll, dass das Bun- desministerium für Finanzen den Finanzbericht nach § 31 der Bundeshaushaltsordnung erstellt. Nicht nach- vollziehbar ist jedoch, dass der Bundesfinanzminister den Jahreswirtschaftsbericht nach § 2 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes vorlegt und auch nach § 3 Sta- bilitäts- und Wachstumsgesetz gesamtwirtschaftliche Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001 15053 (C) (D) (A) (B) Orientierungsdaten vorlegt. Dies ist und bleibt eine Kern- aufgabe des Wirtschaftsministeriums. Es ist sachwidrig, wenn im gleichen Haus, in dem die Belastung der Wirt- schaft geplant wird, nämlich in der Steuerbehörde, auch der Jahreswirtschaftsbericht erarbeitet und bearbeitet wird. Wann sollen denn die notwendigen besonderen Interessen der Wirtschaft auch und gerade gegenüber der Steuer- behörde in der nötigen Freiheit und Eigenständigkeit ent- wickelt werden? Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass durch die falsche Zuordnung auch eine Schwächung der ordnungspolitischen Ansätze zu erwarten ist. Es wäre Herrn Eichel ohne weiteres zuzumuten gewesen, diese damals aus machtpolitischen Gründen durchgesetzte Ent- wicklung, die Herr Lafontaine eingeleitet hat, aus ord- nungspolitischen Gründen wieder an das Wirtschaftsminis- terium zurückzugeben. Ein bisschen vernünftiger Druck des Bundeskanzlers wäre in dieser Situation ausgespro- chen sinnvoll und nötig. Der durch diese Fehlentschei- dung eingetretene Mangel wird auch nicht dadurch beho- ben, dass nun ein Konkurrenzprodukt, nämlich der Wirtschaftsbericht, im Wirtschaftsministerium aufgestellt wird. Durch diesen zweiten Bericht wird der Jahreswirt- schaftsbericht nicht besser, sondern eher etwas unwichti- ger, weil dann zwei Berichte zur Begutachtung vorliegen. Eine größere Klarheit in den Perspektiven ergibt sich da- durch unter keinem Gesichtspunkt. Es ist auch sachwidrig und nicht zu verstehen, dass die Zuständigkeit in außenwirtschaftspolitischen Fragen bei der OECD im Wesentlichen beim Bundesfinanzminister liegt. Auch hier war nicht die Sachpolitik entscheidend, sonder die Machtpolitik zwischen den beiden Häusern. In der Außenwirtschaft geht es aber nicht um den möglichen Export des Deutschen Steuerrechts, das wäre sicherlich ein Flop. In der Außenwirtschaft geht es um den Export von deutschen Waren- und Dienstleistungen, um die Wett- bewerbsgleichheit im Bereich des Im- und Exports und um die Fragen, die sich aus der Globalisierung der Welt- wirtschaft ergeben. Diese Fragen müssten richtigerweise von dem Haus behandelt und beantwortet werden, das hierfür auch die nationale Zuständigkeit hat. Die Überge- wichtung der finanzwirtschaftlichen Aspekte in diesem Zusammenhang ist der Sache nicht dienlich und damit schädlich. Die allgemeine Lebensregel, dass der Schuster bei seinen Leisten zu bleiben hat, und dass das für die Sa- che hilfreich ist, muss auch hier wieder gelten. Der Bun- desfinanzminister soll seinen Finanzbericht vorlegen und der Wirtschaftsminister soll seinen Jahreswirtschaftsbe- richt vorlegen. Was denn sonst! Unabhängig von diesen angesprochenen Fragenkom- plexen müssten wir uns darüber hinaus gemeinsam Ge- danken machen, wie wir die Rolle des Wirtschaftsministe- riums stärken und damit der Stimme der Ordnungspolitik neues Gewicht verleihen können. Unter dem Gesichts- punkt der Ordnungspolitik ist eine der ganz wesentlichen Aufgaben eines Wirtschaftsministeriums, das den Namen Ministerium für die Wirtschaft verdient, auch die Frage des Wettbewerbs. Gerade in der Wettbewerbspolitik wer- den die für die soziale Marktwirtschaft unverzichtbaren und wesentlichen Rahmenbedingungen gelegt. Deswegen ist es vernünftig und sachlich geboten, dass alle Behörden, die den Wettbewerb regulieren sollen – und zwar auch die Regulierungsbehörden – ihrer Natur nach dem Kartellamt und dem Wirtschaftsministerium unterstellt werden. Dies gilt für die bestehenden Regulierungsbehörden bei der Post genauso, wie für die geplante Regulierungsbehörde beim Eisenbahnvermögen und sollte auch gelten für even- tuell durch europäische Entwicklungen notwendige Regu- lierungsbehörden im Bereich von Strom, Gas und Wasser. Vielleicht wäre es sogar vernünftig, das Wirtschaftsminis- terium umzubenennen in Ministerium für Wirtschaft, Wettbewerb und Technologie. Auch bei den jüngsten Entscheidungen im Rahmen der BSE-Krise ist wieder einmal zulasten des Wirtschaftsminis- terium über das Ziel hinausgeschossen worden. Es ist ja richtig, dass der Verbraucherschutz, insbesondere im Ernährungs- und Lebensmittelbereich sehr eng mit den Aufgabenstellungen des Landwirtschaftsministeriums zu- sammen zu sehen ist. Absolut unverständlich ist es jedoch, dass der gesamte übrige Verbraucherschutz im Bereich der gesamten Technologieentwicklung nun ebenfalls dem Mi- nisterium für Landwirtschaft angegliedert wird. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass der Verbraucherschutz im Bereich der Automobilproduktion, der Telekommunikation, der Medizintechnik und aller sonstiger technischer Waren nun ausgerechnet im Landwirtschaftsministerium beheimatet sein soll. Auch hier haben wir wieder einen wehrlosen Wirt- schaftsminister Müller erlebt, der ohne Gegenwehr und ohne Hausmacht nicht nur die inhaltlichen Schlachten um die Mitbestimmung verliert, sondern auch sein Haus aus- plündern lässt. Als Trostpflaster für all die Belastungen seines Hauses und der Zuständigkeiten dieses einst glän- zenden Wirtschaftministeriums hat er dann endlich eine grüne parlamentarische Staatssekretärin bekommen. Herr Minister Müller, wenn Sie so weitermachen, dann sind Sie nicht nur parteilos, sondern irgendwann auch hauslos. Was wollen Sie sich eigentlich noch alles gefallen lassen, zulasten der Kompetenz Ihres Hauses und der Durchset- zungskraft von vernünftiger Ordnungspolitik? Wenn Sie so weitermachen bzw. weiter so untätig bleiben, wird das einst stolze Wirtschaftsministerium im Prinzip nur noch ein Subventionsministerium sein und Sie dürfen dann die Reste der Kohlesubvention verwalten. Das ist sicherlich ein Thema, bei dem Sie sich auskennen, aber das ist kein Thema, mit dem wir den Aufbruch zu neuen Ufern einer globalisierten Welt erfolgreich steuern können. Sie haben die Unterstützung der Opposition im Ansatz der Stärkung des Wirtschaftsministeriums. Jetzt müssen Sie sich nur noch in Ihrer eigenen Koalition durchsetzen. Viel Glück, versuchen Sie es einmal. Werner Schulz (Leipzig)(BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die rot-grüne Bundesregierung hat durch Organi- sationserlass zu Beginn der Wahlperiode einige Verände- rungen der Zuständigkeiten einzelner Ministerien vorgenommen. Im vorliegenden Falle geht es dabei um eine Verlagerung grundsätzlicher wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten aus dem Wirtschaftsministerium ins Fi- nanzministerium. Dies ist ein ganz normaler Vorgang. Es ist auch nichts Unübliches; Veränderungen wurden aus aktuellem Anlass kürzlich bei den Zuständigkeiten für den Verbraucherschutz vorgenommen. Die heutige F.D.P. handelt nach dem bekannten Motto: „Es war immer so und so wird es auch immer bleiben“. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 200115054 (C) (D) (A) (B) Man muss sich vor Augen führen, wo die früheren Libe- ralen heute gelandet sind. Die Partei, die im Wahlkampf 1969 mit dem Anspruch angetreten ist, alte Zöpfe abzu- schneiden, beklagt sich in ihrem Antrag nun bitterlich da- rüber, dass die – man höre und staune – „von Ludwig Erhard konzipierte Trennung der wirtschaftspolitischen Fachfragen“ aufgegeben wurde! Mir scheint, das Gedächtnis ist kurz. Die vormaligen Liberalen wollten seinerzeit nicht nur Zöpfe abschneiden und mit drei Punkten Eindruck schinden. Während der so- zialliberalen Regierung – genauer: von Mai 1971 bis De- zember 1972 – wurde ein „Superministerium“ gebildet, welches zunächst von Karl Schiller und dann von Helmut Schmidt als Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen geleitet wurde. Da wurden also nicht nur einzelne Zu- ständigkeiten verlagert, da wurden die beiden Ministerien gleich zusammengelegt. Von einem Aufschrei der Em- pörung der Liberalen wegen der Verletzung erhardscher Gesetze war damals keine Rede. Wie kurz das Gedächtnis tatsächlich ist, zeigt sich auch daran, dass die heutigen Nachfolger der Liberalen nicht einmal mehr den Namen von Ludwig Erhard korrekt schreiben können, sondern ihn noch um ein hartes „t“ ergänzt haben! Darüber hinaus fragt man sich beim Lesen ihres Antra- ges, ob die F.D.P. möglicherweise übersehen hat, dass sie seit zweieinhalb Jahren nicht mehr an der Regierung be- teiligt ist. Anders ist es wohl kaum zu erklären, dass Sie sich anmaßen, über Organisationserlasse des Bundes- kanzlers zu befinden. Ihnen geht es mitnichten um eine sachgerechte Aufteilung von Zuständigkeiten, sondern vielmehr um eine selbstgerechte Darstellung wirtschafts- politischer Besserwisserei! Und obwohl wir uns in der heißen Phase des Wahlkampfs in Rheinland-Pfalz befin- den, ist Ihnen bewusst, auf welch dünnem Eis Sie sich be- wegen. Sonst hätten Sie nie und nimmer zugestimmt, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu ge- ben. Und noch eines: Während Ihrer Regierungsbeteiligung waren Sie auch nicht gerade zimperlich oder zurückhal- tend, wenn es um Kompetenzverlagerungen zu Ihren Gunsten gehen sollte. Vielleicht erinnern Sie sich noch, dass der damalige Wirtschaftsminister Möllemann über Jahre hinweg die Zuständigkeit für die Treuhand vom Bundesfinanzministerium in sein eigenes Haus verlagern wollte. Wie wir wissen, hat die Treuhand dann länger existiert als der glücklose Minister in seinem Amt. Die rot-grüne Bundesregierung hat es jedenfalls nicht nötig, sich von den vormaligen Liberalen in Sachen Markt- wirtschaft oder Kompetenzverteilung Nachhilfeunterricht erteilen zu lassen. Wir wissen, dass es gegen die be- schlossenen Zuständigkeiten ernsthafte Bedenken gibt. Wir werden zum Ende der Wahlperiode die positiven und die negativen Auswirkungen prüfen und bewerten. Danach werden wir gegebenenfalls neu entscheiden. Im Gegensatz zu Ihnen sind wir immer bereit und in der Lage, unsere Entscheidungen vor dem Hintergrund der jeweiligen Ent- wicklungen bzw. der jeweiligen Erfordernisse zu reflek- tieren. Dieses ständige Überprüfen ist für uns auch Be- standteil einer modernen Wirtschaftspolitik, die angesichts der globalen Herausforderungen oder der Dynamik der Ökonomie eben nicht an überholten Erkenntnissen kleben bleiben darf. Gudrun Kopp (F.D.P.): Welchen Stellenwert hat die Wirtschaftspolitik bei der rot-grünen Bundesregierung? Wie wichtig ist Bundeskanzler Schröder und seinem Wirtschaftsminister Müller die deutsche Wirtschaft, allen voran der in jeder Festtagsrede hoch gelobte Mittelstand? Gemessen an diversen Verlagerungen von Zuständigkei- ten in andere Ressorts, vorwiegend an das Finanzminis- terium, sind diese Fragen klar negativ zu beantworten. Die Wirtschaft und insbesondere der Mittelstand haben fachpolitisch rasant an Bedeutung verloren. Das spiegelt sich auch auf der langen Liste von wirtschafts- und mit- telstandsfeindlichen Beschlüssen der Regierung wider. Federn lassen musste das Bundeswirtschaftsminis- terium gleich nach der rot-grünen Regierungsübernahme. Die Grundsatz- und die Europaabteilung sowie die OECD-Zuständigkeit wurden in das Finanzministerium verlagert. Das war die Rache der SPD am ordnungspoliti- schen Geist Ludwig Erhards, Karl Schillers und anderer. So wundert es uns nicht, dass der Jahreswirtschaftsbe- richt, erstellt von Finanzminister Hans Eichel, viele wohl- tönende Phrasen enthält, die in bemerkenswertem Wider- spruch zur praktischen Politik anderer BMF-Abteilungen oder des BMAstehen. Derweil gibt der Wirtschaftsminis- ter einen „Wirtschaftsbericht“ heraus, der neben vielen bunten Bildern wenig Aussagekraft hat. Die Zuständigkeiten für wirtschaftspolitische Analy- sen und Konjunkturprognosen gab Minister Eichel trotz anders lautender Absprachen im letzten Sommer bis heute nicht wieder an das Wirtschaftsministerium zurück. Im Gegenteil, weitere Schwächungen des Wirtschaftsressorts folgten. Im letzten Sommer startete Minister Eichel einen wei- teren Coup: In einer Nacht- und Nebelaktion machte er den Verkauf der bundeseigenen Mittelstandsförderbank Deutsche Ausgleichsbank an die Kreditanstalt für Wie- deraufbau perfekt – natürlich an seinem Kabinettskolle- gen vorbei. Die Oberaufsicht über die neue bundeseigene Förderbank, einem Instrument der Wirtschaftsförderung, liegt beim BMF, obwohl sie da nichts zu suchen hat. Das BMWi sah auch mehr oder weniger hilflos zu, wie die Mittelstandsförderung in den letzten drei Jahren von 1,3 Milliarden DM auf 0,5 Milliarden DM zusammenge- strichen wurde. Und um das Bild der abnehmenden Be- deutung des BMWi komplett zu machen, wechselte der Fachbereich Verbraucherschutz im Rahmen der BSE- Krise zum Verbraucherschutz- und Landwirtschafts- ministerium. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre- gierung auf, endlich zu klaren, ordnungspolitisch sinn- vollen Strukturen zurückzukehren. Dies bedeutet unter anderem: Erstens. Der Bundesfinanzminister legt wie zuvor sei- nen Finanzbericht vor. Zweitens. Das BMWi erstellt wieder federführend den Jahreswirtschaftsbericht. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001 15055 (C) (D) (A) (B) Drittens. In das BMWi werden zurückverlagert: die Zuständigkeiten für wirtschaftswissenschaftliche For- schung, gesamtwirtschaftliche Analysen, der Sachver- ständigenrat und die OECD. Viertens. Die Abteilung „Geld und Kredit“ wird wieder, wie das bis 1972 der Fall war, beim BMWi angesiedelt. Mit klaren Strukturen und nachvollziehbaren Zustän- digkeiten erhöht sich die Fachkompetenz und Bedeutung von wirtschaftspolitischen Initiativen und Gesetzen. Wirt- schaftspolitische Konzepte müssen an die Stelle von rei- ner Kungelei für den Machterhalt treten. Wir, die F.D.P.- Bundestagsfraktion, fordern Sie auf, auf diesem Weg die Handlungsfähigkeit des Wirtschaftsministeriums wieder- herzustellen. Rolf Kutzmutz (PDS): Vor einiger Zeit bin ich gefragt worden, ob Deutschland einen Energieminister bräuchte. Ich habe damals gesagt: Den haben wir doch. Natürlich, das war stark verkürzt, nicht ausreichend begründet und vielleicht auch nicht gerecht. Denn Herr Müller hat ein- mal gesagt, er lasse sich für die Wirtschaft den Kopf blu- tig schlagen. Also nicht nur für die Energiewirtschaft, ob- wohl er drauf und dran ist, sich jetzt eventuell die eine oder andere KWK-Beule zu holen. Die Aufgabenverteilung ist nicht von Herrn Müller vorgenommen worden. Die Herausnahme wichtiger Ent- scheidungsfelder aus dem BMWi ist nicht seine Schuld. Er hat sie aber auch nicht verhindern können. Mich wundert, dass der Jahreswirtschaftsbericht im- mer noch diesen Titel trägt. Und ich vermute einfach, darin liegt auch der Grund, dass acht Monate nach Ab- schluss der Ausschussberatungen der Antrag der F.D.P. er- neut das Licht des Plenums erblickt. Schließlich steht in der nächsten Sitzungswoche wieder ein Jahreswirt- schaftsbericht des Bundesfinanzministers auf der Tages- ordnung, mit Zahlen, die bei ihrer Debatte wieder einmal von der Wirklichkeit überholt sein dürften. Ich fürchte allerdings, dass auch ein Bundeswirt- schaftsminister – egal welchen Namens – keine realisti- scheren Prognosen geliefert hätte. Denn Schönfärben gehört wohl immer zum Regierungsgeschäft. Aber grundsätzlich unterstützt auch die PDS das Anliegen, durch den Wirtschaftsminister den Wirtschaftsbericht und damit eine entsprechende Grundsatzabteilung sowie wirt- schaftswissenschaftliche Forschung verantworten zu las- sen, statt weiter die Öffentlichkeit zweimal jährlich – im Winter durch Herrn Eichel, im Sommer durch Herrn Müller – mit mehr oder weniger bunten, in jedem Falle aber folgenlosen Papieren zu beglücken. Im Übrigen können wir den strukturellen Forderungen der Liberalen jedoch nicht unbedingt folgen. Denn zu- mindest europapolitisch beweisen Frankreich und Groß- britannien, dass ein „Schatzministerium“-Konzept – also die Bündelung finanz- und wirtschaftspolitischer Kompe- tenzen – durchaus Vorteile haben kann, beispielsweise durch eine schlagkräftigere, weil nicht zersplitterte Inte- ressenvertretung im Ecofin-Rat. Dass es bei der Bundesrepublik mit dieser Schlagkraft auch ohne Zersplitterung krankt, belegt einmal mehr un- sere grundsätzliche Auffassung zum von der F.D.P. auf- geworfenen Thema: In dieser Gesellschaft hängt eine ef- fektive Wirtschaftspolitik mehr an den sie betreibenden Personen – sprich: hinter ihnen stehenden ökonomischen Schulen – denn an ihrer strukturellen Zuordnung. Ich ge- stehe freiweg: Wegen seiner politischen Haltung zur Glo- balisierung oder zur Stärkung der Binnennachfrage hätte die PDS eine außen- und volkswirtschaftliche Interessen- vertretung bei Oskar Lafontaine viel lieber als bei den am- tierenden Ministern oder gar bei F.D.P.-Personal gese- hen – egal, wie deren Amtsbezeichnung nun ist. In diesem Zusammenhang finde ich es schon pikant, dass die F.D.P. anlässlich der aktuellen Zuordnung des Jahreswirtschaftsberichtes plötzlich die Abteilung „Geld und Kredit“ auch wieder entdeckt. Die kam bekanntlich dem Bundeswirtschaftsministerium schon vor rund 30 Jahren abhanden – und alle Regierungskoalitionen mit liberaler Beteiligung seitdem fanden nichts dabei. Aber vermutlich soll mit dem vorliegendem Antrag schon an der Machtbasis für den nächsten Regierungseintritt gebas- telt werden. Wenn wir schon über Strukturen in diesem Bereich re- den: Warum verbindet man eigentlich nicht die Wirt- schafts- mit der aktiven Arbeitsmarktpolitik? Hier könnte ein Schlüssel für „Mehr Wohlstand für alle“ liegen, statt die Wirtschaft immer durch die finanzpolitische Brille – oder eben umgekehrt – betrachten zu wollen. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mitge- teilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Ge- schäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nach- stehenden Vorlage absieht: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Jahresgutachten 1998 „Welt im Wandel – Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bun- desregierung Globale Umweltänderungen – Drucksache 14/3285 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla- gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla- ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 14/5172 Nr. 2.17 Rechtsausschuss Drucksache 14/272 Nr. 18 Drucksache 14/342 Nr. 1.6 Drucksache 14/3723 Nr. 2.3 Drucksache 14/3859 Nr. 1.5 Drucksache 14/4441 Nr. 1.12 Haushaltsausschuss Drucksache 14/4441 Nr. 1.28 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 200115056 (C) (D) (A) (B) Ausschuss fürWirtschaft undTechnologie Drucksache 14/4665 Nr. 2.20 Drucksache 14/4865 Nr. 1.18 Drucksache 14/4945 Nr. 2.5 Drucksache 14/4945 Nr. 2.7 Drucksache 14/4945 Nr. 2.8 Drucksache 14/4945 Nr. 2.9 Drucksache 14/4945 Nr. 2.10 Drucksache 14/4945 Nr. 2.11 Drucksache 14/4945 Nr. 2.12 Drucksache 14/4945 Nr. 2.23 Drucksache 14/4945 Nr. 2.29 Drucksache 14/4945 Nr. 2.37 Drucksache 14/4945 Nr. 2.38 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 14/4441 Nr. 1.2 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/4441 Nr. 1.30 Drucksache 14/4570 Nr. 1.1 Drucksache 14/4865 Nr. 1.5 Drucksache 14/4865 Nr. 1.6 Drucksache 14/4865 Nr. 1.7 Drucksache 14/4865 Nr. 1.8 Drucksache 14/4865 Nr. 1.9 Drucksache 14/4865 Nr. 1.10 Drucksache 14/4865 Nr. 1.11 Drucksache 14/4865 Nr. 1.12 Drucksache 14/4865 Nr. 1.13 Drucksache 14/4865 Nr. 1.14 Drucksache 14/4865 Nr. 1.15 Drucksache 14/4865 Nr. 1.16 Drucksache 14/4865 Nr. 1.17 Drucksache 14/4945 Nr. 1.4 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001 15057 (C)(A) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415300000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Auf Wunsch der Fraktion der F.D.P. soll eine Änderung
im Vermittlungsausschuss vorgenommen werden. Die
Fraktion teilt mit, dass der Kollege Jörg van Essen als or-
dentliches Mitglied ausscheidet, und benennt dafür die
Kollegin Irmgard Schwaetzer. Sind Sie damit einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kolle-
gin Irmgard Schwaetzer als ordentliches Mitglied im
Vermittlungsausschuss bestimmt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform und Verbesserung der Ausbildungs-
förderung – Ausbildungsförderungsreform-
gesetz (AföRG)

– Drucksache 14/4731 –

(Erste Beratung 140. Sitzung)

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Cornelia Pieper, Jürgen W. Möllemann,
Detlef Parr, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG)

– Drucksache 14/2253 –

(Erste Beratung 76. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

schusses für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung (19. Ausschuss)

– Drucksache 14/5276 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Wimmer (Karlsruhe)

Angelika Volquartz
Antje Hermenau
Cornelia Pieper
Maritta Böttcher


(8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksachen 14/5277, 14/5278 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Siegrun Klemmer
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Christa Luft

Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard
Bulmahn.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Herren und Damen! Mit dem Ausbildungsförde-
rungsreformgesetz, das wir heute verabschieden, inves-
tieren wir in die Bildung und in die Ausbildung der jun-
gen Menschen in unserem Lande. Mit jährlich circa
1 Milliarde DM zusätzlich für die Ausbildungsförderung
werden wir erstens rund 80 000 junge Menschen mehr
fördern als bisher.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!)


Wir werden sie zweitens stärker fördern als bisher.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Auch das ist wahr!)


Wir werden damit den jungen Menschen die Tür für eine
zukunftsweisende Ausbildung öffnen. Mit dieser Ausbil-
dungsförderung erreichen wir, dass endlich alle jungen
Menschen in unserem Land eine Chance auf eine mög-
lichst gute Ausbildung haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Beifall auf Abruf!)


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(C)



(D)



(A)



(B)


153. Sitzung

Berlin, Freitag, den 16. Februar 2001

Beginn: 9.00 Uhr

Die Reform der Ausbildungsförderung ist ein wichti-
ger Bestandteil der Erneuerung unserer Bildungs- und
Forschungslandschaft. Wir wollen Bildung und For-
schung durch erhöhten Mitteleinsatz stärken und setzen
zugleich auf mehr Leistungsfähigkeit und mehr Effizienz
durch strukturelle Reformen. Dafür haben wir ein diffe-
renziertes Reformprojekt und -paket auf den Weg ge-
bracht.

Wir schaffen mit einer umfassenden Dienstrechts-
reform attraktive Arbeitsplätze für den wissenschaftlichen
Nachwuchs


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und wir schaffen – auch das ist in diesem Zusammenhang
wichtig – durch eine Änderung des Besoldungsgesetzes
eine stärkere Leistungsorientierung in der Besoldung von
Hochschulpersonal.

Wir stärken die Förderung von Nachwuchswissen-
schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern; denn
von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Wir verfolgen ein ehr-
geiziges Programm zur Steigerung des Frauenanteils an
den deutschen Hochschulen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Ich hätte mir gewünscht, dass wenigstens an dieser
Stelle die Kolleginnen und Kollegen von der rechten Seite
ebenfalls klatschen.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Warten Sie es doch ab!)


Wir fördern die Internationalisierung der deutschen
Hochschullandschaft und wir werben offensiv um auslän-
dische Studierende und Lehrende. Wir treiben die welt-
weite Vernetzung unserer Hochschulen voran und fördern
die Entwicklung von virtuellen Studiengängen, die ein
wichtiges Instrument für eine stärkere Internationalisie-
rung sind. Wir führen eine effiziente Neustrukturierung
im Bereich der Forschungsinstitute durch und verbessern
die Verwertung von Forschungsergebnissen.

Seit dem Regierungswechsel haben wir die Investitio-
nen für Bildung und Forschung kräftig erhöht,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


allein in diesem Jahr um 9,5 Prozent auf fast 16 Milliar-
den DM. Das ist wahrlich kein Pappenstiel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aus den UMTS-Zinserlösen fließen allein 1,8 Milliar-
den DM in den Bereich Bildung und Forschung, davon
mehr als 1 Milliarde DM in die „Zukunftsinitiative Hoch-
schule“.

Meine Damen und Herren, wenn Sie heute in die Stel-
lenanzeigen der großen Tageszeitungen schauen, dann se-
hen Sie ganz deutlich: Wir brauchen nicht weniger, son-
dern mehr und besser ausgebildete Fachkräfte und
Hochschulabsolventen. Dass es noch immer viele begabte

junge Menschen aus einkommensschwächeren Familien
gibt, aus Familien mit einem geringen oder einem mittle-
ren Einkommen, die auf ein Studium verzichten müssen,
weil ihre Eltern es nicht finanzieren können, ist nicht nur
sozial ungerecht. Angesichts des Fachkräftemangels in
wichtigen Zukunftsbranchen, wie zum Beispiel der Bio-
technologie oder der Informations- und Kommunikati-
onstechnologie, ist es auch ökonomisch widersinnig.


(Beifall bei der SPD)

Deshalb ist es unter beiden Gesichtspunkten – sowohl

dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit als auch
dem Gesichtspunkt der volkswirtschaftlichen bzw. öko-
nomischen Notwendigkeit – richtig, dass wir mit dieser
Ausbildungsförderungsreform die Grundlage dafür schaf-
fen, das gesamte Potenzial an Begabungen, an Fähigkei-
ten, an Kompetenzen, die wir in unserem Land haben,
endlich zur Entfaltung zu bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir erreichen dies zum einen durch die Erhöhung der
Bedarfssätze, zum Zweiten durch die Nichtanrechnung
des Kindergeldes und zum Dritten durch die Anhebung
der Freibeträge.

Ich habe es schon immer als eine große Ungerechtig-
keit empfunden, dass nach dem alten Gesetz die Einkom-
mensschwächsten, die die höchste Förderung benötigen,
gleichzeitig diejenigen sind, die ihr Studium mit dem
höchsten Schuldenberg abschließen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Deshalb verändern wir das mit diesem Gesetz. Wir be-
grenzen die Gesamtdarlehensbelastung für jeden geför-
derten Studierenden auf 20 000 DM.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In Zukunft wird also niemand mehr durch eine unkalku-
lierbare Schuldenlast vom Studium abgehalten.

Die Mehrheit der Hochschulabsolventen findet später
einen Arbeitsplatz in der Wirtschaft. Wenn man die Stel-
lenanzeigen liest, wird deutlich, dass Unternehmen Nach-
wuchskräfte suchen, die nicht nur fachlich qualifiziert
sind. Sie suchen Hochschulabsolventen, die außerdem
Fremdsprachenkenntnisse haben, Auslandserfahrung mit-
bringen und möglichst schon während des Studiums auch
praktische Erfahrungen gesammelt haben.

Die Internationalisierung unserer Hochschulen treiben
wir mit konkreten Schritten, wie der internationalen Aus-
richtung von Studiengängen, der Einführung von Bache-
lor- und Masterabschlüssen und der wechselseitigen
Anerkennung von Studienleistungen und Hochschulab-
schlüssen, voran. Wir flankieren diesen Prozess mit einem
starken Fokus auf die neuen Medien, konkret mit dem
Ausbau der virtuellen Studiengänge. Das BMBF fördert
die Entwicklung multimedialer Lehrangebote, neuer
Fernstudienangebote und Kombinationen mit der Prä-
senzlehre.




Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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(C)



(D)



(A)



(B)


Mit dem Ausbildungsreformgesetz internationalisieren
wir auch die Ausbildungsförderung. Wer ein Studium in
Deutschland begonnen hat, kann in Zukunft nach zwei Se-
mestern sein BAföG EU-weit mitnehmen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Förderung wird zu Inlandssätzen innerhalb der För-
derungshöchstdauer bis zum Studienabschluss fortge-
setzt. Damit erhalten alle Studierenden die Möglichkeit,
Auslandserfahrungen und Pluspunkte für ihren Berufs-
einstieg zu sammeln. Natürlich kann man auch in Zukunft
für ein Jahr das BAföG in jedes außereuropäische Land
mitnehmen. Auch das ist gewährleistet.

Ein entscheidender Pluspunkt beim Berufseinstieg ist
neben dieser Internationalisierung auch die Fähigkeit,
über die Grenzen der eigenen Fachdisziplin hinauszu-
schauen. Masterstudiengänge werden bei uns künftig
generell gefördert, auch wenn sie einen Bachelorstudien-
gang interdisziplinär ergänzen. Damit gibt das Ausbil-
dungsförderungsgesetz den Studierenden einen Schlüssel
für eine stärkere interdisziplinäre Ausrichtung ihrer
Ausbildung in die Hand. Genau das ist ebenfalls erforder-
lich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit komme ich zum dritten Punkt, der im Lebens-
lauf von Berufseinsteigern heute nicht mehr fehlen darf,
zur Praxiserfahrung. Damit meine ich nicht das Jobben
in der Kneipe oder am Fließband, obwohl auch das durch-
aus hilfreich ist und Lebenserfahrung bringt.


(Jörg Tauss [SPD]: Genau, Lebenserfahrung! – Dr. Peter Struck [SPD]: Vor allem in der Kneipe!)


Ich meine vielmehr Praktika in Unternehmen, in For-
schungslabors oder in internationalen Organisationen.
Hier sind vor allem die Bereitschaft der Betriebe, solche
Praktikaplätze anzubieten, und die Eigeninitiative der
Studierenden, Praktikumsplätze zu suchen, erforderlich.
Auch Studierende aus Familien mit geringem oder mittle-
rem Einkommen müssen in der vorlesungsfreien Zeit die
Chance haben, solche Praktika durchzuführen, anstatt
jobben zu gehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb passen wir die Ausbildungsförderung wieder
den tatsächlichen Lebenshaltungskosten an. Wir haben
den Förderungshöchstsatz sogar noch einmal heraufge-
setzt, und zwar von 1 030 auf nunmehr 1 140 DM.


(Zuruf von der SPD: Bravo!)

Wenn man das Kindergeld, das wir nicht mehr gegen-
rechnen, hinzuzählt, heißt das nach Adam Riese, dass den
Studierenden durch den BAföG-Höchstsatz und das Kin-
dergeld 1 410 DM zur Verfügung stehen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir hatten uns in den Ausschussberatungen darauf ver-
ständigt, den nachweisabhängigen Wohnzuschlag für
auswärtig Wohnende nochmals anzuheben. Damit brin-
gen wir endlich Studien- und Lebenswirklichkeit wieder
in Einklang.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dazu gehört im Übrigen auch, dass Studium und
Familie künftig besser vereinbar sind, und zwar sowohl
für Frauen als auch für Männer. Denn studienzeitver-
längernde Kindererziehungszeiten werden in Zukunft
besser berücksichtigt werden, sodass es nicht mehr ein
Nachteil ist, wenn ich ein Kind erziehe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Sehr familienfreundlich!)


Studierenden, die ihr Studium nicht innerhalb der
Regelstudienzeit abschließen können, geben wir eine ver-
lässliche Hilfe zum Studienabschluss, und zwar unabhän-
gig von den Gründen, die zu einer Überschreitung der
Förderungshöchstdauer geführt haben. Wir wollen nicht,
dass diese Studierenden ihr Studium aus Geldnot abbre-
chen müssen und dass damit die bisherigen Investitionen
nutzlos verfallen. Deshalb führen wir diese verlässliche
Studienabschlussförderung dauerhaft ein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn es muss Schluss sein damit, dass hier, wie das in der
Vergangenheit der Fall war, ein Hin und Her besteht.

Schließlich stellen wir die Ausbildungsförderung in
Ost und West gleich. Auch das ist überfällig.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Zusätzlich zu diesem von mir geschilderten Ausbil-

dungsreformpaket legen wir ein Bildungskreditpro-
gramm auf. Mit diesem Bildungskreditprogramm er-
möglichen wir Studierenden, einkommensunabhängig
zinsgünstige Bankkredite für Ausbildungszwecke in An-
spruch zu nehmen. Das Bildungskreditprogramm wird
zeitgleich mit dem Ausbildungsförderungsreformgesetz
in Kraft treten,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


ist aber unabhängig von der Ausbildungsförderungs-
reform und ergänzt die bestehenden Förderungsmöglich-
keiten.

Meine Herren und Damen, wir haben in den bisherigen
Beratungen eine Vielzahl von Experten angehört, über
Detailvorschläge diskutiert und einige vom Bundesrat
und vom Ausschuss vorgeschlagene Änderungen in den
vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen, zum Beispiel
die Anhebung der Vermögensfreibeträge für die Auszu-
bildenden selbst. Wir sind so zu einem abgerundeten und,
wie ich finde, wirklich guten Reformpaket gelangt, das
eine grundlegende und nachhaltige Stärkung der staat-
lichen Ausbildungsförderung bedeutet.

Der Erfolg unserer Bemühungen – in diesen Plural be-
ziehe ich ganz bewusst die Kolleginnen und Kollegen von




Bundesministerin Edelgard Bulmahn

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(C)



(D)



(A)



(B)


der Opposition ein – ist aber erst dann vollendet, wenn das
neue BAföG von den jungen Menschen auch tatsächlich
genutzt wird


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und wenn es von vornherein in ihre Ausbildungsplanung
einbezogen wird. Deshalb messe ich der Aufklärung über
diese BAföG-Reform und dem Rückgewinn des Vertrau-
ens in eine verlässliche Ausbildungsförderung eine ganz
große Bedeutung zu.

Das Vertrauen in die Ausbildungsförderung ist in den
letzten zehn Jahren des – so muss man es eigentlich nen-
nen – „Sparfög“ drastisch zurückgegangen. Wir müssen
es zurückgewinnen, bei den Eltern und bei den Jugendli-
chen selber.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb lade ich Sie alle ausdrücklich ein, daran mitzu-
wirken, dieses Vertrauen zurückzugewinnen und daran
jenseits aller politischen Scharmützel auch wirklich ge-
meinsam zu arbeiten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin davon
überzeugt, dass wir die Chancen, die wir in diesem Be-
reich haben, mit diesem Gesetz genutzt haben, und hoffe
und wünsche mir, dass wir die Chance, das Vertrauen
zurückzugewinnen, ebenfalls nutzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415300100
Ich erteile dem Kolle-
gen Gerhard Friedrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr. Gerhard Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1415300200
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Minis-
terin Bulmahn, Sie haben heute entgegen Ihrer sonstigen
Gewohnheit ganz darauf verzichtet, die Opposition oder
die frühere Regierung zu kritisieren. Das erleichtert es
uns, Ihrem Gesetz zuzustimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Leider ist diese friedliche Stimmung noch nicht bei allen
Mitgliedern der SPD-Fraktion und der Grünen angekom-
men. Deshalb will ich doch noch einmal kurz auf die Ver-
gangenheit eingehen.


(Jörg Tauss [SPD]: Doch, doch! Wir sind ganz friedlich!)


– Herr Kollege Tauss, neben Ihnen sitzt die von mir per-
sönlich sehr geschätzte Kollegin Wimmer.


(Jörg Tauss [SPD]: Die von uns allen geschätzte Kollegin!)


Letzte Woche hat sie wieder eine Presseerklärung abge-
geben. Darin steht, wir hätten das BAföG früher herun-
tergewirtschaftet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!)


Die Frau Ministerin hat sich zu Recht vorsichtiger ausge-
drückt. Das, was Sie, Frau Kollegin Wimmer, schildern,
entspricht auch nicht der Wirklichkeit.

Eines ist ja objektiv richtig – die Ministerin hat es an-
gedeutet –: Die Ausgaben für das BAföG lagen in den
Jahren 1991, 1992 und 1993 bei 3,9 Milliarden DM und
sind bis zum Jahre 1998 – was wir gemeinsam bedauern –
auf 2,4 Milliarden DM abgesunken. Dabei spielt es si-
cherlich auch eine Rolle, dass sich die Einkommensver-
hältnisse in den neuen Bundesländern gebessert haben.
Bei einem Sozialgesetz ist es ja so: Wenn Einkommen
schnell steigen, dann fällt man aus den Voraussetzungen
für eine Sozialleistung heraus.

Darüber hinaus – das will ich auch gar nicht bestreiten,
sondern noch einmal ausdrücklich bestätigen – ist es uns
leider nicht gelungen, das zu tun, was § 35 BAföG ei-
gentlich vorsieht, nämlich die Bedarfssätze und die
Freibeträge kontinuierlich der allgemeinen Entwick-
lung der Einkommen und der Lebenshaltungskosten
anzupassen.

Nur war es nicht so, dass die bösen Schwarzen etwas
blockiert und die


(Jörg Tauss [SPD]: Guten Roten!)

Freundinnen und Freunde von der SPD geschlossen en-
gagiert für Studentinnen und Studenten gekämpft haben.
Ich habe Sie schon einmal daran erinnert und tue es heute
wieder: Im Jahre 1997 gab es drei Beschlüsse der
Finanzministerkonferenz, also auch der Finanzminister
der Länder, in denen diese gesagt haben: Erstens. Jede Re-
form muss kostenneutral sein. Zweitens. Die vorgelegten
Modelle – damals hatte die SPD ein Modell vorgelegt und
wir hatten das so genannte Bayern-Modell in die Diskus-
sion gebracht – entsprechen nicht diesen Anforderungen.
Sie haben also früher Vorschläge gemacht, die im Bun-
desrat auch an Ihren eigenen Finanzministern gescheitert
wären.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der Kollege Catenhusen hat

im Ausschuss, wenn ich mich recht entsinne, bezogen auf
die F.D.P., gesagt, die Opposition dürfe immer etwas mu-
tiger sein und mehr verlangen als die jeweilige Regierung.
Sie selber haben diesen Mut vor der Bundestagswahl sehr
weit ausgelegt und Konzepte vorgelegt, die Sie inzwi-
schen beerdigen mussten und die Ihre eigenen Finanzmi-
nister im Bundesrat abgelehnt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das waren nicht Konzepte, sondern Versprechungen!)


Frau Kollegin Wimmer ist noch etwas weiter gegangen
und hat erklärt, das, was die F.D.P. vorgeschlagen habe,
sei unseriös.


(Zurufe von der F.D.P.)

– Finanzierbar ist das nicht. Aber dass Sie, Frau Kollegin
Wimmer, ein Konzept als unseriös bezeichnen, das Ihre
eigene Ministerin nach meiner Kenntnis erst im Januar
2000 beerdigt hat, ist schon ein tolles Stück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Bundesministerin Edelgard Bulmahn
14980


(C)



(D)



(A)



(B)


Ihre Gedächtnislücken sind wirklich sehr, sehr groß.

(Jörg Tauss [SPD]: Für Gedächtnislücken gibt es andere Spezialisten!)

Wir haben mit dem Gesetzentwurf, wie er jetzt vorge-

legt wurde, und mit seiner Grundkonzeption deshalb
keine Probleme, weil wir uns schon immer für eine Re-
form innerhalb des Systems eingesetzt haben.

Mit dem Drei-Körbe-Modell, das durch das wesentli-
che Element geprägt ist, dass Kinderfreibetrag, Kinder-
geld und Ausbildungsfreibetrag zusammengefasst werden
und nicht den Eltern etwas gewährt wird, sondern ein
Sockelbetrag bzw. ein Bildungsgeld direkt an den er-
wachsenen Auszubildenden ausgezahlt wird, haben wir
uns aus drei Gründen, die ich hier noch einmal zusam-
menfassen möchte, nie anfreunden können.

Erstens. Sie wissen, dass es erhebliche Konflikte mit
dem Unterhaltsrecht


(Zuruf von der F.D.P.: Nein! Die waren geklärt!)


und mit dem Steuerrecht gibt. Die Finanzminister haben
– ich habe den Beschluss bereits erwähnt – schon im Jahre
1997 darauf hingewiesen, dass Eltern, die trotz des Bil-
dungsgeldes ergänzenden Unterhalt leisten müssen, die
steuerlichen Begünstigungen wieder zurückrufen können.
Es gibt also erhebliche Schwierigkeiten, die die SPD bis
Ende des Jahres 1999 ignoriert hat.

Zweitens. Wir haben schon immer gesagt – das stand
schon in unzähligen Vermerken des Kollegen Rüttgers –,
dass das Bildungsgeld nicht finanzierbar ist. Jetzt hat uns
auch Herr Catenhusen im Ausschuss mitgeteilt, dass ein
Bildungsgeld von 400 DM Kosten in Höhe von 1,5 Milli-
arden DM und eines von 500 DM Kosten in Höhe von
3,5 bis 4 Milliarden DM verursachen würde.

In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass der
Bund im Jahre 1998 insgesamt nur 1,5 Milliarden DM
ausgegeben hat und dass außerdem der Betrag von bis zu
4 Milliarden DM gar nicht ausreicht, um die Bundesaus-
bildungsförderung insgesamt zu sanieren. Viele sind ein-
kommensabhängig auf ergänzende Leistungen angewie-
sen. Auch dafür braucht man Geld. Von vornherein war
also klar, dass kein Finanzminister bereit und in der Lage
wäre, so etwas zu finanzieren.

Der dritte Grund, aus dem wir immer Nein gesagt ha-
ben und das neue Konzept, das unserem früheren Kon-
zept entspricht, akzeptieren, ist folgender: Das Bundes-
verfassungsgericht hat in einem neueren Urteil die
Familie als eine Erziehungs- und Wirtschaftsgemein-
schaft bezeichnet. Nun kann man darüber reden, ob man
erwachsene Kinder unabhängig von ihren Eltern machen
will. Das ist eine Diskussion, die man vernünftig führen
kann. Allerdings ist immer übersehen worden, dass ein
Bildungsgeld in Höhe von maximal 500 DM, ausbezahlt
an die Studierenden, die meisten von denen nicht unab-
hängig von ihren Eltern macht. Vielmehr sind sie weiter
auf ergänzende Leistungen angewiesen. Damit kann ein
Bildungsgeld das Ziel, das angegeben worden ist, nicht
erreichen.

Konsequent war – ich sehe ihn gerade – im Grunde nur
der Kollege Berninger,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


der einen Vorschlag vorgelegt hat, durch den Studierende
wirklich unabhängig von ihren Eltern würden.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Herr Kollege Berninger, ich erkenne an – das haben
auch viele andere bereits getan –, dass Sie die BaföG-
Diskussion um einen interessanten Vorschlag bereichert
haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: BAFF!)

Er hatte allerdings einen ganz gewaltigen Nachteil: Jeder
sollte entsprechend seinem Bedarf aus einem Fonds Geld
anfordern können. Allerdings sollte dieses Geld nicht als
Zuschuss gewährt werden, sondern Kollege Berninger,
der auch etwas von Finanzen versteht,


(Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!)

hat gesagt: Wenn die Leute im Beruf sind, dann müssen
sie das entsprechend ihrem Einkommen wieder zurück-
zahlen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist doch gerecht!)


In diesem Zusammenhang habe ich Sie nicht verstanden,
Herr Kollege Berninger. Wenn es um die Unabhängigkeit
von den Eltern geht, spielt eine hohe Darlehensbelastung
keine Rolle. Sie ist dann Hemmnis für die Aufnahme ei-
nes Studiums. Wenn aber andere fordern – nicht ich –,
Studiengebühren einzuführen und denen, die aus einkom-
mensschwachen Familien stammen, einen Kredit zu ge-
währen, der später, wenn die Betreffenden etwas verdie-
nen, zurückgezahlt werden muss, dann ist das Darlehen,
das niedriger wäre als nach dem BAFF-Modell des Kol-
legen Berninger, plötzlich ein Hemmnis für die Aufnahme
eine Studiums. Wir müssen also aufpassen: Diejenigen,
die für Studiengebühren sind, können Ihre Argumente
sehr gut verwenden. Aber zugegeben, Sie waren konse-
quent.

Meine Damen und Herren, wir haben am 9. November
1999, einige Monate vor der Ministerin und noch mehr
Monate vor den Regierungsfraktionen, die Eckpunkte un-
seres BAföG-Konzepts vorgelegt. Wir haben auch mit un-
seren Ländern darüber gesprochen. Es gab das Angebot,
den Streit über das BAföG aus dem Parteienstreit heraus-
zunehmen und zu einer gemeinsamen Lösung zu kom-
men.

Ich habe schon gesagt: Wir waren immer für eine Re-
form im System. Wir wollten wie die Koalition dafür sor-
gen, dass finanzielle Probleme kein Grund sind, auf den
Besuch eines Gymnasiums und die anschließende Auf-
nahme eines Studiums zu verzichten. Deshalb haben wir
schon immer eine kräftige Erhöhung der Freibeträge und
der Bedarfssätze vorgeschlagen. Einer Freibetragser-
höhung kommt es gleich, wenn man sagt: Auf das Ein-
kommen wird das Kindergeld nicht mehr angerechnet.
Das hat noch einen weiteren Vorteil: Bisher haben die




Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen)


14981


(C)



(D)



(A)



(B)


Leute nicht verstanden, warum bei einer Kindergeld-
erhöhung die BAföG-Leistung gekürzt wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Wir haben das Kindergeld und die BAföG-Leistungen erhöht!)


Wir freuen uns, dass sich dieser Vorschlag nun im Ge-
setzentwurf wiederfinden lässt.


(Jörg Tauss [SPD]: Ich freue mich auch!)

– Auch wir freuen uns, dass Sie das langsam gelernt ha-
ben. Es hat leider sehr lange gedauert.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wir haben es gemacht!)


Wir haben gemeinsam zur Kenntnis genommen, Herr
Kollege Tauss, dass von 100 Kindern aus einkommens-
schwachen Familien 33 das Gymnasium besuchen, aber
nur acht einen Studienplatz einnehmen. Deshalb haben
wir schon in unseren Eckpunkten vorgeschlagen, die
Darlehensobergrenze zu kappen. Auch die Hochschul-
rektorenkonferenz hat uns gesagt, die hohe Darlehensbe-
lastung könnte den einen oder anderen vom Studium ab-
halten. – Herr Tauss nickt, aber in Ihrem Eckpunktepapier
stand das noch nicht.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber wir haben es gemacht!)


– Ja, Sie haben später nachgebessert. Das erleichtert uns
auch die Zustimmung zu diesem Gesetz.

Ich möchte an dieser Stelle anfügen: Wir sehen schon
ein gewisses Problem in der jetzt vorgesehenen Regelung;
denn Sie sagen nicht, wie wir es gemacht hätten, die Stu-
dienförderung, die zu 50 Prozent als Zuschuss und zu
50 Prozent als Darlehen gewährt wird, wird auf 800 DM
oder einen anderen Betrag begrenzt und der darüber hi-
nausgehende Betrag wird von vornherein als Zuschuss
ausgezahlt. Das hätte nämlich bedeutet, dass diese Ver-
besserungen sofort haushaltswirksam geworden wären.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Genauso ist es!)

Jetzt sehen Sie eine Regelung vor, in der erst am Ende

des Studiums – ich weiß nicht einmal genau, wann; das
steht nämlich nicht im Gesetz –, wenn die Gesamtdarle-
hensbelastung feststeht, festgelegt wird, dass die
Darlehenssumme, wenn sie über 20 000 DM liegt, ge-
kappt wird. Herr Catenhusen hat meinen Verdacht be-
stätigt: Diese Regelung wird erst im übernächsten Jahr-
zehnt wirksam, weil der Erlass vielleicht erst in 20 Jahren
ausgesprochen wird.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Finanziell solide ist das natürlich nicht.

Sie erklären, Sie sparen und begrenzen die Kreditbe-
lastung des Bundes, gleichzeitig verschieben Sie aber die
Lasten in die Zukunft.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nächste Generation!)


Hier sehen wir schon Probleme auf uns zukommen. Trotz-
dem werden wir diesem Gesetz zustimmen. Im Großen

und Ganzen finden wir das, was wir in unseren Eckpunk-
ten als Kernelemente vorgelegt haben, in diesem Gesetz
wieder. Deshalb kommen wir heute nach einer sehr lan-
gen kontroversen Diskussion einerseits zwischen den Bil-
dungspolitikern und andererseits zwischen den Bildungs-
und den Finanzpolitikern zu einer einvernehmlichen Lö-
sung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415300300
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415300400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war
schön, dem Loblied auf den Kollegen Berninger zu lau-
schen, Herr Friedrich.


(Jörg Tauss [SPD]: Das habe ich ganz misstrauisch getan! – Angelika Volquartz [CDU/ CSU]: Das war ein begrenztes Loblied!)


Es war auch interessant, dass Sie zumindest in Sachen
BAföG den bildungspolitischen Frieden von Berlin aus-
gerufen haben. Das kann ich nur unterstützen. Ich glaube
in der Tat, dass wir hier ein Paket geschnürt haben, das
sich sehen lassen kann.

Trotzdem möchte ich gerne den Blick zurückrichten,
aber nicht im Sinne einer Abrechnung, sondern im Sinne
einer Bestandsaufnahme. Ich glaube, das ist erforderlich,
um der Öffentlichkeit, die uns hier auch lauscht, klarzu-
machen, an welchem Punkt wir gestartet sind.

Es ist ja nicht unerheblich – das möchte ich betonen –,
dass die Ausgaben im Rahmen des BAföG 1991 noch bei
3,9Milliarden DM lagen und im Jahr 1998, als wir die Re-
gierung übernommen haben, bei 2,3MilliardenDM. Diese
Reduzierung hat mit dem, was Sie im Hinblick auf die
neuen Bundesländer gesagt haben, relativ wenig zu tun;


(Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/CSU]: Aber mit der Finanzministerkonferenz!)


denn die Quote sank ja schon zwischen 1982 und 1998 er-
heblich.

Wenn Sie dies wenigstens durch eine familien-
freundliche Sozialpolitik, die das BAföG erübrigt oder
weitestgehend erübrigt hätte, flankiert hätten, dann
könnte man sagen: Okay, es kommt nicht so auf das
BAföG an. Aber die Wahrheit ist, dass Sie sowohl steuer-
politisch, sozialpolitisch, familienpolitisch als auch bil-
dungspolitisch zurückgefahren haben und dass deshalb
im Ergebnis die Situation für die Studentinnen und Stu-
denten wesentlich schlechter war.

Auch das sind interessante Zahlen: 1982, also lange
vor der Wiedervereinigung, wurden noch 28 Prozent aller
Studierenden über das BAföG gefördert, im Jahre 1998
waren es noch 12 Prozent. Das ist mehr als eine Halbie-
rung.

Ich will noch eine letzte Zahl nennen: Nach der aktu-
ellen Erhebung des Deutschen Studentenwerkes ist der




Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen)

14982


(C)



(D)



(A)



(B)


Anteil von Studenten aus – ein schreckliches Wort, das
gebe ich zu – niedrigen sozialen Herkunftsgruppen von
ehemals 23 Prozent im Jahre 1982 auf 14 Prozent im Jahre
1998 gesunken. Das heißt, nur noch 7 Prozent aller Hoch-
schulabsolventen kommen aus einkommensschwachen
Familien.

Man könnte das, jenseits aller Zahlen, vielleicht so
formulieren: Während in den 70er-Jahren die Türen der
Universitäten für Arbeiterkinder weit aufgestoßen wurden,
sind sie in den 90er-Jahren wieder geschlossen worden,


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Das ändern Sie auch nicht mit dem Gesetz!)


zumindest ein Stück weit, wenn vielleicht auch nicht vor-
sätzlich. Das Ergebnis aber war schlecht und diese Ent-
wicklung wollen wir umkehren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Studienzeiten und die Höhe des BAföG bilden ein
System kommunizierender Röhren: Wenn das BAföG
zurückgeht, muss mehr gearbeitet werden, und so verlän-
gern sich die Studienzeiten. Das ist etwas, was im Grunde
genommen jeder weiß. Auch in diesem Bereich wollen
wir etwas verändern. Ich glaube, dazu kann das jetzt zu
verabschiedende Gesetz einen wichtigen Beitrag leisten.

Wichtig ist allerdings – darauf hat die Ministerin be-
reits zu Recht hingewiesen –, dass wir es überhaupt erst
wieder schaffen müssen, dem BAföG ein positives Image
zu geben. Gerade als Hochschullehrer kann ich sagen:
Das BAföG hat bei den Studentinnen und Studenten heute
ein total negatives Image; das muss man einfach sehen.
Wir müssen den jungen Menschen erst wieder klarma-
chen, dass man auch als Kind aus einkommensschwacher
Familie mit dem BAföG vernünftig studieren kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch hierzu die Zahlen: Förderberechtigt waren 1998
etwas mehr als 1 Million Studentinnen und Studenten.
Dies haben aber nur etwas mehr als 200 000 Studentinnen
und Studenten in Anspruch genommen, also 20 Prozent.
Das heißt, hier besteht großes Unwissen. Ich sehe es ge-
nauso wie die Ministerin: Wir müssen mit einer Werbe-
kampagne für das BAföG dafür sorgen, dass den Studen-
tinnen und Studenten klar wird, dass sich hier eine
Möglichkeit auftut.

Der letzte Punkt betrifft die internationale Situation.
Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir uns trotz des bil-
dungspolitischen Friedens in dieser Angelegenheit nicht
die Welt schönreden. Die hier schon oft diskutierte
OECD-Bildungsstudie zeigt leider aufgrund der gewach-
senen Strukturen der letzten 20 Jahre im internationalen
Vergleich kein positives Bild Deutschlands. Im Durch-
schnitt treten in der OECD, also in den westlichen
Industriestaaten, 40 Prozent aller junger Menschen ein
Studium an. Bei uns sind es 28 Prozent, jetzt mit leicht
steigender Tendenz. Das ist natürlich zu wenig. Außerdem
erreichen bei uns nur 16 Prozent eines Altersjahrgangs auf
ihrem Bildungsweg einen akademischen Abschluss,
während es OECD-weit 23 Prozent sind. Das ist ebenfalls

zu wenig. Wenn wir nicht zu einer Wissensgesellschaft
mit permanentem Akademikermangel werden wollen,
dann müssen wir das schleunigst ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Gleiche gilt für die Studienzeiten. Diese sind bei
uns mit im Schnitt 6,1 Jahren sehr lang. Hier werden wir
nur noch von Griechenland und Österreich getoppt. Hinzu
kommt noch eine hohe Abbrecherquote. Summa sum-
marum kann man sagen: Wir sind dabei, langsam wieder
aus dem hochschulpolitischen Loch herauszukommen.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Sehr langsam!)

Dies wurde durch eine grundsätzliche – Geringschätzung
wäre das falsche Wort – nicht angemessene Schätzung der
Ressource Bildung in unserer Gesellschaft verursacht.
Wer in der Wissensgesellschaft bestehen will, braucht gut
ausgebildete junge Leute. Wir haben zu wenig Akademi-
kerinnen und Akademiker. Das muss und soll sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Fazit ist: Wir haben bei der Regierungsübernahme eine
sehr schwierige Situation vorgefunden. Man muss auch
sagen – ein bisschen Polemik muss möglich sein –: Herr
Rüttgers hat zwar viel von der Ressource Bildung ge-
sprochen,


(Jörg Tauss [SPD]: Geredet hat er viel!)

aber als es um die Ressource Haushaltsmittel ging, hat er
nichts erreicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bei der F.D.P. – Frau Pieper wird gleich das wunder-
bare Modell vortragen –


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Vielen Dank, Herr Loske, Sie bestätigen es!)


kann man sich schon fragen: Wo war die Bildungspartei
F.D.P., als die Mittel für Bildung immer weiter zurückge-
fahren worden sind? Sie waren so lange an der Regierung
und haben das alles stillschweigend hingenommen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Jörg Tauss [SPD]: Die so genannte Bildungspartei! – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Denken Sie einmal an Herrn Möllemann als Bildungsminister!)


Ich komme zum zweiten Teil. Vom Kollegen Friedrich
ist Ehrlichkeit in dieser Diskussion gefordert worden. Wir
wollten ursprünglich eine stärkere Orientierung am Kri-
terium der Elternunabhängigkeit. Das Modell, das Sie
genannt haben, war unser Modell und hat auch im Koali-
tionsvertrag seinen Niederschlag gefunden. Wir haben es
in dieser Form nicht vollständig erreicht.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Noch nicht einmal im Ansatz, Herr Loske!)


Das ist völlig richtig, das muss man hier konzedieren. In-
sofern ist durchaus Selbstkritik angebracht.




Dr. Reinhard Loske

14983


(C)



(D)



(A)



(B)


Gleichwohl muss man sagen: Das, was wir hier vorle-
gen, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Vor
allen Dingen wird das BAföG endlich wieder als strategi-
sches Instrument der Bildungspolitik begriffen. Die Zah-
len sind von der Ministerin vorgetragen worden. Man soll
sich zwar nicht nur mit Zahlen aufhalten, aber sie sind
ganz interessant: Mehr als 1 Milliarde DM zusätzlich pro
Jahr wird für die Studentinnen- und Studentenförderung
mobilisiert. Das ist viel Geld.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Ausgaben werden gegenüber 1998 um 50 Prozent
erhöht. Soweit wir das heute abschätzen können – das
hängt natürlich davon ab, inwieweit dies Anklang findet –,
werden mit In-Kraft-Treten des Gesetzes zusätzlich über
80 000 junge Leute in der Ausbildung gefördert. Das kann
sich wirklich sehen lassen.

Genauso ist es – das hat die Ministerin bereits be-
schrieben – mit der Begrenzung der Gesamtdarlehens-
belastung auf 20 000 DM. Die Belastungsobergrenze
wird also gedeckelt. Dies gewährleistet ein Höchstmaß an
Sicherheit, Transparenz und Kalkulierbarkeit. Niemand
muss in Zukunft mehr Angst vor dem Schuldenberg da-
nach haben.

Es wird – auch das ist wichtig – eine verlässliche Stu-
dienabschlussfinanzierung geben. Wer sein Studium
nicht innerhalb der Regelstudienzeit beendet, wird unab-
hängig von den Gründen der Überschreitung für die
Dauer der Abschlussphase einen Anspruch auf Förderung
mit Bankdarlehen erhalten. Denn Biografien sind nicht
immer geradlinig. Es gibt gottlob immer noch Studentin-
nen und Studenten, die während des Studiums Spaß daran
finden, sich politisch zu engagieren, sich in Bürgerinitia-
tiven zu engagieren, sich in Tutorenprogrammen für aus-
ländische Studentinnen und Studenten zu engagieren. Ich
bin froh darüber, dass es so ist, auch wenn das Studium
dann etwas länger dauert. Diese Finanzierung der Ab-
schlussphase ist ein wichtiger Beitrag, um solchen krum-
men Biografien entgegenzukommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wichtig ist auch, dass sich die Studienbedingungen für
Studierende mit Kindern in der Form verbessern, dass
jetzt Erziehungsleistungen bis zum Alter der Kinder von
zehn Jahren angerechnet werden können.

Das Kriterium der Internationalität ist ebenfalls sehr
wichtig. Dadurch, dass das BAföG nach zwei Semestern
Studium in Deutschland in jedes andere EU-Land mitge-
nommen werden kann, wird die Internationalität unserer
Studentinnen und Studenten gefördert. So wird vor allen
Dingen – was bisher nicht der Regelfall ist – das interna-
tionale Studium auch für BAföG-Bezieherinnen und -Be-
zieher möglich. Mit diesem Beschluss nimmt Deutschland
in Europa eine Vorreiterrolle ein. Ich glaube, es ist sehr
wichtig, dass wir das Studium für unsere eigenen Studen-
tinnen und Studenten internationaler machen, indem wir
ihnen ermöglichen, ins Ausland zu gehen. Eine aber min-
destens ebenso wichtige Aufgabe ist es, dass wir unsere
Universitäten international attraktiver machen, dass wir

mehr Studentinnen und Studenten aus dem Ausland an un-
sere Universitäten holen. Das steht auf der Tagesordnung.
Darüber müssen wir in den nächsten Jahren reden.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Interdisziplinarität
von Studiengängen wird in Zukunft gefördert. Studierende
in Masterstudiengängen – so heißt es auf Englisch –, die
auf einem Bachelor aufbauen, erhalten künftig auch dann
BAföG, wenn der Masterstudiengang eine interdiszi-
plinäre Ergänzung darstellt. Hier wird ganz bewusst die In-
terdisziplinarität gefördert.

Der letzte Punkt: Das Gefälle beim BAföG zwischen
West und Ost ist eingeebnet worden. Das BAföG in Ost-
deutschland wird auf das Westniveau angehoben. Das ist
gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Angela Marquardt [PDS])


Für uns ist es sehr wichtig, parallel zu den Beschlüssen,
die wir heute mit den Stimmen der Union verabschieden,
ergänzend zur BAföG-Novelle ein elternunabhängiges
Bildungskreditprogramm aufzulegen. Dies ist ein inno-
vatives Element der Studienfinanzierung. Wenn Stu-
dentinnen und Studenten in einer bestimmten Lebenssi-
tuation zusätzliche Mittel für ihr Studium benötigen, ohne
eine Erwerbsarbeit aufnehmen zu wollen, dann ist dies ein
wichtiger Beitrag und kann Studienzeiten verkürzen. Wir
als Grüne glauben, dass man bei der Vergabe von Kredi-
ten unbedingt die Studentenwerke einbeziehen sollte;
denn sie haben eine Menge Erfahrung mit der Ab-
wicklung des BAföG. Sie sind in diesem Geschäft wich-
tige Partner.

Was uns zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen
der SPD im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zusätz-
lich gelungen ist, ist der nachweisabhängige Wohnzu-
schlag. Er ist erhöht worden, sodass wir insgesamt bei
1140 DM liegen. Die Ministerin hat es schon gesagt:
Wenn man das Kindergeld hinzurechnet, kommt man auf
1 400 DM. Das ist ein Budget, mit dem man ein Studium
bestreiten kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist uns gemeinsam gelungen!)


– Das ist uns in der Tat gemeinsam gelungen.
Wenn man zusammenfasst, was wir erreicht haben, so

kann man sagen: Die zentralen Elemente sind: weniger
Bürokratie, mehr Gerechtigkeit, mehr Internationalität,
mehr Interdisziplinarität und – das darf man ruhig sagen;
denn wie Goethe schon wusste: „Am Gelde hängt‘s, zum
Gelde drängt doch letztlich alles“ – eben mehr Geld. Das
ist ein großer Erfolg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will noch etwas zum Drei-Körbe-Modell der
F.D.P. sagen; die Kollegen von der F.D.P. werden es uns
sicher gleich noch einmal darstellen. Ich will natürlich
konzedieren, dass eine gewisse Verwandtschaft zu dem
BAFF-Modell des Kollegen Matthias Berninger besteht.




Dr. Reinhard Loske
14984


(C)



(D)



(A)



(B)


Aber wenn ich es mir mit dem unvoreingenommenen
Blick des Neulings vor Augen führe, dann muss ich schon
sagen: Sie haben es sich sehr einfach gemacht. Mir fiel,
nachdem sich die ganzen Regelungen dieses Gesetzent-
wurfes nur auf das BAföG beziehen, folgender Satz am
Schluss auf: „Die aus den genannten Neuregelungen fol-
genden Änderungen des Unterhalts-, Sozial- und Steuer-
rechts sollen von der Bundesregierung ebenfalls vorgelegt
werden“. Das ist keine komplette Regelung, sondern im
Grunde genommen in typisch möllemannscher Manier
ein Windei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Abschließend möchte ich sagen: Für uns ist es wichtig,
dass verschiedene innovative Elemente in das BAföG auf-
genommen worden sind. Es muss weiterentwickelt wer-
den. Wir glauben, dass wir in der Frage der Bildungsfinan-
zierung weiterarbeiten müssen. Das, was uns jetzt
gelungen ist, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Aber wir haben nicht umsonst den Rat zur Zukunft der
Bildungsfinanzierung ins Leben gerufen. Er wird seine Ar-
beit bald aufnehmen. In diesem Rat sollen alle Kompo-
nenten und Vorschläge für neue Konzepte geprüft werden.
Vor allen Dingen sollen sie – auch das ist bei der F.D.P.
nicht geschehen – in Einklang mit den Zielen Haushalts-
konsolidierung, Steuerreform und Familienförderung ge-
bracht werden.

Dieses Thema wird uns sicherlich erhalten bleiben.
Trotzdem können wir auf das, was wir heute gemeinsam
präsentieren, stolz sein. Es ist ein guter Tag für die Stu-
dentinnen und Studenten in Deutschland.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415300500
Ich erteile der Kolle-
gin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1415300600
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Es ist in der Tat bemerkenswert, dass wir
heute zur Bundesausbildungsförderung zwei Gesetzent-
würfe beraten: einen von der Bundesregierung und einen
von der F.D.P.-Bundestagsfraktion. Der Letzte ist eigent-
lich der bemerkenswertere Gesetzentwurf,


(Beifall bei der F.D.P.)

weil er eine echte Reform der Bundesausbildungsförde-
rung vorschlägt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsko-

alition, werden keinesfalls Ihrem Anspruch gerecht, eine
der wichtigsten Bildungsreformen – Sie selbst haben sich
vorgenommen, sie in dieser Legislaturperiode auf den
Weg zu bringen – durchzusetzen. Mit Ihrem Gesetzent-
wurf bleibt die Absicht einer echten BAföG-Reform auf
der Strecke.

Lassen Sie mich, bevor ich näher darauf eingehe, aus
einer der vielen Pressemitteilungen des Deutschen Stu-

dentenwerkes – da Sie unsere Argumente nicht hören
wollen, werden Sie doch wenigstens die Argumente der
Fachverbände und der Studenten interessieren – zitieren:

Mit Novellen allein lässt sich eine Studienförderung,
die den Anforderungen des nächsten Jahrtausends

– gemeint ist dieses Jahrtausend –
entspricht, nicht erreichen. Nur eine grundlegende
Reform der Ausbildungsförderung kann das Ruder
herumreißen ... Das Deutsche Studentenwerk fordert
erneut eine gerechte Ausbildungsförderung, die allen
Kindern aus allen Bevölkerungskreisen den Hoch-
schulzugang ermöglicht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Genau darin liegt der Knackpunkt, da die letzte Sozial-
erhebung deutlich gemacht hat, dass von 100 Kindern aus
einkommensschwächeren Schichten zurzeit noch 33 an
die gymnasiale Oberschule, aber nur acht an die Hoch-
schule kommen. Das ist das eigentliche Problem und das
lösen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf nicht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich möchte aus liberaler Sicht betonen, dass jeder

junge Mensch am Start seines Berufslebens die gleichen
Bedingungen vorfinden muss. Er muss die Chance erhal-
ten, unabhängig davon, aus welcher sozialen Schicht er
stammt, sich durch Leistung in der Ausbildung seinen ei-
genen Aufstieg erarbeiten zu können. Diesen Anspruch
auf Chancengleichheit erfüllt Ihr Gesetzentwurf nicht.
Auch andere wichtige Eckpunkte, wie die Stärkung der
Eigenverantwortung des jungen Menschen, finden in
Ihrem Gesetzentwurf keine Berücksichtigung. Ebenso
wenig tragen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf zu einem
Bürokratieabbau bei.


(Beifall bei der F.D.P.)

Lassen Sie mich auf die Chancengleichheit zurück-

kommen: Sie erhöhen zwar über eine 21. Novelle die Frei-
beträge und die Bedarfssätze, dies wird aber nur wenigen
Anspruchsberechtigten zugute kommen. Ich erinnere da-
ran: Im Berichtsjahr 1999/2000 wurden in den alten Bun-
desländern erneut weniger Fördermittel ausgezahlt. Wir
haben dort einen Rückgang um 1,5 Prozent zu verzeich-
nen. In den neuen Ländern war im gleichen Zeitraum zwar
ein Zuwachs von 9,9 Prozent festzustellen, aber die Ge-
fördertenquote ist auch dort gesunken. Das hängt mit den
schwierigeren sozialen Verhältnissen aufgrund einer sich
verschlechternden Wirtschaftslage zusammen. So ist bun-
desweit die Zahl der Förderungsfälle um insgesamt
2,3 Prozent zurückgegangen.

Wir sind bei der Beratung zu diesem Gesetzentwurf
von einer Gefördertenquote in Höhe von 13,4 Prozent
ausgegangen. Nach Ihrem Gesetzentwurf würden gerade
einmal 5 bis 6 Prozent mehr Personen Anspruch auf
Bundesausbildungsförderung haben. Somit erreichten Sie
eine Gefördertenquote von circa 20 Prozent. Damit kön-
nen Sie keine Chancengleichheit junger Menschen bei
ihrem Berufsstart erreichen.


(Beifall bei der F.D.P.)





Dr. Reinhard Loske

14985


(C)



(D)



(A)



(B)


Im Jahr der Einführung des BAföG hatten wir mehr als
doppelt so viele Anspruchsberechtigte, was zeigt, wie
stark die Gefördertenquote mittlerweile gesunken ist. Ich
muss zugeben, dass die F.D.P. an dieser Entwicklung nicht
ganz unschuldig war, weil sie dem damaligen Bildungs-
minister der Union gefolgt ist.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Es gab aber, Herr Tauss, auch andere Zeiten. Ich erinnere
daran, dass in der Amtszeit von Bundesbildungsminister
Möllemann die Bundesausbildungsförderung enorm auf-
gestockt worden ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Ein einziges Mal!)

Ich finde, wir sollten endlich aufhören, uns bei diesem

Thema gegenseitig Schuldzuweisungen zu machen.

(Beifall bei der F.D.P.)


Das bringt uns nicht weiter, da ein solcher Streit auf dem
Rücken der jungen Leute ausgetragen wird und uns in der
Sache nicht weiterhilft.

Ich will an dieser Stelle sagen: Die Reparaturnovelle,
die Sie vornehmen wollen, reicht nicht aus. Wir brauchen
endlich eine Systemumstellung. Nicht umsonst haben wir
eine Expertenanhörung im Bildungsausschuss durch-
geführt. Alle Experten – Herr Loske, ich sage Ihnen das
auch im Zusammenhang mit dem Unterhaltsrecht, Herr
Friedrich – haben uns bestätigt, dass es aus unterhalts-
rechtlicher oder verfassungsrechtlicher Sicht keine Vorbe-
halte gibt. Auch unter Berücksichtigung des neuen Urteils
des Bundesverfassungsgerichts wäre eine Systemum-
stellung möglich, soweit man sie politisch will.


(Beifall bei der F.D.P.)

Genau das ist der Punkt: Sie wollen es politisch nicht

oder Sie dürfen es nicht wollen, weil die Frau Ministerin
von ihrem eigenen Bundeskanzler zurückgepfiffen wor-
den ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Von unserem Bundeskanzler!)


– Jawohl, von Ihrem Bundeskanzler! – Solange in
Deutschland Bildungspolitik von den Regierungschefs
bzw. von den Finanzministern gemacht wird, so lange
wird sich nichts in Richtung einer wirklichen Bildungs-
reform bewegen lassen.


(Beifall bei der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Waigel!)


Wir brauchen ganz neue Koalitionen – das müssen Sie
endlich erkennen –, um eine Bildungspolitik à la F.D.P.
auf den Weg zu bringen.


(Beifall bei der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Wir haben doch eine gute Koalition!)


Lassen Sie mich nach der Chancengleichheit noch ein
Wort zur Eigenverantwortung junger Menschen sagen.
Ich halte es für unverständlich, dass junge Menschen
– immerhin handelt es sich um 20-Jährige, zum Teil auch
um 25- bis 30-Jährige – noch immer von ihrem Elternhaus
abhängig sind, weil man ihnen kein eigenes Ausbildungs-
geld zahlt, auf das sie meines Erachtens eigentlich einen

Anspruch haben. Wir haben vorgeschlagen, dass jedem
Auszubildenden, egal, ob er Student oder Berufsschüler
ist, der sich über den zweiten Bildungsweg qualifizieren
möchte, ein elternunabhängiges Ausbildungsgeld in Höhe
von 500 DM gezahlt wird.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das ist auch finanzierbar, wenn man die von mir ange-
sprochene Systemumstellung vornimmt, wenn man Aus-
bildungsfreibeträge, Steuerfreibeträge und das Kinder-
geld zusammennimmt, diese Gelder in die BAföG-Kassen
überführt und sie direkt an die Auszubildenden zahlt. Das
wäre ein wichtiger Beitrag, damit die jungen Leute in die-
sem Land mehr Eigenverantwortung übernehmen können.

Genau das sieht der F.D.P.-Gesetzentwurf vor. Das so
genannte Drei-Körbe-Modell – Sie haben es schon an-
gesprochen – setzt sich aus einem elternunabhängigen
Ausbildungsgeld, einer Ausbildungshilfe in Form eines
Zuschusses für Auszubildende, die aus besonders ein-
kommensschwachen Familien stammen, in Höhe von
350 DM und einem Darlehen von bis zu 750 DM zu-
sammen, das man nicht in Anspruch nehmen muss, aber
in Anspruch nehmen kann. Genau das ist der Punkt, Herr
Friedrich: Mit einem Gesamtbetrag von 1 600 DM mo-
natlich werden die jungen Leute natürlich elternunabhän-
gig. Dem Einzelnen stehen also nicht nur 500 DM Aus-
bildungsgeld monatlich zur Verfügung. 1 600DM sind ein
Betrag, mit dem man seinen Lebensunterhalt während des
Studiums finanzieren kann und der es einem ermöglicht,
auf das Jobben neben dem Studium zu verzichten. Das
war auch ein wichtiger Punkt unseres Gesetzesvorhabens.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir wollten gemeinsam erreichen, dass Studenten in

diesem Land ihr Studium wieder in der Regelstudienzeit
abschließen können, dass sie sich nicht auf ihren Neben-
job konzentrieren müssen, sondern dass sie sich ihrem
Studium widmen, um möglichst schnell ihren Abschluss
zu machen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Am 12. November 1998 hat die Bundesbildungsminis-

terin im Deutschen Bundestag angekündigt, die große Bil-
dungsreform komme in zwei Schritten: erstens Erhöhung
der Mittel für den Hochschulbau und zweitens eine
umfassende BAföG-Reform, durch die alle ausbildungs-
bezogenen staatlichen Leistungen in ein elternunabhän-
giges Ausbildungsgeld umgewandelt werden. Das waren
Ihre Worte, Frau Ministerin. So findet man es auch im
Koalitionsvertrag von Rot-Grün wieder. Aber das, was
Sie den jungen Menschen 1998 versprochen haben,
scheint für Sie Schnee von gestern zu sein.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Noch nie war ein Koalitionsvertrag so sehr Makulatur wie
zu Zeiten von Rot-Grün! Ich wiederhole: Bildungspolitik
wird in diesem Land wahrscheinlich noch immer zu sehr
von den Regierungschefs und von den Finanzministern
bestimmt. Solange das so ist, so lange verspielen wir die
Zukunft der jungen Generation.


(Jörg Tauss [SPD]: Bei Waigel waren Sie nicht einmal auf der Matte!)





Cornelia Pieper
14986


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Finanzierung einer echten Reform wäre möglich
gewesen, wenn man es politisch nur gewollt hätte. Die
jährlichen Darlehensrückflüsse in Höhe von rund 1,2Mil-
liarden DM gehören eigentlich in die Bundesausbil-
dungsförderungskasse und nicht in die Gesamtkasse von
Finanzminister Eichel. Auch diese Mittel könnten zur Ge-
genfinanzierung des von uns vorgeschlagenen BAföG-
Modells verwendet werden.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

Sie hören nicht auf die F.D.P.


(Hans-Werner Bertl [SPD]: Das fehlte noch, dass wir auf Sie hören!)


– Es ist Ihr Fehler, nicht auf uns zu hören. – Vielleicht
hören Sie auf die Hochschulrektorenkonferenz, aus deren
Stellungnahme ich zitieren möchte:

Die HRK ist deshalb unverändert der Auffassung,
dass ein grundlegender Systemwechsel vorgenom-
men werden muss, da das derzeitige BAföG-Modell
auch in novellierter Form die Anforderungen einer
breit angelegten, elternunabhängigen und effizienten
Studienfinanzierung nicht erfüllen kann. Die HRK
wird deswegen Grundlinien eines eigenen Ausbil-
dungsförderungskonzepts entwickeln.

Wir als F.D.P.-Fraktion werden diesen Weg weiterhin un-
terstützen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415300700
Ich erteile der Kolle-
gin Maritta Böttcher, PDS-Fraktion, das Wort.


Maritta Böttcher (PDS):
Rede ID: ID1415300800
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Friedrich, ich hatte
den Eindruck, Sie betreiben hier Ablasshandel. Ihre Poli-
tik wird nicht dadurch rehabilitiert werden, dass Sie dem
heutigen Gesetzentwurf zustimmen; denn die 16 Jahre Ih-
rer Regierung haben wirklich das Ergebnis gebracht, das
wir heute sehen.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Ohne diese 16 Jahre stünden Sie nicht hier, Frau Kollegin!)


Die Bundesregierung ist im Begriff, die Akte BAföG-
Reform abzuschließen und in ihr gut ausgestattetes Ar-
chiv der gescheiterten Reformprojekte zu geben. Die PDS
wird dies nicht hinnehmen. Wir werden dafür kämpfen,
dass die heutige BAföG-Debatte nicht der Ausstieg aus
der Reform, sondern der Einstieg in eine strukturelle Er-
neuerung der Ausbildungsförderung wird.


(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren von der Koalition, ich will

Ihnen die BAföG-Novelle nicht kleinreden. Wir erkennen
an, dass sich erstmals seit vielen Jahren die soziale Lage
Studierender nicht weiter verschlimmert, sondern dass sie
sich gravierend verbessert.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Damit will ich es aber auch bewenden lassen, wie Sie sich
denken können.

Es war eine Lösung zum Greifen nah. Zusätzlich zu
den vorliegenden Leistungsverbesserungen ließe sich
durch eine Neuordnung des Familienlastenausgleichs ein
wirklich elternunabhängiger Sockelbetrag für alle
Auszubildenden realisieren. Sie selbst, Frau Bulmahn,
haben mit der Forderung nach einer Zusammenfassung
von Kindergeld und Steuerfreibeträgen zu einer eltern-
unabhängigen Sockelförderung den Wahlkampf 1998 be-
stritten. Da lasse ich Ihnen nicht durchgehen, dass Sie sich
aus der Verantwortung stehlen, indem Sie sich auf die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen.
Allenfalls ergibt sich daraus – auch das ist rechtlich nicht
zwingend –, dass die Sockelförderung eine bestimmte
Mindesthöhe nicht unterschreiten darf.

Die PDS fordert daher eine elternunabhängige Sockel-
förderung von 500DM monatlich für alle Auszubildenden.


(Beifall bei der PDS)

Diese Sockelförderung stellt das Fundament für eine
strukturelle Erneuerung der gesamten Ausbildungsförde-
rung dar, die eine eltern- und partnerunabhängige, wirk-
lich bedarfsdeckende Grundsicherung für Studierende so-
wie Schülerinnen und Schüler gewährleistet. Studierende
aus Haushalten mit unterschiedlichen Einkommen müs-
sen in vollem Umfang auf Zuschussbasis gefördert wer-
den. Die Länge der Ausbildungsförderung muss den
tatsächlichen Ausbildungszeiten entsprechen. Oder sollen
es weiterhin die Studierenden ausbaden müssen, wenn
überfüllte Seminare und fehlende Laborplätze sie am Stu-
dienabschluss hindern?

Auch die Höhe des BAföG muss eine Konzentration
auf Studium und Ausbildung ermöglichen.


(Beifall bei der PDS)

Frau Ministerin, mit einem lustigen Studentenleben hat es
nichts mehr zu tun, wenn sich junge Frauen und Männer
die Nächte nicht vor, sondern als Kellnerinnen und Kell-
ner hinter dem Tresen um die Ohren schlagen müssen.
Wer nach Strafgebühren für Langzeitstudenten ruft, sollte
sich erst einmal mit der Lebensrealität von Studentinnen
und Studenten auseinander setzen.

Wir halten es daher für einen kapitalen Fehler der Bun-
desregierung, heute eine BAföG-Novelle zu verabschie-
den, ohne gleichzeitig die Gebührenfreiheit des Hoch-
schulstudiums bundesweit sicherzustellen.


(Beifall bei der PDS)

Ohne Studiengebührenverbot büßt Ihre BAföG-Novelle
erheblich an Wert ein.

Auch können wir es uns nicht weiter leisten, nur
28 Prozent eines Altersjahrgangs an die Hochschulen zu
lassen, während es in anderen Industrienationen weltweit
schon 40 Prozent sind. Sehr geehrte Frau Ministerin, auch
das Argument mit den Schuldenlasten der Vorgängerre-
gierung nutzt sich mit der Zeit ab.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber die Schulden sind trotzdem da!)





Cornelia Pieper

14987


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich halte es in dieser Frage mit dem Präsidenten der Hoch-
schulrektorenkonferenz, Klaus Landfried, der das Ge-
samtvolumen der BAföG-Ausgaben als „lächerlich und
nicht akzeptabel“ kritisiert hat. Recht hat der Herr
Landfried. Schauen Sie sich doch einmal den Bundes-
haushalt 2001 genauer an! Der Bund gibt im Jahr 2001
netto nicht einmal 200 Millionen DM für BAföG aus.


(Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Was? Woher haben Sie denn diese Zahl?)


– Ich kann Ihnen die Zahlen dann geben oder Sie fragen
mich später; ich habe jetzt nicht so viel Zeit. – Das ist in
der Tat lächerlich und nicht akzeptabel. Mehr als drei Vier-
tel der Ausgaben des Bundes für die Ausbildungsförde-
rung von Studierenden wird von ehemaligen Studierenden
getragen, die ihre Schulden abstottern. Es ist ein bildungs-
und sozialpolitischer Skandal, dass die Haushaltslöcher
von Herrn Eichel auf Kosten ehemaliger Studentinnen und
Studenten gestopft werden.


(Beifall bei der PDS – Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Das ist ja absurd, was Sie da erzählen!)


Tragen Sie wenigstens dafür Sorge, dass die Zahlungen
zweckgebunden, für eine Verbesserung der Ausbildungs-
förderung, eingesetzt werden. Das ist das Mindeste, was
wir von einer rot-grünen Regierung erwarten.

Der Kanzler hat vor einem Jahr ein Machtwort gespro-
chen und klargestellt, dass er – Koalitionsvertrag hin oder
her – keine Strukturreform der Ausbildungsförderung
will – basta! Sie haben sich diesem Machtwort unterge-
ordnet. Ich verstehe, dass das ein Stück weit wehtut; aber
es ist in der Tat so. Sie versuchen nun auf der Basis eines
systemimmanenten Reparaturkonzepts das BAföG zu
verbessern. Aber auch wenn ich mich auf diesen Rahmen,
den wir nie akzeptiert haben, einlasse, muss ich feststel-
len: Mancher gute Gedanke wurde von Ihnen nicht kon-
sequent genug umgesetzt.

Beispiel Darlehensdeckelung: Wir begrüßen es, dass
für künftige Studierende die Darlehenslast auf maximal
20 000 DM beschränkt werden soll. Aber warum gilt dies
nicht für Studierende, deren BAföG als verzinsliches
Bankdarlehen geführt wird? Wir halten es generell für
falsch, dass Studierende, die die Abschlussförderung in
Anspruch nehmen oder ihr Studium um ein Jahr verlän-
gern müssen, weil sie ihr Examen nicht bestanden haben,
nur noch ein Bankdarlehen erhalten. Das verzinsliche
Bankdarlehen ist ein systemwidriger Fremdkörper in ei-
nem Sozialleistungsgesetz wie dem BAföG und hat dort
nichts verloren.


(Beifall bei der PDS)

Dass diese Studierenden nun auch noch Schulden von
weit über 20 000 DM anhäufen müssen, verstärkt diese
Ungerechtigkeit noch.

Beispiel Altersgrenze: Warum halten Sie an der star-
ren Altersgrenze von 30 Jahren fest? Die F.D.P. möchte
die Altersgrenze sogar auf 27 Jahre senken. Was ist mit
Menschen, die auf Umwegen zum Hochschulstudium
kommen? Wie ernst nehmen Sie das in Sonntagsreden be-
schworene Prinzip des lebenslangen Lernens? Wie ver-

trägt es sich mit diesem Prinzip, dass Aufbau- und Vertie-
fungsstudiengänge weiterhin nicht gefördert werden?

Beispiel Behinderte: Warum sollen Studierende mit
Behinderungen weiterhin systematisch benachteiligt wer-
den?


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Ja, warum wohl?)

Diese Studierenden müssen ihre Ansprüche und ihren zu-
sätzlichen Bedarf nach dem Sozialgesetzbuch gegenüber
verschiedenen Trägern geltend machen. Die Bewilligung
dieser Leistungen ist an strengere Voraussetzungen als
beim regulären BAföG gebunden.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Pfui!)

Ich halte das für einen Verstoß gegen das Benachteili-
gungsverbot des Grundgesetzes.


(Beifall bei der PDS)

Die PDS unterstützt daher die Forderung des Deutschen
Studentenwerkes nach einer Integration der Vorschriften
zur Förderung von Studierenden mit Behinderungen
und/oder chronischen Krankheiten in das BAföG.


(Beifall bei der PDS)

Beispiel Schüler-BAföG: Warum lässt die Bundesre-

gierung die Schülerinnen und Schüler an weiterführenden
allgemeinbildenden Schulen und an Berufsfachschulen
im Regen stehen? Diese Schülerinnen und Schüler be-
kommen weiterhin nur dann BAföG, wenn sie nicht bei
ihren Eltern wohnen und notwendigerweise, etwa weil
keine Schule in der Nähe liegt, auswärtig untergebracht
sind. Nur eine kleine Minderheit von Schülerinnen und
Schülern wird gefördert und dabei soll es nach dem Wil-
len der Bundesregierung auch bleiben.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Pfui!)

Denken Sie auch an die jungen Menschen, die darauf

angewiesen sind, ihre berufliche Ausbildung außerhalb
des dualen Systems zu absolvieren, weil es, wie in Ost-
deutschland, einen strukturellen Lehrstellenmangel gibt.
Diese jungen Leute werden doppelt bestraft: Sie müssen
Ausbildungen durchlaufen, die aufgrund der fehlenden
betrieblichen Praxis als zweitklassig gelten, und sie be-
kommen weder Ausbildungsvergütung noch Ausbil-
dungsförderung.

Das Ausbildungsförderungsreformgesetz ist kein Re-
formgesetz, sondern eine weitere Reparaturnovelle.


(Beifall bei der PDS)

Es wäre daher ehrlicher, das Gesetz „21. BAföG-Novelle“
zu nennen. Gleichwohl stimmt die PDS-Fraktion dieser
Reparaturnovelle zu, weil die Situation vieler Studieren-
der, Auszubildender bzw. Schülerinnen und Schüler nach
dem 1. April 2001 besser als vor dem 1. April sein wird.
Diesem ersten Schritt müssen nun aber weitere folgen.
Stimmen Sie daher unserem Entschließungsantrag zu, mit
dem wir die Bundesregierung auffordern, diesen Weg zu
gehen. Denken Sie daran: Bildung ist Zukunft!


(Beifall bei der PDS)





Maritta Böttcher
14988


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415300900
Bevor ich die nächste
Rednerin aufrufe, habe ich das Vergnügen, auf der
Tribüne parlamentarische Kollegen begrüßen zu können.
Auf der Ehrentribüne hat fast die gesamte Hamburgische
Bürgerschaft mit ihrer Präsidentin Dr. Stapelfeldt Platz
genommen. Ich begrüße Sie herzlich.


(Beifall)

Ihr Besuch ist für uns im wahrsten Sinne des Wortes bei-
spiellos. Es ist in der Geschichte des Deutschen Bundes-
tages offenkundig das erste Mal, dass uns das Parlament
eines Bundeslandes in toto seine Aufwartung macht.


(Beifall)

Wir sind nicht so vermessen, zu glauben, dass Sie ge-

kommen sind, um sich bei uns Anregungen für Ihre par-
lamentarische Arbeit zu holen.


(Heiterkeit)

Umso mehr freut es uns, dass Sie den für echte Hanseaten
doch beschwerlichen Weg von der Waterkant ins Binnen-
land auf sich genommen haben,


(Heiterkeit)

um einmal nachzusehen, wie es uns in Berlin so geht.

Ich wünsche Ihnen für Ihre parlamentarische Arbeit al-
les Gute. Seien Sie herzlich willkommen!


(Beifall)

Nun erteile ich Kollegin Brigitte Wimmer, SPD-Frak-

tion, das Wort.


Brigitte Wimmer (SPD):
Rede ID: ID1415301000
Vielen Dank,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir be-
schließen heute das BAföG-Reformgesetz. Das ist ein
guter Tag für die jungen Menschen in unserem Land,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


nicht nur, aber vor allem für diejenigen, deren Eltern
niedrige oder mittlere Einkommen haben. Wir setzen mit
dieser BAföG-Reform ein klares Signal für Chancen-
gleichheit. Wir beenden endgültig den Niedergang des
BAföG, den CDU/CSU und F.D.P. zu verantworten ha-
ben. Wir bauen die Ausbildungsförderung neu auf und wir
geben das klare Signal: Es soll nicht mehr vom Einkom-
men der Eltern abhängen, ob junge Menschen studieren
können oder nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen und wir brauchen mehr junge Menschen,
die studieren können. Wir brauchen aber auch insgesamt
mehr junge Menschen, die qualifiziert ausgebildet wer-
den. Deswegen verbessern wir nicht nur das BAföG für
die Studierenden, sondern auch die Berufsausbildungs-
beihilfe, zu der nachher mein Kollege Walter Hoffmann
reden wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben inzwischen, verehrte Kolleginnen und Kol-

legen von der Opposition, in der Bildungs- und For-

schungspolitik Zeichen gesetzt und Dinge erreicht, von
denen Sie noch nicht einmal zu träumen wagten, lieber
Herr Kollege Friedrich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir begrüßen es, dass die CDU/CSU diesem Gesetz zu-
stimmen wird, und wir ertragen es mit großer Gelassen-
heit, Frau Kollegin Pieper, dass sich die F.D.P. kraftvoll
der Stimme enthalten wird.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Es bleibt Ihnen ja nichts anderes übrig!)


Nicht durchgehen lassen wir Ihnen allerdings Ihren
Versuch, sich als Retter oder Retterin des BAföG aufzu-
schwingen. Deshalb auch an einem bildungspolitischen
Freudentag: Ihre Politik und Ihre Parteien bleiben im Ge-
dächtnis der Menschen mit dem Abbau von Ausgaben für
Bildungs- und Forschungspolitik verbunden;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


sie bleiben mit dem Niedergang des BAföG verbunden,
lieber Herr Kollege Friedrich. Das kann ich Ihnen nicht
ersparen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Gucken Sie sich einmal die SPD-Bundesländer an! Wo sind denn die Bundesländer, die von der SPD regiert werden?)


Schauen Sie sich die Talsohle an, die Sie hinterlassen
haben. Das ist das Ergebnis 16-jähriger Regierungspolitik
von CDU/CSU und F.D.P.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu noch einmal die Zahlen: 1982 waren es 37 Pro-

zent der Studierenden, 1997 noch 17 Prozent der Studie-
renden, die BAföG erhalten haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da sehen Sie einmal, wie die Einkommen gestiegen sind!)


Die Bundesausgaben sind von 2,5 Milliarden DM 1992
auf 1,5 Milliarden DM 1998 gefallen.

Frau Kollegin Böttcher, es ist absurd, hier von
200 Millionen DM Ausgaben des Bundes zu reden.
Wir sind inzwischen wieder bei etwa 1,6 Milliar-
den DM angelangt. Ihre Zahlen sind nun wirklich Fan-
tasiezahlen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU und
der CSU, zu Ihrem Verweis auf die bösen Finanzminister
der Länder,


(Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Der trifft zu!)


die alles verhindert haben – ich freue mich, dass sich
heute Landespolitiker unter uns befinden –: Der Bund
trägt zunächst einmal die Verantwortung. Mir ist kein ein-
ziger heldenhafter Kampf Ihres früheren Ministers
Rüttgers für das BAföG bekannt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren nicht dabei! Sie waren zu der Zeit nicht im Bundestag!)







(C)



(D)



(A)



(B)


der an den bösen sozialdemokratischen Ländern geschei-
tert wäre. Sie haben nicht gekämpft und deswegen haben
Sie auch nichts erreicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind froh, dass wir einen Regierungschef und einen
Finanzminister haben, die begriffen haben, dass Bildungs-
politik und Investition in die Bildung die Zu-
kunftsinvestition überhaupt sind.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr Regierungschef hat Ihr BAföG-Modell abgelehnt! Ich gratuliere! Prost Mahlzeit!)


Wir haben viel mehr erreicht, als Sie sich jemals zu for-
dern getraut haben.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Frau Kollegin Pieper, die Rede, die Sie hier halten wer-

den, kann ich mir schon vorher ausmalen. Deshalb habe
ich überhaupt kein Problem, Ihnen zu sagen: Ja, wir woll-
ten die elternunabhängige Förderung, wir wollten das
Drei-Körbe-Modell und wir haben sogar lange nach dem
Urteil des Verfassungsgerichts zu prüfen versucht, ob wir
es bekommen können. Das Urteil des Verfassungsgerichts
war auch eine schallende Ohrfeige für die Politik, die Sie
uns hinterlassen haben. Wir mussten einfach feststellen:
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts war es nicht
mehr möglich – davon waren wir früher alle miteinander
ausgegangen –, die Zahlung dieses Ausbildungsgeldes auf
Studierende zu begrenzen. Wir müssen jetzt das Ausbil-
dungsgeld für alle Auszubildenden finanzieren.


(Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/CSU]: Das steht schon immer im Art. 3!)


– Ich kenne doch die Diskussionen. Kein Mensch hat in
den Diskussionen früher davon geredet. Wir alle sind da-
von ausgegangen, dass es zunächst einmal für die Studie-
renden gezahlt wird. Machen Sie sich doch jetzt nicht klü-
ger, als Sie damals waren. Wir haben ja alle dazugelernt.

Dieses Ausbildungsgeld verursacht Kosten in der
Größenordnung von 3 bis 4 Milliarden DM. Das wissen
Sie. Deswegen, Frau Kollegin Pieper, habe ich Ihren
Gesetzentwurf unseriös genannt. Nicht das Drei-Körbe-
Modell ist unseriös. Ich würde nie auf die Idee kommen,
so etwas zu formulieren. Ihr Gesetzentwurf ist unseriös,


(Beifall bei der SPD)

weil er überhaupt keine Antwort auf die Frage gibt, wie
das finanziert werden soll. Wir wollten nicht endlose De-
batten um Geld, das wir dann doch nicht bekommen, und
wollen dabei die Studierenden im Regen stehen lassen.
Das war Ihre Politik, das ist nicht unsere Politik.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415301100
Kollegin Wimmer,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper? –
Bitte.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1415301200
Verehrte Kollegin Wimmer,
stimmen Sie mir zu, dass die Bundesbildungsministerin

bei Regierungsantritt gesagt hat, dass sie die Zukunftsin-
vestitionen verdoppeln möchte? Und stimmen Sie mir zu,
dass der Bundeskanzler gesagt hat, er möchte das Drei-
Körbe-Modell nicht, weil er nicht verantworten könne,
dass die Eltern der Studierenden oder Auszubildenden
dann die Steuerfreibeträge nicht mehr zur Rückzahlung
der Raten für das Haus zur Verfügung hätten?


Brigitte Wimmer (SPD):
Rede ID: ID1415301300
Verehrte Kolle-
gin Pieper, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts be-
wirkte ja, dass wir bestimmte Dinge, die wir ursprünglich
machen wollten, nicht mehr machen konnten. Wir müssen
doch das Urteil des Verfassungsgerichts respektieren.
Dass wir die Ausgaben für Bildung und Forschung mas-
siv erhöht haben, das können doch nicht einmal Sie be-
streiten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Frage ist doch gar nicht beantwortet!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415301400
Noch eine Nachfrage
der Kollegin Pieper.


Brigitte Wimmer (SPD):
Rede ID: ID1415301500
Bitte schön.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1415301600
Herr Präsident, davon ab-
gesehen, dass meine Frage nicht beantwortet wurde, habe
ich eine Nachfrage.

Frau Kollegin Wimmer, wenn ich mich richtig erin-
nere, sind auch Sie dabei gewesen, als nach dem BVG-Ur-
teil die Expertenanhörung mit Steuerrechtlern und Ver-
fassungsrechtlern stattfand. Ich kann mich an keine
Aussage erinnern – man hat uns, im Gegenteil, in der Idee
dieses elternunabhängigen Ausbildungsgeldes bestärkt –,
dass es verfassungsrechtlich nicht umsetzbar oder steuer-
rechtlich nicht machbar sei. Würden Sie mir bitte einmal
Ihre Erinnerung schildern, um zu verdeutlichen, was Sie
meinen?


Brigitte Wimmer (SPD):
Rede ID: ID1415301700
Frau Kollegin
Pieper, Sie fragen mich nach etwas, was ich gar nicht be-
hauptet habe. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir,
wollten wir das verfassungskonform umsetzen, 3 bis
4 Milliarden DM benötigen würden und dass Sie mit
Ihrem Gesetzentwurf nicht die Antwort darauf geben, wo
wir diese 3 bis 4 Milliarden DM herbekommen.


(Beifall bei der SPD)

Deswegen ist Ihr Gesetzentwurf unseriös.

Wir wollten nicht fruchtlos streiten. Wir wollten für die
Studierenden die Situation sehr schnell verbessern. Wir
haben das gemacht. Wir haben gehandelt. Sie stehen mo-
sernd und meckernd in der Ecke; wir verbessern die Situa-
tion.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Sie wollten die Zukunftsinvestitionen verdoppeln!)


Deswegen noch einmal die zentralen Punkte, die wir
verbessern werden: Es gibt keine Anrechnung des Kin-
dergeldes beim BaföG mehr. Das Freibetragssystem wird




Brigitte Wimmer (Karlsruhe)

14990


(C)



(D)



(A)



(B)


vereinfacht, die Freibeträge werden deutlich angehoben.
Ab 1.April werden alle Bedarfssätze deutlich angehoben.
Diese Steigerung ist beträchtlich und kommt fast in die
Nähe dessen, was Sie beschreiben. Wir erreichen eine
Vereinheitlichung der Förderung in den neuen und den al-
ten Bundesländern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin sehr froh, dass wir das jetzt haben. Ich hätte es

gern schon früher gemacht.

(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Wir sind von Ihnen gescholten worden!)

– Nein, Sie sind nicht gescholten worden. Ihnen wurde
nur gesagt, dass wir es im Moment nicht können.

Wir haben eine dauerhafte Regelung hinsichtlich des
Studienabschlusses – das ist eine verlässliche Hilfe –, un-
abhängig von den Gründen, warum die Förderungsdauer
überschritten wird.

Ich bin besonders stolz darauf – deshalb möchte ich ein
wenig näher auf diesen Punkt eingehen –, dass wir die
Kindererziehungszeiten bei der Studienzeitverlänge-
rung besser berücksichtigen. Die Ausweitung der Förde-
rungsdauer, die bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes
möglich ist, ist ein ganz wichtiger Punkt, bei dem Sie völ-
lig versagt haben. Sie wollten lediglich eine Verlängerung
um ein Semester. Wir haben jetzt eine Regelung geschaf-
fen, die bis zur Vollendung des fünften Lebensjahres des
Kindes eine Verlängerung von einem Semester je Le-
bensjahr vorsieht.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Für das sechste und siebte Lebensjahr gibt es eine Verlän-
gerung um insgesamt ein Semester.


(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!)

Für das achte bis zehnte Lebensjahr gibt es noch einmal
eine Verlängerung um ein Semester. Insgesamt ist also
eine Verlängerung um sieben Semester möglich. Das ist
eine große familienpolitische Leistung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir halten keine Sonntagsreden.

(Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Aber vor der Wahl wurden von Ihnen Sonntagsreden gehalten! Das ist Wahlbetrug!)


Wir verbessern den Alltag von studierenden Eltern mit
Kindern. Das ist eine reife Leistung. Sie haben sich nie-
mals getraut, solche Forderungen aufzustellen. Wir haben
es aber geschafft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe nichts dagegen, dass Sie unserem Gesetzent-
wurf zustimmen. Ich will nur begründen, warum es rich-
tig ist, dass Sie zustimmen. Es ist richtig, weil unser Ge-
setz so gut ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Angelika Volquartz [CDU/ CSU]: Weil es unsere Eckpunkte sind!)


Ich nenne beispielsweise die Internationalisierung
und die EU-weite Mitnahme der Förderung. Frau Kolle-
gin Volquartz, ich will auf diesen Punkt genauer eingehen,
weil Sie nachher bestimmt darauf zu sprechen kommen.
Wir haben lange darüber diskutiert, ob das Studium
zunächst für zwei Semester im Inland durchgeführt wer-
den sollte. Wir haben Ihnen schon im Ausschuss gesagt
– ich unterstreiche diesen Punkt noch einmal –: Dies ist
die beste Regelung in ganz Europa. Aber wir sind offen
dafür, nach einer bestimmten Zeit zu überprüfen, ob es
vernünftig ist, diese zwei Semester im Inland vorzuschal-
ten. Wir sind in diesem Punkt nicht stur. Aber wir sind im
Moment der Meinung, dass diese Regelung vernünftig ist.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Als weitere Punkte nenne ich die Stärkung der Inter-

disziplinarität und die Begrenzung der Gesamtdarlehens-
belastung auf 20 000 DM. Auch in diesem Punkt haben
wir Ihnen bei der Diskussion im Ausschuss nachgewie-
sen, dass unsere Regelung für die meisten Studierenden
vorteilhafter und besser ist als das, was Sie fordern.

Wir haben den Menschen vor der Wahl 1998 verspro-
chen, dass wir für Innovation und für Gerechtigkeit sor-
gen. Das vorliegende BAföG-Reformgesetz bringt Er-
neuerung, stellt das Prinzip Chancengleichheit wieder in
den Mittelpunkt des politischen Handelns und sorgt für
Gerechtigkeit.

Ich war heute zahmer, als ich es sonst bin. Ich hätte
noch sehr viel mehr sagen können. Ich will zum Schluss
nur noch unterstreichen, was unsere Ministerin gesagt hat,
weil mir das außerordentlich wichtig ist: Wir alle sind auf-
gerufen, bei den jungen Menschen wieder um Vertrauen
für das BAföG zu werben. Die Ausbildungsförderung hat
wieder eine Grundlage, die dieses Vertrauen verdient. Es
liegt im Interesse von uns allen, dass die jungen Men-
schen ihr Recht und ihre Chancen wahrnehmen.

Deswegen sage ich noch einmal: Prima, dass die
CDU/CSU zustimmt; prima, dass die PDS zustimmt. Frau
Pieper, Ihr Problem ist, dass sich die F.D.P. mit ihrem un-
seriösen Gesetzentwurf in die Ecke stellt. Ich denke, es ist
ein guter Tag für die jungen Menschen und für die Chan-
cengleichheit in unserem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Wir wollen eine echte Reform! Das ist der Punkt! – Walter Hirche [F.D.P.]: Eine echte Sonntagsrede!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415301800
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Volquartz, CDU/CSU-Fraktion.


Angelika Volquartz (CDU):
Rede ID: ID1415301900
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst
ein Wort an Sie, Frau Böttcher, richten. Sie haben gesagt,
dass in den 16 Jahren unter der Kohl-Regierung alles den
Bach hinuntergegangen sei. Sie würden doch heute gar
nicht hier sitzen und in Freiheit reden können,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der PDS – Jörg Tauss [SPD]: Na, na! – Weiterer Zuruf von der SPD: Die Spitze der Revolution!)





Brigitte Wimmer (Karlsruhe)


14991


(C)



(D)



(A)



(B)


wenn es die Kohl-Regierung nicht gegeben hätte. Das ist
doch der Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Kohls Revolution! – Angela Marquardt [PDS]: Ich bin auf die Straße gegangen!)


Frau Kollegin Wimmer, Sie haben sich heute in der Tat
sehr zahm gegeben, obwohl Sie es in Ihrem Herzen gar
nicht wollten. Wenn Sie von Innovation und Gerechtigkeit
sprechen – das waren Ihre Versprechen vor der Wahl –,
dann müssen Sie auch hinzufügen, dass Sie diese Wahl-
versprechen gebrochen haben. Sie haben nämlich die el-
ternunabhängige Förderung versprochen und haben die-
ses Versprechen gebrochen. Die F.D.P. hat sich an das,
was sie gesagt hat, gehalten, Sie nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir sind doch darin einig, dass wir eine Reform brau-

chen. Unsere Fraktion hat von Anfang an realistische Zah-
len und realistische Vorschläge auf den Tisch gelegt. Sie
sind weiterhin bei Ihren Traumtänzereien aus dem Wahl-
kampf geblieben, obwohl Sie ganz genau wussten, dass
das nicht zu finanzieren ist.

Frau Wimmer, wenn Sie heute erklären, dass das nicht
zu finanzieren sei, weil es mehr als 4 Milliarden DM kos-
te, so muss ich Ihnen sagen: Sie haben doch vorher ge-
wusst, was eine solche elternunabhängige Förderung kos-
ten würde. Die Erklärung, die Sie abgegeben haben, ist
doch sehr mäßig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Haben Sie gewusst, was das Bundesverfassungsgerichtsurteil bringen wird? Das haben Sie nicht gewusst!)


Es ist richtig, Frau Ministerin, worauf Sie hingewiesen
haben – Frau Wimmer hat das wiederholt – , dass das Ver-
trauen der Schülerinnen und Schüler und der Studieren-
den nachhaltig zerstört worden ist. Ursache dafür ist vor
allem das nicht gehaltene Wahlversprechen, das Sie abge-
geben haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Wir haben heute einen Gesetzentwurf zu verabschie-
den, den wir schon vor einem Jahr hätten verabschieden
können; denn die Reform innerhalb des bestehenden Sys-
tems, also praktisch eine Fortführung der Politik von
CDU/CSU und F.D.P., die in den letzten 16 Jahren sehr er-
folgreich war, hätten wir längst haben können. Damit hät-
ten wir den Schülerinnen und Schülern und den Studie-
renden einen großen Dienst erwiesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich muss noch einmal auf die Chronologie zu sprechen

kommen. Herr Catenhusen, am 2. Dezember 1999 haben
Sie in einer Debatte hier gesagt:

Wir stehen mit dieser BAföG-Reform – gemeint ist
die strukturelle Reform – im Wort gegenüber den
Studierenden. Ich glaube, dass wir dieses Verspre-
chen auch einlösen werden.

Der Glaube reicht nicht. Es hat nicht funktioniert. Sie
haben es nicht eingelöst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


– Richtig.
Den hohen Erwartungen, die Sie im Wahlkampf ge-

weckt haben, mit denen Sie die Studierenden und die
Schüler zu ködern versucht haben als Sie versprachen,
eine BAföG-Strukturreform durchzuführen, sind Sie
nicht gerecht geworden. Deshalb sage ich noch einmal auf
Ihre Anmerkung hin, Frau Ministerin: Es ist wahrlich not-
wendig, dass Vertrauen zurückgewonnen wird, und zwar
in vielerlei Hinsicht.

Hier ist sehr viel von Finanzen gesprochen worden.
Wie hat Herr Loske gesagt? Die Ressource Finanzen hat
Jürgen Rüttgers nicht beherrscht. Dazu sage ich einmal
ganz deutlich: Ihre Unabhängigkeit von den Finanzen,
Frau Bulmahn, ist doch überhaupt nicht gegeben. Da
würde ich nicht Jürgen Rüttgers angreifen. Da müssen Sie
sich selber anschauen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Kanzler hat gesagt: CDU/CSU-Eckpunkte sind in

Ordnung. Basta, die werden genommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie und die Koalitionsfraktionen sich darauf be-
rufen – Frau Wimmer hat das eben noch einmal getan –,
dass Ihnen das Bundesverfassungsgericht mit seinen Be-
schlüssen zum Familienlastenausgleich einen Strich
durch die Rechnung gemacht hat, dann kann ich mich nur
wundern. Haben Sie je ernsthaft damit gerechnet, dass die
Länder und Ihr Bundesfinanzminister ein solches Modell
finanzieren können? Nein, aus der Erfahrung heraus
konnten Sie damit gar nicht rechnen.

Frau Ministerin, lassen Sie sich gesagt sein:
Klugheit ist Erkennen der Grenzen. Höchste Klug-
heit ist das Erkennen der eigenen Grenzen.

Das hat der Schriftsteller Carl Endres gesagt.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Ministerin, auch wenn Sie sich heute sehr mode-
rat gegeben haben, in der Vergangenheit haben Sie ge-
meinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen von Rot-
Grün keine Gelegenheit ausgelassen, die Grenzen der
alten Bundesregierung beim Thema BAföG aufzuzeigen.
Sie haben dabei bewusst eines verschwiegen – mein Kol-
lege Gerhard Friedrich hat schon darauf hingewiesen –:
Den Verlauf der Grenzen gestalteten sozialdemokratische
Länderfinanzminister ganz wesentlich mit. Das ist doch
ein wichtiger Punkt gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Auf den heldenhaften Kampf haben Sie ja schon hingewiesen!)


Mit dem Festhalten an der Utopie „Strukturreform“ ha-
ben Sie in jedem Fall – ich habe das schon deutlich ge-
macht – Zeit verschenkt. Zeit ist bekanntlich Geld, in die-
sem Falle verloren gegangenes Geld für Schülerinnen und




Angelika Volquartz
14992


(C)



(D)



(A)



(B)


Schüler sowie für Studierende, aber ein Gewinn für den
Finanzminister, der der eigentliche Bildungsminister ist;
Kollegin Pieper hat schon darauf hingewiesen.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Genau, so ist es! – Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein Finanzminister, der für Bildung ein Herz hat! Das ist der Unterschied!)


Frau Ministerin, ich kann es Ihnen nicht ersparen, Sie
mit der Chronologie dieser Debatte zu konfrontieren.
Noch am 26. Februar 1999 war Ihre wörtliche Aussage im
Parlament zur BAföG-Novelle:

Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres ein
entscheidungsreifes Konzept vorlegen ... und Freibe-
träge zu einer elternunabhängigen Förderung zusam-
menfassen.

Ich frage Sie: Können Sie eigentlich gut damit leben,
dass Sie das damals gesagt haben und dass das Ende des
Jahres von Ihrem Staatssekretär wiederholt wurde? Ihnen
waren doch die Beschlüsse des Bundesverfassungs-
gerichts längst bekannt. Sie hätten an dieser Stelle zur
Wahrheit neigen sollen. Das wäre Ihnen besser bekom-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Da sollten Sie vorsichtig sein bei Ihren schwarzen Konten!)


Es kommt noch besser – Herr Catenhusen, ich möchte
Sie mit einer Aussage, die Sie Ende des Jahres 1999, und
zwar am 2. Dezember 1999, gemacht haben, konfrontie-
ren –:

Sie
– die Debatte –

gibt uns aber keinen Anlass, von dem eingeschla-
genen Weg der gründlichen Vorbereitung einer struk-
turellen BAföG-Reform abzugehen ... Wir haben den
Ehrgeiz, unter schwierigen Umständen eine struktu-
relle Reform auf den Weg zu bringen.

Das war anderthalb Monate, bevor das „Basta!“ kam,
das intern längst auf dem Tisch lag. Obwohl klar war, dass
der jetzige Kanzler das heute berühmte „Basta“ sagen wird
und darauf dringen wird, dass die CDU/CSU-Eckpunkte
umgesetzt werden, haben Sie es weiter bei Ankündigungen
belassen und immer noch keinen Gesetzentwurf vorgelegt.

Es kommt noch besser: Im 13. BAföG-Bericht der
Bundesregierung, der am 4. Januar 2000 auf den Tisch ge-
kommen ist, sprechen Sie noch davon, dass Ende 1999 die
berühmten Eckpunkte vorliegen. Diesen Bericht hätten
Sie – in Kenntnis dessen, dass diese Eckpunkte nicht vor-
handen waren – doch gar nicht mehr herausgeben dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Ministerin, haben wir als

Opposition das Ziel nicht aus den Augen verloren. Wir
sind im November 1999 bei dieser Reform der Taktgeber
gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Oh, oh, oh!)


Nun findet sie endlich statt.

(Brigitte Wimmer lang haben Sie Ihr Ziel gesucht! – Jörg Tauss [SPD]: Immer auf der Suche nach dem Ziel!)


– Herr Tauss, hören Sie gut zu! – Wenn sie heute verab-
schiedet wird, dann sagen wir: Das ist ein vernünftiges
Reformprojekt,


(Jörg Tauss [SPD]: Da haben Sie Recht!)

so wie wir es von Anfang an gewollt haben.


(Lachen bei der SPD)

Es fällt mir gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kol-
legen leicht, das positiv zu sehen. Denn das Reformkon-
zept basiert auf unseren Eckpunkten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht auf Ihrer Politik!)


So hat die Bundesregierung zum Beispiel unsere For-
derung aufgegriffen, die Darlehenslast für Förderungs-
empfänger zu begrenzen. Das ist umso erfreulicher, als
der Antrag der Koalitionsfraktionen vom 14. März 2000
eine entsprechende Regelung noch nicht enthielt. Diese
Neuerung war notwendig, um die berechtigte Furcht ein-
kommensschwacher Familien vor Überschuldung abzu-
bauen. Denn – das einigt uns wieder – Bildung darf nicht
vom Geldbeutel der Eltern abhängen.

Die von der Bundesregierung gewählte Umsetzung der
Darlehensbegrenzung ist aus unserer Sicht jedoch frag-
würdig.Am Ende der Förderung – mein Kollege Gerhard
Friedrich hat vorhin schon kurz darauf hingewiesen –
wird die Darlehenshöhe bei 20 000 DM gekappt. Das
hört sich gut an, hat aber einen entscheidenden Haken
für überdurchschnittlich gut und schnell Studierende:
Die als Belohnung für herausragende Studienleistungen
eingeräumten Erlassbeträge kommen vielfach nicht zur
Geltung. Ein möglichst schnelles und erfolgreiches Stu-
dium ist die beste Voraussetzung, um in einen guten Be-
ruf hineinzukommen.

Herr Kollege Loske, es ist ja richtig: Die Studiendauer
ist zu lang und die Zahl der Studienabbrecher ist zu
hoch. Aber woran liegt denn das? Zum einen besteht in
früher sozialdemokratisch regierten Ländern bis heute
nicht der Wille, die zwölfjährige Schulzeit flächen-
deckend einzuführen. Statt dessen gibt es unverständliche
Abwehrübungen, obwohl auch diese Maßnahme zu einer
Verkürzung der Ausbildungszeit insgesamt bei-trägt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Das ist reine Ideologie!)


Zum anderen, Herr Loske, sind in den Schulen gerade
sozialdemokratisch regierter Länder schwere Ver-
säumnisse, was die Lehrinhalte und Leistungen betrifft,
zu verzeichnen. Dort wurde nach dem Motto: „Kinder,
singt und spielt“ gehandelt, anstatt Kinder mit Freude zur
Leistung zu motivieren. Aber genau das muss in den
Schulen getan werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Das ist ja absurd, was Sie da erzählen! Gehen Sie einmal Angelika Volquartz 14993 nach Baden-Württemberg! – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es aber ein bisschen arg!)





(C)


(D)


(A)


(B)


Wir können uns im Ziel wieder treffen, Herr Loske: Die
Gesamtausbildungszeit muss verkürzt werden.

Unser Vorschlag, eine monatliche Darlehensbegren-
zung von 400 DM festzulegen, hätte die gewünschten
Leistungsanreize bewirkt. Dazu gab es aber leider ein
Nein von den Regierenden.

Auch hier spricht natürlich wieder der Finanzminister.
Der Deckelungsansatz der Regierung wird erst im
übernächsten Jahrzehnt für den Haushalt relevant. Das be-
deutet im Klartext: Jetzt muss die Bundesregierung dafür
nicht zahlen. Soll doch eine spätere Regierung damit klar-
kommen. – Gut, wir nehmen die Herausforderung an. Wir
werden als Regierung damit klarkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann ist das? Im Jahre 2020? – Jörg Tauss [SPD]: Träumt weiter!)


Bedauerlicherweise haben Sie in dem Entwurf eine
wichtige Gruppe vernachlässigt – das, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Koalitionsfraktionen, bedauere ich
wirklich – nämlich die Gruppe der Waisenkinder. Der Ge-
setzentwurf erhöht die Freibeträge für Waisenrente und
Waisengelder um 6 Prozent. Im Vergleich zu den Er-
höhungen der Freibeträge für Einkommen der Eltern ist
dies gering. Das ist insofern ungerecht, als Waisenbezüge
Unterhaltsersatzleistungen sind und daher entsprechend
dem Elterneinkommen behandelt werden sollten. Man
kommt zu dem traurigen Ergebnis, dass der oder die
Waise von den Verbesserungen beim BAföG deutlich
stärker profitieren würde, wenn der verstorbene Elternteil
noch lebte. Das kann doch nicht sein. Ich bitte, an dieser
Stelle noch einmal nachzudenken.


(Beifall bei der CDU/CSU)

So bedauerlich die mangelnde Einsicht von Rot-Grün

in diesem Punkt ist, so sehr begrüßen wir die neuen Re-
gelungen zur Berücksichtigung von Kindererzie-
hungszeiten. Auch das war einer unserer wesentlichen
Eckpunkte und ist ein wichtiger Schritt pro Familie. Vor
allem die Frauen werden hiervon stark profitieren.
Ebenso erfreulich ist es, dass die Forderung von
CDU/CSU, das Kindergeld künftig bei der Einkom-
mensermittlung nicht mehr anzurechnen, in den Ge-
setzentwurf eingeflossen ist. Kindergelderhöhungen
wirken sich damit nicht mehr förderungsmindernd aus.
Das ist uns ein zentrales Anliegen.

Ein Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Än-
derungsvorschlägen der rot-grünen Fraktion. Wir be-
grüßen zum Beispiel die Internationalisierung der Förde-
rung, die bereits mehrfach angesprochen wurde. Die
Förderung eines Studiums im EU-Ausland auch bis zum
Abschluss zu Inlandssätzen ist ein richtiger Schritt in die
richtige Richtung. Dieser Schritt hätte aber noch größer
ausfallen müssen. Denn, Frau Wimmer, große Schritte
hätten hier auch große Erfolge bedeutet. Man hätte auf das
Erfordernis verzichten können, zunächst zumindest zwei
Semester in Deutschland zu studieren.

Wir müssen uns doch der Herausforderung stellen,
dass Studierende mehr und mehr auch die Bildungsange-
bote ausländischer Hochschulen wahrnehmen wollen und
müssen. Im Zuge des Zusammenwachsens Europas müs-
sen solche Bestrebungen gefördert werden. Das heißt vor
allem: Schaffung unkomplizierter und unbürokratischer
Auslandsförderung. Ich hoffe, dass wir schneller als ge-
plant zu einer Änderung an diesem Punkt kommen. Mit
etwas mehr Mut hätte hier ein deutlicheres Signal für das
Zusammenwachsen Europas gesetzt werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Ministerin, im Rahmen der ersten Lesung des Ge-

setzentwurfs haben Sie gesagt, die Oppositionsfraktionen
mögen mithelfen, dass, wie Sie dies ausgedrückt haben,
aus dem zukunftsweisenden Gesetzentwurf ein zukunfts-
weisendes Gesetz werde. Wir haben das als Bitte verstan-
den, konstruktiv etwas zur Verbesserung des ursprüngli-
chen Entwurfs beizutragen bzw. daran mitzuwirken. Dass
unsere Änderungsvorschläge, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, gänzlich unberücksichtigt geblieben sind, ist be-
sonders engherzig von der Koalition.

Wir sind allerdings großzügig.

(Zurufe von der SPD: Oh!)


Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Lange Rede, kurzer Sinn!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415302000
Ich erteile das Wort
dem Kollege Walter Hoffmann, SPD-Fraktion.


Walter Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1415302100
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man
könnte eigentlich sagen: Die Argumente sind ausge-
tauscht.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Genauso ist es! – HansMichael Goldmann [F.D.P.]: Sie müssen jetzt eine bemerkenswerte Rede halten!)


Es wiederholt sich jetzt einiges. Allerdings gibt es einen
Bereich, von dem ich meine, dass er bis jetzt eine unter-
geordnete Rolle gespielt hat.

Wenn man über BAföG redet, denkt man unwillkürlich
an Studentinnen und Studenten an den Hochschulen und
Fachhochschulen. In diesem Zusammenhang wird ver-
gessen, dass das BAföG auch für andere gilt,


(Beifall bei der SPD)

beispielsweise für Schülerinnen und Schüler an weiter-
führenden Schulen, wie Abendschulen, Berufsaufbau-
schulen, Berufsfachschulen sowie Fach- und Fachober-
schulen.

Das BAföG hat aber auch Auswirkungen auf Auszu-
bildende, die eine berufliche Ausbildung zum Beispiel im
Handwerk oder in der Industrie absolvieren, und auf Teil-
nehmer an einer berufsvorbereitenden Maßnahme der
Bundesanstalt für Arbeit.




Angelika Volquartz
14994


(C)



(D)



(A)



(B)


Diese Gruppen haben nach dem Sozialgesetzbuch III
Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe. Diese Be-
rufsausbildungsbeihilfe orientiert sich an den Regeln
des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Vorausset-
zung ist, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst be-
streiten und mit der Ausbildung verbundene Kosten
nicht selbst tragen können.

Ausbildungsgeld erhalten auch Behinderte, die einer
besonderen Förderung bedürfen und deshalb in einer spe-
ziellen Einrichtung für Behinderte, zum Beispiel in einem
Berufsbildungswerk, ausgebildet werden. Auch dieses
Ausbildungsgeld für Behinderte orientiert sich an den
Regelungen im BAföG.


(Beifall bei der SPD)

Es war, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe

Kolleginnen und Kollegen, immer Konsens in diesem
Haus, dass der Bund alle Formen der weiterführenden be-
ruflichen Bildung in den BAföG-Regelungen in analoger
Weise unterstützt hat. Eine Studentin soll und darf einer
Auszubildenden gegenüber nicht bevorzugt werden.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Richtig!)

Beiden muss es ermöglicht werden, unabhängig vom ei-
genen Einkommen oder dem der Eltern eine berufsquali-
fizierende Ausbildung zu absolvieren.


(Beifall bei der SPD)

Ich meine daher, dass es konsequent, bildungspolitisch
sinnvoll und gerecht ist, die mit diesem Ausbildungsför-
derungsreformgesetz erreichten Verbesserungen in der
Schüler- und Studentenförderung in gleichem Umfang
auf die Auszubildenden und die Teilnehmer an berufsvor-
bereitenden Maßnahmen auszudehnen. Das machen wir
hiermit.


(Beifall bei der SPD)

Unsere BAföG-Reform wird diesem Anspruch ge-

recht. Vom 1. August dieses Jahres an werden auch Lehr-
linge und sich auf den Beruf vorbereitende Jugendliche,
ob behindert oder nicht, von der Erhöhung der Einkom-
mensfreibeträge – im Durchschnitt 6 Prozent, wie wir
gehört haben –, von der Nichtanrechnung des Kindergel-
des, der Anhebung der Bedarfssätze und der Erhöhung der
Mietkostenpauschale profitieren. Das ist gut so.


(Beifall bei der SPD)

Diese Erhöhung war überfällig, wie wir alle wissen,

weil mit ihr die jahrelangen Versäumnisse der alten Ko-
alition endlich ausgeglichen werden. Ein Auszubildender
muss sich jetzt weniger Sorgen darüber machen, ob er
sich eine Ausbildung leisten kann oder nicht. Wir haben
erreicht, dass der Geldbeutel der Eltern nicht mehr über
die Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmt, wie
es Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regie-
rungserklärung am 10. November 1998 formuliert hat.
Damit haben wir ein weiteres unserer Wahlversprechen
eingelöst.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Zeiten sind vorbei, in denen die Ausgaben für die
Ausbildungsförderung real gekürzt wurden und immer

weniger Studierende und Auszubildende Unterstützung
erhielten. Sie gehören Gott sei Dank endlich der Vergan-
genheit an. Heute werden wir entscheidende Verbesse-
rungen nicht nur in der Leistungshöhe, sondern auch in
der Struktur der Förderung von Auszubildenden und
Teilnehmern an berufsvorbereitenden Maßnahmen durch-
setzen.

Wir entschlacken das SGB III von überflüssigen büro-
kratischen Regelungen, schneiden alte Zöpfe ab und glei-
chen die Regelungen in BAföG und SGB III stärker ein-
ander an.


(Peter Dreßen [SPD]: So etwas ist sinnvoll!)

Bestes Beispiel ist die Abschaffung der unterschiedlichen
Förderung von Auszubildenden nach Alter und Familien-
stand. Wir meinen, dass diese Kriterien sich längst über-
lebt haben und in der Praxis teilweise kontraproduktiv
wirken.

Statt etlicher unterschiedlicher Förderungsgruppen je
nach Alter, Familienstand und Ort der Ausbildungsstätte
– Ost oder West – schaffen wir nun eine bundeseinheitli-
che und übersichtliche Förderstruktur,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


die sachgerecht die Höhe der Berufsausbildungsbeihilfe
nur noch nach zwei Kriterien festlegt: Erstens. Wohnt der
Auszubildende bei den Eltern oder ist er auswärts unter-
gebracht? Zweitens. Absolviert er eine berufliche Ausbil-
dung oder nimmt er an einer berufsvorbereitenden Maß-
nahme teil?

In Zukunft ist es relativ einfach: Ein Auszubildender
in einer normalen beruflichen Ausbildung wird künftig
Studierenden an Fachschulen gleichgestellt und kann bis
zu 865 DM bekommen. Teilnehmer an berufsvorberei-
tenden Maßnahmen hingegen werden Berufsfach-
schülern gleichgestellt und erhalten künftig je nach Un-
terbringung zwischen 375 und 680 DM. Diese einfache
und klare Regelung wird es in Zukunft vielen Auszubil-
denden erleichtern, ihren Anspruch auf Förderung wahr-
zunehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, für die verheirateten oder
über 21 Jahre alten Teilnehmer an einer berufsvorberei-
tenden Maßnahme werden die Bedarfssätze allerdings
gekürzt. Dies ist aber aus unserer Sicht sachgerecht und
stellt eine strukturelle Veränderung der Berufsausbil-
dungsbeihilfe dar. Die Erfahrungen aus dem Jugendso-
fortprogramm JUMP haben gezeigt, dass die relativ ho-
hen Sätze in der Berufsvorbereitung den Übergang in eine
betriebliche oder außerbetriebliche Ausbildung in vielen
Fällen blockieren und ganz besonders heimatferne
Ausbildungsangebote unattraktiv machen. Es kann nicht
richtig sein, dass Jugendliche in der Berufsvorbereitung
mehr Geld erhalten als später in der anschließenden Be-
rufsausbildung. Das korrigieren wir jetzt.

Auch die Teilnahme an der JUMP-Maßnahme „Arbeit
und Qualifizierung für noch nicht ausbildungsgeeignete




Walter Hoffmann (Darmstadt)


14995


(C)



(D)



(A)



(B)


Jugendliche“ wurde sehr oft mit dem Hinweis auf die
höhere Entlohnung in der berufsvorbereitenden Bildungs-
maßnahme abgelehnt. Das ändern wir durch dieses Ge-
setz.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Tatsache ist auch: Es wird in Zukunft mehr Teilnehmer

an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen geben, die
Förderbeträge erhalten. In Zukunft wird vor allem das
Einkommen der Eltern und Ehegatten nicht angerechnet.

Mit dieser Reform werden wir weitere wichtige Ver-
besserungen umsetzen: Wir haben den Freibetrag für
Auszubildende bezüglich der Anrechnung der Aus-
bildungsvergütung weiter erhöht. Mit diesem Gesetz wer-
den wir zur weiteren Entschlackung den Bewilligungs-
zeitraum für die Berufsausbildungsbeihilfe und das
Ausbildungsgeld auf 18 Monate erhöhen, sodass der Aus-
zubildende in Zukunft nur noch zweimal während einer
regulären Ausbildung einen Antrag auf Förderung zu stel-
len braucht. Das entlastet die Betroffenen und bedeutet
eine erhebliche Erleichterung für die zuständigen Ämter
und Behörden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Berufsausbildungsbeihilfe kann in Zukunft wieder

durch Dritte aufgestockt werden. Besonders Bundeslän-
der, in denen heute schon ein Mangel an Auszubildenden
in vielen Berufen besteht, werden diese Möglichkeit zur
besseren Ausschöpfung des Ausbildungsstellenangebotes
und zur besonderen Förderung der regionalen Mobilität
nutzen.

Und: Zum Zwecke der Vereinfachung und der engeren
Anbindung der Förderleistungen nach dem SGB III fügen
wir Verweise ein, die künftige Erhöhungen beim BAföG
automatisch auf das SGB III ausdehnen.


(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich zusammenfassend noch einmal eine

Bewertung vornehmen: Diese Reform bedeutet Entbüro-
kratisierung und Verwaltungsvereinfachung. Sie stellt die
Betroffenen finanziell besser und macht sie unabhängiger.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: 20 Prozent!)

Sie realisiert mehr Gleichberechtigung zwischen berufli-
cher und allgemeiner Bildung


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und leistet einen entschiedenen Beitrag zur Verbesserung
der Qualifikation der jungen Menschen.


(Beifall bei der SPD)

Uns allen ist klar, dass wir die Herausforderungen der

Zukunft nur durch ein höheres Ausbildungsniveau erfolg-
reich bewältigen können, und deswegen ist es gut, dass
das Haus diesem Gesetzentwurf überwiegend zustimmt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1415302200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform
und Verbesserung der Ausbildungsförderung, Drucksa-
chen 14/4731 und 14/5276.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfes in
der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Stimm-
enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthal-
tung der F.D.P.-Fraktion angenommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion der PDS auf Drucksache 14/5279. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Stimmenthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion
der PDS abgelehnt worden.

Abstimmung über den Entwurf eines Bundesausbil-
dungsförderungsgesetzes der Fraktion der F.D.P. auf
Drucksache 14/2253. Der Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/5276, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2253 zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr die
Tagesordnungspunkte 15 a und b auf:

a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten

(Offenbach)

der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der friedlichen Nutzung der Kern-
energie – Zukunft der Entsorgung
– Drucksachen 14/1365, 14/5162 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr. Peter




Walter Hoffmann (Darmstadt)

14996


(C)



(D)



(A)



(B)


Paziorek, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Die Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie
für den Standort Deutschland
– Drucksachen 14/3667, 14/4569 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Kurt-Dieter Grill
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Zur Großen Anfrage liegt je ein Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P.
vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Horst Kubatschka, SPD-Fraktion, das Wort.


Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1415302300
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen
uns heute mit der Großen Anfrage der CDU/CSU „Zu-
kunft der friedlichen Nutzung der Kernenergie – Zukunft
der Entsorgung“. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich wahr-
lich Mühe gegeben und 139 Fragen zu Papier gebracht.
Sie hat sich viel Mühe gegeben für eine Technik des ver-
gangenen Jahrhunderts. Sie hat viel Zeit investiert in die
Vergangenheit. Sie macht sich immer noch die Hoffnun-
gen der 50er- und 60er-Jahre. Damals versprach uns die
Wissenschaft das Ende aller Energiesorgen. Kritische
Stimmen wurden nicht wahrgenommen. Ein Zeitalter des
Energieüberflusses wurde versprochen, sogar das Perpe-
tuum mobile schien in Form des Schnellen Brüters in
greifbare Nähe zu rücken.

Nur, die Hoffnungen der 50er- und 60er-Jahre haben
sich nicht erfüllt. Auf die Blütenträume der „Atome für
den Frieden“ fiel Raureif. Dieser Raureif hieß Harrisburg
in den USA, Tschernobyl in der ehemaligen Sowjetunion
und Tokaimura in Japan. Statt „Atome für den Frieden“
blieben uns ungelöste Probleme. Ich möchte nur zwei
schwerpunktmäßig aufgreifen: erstens das Restrisiko und
zweitens die Entsorgung.

Es gibt nach wie vor ein Restrisiko, das sich nicht ver-
nachlässigen lässt. Dem sehr geringen Risiko eines größ-
ten anzunehmenden Unfalls steht die Gefahr des maxi-
malen Schadens gegenüber. Man muss auch immer
wieder darauf hinweisen: Wir hinterlassen unseren Enke-
linnen und Enkeln eine strahlende Hypothek, eine wirkli-
che Belastung. Auch in Frankreich, Japan oder den Verei-
nigten Staaten von Amerika gibt es keine Lösung für die
Endlagerung. Die Wissenschaft hat keine endgültige Lö-
sung gefunden. Nicht einmal in der Theorie ist sich die
Wissenschaft einig. Von einem genehmigten Endlager
sind wir noch weit entfernt.

Eine Technik, die solche Zukunftsprobleme schafft, ist
eine Technik der Vergangenheit. Die Aufgabe lautet:

Mehr als 100 000 Jahre muss der Atommüll sicher ver-
wahrt werden. Nur um die Dimension darzustellen: In
Deutschland wird in diesem Jahr der 300. Geburtstag
Preußens gefeiert.

Wie Goethes Zauberlehrling haben wir in den 50er-
und 60er-Jahren den Besen aus der Ecke geholt. Der Zau-
berlehrling schöpft immer noch Atommüll und wir haben
noch keinen Meister, der diesen Besen in die Ecke ver-
bannt.

Mit den Antworten der Bundesregierung wird die
CDU/CSU – ich nehme an, auch die F.D.P. – nicht zufrie-
den sein. Die rot-grüne Regierung kann Ihnen auch keine
Antworten geben, die in Ihrem Sinne sind. Die richtige
Antwort lautet: Die rot-grüne Regierung und die sie tra-
genden Fraktionen wollen kontrolliert aus der Kernener-
gie aussteigen; nicht in einem Jahr, wie manche Umwelt-
verbände fordern. Wir werden den Ausstieg kurz- und
mittelfristig angehen. Damit geben wir ein Beispiel, wie
eine Hightech-Nation aus einer überholten Technik der
Vergangenheit, der die CDU/CSU und die F.D.P. anhän-
gen, aussteigt. Die Kernenergie in ihrer jetzigen Konzep-
tion ist überholt.

Wir haben vereinbart, im Konsens mit den EVUs aus-
zusteigen. Es wird aber auch Zeit, dass wir im Konsens
ein Stück vorankommen. Die EVUs sind aufgefordert, die
Konsensvereinbarungen zu unterschreiben und damit
den entscheidenden nächsten Schritt zu machen.

Von den Kernkraftbefürwortern wird auch immer wie-
der behauptet, dass Deutschland allein aus der Kernener-
gie aussteigen will. Deutschland ist auf diesem schwieri-
gen Weg des Ausstiegs nicht allein. Es wird immer wieder
vergessen, dass die Mehrheit der EU-Staaten gar nicht in
die Kernenergie eingestiegen ist oder sich ebenfalls auf
dem Ausstiegspfad befindet.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Russland will 40 neue Kernkraftwerke bauen!)


– Ich habe von der EU gesprochen und Russland gehört
nicht dazu. Die gehen denselben Irrweg wie Sie, Herr
Kollege. Mich freut es weniger, dass Sie den gemeinsa-
men Weg mit Russland für den richtigen Weg halten.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,

Ihre Große Anfrage ist in manchen Teilen irreführend,
denn eine Zukunft der friedlichen Nutzung der Kernener-
gie wird es in Deutschland nicht geben.

Nun möchte ich mich dem CDU/CSU-Antrag „Die
Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie für den Stand-
ort Deutschland“ zuwenden. Schon einige Feststellungen
des Antrages sind fragwürdig. Einige Beispiele möchte
ich aufführen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Atomkraft-
werke muss angezweifelt werden. Niemand würde heute
aus Gründen der Wirtschaftlichkeit ein Kernkraftwerk
bauen. Sie sind einfach zu teuer. Es gibt auch keine posi-
tive Entwicklung zu neuen, inhärent sicheren Kernkraft-
werken. Die jetzigen Konzeptionen bedeuten keine in sich
sicheren Kernkraftwerke. Gäbe es diese, hätten wir noch
immer ein Problem, nämlich das der Entsorgung.




Präsident Wolfgang Thierse

14997


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir wollen die Kernkraftwerke auch nicht durch
Kohlekraftwerke ersetzen, wie Sie behaupten.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sondern?)

– Der Dreiklang heißt – damit beantworte ich Ihr „Son-
dern?“ –: Energie sparen, Energieeffizienz und erneuer-
bare Energien. Diese drei Möglichkeiten sind die Fix-
punkte der zukünftigen Energiepolitik.

Einiges haben wir schon auf den Weg gebracht – ich
möchte drei Beispiele aufzählen –:


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das ist der Zauberbesen!)


Das 100000-Dächer-Programm für die Photovoltaik hat
einen enormen Schub für diese Technik gebracht. Damit
wollen wir die Kosten für den Strom aus Photovoltaikan-
lagen senken und für die Anlagenhersteller eine Langzeit-
perspektive entwickeln. Die notwendigen Produktionska-
pazitäten werden aufgebaut. Dies ist eine Technik der
Zukunft.

Manche Kernkraftwerksfreaks unterstellen uns, dass
wir Kernkraftwerke durch die Photovoltaik ersetzen woll-
ten. Das ist nicht der Fall und in absehbarer Zeit sicher-
lich auch nicht möglich. Dass aber Photovoltaik bei In-
selversorgung bereits heute wirtschaftlich ist, wird
niemand ernsthaft bestreiten. Diesen Weg werden wir
weitergehen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Deutschland zur Insel machen!)


Auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Teil
dieses Konzeptes. Dieses Gesetz ist ein voller Erfolg.
Ohne dieses Gesetz wären in Deutschland 20 000Arbeits-
plätze vernichtet worden. Das Erneuerbare-Energien-Ge-
setz hat in Deutschland die Windkraft gerettet, nachdem
das Stromeinspeisungsgesetz nicht mehr wirksam war.
Durch dieses Gesetz stieg die Stromproduktion aus Wind-
kraft von 5,5 Milliarden Kilowattstunden in einem Jahr
auf 9,2 Milliarden Kilowattstunden. Das sind fast 2 Pro-
zent der Stromerzeugung in Deutschland. Vor zehn Jahren
wäre das noch völlig unvorstellbar gewesen und als Uto-
pie bezeichnet worden.

Ähnliche Entwicklungen werden wir auch bei der Bio-
masse erleben. Hier eröffnet sich für die Landwirtschaft
eine neue Zukunftschance. In die Zukunft schauende
Landwirte haben diese Chance bereits erkannt, haben sie
genutzt und werden sie verstärkt nutzen. Ich möchte allen
Bürgerinnen und Bürgern danken, die auf diesem Weg
Fantasie und Unternehmungsgeist bewiesen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit ihnen werden wir es schaffen, in zehn Jahren den An-
teil der erneuerbaren Energien in Deutschland zu verdop-
peln. Damit haben wir eine einheimische Energiequelle
gesichert und Zehntausende von Arbeitsplätzen für die
Zukunft geschaffen.

Ich habe nur wenige Beispiele von unserem Konzept
ausgeführt. Wir haben die ersten Schritte gemacht, wei-
tere werden folgen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Atomenergiean-
hänger werden behaupten, diese Maßnahmen würden nur

durch Subventionen ermöglicht. Um es klar zu sagen:
Ohne Subventionen lassen sich erneuerbare Energien
nicht auf dem Markt durchsetzen. Damit verhält es sich
genauso wie mit der Kernenergie in der Vergangenheit.
Auch sie musste hoch subventioniert gegen die Braun-
und Steinkohle durchgesetzt werden. Wären wir nicht in
die Sackgasse der Kernenergie gelaufen, wären wir auf
dem Gebiet der erneuerbaren Energien, der Energieeffizi-
enz und der Energieeinsparung bedeutend weiter.

In Ihren Antragsforderungen schreiben Sie auch vom
Entsorgungsnachweis; die Entsorgung solle gewährleistet
werden. Dazu möchte ich Folgendes anmerken: Seit Be-
ginn der kommerziellen Nutzung der Kernenergie haben
wir uns etwas vorgemacht. Für uns war ein Kernkraftwerk
entsorgt, wenn der Abtransport in eine Wiederaufberei-
tungsanlage erfolgte. Die Wiederaufbereitungsanlage war
also der Entsorgungsnachweis. Tatsache ist: Die Wieder-
aufbereitungsanlage hat die Entsorgung eher erschwert
und verteuert. Deswegen werden wir die Wiederaufberei-
tung beenden.

Kein Kernkraftwerk in Deutschland ist wirklich ent-
sorgt. Es gibt keine Endlager. Allein aus diesem Grund
müssen wir aus der Kernenergie aussteigen. Die Kern-
energie ist eine Technik der Vergangenheit, der die
CDU/CSU und die F.D.P. anhängen.

Im Rahmen dieser Debatte möchte ich einige kurze
Ausführungen zum Kernkraftwerk Temelin in der Tsche-
chischen Republik machen. Seit Jahren beschäftige ich
mich mit diesem Thema. Das Kraftwerk liegt nicht weit
– circa 60 Kilometer – von der deutschen Grenze entfernt.
Ich möchte der tschechischen Regierung nicht in ihren
Verantwortungsbereich hineinreden, möchte aber beto-
nen: Als Nachbar wären wir bei einem GAU betroffen.
Dies ist die Lehre von Tschernobyl.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die radioaktiven Belastungen, die freigesetzt werden, hal-
ten sich bekanntlich nicht an Grenzen, höchstens an fran-
zösische Grenzen.

Unsere tschechischen Nachbarn müssten sich wegen
des Kernkraftwerkes Temelin große Sorgen machen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Dies hat der Probebetrieb bewiesen. Bei einer Belastung
von circa 35 Prozent kam es unter anderem zu Schwierig-
keiten an der Turbine, also im konventionellen Teil. Nur
zur Erinnerung: Der GAU in Tschernobyl wurde ebenfalls
durch einen Schaden im konventionellen Bereich der An-
lage ausgelöst. Die tschechische Regierung wäre also gut
beraten, im Interesse ihrer Bevölkerung Temelin nicht an
das Netz zu nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Doch auch hier zeigt sich, dass es besser ist, gar nicht erst
in die Kernenergie einzusteigen.


(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters)





Horst Kubatschka
14998


(C)



(D)



(A)



(B)


Zum Schluss möchte ich zusammenfassend sagen: Die
CDU/CSU-Fraktion hat fleißig Fragen im Zusammen-
hang mit einer Technik der Vergangenheit gesammelt. Es
wäre zukunftsweisender gewesen, wenn sie sich in einer
Großen Anfrage mit den erneuerbaren Energien auseinan-
der gesetzt hätte. Aber bei diesen Fragen sitzt sie be-
kanntlich im Bremserhäuschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415302400
Ich gebe
dem Kollegen Dr. Peter Paziorek für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.

Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU) (von Abgeordneten
der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die im Januar endlich vorge-
legte Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage
zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, insbesondere
zur Entsorgung, ist in höchstem Maße unbefriedigend. Sie
lässt kein konkretes Konzept der Bundesregierung hin-
sichtlich der Entsorgung radioaktiver Abfälle erken-
nen. Die Tatsache, dass die Anfrage, die der Bundesregie-
rung im Juni 1999 – also vor mehr als eineinhalb Jahren –
vorgelegt wurde, erst jetzt beantwortet wird, zeigt, wie
schwer sich die Bundesregierung tut, Antworten auf drän-
gende Fragen zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei dem Eiertanz, den Umweltminister Trittin in den

letzten beiden Tagen im Zusammenhang mit den Trans-
porten von Hanau nach Frankreich veranstaltet hat, wird
deutlich: Die ideologische Verblendung früherer Jahre
fällt heute auf die Verantwortlichen in der Regierung
zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist wohl unbestritten: Auch derjenige, der gegen den

Weiterbetrieb deutscher Atomkraftwerke ist, muss heute
verbindlich sagen können, wo er den atomaren Abfall la-
gern will. Die rot-grüne Bundesregierung hat ohne Not
den seit 1979 geltenden Entsorgungskonsens zwischen
Bund und Ländern aufgekündigt. Trotz der Beantwortung
der Großen Anfrage bleibt die Bundesregierung den Be-
weis dafür schuldig, warum sie das bisherige Entsor-
gungskonzept für gescheitert erklärt hat. Die Bundesre-
gierung hat in der Beantwortung unserer Anfrage kein
schlüssiges Entsorgungskonzept vorgelegt.

Man muss sich einmal vorstellen: Sie hat das alte Ent-
sorgungskonzept aufgehoben und spricht heute nur da-
von, dass sie zurzeit einen Entsorgungsplan vorbereitet,
der die Untersuchung weiterer Standorte vorsieht. Für
Gorleben spricht sie ein Moratorium aus, obwohl sie zu-
gestehen muss, dass keine Erkenntnisse vorliegen, die die
Realisierung eines Endlagers am Standort Gorleben aus-
schließen würden. Wie unglaubwürdig Umweltminister
Trittin bei seinem Entsorgungskurs geworden ist, wird da-
durch deutlich, dass er gestern im Bundestag unterstellte,
Gorleben sei von der Vorgängerregierung nur deshalb
ausgesucht worden, weil die Lage an der innerdeutschen

Grenze politisch gut gewesen sei. Aber er hat im gleichen
Atemzug verschwiegen, dass er als Umweltminister noch
vor Kurzem eine Erklärung paraphiert hat, aus der her-
vorgeht, dass Gorleben unter sachlichen Gesichtspunkten
als Endlager geeignet ist. Herr Präsident, mit Ihrer Ge-
nehmigung möchte ich aus der Anlage 4 zu der Verein-
barung zwischen der Bundesregierung und den EVUs
zum Salzstock in Gorleben zitieren:

Die analytisch bestimmten Hebungsraten des Salz-
stockes lassen erwarten, dass im Hinblick auf mögli-
che Hebungen auch in sehr langen Zeithorizonten

(größenordnungsmäßig 1 Million Jahre) nicht mit

hierdurch verursachten Gefährdungen zu rechnen
ist. Es wurden keine nennenswerten Lösungs-, Gas-
und Kondensateinschlüsse im Älteren Steinsalz ge-
funden. Die bisherigen Erkenntnisse über ein dichtes
Gebirge und damit die Barrierefunktion des Salzes
wurden positiv bestätigt.

Diese Vereinbarung mit den EVUs hat die Bundesre-
gierung paraphiert. Trotzdem tut man im Deutschen Bun-
destag so, als ob die Bundesregierung nicht zugegeben
hätte, dass der Salzstock Gorleben – wie sagen die Berg-
leute? – höffig und geeignet ist. Das ist unredlich. Damit
beschädigen Sie in großem Maße Ihre sachliche Autorität,
Herr Bundesumweltminister.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Walter Hirche [F.D.P.]: Man stoppt das, damit man nicht noch neue positive Erkenntnisse kriegt!)


– Herr Kollege Hirche, das ist der eine Grund. Man stoppt
das auch, damit man aus den Begründungsschwierigkei-
ten, in denen man bezüglich der eigenen rot-grünen Basis
steckt, herauskommt. Das ist der tatsächliche Grund.

Obwohl also Endlagerstätten existieren, deren Eignung
und Sicherheit außer Frage stehen, und Milliardenbeträge
in die Endlagerprojekte Konrad und Gorleben investiert
wurden, erzwingt nun diese Bundesregierung die Erkun-
dung alternativer Standorte. Hier wird Kapital vernichtet,
was für eine ideologiegeprägte Politik leider kennzeich-
nend ist.

In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU
erklärt die Bundesregierung – das muss man sich einmal
vor Augen führen –, dass ein Endlager erst im Jahre 2030
zur Verfügung stehen soll. Man muss die Bundesregie-
rung fragen, wie sie darauf kommt. Man könnte genauso
gut am bisherigen Ziel festhalten, demgemäß ein Endla-
ger schon im Jahr 2010 zur Verfügung stehen sollte. Die
Antwort auf die Frage, warum man daran nicht festhält,
kann doch nur in der Ideologie liegen. Man kann nur dann
den Ausstiegskurs begründen, wenn man, wie es Herr
Kubatschka vorhin getan hat, sagt: Es steht im Augenblick
noch kein Endlager zur Verfügung.

Die Politik wird unredlich, wenn man gleichzeitig sagt:
Wir unternehmen auch nichts, damit bis zum Jahre 2010
oder 2015 ein Endlager zur Verfügung steht. Wir sagen
schon heute definitiv: Uns reicht es, wenn ein Endlager
erst im Jahre 2030 zur Verfügung steht. – Was soll das?
Will man bis dahin mit Zwischenlagern und Übergangs-
genehmigungen arbeiten? Herr Kubatschka, Ihr Kurs ist




Horst Kubatschka

14999


(C)



(D)



(A)



(B)


in höchstem Maße unverantwortlich und muss deshalb in
diesem Hause gerügt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Haben Sie schon einmal etwas von Abklingzeiten gehört?)


– Herr Kubatschka, es scheint doch so zu sein, dass man
sich auf das Datum 2030 deshalb festgelegt hat, weil


(Horst Kubatschka [SPD]: Rot-Grün noch immer regiert!)


diese Bundesregierung und diese rot-grüne Koalition die
große Hoffnung haben, dass dann all die Protestierer und
Blockierer alt und gebrechlich sind und nicht mehr in der
Lage sein werden, sich irgendwo auf die Schienen zu set-
zen. Das ist der Grund, warum Sie sich auf das Datum
2030 geeinigt haben. Sie haben keine Konzepte und ver-
schieben deshalb die Entscheidung auf den Sankt-Nim-
merleins-Tag.


(Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Im Jahr 2030 können Sie vielleicht regieren!)


– Ich bin 2030 sicherlich nicht mehr Mitglied dieses Hau-
ses. Den Ehrgeiz habe ich nicht.

Ich halte das Verhalten der Bundesregierung nicht nur
unter aktuellen Gesichtspunkten für unverantwortlich. Ich
halte dieses Verhalten – das muss ich klar und deutlich sa-
gen – auch gegenüber den kommenden Generationen für
in höchstem Maße unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich verstehe überhaupt nicht, woher Sie, die jetzige Ge-
neration, die moralische Berechtigung nehmen, die not-
wendigen Entscheidungen zu blockieren, sie auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag und damit auf die zukünftigen
Generationen zu verschieben. Genau das tun Sie, wenn
Sie beschließen, dass ein Endlager erst im Jahre 2030 zur
Verfügung stehen muss.


(Horst Kubatschka [SPD]: Wo gibt es denn ein Endlager?)


Dieses Verhalten deckt sich überhaupt nicht mit der ewig
moralisch angesäuerten Politik, die Sie betreiben. Ich
halte Ihr Verhalten in höchstem Maße für unverantwort-
lich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Man muss deutlich sagen, dass Deutschland seine in-

ternationale Vorreiterrolle im Bereich der Entsorgung
und der Sicherheitsvorsorge durch Ihre Politik verlieren
wird. Deutschland wird – das ist ganz klar – seine Rolle
als international anerkannter, kompetenter Gesprächs-
partner und Impulsgeber im Bereich der Weiterentwick-
lung der Kernenergie einbüßen. Deutschland wird – die-
sen Anspruch hat es bisher erhoben – bei der sicheren
Ausgestaltung der Kernkraftwerke in unseren europä-
ischen Nachbarländern nicht mehr mitreden können.
Auch das halte ich moralisch für nicht tragbar.

Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung im
Rahmen der Entsorgung radioaktiver Abfälle stellen so-

mit keinen Zugewinn an Sicherheit dar. Die Übergangs-
genehmigungen für die so genannten beweglichen Zwi-
schenlager, jetzt zum Beispiel in Baden-Württemberg
ausgesprochen, sind in höchstem Maße rechtlich bedenk-
lich. Man muss sich einmal vorstellen, unter der Bundes-
umweltministerin Frau Merkel wäre vom zuständigen
Bundesamt für Strahlenschutz die Genehmigung erteilt
worden, dass außerhalb der genehmigten Zwischenlager
auf dem Gelände der Kraftwerke bewegliche Zwi-
schenlager in Eisenbahnwaggons eingerichtet werden
könnten; dann wäre ein Aufstand durch diese Republik
gegangen.

Sie versuchen jetzt mit allen juristischen Klimmzügen,
auf diese unverantwortliche Position nicht hinweisen zu
müssen, weil Sie genau wissen, dass das überhaupt nicht
mit den Positionen übereinstimmt, die Sie über Jahre hin-
weg eingenommen haben. Aber Sie stehen jetzt in der Ver-
antwortung und erkennen, dass Sie mit all dem, was Sie
über Jahre als rot-grüne Position verteidigt haben, nicht
klarkommen. Aus diesem Grunde sind Sie sogar bereit,
aus meiner Sicht in höchstem Maße rechtlich bedenkliche
Übergangsgenehmigungen für bewegliche Zwischenla-
ger auszusprechen. Dies kann unter keinem Gesichts-
punkt toleriert werden, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit der Nichtinbetriebnahme des genehmigungsfähi-

gen Endlagers Konrad ergeben sich absehbar schwer
wiegende Engpässe für die Entsorgung, insbesondere für
Abfälle aus der Medizin, dem Gewerbe und der Industrie.
Die Bundesregierung steht somit eigentlich vor der poli-
tisch wichtigen Aufgabe, nach den Vereinbarungen mit
der Atomindustrie die Entsorgung des Atomabfalls zu ge-
währleisten und damit gegen die eigene Anhängerschaft
durchzusetzen. Aber die Diskussion bei den Grünen zeigt
Folgendes: Die Geister, die Sie in den vergangenen Jah-
ren gerufen haben, werden Sie nicht mehr los. Sie haben
im Kampf um die politische Macht bürgerkriegsähnliche
Zustände angezettelt. Heute richtet sich Ihr falsches Ver-
halten gegen Sie. In Ihrer Hilflosigkeit im Umgang mit Ih-
rer eigenen Basis greifen Sie nun zum nackten Opportu-
nismus.


(Christoph Matschie [SPD]: Warum denn „nackt“?)


Sie stellen für 2030 ein neues Endlager in Aussicht,
müssen bis dahin auf jeden Fall mit Provisorien arbeiten
und tun dies ohne Rücksicht auf Langfristfolgen. Um die
aus Ihrer Sicht politisch missliebigen Transporte zu ver-
meiden, gehen Sie so weit, die Abklingbecken der betrof-
fenen kerntechnischen Anlagen vorübergehend auch als
Zwischenlager anzuerkennen. Ihre Auslegung des Atom-
rechts ist äußerst fragwürdig. Sie ist aber eindeutig kon-
zeptlos und von purem Opportunismus geprägt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Horst Kubatschka [SPD]: Sie werfen uns also vor, dass wir nicht verstopfen?)


– Sie verstopfen ganz gewaltig. Ich kann Ihnen nur eines
deutlich sagen, Herr Kubatschka: Ihr früherer Castor-
kampf entwickelt sich jetzt eindeutig zu einem Entsor-
gungskrampf. Genau so muss man im Augenblick die




Dr. Peter Paziorek
15000


(C)



(D)



(A)



(B)


rechtliche Situation beschreiben. Ihre eigene Basis rebel-
liert gegen Sie. Das gilt auch für die Transporte, die uns
noch im März beschäftigen werden. Dazu gibt es interes-
sante Positionen: Der Bundesvorsitzende der Grünen,
Herr Kuhn, zeigt Sympathie für Demonstrationen.

Dann stellt sich natürlich die große Frage, ob die Kon-
zeptionslosigkeit der Bundesregierung in der Entsor-
gungsfrage ihre Fortsetzung in der Frage der Transporte
von Hanau nach Frankreich findet. Dabei, meine Damen
und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen sich
nach der Diskussion des gestrigen Tages heute zumindest
zwei Fragen: Erstens. Herr Minister, gibt es für alle Brenn-
elemente aus Hanau eine Genehmigung zur Wiederaufbe-
reitung in Frankreich? Zweitens. Wenn nein, wann wurde
der Bundesregierung bekannt, dass eventuell gar keine
Wiederaufbereitungsgenehmigung vorliegt, und gibt es
auch Überlegungen in der Bundesregierung für einen sol-
chen Fall, diesen rechtlichen Zustand durch Zurückholen
zu heilen?

Man muss sich einmal vorstellen, dass es einen Trans-
port von radioaktiven Stoffen durch Deutschland mit dem
Ziel gibt, dass sie zur Wiederaufbereitung ins Ausland ge-
bracht werden. Dafür sind auch Genehmigungen des zu-
ständigen Bundesamtes erteilt worden. Auch ist unbestrit-
ten, dass zum Beispiel von der Cogema Erklärungen
vorliegen, dass die Stoffe von ihr übernommen und
tatsächlich zur Wiederaufbereitung in Frankreich benutzt
würden. Pressemeldungen des gestrigen Tages zeigen
aber eindeutig, dass diese Wiederaufbereitungsgenehmi-
gung bisher gar nicht vorliegt. Selbst der zuständige Mit-
arbeiter Ihres Hauses sagt der „Berliner Zeitung“, das sei
völlig neu. Wenn das Material nicht aufgearbeitet werde,
was nicht beabsichtigt sei, dann sei das überhaupt kein
Reststoff mehr, sondern nur noch Abfall.

Stellen Sie sich einmal vor, in Deutschland hätte in der
Zeit, als Frau Merkel Umweltministerin war, ein Trans-
port zum Zwecke der Wiederaufbereitung stattgefunden,
ohne dass eine Wiederaufbereitungsgenehmigung vorge-
legen hätte! Durch die grüne Basis und die rote Formation
wäre ein Aufschrei gegangen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Jetzt geht er durch die schwarze Basis!)


Wir sind immer der Ansicht gewesen, Herr Kubatschka,
dass das alles ganz klar an die atomrechtlichen Vorausset-
zungen gebunden ist, was bedeutet, dass die rechtlichen
Voraussetzungen eingehalten werden müssen.


(Zuruf von der SPD: Da haben Sie Recht!)

Diese Feststellungen müssen Sie sich gefallen lassen. Auch
heute stellt sich ganz klar die Frage, ob Transporte stattge-
funden haben, für die es keine ausreichende rechtliche Ge-
nehmigungsgrundlage gegeben hat. Diesbezüglich muss
die Bundesregierung in der Öffentlichkeit für Klarheit sor-
gen. Das ist notwendig, damit das Vertrauen in einer solch
wichtigen Angelegenheit wieder hergestellt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der F.D.P.)


Bei dieser Anfrage geht es aber nicht nur um die Entsor-
gung, sondern auch um den Klimaschutz. Aufgrund von

Erklärungen der Bundesregierung der letzten Tage muss
man ganz deutlich sagen: Der Klimaschutz stagniert in
Deutschland, er ist sogar rückläufig; alles, was die Bundes-
regierung Ende des vergangenen Jahres zur Klimaschutz-
politik in Deutschland erklärt hat, hat sich in Schall und
Rauch aufgelöst; die Entwicklung ist leider äußerst negativ.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Bundes-
regierung immer nur auf irgendwelche Klimaschutzkon-
ferenzen kurzfristig und hektisch vorbereitet und dass ihr
die tatsächlichen Entwicklungen gar nicht bekannt sind.
Der Bundesumweltminister stocherte am vorvergangenen
Wochenende hilflos herum, nachdem bekannt geworden
war, dass der CO2-Ausstoß – unter einer rot-grünen Bun-desregierung! – zum ersten Mal seit Jahren wieder zuge-
nommen hat. Der CO2-Ausstoß ist in der Regierungszeitvon CDU/CSU und F.D.P. seit 1990, also über Jahre hin-
weg, reduziert worden. Im vergangenen Jahr ist es in
Deutschland zum ersten Mal wieder zu einem CO2-An-stieg gekommen.

Was war vom Bundesumweltminister zu hören? – Ein
hilfloses Stochern im Nebel seiner eigenen Klimaschutz-
versprechen und dann ein sehr schwaches Protestieren ge-
genüber der heimischen Wirtschaft, indem er sagte, es
dränge sich nun der Verdacht auf, dass die deutsche Wirt-
schaft die Selbstverpflichtungserklärung nicht mehr ein-
halte. Was war der wahre Grund für den CO2-Anstieg? –In den neuen Bundesländern sind zwei moderne Braun-
kohlekraftwerke ans Netz gegangen; aufgrund einer guten
wirtschaftlichen Konjunktur im vergangenen Jahr ist der
Stromverbrauch angestiegen und damit ist die Menge der
in den beiden modernen Kraftwerken in den neuen Bun-
desländern verwendeten Braunkohle größer geworden.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Energiewirtschaft gehört auch zur Wirtschaft!)


Anstatt jetzt deutlich zu sagen, Frau Hustedt, welches
sinnvolle Konzept man hat, um die Klimaschutzpolitik
mit einer sinnvollen Strukturpolitik für die Weiterent-
wicklung der neuen Länder zu verbinden, praktiziert der
Bundesumweltminister ein pauschales Abwatschen und
Abstrafen, weil er gar nicht in der Lage ist, darzulegen,
wie eine saubere, neue Strukturpolitik für die östlichen
Bundesländer mit einer sinnvollen Klimaschutzpolitik in
Einklang gebracht werden kann. Ein solcher Weg wäre
gut und zukunftsweisend gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Man kann ganz klar und deutlich sagen: Herr Minister

Trittin, wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie – das
ist traurig – eine Belastung für die deutsche Klimaschutz-
politik.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist er schon!)


– Auf diesen Zuruf habe ich fast schon gewartet.

(Horst Kubatschka [SPD]: Haben Sie das trainiert?)

Ich habe selbst erlebt, wie Herr Trittin es genossen hat,

von den Vertretern der deutschen Wirtschaft für seine
Äußerungen vor der Klimaschutzkonferenz in Den Haag




Dr. Peter Paziorek

15001


(C)



(D)



(A)



(B)


zur Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Wirt-
schaft gelobt zu werden. Er hat mit den Erfolgen der deut-
schen Wirtschaft in Sachen Selbstverpflichtungser-
klärung geglänzt und gesagt: Dieser Weg ist richtig, den
wir weiterhin gehen müssen; die deutsche Wirtschaft ist
in dieser Hinsicht vorbildlich. Jetzt, ein paar Wochen nach
Den Haag, passiert es, dass die CO2-Daten aufgrund derwirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern an-
ders aussehen. Daraufhin hat dieser Bundesumwelt-
minister am Sonntagabend im deutschen Fernsehen er-
klärt: Jetzt kann man wieder sehen, dass die deutsche
Wirtschaft von ihrer Selbstverpflichtungserklärung ab-
rückt; darüber muss man einmal nachdenken. – Wie will
man mit einem solchen Bundesumweltminister eine wirk-
lich sinnvolle, langfristige und gute Klimaschutzpolitik
machen? Ich kann Ihnen sagen: Nach den Äußerungen der
letzten Tage sehen wir dafür überhaupt keine Chance.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415302500
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht nun die
Kollegin Michaele Hustedt.


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415302600

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Herr Paziorek fordert uns auf, endlich zu sagen, wohin mit
dem Atommüll. Ich finde das ziemlich unverschämt.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Sie sollten einmal darüber nachdenken, wie Ihr Konzept
zur Entsorgung des Atommülls jahrzehntelang ausgese-
hen hat. Sie haben jahrzehntelang Atomkraftwerke betrie-
ben, ohne jemals ein solides Entsorgungskonzept vorzu-
legen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Peter Paziorek [CDU/ CSU]: Das kann doch nicht wahr sein!)


Die Grünen sind nicht dafür verantwortlich, dass wir in
diesem Land Atomkraftwerke betreiben, Sie sehr wohl.

Wir stehen jetzt in Regierungsverantwortung und über-
nehmen die Aufgabe, mit Ihrer Altlast umzugehen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ich habe doch Gorleben zitiert!)


Das tun wir sehr ernsthaft. Diese Bundesregierung muss
die Folgen Ihrer verfehlten Energiepolitik aufarbeiten.
Nicht nur diese Bundesregierung, sondern auch viele wei-
tere Generationen werden damit zu tun haben. Auch des-
wegen ist es eine Unverschämtheit, wenn Sie hier die Ver-
antwortung gegenüber zukünftigen Generationen ins
Spiel bringen.

Mit den atomaren Altlasten geht diese Regierung so
vernünftig um, wie es sich schon früher gehört hätte. Dazu
gehört erstens, dass wir die Menge des noch zu behan-
delnden Atommülls durch den Atomkompromiss begrenzt
haben,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


ein sehr wichtiger Punkt und die Voraussetzung für alles
Weitere. Deswegen fordere ich die Stromkonzerne sehr
deutlich auf, diesen Kompromiss endlich zu unterschrei-
ben und nicht weiter hinauszuzögern. Es gab lange Ge-
spräche und es ist wirklich Zeit, dass wir die Sache end-
gültig rund machen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt ist: Wir werden die Wiederaufbe-
reitung beenden. Die Wiederaufbereitung war und ist
nach wie vor eine illegale Zwischenlagerung, weil näm-
lich die Brennelemente nicht wieder eingesetzt werden
können. Es ist keine Wiederaufbereitung, sondern nur
eine Umwandlung von Müll, durch die mehr Müll ent-
steht, als vorher vorhanden war.

Dieser Weg wurde von Ihnen nur deshalb eingeschla-
gen, weil die Atomkraftwerke sonst keinen Entsorgungs-
nachweis gehabt hätten und dann sofort vom Netz hätten
gehen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Drittens minimieren wir die Zahl der Transporte, in-
dem wir Zwischenlager vor Ort schaffen, sodass der Müll
nicht unsinnigerweise transportiert werden muss; denn
bei jedem Transport gibt es im Endeffekt ein Restrisiko.
Der Müll soll, solange wir kein Endlager haben, an den
Atomkraftwerken verbleiben können.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Genau dieses Konzept ist von den Grünen in der Vergangenheit immer abgelehnt worden!)


Dies ist im Übrigen auch wirtschaftlicher. Von daher ha-
ben wir dabei auch die Unterstützung der Stromkonzerne.
Zu den wenigen, die noch dagegen sind, gehört zum Bei-
spiel die bayerische Staatsregierung, die sich mit ihrer Po-
litik zunehmend isoliert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Viertens suchen wir jetzt in der Form ein Endlager,
wie es sich auch schon zu Ihrer Regierungszeit gehört
hätte. Sie haben die Erkundung des Endlagers Gorleben
ohne solide gesellschaftliche Diskussion begonnen. Wir
haben seit dem 1. Oktober 2000 ein Moratorium für Gor-
leben. Wir haben einen Arbeitskreis gegründet, der erst
einmal in einer gesellschaftlich breiten Diskussion Krite-
rien für die Suche nach einem sinnvollen Endlager ent-
wickelt. Später wird auch Gorleben wieder mit in die Dis-
kussion kommen. Von daher wird hier nichts vernichtet.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Warum konnten Sie denn nicht weiter?)


– Weil es richtig ist, erst einmal die Kriterien gesell-
schaftlich zu diskutieren. Warum haben Sie denn vor Ort
keine Akzeptanz für das Endlager?


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Weil Sie den Leuten Unsinn erzählen!)


Weil es keine gesellschaftlich breite Diskussion über die
ausreichenden Kriterien für ein Endlager mit großer Ak-
zeptanz gegeben hat.




Dr. Peter Paziorek
15002


(C)



(D)



(A)



(B)


Das müssen wir jetzt nachholen und das holen wir
nach. Wir haben in der Tat noch etwas Zeit, weil – Herr
Paziorek, das müssten Sie wissen – die Brennstäbe erst
abklingen müssen. Man kann sie zurzeit noch gar nicht
endlagern.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Dann braucht ihr doch auch die Endlagersuche in Gorleben nicht zu stoppen!)


Deswegen können wir jetzt die gesellschaftliche Debatte
über sinnvolle Kriterien nachholen. Dann werden wir
auch über die Frage entscheiden, was ein mögliches End-
lager in Deutschland sein könnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Kurz und gut: Die Bundesregierung geht sehr verant-
wortlich mit den Altlasten, die Sie uns überlassen haben,
mit dem radioaktiven Müll um und ich hoffe, dass wir in
Zukunft ein solides Entsorgungskonzept für den Atom-
müll bekommen werden.

Meine Damen und Herren, der potenzielle Kanzler-
kandidat Herr Schäuble hat in einem Interview der „Wo-
che“ angekündigt, er wolle mit Substanz in den Wahl-
kampf gehen. Was die Energiepolitik betrifft, müssen Sie
aber noch einiges nacharbeiten; denn Ihrerseits gibt es
kaum Konzepte. Vielleicht hilft Ihnen die Enquete-Kom-
mission ein Stückchen weiter. Im Grunde verdecken Sie
mit Ihren ewigen, langweiligen Atomdebatten, dass Sie
kein Klimaschutzkonzept haben, um den Treibhauseffekt
zu begrenzen.

Es ist in der Tat richtig, Herr Paziorek, dass die CO2-Emissionen im letzten Jahr erstmals wieder gestiegen
sind. Mir ist aber entgangen, dass das damit zusammen-
hängt, dass ein Atomkraftwerk vom Netz gegangen ist. Es
ist nur Ihre Behauptung, dass wir, wenn wir nicht aus der
Atomkraft aussteigen würden, das Klima bewahren könn-
ten. Es ist kein Atomkraftwerk vom Netz gegangen und
trotzdem gibt es wieder steigende CO2-Emissionen. Dasheißt, diese Entwicklung muss wohl noch mit anderen
Dingen zusammenhängen. In Ihrer Zeit haben wir die
CO2-Emissionen reduzieren können, weil vor allen Din-gen in Ostdeutschland die Wirtschaft zusammengebro-
chen ist.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist doch zigmal widerlegt worden!)


In Westdeutschland sind die CO2-Emissionen nicht ge-sunken, sondern während Ihrer Regierungszeit sogar ge-
ringfügig angestiegen. Es gab zwar eine Entkoppelung,
aber es gab keine Reduktion. Das bedeutet, dass Sie in Ih-
rer Regierungszeit keine aktive Klimaschutzpolitik ver-
folgt haben,


(Walter Hirche [F.D.P.]: Sehr wohl! Hier sind nämlich die Anlagen hergestellt worden, um den Osten wieder aufzubauen!)


die für die Reduktion der CO2-Emissionen ursächlich ist,sondern dass lediglich das Abschalten von energieintensi-
ven Industrieanlagen die Ursache für die sinkenden CO2-Emissionen in Deutschland gewesen ist.

Der Atomausstieg trägt, im Gegenteil, aus meiner
Sicht zu einer zügigen Klimaschutzpolitik bei, und zwar
weil die Atomenergie einer der Hauptgründe dafür ist,
dass wir im Klimaschutz nicht vorankommen. Man sieht
aus der Diskussion um die Kraft-Wärme-Koppelung, dass
wir aus der Monopolzeit große Überkapazitäten haben.
Wenn man große Überkapazitäten hat, ist die Bereitschaft
zu investieren außerordentlich gering. Dann ist auch die
Bereitschaft, in die neue Generation der Kraftwerkstech-
nologien zu investieren, außerordentlich gering; dann
steht alles still. Man wird beim Klimaschutz nur außer-
ordentlich schwer weiterkommen – das ist jetzt die De-
batte um die Kraft-Wärme-Koppelung –, weil man gegen
bestehende Kapazitäten moderne Klimaschutztechnolo-
gien in den Markt bringen muss. Deswegen macht der
Atomausstieg den Weg frei,


(Walter Hirche [F.D.P.]: Der ist genau zum falschen Zeitpunkt!)


um tatsächlich moderne Klimaschutztechnik in der Ge-
meinschaft auch mit den Stromkonzernen und mit der
Energiewirtschaft insgesamt voranzubringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen sind Atomausstieg und Klimaschutz kein Wi-
derspruch, sondern, im Gegenteil, der Atomausstieg ist
eine Voraussetzung für den Klimaschutz.

Wie wäre es denn, statt die leidige Atomdebatte oder
Ökosteuerdebatte zum hunderttausendsten Mal zu führen,
ohne dass wir einen Deut weiterkommen, einmal mit ei-
ner qualifizierten Debatte über Zukunftsenergien,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ihr kommt ja nicht weiter! Ihr steht doch gegeneinander!)


über die Frage von Brennstoffzellen, über die Frage von
virtuellen Kraftwerken und über die Frage von intelligen-
ten Netzen, die die dezentrale Stromerzeugung miteinan-
der verknüpfen, zu beginnen, sodass auch durch eine
dezentrale Energieerzeugung auf der Grundlage von er-
neuerbaren Energien, beispielsweise Brennstoffzellen,
Grundlast und Spitzenlast gefahren werden könnten?


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die IG BCE macht doch nicht mit!)


Ich warte auf Ihre Konzepte.

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sie können gegen die Bergleute in Nordrhein-Westfalen nichts unternehmen! Deshalb scheitert das doch!)


Wir steigen in eine moderne Energiewirtschaft ein. Wir
haben ein Gesetz für erneuerbare Energien auf den Weg
gebracht, das einen ungeheuren, noch nie da gewesenen
Investitionsboom in Deutschland hervorgerufen hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bei Wind, Photovoltaik und Biomasse ist die Situation so,
dass wirklich Geld in die Hand genommen wird, sodass




Michaele Hustedt

15003


(C)



(D)



(A)



(B)


wir das Ziel der Verdoppelung des Anteils der erneuerba-
ren Energien in zehn Jahren nicht nur erreichen – ich bin
optimistisch –, sondern sogar weit übertreffen werden.
Wir haben einen Schwerpunkt im Bereich der Energiefor-
schung bei der Brennstoffzelle und den virtuellen Netzen
gesetzt. Wir haben den Haushaltsansatz für diesen
Schwerpunkt trotz Sparhaushalt deutlich erhöht.

Wir haben ein Altbausanierungsprogramm auf den
Weg gebracht, um die Energieeinsparung voranzubrin-
gen. Das ist etwas, was Herr Kollege Lippold immer ge-
fordert hat, aber nie durchsetzen konnte. Trotz Sparhaus-
halt haben wir mithilfe der UMTS-Milliarden ein solides
Altbausanierungsprogramm aufgelegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir stärken die Energieeinsparungsbemühungen durch
eine ambitionierte Verordnung.

Das sind unsere Konzepte. Ich habe aber von Ihnen
auch diesmal nicht ein einziges Wort gehört, wie sich die
ehemaligen Regierungsfraktionen CDU/CSU und F.D.P.
eine aktive Klimaschutzpolitik vorstellen.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Ist das heute das Thema?)


– Das ist sehr wohl das Thema, weil Sie das Thema Kli-
maschutz und das Thema Atomkraft zusammen betrach-
ten.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Ich hätte gerne eine KWK-Debatte geführt!)


Man kann aber nicht einfach an der Meinung festhal-
ten, dass die Atomkraft das Klima schütze. Man muss
vielmehr deutlich machen, wie eine aktive Klimaschutz-
politik ohne Atomkraft aussehen könnte. Das haben Sie
aber nicht getan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415302700
Ich gebe das
Wort der Kollegin Birgit Homburger für die Fraktion der
F.D.P.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1415302800
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es wundert mich nicht, Frau
Hustedt, dass Sie hier sagen, wir sollten uns einmal mit
Zukunftsenergien beschäftigen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Wir machen es!)

Ich würde das an Ihrer Stelle auch sagen, um davon abzu-
lenken, dass Sie zu den eigentlichen Fragen überhaupt
nichts sagen können.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ohne dass ich jetzt im Einzelnen auf alle Punkte ein-

gehe, weil meine Redezeit dafür nicht ausreicht, will ich
folgenden Punkt aufgreifen. Sie sprechen immer davon,
Sie würden Zukunftstechnologien fördern. Ich kann
dazu nur sagen: Was Sie hinsichtlich des EEG und der
Kraft-Wärme-Kopplungs-Quote unternehmen, ist nichts

anderes als eine Anmaßung der Politik, die Technik vor-
zugeben und darüber hinaus noch den Preis vorzuschrei-
ben.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Damit machen Sie jegliche Kreativität in der Wissen-
schaft kaputt. Das ist nicht Technologieförderung, son-
dern Förderung von schon bekannten Techniken.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Die klassische Gießkanne ist das!)


Es wundert mich nicht, dass Sie darüber reden, weil die
Bundesregierung derzeit mit den Folgen ihrer eigenen un-
logischen Argumentation konfrontiert wird. Während
die Botschaft vor der Bundestagswahl noch lautete, die
Kernenergie sei unverantwortbar und deswegen müsse es
den Atomausstieg geben, lautet die Botschaft nun, dass
Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland sicher
sei und dass das hohe Sicherheitsniveau seit Beginn der
Nutzung der Kernenergie noch erhebliche Fortschritte
durch die Fortentwicklung der Sicherheitstechnik für
Kernkraftwerke erfahren habe. So die Bundesregierung in
ihrer Antwort auf die Große Anfrage. Man höre und
staune.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Frau Hustedt, Sie gehen davon aus, dass auch Atom-

mülltransporte sicher seien, sonst hätte Herr Trittin nie-
mals eine Vereinbarung mit Frankreich unterzeichnen
können, nach der noch in diesem Frühjahr Castortrans-
porte wieder aufgenommen werden. Im Übrigen wurden
die ersten Transporte vom Umweltminister genehmigt.
Sie sagen jetzt, das alles sei verantwortbar, weil man aus
der Kernenergie aussteige.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Man höre und staune!)


Herr Kubatschka, das war Ihre Argumentation. Wo bleibt
denn da die Logik?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die ist nicht da!)


Entweder die Kernenergie ist sicher, dann kann man sie
auch weiterbetreiben,


(Horst Kubatschka [SPD]: Haben Sie meine Einwände nicht mitbekommen?)


oder sie ist nicht sicher, dann muss man sofort aussteigen.
Das ist die Lage der Dinge.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Mit Sofortvollzug!)


Vom Ausstieg wird bisher nur geredet.

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wo ist das Gesetz?)

Bis jetzt sind Sie über Absichtserklärungen nicht hinaus-
gekommen. Acht Monate ist es her, seit die Vereinbarung
mit den Kernkraftwerksbetreibern geschlossen wurde.


(Ulrike Mehl [SPD]: Sie machen es sich einfach!)





Michaele Hustedt
15004


(C)



(D)



(A)



(B)


Aber seitdem haben Sie immer noch keinen Gesetzent-
wurf vorgelegt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie haben dieses Versäumnis selbst erkannt. Der Parla-
mentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Herr
Schmidt, hat vorgestern die Bundesregierung aufgefor-
dert, ein entsprechendes Gesetz bald vorzulegen.

Herr Trittin, die Situation ist wieder einmal folgen-
dermaßen: Es gibt einen Konflikt zwischen dem, was
der Umweltminister und die Grünen wollen, und dem,
was der Wirtschaftsminister will. Dieser Konflikt
wurde offensichtlich nicht ausdiskutiert. Sie haben für
Ihre Klientel – dieses Problem haben Sie augenblick-
lich – nichts anderes als weiße Salbe. Herr Trittin, Sie
haben wieder einmal mit großen Tönen begonnen. Jetzt
aber stellt sich heraus, dass Sie nur ein zahnloser Tiger
sind.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nicht einmal ein Bettvorleger! – Christoph Matschie [SPD]: Aber immerhin noch Tiger! – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Besser ein Tiger als eine graue Maus!)


Sie haben bis jetzt noch keine Antwort auf die Frage
gegeben, wie Sie die Reduzierung der CO2-Emissio-nen, die Sie für die Erreichung des Klimaschutzzieles
brauchen, mit dem Ausstieg aus der Kernenergie verein-
baren wollen.


(Ulrike Mehl [SPD]: Die Ökosteuer aufgeben, oder?)


Sie können noch so schöne Reden halten, Frau Hustedt:
Auch hier fehlt Ihr Konzept.

Die F.D.P. fordert die Bundesregierung auf, endlich ein
schlüssiges Energiekonzept vorzulegen, aus dem hervor-
geht, wie das Klimaschutzziel bei gleichzeitiger Siche-
rung der Energieversorgung in der Bundesrepublik
Deutschland erreicht werden soll.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Darauf warten wir noch!)


Im Übrigen haben Sie bis heute trotz vollmundiger
Ankündigungen vor der Wahl überhaupt kein Entsor-
gungskonzept vorgelegt. Das hat sich hier in den Reden
auch wieder herausgestellt. Dies kritisieren nicht nur wir,
sondern dies kritisiert auch der Sprecher der niedersächsi-
schen Grünenfraktion. Auch Frau Backhaus vom BUND-
Landesverband Niedersachsen kritisiert, dass die Bundes-
regierung den versprochenen nationalen Entsorgungsplan
schuldig geblieben ist. Der fehlende Entsorgungsplan sei
schuld an einem Abenteuerwanderzirkus namens Castor-
transport. Statt einer geordneten Endlagerung werde Flick-
schusterei betrieben und bei der Zwischenlagerung greife
die Bundesregierung immer mehr zu Notlösungen, so die
BUND-Landesvorsitzende in Niedersachsen. Ich kann
mich dieser Kritik nur anschließen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


In der Antwort auf die Große Anfrage, Herr Trittin – Ih-
nen wird das Lachen noch vergehen –,


(Unruhe bei der SPD – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr arrogant! – Horst Kubatschka [SPD]: Das Lachen zu verbieten wäre eine Regulierungsmaßnahme!)


haben Sie wieder einmal erklärt, dass das Entsorgungs-
konzept der alten Bundesregierung gescheitert sei. Die
Begründung hierfür aber bleiben Sie in der Antwort wie-
derum schuldig. In der Antwort sagen Sie lediglich,
dass wesentliche Elemente des bisherigen Entsorgungs-
konzepts nach Auffassung der Bundesregierung der Revi-
sion bedürfen.

Ich kann Ihnen nur sagen: Im Gegensatz zur jetzigen
Bundesregierung hat die alte Bundesregierung ein Kon-
zept gehabt, das wir konsequent verfolgt haben.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!)

Gorleben ist als Zwischenlager genehmigt. Es wäre

als Endlager für hochradioaktive Abfälle wahrscheinlich
geeignet. Wir standen kurz davor, wirklich die Erkennt-
nisse zusammen zu haben.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!)

Dann haben Sie die Sache gestoppt. Das, was Sie da ma-
chen, ist unverantwortlich.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Christoph Matschie [SPD]: Es hört sich an wie ein Politkrimi, Frau Homburger!)


Sie berufen sich auf die Entwicklung des Standes von
Wissenschaft und Technik.


(Christoph Matschie [SPD]: Dann kam der böse Bürger und hat Sie abgewählt!)


Diese habe dazu geführt, dass die bisherigen Kriterien
hinsichtlich der Erfüllung der erforderlichen Schadens-
vorsorge überprüft werden müssten. Die bisher an Endla-
ger für wärmeentwickelnde radioaktive Abfälle gestellten
Anforderungen, wie sie in den 1983 veröffentlichten Kri-
terien des BMI/RSK-Katalogs festgelegt worden sind,
müssten im Lichte neuer Entwicklungen und Bewertun-
gen von wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie neuer
konzeptioneller Überlegungen überprüft werden. Deswe-
gen haben Sie einen Arbeitskreis eingesetzt, der die Si-
cherheitskriterien überarbeiten soll.

Frau Hustedt, Sie haben das hier auch gesagt. Ich kann
Ihnen nur sagen: Es hat gerade wieder eine internationale
Expertengruppe deutlich festgestellt, dass die Zweifel, die
die Bundesregierung an der Eignung hat, nicht neu sind,
sondern schon seit Jahren kontrovers diskutiert werden.
Genauso ist es. Sie haben keine neuen Erkenntnisse.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie bewerten nur die Dinge anders.

Im Übrigen schließe – so die internationale Experten-
kommission weiter – keiner der Punkte, die die Bundes-
regierung anführe, eine sichere Endlagerung im Gorle-
bener Salzstock aus.




Birgit Homburger

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(C)



(D)



(A)



(B)


Frau Hustedt, das, was Sie hier vorgetragen haben, und
das, was der Minister die ganze Zeit macht, deutet darauf
hin, dass es langsam auf Ostern zugeht: Es ist eine einzige
Eierei.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Sie wollen also die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe
abwarten und meinen, dann könne man darüber diskutie-
ren, ob Gorleben geeignet sei. Wenn man jüngste Stel-
lungnahmen aus der grünen Partei betrachtet, scheinen
das die eigenen Leute auch nicht besonders überzeugend
zu finden. So sagt zum Beispiel Fritz Kuhn, dass der Salz-
stock in Gorleben seines Wissens nicht als Endlager ge-
eignet sei. Frau Harms, Vorsitzende der niedersächsischen
Grünen,


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Harms kennt sich gut aus!)


sagt, dass der Salzstock in Gorleben im Vergleich zu an-
deren möglichen Standorten allenfalls dritte Wahl sei.
Woher diese Erkenntnis stammt, ist mir schleierhaft. Sie
kann auch überhaupt keine Experten dafür anführen. Das
Einzige, was hierdurch wieder belegt wird, ist, dass es
hierbei überhaupt nicht um sachliche Erwägungen oder
Kriterien geht, sondern schlichtweg um ideologisch moti-
vierte Maßnahmen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.

Statt Atommüll unterirdisch und sicher an den sorgfäl-
tig dafür ausgesuchten Standorten zu lagern, erzwingt die
Bundesregierung jetzt auch noch oberirdische Provisorien
ohne Rücksicht auf riskante Langfristfolgen. Um politisch
missliebige Transporte hinauszuzögern, hat der Umwelt-
minister darüber hinaus auch noch verfügt, dass Abkling-
becken betroffener kerntechnischer Anlagen vorüber-
gehend als Zwischenlager anerkannt werden.


(Dr. Jürger Gehb [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Eine solche Auslegung atomrechtlicher Vorgaben, Herr

Trittin, ist nicht nur fragwürdig und unverantwortlich.
Das hätte nach der bisher bestehenden Gesetzeslage ei-
gentlich zum Erlöschen der betreffenden Betriebserlaub-
nis geführt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Hätten wir so gehandelt, hätte das in Deutschland zu ei-
nem Aufschrei geführt.

Sie sind der Meinung, das alles könne man tun. Sie
vollführen nichts anderes als Klimmzüge, und dies mit ei-
nem Ziel: Transporte von Atommüll sollen verhindert
werden. Die Bundesregierung leistet sich in diesem Zu-
sammenhang eine gigantische Verschleuderung von Geld,
das im Übrigen von den Stromkunden gezahlt wird. Ein-
ziger Zweck dessen ist, Herrn Trittin möglichst Ärger
vom Hals zu halten.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, genau!)

Die Absicht ist klar: Missliebige Transporte und die

Entscheidung über einen Endlagerstandort sollen so lange

hinausgezögert werden, bis eine neue Bundesregierung
diese Entscheidung treffen muss. Dann könnte man sich
– so denken Sie wahrscheinlich – wieder entspannt
zurücklehnen und zu den Demonstranten zurückkehren.
Ich sage Ihnen eines: Diese Art einer zynischen Politik ist
ein unverantwortlicher Wechsel auf die Zukunft.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Damit wird das ganze Chaos deutlich: Während sich

die designierte Vorsitzende der Grünen, Frau Roth, für die
Teilnahme an Protestveranstaltungen und für friedliche
Blockaden der Transporte ausspricht, billigt der Parteirat
der Grünen Demonstrationen, bittet aber zugleich, auf
Transportblockaden zu verzichten.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch langweilig!)


Der Umweltminister dagegen erklärt weder sein Einver-
ständnis für Kundgebungen noch sein Einverständnis für
Blockaden. Proteste seien sinnlos, weil die Transporte
Bestandteil des so genannten Atomkonsenses und inso-
weit erforderlich seien. Unterdessen äußert der Bundes-
geschäftsführer der Grünen seine ganze Sympathie für
Demonstrationen gegen ein Endlager in Gorleben. – Das
ist ein einziges Tohuwabohu!

Trotz dieser Diskussion bei den Grünen lässt Herr
Trittin heimlich, still und leise Atommüll transportieren
und hat im Übrigen Castortransporte genehmigt. Die
Folge ist – Herr Trittin, darauf weise ich Sie jetzt auch
hin –: Polizisten werden den Transport schützen müssen.
Sie sind mit schuld daran, dass das so ist. Denn die Grü-
nen haben die Stimmung aufgepeitscht und die Öffent-
lichkeit desinformiert. Zudem haben Sie selber einmal auf
den Schienen gesessen. Das ist das Problem.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die rot-grüne Genehmigung von Transporten ist nichts

anderes als die Genehmigungen, die früher erteilt wurden.
Es gilt das gleiche Recht und Gesetz. Sie haben ein ver-
queres Verständnis von Recht und Gesetz.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Menschen haben ein gutes Gespür für Ihre unter-
schiedlichen Vorgehensweisen. Sie sind jetzt bei Ihrer ei-
genen Klientel unglaubwürdig. Ich rate Ihnen: Wenn Sie
bei Ihrer Klientel, aber auch bei den Polizisten das Ver-
trauen wieder herstellen wollen, sollten Sie beim ersten
Atommülltransport vom Anfang bis Ende vorneweg lau-
fen, um zu beweisen, dass von diesem Transport keinerlei
Schaden ausgeht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wie Jim Knopf, der Lokomotivführer! – Horst Kubatschka [SPD]: Wie die Frau Merkel!)


Die derzeitige Politik bringt nichts anderes als finanzi-
elle Belastungen, die zu keinem ökologischen Nutzen
führen. Sie nimmt in Kauf, dass wir bei der Sicherheits-
technik zurückfallen. Die F.D.P. fordert die Bundesregie-
rung auf, das derzeitige Chaos endlich zu beenden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Birgit Homburger
15006


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415302900
Ich gebe der
Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion der PDS
das Wort.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415303000
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Jede Woche findet die gleiche
Debatte mit den gleichen Fragen und den gleichen Ant-
worten zum Atomausstieg statt.


(Horst Kubatschka [SPD]: Und mit den gleichen Zwischenrufen!)


Langsam wird es langweilig.

(Beifall der Abg. Michaele Hustedt NIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Kubatschka [SPD]: Und Sie halten die Rede von der letzten Woche!)


Die Fernsehzuschauer und die Zuhörer hier warten auf et-
was, und zwar auf das, wofür Sie gewählt wurden, näm-
lich dafür, den Atomausstieg durchzusetzen.


(Beifall bei der PDS)

Ich frage Sie jetzt noch einmal: Wann wird endlich das

erste Atomkraftwerk geschlossen?

(Ulrike Mehl [SPD]: Auch das haben wir schon gehört! – Horst Kubatschka [SPD]: Das werden Sie noch erleben! – Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer mit der Ruhe! Das passiert schon!)


– Auch wenn ich es noch 30-mal bis zum Ende der Legis-
laturperiode anmahne, wird nichts passieren.

Die Union beklagt in ihren Anträgen die Aufgabe des Be-
schlusses der Regierungschefs des Bundes und der Länder
zur Entsorgung radioaktiver Abfälle vom September 1979
und die daraufhin gefassten Grundsätze zur Entsorgung von
Kernkraftwerken vom März 1980. Der unter Führung des
damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt erarbeitete
Beschluss sah im Wesentlichen die Errichtung von zwei ato-
maren Zwischenlagern im nordrhein-westfälischen Ahaus
und im niedersächsischen Gorleben vor. Die Landesregie-
rung in Hannover erklärte sich zudem bereit, in Gorleben
den Bau eines atomaren Endlagers zuzulassen.

Die damaligen Beschlüsse haben die Probleme noch
nicht näher reflektiert und die gewachsenen Sicherheits-
bedenken gegen die Nutzung der Atomkraft noch nicht
richtig gesehen, obgleich der Unfall von Harrisburg be-
reits geschehen war. Mittlerweile wissen wir um die
schrecklichen Folgen der Katastrophe von Tschernobyl.
Die Front der Gegnerinnen und Gegner dieser Technik ist
seitdem immer weiter angewachsen. Ich hoffe, Ende März
wird sich diese Front in Gorleben wirklich stark zeigen.

Nach bundesweiten Protesten wurden die Pläne zum
Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen
Wackersdorf aufgegeben. Nachdem sich die Gewinnung
von Plutonium aus abgebrannten Brennstäben als eine
technologische und wirtschaftliche Sackgasse herausge-
stellt hatte, wurde die Möglichkeit der direkten Endlage-
rung als Alternative ins Atomgesetz aufgenommen.

Die deutsche Einheit führte zur Stilllegung und zur
Aufgabe von Bauprojekten auf dem Gebiet der ehemali-

gen DDR, was Ostdeutschland zwar noch nicht gänzlich
von allen Sorgen befreit hat, die mit den strahlenden
Hinterlassenschaften einhergehen, aber grundsätzlich ist
hier der Weg für eine soziale und ökologische Energie-
versorgung von einer schweren Hypothek befreit.


(Beifall bei der PDS)

Im Westen hingegen verschärft sich die Atommüllpro-

blematik weiter. Mit den geplanten Atomkraftverstro-
mungsmengen werden sich die hoch radioaktiven Abfälle
noch einmal um die Menge verdoppeln, die seit Beginn
der Nutzung angefallen sind. Die Wiederaufarbeitung von
Brennelementen aus deutschen Kernkraftwerken im Aus-
land soll auch dann noch fortgesetzt werden, wenn nach
dem Jahr 2005 keine weiteren Transporte mehr ins Aus-
land gehen sollten. Kollegin Hustedt, Sie haben heute zu
Recht erklärt, die Wiederaufarbeitung sei zu beenden,
denn dies sei illegale Zwischenlagerung. Nur, ich frage
Sie: Warum nicht jetzt, sondern erst in fünf oder noch
mehr Jahren?


(Beifall bei der PDS)

Seit SPD und Grüne an der Regierung sind, haben sie

nichts mehr gegen den gesundheits- und umweltschädi-
genden Prozess der Wiederaufarbeitung als solchen einzu-
wenden, solange er nur nicht im eigenen Land stattfindet.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! Du weißt es besser! – Horst Kubatschka [SPD]: Das stimmt doch nicht, Frau Kollegin!)


Auch die Plutonium-Uran-Mischoxid-Fabrik – MOX –
wurde nur so lange als Sicherheitsrisiko attackiert, bis
sich russische Käufer für die Hanauer Anlage fanden.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha, ha!)


Die Geschichte der vergangenen zwanzig Jahre hat ge-
zeigt, dass die Entsorgungspläne der späten 70er-Jahre nie
etwas anderes waren als eine Mauschelei zwischen Bun-
desregierung und Regierungschefs der Länder.


(Uwe Hiksch [PDS]:Sehr wahr!)

Insofern waren sie nicht tragfähig.

Mittlerweile hat sich die breite Front der Atomkraft-
gegnerinnen und -gegner formiert und hat eine breite Ak-
zeptanz in der Bevölkerung, vor allem in den betroffe-
nen Gebieten.


(Beifall bei der PDS)

Als Reaktion werden nunmehr zahlreiche Zwischen- und
Zwischenzwischenlager an den AKW-Standorten geneh-
migt, errichtet und betrieben. Trotzdem kommen die Pro-
teste nicht zur Ruhe, da die Lager für einen langfristigen
Weiterbetrieb ausgelegt sind.

Ich sage es noch einmal: Kapazitäten Gundremmingen.
Die Genehmigung: Bis 2046 reicht die Kapazität – so eine
Aussage der AKW-Bewegung Gundremmingen, Kollege
Kubatschka.


(Horst Kubatschka [SPD]: Es ist doch noch nicht genehmigt!)







(C)



(D)



(A)



(B)


– Die Genehmigung lautet auf solch große Kapazitäten.

(Horst Kubatschka [SPD]: Der Antrag! Das ist ein Unterschied!)

Ein langfristiger Weiterbetrieb ist aber keine Option.

Schließlich räumt auch die Bundesregierung in ihrer Ant-
wort auf die Große Anfrage der Union ein, dass die „Mög-
lichkeit von Unfällen mit großen Freisetzungen ... nicht
lediglich theoretisch“ besteht. Das heißt im Klartext: Sie
nimmt das Risiko von schweren Reaktorkatastrophen in
Kauf. Ich denke, das ist wirklich ein Skandal.

Das ist aber auf Dauer keine durchhaltbare Position.
Noch einmal: Dieser Konsens ist Nonsens; denn er ist
kein Konsens. Es gibt keine Übereinstimmung zwischen
Atomkonzernen und der Bundesregierung. Die Atomkon-
zerne wollen nicht abschalten


(Beifall bei der PDS)

und diese rechte Opposition hier wird alles dafür tun, da-
mit es nicht zu einem solchen Konsens kommt.

Nun noch kurz zu den vorgestern bekannt gewordenen
Transporten. Sie lassen sehr viele Fragen offen. Was soll
mit unbestrahltem Uran und Plutonium in einer Wieder-
aufarbeitungsanlage geschehen? Kann die Bundesregie-
rung ausschließen, dass das Material in Kürze als MOX-
Brennelement zurückkommt?


(Uwe Hiksch [PDS]: Kann sie nicht!)

– Der Kollege bejaht es. Ich hätte aber die Antwort gerne
von unserem Umweltminister gehört. Das wäre besser.


(Heiterkeit bei allen Fraktionen – Birgit Homburger [F.D.P.]: Er darf nicht! – Horst Kubatschka [SPD]: Das war ein nicht bestelltes Echo!)


Schauen wir uns einmal die Reaktionen der Vertreter
der Koalition an. Kollege Müller und die Sprecherin des
Bundesvorstandes der Grünen, Claudia Roth, mahnen öf-
fentlich Informationen und Offenheit in diesen Fragen an.
Wenn man dies schon nicht von den anderen erwarten
kann, so kann man meines Erachtens zumindest von einer
rot-grünen Regierung Offenheit erwarten. Daran fehlt es
jedoch ganz, ganz grob.

Die Demonstrationen in Gorleben formieren sich. Die
Scheinheiligkeit auch der Regierungsparteien ist ange-
sichts der Aussagen vor allem seitens der Grünen bewie-
sen.


(Horst Kubatschka [SPD]: PDS und CDU werden gemeinsam demonstrieren! Darauf freue ich mich schon!)


– Ich gehe davon aus, dass die CDU nicht in Gorleben
demonstrieren wird, denn sie hetzt ja. Wie wir gestern in
der Aktuellen Stunde gehört haben, haben einige Mitglie-
der dieser Partei die Demonstranten in die Ecke der
Buback-Mörder gestellt.


(Uwe Hiksch [PDS]: Das ist ein Skandal!)

Ich halte dies für fatal und habe gestern dazu schon etwas
gesagt.

Demonstrantinnen und Demonstranten dürfen nicht
kriminalisiert werden,


(Uwe Hiksch [PDS]: Damit haben Sie Recht!)

denn es geht hier um Zukunftsfähigkeit, um Nachhaltigkeit


(Beifall bei der PDS – Horst Kubatschka [SPD]: Das habe ich gestern auch gesagt!)


und um die Zukunftschancen für unsere Kinder und Kin-
deskinder. Deswegen sollten wir nicht immer nur über ei-
nen Atomkonsens reden, sondern es muss endlich etwas
getan werden.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415303100
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Christoph Matschie.


Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1415303200
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Das ist nicht die erste Debatte,
die wir hier über Atomenergie führen. Leider ist sie, wie
viele andere Debatten auch, die wir geführt haben, von Ih-
rer Seite, von der Union und der F.D.P., mit dem Vorwurf
begonnen worden, hier sei ideologische Verblendung im
Spiel. So etwas macht mich immer misstrauisch. Denn
diejenigen, die anderen Ideologie oder ideologische Ver-
blendung vorwerfen, versuchen meistens, damit sachli-
chen Debatten auszuweichen. Werden solche Vorwürfe
erhoben, kommt man nämlich gar nicht mehr zu einer
sachlichen Auseinandersetzung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Genauso waren Ihre Reden angelegt.

(Walter Hirche [F.D.P.]: Verzichten Sie lieber auf diese Art von Dialektik!)

Ich sage Ihnen noch einmal, worum es in all diesen De-
batten hier geht und ging. Es geht um einen Grundkon-
flikt. Sie von der Union und Sie von der F.D.P. halten die
Atomenergie, was das Risiko angeht, für vertretbar, Sie
halten sie für gesellschaftlich akzeptiert, Sie halten sie für
zukunftsträchtig, aus europäischer Sicht für notwendig
und klimapolitisch für notwendig.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Vorübergehend!)

Wir hingegen halten sie aus einer Risikobewertung heraus
nicht mehr für vertretbar, wir halten sie aber auch deshalb
nicht mehr für vertretbar, weil es eine klare gesellschaftliche
Mehrheit gegen die weitere Nutzung der Atomenergie gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Homburger, Sie treiben die Argumentation so weit,
dass Sie sagen: Wir standen mit Gorleben sozusagen kurz
vor der richtigen Erkenntnis. Dann kam aber der böse
Wähler, hat Sie abgewählt und Sie nicht mehr weiterma-
chen lassen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wie in Thüringen, nur dass es dort umgekehrt war! – Horst Kubatschka [SPD]: Das ist das Gute an der Demokratie!)





Eva Bulling-Schröter
15008


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir müssen in dieser Auseinandersetzung um die Atom-
energie den gesellschaftlichen Hintergrund sehr ernst
nehmen. Wir müssen ernst nehmen, dass es in Deutsch-
land eine deutliche Mehrheit gegen die weitere Nutzung
der Atomenergie gibt. Sie sagen, das sei nicht richtig. Um-
fragen belegen dies aber. Ich habe mir hierzu einmal Zah-
len herausgesucht. Im letzten Jahr hat Forsa Umfragen
durchgeführt. Danach waren 58 Prozent der Bevölkerung
für einen Ausstieg und nur 33 Prozent haben den Ausstieg
abgelehnt. Übrigens waren die Anhänger Ihrer Partei, der
F.D.P., zumindest zu 44 Prozent und die Anhänger der
Union zu etwas über 40 Prozent für einen Ausstieg.


(Walter Hirche kratie normal!)


Das ist also keine Debatte, die zwischen den Parteien ver-
läuft, sondern auch innerhalb von Parteien. Deshalb soll-
ten wir uns bemühen, sachlich miteinander umzugehen,
und uns nicht gegenseitig ideologische Verblendung vor-
werfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will nun auf einige der von Ihnen aufgeworfenen
Bedenken eingehen. Sie sagen, das Risiko sei vertretbar.
Ich möchte, da ich das nicht mit eigenen Worten be-
schreiben will, da ich nicht meine eigene Risikoein-
schätzung zum Besten geben will, nur einmal aus dem
letzten Gutachten des Sachverständigenrates für Umwelt-
fragen zitieren:

Der Umweltrat hält aufgrund der Charakteristiken
bestrahlter Brennelemente und der darin begründe-
ten, in weiten Teilen ungelösten Entsorgungspro-
bleme eine weitere Nutzung der Atomenergie für
nicht verantwortbar.

Die Menetekel der Risiken, die in der Nutzung der
Atomenergie liegen, haben wir alle gesehen. Sie heißen
Harrisburg, Tschernobyl und Tokaimura. Solche Zeichen
müssen wir ernst nehmen. Sie sagen uns: Es gibt kein aus-
schließbares Risiko bei der Nutzung der Kernerenergie.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS] – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das gibt es auch nicht beim Autofahren!)


Frau Homburger, Sie haben gesagt, in der Anfrage stehe,
dass die deutschen Kernkraftwerke über eine hohe Sicher-
heit verfügen und die Transporte nach den Kriterien, die wir
haben, sicher sind, weil sie sonst gar nicht stattfinden könn-
ten. Das widerspricht nicht der Logik des Ausstiegs,


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Ach so!)

sondern der Ausstieg erfolgt, weil man die noch verblei-
benden Risiken trotz der hohen Sicherheit abwägen muss
und weil wir politisch zu der Überzeugung gekommen
sind – auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen
Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland –, dass
wir das verbleibende Risiko und die ungelöste Entsor-
gungsfrage nicht weiter verantworten können und deshalb
kontrolliert aus der Nutzung der Atomenergie aussteigen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415303300
Herr Kol-
lege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Dr. Gehb?


Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1415303400
Selbstverständlich.


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1415303500
Herr Kollege
Matschie, Sie haben gerade Sachlichkeit in der Diskus-
sion angemahnt. Deshalb möchte ich Sie fragen: Ken-
nen Sie die Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts aus dem Jahre 1978 im so genannten Kalkar-
beschluss, in der ausgeführt wurde, dass die friedliche
Nutzung der Kernenergie zu den sozial-adäquat hin-
nehmbaren Restrisiken gehört? Ist Ihnen klar, dass die
Änderung der Sicherheitsphilosophie, die Sie gerade
genannt haben, weniger eine Änderung ist, die auf
Technik, Tatsachen und rechtlichen Erwägungen, son-
dern mehr auf dem Austausch der Sicherheitsphiloso-
phien beruht?


(Horst Kubatschka [SPD]: Physik hat mit Philosophie nichts zu tun! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das war vor Tschernobyl, vor Harrisburg!)


Sie haben gesagt, die weitere Nutzung von Kernkraft-
werken sei unverantwortbar – übrigens ist in dem Kon-
sens und im Atomgesetz eine ganz diametrale Aussage
enthalten –; teilen Sie daher meine Auffassung, dass man
den Betrieb sofort einstellen muss, wenn er nicht mehr
verantwortbar ist? Ich will dazu ein Beispiel nennen:
Wenn ein Haus baufällig ist, dann gibt es eine Ab-
bruchverfügung mit Sofortvollzug. Können Sie mir, dem
Haus und den Bürgern erklären, wie eine Technik, die un-
verantwortbar ist, überhaupt noch eine Sekunde weiterge-
führt werden soll


(Uwe Hiksch [PDS]: Da haben Sie Recht!)

und inwiefern Ihre Auffassung mit der höchstrichterlichen
Rechtsprechung in Einklang steht?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1415303600
Herr Kollege, lassen Sie
mich zunächst auf die höchstrichterliche Rechtsprechung
eingehen, die, wie Sie sagen, aus dem Jahr 1978 stammt.
Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich bei unserer Dis-
kussion auf der Höhe der Zeit bewegen und nicht mit den
Argumenten von vor über 20 Jahren die Debatte zu be-
streiten versuchen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Es gibt keine neue!)


In der Wissenschaft entwickeln sich die Dinge näm-
lich immer weiter. Wer sich einmal mit der Sicherheitsli-
teratur im Zusammenhang mit der Kernenergienutzung
befasst, stellt fest, dass wir dauernd auf neue Risiken, die
wir bisher nicht gekannt haben, stoßen, weil sich die Si-
cherheitsphilosophie und die Technologie weiterent-
wickeln und weil wir mehr über die Nutzung und die Risi-
ken der Nutzung lernen. Deshalb müssen wir auf der Höhe
der Zeit argumentieren.




Christoph Matschie

15009


(C)



(D)



(A)



(B)


Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat
in seinem letzten Gutachten gesagt: Es gibt dauernd
neue Erkenntnisse über Sicherheitsrisiken beim Betrieb
von Kernkraftanlagen. Deshalb steht im Gesetz auch die
Verpflichtung, bei den Sicherheitsmaßnahmen der Kern-
kraftwerke ständig auf der Höhe der Zeit zu sein. Des-
wegen gibt es auch notwendige Nachrüstungen bei den
Kernkraftwerken. Wir können uns nicht damit begnü-
gen, dass vor über 20 Jahren in einer Risikoabwägung
festgestellt worden ist: Wir halten das Risiko für vertret-
bar. Wir halten es heute nicht mehr für vertretbar, Herr
Kollege.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415303700
Herr Kol-
lege Matschie, möchten Sie die Chance nutzen, Ihre Re-
dezeit weiter zu verlängern, indem Sie eine zweite Frage
zulassen?


(Horst Kubatschka [SPD]: Vielleicht hat er noch ein zweites altes Urteil!)



Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1415303800
Ich lasse noch eine
zweite Frage zu.


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1415303900
Es ist mir klar, dass
Ihnen ein Rekurrieren auf die 70er-Jahre vor dem Hinter-
grund dessen, was man heute so darüber hört, was in den
70er-Jahren passiert sein soll, nicht besonders recht ist.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Wann war denn Tschernobyl?)


Sie hinterfragten, ob ich auf der Höhe der Zeit bin. Wis-
sen Sie, dass Urteile, insbesondere Urteile des Bundes-
verfassungsgerichts, natürlich so lange Gültigkeit und Be-
stand haben, bis es eine irgendwie geartete Abänderung
dieser Urteile gibt?


(Detlev von Larcher [SPD]: Herr Kollege, wann war Tschernobyl?)


Können Sie mir – insofern bin ich natürlich für jede Nach-
hilfe sehr dankbar; auch Juristen freuen sich, wenn ihnen
von so jungen Leuten wie Ihnen ein bisschen auf die
Sprünge geholfen wird – ein Urteil nennen, in dem von
der bisherigen Sicherheitsphilosophie abgewichen wor-
den ist?


(Detlev von Larcher [SPD]: Herr Kollege, das war vor Tschernobyl!)


Vor allen Dingen: Können Sie mir – –

(Weitere Zurufe von der SPD)


– Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie, dass ich
mit der Mitte meiner Ausführungen den Beginn Ihres ers-
ten Zwischenrufs unterbrochen habe.

Vielleicht können Sie mir erstens den Teil der Frage,
die ich eben gestellt habe, noch beantworten, wie es zu

verantworten ist, etwas weiterzuführen, was unverant-
wortbar ist.

Vielleicht können Sie mir zweitens sagen, ob es neuere
Erkenntnisse und insbesondere eine neue Rechtsspre-
chung gibt.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415304000
Herr Kol-
lege Gehb, Sie sollten es bitte nicht übertreiben. Herr Kol-
lege Matschie hat jetzt das Recht, ausführlich darauf zu
antworten, ohne dass ihm das auf die Redezeit angerech-
net wird.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das ist doch kein Juraexamen!)



Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1415304100
Zunächst noch einmal zu
der Frage nach den neuen Erkenntnissen. Ich bin davon
überzeugt, dass es diese neuen Erkenntnisse gibt. Ich
glaube auch, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn
die Ereignisse von Tschernobyl zum Zeitpunkt dieses Ur-
teilsspruchs schon eingetreten gewesen wären, mög-
licherweise zu einem anderen Urteil gelangt wäre.

Die Tatsache, dass wir inzwischen keinen Fall in die-
sem Zusammenhang vor dem Bundesverfassungsgericht
hatten, wodurch eine neue Rechtsprechung möglich ge-
worden wäre, heißt doch nicht, dass heute eine neue Si-
cherheitsbewertung ausgeschlossen ist und dass man
nicht zu einer neuen Sicherheitsbewertung kommen
muss, Herr Kollege.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Walter Hirche [F.D.P.]: Um die Antwort auf die andere Frage haben Sie sich zweimal gedrückt! – Horst Kubatschka [SPD]: Das juristische Examen ist vorbei!)


Jetzt zu der Frage – ich drücke mich nicht vor der Be-
antwortung dieser Frage –, warum nicht sofort ausgestie-
gen wird, wenn man das Risiko in der Güterabwägung
nicht mehr für verantwortbar hält. Das hat etwas damit zu
tun, dass wir uns in einem rechtsstaatlichen Rahmen be-
wegen und dass es für diese Anlagen unbefristete
Betriebsgenehmigungen gibt. Das dürfte Ihnen ja auch
nicht verborgen geblieben sein.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Neue Erkenntnisse!?)


Wenn man diese Nutzung beenden will, muss man sich im
Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten bewegen.


(Zuruf von der CDU/CSU: 30 Jahre!)

Übrigens hat uns auch der Sachverständigenrat für

Umweltfragen in seinem Gutachten bestätigt. Er empfahl
nämlich, gemeinsam mit den Atomkraftwerksbetreibern
einen Ausstieg zu vereinbaren, ein Szenario des Ausstiegs
zu entwickeln und dann rechtlich umzusetzen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aber das Gesetz liegt nicht vor! – Dagmar Wöhrl [CDU/ CSU]: Das habt ihr nicht gemacht!)





Christoph Matschie
15010


(C)



(D)



(A)



(B)


Das hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen so be-
stätigt.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415304200
Herr Kol-
lege Matschie, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
des – –


(Detlev von Larcher [SPD]: Nein!)

– Herr Kollege, die Beantwortung dieser Frage überlassen
Sie bitte dem Redner.

Herr Kollege Dr. Seifert hat darum gebeten, eine Zwi-
schenfrage stellen zu können. Herr Kollege Matschie lässt
sie zu. Bitte schön!


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415304300
Vielen Dank, Herr Kollege
Matschie.

Sie haben gerade gesagt, dass die Atomkraftwerke eine
unbefristete Betriebsgenehmigung haben. Wenn ich mich
recht entsinne, werden Häusern auch keine befristeten
Standerlaubnisse erteilt, wenn sie gebaut sind. Wie vorhin
schon einmal eingeworfen wurde, müssen sie, wenn ihre
Baufälligkeit festgestellt worden ist, sofort abgerissen
werden.

Sie haben gerade zitiert, dass der Weiterbetrieb von
Atomkraftwerken unverantwortlich ist. Wäre dann nicht
diese gleiche Folgerung analog anzuwenden, indem man
die sofortige Abschaltung verfügt? Ich verstehe Ihre Ar-
gumentation nicht.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [PDS])


Christoph Matschie [SPD]: Herr Kollege, das hat et-
was mit der konkreten Gefährdungs- oder Sicherheitsbe-
wertung zu tun.


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Nein, hören Sie doch einmal einen Moment zu!

Der Umweltrat sagt in diesem Zusammenhang zum
Beispiel – ich folge ihm in dieser Auffassung –, dass bei
der Bewertung der Risiken der Atomenergie die unge-
löste Entsorgungsfrage im Vordergrund steht


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Ja, aber die Entsorgungsfrage kann man lösen!)


und dass wir deshalb versuchen müssen,

(Horst Kubatschka [SPD]: Frau Homburger, das ist doch Mumpitz! – Gegenruf der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.]: Ich habe nicht gesagt, dass die Entsorgungsfrage gelöst ist, sondern dass man sie lösen kann! Das ist ein Unterschied!)


über einen Ausstiegspfad im Rahmen der rechtlichen
Möglichkeiten die Müllmenge zu begrenzen, was wir tun,
und dann einen Endlagerstandort zu suchen, um die Ent-
sorgung zu ermöglichen.

Jetzt zitiere ich noch einmal den Umweltrat. Er ist da-
von überzeugt, dass es keinen idealen Standort für Endla-
ger für hochradioaktive Abfälle gibt. Er sagt weiter:

Es ist davon auszugehen, dass mit der Endlagerung
frühestens in 20 bis 30 Jahren begonnen werden kann.

Das heißt, unsere Risikobewertung und unser Ausstiegs-
szenario passen zueinander. Sie bewegen sich in dem
rechtsstaatlich möglichen Rahmen. Es gibt Leute, die
trotzdem sagen: Wir wollen diese Kraftwerke alle sofort
abstellen. Das ist nicht meine Position. Meine Position
ist, dass wir innerhalb eines rechtlichen Rahmens einen
Ausstiegspfad definieren, ihn rechtlich absichern und da-
mit die Risiken in verantwortbaren Grenzen halten müs-
sen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Frage, wie zukunftsträchtig die Atomenergie über-
haupt ist, haben weder die Kollegen von der Union noch
die von der F.D.P. beantwortet. Auch wenn in einigen
Staaten der Erde noch Kernkraftwerke gebaut werden, hat
es in der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahrzehnten
keinen Antrag auf einen Neubau mehr gegeben.


(Zurufe von der CDU/CSU: Und warum? – Horst Kubatschka [SPD]: Weil es unwirtschaftlich ist!)


In den USA ist das letzte Kraftwerk 1979 ans Netz ge-
gangen. In einer ganzen Reihe von Staaten der Europä-
ischen Union erfolgt der Ausstieg aus derAtomenergie.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: In Finnland!)

Zur Wahrheit gehört auch, dass mehr als die Hälfte der
Staaten der Europäischen Union entweder von vornherein
auf die Nutzung der Atomenergie verzichtet hat oder ist
wie Italien und Österreich bereits ausgestiegen


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Luxemburg!)

oder ist dabei, auszusteigen, wie beispielsweise Belgien
und Schweden.


(Ulrich Klinkert [CDU/CSU]: Aber die beziehen dann Atomstrom!)


Deshalb glaube ich, dass wir uns nicht isoliert auf dem
Weg des Ausstiegs, des kontrollierten Beendens der Nut-
zung der Atomenergie befinden.

Es gibt auch jede Menge wirtschaftliche Gründe für
den Ausstieg. Dazu gibt es Untersuchungen, die zu dem
Ergebnis kommen, dass sich Kernkraftanlagen in liberali-
sierten Energiemärkten überhaupt nicht mehr rechnen. Es
wird empfohlen, die Nutzung der Kernenergie – unab-
hängig von unserem Konzept des beschleunigten Aus-
stiegs – in etwas längeren Zeiträumen zu beenden. Das ist
die Wahrheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrich Klinkert [CDU/CSU]: Weil die Franzosen ihre Kraftwerke alle schließen!)


– Ob die Franzosen ihre Kernkraftwerke schließen, ist de-
ren Sache und deren politische Entscheidung.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das ist kein liberalisierter Markt!)


– Es gibt aber auch in Frankreich – um Ihnen das auch ganz
deutlich zu sagen, Herr Kollege, und das wissen Sie so gut




Christoph Matschie

15011


(C)



(D)



(A)



(B)


wie ich – noch lange keinen liberalisierten Energiemarkt.
Insofern sind dort die Bedingungen etwas anders.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Frankreich wird kein einziges Atomkraftwerk mehr geplant, nur Gaskraftwerke!)


Aber selbst wenn das alles funktionieren würde: So-
weit wir im Moment absehen können, ist bei derzeitigem
Verbrauch Uran noch etwa 60 Jahre verfügbar.


(Franz Obermeier plutonium!)


Die Frage, wie lange wir mit diesen verfügbaren Reserven
Atomenergie nutzen können – vor allem, wenn Sie dies
noch ausbauen wollen – müssen Sie erst einmal beant-
worten, bevor Sie sagen: Das ist die Zukunft der Energie-
versorgung, alles andere ist Ideologie und vom Teufel.

Dann bleibt – abgesehen von der ungelösten Entsor-
gungsfrage – noch die wichtige Frage, wie dies umwelt-
politisch zu werten ist. Sie sagen immer, wir brauchen den
Ausbau der Kernenergienutzung aus Gründen des Klima-
schutzes. Auch hierzu kann ich Ihnen nur noch einmal
den Sachverständigenrat für Umweltfragen aus seinem
2000er Gutachten zitieren. Er sagt:

Klimapolitischer Handlungsbedarf kann allerdings
kein Argument gegen eine Beendigung der Nutzung
der Atomenergie sein.

(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Das ist eine schlechte Predigt!)

Vielmehr müssen parallel zur Festlegung von Rest-
laufzeiten der Atomkraftwerke Rahmenbedingungen
getroffen werden,

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wir sind nicht für den Ausbau!)

die die Stromversorgung durch Steigerung der Ener-
gieeffizienz, durch Energieeinsparstrategien und
durch eine verstärkte Nutzung erneuerbarer Energie-
träger ... gewährleisten.

Soweit die wissenschaftliche Einschätzung des Sachver-
ständigenrates für Umweltfragen.

Wenn man sich ansieht, welchen Beitrag die Kern-
energie im Moment weltweit zur Verringerung des CO2-Ausstoßes leisten kann, stellt man fest: Wir haben welt-
weit etwa 440 Kernkraftwerke am Netz. Das sind
7 Prozent der Primärenergieerzeugung.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Reden Sie doch einmal vom Strom und nicht von der Primärenergie!)


Wenn die Primärenergieerzeugung über Kernkraftwerke
einen nennenswerten Anteil ausmachen sollte, welches
Ausbauszenarium muss man sich denn da vorstellen? Wie
viele hundert Kernkraftwerke sollen denn weltweit ge-
baut werden,


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Tausende!)


damit überhaupt ein nennenswerter Beitrag zum Klima-
schutz geleistet werden kann? Diese Frage haben Sie,

werte Kolleginnen und Kollegen, auch Sie, Herr Hirche,
noch nie beantwortet.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415304400
Herr Kol-
lege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Vaatz?


Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1415304500
Ich möchte meinen
Gedanken noch ausführen, dann gestatte ich die Zwi-
schenfrage.

Sie haben gesagt, dass die CO2-Emissionen trotz allergroßartigen Ankündigungen der Bundesregierung zum
Klimaschutz im letzten Jahr wieder angestiegen sind.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Unter Ihrer Regierung!)


Das ist leider so. Aber ich würde hier nicht so hämisch
sein; denn wenn man sich einmal die Kurve zum Ausstoß
der letzten zehn Jahre anschaut, Herr Paziorek und Frau
Homburger, dann stellt man fest, dass Ihnen etwas ganz
Ähnliches passiert ist. Trotz all der großen Ankündigun-
gen zur Berliner Klimakonferenz 1995 mussten wir An-
fang 1996 feststellen, dass genau im Jahr 1995 die Kurve
nach oben geklettert ist. Das ist auch unter Ihrer Regie-
rung passiert.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Damals war es der wirtschaftliche Aufschwung!)


Ich hoffe, dass diese Entwicklung im Jahr 2000 ähnli-
chen Entwicklungen wie damals geschuldet ist, nämlich
dem Zuschalten bestimmter Kraftwerkstypen, und dass es
keine langfristige Tendenz ist. Langfristig wird die Kurve
der CO2-Emissionen nach unten gehen. Wir werden dafürsorgen, dass wir unserem Ziel, den CO2-Ausstoß, wie ver-sprochen, zu reduzieren, näher kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415304600
Herr Kol-
lege Vaatz.


Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1415304700
Herr Kollege Matschie,
Sie haben ausgeführt, wie die Franzosen mit ihren Kern-
kraftwerken umgingen, sei deren Sache. Im Übrigen wei-
sen Sie darauf hin, dass dort noch kein liberalisierter
Strommarkt vorhanden sei.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das stimmt!)

Meine Frage ist: Wenn Sie Ihre Risikobetrachtung ernst
nehmen, meinen Sie dann in der Tat, dass wir von einem
eventuellen Risiko der französischen Kernkraftwerke als
Deutsche nicht betroffen sind? Das ist meine erste Frage.


(Horst Kubatschka [SPD]: Wollen Sie die französischen schließen?)


Meine zweite Frage ist: Mir ist nicht klar, welchen Ein-
fluss die Liberalisierung des Strommarktes auf die Si-




Christoph Matschie
15012


(C)



(D)



(A)



(B)


cherheit von Kernkraftwerken hat. Könnten Sie das bitte
einmal ausführen.


(Detlev von Larcher [SPD]: Die CDU schließt jetzt die französischen Kernkraftwerke!)



Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1415304800
Ihre letzte Frage kann
ich nicht beantworten. Ich habe nie behauptet, dass die Li-
beralisierung des Strommarktes Einfluss auf die Sicher-
heit von Kernkraftwerken hat.

Energiepolitik ist eine nationale Entscheidung. Auch
wenn unsere Einschätzung des Risikos so ist, dass wir die
Nutzung der Kernenergie beenden wollen, können wir un-
seren Nachbarn die Kernenergie nicht verbieten. Unsere
Nachbarn müssen selbst über ihre Energienutzung ent-
scheiden. Dass damit auch für uns Risiken verbunden
sind, ist unbestreitbar. Aber wir können nichts daran än-
dern. Wir können nur national anders entscheiden. Dies ist
eine souveräne Entscheidung der Nachbarstaaten.

Einige haben sich entschieden, aus der Nutzung der
Kernenergie auszusteigen, zum Beispiel Belgien und Ös-
terreich. In der Schweiz gibt es ein Moratorium. Vielleicht
wird es eines fernen Tages so sein, dass auch Frankreich
die Nutzung der Atomenergie beendet. Bis dahin werden
wir hierüber im Parlament noch eine ganze Menge De-
batten führen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr. Axel Berg [SPD]: Das sind völkerrechtliche Grundsätze, die in der UN-Charta stehen!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415304900
Ich gebe für
die CDU/CSU-Fraktion der Kollegin Dagmar Wöhrl das
Wort.


Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1415305000
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im Grünbuch zur Sicherung
der Energieversorgung – von der Europäischen Kommis-
sion im November letzten Jahres angenommen – wird
festgestellt: Die EU deckt ihren Energiebedarf derzeit zu
50 Prozent aus Importen. Weiterhin wird festgestellt, dass
in den nächsten 20 bis 30 Jahren die Importabhängigkeit
in Europa auf 70 Prozent steigen wird.

Das ist eine Entwicklung, die nicht nur die Kommis-
sion besorgniserregend findet, sondern mit dem Thema
Versorgungssicherheit hat die Kommissarin de Palacio
auch bei Ihnen einen wunden Punkt getroffen. Warum?
Weil das Thema Versorgungssicherheit in der Energiepo-
litik von Rot-Grün überhaupt keine Rolle spielt.


(Lachen bei der SPD)

Ihre Ausstiegspolitik – Sie bezeichnen sie immer als
Herzstück Ihrer Energiepolitik – wird unsere Abhängig-
keit von Energieimporten massiv erhöhen und – das ist
noch viel schlimmer – unsere Energieversorgung wird
sehr viel unsicherer werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wird Uran nicht importiert?)


Wir haben es geschafft, unsere Importabhängigkeit von
1973 bis 1998 von ursprünglich 25 Prozent auf 17 Prozent
zu reduzieren.


(Detlev von Larcher [SPD]: Das Uran gibt es in Deutschland?)


Seitdem Sie an der Regierung sind, konterkarieren Sie
diesen Erfolg und drehen das Rad zurück. Sie wissen
auch, dass ein Drittel der Stromerzeugung in Deutschland
und zwei Drittel der Stromerzeugung in der Grundlast
durch erneuerbare Energien und Energieeinsparung nicht
kompensiert werden können. Das wissen Sie genauso gut
wie wir.


(Christoph Matschie [SPD]: Sie wissen zu wenig, Frau Wöhrl!)


Realistischerweise gibt es nur zwei Möglichkeiten, den
Fortfall der Energieerzeugung durch Atomstrom auszu-
gleichen: entweder Import von Elektrizität oder Import
von Gas, mit dem dann in neuen Gaskraftwerken Strom
erzeugt wird. Eine andere Möglichkeit wäre, die beste-
henden Kohlekraftwerke nach oben zu fahren. Sie wissen
aber, dass dann eine Erhöhung des CO2-Ausstoßes dieFolge wäre, was die Klimaschutzpolitik beeinflusste.


(Detlev von Larcher [SPD]: Wo kommt denn das Uran her? Aus Bayern?)


– Fragen Sie doch einmal, wo das Gas herkommt, lieber
Kollege. 40 Prozent aller Gasimporte in der EU kommen
aus Russland, und zwar mit steigender Tendenz.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wissen ganz genau, dass die Lage in Russland nicht

immer stabil ist, und Sie wissen auch ganz genau, dass
Russland sehr oft – auch in der Vergangenheit – seine Stel-
lung als Energielieferant dazu verwendet hat, politische
Abhängigkeiten zu schaffen. Fragen Sie in diesem Zusam-
menhang Kollegen aus mittel- und osteuropäischen Län-
dern! Die können Ihnen ein Lied davon singen. Wollen Sie
denn, dass wir zukünftig in eine solche Abhängigkeit kom-
men? Wollen Sie, dass wir unsere zukünftige Außenpolitik
unseren Energieinteressen unterordnen müssen? Sie müs-
sen sich das genau überlegen, wenn Sie den einge-
schlagenen Weg Ihrer Energiepolitik weitergehen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.])


Im Interesse unserer Versorgungssicherheit – ich spre-
che von der Versorgungssicherheit in Deutschland – müs-
sen wir in Sachen Energieerzeugung ein starker Standort
bleiben. Das wissen auch Sie.


(Horst Kubatschka [SPD]: Deswegen erneuerbare Energien!)


– Wir sind doch einer Meinung, wenn es um das Ziel geht,
den Anteil der Energieerzeugung aus erneuerbaren
Energien zu verdoppeln.


(Christoph Matschie [SPD]: Warum haben Sie dann gegen das Gesetz gestimmt?)


Wir widersprechen Ihnen doch in diesem Punkt gar nicht
und dieser Konsens bestand auch in der letzten Legisla-
turperiode. Wir wissen aber ganz genau, dass erneuerbare




Arnold Vaatz

15013


(C)



(D)



(A)



(B)


Energien – selbst wenn wir es schaffen, den Anteil zu ver-
doppeln – niemals die Energieerzeugung aus Kernkraft
als quasi einheimischem Energieträger ersetzen können.


(Dr. Axel Berg [SPD]: Ein „quasi einheimischer Energieträger“?)


– Er ist ein quasi einheimischer Energieträger. So ist es.
Oder widersprechen Sie mir, Herr Kollege?

Ich würde Ihnen wirklich raten, das angesprochene
Grünbuch einmal zur Hand zu nehmen und durchzulesen.
Sie können dort die Meinungen von Sachverständigen
nachlesen; im Sachverständigenrat für Umweltfragen in
Deutschland wurden die bisherigen Mitglieder größten-
teils von Ihnen ausgetauscht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Uwe Hiksch [PDS]: Richtigerweise!)


Die Kommission warnt in dem Grünbuch, dass die CO2-Emissionen – in Deutschland steigen sie inzwischen wie-
der – auch in Europa wieder ansteigen könnten. Herr
Minister Trittin, die These, der Atomausstieg könne einen
Beitrag zum Klimaschutz leisten, ist völlig abwegig.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Aber natürlich!)


Auch Kommissarin de Palacio folgt dieser Meinung
nicht; sie hat vielmehr sehr starke Bedenken, ob es ge-
lingt, zu einer Verringerung der Treibhausgase zu kom-
men, wenn man aus der Kernkraft aussteigt. Sie weiß ganz
genau – und hat dies auch öffentlich geäußert –, dass Eu-
ropa dieses Ziel ohne Festhalten an der Kernenergie nicht
erreichen wird.


(Uwe Hiksch [PDS]: So ein Quatsch!)

Nehmen wir die deutschen Kernkraftwerke. Die deut-

schen Kernkraftwerke helfen uns, einen sonst notwendi-
gen CO2-Ausstoß im Umfang von 160 Millionen Tonnenzu vermeiden. Was heißt das? Eine solche Zahl kann man
sich sehr schwer vorstellen. Diese Menge umfasst den
CO2-Ausstoß des gesamten Straßenverkehrs bei uns inDeutschland, liebe Kollegen von Rot-Grün.


(Widerspruch bei der SPD)

Und dann kommen Sie daher und erzählen uns, im Zu-

sammenhang mit KWK bis zum Jahre 2010 23 Milli-
onen Tonnen CO2 einzusparen,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Viel zu wenig!)


und zwar mit einem milliardenschweren Subventionspro-
gramm, das von den Verbrauchern finanziert werden soll.
Es passt doch nicht zusammen: Auf der einen Seite 23Mil-
lionen Tonnen Einsparung mit einem Aufwand von meh-
reren Milliarden, finanziert durch die Verbraucher, und auf
der anderen Seite eine tatsächliche Einsparung durch die
Kernenergie von 160 Millionen Tonnen. Das passt doch
nicht zusammen. Was ist das denn für eine Politik?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Kein Mensch sieht ein, welchen Sinn es machen soll,

die sichersten und neuesten Kernkraftwerke in Deutsch-
land abzuschalten und gleichzeitig im Ausland erzeug-
ten Atomstrom in das deutsche Netz einzuspeisen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So genannter schmutziger Strom!)


Man weiß ganz genau, dass der importierte Strom von
Kernkraftwerken stammen wird, die bei weitem nicht so
sicher wie diejenigen sein werden,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist das Widersprüchliche!)


die dann in Deutschland abgeschaltet worden sind.

(Detlev von Larcher [SPD]: Frau Kollegin, das ist wirklich langweilig!)

– Hören Sie zu, lieber Kollege. – Sie haben das ja inzwi-
schen – es hat allerdings ein bisschen gedauert – auch ge-
merkt; denn Sie sprechen von schmutzigem Strom. Sie
wollen – das ist ganz toll – den Import dieses Stroms ver-
bieten, indem Sie eine entsprechende Verordnungsermäch-
tigung in das Energiewirtschaftsgesetz hineinschreiben.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das stimmt nicht! – Detlev von Larcher [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas Interessantes, Frau Kollegin!)


Mit Ihrer Politik führen Sie die Öffentlichkeit bewusst
hinters Licht; denn ein solches Importverbot ist weder
rechtlich noch praktisch möglich. Strom hat nun einmal
keine Farbe. Strom ist weder grün noch „yello“.


(Detlev von Larcher [SPD]: Noch gelb!)

– Solche Debatten, wie wir sie jetzt führen, sind gut für
Sie, weil sie jedes Mal Ihren Kenntnisstand ein bisschen
erweitern. –


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Sie werden die Herkunft des ausländischen Stroms an der
Grenze nicht identifizieren können.


(Detlev von Larcher [SPD]: Sind das neue Erkenntnisse, Frau Kollegin?)


Wie sieht es denn rechtlich aus? Ich habe angesichts Ih-
rer Politik manchmal das Gefühl, dass Recht und Gesetz
überhaupt keine Rolle mehr spielen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was ist denn mit dem freien Welthandel und der Ener-
giecharta von 1994? Was ist mit dem kürzlich mit den EU-
Beitrittskandidaten getroffenen Abkommen?


(Dr. Axel Berg [SPD]: Führen Sie die Debatte, um Fragen zu stellen?)


In diesem Abkommen verlangen die Beitrittskandidaten
– das ist ein ganz wichtiger Punkt – Erleichterungen beim
Energietransit. Das scheint jetzt auf einmal keine Rolle
mehr zu spielen. Offenbar kann man alles verbieten.

Den Ausstieg aus der Kernenergie schaffen Sie nur,
wenn Sie den Import von ausländischer Energie erlauben.
Es ist Augenwischerei, wenn man verkündet, dass das
Ende des Atomstroms in Deutschland bevorstehe.


(Horst Kubatschka [SPD]: Da haben Sie etwas falsch verstanden! – Dr. Peter Paziorek [CDU/ CSU]: Traurig!)





DagmarWöhrl
15014


(C)



(D)



(A)



(B)


Das von Ihnen angestrebte Importverbot kann ganz
einfach umgangen werden. Ein theoretisches Beispiel:
Österreich verkauft sauberen Wasserkraftstrom nach
Deutschland, am besten mit einem Ökoaufschlag. Die in
Österreich entstehende Stromlücke wird dann mit günsti-
gen Strom-Importen aus der Ukraine geschlossen. Was
soll das? Damit verkaufen Sie unsere Bevölkerung doch
für dumm.

In der letzten Woche haben die europäischen Wettbe-
werbshüter der französischen EdF die Genehmigung er-
teilt, sich an Energie Baden-Württemberg zu beteiligen.
Es ist sehr positiv, dass die Franzosen endlich gezwungen
werden, ihren Markt ein bisschen mehr zu öffnen. Der
Energiemarkt – darauf haben Sie vorhin zu Recht hinge-
wiesen – ist zwar leider noch immer nicht vollständig
liberalisiert. Aber mit dem Einstieg von EdF bei EnBW ist
eines klar geworden: In Frankreich erzeugter Atomstrom
kann und wird zukünftig im deutschen Stromnetz fließen.
Diese Tatsache – es gibt noch viele andere – führt den
deutschen Atomausstieg, den Sie ja im nationalen Allein-
gang vereinbart haben, völlig ad absurdum.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn die Liberalisierung eingeführt? Waren wir das oder Sie? – Detlev von Larcher [SPD]: Da klatschen ja noch nicht einmal Ihre Kollegen!)


– Aber Sie können klatschen. Ich würde mich freuen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte auch noch auf das Thema Endlager zu spre-
chen kommen. Der Stopp der Erkundungen des Endla-
gers Gorleben ohne neue wissenschaftliche Erkenntnisse
ist der fragwürdigste und unverantwortlichste Teil Ihrer
Kernenergiepolitik, die Sie in letzter Zeit betrieben haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Erkundungsarbeiten in Gorleben – ich möchte gar
nicht darauf eingehen, dass schon Milliarden DM inves-
tiert wurden – standen kurz vor dem Abschluss. Sie haben
ein Endlagerkonzept zerschlagen, ohne eine einzige Al-
ternative anzubieten.

Frau Hustedt hat gesagt, jetzt werde ein Arbeitskreis
gegründet. Toll! Sie kennen den Spruch genauso gut wie
wir: Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen
Arbeitskreis. Hier wünsche ich Ihnen dann viel Erfolg,
Frau Hustedt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Erkundungsarbeiten für das Endlager in Gorleben

werden gestoppt. Aber warum steht dann in den Verein-
barungen mit den Energieversorgungsunternehmen, dass
einer möglichen Nutzung als Endlager nach vorliegenden
Erkenntnissen nichts im Wege steht?


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!)

Können Sie mir erklären, warum das in einer Vereinba-
rung steht, die Sie mit paraphiert haben?


(Christoph Matschie [SPD]: Weil die Kriterien erst erarbeitet werden! Solange die nicht da sind, können sie auch nicht entgegenstehen! So logisch ist das!)


– Es heißt: „nach vorliegenden Erkenntnissen nichts im
Wege“. Wissen Sie, was Sie machen? Sie verschieben die
Entsorgungsaufgabe auf künftige Generationen. Wir ha-
ben erkundet, Sie haben gestoppt.


(Widerspruch bei der SPD)

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie beunruhigen doch
mit Ihrer Politik die Menschen.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Was tun wir?)


Sie wissen ganz genau, für wie viele Menschen die End-
lagerfrage wichtig ist.


(Dr. Axel Berg [SPD]: Wer hat denn die Ursache gesetzt?)


Aber Sie wollen nicht an sie herangehen, weil dann, wenn
diese Frage gelöst ist, Ihrer Antiatombewegung der Boden
entzogen ist. Es haben Sie also politische Gründe und
nicht sachliche Gründe zu Ihrer Haltung bewogen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Stromerzeugung aus Kernenergie war in

Deutschland ein Standortfaktor; das wissen Sie. Sie
wissen auch, dass mit dem Ausstieg eine Strompreiser-
höhung verbunden ist, was künftig eine Wettbewerbsbe-
nachteiligung im Bereich stromintensiver Produktion
darstellen wird.


(Detlev von Larcher [SPD]: Bayern!)

– Zementindustrie, Chemieindustrie, Aluminiumindus-
trie, lieber Kollege.

Sie kennen auch die Prognosen, dass mit diesem Aus-
stieg deutschlandweit 150 000 Arbeitsplätze in Gefahr
gebracht werden. Zu dem Thema habe ich von Ihnen über-
haupt nichts gehört.


(Horst Kubatschka [SPD]: Sie kennen die Gutachten ja wirklich nicht!)


Sie verabschieden sich hier aus einer Hochtechnolo-
giebranche. Das bedeutet das Quasiverbot einer ganzen
Spitzentechnologie.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das ist keine Spitzentechnologie!)


– Das ist keine Spitzentechnologie?

(Horst Kubatschka [SPD]: Nein, ist es nicht!)


– Lieber Herr Kollege, können Sie mir dann einmal sagen,
warum unsere Facharbeiter aus diesem Bereich die ge-
fragtesten in der ganzen Welt sind?


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Kubatschka, der Verräter an der deutschen Exportwirtschaft!)


Wenn wir in dieser Technologie nicht Spitze sind, wer
dann? Darauf können Sie mir keine Antwort geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Horst Kubatschka [SPD]: Das ist eine überholte Technik!)





DagmarWöhrl

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(C)



(D)



(A)



(B)


Wissen Sie, was Sie machen? Sie werden junge Leute
künftig nicht mehr motivieren können, hier ein Studium
zu ergreifen.


(Heiterkeit und Beifall bei der PDS)

Wissen Sie, was dann kommen wird? Dann müssen Sie
für diesen Bereich eine Green Card erfinden. Auf die Dis-
kussion darüber freue ich mich heute schon.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Grünen haben im letz-

ten Jahr von der Kernspaltung gern als Steinzeittechnolo-
gie gesprochen. Neuerdings sprechen sie von der Über-
gangstechnologie.Aber das ist falsch. Weltweit befinden
sich über 400 Kernkraftwerke in Betrieb. Knapp 40 sind
im Bau; davon haben Sie nichts gesagt. In den USAwer-
den bereits stillgelegte Reaktoren reaktiviert und die ge-
setzlichen Laufzeiten verlängert. Da Sie vorhin von Eu-
ropa gesprochen haben, füge ich hinzu: In Frankreich sind
für die Zeit nach 2010 neue Anlagen in Planung. Das fin-
nische Parlament berät derzeit über den Bau des fünften
Kernkraftwerks. In der Schweiz hat der Bundesrat jetzt
beschlossen, dass die Laufzeiten der bestehenden Kraft-
werke nicht mehr auf 40 Jahre begrenzt werden. In Tsche-
chien und in der Slowakei, aber auch außerhalb Europas,
nämlich in Indien, Südkorea und Brasilien gehen derzeit
neue Reaktoren ans Netz. Sogar Russland setzt auf den
Ausbau der Kernenergie.

Das alles zeigt, dass die Kernenergie keine Übergangs-
technologie ist. Sie ist aber eine Technologie, die ständig
weiterentwickelt werden muss.


(Uwe Hiksch [PDS]: Warum sind in Bayern Atomkraftwerksstandorte gestrichen worden?)


Hier klinken wir uns aus; das ist das Gefährliche. Denken
Sie nur an Reaktortypen wie den EPR und an die Kernfu-
sion!

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, im liberalisierten Weltmarkt für Strom verbieten
sich nationale Alleingänge.


(Detlev von Larcher [SPD]: Lieber gar nichts tun!)


Hier hat Rot-Grün ökonomisch, ökologisch, sicherheits-
technisch und technologiepolitisch einen schweren Fehler
begangen und es wird für uns sehr schwer sein, das ir-
gendwann einmal wieder zu korrigieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415305100
Ich gebe
dem Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.


(Uwe Hiksch [PDS]: Nach so einer Rede hat er es ja einfach! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das glaubt ihr!)


Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Frau Wöhrl, es wird für Sie in der Tat ein
bisschen schwierig; denn um das rückgängig zu machen,

bedarf es der Erfüllung einer Voraussetzung: Sie müssten
wieder an die Regierung kommen.


(Detlev von Larcher [SPD]: Sehr wahr! – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Wir arbeiten dran!)


– Das sehe ich: Daran arbeiten Sie nicht nur miteinander,
sondern manchmal auch gegeneinander; insofern wün-
sche ich gute Verrichtung!


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Danke, gleichfalls! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ein sehr sachlicher Beitrag!)


Ich kann die Geschehnisse bei Ihnen durchaus sportiv ver-
folgen.


(Zustimmung bei der SPD)

Ich weiß gar nicht, wovon uns die rechte Seite dieses

Hauses zu überzeugen versucht: wie klasse Atomkraft ist?
Was für eine Zukunftsherausforderung damit verbunden
ist? Ich rate Ihnen einfach Folgendes: Halten Sie diese Re-
den nicht hier! Versuchen Sie diejenigen zu überzeugen,
die mit der Produktion von Strom Geld verdienen. Die
Stromproduzenten haben – übrigens nicht nur in Deutsch-
land, sondern überall dort, wo Wettbewerb und Markt-
wirtschaft stattfindet, das heißt, wo nicht mehr subventio-
niert wird, wo also das getan wird, was viele von Ihnen in
Sonntagsreden immer wieder fordern – eine klare Ent-
scheidung getroffen: Atomkraft – nein, danke; die Atom-
energie hat für uns aus Gründen der Wirtschaftlichkeit
überhaupt keine Perspektive.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Man braucht ja keinen zu zwingen!)


Deswegen können wir diese Debatte eigentlich beenden.
Aber damit hier nichts Falsches im Raum stehen bleibt,

erlaube ich mir noch folgende Bemerkung: Zu den Äuße-
rungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen,
die der Kollege Matschie zitiert hat, kam von der rechten
Seite des Hauses gleich der Hinweis: Die sind doch alle
ausgewechselt worden. – Der Sachverständigenrat für
Umweltfragen, der dieses Gutachten erstellt hat, ist von
der Umweltministerin Dr.Angela Merkel berufen worden.


(Detlev von Larcher [SPD]: Hört! Hört!)

Ihm sagen Sie fälschlicherweise nach, er habe dem jetzi-
gen Umweltministerium schlechte Noten erteilt. Sie soll-
ten hinsichtlich der Quellen, auf die Sie sich berufen, viel-
leicht ein bisschen vorsichtiger sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich! Peinlich!)


Die Rede, die der Kollege Claus gestern gehalten hat,
fand ich gut. Es war ein wenig schade, dass Sie, Frau
Bulling-Schröter, sich gerade bei diesem Thema wieder in
die Gemeinsamkeit der Opposition eingereiht haben. Sie




DagmarWöhrl
15016


(C)



(D)



(A)



(B)


wissen sehr wohl, wann das erste Atomkraftwerk stillge-
legt wird: Das Atomkraftwerk Stade wird im Jahre 2003
vom Netz gehen. Das ist ein Ergebnis des Atomkonsenses.
Also war Ihre Frage nur rhetorisch.

Mich verwundert die Gemeinsamkeit zwischen der
PDS, der F.D.P. und der CDU in der Auffassung, dass man
sowohl gegen Zwischenlager als auch gegen Atom-
transporte ist. Ich rate, einmal darüber nachzudenken, ob
es nicht in Ihrem Denken ein kleines Entweder-oder ge-
ben müsste. Die Koalitionen, die sich jetzt gebildet haben,
finde ich teilweise sehr verwunderlich. Die Position der
CDU lautet: Wir sind gegen ein dezentrales Zwischenla-
ger, das nach dem Sicherheitsstandard des heutigen Stan-
des der Technik funktioniert, weil man Atommüll nach
Ahaus transportieren kann.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie auf einer anderen Veranstaltung, oder was?)


Die Position der PDS lautet: Wir sind zwar vor Ort gegen
das Zwischenlager; aber wir sind auch dagegen, dass der
Atommüll in ein anderes zentrales Zwischenlager trans-
portiert wird. Das heißt, Sie beide, CDU und PDS, sind
gegen alles.

Nun speziell zu Ihnen von der PDS: Was würde ei-
gentlich passieren, wenn die Forderung nach einem So-
fortausstieg gemeinsam durchgesetzt wäre? Dann hätten
Sie das gleiche Problem: Sie müssten den Atommüll, der
von der rechten Seite des Hauses in der Zeit, als sie die po-
litische Verantwortung trug, ins Ausland befördert wor-
den ist, zurücknehmen. Bis zu der Zeit, wo der Atommüll
endlagerfähig ist – hierfür gilt das Datum 2030; es geht
dabei nicht um politischen Opportunismus, sondern
schlicht und ergreifend um Physik –,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


müssen Sie über Zwischenlagermöglichkeiten verfügen.
Auch Sie müssten die Frage beantworten, ob man eine
zentrale Zwischenlagerung – das würde bedeuten, dass
man mindestens zwei Transporte durchführt – oder eine
dezentrale Zwischenlagerung vornimmt, das heißt, dass
man den Atommüll dort lagert, wo er jetzt ist, um ihn dann
später in ein entsprechendes Endlager zu bringen.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Dauerhaft, oder was? Das ist ja unglaublich!)


Realpolitisch stehen wir vor genau dieser Alternative.
Beide Seiten des Hauses versuchen leider, sich um diese
Entscheidung herumzudrücken.

Frau Homburger, gelegentlich hat man es da mit dem
baden-württembergischen Landrecht zu tun. Ich denke an
die Frage, ob auch der Behälter, der zum Abtransport be-
reitgestellt wurde, eigentlich Bestandteil des radioaktiven
Inventars einer Atomkraftanlage ist. Da gibt es eine so-
litäre Rechtsauffassung der Landes-regierung Baden-
Württemberg. Die hat sie nicht schon immer, sondern erst
seit Mai 2000. Bis dahin war Baden-Württemberg wie
Bayern, wie Nordrhein-Westfalen, wie Schleswig-Hol-
stein der Auffassung, dass das, was zum Abtransport be-
reitsteht, nicht zum radioaktiven Inventar des Atomkraft-
werks gehört.

Weil die Landesregierung von Baden-Württemberg
diese Rechtsauffassung aus durchsichtigen politischen
Gründen geändert hat, hat der Bundesumweltminister sie
im Interesse eines einheitlichen Vollzuges des Atom-
gesetzes entsprechend angewiesen. Wir sind dafür, dass
das Atomrecht nicht gebogen und nicht politisch aus-
gelegt, sondern bundeseinheitlich praktiziert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist die Lage und ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei,
dies gerichtlich anzugreifen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wie Sie das jetzt hier verteidigen! Das ist ja großartig! Sie werden ja ein richtiger Fachmann im Atomrecht!)


– Ja, werde ich auch. Ich habe zum Beispiel gerade gehört,
Herr Paziorek – das fand ich ganz interessant –, wie Sie
ein vehementes Plädoyer für unsere Änderung des Atom-
gesetzes gehalten haben.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sie zuckten auch zusammen! Das merkte ich! – Heiterkeit bei der CDU/CSU)


– Nein, ich freute mich darüber. Ich kann ja zwischen den
einzelnen Abgeordneten der Opposition unterscheiden
und Sie wissen, dass ich Sie schätze. Deswegen hat es
mich gefreut, dass Sie so auf uns zugegangen sind.

Sie haben gesagt, Sie wollten, dass künftig vor der
Durchführung eines Transportes geprüft werde, ob der
Atommüll schadlos verwertet werde. Ich sage Ihnen
eines: Es bedurfte sehr harter Verhandlungen mit der In-
dustrie, diesen Rechtstatbestand – der vom Bundesamt für
Strahlenschutz bei der Beförderungsgenehmigung heute
nicht berücksichtigt werden darf – einzuführen,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Deshalb habe ich auch nur gefragt!)


sodass künftig vor dem Transport zusammen mit der Be-
förderungsgenehmigung die Bestätigung von der jeweili-
gen Behörde vorzulegen ist.

Aber damit Sie sich keine Sorgen machen, weil Sie nun
sagen könnten, möglicherweise habe eine Landesregierung,
beispielsweise die hessische Landesregierung, rechtswidrig
gehandelt, will ich Sie nur darauf verweisen, dass die
französische Atomaufsicht uns nachdrücklich schriftlich
bestätigt hat, dass es für die Wiederaufarbeitung dieser
Stoffe in der Anlage UP 2/400 selbstverständlich eine
Genehmigung gebe. Das heißt, auch die hessische Be-
hörde hat sich nicht rechtswidrig verhalten.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die erst recht nicht!)


Eine letzte Bemerkung zum Komplex Atom und End-
lager. Ich verstehe ja, Frau Wöhrl, dass Sie den Atommüll
auf jeden Fall nach Norddeutschland transportiert haben
wollen.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das war ein gemeinsamer Konsens! Das wissen Sie!)





Bundesminister Jürgen Trittin

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(C)



(D)



(A)



(B)


Aber wenn Sie den Konsens zitieren, zitieren Sie ihn bitte
richtig. An dem Punkt, an dem Herr Paziorek aufgehört
hat, geht es nämlich weiter:

Somit stehen die bisher gewonnenen geologischen
Befunde

– jetzt zuhören –
einer Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben
zwar nicht entgegen.

Was würde passieren, wenn da etwas anderes stünde? Was
wäre, wenn die Eignungshöffigkeit widerlegt würde? Wir
müssten kein Moratorium schaffen, sondern wir müssten
die Bude sofort zumachen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Deshalb das Moratorium!)


Hier steht nichts anderes, als dass die Eignungshöffigkeit
noch nicht widerlegt ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dann geht es weiter:
Vor allem folgende Fragestellungen begründen
Zweifel:
– Die Beherrschbarkeit von Gasbildung in dichtem
Salzgestein ...

Außerdem sei die Frage der Rückholbarkeit international
nicht geklärt.

Auch dies ist keine solitäre Position der Bundesre-
gierung, sondern eine mit den Unternehmen, die diese
ganzen Erkundungsarbeiten zu bezahlen haben, abge-
stimmte Position. Sie laufen sich die Birne ein, wenn Sie
versuchen, uns zu erklären, dass sich die Unternehmen
gegen das Unternehmensinteresse verhalten,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sie setzen jetzt die Interessen der Unternehmen durch? Das ist ja erstaunlich!)


wenn sie den fachlichen Einwänden gegen Gorleben
nachgeben!

Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zum Kli-
maschutz machen. Die Bundesrepublik Deutschland ist
das einzige Land, das Aussichten hat, das Klimaschutzziel
in Europa zu erreichen. Es ist nicht so, dass der CO2-Ausstoß in anderen Ländern steigen könnte: Er steigt in
anderen Ländern, um plus 10 Prozent in den Niederlanden
usw.; ich könnte sie alle durchgehen.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Aber wir haben die Klimaschutzziele umgesetzt, nicht Sie! Bei Ihnen passiert nichts mehr! Die CDU/CSU war auf dem Weg, nicht Sie!)


Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein Ist
von minus 15 Prozent. Wir sind heute auf dem Wege, die
Reduzierung um 25 Prozent tatsächlich zu erreichen, und
zwar gegen den massiven Widerstand von Leuten wie
Herrn Ronsöhr und anderen. Sie haben versucht, das
Erneuerbare-Energien-Gesetz mit einem Potenzial von

10 Millionen Tonnen CO2 zu verhindern. So war es hierin diesem Bundestag!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Bei Ihnen werden doch die Klimaschutzziele nicht eingehalten! Reden Sie doch keinen Quatsch!)


Sie sind es zum Beispiel, die bei jeder Gelegenheit mit
Ihren Mitgliedern Straßenblockaden gegen die Ökos-
teuer organisieren.


(Lachen bei der CDU/CSU)

– Es ist doch so. Ihre Mitglieder beteiligen sich daran.


(Ernst Hinsken trant haben da Erfahrung!)


Ich bin ja tolerant für so etwas, aber Sie scheinen das
nicht zu sein.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Aber wir haben noch nie so demonstriert wie Sie!)

Eine Bemerkung kann ich mir allerdings nicht

verkneifen: Wenn Sie sich die jüngste Entwicklung beim
Klima anschauen, stellen Sie fest: Wir haben festgehalten
an der Entkoppelung von Primärenergieeinsatz und
Wirtschaftswachstum, also weniger Primärenergieein-
satz bei beachtlichem Wirtschaftswachstum. Dennoch ist
der CO2-Ausstoß gestiegen. Warum? Weil eine Ver-lagerung von hocheffizientem Gas auf Kohle eingetreten
ist; man kann das auch noch anders ausdrücken: weil wir
eine Verlagerung von besteuerten Energieträgern wie
Gas auf unbesteuerte zu verzeichnen haben, weil wir
nach wie vor einen Wettbewerbsnachteil für klimafre-
undliche Energie-träger wie Gas haben. Das ist die Situ-
ation. Daraus bleibt der simple Schluss zu ziehen: Mit
dieser Klimabilanz hat etwas tatsächlich seine Wirk-
samkeit bewiesen, nämlich Preissignale, und das ist die
Rechtfertigung für die ökolo-gische Steuerreform.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Birgit Homburger [F.D.P.]: Eine äußerst schwache Rede! – Zuruf von der CDU/CSU: Trittin, der Wendehals!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415305200
Zu einer
Kurzintervention gebe ich nun der Kollegin Eva Bulling-
Schröter das Wort.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415305300
Herr Minister Trittin,
Sie haben die PDS mit der rechten Opposition gleich-
gestellt und behauptet, wir seien gegen alles.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist eine Beleidigung für uns!)


– Die CDU fühlt sich beleidigt, aber die können es ja
auch selbst darlegen.

Diese Argumentation habe ich schon einmal gehört,
und zwar vor einigen Jahren, als diese rechte Opposition




Bundesminister Jürgen Trittin
15018


(C)



(D)



(A)



(B)


hier die Grünen beschimpft hat, sie seien gegen alles.
Und Sie übernehmen jetzt diese Argumente.


(Zustimmung bei der PDS)

Fakt ist: Wir, die PDS, stehen für den sofortigen

Ausstieg aus der Atomenergie. Wir lehnen Zwischenlager
deswegen ab, weil wir wissen, dass damit die Laufzeiten
verlängert werden. Das wird bestätigt.


(Beifall bei der PDS)

Ich habe schon einige Male von dem Antrag zum AKW

Gundremmingen berichtet, in dem eine Kapazität
genehmigt werden soll, die bis 2046 läuft. Solche Dinge
lehnen wir ab. Wir wollen den sofortigen Ausstieg. Wir
wollen natürlich dann ein Endlager, das ist ganz klar.


(Zuruf von der SPD: Und bis dahin?)

Uns ist auch bewusst, dass das sehr schwer in der
Bevölkerung durchzusetzen ist, aber es ist eine Notwen-
digkeit. Ich meine, wir haben eine Verantwortung.

Hier wurde das Gutachten des Wissenschaftsrates
bezüglich der Problematik der Entsorgung angesprochen.
Diese Problematik wird noch sehr lange weiter bestehen.
Das heißt, wir brauchen jetzt dringend ein Handeln. Wir
meinen, dass es nicht mit Zwischenlagern getan ist, son-
dern wir wollen in Übereinstimmung mit allen
Umweltverbänden den Sofortausstieg.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415305400
Zur Er-
widerung der Bundesminister Trittin.


(Zuruf von der PDS: Eigentlich kann er nichts mehr sagen!)


Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Liebe Frau Bulling-Schröter,
ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, indem ich Sie un-
gerechtfertigt in die Nähe der Union rückte.


(Beifall bei der PDS – Eva Bulling-Schröter [PDS]: Danke!)


Um die Frage allerdings haben Sie sich herumge-
drückt. Unterstellt, Sie würden sich mit Ihrer politischen
Auffassung durchsetzen und es wäre möglich, jetzt sofort
auszusteigen, dann bleibt ein Zeitfenster von 25 bis
30 Jahren. In dieser Zeit werden Sie zwischenlagern
müssen und irgendwann Transporte in ein Endlager
durchführen müssen. Wenn Sie mit uns dazu bereit sind,
sind wir in einem rationalen Diskurs ein ganzes Stück
näher zueinander gekommen, auch wenn wir die Positio-
nen nicht teilen.

Ich möchte eine zweite Bemerkung anfügen; sie
bezieht sich auf die Menge des Mülls. Wir haben mit dem
Atomkonsens nicht 1:1 das durchgesetzt, was wir wollten.
Es war ein Kompromiss, und in diesem Kompromiss
haben verschiedene Seiten Zugeständnisse machen
müssen. Aber eines können Sie doch nicht leugnen: Wenn
wir den Stopp der Zulieferungen an die Wiederaufar-
beitung im Jahr 2005 umsetzen, was heißt das? Das heißt,
dass die Wiederaufarbeitung von europäischem Atom-

müll in La Hague faktisch beendet wird. Es heißt ganz
konkret: Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung nicht nur in
Deutschland, sondern faktisch in Gesamteuropa, weil nur
noch die Deutschen die Anlagen in La Hague und Sella-
field finanziell am Laufen halten.

Mit dem Übergang zu einem Konzept der direkten
Endlagerung können Sie uns eines nicht absprechen, näm-
lich dass wir auf diese Weise aus bisher drei Transporten
– nämlich in die Wiederaufarbeitung, aus der Wieder-
aufarbeitung nach Gorleben und aus Gorleben zu einem
Endlager – nur noch einen Transport gemacht haben. Wir
haben also ganz in Ihrem Sinne dafür gesorgt, dass das
Aufkommen der Transporte auf ein Drittel gesunken ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415305500
Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich nunmehr für die SPD-
Fraktion dem Kollegen Michael Müller das Wort.


Michael Müller (SPD):
Rede ID: ID1415305600
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es ist richtig, dass in der Ver-
gangenheit große Teile dieses Hauses gemeinsam an dem
Ausbau der Atomenergie beteiligt waren. Diese Position
stand im Zusammenhang mit bestimmten Wachstums-
prognosen und Fortschrittsideen. Ich war daran nicht
beteiligt. Trotzdem sage ich, dass wir eine gemeinsame
Verantwortung haben, diese Altlast zu beseitigen.

Man kann uns deshalb nicht vorwerfen – auch denen
nicht, die diese Position damals nicht bezogen haben –,
dass wir uns heute verantwortungsbewusst um die Lösung
der Probleme, die sich aus der Nutzung der Atomenergie
ergeben, kümmern wollen. Eine derartige Debatte weist
eine große Schieflage auf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Natürlich wäre vielen von uns der ganz schnelle
Ausstieg lieber. Aber wir können doch nicht leugnen, dass
es unterschiedliche Risiken gibt, auf die mit unter-
schiedlichen Strategien reagiert werden kann. Man muss
also eine Abwägung treffen. Die entscheidende Frage ist,
ob unter den Rahmenbedingungen, die wir für diese
rechtlich und ökonomisch privilegierte Energietechnik
geschaffen haben, ein Weg gegangen werden kann, der
möglichst risikofrei ist. Man kann uns nicht zum Vorwurf
machen, dass wir das versuchen. Man muss vielmehr fra-
gen, wieso die Atomenergie in der Vergangenheit über-
haupt derartig privilegiert werden konnte.


(Zuruf von der SPD: Jawohl!)

Dass ist die eigentliche Frage!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir bekennen uns zu der Verantwortung, die sich aus
der Politik ergibt, die damals im Bundestag von vielen ge-
tragen wurde. Man muss jedoch in diesem Zusammenhang
die Unglücksfälle erwähnen: Es gab beispielsweise den
Störfall in Harrisburg. Nur wenige Minuten haben gefehlt,




Eva Bulling-Schröter

15019


(C)



(D)



(A)



(B)


um dort einen Super-GAU auszulösen. Es gab die Katas-
trophe von Tschernobyl und die kontaminierten Transport-
behälter. Die Entsorgungsfrage ist ungeklärt. In der Politik
ist die Schlüsselfrage, ob man lernfähig ist. Die Politik
wird immer Fehler machen. Entscheidend ist aber, dass
wir aus diesen Fehlern lernen. Darin unterscheiden sich in
der Tat die beiden Seiten dieses Hauses.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt einen weiteren zentralen Unterschied. Wir wis-
sen heute, dass Alternativen nicht nur realisierbar, son-
dern auch vorteilhaft sind. In den Alternativen liegt die
Chance für eine bessere Zukunft und für das Wieder-
erlangen eines Konsenses in der Bevölkerung. Es besteht
nämlich schon lange kein Konsens über die Atomenergie
mehr. Konsens besteht nur unter denjenigen, in deren In-
teresse die Nutzung der Atomenergie liegt. Aber in der
Bevölkerung gibt es diesen Konsens nicht mehr. Das zeigt
jede Umfrage seit den 80er-Jahren. Insofern vollzieht die
Politik einen Teil der demokratischen Willensbildung in
unserem Volk, was richtig ist.

Der Ausstieg aus der Atomenergie ist für uns eine
Richtungsentscheidung, auch für den Klimaschutz.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie doch selber nicht!)


– Wenn Sie sich tiefer gehend mit dieser Frage befassen
würden, dann wüssten Sie, dass die von Ihnen immer
wieder in die Diskussion gebrachte Alternative, nämlich
die Atomenergie durch aus Gas oder Kohle gewonnene
Energie zu ersetzen, nicht die wahre Alternative ist. Sie
entspricht vielmehr einem antiquierten Denken. Daraus
ergibt sich der Streit, den wir führen.


(Beifall bei der SPD)

Es geht im Hinblick auf eine moderne Energiepolitik

um eine ganz andere Kernfrage: Unter welchen Bedin-
gungen kann man optimal Energie sparen und optimal die
Energieeffizienz erhöhen? Wenn Sie nicht wie Frau
Homburger völlig verblendet sind, dann werden Sie zu
der Antwort kommen, dass die entscheidende Frage ist,
wie man in Zukunft möglichst hohe Wirkungsgrade erzie-
len kann. Hohe Wirkungsgrade sind aber mit der Atom-
energie nicht zu erreichen. Die Formel „Atomenergie und
Energieeinsparung“ geht im Strombereich nicht auf. Das
ist der entscheidende Punkt, den Sie immer noch nicht be-
griffen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gucken Sie sich die Energiekonferenzen, die in den
letzten Jahrzehnten in der Welt stattgefunden haben, an:
Ob Cannes, ob Montreal, ob Tokio, ob Madrid, überall
wurden Szenarien mit dem Ausbau der Atomenergie
vorgelegt. Aber nicht ein einziges dieser Szenarien hat das
Klimaproblem lösen können, und zwar ganz einfach des-
halb nicht, weil man an einer ineffizienten Großstruktur
festgehalten hat, die nur auf der Basis hohen Stromab-
satzes und hoher Reservemargen funktioniert.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wir haben das Klima verbessert, Sie noch nicht!)


Das heißt, das ist ein System, das aus sich heraus einen hohen
Stromabsatz produziert. Genau dies ist nicht zukunfts-
verträglich.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Übrigens waren da die Vertreter Ihrer Partei einmal
wesentlich weiter. Ich erinnere nur daran, dass wir einmal
gemeinsam in der Enquete-Kommission festgestellt haben,
dass genau dieser Pfad das Klimaproblem nicht lösen kann,
sondern dass Energiedienstleistungen, das heißt Verän-
derungen der Nachfrage, die entscheidende Antwort sind,
um das Klimaproblem zu lösen. Das ist in der Tat der
Ansatz, und da ist eben die Grenze der Atomenergie.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Energiedienstleistung ist etwas anderes!)


– Energiedienstleistung ist ein feststehender Begriff.
Wenn Sie die Debatte kennten, würden Sie das nicht
sagen.

Hinzu kommt die ungelöste Entsorgungsfrage. Wir
können in dieser Frage nicht die Position vertreten: aus
den Augen, aus dem Sinn. Es wird so getan, als würde die
Bundesregierung die Frage der Entsorgung ganz leicht-
fertig behandeln. Nein, meine Damen und Herren, von
Anfang an war die Atomenergie wie ein Flugzeug, das
gestartet ist, ohne eine Landebahn zu haben. Das ist die
eigentliche Wahrheit bei der Atomenergie. Bis heute gibt
es kein gesichertes, verantwortbares Entsorgungskonzept.
Das ist das eigentliche Problem.


(Beifall bei der SPD)

Jetzt sind wir dabei, eine Lösung zu finden, und zwar

erstens, indem wir auf die direkte Endlagerung um-
steuern, und zweitens, indem wir unter klaren Kriterien
eine Endlagerstätte suchen. Es gibt auch keinen anderen
Weg. Dieser Weg ist vernünftig, zumal wir jetzt durch die
Ausstiegsszenarien wissen, wie viel Atommüll anfällt.
Auch das ist ein wichtiger Punkt, um Planungssicherheit
in dieser Frage zu erreichen. Das heißt, wir machen einen
deutlichen Schritt in Richtung auf eine verantwortbare
Lösung für das Entsorgungsproblem. Das ist gut so.

Zu sagen – dies ist in der Vergangenheit oft geschehen,
beispielsweise seitens der Bundesländer Bayern und
Baden-Württemberg –: „Wir wollen die Atomenergie,
aber mit der Entsorgungsproblematik haben wir nichts zu
tun“, ist keine verantwortbare Position. Deshalb sagen wir
auch: Den Atommüll, den wir in Deutschland produziert
haben, werden wir auch in Deutschland sichern. Deshalb
sind wir auf diesem Weg hin zu einem Endlagerkonzept.
Wir werden dafür entsprechende Lösungen finden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden den Konsens, der in der Bevölkerung
schon lange da ist, in der Energiepolitik durchsetzen.


(Zuruf von CDU/CSU: Bleibe mal bei den Transporten!)


Der Ausstieg ist ein wesentlicher Bestandteil, aber nicht
nur er. Es geht auch um die Frage, welche Antwort wir auf
die Entwicklung auf den europäischen Strommärkten ge-




Michael Müller (Düsseldorf)

15020


(C)



(D)



(A)



(B)


ben. Wir müssen auch eine Antwort auf die Frage finden,
wie wir in Zukunft Stromerzeugung, Beschäftigung und
Umweltschutz in der Bundesrepublik Deutschland si-
chern. Das heißt, wir stehen vor weitreichenden Struk-
turänderungen. Der Ausstieg aus der Atomenergie ist eine
Chance, diesen Prozess zu beschleunigen und ihm jetzt
eine klare Richtung zu geben. Das tun wir.

Ich beobachte mit großem Interesse, dass das M-Team
der CDU, also Frau Merkel, Herr Merz und Herr Meyer,
immer darüber redet, dass endlich die Zukunftsdebatte ge-
führt werden muss, sich dann aber heftig über die Rolle
der CDU und über Kanzlerkandidaten streitet. Das ist
scheinbar die Zukunftsdebatte. So etwas machen wir
nicht. Wir führen eine wirkliche Zukunftsdebatte. Es wird
noch lange dauern, bis Sie dazu kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1415305700
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstim-
mungen, zunächst zu Tagesordnungspunkt 15 a. Hierzu
liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/5320 vor. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Stimmenthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ab-
gelehnt.

Weiterhin liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. auf Drucksache 14/5267 vor. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Stimmenthaltungen? – Auch dieser Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.
abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 15 b, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu
den Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie für den
Standort Deutschland auf Drucksache 14/4569. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3667 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 16 a und
16 b auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organisa-
tionsreform in der landwirtschaftlichen Sozial-
versicherung (LSVOrgG)

– Drucksache 14/5314 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Landwirtschaftliche Sozialversicherung zukunfts-
orientiert gestalten
– Drucksache 14/3774 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind die Frak-
tionen damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen Peter
Dreßen für die Fraktion der SPD das Wort.


Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1415305800
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Volksmund sagt: Wer bezahlt, be-
stimmt. – Dass diese Regel nicht immer zutrifft, beweisen
die landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger. Ins-
gesamt finanziert der Bund in der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung über 50 Prozent aller Ausgaben.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Gestern haben wir bestimmt, ohne zu bezahlen!)


– Herr Ronsöhr, bevor Sie schimpfen, sollten Sie erst ein-
mal zuhören.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Ich habe von gestern gesprochen Ich habe nur gesagt: Da haben wir bestimmt, ohne dass die Bezahlung geregelt ist!)


Im Einzelnen sind dies in der Altersversicherung
4,3 Milliarden DM bzw. 72 Prozent der Gesamtausgaben.
In der Krankenversicherung trug der Bund 1999
2,18 Milliarden DM bzw. 55 Prozent der Gesamtausga-
ben. In der landwirtschaftlichen Unfallversicherung gab
der Bund im Jahr 1999 550 Millionen DM bzw. 32 Pro-
zent der Bruttoumlage aus. Auch unter Berücksichtigung
des Haushaltssanierungsgesetzes wurden im Jahre 2000
annähernd 7 Milliarden DM für die landwirtschaftliche
Sozialversicherung ausgegeben.

Angesichts dieser Situation muss ich mich schon fra-
gen, was der Vorwurf eigentlich soll, wir würden für die
Bauern in diesem Land nichts tun. Kein anderer Berufs-
stand in diesem Land erhält so viele Zuschüsse zur Sozi-
alversicherung wie die Bauern.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Schauen Sie sich einmal die Knappschaft an! 14 Milliarden! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Agrardiesel!)


– Kein anderer Berufsstand erhält so viel wie die Land-
wirtschaft. Wenn Sie das mit der Knappschaft vergleichen
und alles, auch die Krankenversicherung und die Berufs-
genossenschaft, berücksichtigen, dann kommen Sie nicht
auf diese Prozentzahl.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Sie haben bei uns gekürzt! Aber bei den anderen erhöhen Sie! Wir haben nichts gegen die Erhöhungen bei den anderen, aber etwas gegen die Kürzungen bei uns!)





Michael Müller (Düsseldorf)


15021


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Bundesregierung hat im Bundestag Rechenschaft
darüber abzulegen, dass die bewilligten Bundesmittel
zweckentsprechend, wirtschaftlich und sparsam einge-
setzt werden. Zur Sparsamkeit gehört, dass die Bauern-
verbände über diese Kassen nicht noch zusätzlich fi-
nanziert werden, wie das in Baden-Württemberg der Fall
war. Dazu muss man feststellen: Das grenzte wirklich an
kriminelle Machenschaften. Das konnten wir so nicht
akzeptieren. Die Staatsanwaltschaft war ja damit be-
schäftigt. Mich hat nur gewundert, dass die Ministerin, die
eine Überprüfung dieser Vorgänge veranlasst hat, dann
auch noch entsprechend Ärger mit den Bauernverbänden
und der CDU-Fraktion bekommen hat. Ich finde, es war
notwendig, dass einmal geklärt worden ist, was da abge-
gangen ist.

Dennoch hat der Bund keine Möglichkeit, un-
wirtschaftliches Verhalten der überwiegend landesunmit-
telbaren LSV-Träger zu verhindern.

Ich hoffe, ich habe Ihnen hiermit deutlich gemacht,
dass mein Eingangssatz „Wer bezahlt, bestimmt“ in
diesem Fall eben nicht zutrifft. Ich stimme dem Bun-
desrechnungshof und dem Rechnungsprüfungsausschuss
voll zu: Eine bundesweite Kammer wäre betriebs-
wirtschaftlich, aber auch volkswirtschaftlich gesehen am
sparsamsten und am effektivsten. Dies lässt jedoch lei-
der – ich sage bewusst: leider – unser Föderalismus nicht
zu.

So kommen wir heute zu einer Minimallösung. Auch
wenn man schon hört, dass in der Anhörung noch Än-
derungswünsche von Verbänden vorgebracht werden
sollen, so hoffe ich doch, dass diese Minimallösung im
Bundesrat eine Mehrheit finden wird. Immerhin wird
nach der Reform der Bund im Jahre 2001 23 Millio-
nen DM, im Jahre 2002 55 Millionen DM und im Jahre
2004 56 Millionen DM einsparen. Hinzu kommt, dass die
Sozialversicherungsträger im Jahre 2004 nochmals rund
59 Millionen DM einsparen werden. Gemessen an dem
Gesamtvolumen, das wir ausgeben, ist es nicht einmal
1 Prozent, was wir hier einsparen.

Aus ursprünglich 20, heute 17, werden 8 plus 1 Lan-
dessozialversicherungsträger. Hinzu kommt, dass Quer-
schnittsaufgaben wie Beitragseinzug, EDV, Rentenaus-
zahlung und -anpassung zentral erledigt werden sollen. –
Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, fällt mir dazu nur
ein.

Diese Minimallösung wird, so hoffen wir alle, zur Ver-
schlankung der Strukturen und zu mehr, aber nicht opti-
maler Wirtschaftlichkeit im Interesse der Steuerzahler
führen.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Im § 119 a SGB VII haben wir als spätesten Zeitpunkt,
zu dem die durchzuführenden Vereinigungen vorgenom-
men werden sollen, den 1. Januar 2003 festgelegt. Hier ist
auch ein Appell an die Selbstverwaltung formuliert, die
entsprechenden Beschlüsse zu fassen. Falls dies nicht
passiert, sind die entsprechenden Aufsichtsbehörden der
Länder gefordert. Dabei wurde Rücksicht auf die Lan-

dessozialversicherungsträger genommen, die schon jetzt
Beschlüsse gefasst haben.

Dass eine rot-grüne Bundesregierung dabei die Be-
lange der Beschäftigten berücksichtigt, ist wohl selbst-
verständlich und muss eigentlich nicht erwähnt werden.

Ob allerdings die angestrebte Stärkung der Ein-
wirkungsmöglichkeiten des Bundes erreicht wird, wird
uns die Zukunft zeigen. An diesem Gesetzesvorhaben, das
ja auch noch eine Anhörung erfahren wird, wird deutlich,
dass wir uns hier in diesem Hause einmal intensiv über
den Föderalismus – darüber, wo er wirklich nachteilig
wirkt – unterhalten sollten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415305900
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Max Straubinger von der
CDU/CSU das Wort.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1415306000
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bringen heute einen Gesetz-
entwurf zur Reform der landwirtschaftlichen Sozialver-
sicherungsträger ein. Sie kommen damit einer Forderung
der CDU/CSU nach


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Straubinger!)


– selbstverständlich, Frau Lemke –, welche bereits mit
Antrag vom 4. Juli 2000 Eckpunkte vorgegeben hat.
Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes muss sein, die Kosten
in den Verwaltungen zu reduzieren und die Effizienz zu
steigern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir stimmen darin überein, dass die Reduzierung

der Anzahl der landwirtschaftlichen Sozialversiche-
rungsträger von derzeit 20 auf nunmehr neun ein
richtiger Ansatz ist. Dies werden wir sicherlich mittragen.
Die Selbstverwaltungen haben diese Entwicklung aber
bereits aus eigenem Antrieb weit vorangetrieben. Insofern
ist die gesetzliche Grundlage vielleicht nur noch im
Nachhinein zu betrachten.

Ich hoffe auch, dass die Festlegung auf die jetzt im
Gesetzentwurf vorgesehenen Träger eine endgültige Ab-
sage der SPD an zentralistische Lösungen sein wird. Ihre
Ausführungen, Herr Kollege Dreßen, haben eigentlich
wieder gezeigt, dass die SPD nur für Zentralismus steht.


(Peter Dreßen [SPD]: Nein, das ist Schwachsinn! Wenn es um Steuerverschwendung geht, bin ich wirklich für Abbau von Verwaltungskosten! – Gustav Herzog [SPD]: Sie haben nicht zugehört!)


– Doch. – Diese Zentralisierung hätte aber hinsichtlich der
Versichertennähe bzw. bei der Verteilung der regionalen
Arbeitsplätze enorme Nachteile gebracht. Vor allen Din-
gen, Herr Kollege Dreßen: Eine zentrale Einrichtung




Peter Dreßen
15022


(C)



(D)



(A)



(B)


muss nicht unbedingt effizienter und billiger arbeiten als
eine dezentrale.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Kein Wettbewerb! – Gegenruf des Abg. Peter Dreßen [SPD]: Das zeigt, dass Sie keine Ahnung haben!)


Mit dem Gesetz wird eine Verschlankung der Organi-
sationsstrukturen, das Ausschöpfen von Wirtschaftlich-
keitsreserven und – das ist meines Erachtens sehr bedeut-
sam – der sparsame Umgang mit den eingesetzten
Bundesmitteln angestrebt. Dies kann auch erreicht werden.

Dem hohen Anteil von Bundesmitteln soll durch eine
stärkere Einflussmöglichkeit des BundesRechnung ge-
tragen werden.

Die im Gesetzentwurf vorgesehene Regeldichte und
die Übertragung von Kompetenzen auf die Spitzen-
verbände schießen aber weit über das Ziel hinaus.


(Lachen bei der SPD)

Es macht doch keinen Sinn, Herr Dreßen, durch Fusionen
größere und leistungsfähigere Einheiten zu schaffen, de-
nen man dann aber nur noch einen Bruchteil an Kompe-
tenzen zutraut.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Völlig falsch! Sie hätten hier Herrn Hornung reden lassen sollen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie haben nichts verstanden!)


Ich glaube, dass dies mit kleineren Einheiten genauso er-
reicht werden kann.

Zum Beispiel ist nicht einzusehen, dass, wenn sich
sämtliche LSV-Träger bereits auf ein Rechenzentrum
mit zwei Betriebszentren geeinigt haben und dies als Ar-
beitsgemeinschaft unter Einbeziehung der Spitzenver-
bände betreiben wollen, per Gesetz im letzten Moment
dem Gesamtverband der landwirtschaftlichen Alterskas-
sen die Befugnis über die gesamte Organisation und sogar
über die Festlegung des Sitzes eines Rechenzentrums zu-
gewiesen werden soll. Hier wird der Grundsatz, dass frei-
willige Einigungen Vorrang vor gesetzgeberischen
Zwangsmaßnahmen haben sollen, schlichtweg auf den
Kopf gestellt.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wie immer bei denen!)


Ebenso wenig ist einzusehen, warum die Spitzenver-
bände die erforderlichen EDV-Verfahren und -Pro-
gramme für ihre Mitglieder ausschließlich selbst ent-
wickeln sollen. Der bestehende IT-Kooperationsvertrag
der LSV-Träger würde damit vollends unterlaufen, und
zwar mit einer unnütz scharfen Bestimmung, die noch
dazu zur Erreichung des angestrebten Ziels völlig unge-
eignet ist. Aus gutem Grund werden die EDV-Entwick-
lungsaufgaben – man höre und staune – auch bei den an-
deren gesetzlichen Rentenversicherungen dezentral
erledigt. Ich sehe also keinen Grund, warum der Gesetz-
geber eine Zentralisierung vorschreiben sollte.


(Peter Dreßen [SPD]: Aber Sie müssen doch einsehen, dass fünf Rechenzentren mehr kosten als eines! Sie haben von Betriebswirtschaft wirklich keine Ahnung!)


– Das machen die ja auf freiwilliger Basis. Das muss aber
nicht vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden.

Bei der Durchführung von Rückforderungen bringt
eine Konzentration dieser Aufgaben auf die Spitzenver-
bände ebenfalls keine Verbesserungen, sondern eine mas-
sive Verschlechterung. Vor Ort, bei den einzelnen Trä-
gern, ist nämlich das Detailwissen für den Einzelfall
vorhanden, aus dem sich Ansatzpunkte für eine erfolgrei-
che Rückforderung ergeben. Vom weit entfernten „grünen
Tisch“ dagegen ist nichts zu erreichen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Rechnen muss man!)


Nachdem ursprünglich vorgesehen war, die Verteilung
auf die einzelnen Reha-Einrichtungen in ganz Deutsch-
land zentral zu steuern, wodurch die sozialistische Plan-
wirtschaft fröhliche Urständ gefeiert hätte


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


– ja, so ist es –, soll nun eine gemeinsame Einrichtung be-
trieben werden, um die Verteilung auf die Reha-Einrich-
tungen zu koordinieren. Unseres Erachtens reicht es je-
doch aus, wenn in einem Informationspool, für alle Träger
zugänglich, alle Daten angeboten werden und die Träger
durch die Belegung von Teilen dieses Angebotes dies für
die erforderliche Zeit für sich reservieren können.

Folgendes wäre modellhaft für das gesamte Gesetz:
Mit dem gesetzlichen Rahmen werden nur die zu errei-
chenden Ziele festgelegt. Durch zentrale Bereitstellung
von Information wird der Weg dorthin erleichtert. An-
sonsten entscheiden die Selbstverwaltungen nach ihren
speziellen Gegebenheiten, wie sie die Arbeit optimieren
und das Ziel möglichst günstig erreichen können.

Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen bis
ins letzte Detail reduzieren dagegen nicht nur die Effekti-
vität, sondern auch die Gültigkeitsdauer des Gesetzes, das
wegen vieler Details sicherlich bald wieder nachgebessert
werden müsste. Dies ist aber auch im Sinne einer von SPD
und Grünen getragenen Bundesregierung.

Schlichtweg unrealistisch erscheinen die im Gesetzent-
wurf vorgesehenen Einsparungen bei den Verwaltungs-
kosten in den Jahren 2002 und 2003. Bereits der jetzige
Ansatz hat sich bundesweit als zu gering herausgestellt.
Wenn nun für Umorganisationen Investitionen getätigt
werden müssen, entstehen daraus erfahrungsgemäß an-
fangs Mehrkosten und keine Einsparungen. Es ist daher
völlig abwegig, bereits für die kommenden zwei Jahre
weitere Budgetkürzungen festzulegen, die keinesfalls ein-
zuhalten sind. Oder will man damit die Unfähigkeit der
LSV-Träger zum Sparen beweisen, um über diese Hinter-
tür doch noch eine zentralistische Lösung zu erreichen?
Auch dies ist hier meines Erachtens zu bedenken.

Herr Dreßen, Sie haben ausgeführt, dass hier seitens
des Bundes großartige Leistungen getätigt würden. Ich
möchte Sie aber schon darauf hinweisen, dass die rot-
grüne Bundesregierung gerade im Agrarsozialetat ständig




Max Straubinger

15023


(C)



(D)



(A)



(B)


gekürzt hat: zwischen 1999 und 2000 um über 400 Milli-
onen DM. Dies kann nicht im Sinne unserer Landwirt-
schaft sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Insgesamt können daher im Gesetzentwurf Ansätze für

eine sinnvolle Organisationsstruktur gesehen werden,
aber bei den genannten Punkten müssen noch wesentliche
Nachbesserungen bei den Beratungen erreicht werden.
Wir werden bei den Ausschussberatungen auf diese
Punkte detailliert eingehen.

Besten Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415306100
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke,
Bündnis 90/Die Grünen.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415306200
Werter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Straubinger, warum Sie mich zu Beginn Ihrer Rede zum
Lächeln oder Lachen gebracht haben, lag daran, dass wir
bereits in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben,
eine solche Strukturreform durchzuführen. Wir haben
also nicht auf Ihren Antrag gewartet, sondern das stand
schon in unserer Koalitionsvereinbarung.


(Klaus Brandner [SPD]: Da haben die abgeschrieben!)


Bis dahin waren Sie ja noch verantwortlich und das
Problem bestand darin, dass Sie 1995 eine Sachreform in
der Sozialversicherung durchgeführt, aber die Struktur-
reform ausgesessen haben, weil es sich zugegebener-
maßen um ein hochkontroverses, strittiges Thema han-
delt, bei dem Standort- und Mitarbeiterbelange betroffen
sind


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Aber wir waren als Erste mit einem Antrag da, oder nicht?)


und bei dem sich in den letzten Jahren schlicht und ein-
fach ein System herausgebildet hat, das nicht mehr zeit-
gemäß gewesen ist.

Ich möchte das noch einmal vor Augen führen: Es gab
20 regionale Versicherungsträger, die sich in die Bereiche
Unfall- und Krankenversicherung und Alterssicherung
aufgespalten haben.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Pflegeversicherung!)


Das hat in der Summe jährlich 600Millionen DM an Ver-
waltungskosten verursacht.

Wenn man relativ starke Beitragssätze hat und im Be-
rufsstand Unmut über die Beitragszahlung herrscht, dann
ist der Gesetzgeber in der Verantwortung, ein System zu
entwickeln, mit dem er erstens das eigenständige Versi-
cherungssystem der Landwirte aufrechterhalten kann, weil
es auf die spezifischen Belange der Landwirtschaft besser
als ein anderes System eingeht, und mit dem er zweitens

alles tun kann, was zu tun ist – ich appelliere an die Län-
der, sich hier ebenfalls in den Verhandlungen über den Ge-
setzentwurf zu engagieren –, um das, was an Verwaltungs-
aufwand notwendig ist, so gering und so kosteneffizient
wie möglich zu halten. Das sind unsere Leitlinien für eine
solche Strukturreform gewesen.

Schauen wir uns die Zahlen an: Von 1996 bis 2007 wer-
den wir selbst im besten Fall eine Abnahme der Anzahl
der Versicherten um 37 Prozent haben. Da kann man doch
nicht allen Ernstes behaupten, dass man bei den Versiche-
rungsträgern auf dem gleichen Niveau wie vorher bleiben
kann.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wer hat das behauptet?)


Das heißt, wir haben diese Sache angefasst, wohlwissend,
dass das schwierige Verhandlungen mit den Ländern mit
sich bringen wird. Wir sind den Ländern mit unserem Ge-
setzentwurf sehr weit entgegengekommen und haben den
Gesetzentwurf an den Zielen soziale Flankierung des
Strukturwandels, Abmilderung regional unterschiedlicher
Wettbewerbsbedingungen, Stabilisierung der landwirt-
schaftlichen Einkommen und effiziente Kostenstruktur in
der Verwaltung ausgerichtet.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Sie haben die Sozialversicherung geplündert!)


Wir werden die Funktion der landwirtschaftlichen So-
zialversicherung mit unserem Gesetzentwurf stärken, da-
mit sie zukunftsfähig ist und von den Versicherten auch
wirklich als ihre Versicherung akzeptiert wird. Dazu
gehört auch, dass die Verwaltungskosten auf einem ver-
nünftigen Niveau sind.

Die Anzahl derTrägerwird um mehr als die Hälfte re-
duziert werden. Zentrale Aufgaben werden bei den Bun-
desverbänden der landwirtschaftlichen Berufsgenossen-
schaften und der landwirtschaftlichen Krankenkassen
sowie beim Gesamtverband der landwirtschaftlichen Al-
terskassen gebündelt. Darüber hinaus wird ein gemeinsa-
mes Rechenzentrum für alle landwirtschaftlichen Ver-
sicherungsträger geschaffen.

Das wird ein schwieriger Prozess. Mir ist dabei insbe-
sondere wichtig, dass wir auf die Belange der Beschäftig-
ten in diesem Umstrukturierungsprozess Rücksicht neh-
men. Deshalb wird sich der Prozess auch über mehrere
Jahre hinziehen.

Heute schon werden 57 Prozent der Gesamtkosten, die
in diesem System anfallen, von der öffentlichen Hand
übernommen. Deshalb hat der Bund nicht nur das Recht,
bei der Mittelverwendung mitzureden, sondern er steht
auch in der Pflicht, das zu tun; denn Missstände hat es dort
in der Vergangenheit mit Sicherheit gegeben.

Ich glaube, dass eine halbherzige Reform nach dem in
den Diskussionen der letzten Zeit teilweise vertretenen
Motto, dies alles dem Selbstlauf und den Trägern zu über-
lassen, sich nicht einzumischen, sondern darauf zu setzen,
dass die Träger die Reform vollkommen uneigennützig
allein bewerkstelligen werden, nichts genützt und letzt-
endlich den Bestand einer eigenständigen Versicherung
für die Landwirte gefährdet hätte.




Max Straubinger
15024


(C)



(D)



(A)



(B)


Deshalb lade ich dazu ein, die Beratungen im Aus-
schuss konstruktiv anzugehen. Insbesondere aber, Herr
Straubinger, sollten Sie sich dafür einsetzen, dass sich
auch Bayern weiterhin sehr konstruktiv in diesen Prozess
einbringt.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben sie immer gemacht! Das ist die bayerische Art!)


Das gilt im Übrigen auch für alle anderen Bundesländer.
Denn nur dann werden wir die landwirtschaftliche Sozi-
alversicherung gemeinsam im Interesse der Versicherten
aufrechterhalten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415306300
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marita Sehn von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Marita Sehn (FDP):
Rede ID: ID1415306400
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich muss ehrlich gestehen: Diesen
Punkt würde ich gerne mit Herrn Funke diskutieren.
Wahrscheinlich war sein mangelndes Vertrauen in die
landwirtschaftlichen Sozialversicherungen mit ein Grund
dafür, dass er doch eine Karriere als Minister vorgezogen
hat. Zumindest über seine Altersvorsorge müssen wir uns
wohl keine Sorgen mehr machen.


(Peter Dreßen [SPD]: Was soll denn das jetzt? – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Funke wurde von Schröder in die Wüste geschickt!)


Aber mal abgesehen von unserem ehemaligen Landwirt-
schaftsminister: Die landwirtschaftlichen Sozialversiche-
rungen sind den gleichen gesellschaftlichen Entwicklungen
unterworfen wie die allgemeinen Sozialversicherungen,
Herr Dreßen. Die Zahl der Beitragszahler sinkt, während die
Zahl der Beitragsempfänger steigt. Die Brisanz wird aller-
dings in der Landwirtschaft zusätzlich durch den Struktur-
wandel verschärft.

Berücksichtigt man die veränderten Verhältnisse, so ist
unstrittig: Reformen sind notwendig. Eine konsequente
Reform zieht die veränderten Rahmenbedingungen in Be-
tracht und garantiert die Zukunftssicherheit des Systems.

Die F.D.P. unterstützt die Forderung nach Kosten-
senkungen und effizienteren Strukturen in der landwirt-
schaftlichen Sozialversicherung.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Marita, das finde ich gut!)


Ebenso befürworten wir den Wunsch des Bundes nach ei-
nem verstärkten Mitspracherecht bei den Haushaltsplänen
der Sozialversicherungsträger.


(Peter Dreßen [SPD]: Das ist auch gut so!)

Es ist erfreulich, dass sich auch die Bundesregierung

von ihrer Forderung nach einer zentralen Bundesversi-
cherungsanstalt verabschiedet hat.


(Beifall bei der F.D.P.)


Noch vor einem Jahr haben rot-grüne Politiker gemein-
sam eine zentrale Organisation der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung gefordert. Das hilflose Agieren der
Bundesregierung um die Einführung einer einheitlichen
Bundesversicherungsanstalt war meiner Meinung nach
peinlich. Das Ganze erinnerte an einen Politiktango: Da
werden zunächst zwei Schritte nach vorne gemacht, dann
kommen ein Wechselschritt und eine leichte Drehung und
dann geht es schleunigst wieder einen Schritt zurück.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wird der Tango wirklich so getanzt?)


– Das wird so getanzt, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr. – Dies
alles war nicht dazu angetan, das Vertrauen der Versicher-
ten in die Sozialversicherung zu stärken.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, mit der Reform der Struk-

tur der landwirtschaftlichen Sozialversicherungen ist erst
ein kleiner Schritt getan. Über die Notwendigkeit von
Strukturanpassungen sind wir uns weitgehend einig. Ich
sehe allerdings noch erheblichen Diskussions- und Klä-
rungsbedarf, was die Durchführung weiterer Einspa-
rungsmaßnahmen anbetrifft. Eine willkürliche und un-
koordinierte Kürzung von Leistungen wird es mit der
F.D.P. nicht geben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Jetzt sind wir aber auf Ihre Vorschläge gespannt, Frau Sehn!)


– Herr Herzog, wir werden Vorschläge machen.
Ich hoffe, dass wir im Mai bei der Anhörung gemein-

sam mit den Vertretern des Berufsstandes ein Modell für
eine zukunftsfähige landwirtschaftliche Sozialversiche-
rung entwickeln können.

Die F.D.P. hat bereits konkrete Vorstellungen, wie ein
möglicher Lösungsansatz aussehen könnte. Wir möchten,
dass sich die Regierung zu ihrer Verantwortung gegen-
über den Bäuerinnen und Bauern bekennt.


(Peter Dreßen [SPD]: Das zeigen wir doch wohl mehr als genug!)


Deshalb muss sie den landwirtschaftlichen Sozialversi-
cherungen einen Neuanfang ermöglichen, Herr Dreßen.

Konkret heißt dies für uns:
Die aufgelaufenen Leistungsansprüche gegenüber den

Versicherungsträgern, die manchmal auch unsensibel als
„alte Lasten“ bezeichnet werden, muss der Staat überneh-
men.

Um in Zukunft der Entstehung neuer „alter Lasten“
vorzubeugen, muss das System zumindest teilweise auf
das Kapitaldeckungsverfahren umgestellt werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wir alle wissen, wie wich-

tig gerade eine gesicherte Altersvorsorge für die Bevölke-
rung im ländlichen Raum ist. Die Sozialversicherungen
hatten und haben immer auch agrarpolitische Zielsetzun-
gen zu berücksichtigen. Ein in sich schlüssiges Konzept
für eine zukunftsfähige landwirtschaftliche Sozialversi-
cherung wäre ein Signal an die ländliche Bevölkerung.




Steffi Lemke

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(C)



(D)



(A)



(B)


Die F.D.P. bekennt sich klar und eindeutig zu einer star-
ken und selbstbewussten deutschen Landwirtschaft.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415306500
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von
der PDS-Fraktion das Wort.


Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415306600
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün, wir stimmen mit Ihnen darin überein, dass
die landwirtschaftliche Sozialversicherung reformiert
werden muss. Aber ob der vorliegende Gesetzentwurf
tatsächlich schon das sprichwörtliche „Gelbe vom Ei“ ist,
bezweifle ich.

Worum geht es? Es geht erstens um Geldverschwen-
dung durch unwirtschaftliche Strukturen.


(Peter Dreßen [SPD]: Sehr gut!)

Man muss handeln, wenn der Bundesrechnungshof pro-
gnostiziert, dass durch eine Organisationsreform jährlich
mindestens 100 Millionen DM eingespart werden könn-
ten. Dies wären immerhin rund 17 Prozent der Verwal-
tungs- und Verfahrenskosten der landwirtschaftlichen So-
zialversicherung.

Zweitens besteht Handlungsbedarf allein schon we-
gen des ungebremsten Strukturwandels, der dazu führt,
dass sich die Schere zwischen Leistungsempfängern und
Beitragszahlern immer weiter öffnet.

Laut jüngstem Agrarbericht ging die Zahl der land-
wirtschaftlichen Betriebe im Jahr 2000 um weitere rund
13 000 Betriebe – das sind 3 Prozent – zurück. Bis zum
Jahre 2010 soll sich die Zahl der Betriebe halbieren.
Selbst wenn es zum Beispiel durch die Ausweitung des
Ökolandbaus gelingt, neue Arbeitsplätze zu schaffen,
bleibt auf jeden Fall die Tendenz der insgesamt weniger
werdenden Beitragszahler.

Ihr Entwurf, meine Damen und Herren der Regie-
rungskoalition, gibt keine Antwort auf wesentliche Fra-
gen wie zum Beispiel die Frage: Wie werden sich die
Einsparungen, Bundeszuschüsse und Beiträge für die
nächsten Jahre voraussichtlich gestalten? Hierzu erwarte
ich bald ein Begleitdokument.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Kriegst du!)


In der Gesetzesbegründung wird ein Einsparvolumen
in Höhe von 116 Millionen DM für das Jahr 2004 ausge-
wiesen. Das entspricht in etwa dem vom Bundesrech-
nungshof genannten Betrag. Allerdings gibt es einen Un-
terschied: Während der Bundesrechnungshof sein
Einsparvolumen untersetzt, fehlt in der Vorlage jede
Quantifizierung. Ich möchte schon wissen, wie sich die
116 Millionen DM zusammensetzen. Immerhin waren
von den 100 Millionen DM des Bundesrechnungshofes
84 Millionen DM Personalkosten. Wie viel soll es hier
sein? Die Aussage, dass dieses Modell auch sozialver-
trägliche Personalmaßnahmen ermögliche, reicht mir
und denjenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, nicht.


(Beifall bei der PDS)


Erläutern Sie mir auch die Aussage, dass „jede Nut-
zung von Einsparmöglichkeiten unmittelbar die Höhe der
Bundesmittel verringert“!

Mir geht es darum, dass Einsparungen in einem ver-
nünftigen Verhältnis sowohl dem Bund als auch den Ver-
sicherungsträgern und damit letztendlich den Landwirten
zugute kommen. Sollte nur der Bund profitieren, wäre das
ein eklatanter Konstruktionsfehler.


(Beifall bei der PDS)

Die Versicherungsträger müssen einen Anreiz zum Sparen
haben. Inwieweit das der Fall sein soll, ist anhand des vor-
liegenden Textes nicht erkennbar.

Wichtig ist auch, dass ein gesundes Verhältnis zwi-
schen Aufgabenbündelung und Zentralisierung einer-
seits sowie der Nutzung der Möglichkeit einer dezentra-
len Aufgabenerledigung andererseits gefunden wird, zum
Beispiel beim Beitragseinzug.

Klärungsbedarf sehe ich ebenfalls bei der Frage, ob
bzw. wie sich Aufgabenbündelung und Zentralisierung
auf die rund 280 Verwaltungsstellen der landwirtschaftli-
chen Sozialversicherungsträger auswirken werden. Letzt-
endlich darf die Zentralisierung nicht dazu führen, dass
die ortsnahe Beratung wegfällt oder unzumutbar einge-
schränkt wird.


(Peter Dreßen [SPD]: Das will keiner!)

Allein diese wenigen Punkte zeigen, dass es erforder-

lich ist, den Gesetzentwurf in den nächsten Wochen
gründlich und unter Einbeziehung der Betroffenen zu prü-
fen. Die PDS wird dies auf jeden Fall tun.


(Beifall bei der PDS – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sehr schön!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415306700
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion das Wort.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1415306800
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde hier
gerne auf viele Fragen antworten, aber die Redezeit ist zu
kurz. Darum gehe ich nur auf einiges ein.

Herr Straubinger, gut aufgepasst! Wenn Sie jetzt zu-
hören, können Sie noch einiges nicht nur zur Kompetenz-
verteilung auf die Bundesverbände, sondern auch in Be-
zug auf das Rechenzentrum lernen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sehr gut, Frau Lehrerin!)


Frau Sehn, ich glaube nicht, dass die Bemühungen für
ein Bundesmodell peinlich gewesen sind. Ich bin vor
circa einem Jahr eine der Verfechterinnen dieses Modells
gewesen und glaube, dass es genau aus diesem Grund in-
nerhalb der Länder und Träger zu Bewegungen gekom-
men ist. Ich glaube, auch Sie wissen das.

Mein Fraktionsvorsitzender Peter Struck predigt im-
mer das strucksche Gesetz. Es bedeutet: Niemals kommt
ein Gesetzentwurf so aus dem Bundestag heraus, wie er




Marita Sehn
15026


(C)



(D)



(A)



(B)


hineingekommen ist. Das heißt, es ist eine intensive Be-
ratung gefragt. Das sage ich auch in Richtung der PDS.

Ich habe vor einem Jahr hier vorne gestanden und ge-
sagt: Heißes Eisen auf der einen Seite, Mauern und Blo-
ckaden auf der anderen Seite. Ich glaube, daran hat sich
nichts geändert. Damals habe ich geglaubt, wir seien
schon in der Umsetzungsphase. Doch jetzt bringen wir ei-
nen Gesetzentwurf ein, der von unserer Seite durch große
Kompromissbereitschaft gekennzeichnet ist.

In der Zwischenzeit gab es bei den Trägern, den Ge-
werkschaften und auch innerhalb einiger Landesregierun-
gen viel Bewegung. Diese haben entschieden dazu beige-
tragen, dass es zu freiwilligen Fusionen kam.


(Marita Sehn [F.D.P.]: Richtig, zum Beispiel in Rheinland-Pfalz!)


Das ist positiv zu sehen. Dennoch will ich nicht verheh-
len, dass ich glaube, dass wir immer noch zu kurz sprin-
gen. Das föderale System bleibt nun erhalten. Das haben
die Länder so gewünscht. Wir sind diesen Schritt mitge-
gangen. Aber wir haben unserer Arbeit die Kriterien des
Bundesrechnungshofes zugrunde gelegt. Diese sind
schon mehrfach von Frau Lemke und auch von Herrn
Dreßen angesprochen worden.

Ich will deshalb nur auf drei Dinge eingehen, nämlich
auf die Notwendigkeit der Reform, auf das Einsparpoten-
zial und damit die Stärkung des Bundeseinflusses sowie
auf die einheitliche Rechtsanwendung.

Zum ersten Punkt: Niemand stellt diese Reform in Ab-
rede. Es ging in den harten Kämpfen nur um die Kompe-
tenzverteilung. Ganz Deutschland blickte lange auf Nie-
dersachsen. Dort gab es nämlich Vorreiter, die eine
kurzfristige Fusion von Hannover, Braunschweig und Ol-
denburg ermöglicht hätten. Ich spreche an dieser Stelle
bewusst von „hätten“; denn als wir unseren Referenten-
entwurf präsentiert haben, der als endgültiges Datum den
1. Januar 2003 vorschrieb, lehnten sich die kleinen Sozi-
alversicherungsträger wieder bequem zurück, weil sie
noch genügend Zeit sahen. Im Interesse der Versicherten
und der Steuerzahler war dies völlig unverantwortlich.

Aber dies ist kein Einzelfall. Bayern erscheint im Mo-
ment sehr fortschrittlich, Herr Straubinger.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wie immer!)

Aber über kurz oder lang werden auch Sie nicht umhin-
kommen, einen gemeinsamen Träger für Bayern zu in-
stallieren. Zudem gibt es noch den kleinen Träger in Sach-
sen, der einmal zu Berlin gehörte. Viel Zeit für eine
freiwillige Fusion bleibt nicht mehr. Auch der Träger des
Saarlandes sollte sich dies einmal zu Herzen nehmen. Es
gab in Deutschland immer wieder Bewegung, aber stets
nur auf unseren Druck hin. Von dieser Stelle fordere ich
die Landesregierungen noch einmal auf, ihrer Verantwor-
tung nachzukommen.

Zur Stärkung des Bundeseinflusses und zum Einspar-
potenzial: Ein wichtiger Bestandteil ist der Bereich der
EDV. Zurzeit bestehen sechs Rechenzentren, die
470 000 Versicherte verwalten.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Diese werden vereinheitlicht!)


Über diese Zahlen sollte man besser nicht lange nachden-
ken. In anderen Systemen sieht es anders aus. Unser Ziel
ist ein Rechenzentrum für ganz Deutschland, das beim
Bundesverband beheimatet ist.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Für ganz Europa! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie sind zu rückständig!)


Jeder Insider weiß, dass hier große Einsparpotenziale lie-
gen.

Warum soll das Rechenzentrum beim Bundesverband
angesiedelt werden? Die Antwort ist ganz einfach: Die
Praxis der Vergangenheit hat eine deutliche Sprache ge-
sprochen. Der Bund muss bei der Defizithaftung in der
Alterskasse über 70 Prozent der Kosten übernehmen. Die
einzelnen Träger haben es in der Praxis oft so gemacht,
dass sie die Mittel zur Rentenauszahlung oft Tage früher
als notwendig abgerufen haben. Dadurch sind dem Bund
an dieser Stelle riesige Kosten entstanden. Selbst mit den
Richtlinien, die vom Bund daraufhin erlassen wurden,
konnte man dem nicht abhelfen.

Genauso sieht es mit dem Beitragseinzug im Bereich
der Alterskasse aus; das ist der zweite triftige Grund. Hier
haben wir aus dem Jahre 1999 noch immer Rückstände
von 102,5 Millionen DM zu verzeichnen. Man kann zwar
sagen, dass die Defizithaftung des Bundes nicht das ei-
gene Geld kostet, aber erklären Sie das einmal dem Steu-
erzahler. – Mit einem einzigen Rechenzentrum sind wir
auf dem richtigen Weg.

Ich habe vorhin erklärt, dass ich Verfechterin eines
Bundesmodells war. Aber auch ich bin lernfähig. Wir ha-
ben im Laufe des Prozesses versucht, gemeinsam mit den
Ländern einen Weg zu finden, um diesen Gesetzesvor-
schlag heute dem Parlament zu unterbreiten.

Zur Rechtsanwendung möchte ich noch sagen, dass
ich damit ein großes Problem habe. In Art. 3 § 58 b des
Entwurfs werden die zu erlassenden Richtlinien mit gere-
gelt. Es wird von Musterrichtlinien gesprochen, die vom
Bundesverband erarbeitet werden können. Ich glaube,
dass wir an dieser Stelle noch Hausaufgaben zu machen
haben. Denn wenn wir eine einheitliche Rechtsanwen-
dung innerhalb aller Träger für alle Versicherten erreichen
wollen, dürfen wir – wie in anderen sozialen Sicherungs-
systemen auch – nicht nur von Musterrichtlinien spre-
chen, vielmehr muss der Bundesverband die Möglichkeit
haben, Richtlinien für die Träger zu erlassen.


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Genau das habe ich gesagt, aber wenn man dazwi-
schenspricht, kann man natürlich nicht zuhören.

Ich möchte noch etwas zum Zeitplan sagen: Wir wol-
len, dass der Gesetzentwurf den Bundestag im Juni dieses
Jahres in zweiter und dritter Lesung passiert. Wir laden
Sie ein mitzumachen. Wir möchten, dass dieses Gesetz
zum 1. August 2001 in Kraft treten kann.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Den Termin haben wir schon fünfmal verschoben!)


Der Gesetzentwurf berücksichtigt sehr viele Kompro-
misse und ich hoffe, dass die Länder dem Entwurf zu-
stimmen.




Waltraud Wolff (Wolmirstedt)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415306900
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5314 und 14/3774 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Evelyn Kenzler, Monika Balt, Dr. Dietmar
Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes

(Art. 26 Abs. 1, Antifaschistische Klausel)

– Drucksache 14/5127 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
sechs Minuten erhalten soll. –


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das
Wort.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1415307000
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind über die fort-
dauernden rechtsextremistischen Umtriebe in unserem
Land schockiert. Was kann, ja, was muss der Gesetzgeber
dagegen tun?

Wir beantragen beim Bundesverfassungsgericht das
Verbot der NPD. Die Mehrheit des Bundestages wird
demnächst über einen Antrag „Gegen Rechtsextremis-
mus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt“
beschließen. Einverstanden. Aber reicht das aus?

Wir sind uns wohl darin einig, dass wesentlich mehr
getan werden muss – sowohl mit breit angelegten gesell-
schaftlichen Gegenkonzepten als auch in der politischen
Auseinandersetzung –, um die braune Gefahr zu stoppen.
Auf rechtlichem Gebiet wird der Ruf nach Strafverschär-
fung lauter. Manche raten auch, wir sollten das Versamm-
lungsrecht generell einschränken. Ich halte das nicht für
einen Erfolg versprechenden Weg, sondern sehe darin
eher eine Gefährdung verfassungsrechtlich verbürgter
Grundrechte.


(Beifall bei der PDS)

Wir sollten deshalb mit solchen Maßnahmen vorsichtig
sein.

Wir schlagen auf der Ebene der Verfassung einen an-
deren Weg vor. Der 20. Bundeskongress der Gewerk-
schaft der Polizei hat 1994 in einer Resolution gefordert,
dass das Grundgesetz dahin gehend ergänzt wird, dass
nicht nur wie bisher gegen das friedliche Zusammenleben
der Völker gerichtete Handlungen nach Art. 26 Grundge-
setz, sondern auch Bestrebungen zur Wiederbelebung na-
tionalsozialistischen Gedankengutes für verfassungswid-
rig erklärt werden. Diese Forderung greifen wir mit
unserem Antrag auf.


(Beifall bei der PDS)

Wir schlagen vor, in Art. 26 Grundgesetz der Ächtung

des Angriffskrieges die Ächtung des Faschismus hinzu-
zufügen.


(Beifall bei Abgordneten der PDS)

Der Schwur von Buchenwald lautete bekanntlich: Nie

wieder Krieg, nie wieder Faschismus! – Unser Vorschlag
würde bewirken, dass auch der zweite Teil dieses
Schwurs, ebenso wie der erste, Eingang in die Verfassung
findet.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Alfred Dietel, einer der Autoren der Resolution der Po-

lizeigewerkschaft, hat in der Februar-Ausgabe der Zeit-
schrift der Polizeigewerkschaft geschrieben:

Es wäre an der Zeit, den Kongressbeschluss neu in
die parlamentarische und die öffentliche Diskussion
zu bringen, was nicht ganz leicht ist.

Lassen Sie uns gemeinsam diese Befürchtung Alfred
Dietels widerlegen und überlegen, wie auch auf der Ebene
der Verfassung die notwendigen Weichen gestellt werden
können. Wir haben einen Vorschlag unterbreitet, sind aber
auch für andere sachgerechte Vorschläge jederzeit offen.

Die Annahme unseres Vorschlags hätte zweifellos auch
einen hohen Symbolgehalt. Wir betrachten ihn natürlich
nicht als ein Allheilmittel. Aber eine antifaschistische
Klausel im Grundgesetz wäre ein Zeichen auch gegen-
über dem Ausland, dass das vereinigte Deutschland seine
politisch-moralische und juristische Verpflichtung ernst
nimmt, für die Unwiederholbarkeit der Verbrechen des
deutschen Faschismus Sorge zu tragen.


(Beifall bei der PDS)

Eine solche Klausel, wie wir sie vorschlagen, wäre auch
ein Signal in unsere Gesellschaft hinein und an die zu-
ständigen Behörden, Widerstand gegen neofaschistische
Umtriebe in noch stärkerem Maße als bisher zu leisten,
weil damit die Verfassung verteidigt würde.

Die Wiederbelebung nationalsozialistischen Ge-
dankenguts für verfassungswidrig zu erklären entspricht
dem antifaschistischen Impetus des Grundgesetzes. Das
gilt vor allem für die Grundrechte, insbesondere für Art. 1
des Grundgesetzes, der bekanntermaßen die Würde des
Menschen für unantastbar erklärt und alle Staatsgewalt
verpflichtet, die Menschenwürde nicht nur zu achten, son-
dern auch zu schützen. Mit einer antifaschistischen Klau-
sel im Grundgesetz würde klargestellt, dass die Wieder-
belebung nationalsozialistischen Gedankenguts eine




Waltraud Wolff (Wolmirstedt)

15028


(C)



(D)



(A)



(B)


schwer wiegende Verletzung der Menschenwürde dar-
stellt.


(Beifall bei der PDS)

Sie hätte aber auch eine praktische Bedeutung. Die

Verfassungswidrigkeit von Handlungen, die darauf abzie-
len, nationalsozialistisches Gedankengut wiederzubele-
ben, wäre unmittelbar geltendes Verfassungsrecht. Damit
wäre das Dilemma beseitigt, dass sich Neonazis bei ihren
Umtrieben auf die Grundrechte berufen und die Polizei
sie auch noch schützen muss. Die zuständigen Behörden
könnten Demonstrationen mit neofaschistischer Zielstel-
lung mit größerer Aussicht auf Erfolg untersagen.


(Beifall bei der PDS)

Die Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedanken-
guts wäre dann eindeutig keine von den Grundrechten ge-
deckte Betätigung mehr.

Da Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes das Gebot enthält,
solche Handlungen unter Strafe zu stellen, die geeignet
sind und in der Absicht vorgenommen werden, das fried-
liche Zusammenleben der Völker zu stören, wird man
natürlich auch prüfen müssen, ob die geltenden Strafbe-
stimmungen in allen Punkten ausreichen. Gegebenenfalls
müssen dezidierte Anpassungen in diese Richtung vorge-
nommen werden, jedoch keine generellen Strafverschär-
fungen. Die PDS-Fraktion hat zum Beispiel den Vor-
schlag in den Bundestag eingebracht, die Verherrlichung
verbotener nationalsozialistischer Organisationen durch
Änderung des Strafgesetzbuches unter Strafe zu stellen.


(Beifall bei der PDS)

Sicherlich hätte eine antifaschistische Klausel schon

früher in das Grundgesetz aufgenommen werden müssen;
denn die neonazistische Gefahr ist ja keinesfalls neu. Im
Verlauf der letzten zehn Jahre, seit der deutschen Einheit,
ist jedoch eine neue Situation entstanden. Rechtsextre-
mistische Bestrebungen haben ein solches Ausmaß und
eine solche Intensität erreicht, dass sie eine ernsthafte Ge-
fahr für die Verfassungsordnung unseres Landes darstel-
len. Es ist deshalb höchste Zeit, ein deutliches Zeichen zu
setzen, auch in unserem Grundgesetz. Jetzt haben wir die
Möglichkeit.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415307100
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Erika Simm
von der SPD-Fraktion.


Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1415307200
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Gesetze, zumal die Verfassung, sollte
man nur ändern, wenn dafür eine Notwendigkeit besteht.


(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Ich sehe keine Notwendigkeit, Art. 26 des Grundgesetzes
zu ändern, wie es im Antrag der PDS vorgeschlagen wird.


(Zurufe von der PDS: Hört! Hört!)

Im Gegenteil: Die ausführliche Begründung des Antrages,
in dem die geltende Verfassungs- und Rechtslage zutref-

fend dargestellt wird, beweist in meinen Augen, dass wir
keine Grundgesetzänderung brauchen, weil sowohl un-
sere Verfassung als auch die allgemeinen Gesetze ausrei-
chen, um rechtsextremistische Tendenzen in unserer
Gesellschaft wirkungsvoll zu bekämpfen.


(Angela Marquardt [PDS]: Das sieht man ja jeden Tag!)


– Daran werden Sie auch mit einer symbolischen Gesetz-
gebung nichts ändern.

Zu Recht wird in der Begründung des PDS-Antrages
darauf hingewiesen, dass unser Grundgesetz von einer an-
tifaschistischen Tendenz geprägt sei, mehr noch: Es ver-
körpert geradezu die Abkehr vom Nationalsozialismus.
Alle Überlegungen und Bemühungen der Verfasser des
Grundgesetzes waren darauf gerichtet, jeden Ansatz eines
Wiederauflebens totalitärer Bestrebungen im Keim zu er-
sticken. Deswegen wurde gleich an den Anfang des
Grundgesetzes ein umfassender Grundrechtsteil gestellt,
der weitgehend die Grundrechte des Bürgers gegenüber
dem Staat normiert, die als subjektive Rechte ausgestaltet
sind und mithilfe eines starken Verfassungsgerichtes auch
durchgesetzt werden können.

Das dahinter stehende Menschenbild unterscheidet
sich fundamental vom Menschenbild des Nationalsozia-
lismus. Beispielhaft sei nur Art. 3, der Gleichheitsgrund-
satz, genannt, der von der Gleichheit aller Menschen aus-
geht und damit im Widerspruch zur nationalsozialis-
tischen Rassenlehre steht.

Durch Art. 79 Abs. 3 werden zudem wesentliche Ver-
fassungsnormen, so die Grundrechte, aber zum Beispiel
auch die föderale Verfassung unseres Staatswesens, für
unabänderbar erklärt. Diese sogar dem Gesetzgeber auf-
erlegte Beschränkung ist natürlich aus den schmerzlichen
Erfahrungen zu erklären, welche die Väter und Mütter des
Grundgesetzes mit Hitlers Ermächtigungsgesetz von
1933 gemacht haben.

Darüber hinaus enthält das Grundgesetz eine Reihe
von Normen, die den unmittelbaren Zweck haben, verfas-
sungsfeindliche Bestrebungen abzuwehren, die unsere
freiheitliche, demokratische Rechts- und Gesellschafts-
ordnung gefährden könnten. Ich verweise auf die Art. 9
und 21, die das Verbot verfassungsfeindlicher Vereini-
gungen und Parteien ermöglichen, auf Art. 18, wonach die
Grundrechte verwirkt, wer diese zum Kampf gegen die
freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht,
und auf Art. 26, der die Bundesrepublik verpflichtet, mit
den anderen Völkern friedlich zusammenzuleben.

Flankiert werden diese Festlegungen in der Verfassung
durch eine Vielzahl einfachgesetzlicher Regelungen,
insbesondere auch Strafnormen, die verfassungswidriges
Verhalten sanktionieren. Nur beispielhaft seien genannt:
§ 80 StGB, wonach die Vorbereitung eines Angriffskrie-
ges mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden kann.
Das ist die Umsetzung des Art. 26 Grundgesetz. Nach den
§§ 81 bis 83 StGB werden Taten bestraft, die sich gegen
den Bestand der Bundesrepublik und unsere verfassungs-
mäßige Ordnung richten. § 84 StGB stellt das Fortführen
einer verfassungswidrigen Partei, § 85 StGB den Verstoß
gegen ein Vereinigungsverbot unter Strafe. Nach § 86




Dr. Evelyn Kenzler

15029


(C)



(D)



(A)



(B)


StGB ist die Verbreitung von Propagandamaterial einer
verfassungswidrigen Organisation, nach § 86 a StGB die
Verwendung von Kennzeichen solcher Organisationen
mit Strafe bedroht. Nach § 130 Abs. 3 StGB sind die
Leugnung und Verharmlosung des Holocaust strafbar.

Nicht nur die zuletzt genannte Strafvorschrift, sondern
auch die anderen einschlägigen Tatbestände erfassen
ebenso Handlungen, denen eine rechtsextremistische, auf
nationalsozialistischem Gedankengut basierende Motiva-
tion zugrunde liegt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415307300
Frau Kol-
legin Simm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Seifert?


Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1415307400
Ja, bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415307500
Bitte,
Herr Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415307600
Frau Kollegin Simm, Sie zählen
gerade auf, was alles laut Grundgesetz schon verboten ist.
Unser Antrag zielt doch aber auf eine Anerkennung der
antifaschistischen Tradition dieses Deutschland ab


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das sagen die Kommunisten!)


und will erreichen, dass wir Antifaschismus als etwas Po-
sitives sehen. Unabhängig davon, dass es kein Schaden
wäre, wenn eine solche Bestimmung zusätzlich aufge-
nommen würde, frage ich Sie, ob Sie es nicht als positi-
ven Aspekt sähen, wenn das Grundgesetz eine antifaschis-
tische Klausel enthielte und festlegte, dass es ver-
fassungswidrig ist, sich faschistisch zu betätigen. Das ist
momentan nicht gegeben; Ihre Aufzählung enthält ja doch
etwas anderes.


Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1415307700
Ich bin der Meinung – ich denke,
das ausgeführt zu haben –, dass das Grundgesetz als
Ganzes eindeutig antifaschistisch ist – das schreiben Sie
im Übrigen in der Begründung Ihres eigenen Antrags –
und dass es einer solchen Klarstellung im Detail nicht be-
darf. Im Gegenteil, eine solche Klarstellung im Detail
könnte möglicherweise den Schluss nahe legen, das
Grundgesetz sei in seiner Grundposition nicht so eindeu-
tig gegen den Faschismus gerichtet.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSSES 90/ DIE GRÜNEN – Harald Friese [SPD]: Rein deklaratorisch wäre das!)


Ich halte auch nichts von symbolischer Gesetzgebung. Ich
vermisse beispielsweise Ihre konkreten Vorschläge, im
Bereich der einfachgesetzlichen Regelungen, weil Sie das
ja auch ausdrücklich strafbewehren wollen.

Nicht nur die zuletzt genannte Strafvorschrift, also
§ 130 Abs. 3 StGB, sondern auch die anderen einschlägi-
gen Tatbestände erfassen Handlungen, denen eine extre-
mistische, auf nationalsozialistischem Gedankengut basie-

rende Motivation zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund
bin ich der Meinung, dass es der von der PDS beantragten
Verfassungsänderung nicht bedarf. Abgesehen davon,
dass diese Änderung bei Art. 26 Grundgesetz auch rechts-
systematisch falsch angesiedelt wäre – Art. 26Grundgesetz
hat nämlich einen ganz anderen Inhalt –, vermag ich nicht
zu erkennen, dass durch eine solche Änderung mehr Effi-
zienz bei der Bekämpfung rechtsextremistischer Bestre-
bungen zu erreichen wäre. Das uns zur Verfügung stehende
Instrumentarium halte ich für ausreichend. Dass wir bereit
sind, dieses Instrumentarium auch anzuwenden, hat die
Mehrheit dieses Hauses mit dem Antrag auf Verbot der
NPD unter Beweis gestellt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415307800
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1415307900
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns
darin einig, dass mit allen gebotenen Mitteln gegen neo-
nazistische Umtriebe vorgegangen werden muss. Für den
vorliegenden Gesetzentwurf der PDS-Fraktion besteht
aber – diese Ansicht teilen wir mit der SPD-Fraktion –
kein verfassungsrechtlicher Bedarf. Er wäre nur gegeben,
wenn wir keine ausreichenden einfachgesetzlichen Rege-
lungen hätten, um die Verbreitung nationalsozialisti-
schen Gedankenguts wirksam bekämpfen und bestrafen
zu können. Das ist aber nicht der Fall.

Ich möchte auf die Vorschriften hinweisen, die meine
Vorrednerin, die Kollegin Simm, bereits erwähnt hat:
§ 80 ff. StGB und insbesondere § 84 ff. StGB, wo es um
die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats geht.
Außerdem weise ich auf § 86 StGB hin, wo es um die Ver-
breitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Or-
ganisationen geht. In § 86Abs. 1 Nr. 4 ist das Verbot bzw.
die Strafbarkeit der Anwendung nationalsozialistischer
Propagandamittel ausdrücklich geregelt. Ich verweise
auch auf § 130 StGB – er muss hier ebenfalls erwähnt wer-
den –, wo es um Volksverhetzung geht. § 130Abs. 3 StGB
behandelt das Leugnen des Holocaust.

Das Verbot der Verbreitung von nationalsozialisti-
schem Gedankengut ist gesetzlich umfassend geregelt.
Wir sollten das Grundgesetz nicht mit weiteren, nicht not-
wendigen Bestimmungen überfrachten. Es gibt keine
Lücke und es gibt auch kein „Dilemma“ – in der Begrün-
dung des Gesetzentwurfs der PDS-Fraktion ist davon die
Rede –, in dem sich die „Verwaltungsbehörden, Polizei
und Verwaltungsgerichte“ angeblich befinden, „neonazis-
tische Umtriebe im Namen der Freiheitsrechte der Ver-
fassung schützen zu müssen“.

Sie widersprechen sich hier übrigens selber, wenn Sie
in Ihrem Gesetzentwurf – ich zitiere mit Genehmigung
des Präsidenten – an anderer Stelle schreiben:

Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, nationalsozialistisches Ge-
dankengut wieder zu beleben, sind durch die Grund-




Erika Simm
15030


(C)



(D)



(A)



(B)


rechte nicht gedeckt, weil sie auf die Abschaffung
dieser Rechte und der freiheitlichen demokratischen
Grundordnung gerichtet sind.

Das ist in der Tat so. Nur, warum schreiben Sie dann in Ih-
rer Begründung kurz vorher das Gegenteil? Es genügt,
wenn ich darauf hinweise, dass Sie Ihre eigene Begrün-
dung ad absurdum führen.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Eben nicht!)

Neonazistische Umtriebe sind durch unsere Verfassung
selbstverständlich nicht geschützt, da strafbare Handlun-
gen durch die Verfassung niemals geschützt sind.


(Angela Marquardt [PDS]: Die dürfen durch das Brandenburger Tor marschieren!)


Die Juristen unter Ihnen sollten das wissen.
Frau Kollegin Simm hat schon darauf hingewiesen,

dass es nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Ver-
sammlungsrecht, im Vereinsrecht und natürlich in unserer
Verfassung – Art. 9, Art. 21, insbesondere Abs. 2,
Art. 18 und Art. 26 Grundgesetz – klare Regelungen zur
Bekämpfung neonazistischer Umtriebe gibt.

Der Verstoß gegen die einschlägigen Bestimmungen
wird von den Sicherheitsbehörden rigoros verfolgt. Das
kann ich jedenfalls für die unionsregierten Länder sagen.
Inwieweit das für die Länder zutrifft, in denen die PDS
mittelbar oder unmittelbar an der Regierung beteiligt ist,
kann ich natürlich nicht sagen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen,
dass konsequente Sicherheitspolitik gegen extremistische
Bestrebungen aus unserer Sicht vor allem drei Kompo-
nenten beinhaltet: erstens die Schaffung der notwendigen
gesetzlichen Grundlagen für unsere Sicherheitsbehör-
den, wo dies nötig ist; zweitens die konsequente Nutzung
dieser gesetzlichen Möglichkeiten beim Vorgehen gegen
den Extremismus; drittens eine intensive Aufklärungs-
und Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich der Ziele von ver-
fassungsfeindlichen Bestrebungen.

Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Bekämpfung
des Extremismus ist die enge Zusammenarbeit zwischen
Verfassungsschutz und Polizei. Dazu habe ich von der
PDS bislang allerdings noch gar nichts Brauchbares
gehört.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Dafür sind Sie ja zuständig!)


Die Gründe sind natürlich nahe liegend; wir können sie
uns alle denken.

Da kein verfassungsrechtlicher Bedarf für die PDS-
Forderungen nach dieser Grundgesetzergänzung besteht,


(Angela Marquardt [PDS]: Das ist nur noch peinlich! Dafür sollten Sie sich schämen!)


entstünde im Falle einer solchen Ergänzung des Art. 26,
wie es der PDS-Gesetzentwurf vorsieht, möglicherweise
der Eindruck, die Bundesrepublik Deutschland hätte bis-
lang nicht genug getan, um neonazistische Umtriebe
wirksam zu bekämpfen.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Sonst wären sie nicht so stark!)


Die PDS will diesen Eindruck vielleicht erwecken; ich
weiß es nicht. Manchmal kann ich mich des Eindrucks
nicht erwehren.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Warum stehen wir dann immer mit der Kerze in der Hand?)


Der Gesetzentwurf ist im Übrigen an ideologischer
Einseitigkeit kaum noch zu überbieten. Er bezieht sich nur
auf nationalsozialistisches Gedankengut und er bezeich-
net den Kampf gegen den Nationalsozialismus als Antifa-
schismus.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Ja! Das fällt Ihnen schwer!)


Dazu möchte ich dann doch etwas sagen. Der Antifa-
schismus ist ein zentraler Kampfbegriff und fester Be-
standteil der kommunistischen Terminologie und Stra-
tegie.


(Zustimmung bei der CDU/CSU – Lachen bei der PDS – Angela Marquardt [PDS]: Sie werden immer peinlicher! Gehen Sie bloß nach Hause!)


Ich darf – mit Genehmigung des Präsidenten – noch
einmal zitieren, und zwar etwas, was Ihnen selber am bes-
ten geläufig ist. Ich habe zu Hause in meinem Archiv
nachgesehen und das „Kleine Politische Wörterbuch“ der
DDR aus dem Jahre 1985 herausgekramt


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was Sie so alles sammeln!)


und dort unter dem Stichwort „Antifaschismus“ gelesen:
A. ist Teil des internationalen Klassenkampfes ...

Außerdem heißt es:
Konsequentester Träger des A. ist die Arbeiterklasse
mit ihrer marxistisch-leninistischen Partei an der
Spitze.

Das sind Sie.

(Lachen bei der PDS – Angela Marquardt [PDS]: Ich bin nicht die DDR!)

Mehr möchte ich zum Begriff Antifaschismus nicht sa-
gen. Die SED lässt grüßen.

Auch wenn manches bei uns in den letzten Monaten an
diesen aufgesetzten, verordneten Antifaschismus unseli-
ger DDR-Zeiten erinnert – Ralph Giordano hat übrigens
ein lesenswertes Buch über den verordneten Antifa-
schismus geschrieben –, so hat er bei uns dennoch nichts
verloren, schon gar nicht im Grundgesetz.


(Zuruf von der PDS)

– Ich rede von dem Antifaschismus, wie er im Sinne der
kommunistischen Terminologie zu verstehen ist, Frau
Kollegin. Wenn Sie diesen Begriff verwenden, sollten Sie
wissen, dass er eindeutig besetzt ist. Ansonsten sollten Sie
die Wissenslücke – das ist die einzige Lücke, die ich bei
der heutigen Debatte erkennen kann – möglichst schnell
schließen.


(Zuruf von der PDS: Unglaublich! – Harald Friese [SPD]: Die haben Sie jetzt geschlossen? Na!)





Dr. Wolfgang Götzer

15031


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Grundgesetz ist eine antitotalitäre Verfassung und
darauf sind wir stolz. Unsere Verfassung ist vom Geist der
Freiheit, der Demokratie und des Rechtsstaats geprägt.
Wenn ich von Demokratie rede, dann meine ich die wehr-
hafte Demokratie, wie sie in unserer Verfassung zum
Ausdruck kommt, eine wehrhafte Demokratie, die ent-
schlossen ist, die Freiheit gegen ihre Feinde zu verteidi-
gen, gleich, woher diese Feinde kommen, von rechts
außen oder von links außen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rolf Kutzmutz [PDS]: Das ist jetzt nicht ideologisch?)


– Nein, das ist nicht ideologisch, sondern das ist die wehr-
hafte Demokratie. Sie sollten sich damit einmal näher be-
fassen.


(Lachen bei der PDS)

Wenn Sie behaupten, Sie stünden auf dem Boden dieser
Verfassung, dann müssen Sie das mittragen können.

Dass sich der Gesetzentwurf der PDS einseitig nur ge-
gen nationalsozialistisches Gedankengut und nicht auch
gegen anderes totalitäres, insbesondere kommunistisches,
Gedankengut richtet, verwundert angesichts ihrer Vergan-
genheit allerdings nicht. Etwas anderes wäre wohl auch zu
viel erwartet von einer Partei, die bis heute im alljährli-
chen Verfassungsschutzbericht regelmäßig unter dem Ka-
pitel „Linksextremistische Bestrebungen“ zu finden ist.


(Lachen bei der PDS)

Der Gesetzentwurf ist aus den genannten Gründen ab-

zulehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Friese [SPD]: Er muss überwiesen werden!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415308000
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Beck vom Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415308100

Herr Kollege Götzer, obwohl ich zum selben Ergebnis
komme, kann ich kaum eines Ihrer Argumente in dieser
Form teilen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Schade!)


Es gibt durchaus die Notwendigkeit zu sagen: Wir müs-
sen zur Bekämpfung von Rassismus, Neonazismus
und Rechtsextremismus in Deutschland noch viel mehr
tun. – Der Bundesinnenminister hat es kürzlich noch ein-
mal bekannt gegeben: Wir hatten im letzten Jahr einen
dramatischen Anstieg bei ausländerfeindlichen und anti-
semitischen Gewalttaten zu verzeichnen. Das ist ein riesi-
ges Problem. Wir dürfen nicht zur Ruhe kommen, bevor
wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sebastian Edathy [SPD])


Sie sagten vorhin in Ihrer Rede – das sagt man gern in
solchen Debatten, bevor man zur Ablehnung kommt –:

„Wir alle sind uns einig, dass man gegen Rechtsextremis-
mus mit allen Maßnahmen vorgehen muss“ und sugge-
rierten damit eine scheinbare Einigkeit in diesem Hause
auch in anderer Beziehung bei diesem Thema. Ich möchte
Sie daran erinnern, dass Sie von der Union alles, was wir
im Bundeshaushalt zur Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus, zur Hilfe für Opfer von Gewalttaten und rechts-
extremistischen Anschlägen eingestellt haben, abgelehnt
haben. Wir werden in den nächsten Wochen im Bundes-
tag einen Antrag verabschieden, wobei ich gehört habe,
dass die Unionsfraktion als einzige Fraktion dem nicht
beitritt. Also kann man in diesem Zusammenhang nicht
von „allen“ reden. Vielmehr streiten wir – das ist ja auch
legitim – über die Wahl der Mittel. Aber ich würde gern
einmal sehen, was die Union tatsächlich hierzu beitragen
will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415308200
Herr Kol-
lege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415308300

Bitte schön.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1415308400
Herr Kollege Beck, kön-
nen Sie kurz erklären, warum die Koalition, vor allem
auch Bündnis 90/Die Grünen, den Antrag der F.D.P. ab-
gelehnt hat, im Einzelplan 60 250 Millionen DM für den
Kampf gegen den Rechtsextremismus zur Verfügung zu
stellen?


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415308500

Ich erinnere mich, dass es Maßnahmen im Bereich der
Bildungspolitik waren. Wir haben Schwerpunkte im Be-
reich des Familienministeriums, des Justizministeriums,
im Bereich der Gewaltbekämpfung gesetzt. Ich glaube,
das, was wir hier gemacht haben, war richtig und verant-
wortbar. Es kann nicht sein, dass man seinen Anti-
faschismus beweisen muss, indem man jedem Finanz-
antrag der Opposition, der dieses Wort auch nur in der Be-
gründung nennt, zustimmt.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das Gleiche machen Sie!)


So einfach kann man es sich nicht machen. Es gibt aber
keine Vorschläge aus der Union, mit einem anderen Kon-
zept – darüber kann man ja reden – dem Thema näher zu
kommen und etwas zu tun. Vielmehr lehnt die Union im
Endeffekt jede Maßnahme in diesem Bereich ab und re-
det – das war auch die Essenz des Beitrags von Herrn
Götzer – das Problem klein. Das finde ich illegitim. Wir
dürfen über die Methoden streiten und müssen schauen,
was zum Ziel führt, und dann gemeinsam danach streben,
hier voranzukommen.

Aber nun zu dem Antrag der PDS. Die PDS schreibt in
ihrem Antrag, das Grundgesetz habe eine antifaschisti-




Dr. Wolfgang Götzer
15032


(C)



(D)



(A)



(B)


sche Grundtendenz. Ich glaube, es ist zu wenig, was Sie
hier sagen. Das Grundgesetz ist die Negation des
Nationalsozialismus, es ist die direkte Kehrtwende und
es ist das verfassungsrechtliche „Nie wieder Auschwitz
und nie wieder Krieg“. Es sind zu nennen: Art. 1, der
Schutz der Menschenwürde, als zentraler Ausgangspunkt,
der Schutz des demokratischen und föderalen Rechtsstaa-
tes, der auch einer Veränderung des Verfassungsgesetz-
gebers entzogen ist, und Art. 3, den ich als Negation der
Selektionspolitik des Nationalsozialismus sehen würde,
indem er alle Menschen gleich an Würde und Menschen-
rechten macht, unabhängig davon, nach welchen Krite-
rien wir sie klassifizieren wollten oder könnten.

Deshalb, meine Damen und Herren, muss man diesen
Charakter erst einmal zur Kenntnis nehmen, bevor man
bewertet, ob das, was Sie hier beantragen, notwendig und
nützlich ist. Ich verstehe Ihre Intention. Ich finde diese In-
tention auch legitim. Ich glaube lediglich, dass Sie juris-
tisch auf diesem Weg nicht zu dem von Ihnen gewünsch-
ten Ziel kommen. Sie sagen, der Terminus „national-
sozialistisches Gedankengut“ sei genau zu definieren, und
Sie zitieren interessanterweise in Ihrer Begründung die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozia-
listischen Reichspartei. Dazu hat Frau Limbach heute im
Verbotsverfahren gegen die NPD erklärt, dass die Urteile
gegen die SRP und die KPD im aktuellen Verbotsverfah-
ren nicht mehr herangezogen werden könnten, weil die
Rechtsprechung diesbezüglich völlig veraltet sei und
heute keine Relevanz mehr habe. Wer soll denn beurtei-
len, ab wann Rassismus und Totalitarismus von rechts
schon nationalsozialistisches Gedankengut sind? Dies al-
les ist nicht justiziabel und führt daher letztendlich nicht
weiter.

Eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes
ist nicht notwendig; denn es gibt Möglichkeiten, Partei-
en, die die freiheitliche demokratische Grundordnung
gefährden, durch das Parteienverbot nach Art. 21 des
Grundgesetzes hinreichend zu begegnen. Bei anderen Or-
ganisationen kann man durch Anwendung von verwal-
tungsrechtlichen Verboten und von entsprechenden Straf-
normen tätig werden.

Hinsichtlich der Verherrlichung nationalsozialistischer
Organisationen, die Sie ebenfalls angesprochen haben,
kann man mit unserer Fraktion reden, ob wir eine ent-
sprechende Bestimmung im Strafgesetzbuch brauchen.
Diese müsste allerdings – darauf gehen Sie in Ihrem An-
trag nicht ein – dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot
insoweit genügen, dass klar ist, was verboten ist und was
durch die Strafrechtsnorm nicht erfasst wird. Zu dieser
Frage äußern Sie sich aber nicht.

Wir müssen über dieses Thema weiter reden. Ich teile
auch den Gedanken, den die Kollegin Kenzler vorgetra-
gen hat: Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Gefahr des
Nationalsozialismus und des Rechtsradikalismus dazu
führt, dass die Freiheitsrechte aller – dazu gehört auch das
Demonstrationsrecht – eingeschränkt werden. Aber ich
bin der Meinung, dass der von Ihnen vorgeschlagene Weg
juristisch nicht zum Ziel führt. Er ist auch nicht notwen-
dig, weil unsere Verfassung, übrigens auch in Art. 139, die
notwendige Klarheit über die Zielrichtung des Grundge-
setzes enthält.

Mit Ihrem Vorschlag werden wir in keiner Weise recht-
lich weiterkommen. Deswegen werden wir wohl nach der
Fachberatung in den Ausschüssen diesen Gesetzentwurf
zu den Akten nehmen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415308600
Als
nächster Redner hat der Kollege Rainer Funke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1415308700
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Vorschlag der PDS, in Art. 26 Abs. 1 des
Grundgesetzes eine so genannte antifaschistische Klausel
aufzunehmen, scheint auf den ersten Blick ganz sinnvoll
zu sein.

Diese Idee ist nicht ganz neu – Sie haben es selbst er-
wähnt, Frau Dr. Kenzler –; ein entsprechender Vorschlag
wurde bereits von der Polizeigewerkschaft unterbreitet.
Er ist auch durchaus verständlich angesichts der Tatsache,
dass sich die Polizei schwer tut, bei Versammlungen die-
jenigen zu schützen, die rechtsextremistisches Gedanken-
gut verbreiten. Ich habe durchaus Verständnis für die Po-
lizisten, die nichts mit diesen Rechtsextremisten zu tun
haben wollen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Denn sie wollen natürlich nicht in die geistige Nähe die-
ser Rechtsextremisten gerückt werden, nur weil sie diese
aufgrund ihres polizeilichen Auftrages zu schützen haben.

Dennoch ist der vorliegende Gesetzentwurf nicht ge-
eignet, die Probleme zu lösen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Eine Gesetzesänderung oder gar eine Verfassungsände-
rung ändert nämlich an dem Problem des Rechtsextre-
mismus überhaupt nichts. Der Rechtsextremismus muss
politisch und nicht ausschließlich durch Gesetze
bekämpft werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit solchen Verfassungsänderungen können uner-
wünschte Meinungsäußerungen oder Kundgebungen
nicht verhindert werden. Sie werden mich persönlich,
aber auch sicherlich meine Partei immer an Ihrer Seite fin-
den, wenn es darum geht, den Rechtsextremismus poli-
tisch zu bekämpfen.

Die PDS liefert in ihrer Begründung für den Gesetz-
entwurf – darauf hat Frau Simm schon hingewiesen –
zahlreiche Belege dafür, dass unser Grundgesetz ausrei-
chend Möglichkeiten bietet, den Rechtsextremismus mit
Gesetzen zu bekämpfen. Frau Simm hat zu Recht auf die
vielen strafrechtlichen und polizeilichen Bestimmungen
hingewiesen, die ausreichen, den Rechtsextremismus zu
bekämpfen. Trotzdem sind wir alle aufgerufen, die
Rechtsextremisten entschieden politisch zu bekämpfen.

Ich glaube, dass eine derartige Änderung des Grund-
gesetzes zu ganz erheblichen Auslegungsschwierigkeiten




Volker Beck (Köln)


15033


(C)



(D)



(A)



(B)


führen würde, die durch das Bundesverfassungsgericht
geklärt werden müssten.

Sie wollen sicherlich erreichen – das kann ich durch-
aus nachvollziehen –, dass durch eine Änderung von
Art. 26 Grundgesetz das Demonstrationsrecht für die
Rechtsextremisten sozusagen nach unten gezont wird.
Aber ich glaube, das Demonstrationsrecht ist eine unserer
ganz wichtigen Verfassungsbestimmungen. Deswegen
wollen wir das Demonstrationsrecht in Art. 8 nicht relati-
viert wissen.

Hinzu kommt, dass Sie – darauf hat die Frau Kollegin
Simm schon hingewiesen – rechtssystematisch mit Ihrem
Antrag etwas schief liegen; denn Art. 26 Grundgesetz
dient dem friedlichen Zusammenleben der Völker, bein-
haltet also eine Außenwirkung, aber nicht die Binnenwir-
kung, die Sie erreichen wollen.

Lassen Sie uns also lieber mit den richtigen politi-
schen, vielleicht auch noch mit polizeilichen Mitteln ge-
gen den Rechtsextremismus vorgehen. Reine Symbolpo-
litik – das ist das, was Sie hier beantragen – lehnen wir als
F.D.P. ab.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415308800
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion das Wort.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1415308900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wir führen die heutige Diskussion über
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundge-
setzes, den die PDS vorgelegt hat, kurz bevor die offiziel-
len Zahlen zu den rechtsextremistisch motivierten Strafta-
ten aus dem Jahre 2000 vorgelegt werden. Nach den uns
vorliegenden Zahlen für die Zeit von Januar bis Novem-
ber 2000 müssen wir davon ausgehen, dass sich die Zahl
der rechtsextremistisch motivierten Straftaten im Jahre
2000 gegenüber dem Vorjahr von etwa 10 000 auf 14 000
erhöht hat.

Es gibt seit Sommer 2000 öffentlich eine vermehrte
Aufmerksamkeit für das Thema Rechtsextremismus. Das
begrüße ich außerordentlich. Aber – das müssen wir uns
nicht zuletzt selbstkritisch vor Augen halten – auch in Jah-
ren, in denen wir 10 000 Straftaten hatten, also in Jahren,
in denen Tag für Tag rund 30 rechtsextremistisch moti-
vierte Delikte begangen worden sind, hätten wir allemal
Grund gehabt, auch parlamentarisch der Frage von geeig-
neten Wegen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus
mehr Aufmerksamkeit zu schenken.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Deswegen ist es – jedenfalls für meine Fraktion – eine
Selbstverständlichkeit, jede parlamentarische Initiative,
gleich, von welcher Fraktion sie kommt, sorgfältig da-
raufhin zu prüfen, ob sie geeignet ist, einen Beitrag zur
Bekämpfung des Rechtsextremismus zu leisten.

Wir haben gerade in dieser Woche einen wesentlichen
Schritt gemacht, um in einigen Wochen hier im Plenum
gemeinsam einen Antrag beraten und verabschieden zu
können, der nicht nur von der Koalition, sondern auch
von den Fraktionen der F.D.P. und der PDS getragen
wird. Ich finde es eigentlich wichtig, dass wir bei The-
men, bei denen es um Kernbestandteile der Demokratie
geht, deutlich machen, dass wir über die Partei- und
Fraktionsgrenzen hinweg an einem Konsens interessiert
sind.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie des Abg. Rainer Funke [F.D.P.])


Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob die von der PDS
vorgelegte Initiative, die wir in den Ausschüssen im Ein-
zelnen zu diskutieren haben werden, geeignet sein kann,
etwas zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zu leisten.
Ich habe da Zweifel und will diese Zweifel an dieser Stelle
auch begründen.

Das entscheidende Moment in der Begegnung des
Rechtsextremismus sehe ich in einem Bereich, in dem wir
gute Fortschritte gemacht haben, nämlich in einer Stär-
kung des zivilen bürgerschaftlichen Engagements. Ich
will daher, trotz des fortgeschrittenen Freitags, die Gele-
genheit wahrnehmen, von dieser Stelle aus all den Men-
schen zu danken, die in den vergangenen Monaten auf die
Straße gegangen sind und die deutlich gemacht haben:
Wir lassen diese Demokratie nicht von Feinden der De-
mokratie beschädigen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeu-
gung: Auch wenn die Regierung die bestdenkbaren Be-
schlüsse fasst, wird es entscheidend darauf ankommen,
dass eine Verfassung nicht nur auf dem Papier besteht,
sondern ihre Verwirklichung darin findet, dass die Bürge-
rinnen und Bürger in diesem Land als Demokraten selbst-
bewusst sagen: Wir wollen die Demokratie nicht beschä-
digen lassen; wir übernehmen Verantwortung für andere;
diese Verantwortung endet nicht am Gartentor, sondern
umfasst die Nachbarschaft und die Frage, was in diesem
Land passiert.

Die Kollegin Erika Simm und einige andere Juristen
– ich selber bin kein Jurist – haben darauf hingewiesen,
dass, zumindest rechtssystematisch, Zweifel daran beste-
hen, ob durch eine Änderung des Art. 26 des Grundgeset-
zes, wie dies von der PDS vorgeschlagen wird, im Bereich
der Bekämpfung des Rechtsextremismus wirklich ein
Fortschritt zu vollziehen ist. Ich möchte, ohne der Bera-
tung in den Ausschüssen vorzugreifen, folgende Frage
stellen: Ist es sinnvoll, dass wir hier im Parlament den
Eindruck erwecken, als ob der entscheidende Schalthebel
zur Bekämpfung des Rechtsextremismus die Änderung
von Gesetzen sei, oder sollten wir nicht vielmehr deutlich
machen, dass es darauf ankommt, das Grundgesetz mit
Leben zu erfüllen?


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)





Rainer Funke
15034


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn wir sicherstellen, dass Art. 1 des Grundgesetzes,
wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, gelebt
wird und nicht nur im Grundgesetz steht, würden wir
deutlich weiterkommen.

Wir sollten an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen
– ich denke dabei an die kommenden Beratungen des frak-
tionsübergreifenden Antrages, in dem sehr viele Einzel-
maßnahmen aufgeführt sind, die wir für sinnvoll halten –:
Beim Thema Rechtsextremismus geht es nicht um Aktio-
nismus und nicht nur darum, Symbole hochzuhalten, son-
dern darum, deutlich zu machen, dass einem Kernbestand-
teil der Demokratie in diesem Land auf Dauer Schaden
droht, wenn eine zunehmende Zahl von Menschen hinzu-
nehmen bereit wäre, dass eine kleine Minderheit die
Würde und die Rechte von Menschen mit Füßen tritt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415309000
Ich schlie-
ße die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/5127 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun

(Augsburg), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeord-

neter und der Fraktion der F.D.P.
Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschafts-
politischer Zuständigkeiten
– Drucksachen 14/2707, 14/3988 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt

Ihr Einverständnis vorausgesetzt, wollen alle zu die-
sem Tagesordnungspunkt vorgesehenen Redner ihre Re-
den zu Protokoll geben.1) Ich sehe keinen Widerspruch. –
Dann werden wir so verfahren.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Frak-
tion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine sachgerechte Auf-
teilung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten“, Druck-
sache 14/3988. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2707 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.

Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Be-
richten über die Gründe zum Eintritt in den
Kosovo-Krieg

Zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Barbara Höll
das Wort.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1415309100
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wir haben eine Aktuelle Stunde zur Hal-
tung der Bundesregierung zu aktuellen Berichten über die
Gründe zum Eintritt in den Kosovo-Krieg beantragt. Ich
möchte hiermit namens der Fraktion der PDS die Herbei-
rufung des Ministers der Verteidigung, Herrn Scharping,
beantragen.

Natürlich haben wir registriert, dass die Frau Parla-
mentarische Staatssekretärin anwesend ist. Aber wir den-
ken, die in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Infor-
mationen, die zum Anlass dieser Aktuellen Stunde
wurden, erfordern es, dass die Bundesregierung hier auf
höchster Ebene ihre politische Verantwortung wahrnimmt
und sich der öffentlichen Diskussion im Rahmen dieser
Aktuellen Stunde stellt.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415309200
Eine wei-
tere Wortmeldung zur Geschäftsordnung. Herr Koppelin.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1415309300
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Nach der Sendung „Es begann
mit einer Lüge“, die vor kurzem vom WDR gezeigt
wurde, sind viele Fragen gestellt, aber bisher von der Bun-
desregierung keine Antworten gegeben worden.

Die Freien Demokraten haben in ihrer Fraktion sehr in-
tensiv und ernsthaft diskutiert. Jeder hat noch einmal seine
persönlichen Beweggründe dargelegt, warum er sich da-
mals für oder gegen den NATO-Einsatz ausgesprochen
hat. Ich habe damals dagegen gestimmt. Aber ich akzep-
tiere die ernsthafte Entscheidung meiner Kollegen.

Da es aber jetzt eine solch ernsthafte Diskussion über
den Bericht gibt – sowohl in unserer Fraktion als auch in
anderen Fraktionen; wir haben im Übrigen den Text der
Sendung, der vorlag, an alle Fraktionsmitglieder verteilt,
damit sie sich noch einmal intensiv mit diesem Thema be-
schäftigen können –, ist es notwendig, dass der Bun-
desverteidigungsminister dazu Stellung nimmt.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

Es kann nicht angehen, dass sich der Bundesverteidi-
gungsminister in Fragen der Öffentlichkeit drückt.


(Peter Zumkley [SPD]: Zuständig ist doch das Auswärtige Amt!)


Ich erlebe es in unserer Fraktion: Es kommen immer mehr
Zuschriften, es werden immer mehr Fragen von Bürgern
gestellt.


(Anhaltende Zurufe von der SPD)





Sebastian Edathy

15035


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 2

– Beruhigen Sie sich doch! Die Sache ist einfach zu ernst,
als dass Sie dazwischenkrakeelen.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS – Peter Zumkley [SPD]: Das ist ja lächerlich! Drei Leute von Ihnen sind da!)


Die Bürger stellen Fragen, aber es gibt keine Antwor-
ten des Verteidigungsministers. Insofern werden wir den
Antrag der PDS unterstützen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415309400
Zur Ge-
schäftsordnung gebe ich jetzt der Kollegin Susanne
Kastner von der SPD-Fraktion das Wort.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1415309500
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Das Ansinnen der PDS macht
es nicht erforderlich, den Bundesverteidigungsminister zu
rufen. Wie Sie ja sehen, ist die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Brigitte Schulte anwesend. Es war von jeher üblich,
dass bei einer Aktuellen Stunde die Parlamentarische Staats-
sekretärin oder der Parlamentarische Staatssekretär im Ple-
num anwesend ist.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Nicht bei diesem Thema!)


Im Übrigen muss ich Ihnen, Herr Koppelin, da Sie sich
auf diese WDR-Sendung beziehen, sagen: Diese Sendung
hatte – mit Verlaub – nicht ein Niveau, das es rechtferti-
gen würde, deshalb den Bundesverteidigungsminister ins
Plenum zu rufen.

Wir lehnen deshalb den Geschäftsordnungsantrag ab.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415309600
Ebenfalls
zur Geschäftsordnung der Kollege Manfred Grund von
der CDU/CSU.


(Peter Zumkley [SPD]: Peinlich, peinlich!)



Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1415309700
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Auch wir würden es
für besser halten, wenn der Bundesminister der Verteidi-
gung heute hier wäre.


(Beifall bei der PDS)

Wir sehen allerdings die Bundesregierung durch zwei
Staatssekretäre, zum einen aus dem Verteidigungsminis-
terium und zum anderen aus dem Außenministerium, aus-
reichend vertreten und werden uns diesem Antrag nicht
anschließen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415309800
Wir kom-
men damit zur Abstimmung über diesen Antrag. Wer
stimmt dem Antrag zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Antrag ist mit klarer Mehrheit abgelehnt.

Somit hat in der Aktuellen Stunde als erster Redner für
den Antragsteller der Kollege Dr. Gregor Gysi von der
PDS-Fraktion das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415309900
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich stelle fest, dass das Interesse der
Parlamentarier der Regierungsfraktionen an den Antwor-
ten ihrer Regierung immer weiter abnimmt, und finde das
in gewisser Hinsicht schon enttäuschend. Ich finde auch
nicht, dass man über den Film, der ARD-weit ausgestrahlt
wurde, derart hinweggehen kann, wie das gerade gesche-
hen ist,


(Beifall bei der PDS und der F.D.P.)

schon deshalb übrigens nicht, weil er eine beachtliche öf-
fentliche Wirkung hat. Wenigstens müsste sich die Regie-
rung mit ihm auseinander setzen.

Dieser Krieg – der Angriff auf Jugoslawien damals –
war ja, wie Sie wissen, höchst umstritten, und zwar so-
wohl völkerrechtlich als auch moralisch als auch poli-
tisch. Wir haben hier im Bundestag sehr heftige Debatten
hierüber geführt. Ich bin seinerzeit für meine Haltung
scharf kritisiert worden.


(Zurufe von der SPD: Zu Recht!)

– Das ist im Augenblick gar nicht mein Problem. Ich will
die Debatte auch gar nicht wiederholen, sondern ich will
auf etwas anderes eingehen.

Wenn das, was wir inzwischen erfahren haben, stimmt,
dass nämlich in dieser Zeit sehr vieles, was seinerzeit als
Begründung diente, manipuliert wurde, ja sogar falsch
war,


(Peter Zumkley [SPD]: Von Herrn Milosevic vor allen Dingen!)


dass auch der Bundesverteidigungsminister anderes
kannte – wobei wir uns übrigens von Anfang an alle da-
rüber einig waren, dass es selbstverständlich schlimme
Menschenrechtsverletzungen in Jugoslawien gab –, dann
habe ich den Eindruck, dass der Bundesverteidigungsmi-
nister und übrigens auch der Bundesaußenminister da-
mals offenkundig der Meinung waren, dass das Tatsächli-
che nicht genügte, um die Zustimmung des Bundestages
und der breiten Öffentlichkeit zu erreichen.


(Beifall bei der PDS – Peter Zumkley [SPD]: Die Zustimmung war doch viel früher als das andere!)


Das ist der einzig denkbare Grund dafür, dass man derart
überzogen und zum Teil auch mit falschen Fakten operiert
hat.

Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang gern eine
Situation schildern, an die ich mich noch gut erinnere.
Der Bundesverteidigungsminister hat von einem KZ – er
hat dieses Wort ja nicht zufällig gewählt – im Stadion
von Pristina gesprochen. Dazu will ich Ihnen zunächst
Folgendes sagen: Wir sollten es lassen, zu versuchen, in
einem anderen Land Zustände herbeizureden, wie sie
zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geherrscht ha-
ben.


(Beifall bei der PDS und der F.D.P.)

Wir finden keinen zweiten Hitler auf der Welt. Der
Außenminister ist noch weiter gegangen und hat die Zu-
stände sogar mit Auschwitz verglichen, was unerträglich




Jürgen Koppelin
15036


(C)



(D)



(A)



(B)


war. Ich hatte gehofft, dass er sich dafür irgendwann ein-
mal entschuldigt.


(Beifall bei der PDS und der F.D.P.)

Nun habe ich gehört, dass das, was im Zusammenhang

mit den Kerzen auf den Dächern gesagt wurde, technisch
überhaupt nicht geht. Es sind also reine Enten verkauft
worden.


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Stimmt nicht!)

– Hören Sie einmal zu! Ihr Minister ist ja nicht da. Er will
nicht antworten. Das ist das Problem. Er wird schon seine
Gründe haben, warum er nicht antworten will.


(Beifall bei der PDS)

Nehmen Sie das angebliche Massaker von Rugovo. In

dem Film sehe ich, wie ein deutscher Polizeioffizier er-
klärt, dass er seinerzeit der erste am Ort gewesen sei. Er
selbst habe sozusagen in Augenschein genommen, dass es
sich um Tote nach einem Gefecht handelte, dass das
UCK-Kämpfer waren. Seiner Darstellung nach wurden
die Toten von verschiedenen Orten zusammengetragen
und dann fotografiert. Uns wurde das als Massaker an Zi-
vilisten präsentiert.


(Zurufe von der SPD)

– Hören Sie zu! – Dieser Offizier fügte hinzu, nach der
ersten Falschmeldung habe er im Bundesverteidigungs-
ministerium angerufen und gesagt: Das stimmt so nicht.
Die Situation war eine andere. – Niemand hat die Mel-
dung korrigiert. Was also ist damals eigentlich passiert?


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Das waren Mordopfer!)


Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich seinerzeit
bei „Sabine Christiansen“ eingeladen war. Dort habe ich,
der ich gegen den Krieg bin, gesessen, während die ande-
ren dafür waren. Zum Mindestmaß an Fairness gehört
doch, dass man in einem solchen Streit mit Tatsachen ge-
geneinander operiert. Der Bundesverteidigungsminister
aber hat dort gesagt: Lehrer werden vor den Augen ihrer
Schüler erschossen. – Dafür hat es aber nie einen Nach-
weis gegeben. – Er sagte, es habe ein Massaker stattge-
funden. Er sagt, an Türen sei ein „S“ angebracht worden
– was offensichtlich aber nie der Fall war –, um Serben zu
schützen. Das alles erzählt er in dieser Sendung. In einem
solchen Moment kann ich doch gar nicht wissen, ob das
stimmt oder nicht.


(Peter Zumkley [SPD]: Die Leichen sind nicht da gewesen, ja?)


– Hören Sie zu! Ich habe in der Sendung auch nicht Nein
gesagt. Er konfrontiert mich damit in der Sekunde.
Warum? – Er weiß: Dort sitzt ein Gegner des Krieges.


(Reinhold Robbe [SPD]: Sie wissen mehr, als Sie sagen!)


Den bringe ich jetzt einmal in eine moralisch ganz
schlimme Ecke, aus der er nicht herauskommt. – So etwas
ist grob unfair.


(Beifall bei der PDS und der F.D.P.)


Er hätte ja auch versuchen können, seinen Krieg mit Tat-
sachen zu verteidigen, nicht aber mit Erfindungen, mit de-
nen Kriegsgegner in eine Ecke gedrängt werden, in der
jemand, der in einer solchen Situation gegen einen völ-
kerrechtswidrigen Krieg auftritt, fast wie ein Schwein
wirkt. So etwas darf man übel nehmen. Das darf man auch
als Parlamentarier übel nehmen.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb frage ich: Hätte es ohne falsche Sachverhalts-

darstellungen auch hier im Bundestag eine Zustimmung
zu diesem Krieg gegeben? Das war doch nicht nur die Ok-
tober-Entscheidung.Wir haben hier öfter darüber beraten.
Das müsste doch eigentlich auch eine Frage für CDU/
CSU und F.D.P. sein. Übrigens haben damals nicht we-
nige SPD-Abgeordnete gesagt, dass sie größte Bauch-
schmerzen damit haben, aber angesichts dieser Fakten
nicht anders könnten. Auch sie müssten sich doch, wenn
die Fakten nicht stimmen, fragen, ob sie sich vielleicht an-
ders entschieden hätten. Wir haben das Recht, nicht belo-
gen und betrogen zu werden.


(Beifall bei der PDS und der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Auch von Ihnen, Herr Gysi! Sie dürfen auch nicht lügen!)


Dieses Recht hat auch die deutsche Öffentlichkeit. Das
gilt insbesondere in einer so wichtigen Frage wie der
Frage von Frieden und Krieg.


(Beifall bei der PDS und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415310000
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Reinhold
Robbe von der SPD-Fraktion.


Reinhold Robbe (SPD):
Rede ID: ID1415310100
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wenn das Thema, mit dem
wir uns heute in der Aktuellen Stunde befassen, nicht so
ernst wäre, Herr Gysi, könnte man schnell darüber hin-
weggehen, zumal es sich um einen Antrag der PDS handelt.


(Widerspruch bei der PDS – Zuruf von der PDS: So ein Blödmann!)


Weil die PDS aber – übrigens nicht zum ersten Mal; das
will ich hinzufügen – den Versuch unternimmt, die
NATO-Luftangriffe gegen das serbische Jugoslawien als
unbegründet und völkerrechtswidrig darzustellen, muss
diesem erneuten Versuch der ideologischen Geschichts-
klitterung und nachträglichen Rechtfertigung von unmög-
lichen politischen Positionen energisch widersprochen
werden.

Worum geht es eigentlich in dieser Debatte? Ein
schlecht recherchierter und nach meiner Auffassung von
vornherein einseitig ausgerichteter Fernsehbericht des
WDR stellt die These auf, dass insbesondere Verteidi-
gungsminister Rudolf Scharping – ich zitiere mit Erlaub-
nis des Präsidenten –

... mit bewussten Fälschungen versucht hat, NATO-
Luftangriffe zu begründen.

Unter der Überschrift „Es begann mit einer Lüge“ werden
wenige Ereignisse wahllos als Belege dafür aufgeführt,




Dr. Gregor Gysi

15037


(C)



(D)



(A)



(B)


dass die deutsche Bevölkerung über die wahren Gescheh-
nisse im Kosovo bewusst getäuscht wurde.

Ich will an dieser Stelle in aller Deutlichkeit feststel-
len – ich glaube, dass ich hierbei auch die Auffassung der
breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag wiedergebe –,
dass es völlig unerheblich ist, ob bei einem Massaker,
Herr Gysi, in Rugovo die hinterrücks erschossenen Ko-
sovo-Albaner vielleicht auch einen Mitgliedsausweis der
UCK bei sich trugen. Das ist vollkommen unerheblich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Rolf Kutzmutz [PDS]: Völliger Unsinn, was Sie erzählen! – Weitere Zurufe von der PDS)


Fest steht, dass es Serben waren, die im Auftrag des
verbrecherischen Diktators Milosevic bereits ein Jahr
früher Hunderttausende von Kosovo-Albanern systema-
tisch aus ihrer Heimat vertrieben haben. Fest steht, dass
nach Angaben des UNHCR allein zwischen Januar und
Mitte März 1999 – also unmittelbar vor Beginn der
NATO-Luftangriffe – rund 200 000 neue Flüchtlinge aus
ihren Häusern vertrieben wurden.

Fest steht, dass die Menschen im Kosovo nicht zuletzt
deshalb ihre Heimat verließen, weil sie genau wussten,
dass Milosevic und seine verbrecherischen Generäle be-
reits in Bosnien die dort lebenden Menschen vertrieben,
verfolgt und zum Teil bestialisch ermordet hatten. Fest
steht weiterhin, dass Milosevic nicht zu einer politischen
Lösung des Balkankonflikts bereit war und stattdessen die
gesamte zivilisierte westliche Welt an der Nase herumge-
führt hat.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Da hätten Sie doch nicht lügen müssen!)


Fest steht auch – hören Sie gut zu –, dass die Europä-
ische Union, die NATO und damit selbstverständlich auch
die Bundesrepublik Deutschland überhaupt keine andere
Wahl hatten, als dem verbrecherischen Treiben des Herrn
Milosevic und seinen Schergen mit militärischer Gewalt
ein Ende zu setzen. Deswegen ist der Eingriff erfolgt, des-
wegen begannen die Luftangriffe.


(Beifall bei der SPD)

Vor diesem Hintergrund ist es schon mehr als dreist,

Herr Gysi, wenn sich die PDS heute hinstellt, um auf der
Grundlage eines – ich möchte es vorsichtig formulieren –
außerordentlich fragwürdigen Fernsehberichts den Ver-
such zu unternehmen, die Bundesregierung, den Bundes-
verteidigungsminister und die Mehrheit des Deutschen
Bundestages an den Pranger zu stellen.

Umgekehrt, meine Damen und Herren, wird ein Schuh
daraus: Gott sei Dank sind wir heute aufgrund gut funk-
tionierender Archive in der Lage, auch Unangenehmes
schnell zutage zu befördern, wenn es wirklich angebracht
ist. Ich zeige Ihnen jetzt mit Erlaubnis des Präsidenten ein
Foto aus dem „Spiegel“, das am 14. April 1999, also etwa
drei Wochen nach Beginn der NATO-Luftangriffe gegen
das Milosevic-Regime, aufgenommen wurde.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist ja ganz neu!)

Es zeigt Herrn Gysi, den wir gerade gehört haben, und
Herrn Milosevic. Ich hoffe, Sie, insbesondere Sie, Herr

Gysi, können erkennen, dass Herr Milosevic in einer of-
fensichtlich sehr entspannten Atmosphäre dem damaligen
Vorsitzenden der PDS-Bundestagsfraktion freundschaft-
lich die Hand schüttelt.


(Rosel Neuhäuser [PDS]: Die Bundesregierung hat das auch getan!)


Das muss man sich wirklich vor Augen führen, das
muss man sich richtig reinziehen, wie die jungen Leute
heute sagen: Während die gesamte westliche Welt den
Kriegstreiber und als Kriegsverbrecher gesuchten Dikta-
tor Milosevic verurteilt und ächtet, fährt Herr Gysi nach
Belgrad, um sich mit diesem Schlächter an einen Tisch zu
setzen.

Seit dem Treffen zwischen Gysi und Milosevic hat die
PDS jeden, aber auch wirklich jeden Anspruch auf Glaub-
würdigkeit und Seriosität verspielt.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist doch heuchlerisch!)


– Herr Gysi, wer Kriegsverbrechern die Hand reicht,
während gleichzeitig unschuldige Menschen umgebracht,
verfolgt und vertrieben werden, stellt sich auf die Seite der
Täter und beleidigt gleichzeitig die Opfer.


(Beifall bei der SPD)

Für mich persönlich, meine Damen und Herren – ich

sage das in aller Offenheit und mache aus meiner Mei-
nung dazu überhaupt keinen Hehl; so habe ich mich im-
mer verhalten –, ist es nicht zuletzt deshalb mehr als eine
Zumutung, mit solchen Leuten wie Gregor Gysi in einem
Parlament sitzen zu müssen.


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Das ist doch unerträglich hier! – Weitere Zurufe von der PDS)


Der PDS-Antrag zur Durchführung dieser Aktuellen
Stunde belegt wieder einmal aufs Neue, dass in der PDS
die Altkommunisten das Sagen haben


(Lachen bei der PDS)

und dass diese Partei im Deutschen Bundestag überhaupt
nichts zu suchen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Angela Marquardt [PDS]: Sie können ja morgen in unsere Parteizentrale kommen und uns alle erschießen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415310200
Als
nächster Redner hat Kollege Christian Schmidt von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Angela Marquardt [PDS]: Bombardieren Sie doch unsere Parteizentrale und erschießen Sie uns alle!)



Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1415310300
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol-
lege Robbe hat eine Bemerkung zur Rolle der PDS und
derer, die sie tragen, gemacht, die Herr Kollege Adam si-
cherlich gern nach Mecklenburg-Vorpommern mitneh-
men wird; aber das ist nicht das heutige Thema.




Reinhold Robbe
15038


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir reden über einen Punkt, bei dem ich in der Tat den
Herrn Außenminister und nicht nur den Verteidigungsmi-
nister gern gesehen hätte. Ich weiß, er hat heute anderes
zu tun, er hat andere Sorgen; aber hier geht es um eine
Frage, die notwendigerweise beantwortet werden muss.


(Beifall bei der F.D.P.)

Dieses Problem muss geklärt werden, weil Missver-

ständnisse und Missinterpretationen auch bei denen be-
stehen, die nicht auf der äußerst linken Seite dieses Hau-
ses sitzen. Das sieht man ja an dem genannten Film des
WDR. Ich persönlich gestehe ein, dass ich die Dokumen-
tationen der BBC zu den Konflikten auf dem Balkan für
sehr viel aufschlussreicher halte als das, was uns von die-
sem Sender gegenwärtig präsentiert wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Aber es gibt Fragen. Selbst seriöse Zeitungen wie die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ stellen in ihrem Feuil-
leton Fragen, überschreiben ihre Artikel mit solchen
Überschriften wie „Geleimt – Der Anlass des Kosovo-
Krieges eine Erfindung der NATO“. Es ist schon überra-
schend, wie weit Verwirrung und Irritation bestehen.

Ich sage ganz klar: Wenn heute die gleiche Entschei-
dung anstünde, würden wir wieder zustimmen, weil es
eine völlig falsche Vorstellung ist, die mancher Journalist
haben mag, es wäre so, dass ein singuläres Ereignis eine
lang andauernde Entwicklung allein ausmache und die
schwer wiegende Entscheidung, die auch dieses Parla-
ment getroffen hat, tragen würde.

Deswegen kommt es auf das, was der finnische Unter-
suchungsbericht über Racak aussagt, nicht im Detail an,
obwohl – das müssen Sie sich schon anhören, Herr Gysi –
dieser Untersuchungsbericht nicht als Zeuge dafür in An-
spruch genommen werden kann, dass friedliebende Ser-
ben von bösen Albanern verkleidet dort hingelegt worden
wären. Wir wissen sehr genau, dass viele Dinge nicht
mehr aufgeklärt werden können. Wir wissen auch, dass
die Propagandamaschinerie des Herrn Milosevic eine
außerordentlich effiziente war.


(Peter Zumkley [SPD]: So ist das, ja!)

Ich habe mich schon manchmal gewundert, mit wel-

cher Leichtfertigkeit auch öffentlich-rechtliche deutsche
Sender das Bildmaterial, das ihnen vom serbischen Fern-
sehen überlassen worden ist, übernommen haben. Manch-
mal hatte man den Eindruck, dass dies geschehen ist, ohne
gegenzurecherchieren, ob denn das, was da gezeigt wird,
stimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Der Kern des Problems, mit dem wir uns hier zu be-
fassen haben, ist ein anderer. Der Versuch, den politischen
Farbbeuteln auszuweichen, hat dazu geführt, dass zu Be-
gründungen für diesen Einsatz gegriffen werden musste,
die nicht akzeptabel sind. Ich erinnere mich noch sehr ge-
nau daran, als Joschka Fischer Milosevic mit Hitler ver-
glichen hat. Das war am Abend nach der G-8-Konferenz

auf dem Petersberg. Wir – die Obleute oder der Aus-
schuss; ich weiß es nicht mehr – saßen in Bonn und da fiel
dieses Wort.


(Zuruf des Abg. Karl Lamers [CDU/CSU])

Wer sagt, Milosevic ist wie Hitler, der muss Milosevic

wie Hitler behandeln. Hat denn jemals jemand die totale
Kapitulation, die bedingungslose Kapitulation erreichen,
den bindungslosen Krieg führen wollen? Ich hoffe doch
nicht.

Wenn man dann allerdings zu begründen versucht,
wieso man solch einen Krieg führen muss, einem Konflikt
entgegentreten muss, Menschenrechtsverletzungen ent-
gegentreten muss, dann muss man sich davor hüten, das
in Kategorien jenseits des Diskutierbaren zu heben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist das Problem, das Herr Fischer erzeugt hat. Das

hat sehr viel nicht nur mit denjenigen zu tun, die hier, in
seiner eigenen Fraktion, sitzen, sondern vielleicht noch
mehr mit den Mitgliedern seiner eigenen Partei. Über die-
ses Thema müssen wir reden.

Wir müssen auch darüber reden, dass es nicht gut ist,
wenn ein Verteidigungsminister emotional an dieses Red-
nerpult tritt und mit Bildern dokumentieren zu müssen
glaubt, was er politisch für notwendig hält. Hier brauchen
wir jemanden, der mit kühlem Kopf sagt: In Belgrad ist
einer vom Archetypus der miesen kleinen Diktatoren am
Spiel, der ohne Rücksicht auf das Leben der Bürger sei-
nes Landes gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit, vor
allem der Albaner, versucht, seine eigene Existenz, die
aus Korruption, Machtgier und Familienclan besteht, zu
wahren. Die Folgen für Europa sind angesichts der Gefahr
der Ausdehnung eines solchen Brandherdes nicht abseh-
bar. Dem, der bereits den vierten Krieg angezettelt hat –
es war ja nicht der erste –, muss Einhalt geboten werden.
Übrigens: Die Bereitschaft, loszufliegen, wenn sich
nichts mehr tut, bestand zum ersten Mal nicht nach Ram-
bouillet, sondern ein entsprechender Beschluss ist bereits
weit vorher erlassen worden. Das wäre die richtige Argu-
mentation.

Dass man dann in der Not zweifelhafte Hufeisenpläne
und Vergleiche zwischen Hitler und Milosevic herbeizie-
hen musste, ist das Problem der rot-grünen Regierung.
Das ist nicht das Problem dieses Konflikts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415310400
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Beer vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415310500
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will
hier in Erinnerung rufen: Der politische Entschluss, even-
tuell militärisch im Kosovo einzugreifen, ist am 16. Ok-
tober 1998 im Deutschen Bundestag gefasst worden.


(Peter Zumkley [SPD]: Jetzt kommen die Fakten!)





Christian Schmidt (Fürth)


15039


(C)



(D)



(A)



(B)


Denn der Krieg des Milosevic-Regimes gegen die Alba-
ner im Kosovo war bereits im Sommer 1998 in vollem
Gange. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es mehrere Hun-
derttausend Vertriebene, davon mehrere Zehntausend in
Nachbarstaaten, und eine unbekannte Zahl an Toten in der
Zivilbevölkerung. Die Lage war also zu diesem Zeitpunkt
schon sehr kritisch und wird in der Resolution Nr. 1199
des UN-Sicherheitsrates vom 23. September 1998 be-
schrieben.

Der Vorwurf des Films „Es begann mit einer Lüge“
greift schon deshalb nicht, weil er aus meiner Sicht fahr-
lässig die gesamte Vorgeschichte ignoriert,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


eine Vorgeschichte, die spätestens mit der Verfassungsän-
derung von 1989 begonnen hat, mit der der Autonomie-
status der Kosovo-Albaner aufgehoben wurde.

Wir hatten im Herbst 1998 die Hoffnung, dass erneute
Verhandlungen vor dem Hintergrund der Drohung eines
militärischen Schlages zur Entspannung führen würden.
Aus diesem Grunde wurde über Verhandlungen mit allen
Seiten versucht – wir haben alles getan –, eine internatio-
nale Lösung zu erreichen. Die jugoslawische Regierung
aber hat ungeachtet der diplomatischen Versuche ihre na-
tionalistische Politik weitergeführt und weiter gehende
Maßnahmen gegen die albanische Bevölkerung im Ko-
sovo vorbereitet.

Der Versuch, uns heute zu unterstellen, wir hätten die
Entscheidung zum NATO-Einsatz, eine Entscheidung in
einer so zentralen Frage, nämlich ob sich Deutschland an
einem Krieg beteiligt oder nicht, an Einzelereignissen wie
zum Beispiel Racak, festgemacht, geht absolut ins Leere.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das war Ihre Hauptbegründung! – Zuruf von der CDU/CSU: Den Eindruck hat damals Minister Fischer erweckt!)


Die Entscheidung, im Kosovo militärisch einzugrei-
fen, stand damals in einem klaren politischen Kontext.
Diesen will ich noch einmal in Erinnerung rufen. Er hatte
zwei Ebenen: erstens die humanitäre Lage im Kosovo, die
jahrelang andauernden, zum Teil gravierenden Men-
schenrechtsverletzungen im Kosovo von serbischer Seite,
und zweitens die Entwicklung in der Gesamtregion, die
Gefahr einer zunehmenden politischen Destabilisierung
der Region durch die kontraproduktive Wirkung der Poli-
tik des Milosevic-Regimes. Ich erinnere nur an den Bos-
nien-Krieg. Wir können doch nicht vergessen, dass
Milosevic für vier Kriege auf dem Balkan verantwortlich
ist!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aus dieser europäischen Verantwortung heraus haben
wir im März in einer zugespitzten Situation den Beschluss
vom Oktober des Vorjahres umsetzen müssen. Beide
Aspekte, der humanitäre und der regionalpolitische, wa-
ren damals für uns von entscheidender Bedeutung.

Mit dem Einsatz von KFOR und UNMIK sowie dem
Stabilitätspakt für die ganze Region ist es uns unter dem

Strich gelungen, ein Fundament für die Stabilisierung der
Region und damit eine Perspektive zu schaffen.

Wer heute eine Debatte über den Kosovo beantragt, der
sollte unter Berücksichtigung der aktuellen, mehr als an-
gespannten Situation im Kosovo auf die Frage Südserbien
und Presevo eingehen. Was können wir tun? Wo wirken
unsere präventiven Mittel, um eine neue Eskalation zu
verhindern? Wir bemühen uns, zum Beispiel um ein
Abdriften Montenegros und damit möglicherweise die
nächste Eskalation zu verhindern. Was tun wir, um zu
versuchen, die militanten UCK-Kräfte in der GSZ einzu-
dämmen, damit sie nicht eine Frühjahrsoffensive begin-
nen und den, wenn auch labilen, anhaltenden Waffenstill-
stand destabilisieren und neue Gefechte provozieren?

Wir wissen, dass wir mit KFOR und UNMIK noch
Jahre dort sein werden, weil die Traumata der Kriegser-
fahrung zwischen den Ethnien nicht von heute auf morgen
in Versöhnung umschlagen werden. Das sind die Punkte,
über die wir heute reden müssen. An dieser Stelle möchte
ich ausdrücklich unseren Soldaten, unseren Polizisten und
den Hilfsorganisationen für ihren Einsatz danken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU])


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe damals
am 25. März 1999 gesagt: Wir werden uns kritischen Fra-
gen stellen. Das tun wir auch.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das hört man heute!)

Ich habe dies gesagt, weil wir wussten, dass es keinen
„sauberen Krieg“ gibt. Wir wussten, dass es bei einem
Krieg keine Gewinner und keine Verlierer geben kann,
sondern dass er auf allen Seiten Opfer mit sich bringt.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Nur Verlierer!)

Wer uns zugehört hat, der weiß, dass wir uns selbstkriti-
sche Fragen gestellt haben und auch heute noch stellen:
über die Kriterien der Entscheidung über einen Mi-
litäreinsatz, die deutsche Beteiligung, die europäische
Rolle und vor allem darüber, wann sich deutsche Soldaten
an einem Einsatz beteiligen sollen und wann nicht.

Zum Schluss möchte ich noch die Frage des Einsatzes
von uranhaltiger Munition ansprechen.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Sie sind auf keine einzige Frage eingegangen!)


Selbstkritik hat nichts damit zu tun, bei verleumderischen
Unterstellungen den Kopf einzuziehen und zu sagen: Es
war alles falsch.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Nein, die Historie auf dem Balkan gilt es zu berücksichti-
gen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415310600
Kommen
Sie bitte zum Schluss.




Angelika Beer
15040


(C)



(D)



(A)



(B)



Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415310700
Herr
Präsident, der letzte Satz. – Nach unseren Erfahrungen –
wir haben es uns mit der Intervention in Bosnien, dem Ko-
sovo-Krieg und vielen anderen Konflikten seit dem Ende
des Kalten Krieges nicht leicht gemacht – bilanziere ich:
Das Ziel der Gewaltfreiheit geben wir nicht auf.


(Lachen bei der PDS)

Unsere Politik ist darauf gerichtet, die Anwendung von
Gewalt immer weiter zurückzudrängen. Das tut diese
Bundesregierung im nationalen wie auch im internati-
onalen Rahmen, indem wir präventive Instrumente auf-
bauen und hoffentlich so zukünftig militärische Eskala-
tionen vermeiden können.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Barbara Höll [PDS]: Eine Interventionsarmee!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415310800
Als
nächster Redner hat der Kollege Hildebrecht Braun von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1415310900
Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Gysi
und Sie, meine Damen und Herren von der PDS, ich
möchte in aller Klarheit sagen: Der Deutsche Bundestag
geht Ihnen nicht auf den Leim. Was Sie hier vortragen,
knüpft an den peinlichen Besuch bei Milosevic an, für den
Sie sich vor der deutschen Öffentlichkeit nie entschuldigt
haben, obwohl Sie das längst hätten tun müssen.


(Beifall des Abg. Reinhold Robbe [SPD])

Das, was Sie machen, ist, an eine miserable Praxis des

„Neuen Deutschlands“ vor und nach der Wende anzu-
knüpfen. Diese Zeitung hat am 8. Februar dieses Jahres
über diesen Bericht bei „Monitor“ gejubelt. Dabei werden
zwei Journalisten zu nützlichen Idioten der Propaganda
der PDS, der alten SED, gemacht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Botschaft war: Kriegstreiber ist die NATO.
Scharping und Co sind Lügner. Die Bundeswehr muss den
Kosovo und Bosnien-Herzegowina verlassen. – Nein, so
einfach ist das nicht. Das war wie zu schlimmsten Zeiten
der DDR. Es werden Feindbilder in einem Maße aufge-
baut, wie wir es nicht akzeptieren können. Der Deutsche
Bundestag hat sich mit großer Mehrheit nach ver-
antwortlichem Nachdenken dazu entschlossen, die Bun-
deswehr an dem Einsatz im Kosovo zu beteiligen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Nach Propaganda!)

Die Gründe, die er dafür hatte, sind nach wie vor richtig.
Darauf komme ich noch zu sprechen.

Ich will nicht ausschließen, dass Fotos falsch verwen-
det oder falsch interpretiert wurden. Ich weiß es nicht und
kann es von hier aus nicht überprüfen. Ich will auch nicht
ausschließen, dass bestimmte Fotos und ihre Interpreta-

tion dazu geeignet waren, schwankende Vertreter in der
SPD oder speziell bei den Grünen doch davon zu über-
zeugen, dass Gewaltanwendung notwendig ist, um eine
humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern oder zu
beenden.

Ich bin auch der Meinung, dass wir jede Frage, die in
dem Beitrag von „Monitor“ angesprochen wurde, sehr
präzise werden klären müssen. Es sind Fragen aufgewor-
fen worden, die wir vorher nicht gestellt haben und diese
Fragen werden von den zuständigen Ministerien – auch
vom Außenministerium – im Einzelnen geklärt werden
müssen. Keine Frage!


(Susanne Kastner [SPD]: Aber nicht in einer Aktuellen Stunde!)


Ich traue, ehrlich gesagt, Herrn Scharping viel zu, aber
nicht, dass er mit Bildern, von denen er weiß, dass sie
falsch sind, argumentiert und damit versucht, die Mehr-
heit des Bundestages zu gewinnen. In dieser Form sollten
wir nicht miteinander umgehen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wollen wir uns bitte daran erinnern: Am 15. Januar
1999 geschahen die Vorfälle in Racak, am 29. Januar in
Rugovo, am 6. Februar begannen die Verhandlungen in
Rambouillet und erst sechs Wochen danach begann der
Angriff auf das serbische Jugoslawien. Das heißt, diese
Bilder – selbst wenn sie falsch gewesen wären – waren
nicht ursächlich dafür, dass der Deutsche Bundestag
sagte: Wir müssen aus Verantwortung für die Menschen
im Kosovo handeln.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Problem ist, dass Serbien, mit Milosevic an der
Spitze, seit 1988 die Situation heraufbeschworen hat, die
in der Entscheidung der NATO, mit militärischen Mitteln
einzugreifen, kulminierte. Ich muss nicht wiederholen
– andere haben es bereits angesprochen –: Es waren die-
ser verdammte Nationalismus und dieser Rassismus, die
die serbische Politik ausgezeichnet haben und die letztlich
dazu geführt haben, dass dieser Krieg stattfand, und in der
Folge dazu geführt haben, dass Serben im Kosovo derzeit
leider nicht angstfrei leben können.

Gerade wir Deutschen wissen, was es bedeutet, wenn
man eine Aggression gegen Nachbarn oder andere Völker
vom Zaun bricht. Ein solches Verhalten bleibt nicht ohne
Folgen. Insofern zahlen viele einzelne Serben jetzt leider
trotz unserer Bemühungen den Preis für die Politik ihres
früheren Präsidenten Milosevic.

Wir wollen nicht davor die Augen verschließen, dass es
vor der Entscheidung der NATO und vor der Entschei-
dung des Deutschen Bundestages Massenvertreibungen
im Kosovo gegeben hat, dass Hunderttausende im Winter
in die Wälder getrieben wurden und dort unter miserablen
Bedingungen versucht haben zu überleben. Es war son-
nenklar: Das System der ethnischen Säuberung war Poli-
tik der Serben. Diese wollten, weil sie meinten, Kosovo
gehöre zu Serbien, eine ethnische Säuberung dadurch er-
reichen, dass sie die Kosovo-Albaner aus ihrer Heimat






(C)



(D)



(A)



(B)


vertrieben. Das war sonnenklar und zu dieser Meinung
stehe ich bis zum heutigen Tag.

Ich bin der Meinung, dass wir uns an keiner Ge-
schichtsklitterung beteiligen wollen und dürfen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!)

Die damalige Entscheidung war richtig und auch das Er-
gebnis des Einsatzes der NATO war hilfreich. Ich stehe
bis zum heutigen Tag zu der damaligen Entscheidung.
Was ist denn heute anders als früher? Die Opfer der ser-
bischen Aggression konnten zurückkehren. Die Völker
um Serbien herum leben nicht mehr in Angst vor Serbien.
Ein sehr wichtiges Ergebnis ist auch: Serbien ist demo-
kratisch geworden. Auch das ist eine Folge des NATO-
Angriffs. Mit anderen Worten: Die gesamte Region hat
eine Zukunft und sie hat sie deshalb, weil die Weltge-
meinschaft ihre Verantwortung ernst genommen und ein-
gegriffen hat, und zwar nur deshalb. Das sollten auch Sie
erkennen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1415311000
Jetzt hat
der Kollege Eberhard Brecht von der SPD-Fraktion das
Wort.


Dr. Eberhard Brecht (SPD):
Rede ID: ID1415311100
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Es hat in der Neuzeit wohl noch keine kriegerische Aus-
einandersetzung gegeben, die in den Medien nicht eine
entsprechende Resonanz gefunden hätte. Das heißt, bei
solchen kriegerischen Auseinandersetzungen geht es im-
mer um die Meinungsführerschaft. Ich denke, vor allen
Dingen die unmittelbaren Konfliktparteien – in diesem
Fall die Serben und die Albaner – haben mit Sicherheit
versucht, die Weltöffentlichkeit zu informieren, aber auch
zu desinformieren, um ihre Gegner zu dämonisieren. Da-
her ist es legitim, dass man heute, mit einem gewissen
zeitlichen Abstand, die damaligen Informationen und de-
ren Bewertung einer kritischen Revision unterzieht.

Die WDR-Journalisten Angerer und Werth haben sich
leider des gleichen Verfahrens bedient, das sie ihrerseits
der Bundesregierung fälschlicherweise unterstellt haben.
Sie sind deduktiv vorgegangen und haben versucht, ihre
These mit Informationen entsprechend zu unterfüttern.
Ihrer Meinung nach haben sich die serbischen Sicher-
heitskräfte im Kosovo im Rahmen des herrschenden Bür-
gerkrieges mit der UCK im Großen und Ganzen ordent-
lich benommen, während die NATO zwanghaft bemüht
war, einen Grund zur Intervention zu konstruieren. Dass
dabei die Aussagen der Kronzeugen, die der Herren
Hensch und Loquai und der Frau Brown, die sie in ihrem
Bericht zitieren, teilweise im Gegensatz zu den Darstel-
lungen der OSZE, des UNHCR und der vielen Men-
schenrechtsorganisationen stehen, ficht die Autoren
offensichtlich nicht an. Die Darstellungen dieser Organi-
sationen beruhen immerhin auf den Aussagen Tausender
von Augenzeugen.

Am 16. Oktober 1998 – vielleicht kann sich der eine
oder andere noch erinnern – konnte ich dem Beschluss

über mögliche militärische Maßnahmen gegen das
Milosevic-Regime nicht zustimmen. Ich war und bin zwar
der Auffassung, dass man im Völkerrecht humanitäre In-
terventionen unter definierten Bedingungen legalisieren
sollte. Aber man kann nicht neues Recht dadurch schaf-
fen, dass man altes Recht bricht. Auch wenn ich damals
die Legalität der NATO-Intervention im Kosovo infrage
stellte, so gab es weder damals noch heute ernsthafte
Zweifel an der Legitimität dieses Einsatzes. Dafür spre-
chen folgende Tatsachen:

Erstens. Nach vier von ihm zu verantwortenden Krie-
gen auf dem Balkan, nach Vukovar 1991, nach Srebrenica
1995 und nach Denica 1998 konnte an der Skrupellosig-
keit und der Brutalität eines Slobodan Milosevic kein
Zweifel mehr bestehen.


(Christine Ostrowski [PDS]: Darum geht es doch überhaupt nicht!)


Die PDS pflegt dagegen gern das Bild eines Milosevic,
der sich erst durch die NATO-Angriffe im März 1999 von
einem Mr. Jekyll in einen Mr. Hyde verwandelte,


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


indem er erst zu diesem Zeitpunkt Vertreibungen und
Massaker seiner Schergen hinnahm oder anordnete.


(Angela Marquardt [PDS]: Sie sind ein Lügner!)


– Entschuldigung, bitte nehmen Sie das zurück!

(Rolf Kutzmutz [PDS]: Nein, nein! Das wird nicht zurückgenommen!)

Zweitens. Der Krieg im Kosovo begann nicht mit einer

medialen Inszenierung der deutschen Bundesregierung
im Frühjahr 1999, sondern mit der systematischen Unter-
drückung der albanischstämmigen Mehrheit nach Aufhe-
bung des Autonomiestatus 1989. Es blieb ja nicht nur bei
Verboten von Schulbesuchen und der Berufsausübung.
Menschen wurden willkürlich verhaftet, gefoltert und
auch umgebracht.

Drittens. Später, also nach dem Entstehen eines be-
waffneten albanischen Widerstandes, töteten serbische
Sicherheitskräfte nicht nur UCK-Kämpfer, sondern in
Vergeltungsaktionen auch Zivilisten. So wird in der
Sicherheitsratsresolution 1199 vom 31. März 1998 auf-
grund von Recherchen des UNHCR von exzessiver und
wahlloser Gewaltanwendung seitens der serbischen Si-
cherheitskräfte und der jugoslawischen Armee mit zahl-
reichen Opfern unter der zivilen Bevölkerung und von in-
ternen und externen Vertreibungen Hunderttausender
Kosovo-Albaner berichtet.

Während der Verhandlungen in Rambouillet, also
vor den NATO-Luftschlägen, wurden vom UNHCR
210000 Binnenvertriebene und 50 000 Flüchtlinge außer-
halb des Kosovo gezählt. Nach Angaben internationaler
Menschenrechtsorganisationen befanden sich unter den
im Jahr 1998 getöteten Albanern – es waren immerhin
mehr als 2 000 – 219 Frauen, 213 Kinder und 395 alte
Menschen, also insgesamt 827 Zivilisten. Ihre Namen,
Herr Gysi, sind dokumentiert. Nach serbischen Angaben




Hildebrecht Braun (Augsburg)

15042


(C)



(D)



(A)



(B)


kamen im gleichen Zeitraum nur 115 serbische Polizisten
und 165 Zivilisten ums Leben.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist auch viel!)

Allein beim Vergleich dieser Zahlen fällt die Behaup-

tung der WDR-Autoren in sich zusammen, es habe sich
hier um einen gewöhnlichen Bürgerkrieg gehandelt.


(V o s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Angesichts der Tatsache, dass das Schicksal von

3 000 vermissten Kosovaren nicht aufgeklärt ist, ist der-
zeit eine Bilanz über die Gesamtzahl an Opfern unter der
Zivilbevölkerung noch nicht möglich.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415311200
Kollege Brecht, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.


Dr. Eberhard Brecht (SPD):
Rede ID: ID1415311300
Ich komme zum
Schluss, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen
und Herren, die ständig perpetuierte Legende einer
kriegslüsternen NATO mit imperialen Ansprüchen auf
dem Balkan ist zu absurd, um Gegenstand ernsthafter his-
torischer Untersuchungen zu sein.


(Lachen bei der PDS)

Interessanter sind sicherlich Beurteilungen, inwieweit
durch präventive Maßnahmen die aus vier Akten beste-
hende Tragödie des Balkans in den 90er-Jahren zu ver-
hindern gewesen wäre. Ich befürchte nämlich, die Kritik
der Historiker an Unterlassenem wird uns eines Tages
mehr zu schaffen machen als die abstrusen Ver-
schwörungstheorien von Ihnen, liebe Kollegen der PDS.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415311400
Nächster Redner ist
der Kollege Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Ich dachte immer, „Lügner“ sei ein unparlamentarischer Ausdruck! – Gegenruf der Abg. Angela Marquardt [PDS]: Ich lasse mir doch nicht unterstellen, dass ich Milosevic gut fand! Deswegen kann ich es nur wiederholen: Er ist ein Lügner! Das habe ich nie gemacht!)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte angesichts
der erhitzten Debatte darum, dass die Auseinandersetzun-
gen, die im Hause üblich sind, auch auf dem Niveau des
Hauses stattfinden und nicht dem Stil des Hohen Hauses
entgegenlaufen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415311500
Frau Präsidentin, ich
werde mir Mühe geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mir eigent-
lich vorgenommen, eine sehr kühle und ruhige Rede zu
halten, in der ich versuche, den erhobenen Vorwürfen
nachzugehen und sie abzuwägen. Allerdings geht das
nach einigen Dingen, die hier abgelaufen sind, nicht mehr.
Ich sage auch ehrlich, dass ich sehr bitter über dieses

Thema debattiere. Ich bin überhaupt sehr bitter über die-
sen Krieg sowie darüber, wie Deutschland in diesen Krieg
gebracht worden ist.

Ich möchte Herrn Robbe sagen, dass ich ihn verstehen
kann, dass er nicht mit meinem Kollegen Gysi – ich hoffe,
auch nicht mit mir – zusammen im Deutschen Bundestag
sitzen möchte. Das Problem kann man ganz einfach lösen:
Gehen Sie raus! Dann hat sich das erledigt.


(Heiterkeit und Beifall bei der PDS – Reinhold Robbe [SPD]: Das wäre ja noch schöner! Das wollen Sie ja bloß!)


Ansonsten sollten Sie die Entscheidung den Wählerinnen
und Wählern überlassen; denn diese sind vom Grund-
gesetz dazu legitimiert.


(Beifall bei der PDS – Reinhold Robbe [SPD]: Sie haben es nötig!)


Ich fand es schon in gewisser Weise bedrückend, wie
Sie hier wieder mit Fotos hantiert haben: Gregor Gysi und
Milosevic.


(Reinhold Robbe [SPD]: Ja, das ist ein interessantes Foto!)


– Hören Sie jetzt zu! – Ich zeige Ihnen die Fotos von
Joschka Fischer und Milosevic,


(Beifall bei der PDS)

ich zeige Ihnen die Fotos von Clinton und Milosevic, ich
zeige Ihnen die Unterschriften von Clinton und Milosevic
unter gemeinsam abgeschlossenen Verträgen. – So geht es
nicht!


(Beifall bei der PDS – Peter Zumkley [SPD]: Aber zu anderen Zeiten! – Reinhold Robbe [SPD]: Das wollen Sie doch nicht vergleichen! – Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Das war unser Problem!)


Ich weiß, wie sehr wir uns mit der Frage gequält haben,
ob wir die Möglichkeit nutzen, in letzter Sekunde in die-
sem Krieg auf Milosevic einzuwirken, damit er sich an die
UNO wendet, weil wir wussten, dass es in einen Krieg
geht. Gregor Gysi hat entgegen dem, wie es hier interpre-
tiert wird, Milosevic gesagt: Wer die UNO nicht will, wird
die NATO erhalten.


(Beifall bei der PDS – Reinhold Robbe [SPD]: Unglaublich, Ihre Behauptung! Geschichtsklitterung!)


– Leider war die Geschichte so. Gregor Gysi war in einer
Friedensmission bei Milosevic und hat sich mit ihm aus-
einander gesetzt; er war nicht dort, um einen Diktator zu
bestätigen.


(Beifall bei der PDS – Peter Zumkley [SPD]: Das sah aber anders aus!)


Warum kann man nicht anständig miteinander umgehen,
anstatt sich Falsches zu unterstellen?


(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Wir hatten es in Jugoslawien mit einem Bürgerkrieg

mit allen Grausamkeiten eines Bürgerkrieges zu tun.




Dr. Eberhard Brecht

15043


(C)



(D)



(A)



(B)


Lesen Sie einmal nach, wie grausam der spanische Bür-
gerkrieg war, wie grausam andere Bürgerkriege waren.


(Reinhold Robbe [SPD]: Das ist unglaublich!)

Es war ein Bürgerkrieg mit allen Grausamkeiten. Man

musste aber die Grausamkeiten nicht ins Monströse über-
höhen. Man brauchte den Vergleich Kosovo/Rampe von
Auschwitz eigentlich nicht, als es um Menschenrechts-
verletzungen gegangen ist.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])


Man brauchte hier keine Reden von aufgeschlitzten Bäu-
chen und herausgeschnittenen Föten. Man brauchte nicht
die Umdeutung von Rambouillet. Was dort geschehen ist,
kann man ja mittlerweile in den Dokumenten nachlesen.
Warum eigentlich dieses Monströse, das heute Gegen-
stand der Debatte ist?


(Gerhard Jüttemann [PDS]: Ja, warum?)

Dazu sagen Sie nichts.


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Herr Gehrcke, ich bin gerade darauf eingegangen! – Peter Zumkley [SPD]: Er hat nicht zugehört!)


Aus meiner Sicht gibt es nur eine Begründung: Es war
relativ klar, dass die USA, wenn sich Deutschland nicht
an der NATO-Entscheidung beteiligt hätte, allein nicht in
der Lage gewesen wären, diesen Krieg zu führen.


(Reinhold Robbe [SPD]: Dann wären noch mehr Menschen umgekommen!)


– Deutschland war in Europa in dieser Frage entschei-
dend; das kann doch niemand leugnen.


(Beifall bei der PDS)

Weil es so ist und diese Regierung sich ihrer Mehrheit

nicht sicher war – nicht hier im Hause, schon gar nicht in
der Bevölkerung –, musste diese Überhöhung, dieses
Monströse als politisches Kampfmittel eingesetzt werden,
um diesen Krieg mehrheitsfähig zu machen.


(Beifall bei der PDS)

Das ist der gesamte Hintergrund, der nicht mehr zu leug-
nen ist. Dazu brauchen Sie hier nicht Stellung zu nehmen.

Der „Stern“ schreibt in seiner Ausgabe 8/2001:
„Fischer und Scharping haben ihre Bürger beschwindelt,
belogen und betrogen.“


(Reinhold Robbe [SPD]: Das müssen Sie beweisen!)


– Das schreibt der „Stern“.

(Susanne Kastner [SPD]: Sie wiederholen es hier!)

Wenn Sie der Auffassung sind, dass das, was andere
schreiben, nicht wahr ist, dann müssen Sie es glaubwür-
dig dementieren.


(Beifall bei der PDS)

Scharping hat deswegen noch nichts dementiert, weil er
nichts dementieren kann.


(Reinhold Robbe [SPD]: Geschichtsfälscher! – Peter Zumkley [SPD]: Es gibt Gott sei Dank noch andere Quellen!)


Weil er nichts dementieren kann, stelle ich mich hinter die
Behauptung vom „Stern“: Scharping hat die Bevölkerung
beschwindelt, belogen und betrogen. Damit ist der Krieg
mehrheitsfähig gemacht worden. Nichts anderes ist die
Wahrheit.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415311600
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Dr. Helmut Lippelt.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415311700

Frau Präsidentin! Lieber Kollege Gehrcke, lieber Kollege
Gysi, ich will Überhöhungen in der Rhetorik von Minis-
tern, die in einer Verantwortung gestanden haben, die sie
vielleicht etwas weitergetrieben hat, als es richtig gewe-
sen ist, nicht verteidigen. Ich will Ihnen das Bild, das Sie
im Zusammenhang mit Milosevic gezeichnet haben, in
keiner Weise vorwerfen. Ich sage nur: Bei aller Erfahrung,
die man hatte, war man ein bisschen naiv. Daraus aller-
dings jetzt die Schlussfolgerung zu ziehen, dass wir auf-
grund von Lügen in einen Krieg hineingetrieben worden
sind, ist großer Unsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Man sollte sich die Beweismittel, die inzwischen vorlie-
gen, etwas genauer anschauen.

Das Problem ist aber, dass wir immer noch in einer Zeit
der Halbwahrheiten, der Halbhistoriker und der Legen-
denbildung leben. Seit den letzten eineinhalb Jahren lie-
gen uns sehr viel mehr Einzelfakten vor. Diese Einzelfak-
ten werden von all denjenigen, die meinen, es schon
immer gewusst zu haben, jetzt zur Stützung ihrer Sicht se-
lektiv sortiert.


(Karl Lamers [CDU/CSU]: So ist es! Das ist wahr!)


Allerdings wird keine der Einzelfakten in einen Zu-
sammenhang gestellt und es gibt keine Interpretation der
Einzelfakten. Man sagt, dass historische Forschung an
und für sich 30 Jahre braucht. Ich hatte gehofft, es gehe
schneller. Ich stelle aber fest: Die selektiven Untermaue-
rungen, die darauf abzielen, das zu stützen, was man im-
mer schon gemeint hat, sind nach zwei Jahren noch ver-
hängnisvoller.

Nachdem ich diese Sendung gesehen hatte, habe ich mir
ihren Text besorgt, um mich mit dem, was dort geschildert
worden ist, zu beschäftigen. Eine wichtige Frage lautet:
Woran macht man etwas fest? Ich empfehle Ihnen allen und
vor allem der PDS, sich mit dem Untersuchungsbericht der
unabhängigen internationalen Kommission gründlich zu
beschäftigen. Sie wurde vor anderthalb Jahren von Göran
Persson, Schweden, und der Olof-Palme-Stiftung einge-
setzt, die sich bekanntlich immer mehr für Friedensthemen
als für Kriegsthemen interessierte. In dieser Kommission




Wolfgang Gehrcke
15044


(C)



(D)



(A)



(B)


haben elf anerkannte Leute aus elf Ländern mitgearbeitet.
Unter ihnen waren Hanna Nashravi, Palästina, eine
langjährige Friedensaktivistin in der internationalen Frie-
densbewegung sowie ein russischer Botschafter. Die Zu-
sammensetzung dieser Kommission war also gut.

Vergleichen Sie einmal die Fakten dieses Berichts mit
all Ihren generalisierenden Behauptungen! Wenn Sie das
getan haben, dann werden Sie beispielsweise feststellen,
dass diese „Monitor“-Sendung der Höhepunkt von un-
glaublichen Unverschämtheiten ist. Das gilt bereits für die
Darstellung der Erklärung des Kanzlers im Hinblick auf
die Gründe der deutschen Teilnahme an der Intervention.
In dieser Erklärung spricht er von einer drohenden huma-
nitären Katastrophe. Wir alle hier wussten doch, was da-
mit gemeint war. Damit gemeint war, dass im Jahre zuvor
ungefähr 200 000 Menschen in die Nachbarländer ge-
flüchtet waren und dass dann 300 000 interne Flüchtlinge
herumirrten. Nach dem Milosevic/Holbrooke-Abkom-
men sank die Anzahl dieser Menschen im Winter vo-
rübergehend und ab Januar stieg sie erneut. Diese Zahlen
können Sie hier alle nachlesen.

Zweitens. Die Zahl der Toten wird total verharmlost. In
dem Fernsehbericht heißt es an einer Stelle, die OSZE, die
doch alles beobachten konnte, zähle für März genau
39 Tote. Wissen Sie, was hier steht? Hier steht, dass sich
der Zahlen zu vergewissern wahnsinnig schwer ist, dass
es von März 1998 bis August 1998 laut UNHCR etwa
300 Tote gegeben habe, dass man in den nächsten vier
Wochen ungefähr 700 Tote nachgewiesen habe, dass dann
zu der Zeit der OSZE-Beobachter die Zahl etwas gesun-
ken sei, dass man aber bei den Zahlen nicht ganz sicher
sei. Ich sage nur: Allein die Vorgeschichte weist schon
mehr als 1 000 Umgebrachte nach.


(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

– Jetzt lasst mich mal reden; ich habe ja auch nicht da-

zwischengeredet.
Jetzt kommen wir zu einem interessanten Punkt, näm-

lich zum Monat März und der OSZE-Zahl 39. Warum
März? Vorher waren die Massaker. Auch die sind in der
Sendung geleugnet worden, über ein Beispiel, dem wir
jetzt im Einzelnen nicht nachgehen können. Ich habe es
versucht, aber dazu habe ich nichts gefunden.

Aber es gab zwei Massaker, die vollkommen eindeu-
tig waren. Das war zum einen das Ausgangsmassaker im
Februar 1998 an einer ganzen Sippe Jashari, die mit
Kind und Kegel, mit Frauen und Kindern – ihr habt doch
in den Fernsehbildern gesehen, wie die Kleinen im
Straßengraben lagen – von Sondereinheiten der serbi-
schen Militärpolizei ausgerottet worden ist. Da ging es
los.

Zum anderen gab es das Massaker von Racak. Warum
ist Racak in der Sendung nicht erwähnt worden? Wir ha-
ben über Racak so viel diskutiert und inzwischen hat die
finnische gerichtsmedizinische Kommission klargestellt,
dass dieses Massaker an 45 Zivilisten geschehen ist.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Eben nicht!)


Aber es ist im Januar geschehen und geht deshalb nicht
in die Märzzahlen ein.

Ich habe eine Bitte an Herrn Gysi.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415311800
Herr Kollege Lippelt,
ich muss Sie dringend an Ihre Redezeit erinnern. Dies ist
eine Aktuelle Stunde.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415311900

Ich bin gleich am Ende. Ich möchte nur noch diese Bitte
äußern.

Herr Gysi, es gibt den Wunsch von Den Haag auf Aus-
lieferung des Herrn Lukic. Er war der Kommandeur der
polizeilichen Sondereinheiten im Kosovo. Das ganze Ma-
terial über Racak liegt – deshalb haben wir es nicht – in
Den Haag. Dieser Prozess ist sehr gut vorbereitet. Mit der
Auslieferung von Lukic würde er beginnen. Ich bitte, dass
Sie alle Kontakte, die Sie haben, dafür einsetzen, dass er
ausgeliefert wird und wir über Racak von einem inter-
nationalen Gericht, das über alle Zweifel erhaben ist, die
Wahrheit erfahren. Das wäre ein großes Verdienst. In
diese Richtung muss es gehen.

Ich glaube auch, alle Versuche – –


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415312000
Kollege Lippelt, ich
bitte Sie wirklich dringend, Ihre Rede jetzt zu beenden,
das Verständnis aller Kolleginnen und Kollegen voraus-
gesetzt.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1415312100

Ich höre auf. – Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415312200
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Wort
erteile, möchte ich noch einmal darauf verweisen, dass es
nicht dem Stil des Hauses angemessen ist, Kollegen und
Kolleginnen des eigenen Hauses, aber auch Personen
außerhalb persönlich zu diffamieren. Deshalb weise ich
den Ausdruck „Sie Lügner“, während der Rede des Kol-
legen Brecht gefallen, ausdrücklich zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian

Schwarz-Schilling für die CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU):
Rede ID: ID1415312300
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wieso kam es zu dem Krieg im Kosovo? – Weil sich
Milosevic in Dayton unter Androhung, die Konferenz zu
verlassen, geweigert hat, das Thema Kosovo in Dayton
mit zu behandeln.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das ist sehr richtig!)





Dr. Helmut Lippelt

15045


(C)



(D)



(A)



(B)


Das war die Ursache. Er führte nämlich bereits dort im
Schilde, die Macht über dieses Land, das er noch nicht
richtig erobert hatte, zu erlangen. Darüber durfte nicht ge-
redet werden.

Die internationale Gemeinschaft hat den weiteren Feh-
ler gemacht, nicht unmittelbar nach Dayton eine Kosovo-
Konferenz im gleichen Sinne einzuberufen, um dann das
immer aktueller werdende Thema Kosovo zu behandeln,
sondern hat erst wieder auf das gewartet, was anschlie-
ßend geschehen ist. Wer hat sich denn für die Berichte der
OECD und des UNHCR seit 1989 wirklich interessiert,
dafür, was sich dort abgespielt hat? Es wurde von der
steigenden Repression, vom Nichtgebrauchendürfen der
albanischen Sprache in den Schulen, von dem Unter-
grund, in den die Albaner gehen mussten, um ihre Kinder
noch ausbilden zu lassen, von der Vertreibung der Leute
aus den Positionen berichtet. Das alles war also bereits be-
kannt. Dann, meine Damen und Herren, entstand die Si-
tuation, die wir nun alle kennen und die ich hier nicht wei-
ter nachzeichnen möchte.

Es ist nur interessant, dass die PDS immer wieder ei-
nen Grund sucht, in diesen Geschichten herumzubohren.
Am 5. April 2000 hat Herr Carsten Hübner schon einmal
die Frage gestellt: über die Verteidigungsminister und das
nach dem in dem Beitrag über die Papiere Gesagte, über
Hufeisen. Die nächste Frage betraf Racak, ebenfalls in
entsprechender Breite von Herrn Hübner dargestellt, und
wurde dann von der Regierung schlecht oder recht beant-
wortet.

Ich möchte dazu nur eines sagen: Sie haben überhaupt
kein Recht, sich bei solchen Fragen selbstgefällig hier
hinzustellen.


(Beifall bei der SPD)

Ich hätte gern gewusst, was mit Ihnen allen passiert wäre,
wenn damals Herr Honecker, der das Massaker am Tianan-
men im Jahre 1989 ausdrücklich begrüßt hatte, nicht den
Hinweis von Gorbatschow bekommen hätte, dass russische
Truppen nicht eingreifen werden. Wo stünden Sie dann
alle?


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Da hätten Sie Ihren Mund aufmachen sollen; denn Sie ha-
ben ja damals auch in der DDR gelebt. Da war kein Mut
vorhanden.

Zum Zweiten. Es gab bereits am 12. Oktober 1998 – die
Sprecherin der Grünen hat darauf hingewiesen – einen An-
trag aller demokratischen Parteien dieses Hauses, der am
16. Oktober hier behandelt wurde. Darin stehen schon die
Begründungen, dazu haben wir nicht auf das Massaker ge-
wartet. Es ist interessant gewesen, dass beide Seiten, Op-
position von gestern und von heute, Regierung von gestern
und von heute, gleichzeitig denselben Antrag gestellt ha-
ben. Warum? – Weil man sich vonseiten der Regierung, die
im Jahre 1998 abgewählt wurde, darüber im Klaren war,
dass man Verantwortung trug und es der nächsten Regie-
rung nicht zu schwer machen durfte. Damals haben wir
diesen Antrag noch gestellt. Die neue Regierung war da-
durch in der Lage, den Kurs fortzusetzen und nicht plötz-
lich in ihren eigenen Reihen den Widerstand zu erfahren,

den sie bis dahin gegenüber allen NATO-Ereignissen
hatte. Wir müssen uns einmal daran erinnern, dass wir von-
seiten der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung schon im Jahre
1992 Adria-Schiffe für die Boykottmaßnahmen gegenüber
Jugoslawien eingesetzt hatten. Wir wurden von den ande-
ren Parteien wütend vor dem Verfassungsgericht ange-
klagt. Wir waren ganz alleine. Die CDU/CSU-Fraktion
war die einzige, die das verteidigt hat. Es waren noch alle
dagegen. Man muss einmal sehen, wie die Dinge wirklich
gelaufen sind.

Nun zum Dritten. Hier wurde gerade erwähnt, dass die
Massaker in Srebrenica offensichtlich total vergessen
worden sind. Das war im Februar/März 1998, zunächst
mit 29 Toten, dann mit 58 Toten. Herr Rüb, der etwas von
der Gegend versteht, hat am 19. Januar 2001 in der Zei-
tung geschrieben, spätestens das sei der Beginn des Krie-
ges im Kosovo gewesen. In dieser Zeit sind Hunderttau-
sende verjagt worden. In den Zeiten der angeblichen
Friedensverhandlungen von Rambouillet sind ungefähr
40 000 bis 50 000 Polizeieinsätze mit schwerem militäri-
schen Gerät nach Kosovo befördert worden. Damals gab
es diese Verstärkungen, um dann den entsprechenden
Schlag führen zu können.

Angesichts dieser Tatsachen müssen wir eine andere
Frage stellen, die allerdings für alle in diesem Hause be-
trüblich ist: Warum haben wir die Zustände nicht zur
Kenntnis genommen und haben noch bis weit in das Jahr
1998 Menschen aus dem Kosovo mit ihren Familien in
den Kosovo abgeschoben? Darüber müssten wir uns hier
unterhalten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssten eigentlich die Frage stellen, wie es dazu
kommen konnte, dass wir trotz dieser unsäglichen Zu-
stände, die von allen internationalen Organisationen be-
kannt gemacht wurden, die Beschlüsse aufrecht hielten
und sie nicht an die neue Situation angepasst haben.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415312400
Herr Kollege
Schwarz-Schilling, auch Sie muss ich leider auf Ihre ab-
gelaufene Redezeit aufmerksam machen.


Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU):
Rede ID: ID1415312500
Ich
komme zum Schluss. – Ich glaube, diejenigen, die diese
Fragen nicht gestellt haben, sollten bescheidener auftre-
ten. Sie haben überhaupt kein Recht, sich in dieser An-
gelegenheit zu äußern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Angela Marquardt [PDS]: Das Recht lassen wir uns nicht absprechen!)


Wir werden uns jeder echten Frage stellen. Aber Sie ha-
ben polemische Fragen gestellt, um die haltlosen Zu-
stände, die Sie traditionsgemäß in Ihrer Partei haben,
rechtfertigen zu können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Barbara Dr. Christian Schwarz-Schilling 15046 Höll [PDS]: Wir sind gewählte Abgeordnete! Wir werden so viel und so lange fragen, wie wir es für notwendig halten! – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bezweifelt doch keiner!)





(C)


(D)


(A)


(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415312600
Nächster Redner ist
der Kollege Dieter Schloten für die SPD-Fraktion.


Dieter Schloten (SPD):
Rede ID: ID1415312700
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wir haben uns in diesem Hause
daran gewöhnen müssen, dass die PDS-Fraktion jede Ge-
legenheit wahrnimmt, um die Außen- und Sicherheitspo-
litik der Regierung zu attackieren.


(Zuruf von der PDS: Einer muss es ja machen! – Angela Marquardt [PDS]: Das können Sie uns nicht absprechen!)


Das ist legitim. Aber es ist schon ein starkes Stück, dass
Sie heute die Neuauflage einer Verschwörungstheorie, die
auf jüngsten Veröffentlichungen einiger Medien beruht, in
die Debatte bringen.

Der dubiose „Monitor“-Bericht behauptet schlichtweg,
dass sämtliche demokratischen Politiker der westlichen
Welt als Brandschatzer ein friedliebendes Land überfielen
und – ich habe den Text sehr genau gelesen – dass es prak-
tisch keine Vorgeschichte der Unterdrückung, der Vertrei-
bung und der im Kosovo spätestens seit 1989 ausgeübten
Apartheid gab. Ferner kritisiert dieser Beitrag die angeb-
lich westliche Propaganda. Aber er gibt sich nicht ab mit
der in Einzelfällen berechtigten Kritik an mancher Rheto-
rik oder auch Methode, die hier wie auch von der Parla-
mentarischen Versammlung der NATO, die kürzlich in
Berlin getagt hat, zu Recht schon kritisiert worden ist.

Der „Monitor“-Bericht geht noch viel weiter. Er ver-
fällt in eine Gegenpropaganda, die gegenüber den Opfern
der serbischen Aggression menschenverachtend ist. Herr
Gehrcke, ich werfe Ihnen vor, dass Sie vorhin in Ihrem
Beitrag einfach nur von einem Bürgerkrieg gesprochen
haben.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Grausamen Bürgerkrieg!)


Natürlich war es auch ein Bürgerkrieg. Aber wenn man
den Begriff Bürgerkrieg so wie Sie gebraucht, dann wird
verschleiert, wer Täter und wer Opfer ist. Das war sowohl
im Bosnien-Krieg als auch im Kosovo-Krieg so, bevor die
NATO dort eingegriffen hat.

Sie berufen sich auch auf die Berichterstattung der
„Berliner Zeitung“ von Mitte Januar zur Untersuchung
der schrecklichen Vorfälle in Racak. Was ist eigentlich das
so grundlegend Neue, das Sie dazu bewegt, der Bundes-
regierung Täuschung der Öffentlichkeit und des Bundes-
tages vorzuwerfen? Es ist Unsinn, zu behaupten – Kollege
Braun hat bereits darauf hingewiesen –, Racak sei der ein-
zige wesentliche Auslöser des NATO-Einsatzes gewesen.
Im Gegenteil: Das Blutbad von Racak hat zu verstärkten
Anstrengungen bei den Verhandlungen in Rambouillet
geführt, die leider nicht zum Ziele geführt haben.


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig!)


Was Sie gegen die Annahme eines Massenmordes ins
Feld führen können, ist, dass die Ergebnisse der finni-
schen Untersuchungskommission eine Massenhinrich-
tung von Zivilisten nicht eindeutig belegen können. Aber
ebenso wenig belegen sie das Gegenteil.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Eben! Ich habe es auch nicht behauptet! Aber Herr Scharping hat behauptet, dass es belegt ist! Ich weiß es nicht!)


– Herr Gehrcke, Tatsache ist doch, dass in Racak 45 alba-
nische Opfer zu beklagen gewesen sind.


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig!)

Ist es da so entscheidend, ob all diese Menschen aus dem
Ort selbst stammten oder auch aus anderen Dörfern, ob
einzelne UCK-Kämpfer unter ihnen waren oder nicht?

Fakten gibt es genug. Herr Lippelt hat den entspre-
chenden Bericht dargestellt. Ich brauche darauf nicht wei-
ter einzugehen. Aber manchmal wird vergessen, was dort
geschehen ist, und das alles vor dem Hintergrund der grau-
samen Erfahrungen, die wir in Bosnien gemacht haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, Willy
Brandt hat einmal gesagt: Wer Unrecht geschehen lässt,
bahnt neuem den Weg.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig! Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Das galt und gilt, Herr Seifert, auch für die Situation im
Kosovo. Selbst wenn Racak falsch interpretiert worden ist
und manches andere Bild dazu, ein falsches Bild – das tun
auch mehrere falsche Bilder nicht –


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Gefälschte, nicht nur falsche!)


ändert nichts an der grundsätzlichen Berechtigung des
NATO-Einsatzes im Kosovo.

Wenn Sie der NATO nun die Absicht unterstellen, eine
imperialistische Interessenpolitik auf dem Balkan zu
betreiben, dann kann ich nur sagen: Das Gegenteil ist
wahr. Der Militäreinsatz hat letztlich dazu geführt, dass
Milosevic mit seiner brutalen Vertreibungs- und Expan-
sionspolitik in die Schranken gewiesen worden ist. Heute
eröffnen sich der Region mit dem Stabilitätspakt für Süd-
osteuropa, mit dem massiven Engagement der westlichen
Staatengemeinschaft endlich Perspektiven für eine demo-
kratische, rechtsstaatliche, europäische Zukunft. Wollen
Sie etwa behaupten, das alles sei ohne das Eingreifen der
NATO möglich gewesen?

Jeder zweite KFOR-Soldat wird dort heute zum Schutz
von Minderheiten eingesetzt. Wir sind auf dem Wege
– viel zu langsam, aber Schritt für Schritt – in eine demo-
kratische Zivilgesellschaft. Der Stabilitätspakt wird das
Seine dazu tun, dass wir dort weiterkommen. Verschwö-
rungstheorien und Gespenster, wie sie hier von der PDS
herumgetragen werden, helfen uns dabei nicht weiter.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Dr. Christian Schwarz-Schilling

15047


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415312800
Es spricht jetzt der
Kollege Ulrich Adam für die CDU/CSU-Fraktion.


Ulrich Adam (CDU):
Rede ID: ID1415312900
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Auch ich werde den Verdacht
nicht los, dass die Stoßrichtung des Antragstellers dieser
Aktuellen Stunde in erster Linie gegen die NATO gerichtet
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Richtig!)


Um es vorweg ganz klar und deutlich zu sagen: Die
NATO war – davon bin ich fest überzeugt – ein wesentli-
ches Standbein bei der Wiederherstellung der deutschen
Einheit.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerade im Kalten Krieg konnten wir im Osten beobach-
ten, wie die NATO jederzeit uneingeschränkt zur Bundes-
republik Deutschland gestanden hat.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Schlaumeier!)

Die NATO hat nicht zuletzt deshalb einen wichtigen Bei-
trag dazu geleistet, dass wir 1990 die deutsche Einheit
vollziehen konnten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch die gegenwärtigen Anstrengungen der Staaten Mit-
tel- und Osteuropas, der NATO beizutreten, beweisen
doch, dass die NATO immer noch einen hohen Stellen-
wert hat und eine wichtige Rolle spielt. Ich halte es für
sehr wichtig, dies einmal ausdrücklich zu betonen.

Durch persönliche Erfahrungen bei mehrfachen Besu-
chen in Ex-Jugoslawien, zuletzt im Dezember 2000, bin
ich von der Notwendigkeit des Einsatzes der NATO und
damit auch der deutschen Soldaten in dieser Region über-
zeugt. Sollten wir uns zum jetzigen Zeitpunkt von dort
zurückziehen, würde es unweigerlich zum erneuten Aus-
bruch von Auseinandersetzungen zwischen den Volks-
gruppen kommen. Dies wird sowohl durch Aussagen der
Dienst tuenden Soldaten als auch der Bevölkerung sowie
der verschiedenen Hilfsorganisationen vor Ort bestätigt.

Deshalb geht es bei der jetzigen Diskussion auch nicht
darum, dass die NATO gegenwärtig oder zukünftig keine
Rolle mehr spielen wird; denn die bestehende wichtige
Bedeutung der NATO steht völlig außer Frage.

Hier geht es aber auch um konkrete Aussagen von
Minister Scharping, die er zu Beginn und im Verlauf des
Kosovo-Krieges gemacht hat. Diese erfordern doch eine
erhebliche Aufklärung, Herr Scharping. Ich erwarte von
Ihnen, aber auch von Ihnen, Herr Minister Fischer, eine
Antwort auf die erhobenen Vorwürfe. Hierzu müssen Sie
Stellung beziehen.

So geht es mir zum Beispiel um den Beweis der Exis-
tenz des bereits mehrfach angesprochenen Hufeisenplans.
Um es deutlich zu sagen: Unsere Entscheidung zur Betei-
ligung an der humanitären Aktion der NATO war richtig.
Sie war notwendig. Daran ändern auch die Diskussionen
über die Existenz oder Nichtexistenz des Hufeisenplanes
nichts.

Trotzdem fordere ich Sie eindringlich auf, hier Klarheit
zu schaffen und die offenen Fragen zu beantworten. Ha-
ben Sie die Öffentlichkeit und uns falsch informiert oder
Tatsachen verfälscht?


(Peter Zumkley [SPD]: Jetzt fängt er auch schon an!)


Herr Scharping, sollten Sie den Beweis hier nicht öffent-
lich darlegen können, so denke ich doch, dass Sie zumin-
dest den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses mög-
liche existierende Geheimpapiere vorlegen müssten.


(Peter Zumkley [SPD]: Der vergaloppiert sich!)


Meine Damen und Herren, bei den gegenwärtigen Dis-
kussionen über mögliche falsche Aussagen des Ministers
im Zusammenhang mit dem Kosovo-Einsatz sehe ich mit
großer Sorge eine Parallele zu den in den letzten Wochen
stattgefundenen Standortdiskussionen im Rahmen der
Bundeswehrreform.


(Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Peter Zumkley [SPD]: Adam, wirklich, jetzt wird es eine Büttenrede! Jetzt wird es endgültig eine Büttenrede!)


– Es geht um die Aussagen. – Erst vor einem guten halben
Jahr hat der Minister im Beisein des Kanzlers zum Bei-
spiel in Eggesin betont, dass dieser Standort erhalten
bleibt. Diese Zusage hat er vergessen; die entsprechende
Entscheidung ist ja heute gefallen. Seine damaligen
Äußerungen relativiert er damit, dass er nicht von Egge-
sin, sondern vom „Großstandort in dieser Region“ ge-
sprochen hat.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist peinlich, was Sie jetzt machen!)


Auch in diesem Bereich ist der Minister gefordert, klare
Fakten auf den Tisch zu legen, damit sich Ihr gegenwärti-
ges nicht sehr glaubwürdiges Erscheinungsbild nicht wei-
ter verfestigt.

Deshalb erwarte ich – und natürlich auch die betroffe-
nen Soldaten und die Bürger dieses Landes – von Ihnen,
dass man endlich wieder Vertrauen in Ihre Aussagen ge-
winnen kann, und das in zweierlei Hinsicht:

Erstens. Ich fordere Sie auf, dass Sie die Vorwürfe be-
züglich der Ereignisse im Kosovo nachhaltig entkräften.

Zweitens. Hören Sie auf, den Menschen im Rahmen
der Bundeswehrreform eine Zukunft zu versprechen


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein großer Bogen!)


und sie dann, so wie dies angesichts der heutigen Entschei-
dungen erfolgt ist – ich meine zum Beispiel die Standorte
Eggesin und Basepohl –, maßlos zu enttäuschen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Peter Kemper [SPD]: Peinlich! – Weiterer Zuruf von der SPD: Thema verfehlt! Fünf!)







(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415313000
Letzter Redner in die-
ser Aktuellen Stunde ist der Kollege Gerhard Neumann
für die SPD-Fraktion.


Gerhard Neumann (SPD):
Rede ID: ID1415313100
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wortwahl des The-
mas der heutigen Aktuellen Stunde erfüllt mich mit Be-
troffenheit – und noch mehr mit Sorge. Wie so oft in letz-
ter Zeit folgt nach einer kritischen Fernsehsendung oder
Presseveröffentlichung eine große Betriebsamkeit einiger
Abgeordneter, besonders der der Fraktion der PDS.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Fleißig sind wir!)

Die tatsächlichen Zusammenhänge spielen dabei oft

eine untergeordnete Rolle.

(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Geschäft der Opposition!)


Wichtiger ist: Die Regierung, ein Minister wird belastet,
die Unwahrheit gesagt zu haben.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Er kann alles klarstellen! Wir geben ihm die Möglichkeit, alles klarzustellen!)


Das Strickmuster ist immer das gleiche: Belastet die
Regierung oder – noch besser – ein einzelnes Regie-
rungsmitglied mit fragwürdigen Fakten der Vergangen-
heit! Es wird schon etwas Negatives hängen bleiben.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Es bleibt etwas hängen!)


Dies lenkt von eigener politischer Konzeptionslosigkeit
ab. Leider geht diese Taktik oft auf: Die Menschen wer-
den verunsichert. Wir müssen uns in der Folge aber nicht
wundern, dass unser Ansehen als Politiker allgemein
sinkt.

Nun ein neuer ungeheuerlicher Verdacht: Die Regie-
rung hat die öffentliche Meinung manipuliert, um deut-
sche Soldaten wieder in einen Krieg zu führen.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Die Regierung hat in dieser Debatte geschwiegen!)


Ich sehe die Bilder aus dem Kosovo noch vor mir, als sei
es gestern gewesen: hilflose Frauen und Kinder, Opfer
von Vertreibung und Opfer von Gewalt, Todesopfer. Ich
habe so etwas als Vertriebener im Zweiten Weltkrieg
selbst erlebt. Meine Kindheit, mein Leben wurde davon
geprägt. Ich hasse Krieg; aber ich hasse auch die Vertrei-
bung von Frauen und Kindern, die Tötung von Menschen
anderer Nationalität.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erinnern wir uns daran, was in Bosnien passiert ist:
Wie viele Menschen wurden umgebracht? Wie viele
Frauen wurden vergewaltigt? Wir haben uns damals ge-
fragt: Haben wir nicht zu spät eingegriffen?


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Schwarz-Schilling [CDU/CSU])


Die schrecklichen Bilder aus dem Kosovo sind gerade
zwei Jahre alt. Sind diese Bilder bei einigen von uns schon
aus dem Bewusstsein gestrichen?


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Überhaupt nicht!)

Hat nicht schon die erste Welle der Vertreibung im

Sommer und Herbst 1998 mit 300 000 Flüchtlingen genug
Elend gebracht? Milosevic brach seine Zusagen erneut. Er
startete im Winter 1999 eine zweite Vertreibungswelle.
Weitere 250 000 Menschen wurden heimatlos. Die Zahl
der Toten wird für immer ungeklärt bleiben. Sollen die
Leiden der Opfer nachträglich bagatellisiert werden, in-
dem zwei Jahre danach ein Streit über Einzelvorkomm-
nisse entfacht wird und sich einige von uns daran taten-
durstig beteiligen?

Soll das Leid der Opfer, sollen die Taten der Mörder
verdrängt werden? Oder schlimmer noch – ich wage es
kaum zu denken –: Vielleicht sind die Erfolge der deut-
schen Außenpolitik einigen ein Dorn im Auge.


(Zustimmung bei der SPD – Zurufe von der PDS: Oh!)


Sie ertragen es nicht, dass durch das ausgewogene Ver-
halten der Bundesregierung in der Kosovo-Krise das in-
ternationale Ansehen und die Achtung unseres Landes in
der Welt spürbar gestärkt wurden.


(Beifall bei der SPD)

Ich war gemeinsam mit anderen Kollegen vor Ort im

Kosovo. Wir konnten den Dank und die Sympathien der
Einwohner erleben, als wir Soldaten aus unseren Wahl-
kreisen dort besucht haben. Wir haben allgemein gespürt,
dass das, was unsere Soldaten, aber auch die anderen Or-
ganisationen dort geleistet haben, von den Menschen an-
erkannt und dankbar angenommen wird.

Rudolf Scharping, Joschka Fischer und besonders die
Bundeswehr haben durch ihren Einsatz und ihre konkrete
Arbeit Außerordentliches zur Krisenbewältigung auf dem
Balkan beigetragen. Sie haben Menschen in Not geholfen.
Der Versuch, diese Leistungen aus tagespolitischem Kal-
kül herabzuwürdigen, ist nicht nur verwerflich, nein, er
schadet uns allen.

Ich bin sicher, der Versuch wird scheitern, weil diese
Politik den Menschen Gutes gebracht hat,


(Lachen bei der PDS)

weil die Menschen eine solche Politik verstehen. Die Bür-
ger erfüllt es mit Hoffnung, dass die demokratische Völ-
kergemeinschaft es nicht mehr duldet, dass Verbrecher
ungestraft Mord begehen und Vertreibung an ganzen Völ-
kern praktizieren können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1415313200
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 7. März 2001, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.