Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, darf ich Sie bit-ten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.Am letzten Sonntag hat eine schwere Brand- und Ex-plosionskatastrophe in der niederländischen Stadt En-schede ein Wohnviertel verwüstet und zahlreiche Men-schenleben gekostet. Wir trauern mit unseren niederländi-schen Nachbarn um die Opfer der Katastrophe. DenAngehörigen der Opfer und dem Parlament der Nieder-lande spreche ich im Namen des Deutschen Bundestagsunser tief empfundenes Mitgefühl aus.Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzen er-hoben; ich danke Ihnen.Zunächst gratuliere ich dem Kollegen KonradKunick, der am 15. Mai seinen 60. Geburtstag feierte, imNamen des Hauses nachträglich sehr herzlich.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen nochzwei Wahlen durchgeführt werden. Die Fraktion derCDU/CSU schlägt als Nachfolgerin für den verstorbenenKollegen Willner die Kollegin Anita Schäfer als Schrift-führerin vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre kei-nen Widerspruch. Damit ist die Kollegin Schäfer alsSchriftführerin gewählt.Sodann sollen im Vermittlungsausschuss auf Vorschlagder CDU/CSU-Fraktion folgende Änderungen vorge-nommen werden: Als ordentliche Mitglieder scheiden dieKollegen Joachim Hörster und Dr. Michael Luther aus.Als Nachfolger werden die Kollegen Eckart vonKlaeden und Günter Nooke vorgeschlagen.Als stellvertretende Mitglieder scheiden die KollegenGerhard Scheu, Dr. Wolfgang Schäuble und Dr. HermannKues aus. Als Nachfolger werden die Kolleginnen GerdaHasselfeldt und Dr. Maria Böhmer sowie der KollegePeter Rauen vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-derspruch. Damit sind die Kollegen von Klaeden undNooke als ordentliche Mitglieder und die KolleginnenHasselfeldt und Dr. Böhmer und der Kollege Rauen alsstellvertretende Mitglieder im Vermittlungsausschuss be-stimmt.Aufgrund der soeben beschlossenen Änderungen wirddie Stellvertretung im Vermittlungsausschuss wie folgtgeregelt: Der Kollege von Klaeden wird durch den Kolle-gen Merz, der Kollege Nooke durch die KolleginDr. Böhmer, der Kollege Glos durch die KolleginHasselfeldt und der Kollege Schmitz durchden Kollegen Rauen vertreten. Die Stellvertretung derübrigen Mitglieder bleibt unverändert.Interfraktionell, liebe Kolleginnen und Kollegen, istvereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu er-weitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zu-satzpunktliste aufgeführt:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach,Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
, Christian Ströbele, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung derBesetzungsreduktion bei Strafkammern– Drucksache 14/3370 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Altschul-
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussc) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. KarlheinzGuttmacher, Horst Friedrich, Hans-Michael Goldmann, weite-ren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhife-Gesetz – Drucksache 14/3209 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuss9761
105. SitzungBerlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000Beginn: 9.00 Uhrd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine China-Resolution der VN-Menschenrechtskommission– Drucksache 14/2915 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit zu der Verordnung der Bundesregie-rung: Verordnung über die Entsorgung polychlorierterBiphenyle, polychlorierter Terphenyle sowie halogenierterMonomethyldiphenylmethane und zur Änderung chemi-kalienrechtlicher Vorschriften) – Drucksachen 14/3286,14/3345 Nr. 2.1, 14/3395 –Berichterstattung:Abgeordnete Marion Caspers-MerkFranz ObermeierWinfried HermannBirgit HomburgerEva-Maria Bulling-Schröter3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen von Bundes-finanzminister Eichel, die Rentenreform zu verschieben4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel Humme,Hildegard Wester, Hanna Wolf , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenIrmingard Schewe-Gerigk, Christian Simmert, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Sondergeneralversammlung der Vereinten Natio-nen: Nationale Umsetzung der Beschlüsse der Pekinger Welt-frauenkonferenz – Drucksache 14/3385 –5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. WernerSchuster, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne-ten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele,Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU-AKP-Zusammenarbeit –bewährte Partnerschaft mit großer Zukunft– Drucksache 14/3396 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-tung der Bundesregierung, insbesondere des deutschenAußenministers Joseph Fischer, zu den europapolitischenAussagen des Bürgers Joschka Fischer am 12. Mai 20007. Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Barnett, SilviaSchmidt , Klaus Brandner, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten KatrinDagmar Göring-Eckardt, Volker Beck , Grietje Bettin,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an derInformationsgesellschaft – Gleichberechtigten Zugang zumFernsehen sichern – Drucksache 14/3382 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und MedienVon der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweiterforderlich – abgewichen werden.Des Weiteren soll die ursprünglich für Freitag vorgese-hene Beratung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion zum630-DM-Gesetz bereits heute nach Tagesordnungs-punkt 5 stattfinden. Der Tagesordnungspunkt 6 – Gesetzzur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechts-pflege und des Jugendgerichtsgesetzes – sowie der Ta-gesordnungspunkt 13 – Übereinkommen zum grenzüber-schreitenden Fernsehen – sollen ohne Debatte aufgerufenund der Tagesordnungspunkt 16 – Beziehungen zu Öster-reich normalisieren – abgesetzt werden.Außerdem mache ich auf eine geänderte Ausschuss-überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk-sam:Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Finanzausschuss zur Mitberatung überwiesen wer-den. Die Mitberatung im Innenausschuss soll entfallen.Gesetzentwurf der Bundesregierung über dieHilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mitdem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen
– Drucksache 14/2958 –überwiesen:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendFinanzausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 3 a und3 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Senkungder Steuersätze und zur Reform der Unterneh-mensbesteuerung
– Drucksache 14/2683 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Senkung der Steuersätze und zur Reform derUnternehmensbesteuerung
– Drucksache 14/3074 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktionder CDU/CSU eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zurUmsetzung einer Steuerreform fürWachstum und Beschäftigung– Drucksache 14/2903 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
– Drucksache 14/3366 –Berichterstattung:Abgeordnete Jörg-Otto SpillerGerda HasselfeldtOswald MetzgerCarl-Ludwig ThieleDr. Barbara Höll
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bb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 14/3367 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans Jochen HenkeHans Georg WagnerOswald MetzgerJürgen KoppelinDr. Uwe-Jens Rösselb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses
– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUEine Steuerreform für mehrWachstum undBeschäftigung– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. HermannOtto Solms, Hildebrecht Braun ,Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.Unternehmensteuerreform – Liberale Positio-nen gegen die Steuervorschläge der Koalition– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. BarbaraHöll, Rolf Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSBesteuerung der Unternehmen nach derenLeistungsfähigkeit– zu der Unterrichtung durch die BundesregierungDritter Bericht über die Höhe des Existenzmi-nimums von Kindern und Familien für dasJahr 2001– Drucksachen 14/2688, 14/2706, 14/2912,14/1926, 14/2607 Nr. 1, 14/2770, 14/3366 –Berichterstattung:Abgeordnete Jörg-Otto SpillerGerda HasselfeldtOswald MetzgerCarl-Ludwig ThieleDr. Barbara HöllZum Steuersenkungsgesetz liegen zwei Änderungsan-träge und ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDSvor. Über das Steuersenkungsgesetz werden wir nachhernamentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache drei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist dies so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenJoachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Das Steuersenkungsgesetz, das wir heute hierverabschieden werden, ist der Ausdruck einer verantwor-tungsvollen und zukunftsweisenden Steuerpolitik. Wirsollten alle daran mitwirken, dass es am 1. Januar 2001 inKraft treten kann;
denn die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaftbrauchen Klarheit über die Rahmenbedingungen für dienächsten Jahre. Sie müssen wissen, wo es langgeht. DasSteuersenkungsgesetz ist der Höhepunkt der bisherigensteuerpolitischen Reformvorhaben dieser Bundesregie-rung und der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit.
– Herr Repnik, das Steuersenkungsgesetz ist ein Steuer-entlastungsgesetz für alle Steuerpflichtigen, nicht nur füreine bestimmte Klientel.
– Sie machen mich ja jetzt richtig wach. – Es entlastet Pri-vate und die Wirtschaft. Das Steuersenkungsgesetz istaber vor allem ein Gesetz für den Mittelstand.
Das Steuersenkungsgesetz wird einen wichtigen Bei-trag zum Aufschwung und damit zum Abbau der Ar-beitslosigkeit leisten. Wir werden die ArbeitslosigkeitSchritt für Schritt zurückführen. Dabei hilft uns auch die-ses Steuersenkungsgesetz.
Weil es nicht nur auf die Steuern ankommt, müssenviele andere Maßnahmen wie die Qualifizierung, die Neu-gründung von Unternehmen und auch die Rundumer-neuerung des traditionellen Mittelstandes hinzukommen.Es darf nicht nur die „new economy“, sondern es mussauch die „old economy“ in den Blick genommen werden.Die Bedingungen für Angebot und Nachfrage müssenverbessert werden. Die Vielfalt bringt es, nicht die Einfaltideologischer Betrachtung, die sich auf den Spitzensteu-ersatz konzentriert.
Durch die Steuerpolitik der Koalition werden die Steu-erzahler im Zeitraum von 1998 bis 2005 um rund 75 Mil-liarden DM entlastet. Davon entfallen auf Private rund 55Milliarden DM und auf den Mittelstand rund 20 Milliar-den DM. Die Wahrheit ist nämlich, meine Damen undHerren: Wir hatten in der Ära Kohl/Waigel eine Schief-lage zwischen kleinen und mittleren Betrieben einer-seits sowie größeren Unternehmen andererseits. Wir sind
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dabei, diese Schieflage zugunsten der kleinen und mittle-ren Unternehmen zu korrigieren. Das machen wir mithilfedieses Steuersenkungsgesetzes.
Allein das heute zu verabschiedende Gesetz hat einEntlastungsvolumen in Höhe von rund 45Milliarden DM.Der Mittelstand profitiert davon mit rund 14 MilliardenDM. Diese Zahlen sprechen für sich und widerlegen dieabwegigen Behauptungen der Opposition, wir würdeneine mittelstandsfeindliche Politik machen. Richtig ist da-gegen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen durchdas Steuersenkungsgesetz massiv entlastet werden.
Das wäre aber nicht der Fall, wenn man – wie das dieOpposition macht – seine ganze Kraft allein auf die Sen-kung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent konzentrie-ren würde. Den Spitzensteuersatz erreichen die meistenMittelständler in Deutschland nämlich überhaupt nicht.
Der größte Teil wäre froh, wenn seine Einkünfte so hochwären, dass er den Spitzensteuersatz zahlen müsste.Was ist das eigentlich für eine Volkspartei CDU/CSU,die die Höhe des Spitzensteuersatzes zur zentralen Frageder deutschen Innenpolitik macht?
Das zeugt von einem Realitätsverlust, denn die Realität isteine andere: Rund zwei Drittel der deutschen Personen-unternehmen zahlen keine Gewerbesteuer, das heißt, dassihr Gewinn unter der Freibetragsgrenze in Höhe von48 000 DM liegt. Ich frage Sie: Was nützt in diesen Fäl-len eine Senkung des Spitzensteuersatzes bei der Ein-kommensteuer? Ein noch niedrigerer Spitzensteuersatznützt Privaten mit hohen und höchsten Einkommen, abernicht den Unternehmen. Deshalb, meine Damen und Her-ren von der Opposition, sollten Sie die Leute nicht hintersLicht führen.
Das Gros der Unternehmen, also die nicht gewerbe-steuerpflichtigen Unternehmen, können deshalb nurdurch eine Senkung im unteren Bereich der Einkommen-steuer entlastet werden, und genau das tun wir schwer-punktmäßig mit dem Steuersenkungsgesetz. Das ist übri-gens angesichts der Struktur, mit der wir es dort zu tun ha-ben, für ostdeutsche Unternehmen besonders günstig.
Wir erhöhen den Grundfreibetrag bis 2005 in Stufenauf rund 15 000 bzw. 30 000 DM und senken den Ein-gangssteuersatz in diesem Zeitraum schrittweise auf15 Prozent ab und – das ist besonders wichtig für die klei-nen und damit die Mehrzahl der Unternehmen –: Wir zie-hen die Stufe 3 des Steuerentlastungsgesetzes mit einemGesamtentlastungsvolumen von über 27 Milliarden DMum ein Jahr auf den 1. Januar 2001 vor.
Die davon begünstigten Unternehmen können sich alsoschon Anfang des nächsten Jahres auf steuerliche Entlas-tungen freuen.Die Unternehmen, die mehr als 48 000 DM Gewinnhaben und daher gewerbesteuerpflichtig sind, werdenselbstverständlich auch durch die allgemeine Senkung derEinkommensteuer entlastet. Außerdem werden sie ab2001 faktisch von der Gewerbesteuer befreit.Weil Sie so lebhaft sind, Herr Waigel: Bei Ihnen konnteman von dem, was wir heute hier beschließen, nur träu-men. Das muss man doch wohl einmal deutlich feststel-len.
Wer so viel steuerpolitischen Murks gemacht hat wie Sieund einen so gigantischen Schuldenberg hinterlassen hat,der sollte heute Morgen hier ganz ruhig sein.
Wir befreien diese Unternehmen also faktisch von derGewerbesteuer. Wir erreichen das durch eine Möglichkeitzur pauschalen Verrechnung der Gewerbesteuer mit derEinkommensteuer.Die von uns gewählte Konstruktion hat den Vorteil,dass die Gewerbesteuer kein Kostenfaktor für die Be-triebe mehr ist, die Gewerbesteuer aber andererseits alsHauptfinanzierungsquelle der Kommunen erhalten bleibt,und das ist wichtig. Wir wollen die Investitionsfähigkeitder Kommunen erhalten, denn das ist wichtig für Mittel-stand, Handwerk und mittelständische Unternehmen.
Das ist bei den Vorschlägen der Union nicht der Fall.Ihre Vorschläge greifen in den Bestand der Gewerbesteuerein. Das ist eine Politik, die keine Rücksicht auf die Be-lange unserer Städte und Gemeinden nimmt, und die ma-chen wir nicht mit.Nicht nur den Gewerbetreibenden, auch Ärzten,Rechtsanwälten, also Freiberuflern, bieten wir schließlichan, sich wie eine Kapitalgesellschaft besteuern zu lassen.
Diese Option ist nur ein Angebot.
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Das Angebot richtet sich vor allem an diejenigen, diedurch eine Option ihre durchschnittliche Einkommen-steuerlast senken können. Wenn die durchschnittlicheEinkommensteuerbelastung höher als 38,6 Prozent liegt,dann lohnt sich rechnerisch eine Option; denn 38,6 Pro-zent beträgt die Durchschnittssteuerlast – Körper-schaftsteuer und Gewerbesteuer – von Kapitalgesell-schaften. Einen durchschnittlichen Steuersatz von38,6 Prozent erreicht ein Personenunternehmen aber erstbei einem zu versteuernden Einkommen von 200 000 DMbzw. 400 000 DM. Das heißt, 95 Prozent aller Steuer-pflichtigen haben Einkünfte von unter 250 000 DM. Fürdiese aber ist die Gleichbehandlung mit Körperschaften,also eine Option, kein Thema.Es wäre aber verantwortungslos, wenn die Oppositionmit einer Fundamentalablehnung des Optionsmodells
diejenigen 5 Prozent, die durch eine Option steuerlicheVorteile haben, brüskieren würde. Wir halten jedenfalls andiesem Modell auch im Vermittlungsverfahren fest; dennwir wollen eine Steuerreform, die alle entlastet, kleine,mittlere und große Unternehmen.
Sie sind übrigens gut beraten, das Steuersenkungsgesetznicht abzulehnen, denn außer Ihren ideologischen Vorur-teilen haben Sie gar keinen Grund dafür.
Ich habe nachgewiesen, dass der Vorwurf falsch ist, dasGesetz benachteilige den Mittelstand. Dass das Gesetzauch Großunternehmen begünstigt, werfen Sie uns ja fastschon vor, und dass wir Private mit einem Volumen vonüber 23 Milliarden DM entlasten und damit die imSteuerentlastungsgesetz begonnene Trendwende für Mil-lionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern fort-setzen, kann ja auch wohl von Ihnen nicht ernsthaft kriti-siert werden, meine Damen und Herren.
– Das wird von Ihnen überhaupt nicht zu bestreiten sein,Herr Thiele, obwohl Sie bekanntermaßen sehr kunstreichim Verbiegen der Wahrheit sind.
Der Oppositionsführer hat am Donnerstag letzter Wo-che anlässlich der Debatte zur Regierungserklärung desBundeskanzlers wieder einmal erfolglos versucht, mitHalbwahrheiten von der erfolgreichen Politik der Koali-tion abzulenken. Friedrich Merz hat erstens gesagt, dassin Verantwortung dieser Bundesregierung im Laufe desJahres 1999 die Steuer- und Abgabenbelastung auf einenneuen Höchststand gestiegen ist. Richtig ist: Die Regie-rung Kohl ist im September 1998 abgewählt worden. Biszu diesem Zeitpunkt, also bis 1999, ist sie aber auch nochfür die rechtlichen Rahmenbedingungen verantwortlich,die zu dem von Herrn Merz zitierten Höchststand der Be-lastung geführt haben.
Es gehört schon viel Unverfrorenheit dazu, einer Regie-rung, die nach 16 Jahren Opposition
erst Ende 1998 die Regierung übernommen hat, die volleVerantwortung für Abgaben- und Steuerbelastungsquotenim Jahre 1999 zuzuschieben.
– Die deutsche Einheit hat nichts damit zu tun, dass manmit Zahlen nicht manipulieren soll, wie das Herr Merz ge-tan hat. Was hat das mit der deutschen Einheit zu tun?
Zweitens – und das ist noch gewichtiger – hat HerrMerz verschwiegen, dass ab dem Jahre 2000 sowohl dieStaatsquote als auch die Steuer- und Abgabenlast wiedersinkt, und zwar stetig und nachhaltig. Alle Berechnungenund Prognosen zeigen das. Das Sinken der Staatsver-schuldung und der Abgabenquote, Herr Merz, ist dieFolge der von uns zu verantwortenden Politik. Dafür sindwir dann in der Tat verantwortlich.
Unsere Steuerpolitik beginnt, Früchte zu tragen. Wennder neue stellvertretende Vorsitzende der Fraktion derCDU/CSU, Rauen, Ende April die Menschen Glaubenmachen wollte, die vom Finanzministerium errechnetenEntlastungen für Arbeitnehmer und Mittelstand seien nurvorgegaukelt und damit falsch, so hat auch er manipuliert.Herr Rauen hat künftige Lohnsteigerungen in eine Bei-spielsrechnung einbezogen, um zu dem Ergebnis zu kom-men, dass die Steuerlast der Betroffenen entgegen den Be-rechnungen des Bundesfinanzministeriums überhauptnicht sinkt. Herr Rauen vergleicht aber nicht die Steuer-last auf ein gleich hohes Einkommen im Jahre 2000 undim Jahre 2005. Das allein wäre aber der Maßstab für ei-nen seriösen Vergleich. Herr Rauen wirft uns also vor,dass ein Arbeitnehmer, der heute zum Beispiel 50 000DMverdient und in fünf Jahren aufgrund von Lohnsteige-rungenmehrere tausend DM mehr verdient, im Jahr 2005die gleichen Steuern zahlt wie heute. Mit diesem Vorwurfkönnen wir gut leben, Herr Rauen.
Die entscheidende Frage ist doch, was der betroffene Ar-beitnehmer im Jahre 2005 ohne unsere Steuersenkungzahlen müsste. Weil Sie keine Argumente haben, greifenSie zu solchen Tricks, um die Bevölkerung zu verunsi-chern. Das ist nicht nur unseriös, das zeigt Ihre ganzeHilflosigkeit.
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Joachim Poß9765
Unseriös ist auch Ihr Gesamtkonzept, das zustande ge-kommen ist, weil der bayerische Professor FaltlhauserHerrn Merz, den Sauerländer – nichts gegen Sauerländer;ich schätze sie ansonsten sehr –, über den Tisch gezogenhat.
– Auch nach dem 14. Mai. Im Sauerland haben wir für un-sere Verhältnisse ganz gut abgeschnitten, falls Sie sichSorgen machen, Herr Thiele.
Die von Ihnen veranschlagten Steuerausfälle in Höhevon 50,5 Milliarden DM bis 2003 nimmt Ihnen keiner ab.
Allein der von Ihnen vorgeschlagene Einkommensteuer-tarif für 2003 würde nach Berechnungen des Bundesfi-nanzministeriums gegenüber dem geltenden Recht zuSteuerausfällen in der Größenordnung von 76,5 Milliar-den DM führen. Das ist die ganze Wahrheit. Sie wissen,dass das nicht zu finanzieren ist. Sie arbeiten an einemsteuerpolitischen Wolkenkuckucksheim. Kehren Sie malzur Realität der harten Zahlen zurück!
Versuchen Sie nicht nur, mit der Schokoladenseite schö-ner Steuertarife eine Welt vorzugaukeln, in der wir nichtleben!
Ihre Vorschläge zur Gegenfinanzierung sind ebenfallsnicht seriös. Sie schimpfen über maßvolle Steigerungenbei der Mineralölsteuer, wollen den Autofahrern aber dieKilometerpauschale für die ersten 15 Entfernungskilome-ter ganz und darüber hinaus teilweise streichen,
wohl wissend, dass die Entfernung zwischen Wohnungund Arbeitsstätte bei der Mehrzahl der Pendler wenigerals 15 Kilometer beträgt. Das ist Ihre Politik: Steuerent-lastung für Spitzenverdiener, Steuererhöhung für Arbeit-nehmer durch die Hintertür.Wir haben einen anderen Ansatz, den wir heute durch-setzen werden. Wir betreiben Steuerpolitik auf der Basisseriöser Berechnungen.
Daran ändert auch die heutige Steuerschätzung nichts, dienur geltendes Recht berücksichtigt. Die Steuerminderein-nahmen, die durch das Steuersenkungsgesetz verursachtwerden, und die Steuerausfälle, die es im Jahr 2002 durchden Familienleistungsausgleich und durch die Neurege-lung der Besteuerung der Altersvorsorge – um nur einigePunkte zu nennen – noch geben wird, dürfen nicht ver-gessen werden.Die Einnahmen aus der Ökosteuer werden zur Sen-kung des Rentenbeitrags genutzt. Auch dadurch werdendie Steuerzahler entlastet. Wer jetzt trotzdem aufgrund derpositiven Schätzwerte wieder reflexartig – wie zum Bei-spiel Herr Thiele – weitere Steuersenkungen fordert, derlässt die finanzpolitischen Zusammenhänge von Haus-haltsfinanzierung und Kreditaufnahme außer Acht.
Wer im Übrigen wie CDU/CSU und F.D.P. eine so gi-gantische Staatsverschuldung hinterlassen hat, sollte sichmit solchen Vorschlägen zurückhalten, die Mehrausgabenoder einen weiteren Einnahmeverzicht bedeuten. Er sollteschweigen, wenn er aus der Vergangenheit, so wie Sie,Herr Waigel, offenkundig nichts gelernt hat.
Wir können die Steuern auch dann nicht erhöhen, wenndie Schätzungen einmal nach unten tendieren. Deshalb istder Vorwurf, die positiven Schätzzahlen belegten, dasswir die Steuern nicht senkten, sondern erhöhten, nichts alsdummes Geschwätz.Die Bundesregierung und die sie tragende Koalitionhalten unbeirrt an einem politischen Ziel fest, nämlich aufseriöse Art und Weise Haushaltskonsolidierung und Sen-kung von Steuern und Abgaben gleichzeitig zu erreichen.Diese Strategie wurde im Frühjahrsgutachten hoch gelobtund zeigt zunehmend Wirkung: Die Arbeitslosenzahlsinkt stetig. Das Wirtschaftswachstum gewinnt an Dyna-mik. Einzig und allein eine solide Haushaltswirtschaft er-möglicht uns mittel- und langfristig massive Steuerentlas-tungen mit Konjunktur stimulierender Wirkung. Steuer-entlastungen auf Pump haben den gegenteiligen Effektund sind vor den nachkommenden Generationen nichtverantwortbar; denn Steuersenkungen auf Pump sind dieSteuererhöhungen der Zukunft. Das ist mit uns nicht zumachen.
Das Markenzeichen dieser Koalition – das ärgert Sie;das merkt man auch heute Morgen wieder –
ist eine nachhaltige Finanzpolitik der ruhigen Hand undnicht eine verantwortungslose Finanzpolitik der leichtenHand, für die Sie gestanden haben. Die Menschen wisseninzwischen, auf wen sie sich verlassen können.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Herr Poß, es ist wahr: Wirbrauchen dringend eine durchgreifende große Steuer-
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Joachim Poß9766
strukturreform. Darüber sind wir uns einig. Aber damitsind unsere Gemeinsamkeiten angesichts dessen, was Sieeben ausgeführt haben, auch schon weitestgehend er-schöpft.
Mir ist aufgefallen, dass Sie erstaunlich lange über denMittelstand gesprochen haben. Ich werde dies ebenfallstun. Nur, im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich etwas da-von.
Mir ist auch aufgefallen, dass Sie praktisch überhauptnicht über die Entlastung der Arbeitnehmer durch die ge-plante Steuerreform gesprochen haben.
Die größte Steuerreform aller Zeiten, wie Sie sie nen-nen, mit einer angeblichen Entlastung von 74,6 Milliar-den DM ist in großen Teilen ein steuertechnischer Trickund der untaugliche Versuch, die Steuerzahler zu täu-schen. In Ihrem Zahlenspiegel listen Sie Preise, Löhneund Gehälter von 1998 und 1999 sowie die Einkommen-steuertarife auf, die in den Jahren 1999, 2001, 2003 undam Sankt-Nimmerleins-Tag 2005 in Kraft treten. Sie un-terschlagen in Ihren Berechnungen, dass in diesen siebenendlosen Jahren, die Ihr Reformpaket benötigt, bis auchseine letzte Stufe in Kraft getreten ist, die Inflation ge-stiegen sein wird, dass Löhne und Gehälter gestiegen seinwerden und dass dadurch die Grenz- und Durchschnitts-steuerbelastung der Arbeitnehmer und der Unternehmerstetig gestiegen sein werden.
Herr Poß, dass Sie meine Berechnungen angezweifelthaben, zeigt mir, dass Sie immer noch nicht kapiert haben,dass es nicht einen anonymen Arbeitnehmer gibt, der inden nächsten fünf, sechs oder sieben Jahren das gleicheGehalt erhält. Er hat Lohnsteigerungen und kommt stän-dig in eine höhere Progression.
– Herr Poß, die Entlastungen in Höhe von 35,2 Milliar-den DM durch den Tarif 2003 und 2005 werden durch dieheimlichen Steuererhöhungen, das heißt durch die kalteProgression, fast vollständig aufgefressen.Im Einkommensteuertarif 2005 wird der Spitzensteu-ersatz bei einem zu versteuernden Einkommen von98 000 DM erreicht.
Ein großer Teil der deutschen Facharbeiter in der Steuer-klasse I kommt in die Nähe des Spitzensteuersatzes bzw.erreicht diesen. Von 1 DM Lohnerhöhung kassieren dannder Fiskus 45 Pfennig und die Sozialversicherungskas-sen 21 Pfennig, sofern die Beiträge bis dahin stabil blei-ben. Das heißt, von 1 DM Lohnerhöhung bleiben dem Ar-beitnehmer dann noch ganze 34 Pfennig. Das ist geradeein Viertel der Kosten, die sein Arbeitgeber aus dieserD-Mark Lohnerhöhung hat.Wer vor diesem Hintergrund glaubt, dass diese Re-formschritte wachstums- und beschäftigungsfreundlichsind und dass damit die deutsche Wirtschaft im interna-tionalen Wettbewerb sowie im Kampf gegen die Schwarz-arbeit bestehen kann, ist ein hoffnungsloser Träumer.
Herr Kollege Rauen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?
Bitte schön, Herr Poß.
Herr Kollege Rauen, würden
Sie auch gegenüber der Öffentlichkeit bestätigen, dass das
Problem der so genannten heimlichen Steuererhöhungen,
das Sie hier beschrieben haben, bei einem progressiven
Tarif immer gegeben ist und dass nach der Verabschie-
dung des Steuersenkungsgesetzes bei den von Ihnen ge-
nannten Beispielfällen den Arbeitnehmern auch bei ge-
stiegenem Einkommen im Jahre 2005 viel mehr in der
Lohntüte bleibt – auch wenn wir alle Beispielfälle durch-
rechnen –, sodass ihre Durchschnittssteuerbelastung und
ihre Grenzsteuerbelastung im Jahre 2005 noch deutlich
niedriger sind als im Jahre 2000?
Herr Poß, ich bin Ihnen fürdiese Frage sehr dankbar. Ich bestätige Ihnen gerne, dasses die heimlichen Steuererhöhungen immer gegeben hatund dass alle Finanzminister – auch unserer Regierung –bei diesen Berechnungen diese kalte Progression ver-schwiegen haben.
Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied, HerrPoß: Vor 1950 wurde der Spitzensteuersatz erst beim12,5-fachen und vor zehn Jahren beim 3,5-fachen derdurchschnittlichen Erwerbseinkommen erreicht.
Falls Ihre Reform umgesetzt wird, wird der Spitzen-steuersatz bereits beim 1,2-fachen des durchschnittlichenEinkommens erreicht.
Der steile Progressionsverlauf trifft dann die Leuteimmer stärker. Das ist die Wahrheit! Wer einen solchenTarifverlauf will, provoziert im Kern, dass die heimlichenSteuererhöhungen immer stärker zunehmen. Das müssenSie einfach zur Kenntnis nehmen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Peter Rauen9767
Die Behauptung, die Arbeitnehmer hätten nach Ihrem Ta-rif mehr in der Tasche, ist wirklich blanker Unfug. Ichhabe Gott sei Dank noch die Fähigkeit, eine simple Lohn-abrechnung zu verstehen; diese Fähigkeit haben Sie of-fenbar nicht mehr.
Ich verstehe ja Ihre Unruhe. Ihre Berechnungen sindfalsch und irreführend und sie werden auch durch ständi-ges Wiederholen nicht besser. Ich brauche für meine Aus-führungen nicht die makroökonomischen Daten des Fi-nanzministeriums. Mir reichten die Steuertabelle, die Siedankenswerterweise den Gesetzentwürfen beigeheftet ha-ben, und die simple Kenntnis einer Lohnabrechnung.Ich wiederhole es: Ein Facharbeiter in der Steuer-klasse I, der im Jahr 2001 ein Jahreseinkommen von70 000 DM zu versteuern hat, wird feststellen, dass seinDurchschnittssteuersatz von 23,81 Prozent nach dem Ta-rif 2001 auf 24,15 Prozent nach dem Tarif 2005 ansteigenwird und dass er – unterstellt, er hat in fünf Jahren nur je-weils 2,5 Prozent Lohnerhöhung – in den fünf Jahren2 490 Mark mehr Steuern bezahlen wird, als er nach demTarif 2001 bezahlen müsste.
Ich will noch ein weiteres Beispiel anführen: Wenndieser Facharbeiter verheiratet ist und seine Ehefrau3 300 Mark verdient – das Einkommen also nach derSplitting-Tabelle besteuert wird –, steigt sein Durch-schnittssteuersatz im Jahr 2005 gegenüber 2001 von20,49 Prozent auf 20,64 Prozent und damit seine Steuer-zahlung um 3 132 DM.Ich will die Beispiele aus der Steuertabelle komplettie-ren, Herr Eichel, damit Sie sehen, dass ich auch das an-rechne, was Ihnen zugute gehalten werden kann: Nurwenn die-ser Facharbeiter Alleinverdiener mit Steuer-klasse 3 ist, dann sinken sein Durchschnittssteuersatz von14,78 auf 14,58 Prozent und seine Steuerzahlung pro Jahrum 1 200 DM.Meine Damen und Herren, bei einem Einkommen-steuertarif nach unserem Gesetzentwurf hat der ledigeFacharbeiter mit einem zu versteuernden Jahreslohn von70 000 DM in den Jahren 2001 und 2002 monatlich86 DM mehr, in den Jahren 2003 und 2004 monatlich255 DM mehr und selbst im Jahre 2005 gegenüber Ihremglorreichen Tarif monatlich 229 DM mehr. Um dieseNettolohnerhöhung ohne unseren Einkommensteuertarifzu erzielen, müsste dieser Facharbeiter in den Jahren2003, 2004 und 2005 jährlich eine Lohnerhöhung von11 bis 12 Prozent bekommen. Damit wird deutlich, welchenorme Spielräume auch die Tarifpartner durch eine end-lich durchgreifende Tarifreform bekämen.
Meine Damen und Herren, wenn am Ende der Renten-konsensgespräche feststehen wird, dass es zukünftig ohnekapitalgedeckte Eigenvorsorge nicht gehen wird, dannmuss auch von hier die Frage erlaubt sein, wovon denn dieArbeitnehmer die Beiträge zur Finanzierung dieser kapi-talgedeckten Eigenvorsorge bezahlen sollen.
Ich weiß, dass die Regierung diese nackten Wahrheiteneiner simplen Lohnabrechnung nicht gerne hört. Abervielleicht machen sie doch den einen oder anderen von Ih-nen, der aus dem Gewerkschaftslager kommt, nachdenk-lich. Jedenfalls kann ich jetzt gut verstehen, dass die Bun-desregierung plant, die amtlichen Steuertabellen abzu-schaffen.Herr Finanzminister Eichel, Sie wollen in Wahrheitüberhaupt nicht die Staatsquote senken, weil Sie offen-bar nicht bereit sind, über den EinkommensteuertarifArbeitnehmer, Unternehmer und Unternehmen zu ent-lasten. Es ist bezeichnend, dass im ersten vollen Jahr derSchröder-Regierung, 1999, die Staatsquote um einenvollen Prozentpunkt und die Steuer- und Abgabenquoteauf die Rekordhöhe von 43,7 Prozent gestiegen sind.
Sie befinden sich jedoch in guter Tradition mit den Vor-vorgängern in den 70-er Jahren, Herr Eichel. Von 1969 bis1983 stieg die Staatsquote in Deutschland von 39 auf51 Prozent.
Sie sind offenbar wie Ihre Vorvorgänger der Auffas-sung, dass im Zweifelsfall der Staat besser weiß, was fürden Einzelnen gut ist, als der Einzelne selbst. Mehr Be-schäftigung in Deutschland werden wir aber nur bekom-men, wenn den arbeitenden Menschen mehr Geld zur ei-genen Entscheidung verbleibt, wie es in der ersten Hälfteder Regierungszeit unter Helmut Kohl war, als die Staats-quote um 5 Prozent sank und von 1983 bis zur deutschenWiedervereinigung in den alten Bundesländern 3 Milli-onen zusätzliche steuer- und versicherungspflichtige Ar-beitsplätze entstanden sind.
Aber auch mit der Unternehmensteuerreform stehenSie, Herr Eichel, in guter Tradition mit Ihrem direktenVorgänger Lafontaine. Seine ideologisch belasteten Vor-stellungen wollen Sie jetzt umsetzen. Ich sage bewusst„wollen“, weil die Union in großer Einigkeit in Bund undLändern dies im Bundesrat nicht mitmachen wird.
Sie wollen Unternehmen entlasten, nicht aber die Unter-nehmer. Sie wollen Gewinne, die im Betrieb verbleiben,in der Annahme begünstigen, dass dadurch mehr Arbeits-plätze geschaffen würden. Damit maßen Sie sich genauwie Lafontaine an, selektiv zu entscheiden, was gute undschlechte Einkommen sind.Ich empfehle Ihnen, Herr Eichel, die Berechnungen derDeutschen Bundesbank über die Vermögensbildungund die daraus abgeleiteten Investitionen der deutschenWirtschaft im Jahre 1998 nachzulesen. Ich möchte Siejetzt mit diesen Zahlen nicht beschäftigen; sie waren ges-tern auch im „Handelsblatt“ nachzulesen. Ich gehe jedochdavon aus, Herr Eichel, dass Sie Ihrem ehemaligen Fi-nanzminister und heutigem Bundesbankpräsidenten nochglauben.
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Die Schlussfolgerung aus diesem Bericht der DeutschenBundesbank ist eindeutig: Wer Investitionen und damitArbeitsplätze fördern will, darf sich mit der steuerlichenFörderung nicht auf unternehmensinterne Ersparnisse be-schränken. Die Fremdfinanzierung über den Kapitalmarktmuss ebenfalls durch eine Senkung der Steuerlast auf Er-sparnisse gefördert werden. Das gilt besonders für denMittelstand, der die Arbeitsplätze schafft und leider imVergleich zu Unternehmen, die Kapital auf dem Parkettder Börsen beschaffen können, eine sehr schwache Ei-genkapitalquote hat und auf Fremdfinanzierung angewie-sen ist. Sparen können die Leute aber nur, wenn ihnen vonihrem schönen Bruttolohn bzw. -gehalt und ihrem Gewinnnetto nach Steuern wieder mehr in der Tasche verbleibt.
Ich halte es, mit Verlaub gesagt, für blanken Unfug undfür volkswirtschaftlich äußerst bedenklich, wenn in einerZeit, in der sich Wissen alle fünf Jahre verdoppelt undSchnelligkeit entscheidet, wer in Zukunft die Märkte be-herrscht, Kapital in bestehende Strukturen eingemauertwird.
Bei der Unternehmensteuerreform berufen Sie sich aufdie Zustimmung der Wirtschaftsverbände. Denjenigen,die nicht zustimmen und Beifall klatschen, wie dem Zen-tralverband des Deutschen Handwerks,
der mit 7 Millionen Arbeitnehmern immer noch mehrMitarbeiter hat, als in der Industrie beschäftigt sind, ha-ben Sie den Krieg erklärt.
Ich kann das ursprüngliche Verhalten der Verbände gutverstehen. Nachdem 1997 die große Steuerreform in einerunverantwortlichen Art und Weise aus rein machtpoliti-schen Gründen
von Lafontaine verhindert wurde, die Unternehmen vonIhrer Regierung in den Jahren 1999 und 2000 nur belastetwurden
und die Unternehmensteuerreform ohnehin erst ein Jahrspäter kommt als versprochen, sind die Verbände froh,dass überhaupt etwas passiert. Ihnen ist der Spatz in derHand lieber als die Taube auf dem Dach.Ich gebe zu, dass ich als Unternehmer früher genausogedacht habe. Nur, Herr Eichel, täuschen Sie sich nicht,der Beifall ist längst verhallt. Uns gegenüber äußern diegleichen Verbände heute drei Wünsche: Erstens. Blockiertum Gottes Willen die Reform nicht!
Zweitens. Lasst für die Kapitalgesellschaften nach Mög-lichkeit alles so, wie im Regierungsentwurf vorgesehen!Drittens. Setzt euch in Bezug auf die Personengesell-schaften mit eurem Konzept durch! Das ist zusammenge-nommen zwar unpolitisch, aber verständlich pragmatischgedacht.
Meine Damen und Herren, blockieren werden wir dieReform nicht. Wir wissen allzu sehr, wie dringend not-wendig sie ist, damit die größte Wirtschaftsnation in Eu-ropa wieder zum Motor für Wachstum und Beschäfti-gung wird, statt Schlusslicht zu bleiben, und der außen-wirtschaftlich bedingte Konjunkturaufschwung durcheine bessere Binnenkonjunktur an Fahrt gewinnt. Derschwache Außenwert des Euro verbietet es jeder verant-wortungsbewussten Partei in Deutschland, Reformen zubehindern.
Auch wir wollen die Kapitalgesellschaften nichtschlechter stellen als im Regierungsentwurf. Aber einesmöchte ich doch sagen: Als ich davon hörte, dass der Ver-kauf von Kapitalbeteiligungen völlig steuerfrei gestelltwürde, habe ich das zunächst nicht glauben wollen. Diebegünstigten Banken, Versicherungen und Konzerneübrigens auch nicht. Ich hätte gerne das Geschrei undin diesem Hause von Gewerkschaftsvertretern gehört,wenn wir das gemacht hätten.
Zugleich sage ich als Unternehmer auch ganz deutlich:Wenn es so gelingt, die Deutschland AG endlich aufzulö-sen, wenn so unüberschaubares Beteiligungsgeflechtdurchschaubar wird und sich die im weltweiten Wettbe-werb stehenden Konzerne auf Kernbereiche konzentrie-ren, indem sie Beteiligungen abstoßen, die anderswo effi-zienter eingesetzt werden, kann man dagegen nichts ha-ben. Nur eines geht nicht, meine Damen und Herren: Siekönnen nicht beim Verkauf von Kapitalbeteiligungen dieSteuerbelastung von 100 Prozent auf Null zurückfahrenund gleichzeitig Personengesellschaften, die genauso um-strukturieren müssen, um Zukunft zu gewinnen, mit ei-nem lächerlichen Freibetrag von 100 000 DM abspeisen.Da brauchen wir wirklich eine Gleichheit der Kampfmit-tel, um Zukunft zu gewinnen.
Ich will eines ganz klar sagen, Herr Eichel: Sie solltensich im Nachhinein schämen, dass Sie im letzten Jahrfür die Mittelständler, die ihren Betrieb aus Altersgrün-den verkaufen und den Erlös zur Alterssicherung brau-chen, die Steuerbelastung verdoppelt, also von 50 auf100 Prozent hochgetrieben haben. Andererseits gab es
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Entlastungen von 100 auf 0 Prozent. So kann es einfachnicht gehen!
Die Reform, die Sie heute mit Ihrer Mehrheit be-schließen werden und die wir ablehnen, ist für Personen-gesellschaften, für die mittelständischen Unternehmerund für Freiberufler nicht nur untauglich, nein, sie ist vordem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerungunabhängig von der Herkunft des Einkommens und sei-ner Verwendung diskriminierend. Wer den Mittelstand inDeutschland entlasten will, muss auch den Unternehmerentlasten. Das geht nur über den Einkommensteuertarif,nicht nur hinsichtlich des Spitzensteuersatzes, sondernauch hinsichtlich des Tarifverlaufs. Die obere Proportio-nalzone darf erst viel später erreicht werden.Um überhaupt behaupten zu können, auch den Mittel-stand entlasten zu wollen, haben Sie in Ihrem Entwurf –Herr Poß spricht immer sehr beredt davon – zwei Krückeneingebaut, auf die Sie sich spätestens nach der Anhörungder Sachverständigen nicht mehr stützen können. Das Op-tionsmodell ist untauglich
und die teilweise Anrechnung der Gewerbeertragsteuer istverfassungsrechtlich bedenklich und für Freiberufler oh-nehin völlig unwirksam.
Ich kann Ihr Gerede, dass auch der Mittelstand entlastetwürde, beim besten Willen nicht mehr hören. Er wird be-lastet und nicht entlastet.
Diese Feststellung bleibt wahr, auch wenn Sie ständig dasGegenteil behaupten.
– Herr von Larcher, ich weiß es wirklich besser.Dass es keinen Sinn hat, mit Ihnen darüber zu streiten,wurde mir endgültig klar, als ich vor einer Woche die Re-gierungserklärungvonBundeskanzlerGerhardSchröder –er ist mittlerweile anwesend – hörte. Herr Schröder, Siehaben ausgeführt, dass circa 1 650 000 Betriebe einen zuversteuernden Gewinn von unter 50 000 DM und etwa345 000 Betriebe einen Gewinn zwischen 50 000 und100 000 DM hätten. Sie sagten ferner, dass diese Betriebenur durch den Grundfreibetrag und durch eine Senkungdes unteren Tarifverlaufs entlastet werden könnten, weilsie nicht in die Nähe des Spitzensteuersatzes kämen. HerrBundeskanzler, Sie mögen ja Ahnung von VW und Holz-mann haben, aber vom deutschen Mittelstand haben Siekeine Ahnung.
Erstens. Ihre Zahlen, die richtig sind, stammen aus derUmsatzsteuerstatistik von 1996.
Zweitens. Der Gewinn dieser Firmen wird durch diegeänderten Gewinnermittlungsvorschriften und durch dieverschlechterten Abschreibungsbedingungen unter IhrerRegierung automatisch wesentlich höher belastet, erstrecht, wenn noch die neuen, unerträglich verschlechtertenAfA-Tabellen gelten.
Drittens. Herr Schröder, Sie unterstellen, dass einSelbstständiger wie ein Arbeitnehmer Jahr für Jahr etwadas gleiche Einkommen hat. Ich bin 34 Jahre als Selbst-ständiger tätig und war mit meinem Einkommen schon injeder Rubrik der Umsatzsteuerstatistik vertreten: schönehohe Gewinne, schmerzliche Verluste und Jahre, in denenes gerade so aufgegangen ist. Ich habe am Jahresanfangnie gewusst, was am Jahresende herauskommt. Ich willIhnen eines sagen – deshalb ist das Optionsmodell so völ-lig untauglich –: In guten Jahren rechnet es sich; inschlechten Jahren schießt man sich damit selbst ins Knie,
ganz zu schweigen von dem Problem der Auflösung stillerReserven und den verschlechterten Bedingungen im Erb-fall.Viertens. Die Anpassung des Grundfreibetrages – HerrPoß, Sie haben das heute ebenfalls gesagt – gemäß Infla-tionsrate und damit Freistellung des Existenzminimumshat Verfassungsrang und gilt für jedermann. Das hat alsomit einer Sonderregelung für den Mittelstand überhauptnichts zu tun.
Fünftens. Herr Schröder, glauben Sie wirklich, dass1,7 Millionen Mittelständler und ihre Familien mit einemGewinn unter 50 000 DM auf Dauer die Belastung unddas Risiko der Selbstständigkeit tragen können? Wenn daswirklich so wäre, dann hätten unsere Sozial-ämter nochviel mehr Kunden als heute.Meine Damen und Herren, wir brauchen endlich einedurchgreifende Steuerentlastung für Arbeitnehmer, fürUnternehmer und für Unternehmen.
– Vielleicht können Sie eine Frage stellen, damit mir dieZeit nicht wegläuft. Ihr Zuruf zeigt: Sie haben beimSchwarzgeld immer noch nichts verstanden.
Sie haben nicht verstanden, dass die Gewinnerwartun-gen eines Unternehmens Jahr für Jahr sehr unter-schiedlich sind. Dieser dümmliche Zwischenruf zeigt mir,wie wenig Sie überhaupt von dieser Materie begriffenhaben.
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Wir brauchen eine schnelle und massive Senkung desEinkommensteuertarifs. Diese Notwendigkeit lehnen Sieab, Herr Eichel, mit dem Argument, dies sei nicht finan-zierbar.Wir von der Union finden es auch richtig, dass Sie dieenormen Sondereinnahmen in diesem Jahr zur Schul-dentilgung verwenden.
Sie sollen diese Sondererlöse aus der Privatisierung derBundesunternehmen – Sie waren damals mit HerrnSchröder dagegen –, die wahrscheinlich über 100 Milliar-den DM betragen werden, ruhig zur Schuldentilgung ver-wenden.
Wir möchten aber nicht, dass wir dieses Geld im Jahre2002 als Konjunkturprogramm oder als Arbeitsbewirt-schaftungsmaßnahmen wiedersehen
oder dass damit konsumtive Ausgaben getätigt werden.Insofern schützen wir Sie gerne vor den BegehrlichkeitenIhrer eigenen Partei.
Aber die laufenden Steuereinnahmen rechtfertigen,ja, sie erzwingen nahezu eine durchgreifende Einkom-mensteuerreform; es sei denn, Sie wollen die staatlicheBevormundung der Bürger ausweiten. Sie hatten in denJahren 1998, 1999 und 2000 einen Aufwuchs der Steuer-einnahmen von über 110 Milliarden DM. Die Steuerein-nahmen sind damit wesentlich deutlicher gestiegen alsdas Bruttoinlandsprodukt. Ich frage mich, Herr Finanz-minister, wie Finanzminister Waigel in den Jahren 1995,1996 und 1997 überhaupt zurecht kommen konnte,
als die Steuern von 814 über 800 Milliarden DM auf796Milliarden DM gefallen sind, wenn Sie bei dem heuti-gen Aufwuchs nicht in der Lage sind, eine vernünftigeEinkommensteuerreform in Gang zu setzen.
Die neueste Steuerschätzung zeigt, dass 2004 dieSteuereinnahmen um weitere 200Milliarden DM über de-nen des laufenden Jahres liegen werden. Es ist nicht hin-zunehmen, dass Sie vor diesem Hintergrund den Unter-nehmen und Bürgern eine wirklich wachstums- und be-schäftigungsfördernde Steuerreform vorenthalten wollen.Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen und ihm imVermittlungsausschuss unsere bessere Alternative entge-genstellen.
Wir wollen die Reform nicht blockieren, aber wirgehen mit einer Bedingung in die Verhandlungen imVermittlungsausschuss, die unser FraktionsvorsitzenderFriedrich Merz bereits letzte Woche hier formuliert hat:Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die unionsge-führten Bundesländer werden der Steuerreform derRegierung nur zustimmen, wenn der bewährte, wirt-schaftspolitisch richtige und ordnungspolitisch geboteneGrundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung allerEinkunftsarten gewahrt bleibt.
Wir werden dabei darauf achten, dass im Zuge der Ver-handlungen zum Länderfinanzausgleich sichergestelltwird, dass auch die schwächeren Länder nicht in eineHaushaltsnotlage geraten.Es wäre gut, wenn die Bundesregierung sich ab heutedarauf einstellt, dass sich die Bundestagsfraktion vonCDU und CSU und die von CDU und CSU geführtenBundesländer in ihrer Kernforderung auf keinen Fall imVermittlungsausschuss auseinander dividieren lassen.Darauf sollten Sie sich einstellen.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! HerrKollege Rauen, ich möchte zu drei Punkten, die Sie in denMittelpunkt Ihrer Ausführungen gestellt haben, kurzvorab Stellung nehmen.Erstens. Nach dem Motto: „Wer im Glashaus sitzt“: Siehaben der Frage der kalten Progression eine große Be-deutung zugemessen. Das ist richtig; das ist ein Problem,mit dem alle zu kämpfen haben. Nur, der Seriosität halber
sollten Sie doch auch sagen, dass die kalte Progressionnach Ihren Petersberger Beschlüssen genauso festge-schrieben worden wäre. Bei 90 000 DM wäre der Spitzen-steuersatz erreicht worden. Deshalb haben Sie an diesemPunkt jegliche Legitimation verloren.
Zweitens, Herr Kollege Rauen. Ich weiß, dass IhnenFolgendes nicht passt. Sie haben uns vorgehalten, wirwollten bezüglich der Entwicklung der Nettoeinkommenden nackten Wahrheiten nicht ins Gesicht schauen.Die nackte Tatsache ist, dass im ersten Jahr unserer
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Regierung, 1999, die durchschnittlichen Nettoeinkom-men der Arbeitnehmer zum ersten Mal seit acht Jahrenum über 3 Prozent gestiegen sind, nachdem sie in IhrerRegierungszeit ständig stagnierten oder sogar fielen.
Drittens, Herr Kollege Rauen. Wenn Sie uns vorhalten,dass die Erhöhung des Grundfreibetrags eine verfas-sungsrechtliche Notwendigkeit ist,
dann kann ich nur sagen: Wem hat denn das Verfassungs-gericht ins Stammbuch geschrieben, den Grundfreibetragzu erhöhen? – Ihrer Regierung!
Und was haben Sie gemacht? – Sie haben den Grundfrei-betrag damals hochgesetzt und das damit finanziert, dassSie die Einkommensteuersätze erhöht haben. Das warenIhre Taschenspielertricks!Da sind wir sehr viel seriöser. Wir lassen uns das nichtvom Verfassungsgericht ins Stammbuch schreiben, son-dern wir erhöhen die Grundfreibeträge aus eigenem An-trieb, weil das nämlich die kleinen und mittleren Einkom-men sowie diejenigen der Mittelständler am besten ent-lastet.
Mit unserem Steuersenkungsgesetz setzen wir den ein-geschlagenen Kurs der Haushaltskonsolidierung undder Steuererleichterung fort. Wir verbinden mit dieser Po-litik finanzielle Nachhaltigkeit und Seriosität mit sozialerFairness und ökologischer Erneuerung.
Diese drei Dinge gehören zusammen, um die Arbeits-losigkeit spürbar zu senken und unser Land zukunftsfähigzu machen. Ohne finanzielle Seriosität kann der Sozial-staat nicht dauerhaft finanziert werden; ohne soziale Fair-ness bleibt diese Republik in der sozialen Schieflage deralten Regierung; ohne ökologische Erneuerung sägen wiran dem Ast, auf dem wir sitzen, und wir verspielen dieChance auf neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze.
Mit dem heutigen Steuerentlastungsgesetz gehen wireinen weiteren großen Schritt hin zu weniger Steuern, zumehr Gerechtigkeit und mehr Beschäftigung. Bereits dieersten beiden Stufen unserer Steuerreform haben, wie ichausgeführt habe, die Privathaushalte und den Mittelstandspürbar entlastet. Statt jedes Jahr weniger haben die Men-schen seit 1999 netto endlich wieder mehr in den Taschen,Herr Rauen. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis neh-men.
Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Rauen: Das ist für dieMenschen eine völlig neue Erfahrung. Von Ihnen warendie Menschen gewohnt, dass nach Waigels Griff in dieTaschen der Bürger noch nicht einmal von den stetig stei-genden Bruttolöhnen etwas übrig geblieben ist. An die-sem Punkt bin ich gerne ein Träumer, weil ich nach derStatistik real nachvollziehen kann, dass die Netto-einkommen der Bürgerinnen und Bürger im Jahre 1999nach acht Jahren zum ersten Mal gestiegen sind.
Herr Kollege
Schlauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rauen?
Gerne.
Herr Schlauch, ich wüsste
gerne, von welchem Arbeitnehmer Sie sprechen. Ich
denke an einen ganz normalen Maurer, der bei mir arbei-
tet. Nach der Reform, die 1999 gegriffen hat, hat ein nor-
maler Maurer netto pro Monat 4,10 DM mehr. Das
reicht nicht einmal aus, um die Mehrkosten beim Sprit,
von denen gerade Menschen im ländlichen Raum be-
troffen sind, auszugleichen. Von welcher Entlastung Sie
also sprechen, ist mir unerklärlich.
Herr Schlauch, ist Ihnen eventuell entgangen, dass
mittlerweile im progressiven Bereich unter der Führung
der Arbeiterpartei SPD
aus dem früheren Mittelstandsbauch, der unter
Stoltenberg abgeschafft wurde, ein Arbeitnehmerbauch
geworden ist?
Herr Rauen, darauf kann ich Ihnen nur antworten:
Wir haben damit begonnen, die Steuern zu senken, Schrittfür Schritt.
Das führen wir heute konsequent fort. Das haben Sie16 Jahre lang versäumt.
Ich kann Sie nur fragen: Wo leben Sie denn? In den16 Jahren Ihrer Regierung sind die Bruttolöhne ständiggestiegen
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und bei den Menschen ist davon nichts übrig geblieben.Wir setzen an diesem Punkt an und haben die Trendwendeeingeleitet.
Das steuerfreie Existenzminimum – Herr Rauen, auchdas kommt Ihrem Maurer unmittelbar zugute – steigernwir auf 15 000DM. Der Eingangssteuersatz sinkt um satte10,9 Prozentpunkte und der Spitzensteuersatz um 8 Pro-zentpunkte. So entlasten wir tatsächlich alle Steuerpflich-tigen, und zwar die privaten Haushalte und den Mittel-stand. Beide profitieren deutlich von diesen gesenktenSteuersätzen.
Der Mittelstand profitiert zusätzlich von der Anrechnungder Gewerbesteuer. Mit der Senkung der Körperschaft-steuer auf 25 Prozent entlasten wir schließlich die großenUnternehmen in unserem Land.
Insgesamt entlasten wir um 45 Milliarden DM. Davonentfallen 23 Milliarden DM auf die privaten Haushalte,14 Milliarden DM auf den Mittelstand und 7 MilliardenDM auf die Körperschaften.
Hauptbegünstigte sind also – allen Unkenrufen und allerPropaganda Ihrer Mittelstandskampagne zum Trotz – diePrivathaushalte und der Mittelstand. Ein Drittel desgesamten Entlastungsvolumens entfällt nämlich auf denMittelstand.Insbesondere für diese Mittelstandskomponente hatsich meine Fraktion von Anfang an stark gemacht. DieSenkung der Steuersätze und die Anrechnung der Gewer-besteuer werden die Situation von kleinen und mittlerenUnternehmen spürbar verbessern.Nun sagen Sie, das ist ja Ihr Credo, trotz dieser Zah-len – Zahlen lügen bekanntlich nicht; sie sind ja nachzu-vollziehen –, der Mittelstand werde benachteiligt. Weil esnicht so genau darauf ankommt, wird kurzerhand die Kör-perschaftsteuer mit dem Spitzensteuersatz verglichen.Dass die Körperschaftsteuer in Höhe von 25 Prozent einfester Steuersatz und der Spitzensteuersatz in Höhe von45 Prozent ein Grenzsteuersatz ist, diesen Unterschied,Herr Rauen, sollten Sie der Seriosität wegen machen. Die-sen Unterschied kennen Sie so gut wie ich.Entscheidend für die Steuerbelastung der kleinen undmittleren Unternehmen ist aber der Durchschnitts- undnicht der Spitzensteuersatz. Auch hier wissen Sie so gutwie ich, dass ein Großteil der kleinen und mittleren Unter-nehmen unter dem Durchschnittssteuersatz von 25 Pro-zent liegen.
Während Sie sich – insbesondere die F.D.P. – in derpolitischen Diskussion auf den Spitzensteuersatz kapri-zieren, haben wir den Grundfreibetrag erhöht und denEingangssteuersatz gesenkt. Das sind die Maßnahmen,die dem Mittelstand helfen, und nicht eine weitere Redu-zierung des Spitzensteuersatzes.
Auch die Unternehmen, Herr Rauen, deren Durch-schnittssteuersatz über 25 Prozent liegt, sind noch langenicht schlechter gestellt als die Körperschaften. Denn umgenau dies zu verhindern, haben wir Grünen uns für dieAnrechnungsfähigkeit der Gewerbesteuer stark gemacht.Erst ab einem Gewinn von 200 000 DM bei Ledigen bzw.ab 400 000 DM bei Verheirateten könnte die von Ihnenerdachte Situation eintreten, dass eine Personengesell-schaft höher besteuert wird als eine Körperschaft. Was Siehier als Regelfall darzustellen versuchen, betrifft theore-tisch gerade einmal 5 Prozent aller Personengesell-schaften. Ich sage bewusst „theoretisch“, denn auch die-sen Fall haben wir berücksichtigt, indem wir die Mög-lichkeit der Option einräumen.
Zugegeben, die Senkung des Spitzensteuersatzesbringt natürlich die dicken Schlagzeilen. Entscheidenderaber ist doch – das habe ich von Ihnen gelernt –, was hin-ten herauskommt.
Und bei dieser Steuerreform kommen hinten mehr Kauf-kraft für die Bürgerinnen und Bürger, spürbare Entlastungfür den Mittelstand und internationale Wettbewerbs-fähigkeit für die Großunternehmen heraus. Das ist derDreiklang, mit dem wir die Zukunft gewinnen und durchden wir neue Arbeitsplätze schaffen.
Nun kann man sagen – das ist Ihr gutes Recht und ei-gentlich auch das einzige Mittel in der Opposition –: Dasalles ist nicht genug. Wir wollen noch stärkere Steuersen-kungen.
Aber wenn Sie, Herr Rauen und meine Damen und Her-ren von der Opposition, dies sagen, dann beweisen Siedamit einen beachtlichen Mut zur Lücke, und zwar wasdie Erinnerung an Ihre Regierungszeit – für dieCDU/CSU 16 Jahre, für die F.D.P. 29 Jahre – angeht.
In den Jahren Ihrer Regierung ist der Eingangssteuersatzerhöht und nicht gesenkt worden; bei uns sinkt er. Bei Ih-nen haben die Sozialabgaben unerschwingliche Höhen er-reicht; bei uns werden sie wieder zurückgeführt. Der Spit-zensteuersatz, der Ihnen ja so wichtig ist, wurde in denJahren Ihrer Regierung nicht ein einziges Mal auf unter
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Rezzo Schlauch9773
50 Prozent gesetzt. Die Senkung des Spitzensteuer-satzes von 56 auf 53 Prozent wurde damals sozusagen alsSicherung des Standorts verkauft. Da kann ich nur lachen.
Das ist Ihre Bilanz der Steuersenkungen. Sie haben in die-sem Punkt überhaupt nichts vorzuweisen. Und deshalbfehlt Ihnen jede Berechtigung, hier die Backen aufzubla-sen.
Wie gesagt, man kann sagen: Die Steuern müssen wei-ter sinken. Wer will das nicht? Auch wir wollen das.
Nur, wenn man das ernsthaft will, muss man auch sagen,wie man das seriös finanzieren will. Auf diese Frage sindSie jede seriöse Antwort schuldig geblieben.
Was sagen denn eigentlich Ihre Landesminister zu allden Wohltaten, die Sie hier in Berlin versprechen? DieSpatzen pfeifen doch längst von den Dächern, dass das,was Sie hier an Vorschlägen für eine Steuerreform unter-breiten, den finanziellen Kollaps der Länder verursachenwürde. Wer seriös rechnet, der kommt zu dem Ergebnis –das ist Ergebnis der Berechnungen des Finanzministeri-ums in Baden-Württemberg –, dass aufgrund Ihrer Vor-schläge Baden-Württemberg 7 Milliarden DM wenigerim Haushalt hätte, Bayern 7,5 Milliarden DM und Hessen4 Milliarden DM. Und da sind wir auch beim Punkt: Da-durch werden die Länderhaushalte gesprengt. Deshalb istIhr Vorschlag äußerst unseriös.
Wollen Sie denn wieder die Neuverschuldung er-höhen? Darin waren Sie ja Weltmeister. Das haben SieJahr für Jahr gemacht, und zwar bis zu einer Höhe von1,5 Billionen DM. Wir werden das nicht machen. Wirwerden den Konsolidierungskurs dieser Regierung, dererfolgreich ist und auch von allen Seiten respektiert undgelobt wird, beibehalten. Ich kann nur sagen – das ist einAppell an die eigene Adresse –: Wir sind gut beraten, beidieser Konsolidierung kein Jota preiszugeben.
Ich möchte
zu dem noch weitergehenden Modell der F.D.P., dem nochehrgeizigeren Modell der F.D.P.
nicht viel sagen.
Ich denke, ein Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“ sagtda das Richtige. Die „Süddeutsche Zeitung“
schreibt:Dass die F.D.P.-Vorschläge in der aktuellen Diskus-sion keine Rolle spielen, hat einen einfachen Grund.Fromme Wünsche sind noch keine Realität. Im Er-gebnis will die F.D.P. ein gigantisches Steuersen-kungsprogramm auf Pump. Im Schuldenstaat Bun-desrepublik wäre das ein unverantwortlicher Hokus-pokus. Es ist ein in der Praxis widerlegter Unsinn,dass der Staat nur kräftig die Steuersätze senkenmuss und am Ende einfach mehr in den Kassen hat.
Dem ist eigentlich überhaupt nichts hinzuzufügen.
Herr Thiele, ich verstehe ja, dass die Opposition, wasSteuersenkungen angeht, nach dem Motto, das dem Sportentnommen ist, „Höher,
schneller, weiter“ verfährt.
Aber die Seriosität sollte dabei nicht auf der Strecke blei-ben.
Wir werden Konsolidierung und Steuersenkung paral-lel, Hand in Hand, durchführen, sodass die Konsolidie-rung nicht in Gefahr gerät und die Steuersenkungen ver-tretbar sind und bei den Bürgern ankommen.
Die Arbeitsmarktzahlen zeigen, dass wir auf demrichtigen Weg sind, die übrigen Wirtschaftsdaten ge-nauso. Im April hatten wir wieder weniger als 4 MillionenArbeitslose. Der Wert ist zwar zu hoch, aber er ist derniedrigste seit Jahren. Durch das Steuersenkungsgesetz –das besagen alle Prognosen und das sagen alle Institute –wird diese Entwicklung weiter an Dynamik gewinnen.Nach Jahren schwarz-gelber wirtschaftlicher Dürre
stehen wir vor einer Phase – –
Einer hat geschrieben: Es waren sieben magere Jahre undjetzt kommen die sieben fetten Jahre.
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Ich bin nicht so euphorisch, dass auch ich eine solche Vo-raussage mache. Nur, dass Ihre Jahre dürr und mager wa-ren und Ihre Politik bei den Leuten nicht angekommen ist,das hat doch nun wirklich die Bundestagswahl gezeigt.Wir haben diesen Trend umgekehrt. Ich weiß, dass eswehtut; auch Sie hätten gern den Aufschwung gehabt.Aber Sie haben ihn nicht bekommen. Wir gestalten ihnmit unserer Steuersenkung und mit unserer Haushalts-konsolidierung.
Dass Ihnen das wehtut, verstehe ich gut, weil Sie aufIhrem ureigensten Feld Niederlage für Niederlage ein-stecken müssen.
Wir machen Schluss mit dem lähmenden Streit zwi-schen Angebots- und Nachfragepolitik.
Wir verbessern die Rahmenbedingungen für Unterneh-men und stärken die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bür-ger in unserem Land. Wir werden diesen Weg konsequentweitergehen und so unser ehrgeiziges Ziel, die Arbeits-losigkeit spürbar zu senken, erreichen.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die „BerlinerZeitung“ titelt heute: „Unisono Kritik von Flensburg bisGarmisch“. Das ist das Urteil der Steuerberater,
die die Gesetze anzuwenden haben, die Sie hier verab-schieden wollen, die keine Vereinfachung, sondern eineVerkomplizierung bringen. Von der Systematik im Steu-errecht haben Sie sich leider meilenweit entfernt.
Wir hätten eine gute Steuerreform mit einer deutlichenSteuerentlastung unserer Bürger und Betriebe mit Wir-kung ab 1998 schon 1997 im Gesetzblatt haben können.Durch die parteipolitisch geprägte Blockade von OskarLafontaine und den Grünen hat Deutschland wertvolleZeit bei der Gestaltung der Zukunft unseres Landes ver-loren.
Die Blockade ging vom Bundesrat aus. Sie ging auch vonIhnen, Herr Finanzminister aus, der Sie seinerzeit nochMinisterpräsident von Hessen waren. Deshalb tragen Sieeine Mitverantwortung dafür, dass unser Land in diesenJahren nicht die nötigen Reformen hat durchsetzen kön-nen.
Es ist aber gut, dass Sie in Teilen dazugelernt haben –das bestreiten wir auch nicht – und nach der rot-grünenBlockade den Grundgedanken einer Steuerreform aufge-nommen haben. Die F.D.P. hat in dieser Frage immer ge-trieben. Wir haben immer erklärt, dass es in Europa undin der Welt auch einen Wettbewerb um das beste Steuer-system gibt. Die F.D.P. hat immer darauf gedrängt, dassunser Steuersystem wettbewerbsfähiger wird. Deshalbhaben wir uns im Dreistufenmodell dafür eingesetzt, denEingangssteuersatz auf 15 Prozent und den Spitzensteu-ersatz auf 35 Prozent zu senken. Steuern sollen nach denVorstellungen der F.D.P. niedrig, einfach und gerecht sein.
Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, dass die Koali-tion in ihrem Steuermodell den Eingangssteuersatz –Senkung auf 15 Prozent – von der F.D.P. übernommenhat.
Wenn Sie im letzten Sommer auf Ihren Fraktionsvorsit-zenden Struck gehört hätten, dann wären wir schon heutebei einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent
und die Problematik der unterschiedlichen Besteuerungvon Einkünften wäre vom Tisch.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die-ser Gesetzentwurf geht von einem falschen ideologischenAnsatz aus:
Rot-Grün behauptet – das tun der Bundeskanzler und derBundesfinanzminister –, Unternehmen müssten begüns-tigt werden, Unternehmer nicht. Hierbei übersehen Sie,dass 85 Prozent der Betriebe in unserem Land Personen-gesellschaften sind und von eigenverantwortlichen Un-ternehmern geführt werden.
Wie Sie den eigenverantwortlichen Handwerkern, Selbst-ständigen und mittelständischen Unternehmern erklärenwollen, dass ihre Tätigkeit steuerlich schlechter behandeltwird – und somit als schlechter zu bewerten ist – als dieTätigkeit der großen Kapitalgesellschaften, das bleibt uns
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Rezzo Schlauch9775
ein Rätsel. Ich halte diese Argumentation für abenteuer-lich.
Gleiches gilt für die Arbeitnehmer mit etwas höheremEinkommen: Dass sie einen höheren Steuersatz zu zahlenhaben als Kapitalgesellschaften, werden Sie ebenfallsnicht erklären können.
Bei Ihren Vergleichen – der Kollege Rauen hat schondarauf hingewiesen – bezüglich der angeblichen Netto-entlastung unterstellen Sie, dass es bis zum Jahre 2005 zukeiner Lohn- und Gehaltssteigerung und zu keiner Infla-tion kommt. Das geht voll an der Wirklichkeit vorbei.Deshalb führt Ihre Reform dazu, dass der normale Fach-arbeiter, die Krankenschwester, die Arbeitnehmer undLeistungsträger in unserem Staat durch Ihre Reform über-haupt nicht entlastet werden.
Das werden die auch merken, und zwar schon vor dernächsten Wahl. Das wird Ihr Reden von einer Nettoentlas-tung Lügen strafen.Sie schaffen mit dieser Steuerreform eine zusätzlicheBelastung der Leistungsträger in unserem Land. Sie redu-zieren die Einkommensgrenze für das Erreichen desSpitzensteuersatzes bis zum Jahre 2005 um 20 000 DM.Wenn Sie Wachstum und Inflation berücksichtigen wür-den – um die heimliche Steuerprogression herauszurech-nen –, dann müssten Sie die Grenze von derzeit120 000 DM um 20 000 DM erhöhen, statt sie zu senken,also nicht, wie jetzt, 98 000 DM, sondern 140 000 DMvorsehen.
Im Wahlkampf haben Sie die neue Mitte zur Ziel-gruppe erklärt. Mit diesem Steuergesetz machen Sie dieneue Mitte zur Zielscheibe Ihrer Politik. Das werden dieBürger merken. Dadurch werden leider nicht mehrArbeitsplätze entstehen. Wir freuen uns über das Sinkender Arbeitslosigkeit, aber wir wünschen uns mehr Arbeits-plätze in unserem Land. Auf diesem Feld muss etwas ge-schehen; da geschieht zu wenig.
Dass jetzt gerade die Grünen die höheren Belastungenkritisieren – Frau Kollegin Scheel heute im „Frühstücks-fernsehen“ –, ist natürlich absolut schizophren. Denn ge-rade unter Ihrem Vorsitz, Frau Kollegin Scheel, wurdedieses Steuergesetz im Finanzausschuss des DeutschenBundestages beschlossen
und mit Ihrer Stimme werden Sie es heute im DeutschenBundestag beschließen. Reden Sie doch nicht davon, wasman ändern kann; nehmen Sie doch Ihre Verantwortungim Finanzausschuss wahr und ändern Sie die Dinge, dieSie geändert haben wollen!
Dazu kann ich nur sagen: Ihnen und Ihrem Koalitions-partner von der SPD muss doch Ihr Spagat abenteuerlichvorkommen. Kaum beschließen Sie etwas, erklären Sie,dass Sie damit gar nichts zu tun haben und alles wiederändern wollen. Die Grünen müssen sich schon zwischenRegierung und Opposition entscheiden;
denn als Opposition in der Regierung können Sie eine ver-antwortliche Politik nicht betreiben.
Ich empfinde es als unfair und als Zumutung Ihren so-zialdemokratischen Koalitionsabgeordneten gegenüber,zu den vereinbarten und beschlossenen Gesetzen einfachnicht zu stehen. Sie wollen doch heute darüber abstimmenund beschließen,
dann können Sie sie doch nicht gleichzeitig kritisieren.Herr Minister Eichel, der Grundfehler Ihrer Reformbesteht darin, dass Sie sich von den ideologischen Vorga-ben Ihres Vorgängers Lafontaine nicht getrennt haben.Große Kapitalgesellschaften werden gegenüber kleinenund mittelständischen Betrieben und gegenüber den Ar-beitnehmern bevorzugt. Unternehmen sollen gefördertwerden, Unternehmer dagegen nicht. Einbehaltene Ge-winne sollen begünstigt werden, ausgeschüttete dagegennicht. Sie verletzen den marktwirtschaftlichen Grundsatzder Gewinnverwendungsfreiheit.
Gerade dieser Punkt zeigt, dass Sie immer noch der Irr-lehre anhängen, dass der Staat durch das Steuerrecht wer-tend in Unternehmensentscheidungen eingreifen soll. DieF.D.P. ist hier grundsätzlich anderer Auffassung. Der Staatsoll keine Investitionslenkung betreiben. Dazu bekennenwir uns. Ich fände es gut, wenn Sie diesen Grundsatz be-herzigen würden.
Mit diesem Gesetz sollen Wachstum und Beschäfti-gung angeregt werden. Das kann aber nur erfolgen, wenndurch eine echte und deutliche Nettoentlastung Antriebs-kräfte in unserem Land für Investitionen frei werden. Des-halb lehnen wir eine Verschlechterung der Abschrei-bungsbedingungen durch eine Veränderung der Ab-schreibungstabellen, wie Sie sie vorgesehen haben, ab;denn dieses wirkt wie eine Desinvestitionsteuer. Wir aberwollen, dass investiert und nicht desinvestiert wird. Wirwollen, dass Arbeitsplätze in unserem Land geschaffenwerden und die Wirtschaft modernisiert wird.
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Carl-Ludwig Thiele9776
Deshalb fordern wir Sie an dieser Stelle noch einmal auf:Nehmen Sie von den geplanten Verschlechterungen derAbschreibungstabellen endlich Abstand!
Die Kritikpunkte der F.D.P. an diesem Gesetzentwurfbleiben leider bestehen: Erstens. Der Gesetzentwurf führtzur unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Ein-kunftsarten. Große Kapitalgesellschaften werden gegen-über kleinen Betrieben und Arbeitnehmern bevorzugt.Zweitens. Die rot-grünen Steuerpläne sind nicht rechts-formneutral. Kapitalgesellschaften werden weitaus stär-ker entlastet als Personenunternehmen. Daran ändert auchdas hoch komplizierte Optionsmodell nichts, welchesmit Fallstricken sondergleichen versehen ist.Sie haben zum Beispiel beschlossen, dass nach einererfolgten Option eine Änderung für das gleiche Jahr nichtmehr erfolgen kann. Wenn sich aber die wirtschaftlichenVoraussetzungen anders darstellen, wenn Betriebsprüfun-gen zu anderen Ergebnissen kommen, können die Be-triebe überhaupt nicht mehr zurück. Das kann nicht rich-tig sein. Sie bauen die Kompliziertheit des Steuerrechtsaus, anstatt es zu vereinfachen. Sie überschütten die Fi-nanzämter und die steuerberatenden Berufe mit ineffizi-enter Arbeit. Der Unternehmer eines Betriebes hat in un-serem Land etwas anders zu tun, als sich mit den wirt-schaftlich ineffizienten Überlegungen herumzuschlagen,
ob er eine Option nutzen soll oder nicht und welche Aus-wirkungen das haben wird. Das kann nicht die Aufgabeder Betriebsinhaber in unserem Land sein.Deshalb fordern wir als F.D.P.: Streichen Sie die Opti-onslösung! Sie verkompliziert, sie ist nicht brauchbar, siemuss weg.
Drittens. Durch die Begünstigung des nicht entnom-menen Gewinns bei Kapitalgesellschaften und optieren-den Unternehmen maßen Sie sich eine volks- undbetriebswirtschaftlich schädliche Beeinflussung der Ge-winnverwendung durch das Steuerrecht an. Dies wider-spricht sämtlichen steuerrechtlichen Grundsätzen.Viertens. Die Einführung des Halbeinkünfteverfah-rens – das sind zwar technische Begriffe, die jedoch fürden Kleinaktionär direkte Auswirkungen haben – führtdazu, dass gerade der Kleinaktionär zusätzlich belastetwird. Wir wollen, dass es mehr Menschen in unseremLand gibt, die sich an den Werten unserer Gesellschaft be-teiligen können. Wir fordern, dass neben der Renten-versicherung zusätzliche Altersvorsorge aufgebaut wer-den kann. Aber Sie belasten gerade die kleinen Bürger miteinem Steuersatz bis zu 40 Prozent durch das Halbein-künfteverfahren.Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zum Vollanrechnungs-verfahren zurück. Das ist seinerzeit unter der soziallibe-ralen Koalition beschlossen worden. Dies führt zu einergleichmäßigen und leistungsgerechten Besteuerung indiesem Bereich. Deshalb: Verabschieden Sie sich vondem Halbeinkünfteverfahren!
Fünftens. Statt die Gewerbesteuer zu senken undschließlich abzuschaffen, mutet die Koalition den Betrof-fenen eine komplizierte Verrechnung von Einkommen-und Gewerbesteuer zu. Diese Verrechnung löst die Pro-bleme aber nicht; sie schafft enorme Schwierigkeiten beider Anwendung. Deshalb plädieren wir als F.D.P. dafür,die Gewerbesteuer komplett abzuschaffen, wenn auchnicht auf einen Schlag; das geht nicht. Man muss aber dasZiel im Auge haben, denn wenn man das Ziel im Auge hat,kann man in diesem Bereich auch etwas erreichen.
Wir leisten uns in Deutschland mit der Gewerbesteuereine im internationalen Vergleich einzigartige Sonder-steuer auf die Arbeitsplätze in unserem Land. Deshalbfreuen wir uns auch darüber, dass in der letzten Legisla-turperiode als erster Schritt die Gewerbekapitalsteuer ab-geschafft wurde. Wir müssen die gesamte Gewerbesteuerabschaffen. Dann haben wir auch eine erheblich bessereStruktur im Steuerrecht. Dann werden viele Brüche ent-fallen und diese Sonderlast kann endlich die Arbeitsplätzein unserem Land nicht mehr belasten.
Sechstens. Am heutigen Tag wird das Ergebnis derSteuerschätzung bekannt gegeben. Schon jetzt steht aberfest, dass spätestens im Jahre 2003 die Steuereinnahmenmehr als 1 000 Milliarden DM pro Jahr betragen werden.Das ist 1 Billion DM. Das zeigt auch, dass wir in unseremLand nach wie vor nicht zu wenig Staatseinnahmen, son-dern zu viele Staatsausgaben haben. Dort muss angesetztwerden. Deshalb müssen die Staatseinnahmen reduziertwerden. Das ist die Aufgabe, die wir zu erfüllen haben.
Herr Kollege Thiele,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rössel
von der PDS-Fraktion?
Gerne.
Herr Kollege Thiele,Sie haben soeben in Ihrem Beitrag für die zumindest mit-telfristige Abschaffung der Gewerbesteuer plädiert. Überdie politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen kannman streiten. Meine Frage ist: Welche Alternativen habenSie, um die daraus resultierenden erheblichen Einnah-meausfälle für die Städte und Gemeinden in Höhe vonjährlich rund 45 Milliarden DM dauerhaft zu kompensie-ren? Sie können doch nicht zulassen, dass die Städte undGemeinden ihre Investitionen nicht mehr finanzieren
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Carl-Ludwig Thiele9777
können, dass so genannte soziale Aufgaben nicht mehrdurchführbar sind und ökologische Aufgaben nicht mehrbewältigt werden können. Welche Alternativen haben Sie,die Sie in die politische Debatte einbringen können?
Ein Teil der Alternativ-
finanzierung ist schon in der letzten Legislaturperiode be-
schlossen worden. Wir fordern eine aufkommensneutrale
Steuerreform bei Abschaffung der Gewerbesteuer für die
Kommunen. Die Kommunen sollen sich nicht schlechter
stehen als bisher. Deshalb sollen die Kommunen einen ei-
genen Anteil an der Einkommensteuer mit Hebesatzrecht
erhalten und der Anteil der Kommunen an der Umsatz-
steuer soll erhöht werden. Sagen Sie doch nicht, dass eine
Reform nicht machbar sei. Bekennen Sie sich dazu zu sa-
gen: Die Gewerbesteuer ist ein Bruch in unserem Steuer-
system. Dieser Bruch muss beseitigt werden. Ich sage Ih-
nen: Wenn der Wille dazu besteht, wird auch die Lösung
gefunden werden. Sie wird dann sogar mit einer breiten
Mehrheit in diesem Hause gefunden werden können. Es
ist nur erforderlich, das Ziel im Auge zu haben.
Der Herr Kollege
Rössel will noch einmal nachfragen. Gestatten Sie das?
Ich bin der Auffassung,
dass die Zwischenfrage ausführlich beantwortet wurde.
Ich möchte in meinem Konzept fortfahren.
Zur Steuerschätzung und zu den Steuerbelastungen: In
der letzten Legislaturperiode haben die Grünen eine Steu-
erreform vorgelegt. Die Grünen – Frau Kollegin Scheel,
Herr Kollege Metzger – haben erklärt, es müsse gegen die
Nettoentlastungslüge vorgegangen werden. Das heißt, die
Steuerreform der Grünen sah nie eine Nettoentlastung
vor. Frau Scheel, Herr Kollege Schlauch, ich muss Ihnen
dazu schon gratulieren, denn die Nettoentlastung dieser
Steuerreform soll 45 Milliarden DM betragen. Die Mehr-
belastung aufgrund der Ökosteuer beträgt bis zum Jahre
2003 35 Milliarden DM. Jeder Bürger kann sich ausrech-
nen, wie hoch dann überhaupt noch die Nettoentlastung
ist. Das wollten Sie erreichen und das haben Sie erreicht.
Gerade diese Zahlen zeigen, dass die Steuerlast der
Bürger aufgrund der Mehrbelastung durch die Ökosteuer
nicht gesenkt, sondern erhöht werden sollte. Sie wollen
mehr Staatseinnahmen, Sie wollen mehr Staat, um mehr
für die Verwirklichung Ihrer Ideologie ausgeben zu kön-
nen.
Das lehnen wir als F.D.P. ab. Dazu haben wir eine kom-
plett andere Auffassung. Der Bürger muss netto stärker
entlastet werden, damit er diese Entlastung auch spürt.
Das ist auch der Grund, warum wir bei unserem Konzept
bleiben. Das ist von den Sachverständigen gelobt worden.
Dieses Steuergesetz von Ihnen muss systematisch ge-
ändert werden. Alle Einkunftsarten sind gleich zu behan-
deln. Der Mittelstand muss deutlich stärker entlastet wer-
den. Die steuerliche Ungleichbehandlung von Kapitalge-
sellschaften und Personengesellschaften wird von uns
nicht hingenommen werden, auch nicht im Vermitt-
lungsausschuss – das erkläre ich hier für die F.D.P. –, und
die Steuern für Bürger und Unternehmen müssen deutlich
und gleichmäßig gesenkt werden. Das Steuerrecht muss
grundlegend vereinfacht werden.
Deshalb kann ich Sie nur auffordern, Herr Finanzmi-
nister Eichel: Berücksichtigen Sie diese Grundsätze. Be-
rücksichtigen Sie diese Grundsätze auch im anstehenden
Vermittlungsausschussverfahren, denn eine Steuerreform
um jeden Preis machen wir nicht mit. Hier müssen deut-
liche Verbesserungen erreicht werden. Wenn sie nicht er-
reicht werden, dann wird das erste Vermittlungsaus-
schussverfahren noch nicht zum Erfolg führen. Dann wer-
den wir hier zeigen, dass systematisch etwas verändert
werden muss.
So billig und so falsch und so schlecht für den Mittel-
stand lassen wir dieses Gesetz nicht durchgehen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dassoll ja die größte Steuerreform der Koalition und der Bun-desregierung in der jetzigen Legislaturperiode werden.Das nehme ich zumindest an. Insofern ist die heutige De-batte wichtig.Ich finde erstens, dass die Voraussetzungen der Debattedadurch falsch angelegt sind, weil man sich, bevor manüber Steuersätze und ein Steuersenkungsgesetz spricht,eigentlich über die notwendigen Aufgaben eines Staatesverständigen müsste, um dann wiederum sagen zu kön-nen, welche Mittel der Staat braucht und welche Mittel ernicht braucht.
Diese Verständigung hat in diesem Hause eigentlich niestattgefunden.Wenn ich dann die Herbstdebatte nehme und sehe, dassdie Nettolohnanpassung bei Renten, Arbeitslosenhilfe,Arbeitslosengeld etc. ausgefallen ist, dann muss sich ein-fach die Befürchtung auftun, dass unter Einsparungen indiesem Zusammenhang letztlich Sozialabbau verstandenwird und das kann keine Richtung sein, die wir legitimie-ren.
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Dr. Uwe-Jens Rössel9778
Aber es geht ja viel weiter. Was will der Staat künftigzur gesetzlichen Rentenversicherung dazuzahlen? Wiewill er mit Mitteln in die Gesundheitsreform eingreifen?Welche Aufgaben hat die Polizei, welche der öffentlicheDienst generell? Wann soll es eine Angleichung derLöhne und Gehälter Ost und West im öffentlichen Dienstgeben?Alle diese Fragen müsste man eigentlich vorher stel-len, damit man weiß, wie viel Geld der Staat braucht, be-vor man sich dann über Steuersenkungspläne verständi-gen kann. Diese Fragen sind nie erörtert worden und dasist – zumindest nach unserer Auffassung – der Grund-mangel der Herangehensweise.
Ich sage Ihnen zweitens, dass dieses Gesetz selbstver-ständlich auch Vorteile hat – das werden wir gar nicht be-streiten –, die Senkung des Eingangssteuersatzes bei derEinkommensteuer, auch die Erhöhung des Existenz-minimums.Ich darf nur daran erinnern, dass gerade die jetzige Re-gierung in ihrer damaligen Rolle als Opposition eine vielhöhere Anhebung des Existenzminimums gefordert hat,als sie jetzt realisiert wird. Jetzt setzen Sie eher auf dieEntlastung von Veräußerungsgewinnen bei Aktiengesell-schaften, anstatt das Geld zu nutzen, um das Existenzmi-nimum deutlich stärker zu erhöhen.
Aber immerhin, es wird erhöht. Das findet auch unsereUnterstützung.Aber es gibt auch schwere Nachteile. Lassen Sie michjetzt zu den Nachteilen kommen, denn schließlich müssenSie Opposition von zwei Seiten erleben, sonst könnten Sieja gar nicht Mitte sein und das wollen Sie ja so gerne.Deshalb sage ich Ihnen als Erstes: Wir haben im Mo-ment weltweit in der Wirtschaft eine Art Krankheit: dieSehnsucht nach Fusionen. Der große Schrei der Kon-zerne, Banken und Versicherungen heißt nur noch Kaufenund Verkaufen. Man macht eigentlich gar nicht mehr sosehr mit Wirtschaft und mit Dienstleistungen Gewinn,sondern in erster Linie durch Spekulation, durch Verkäufeund Käufe.Nun könnte man ja sagen: Na und? Sollen sie dochkaufen und verkaufen. Das birgt aber mehrere Probleme.Erstes Problem: Wir erleben dadurch eine ungeheureKonzentration von Wirtschafts- und Finanzmacht, was imGrunde genommen Marktwirtschaft aushebelt. Die F.D.P.müsste aufkreischen, denn durch diese Monopolbildunggibt es natürlich keinen regulären Wettbewerb mehr.
Es gibt dadurch auch wirklich eine Machtkonzentration.
Zweites Problem: Jedes Mal ist bisher eine Fusion,sind Verkäufe dieser Art mit einem enormen Abbau vonArbeitsplätzen verbunden gewesen.Allein bei der Fusion der Deutschen und der DresdnerBank sollten 16 000Arbeitsplätze abgebaut werden. Den-noch hat die Bundesregierung diese Fusionspläne be-grüßt, anstatt sie schwer zu kritisieren, und hinterher hatder Kanzler lediglich gesagt, er habe schon besser vorbe-reitete Fusionen erlebt. Aber, dass 16 000 Arbeitsplätzevielleicht erhalten bleiben – das war für mich das Aus-schlaggebende am Scheitern der Fusion –, fand keine po-sitive Erwähnung.Es geht aber noch weiter. Auch Mitbestimmungsrechtewerden abgebaut. Die Degussa hat zum Beispiel erlebt,dass durch die Fusion Rechte verloren gegangen sind. Ar-beitnehmervertreter können bei Käufen, bei Verkäufen,bei Fusionen überhaupt nicht mehr mitbestimmen. Diesist ein Recht, das sie früher hatten.Wenn ich all diese negativen Seiten nehme, dann frageich mich: Weshalb muss diese Entwicklungen eine Regie-rung, die sie nicht verhindern kann – das weiß ich auch –,auch noch begünstigen, indem sie die Verkaufserlöse imRahmen von Fusionen von der Steuer freistellt? Das kos-tet Milliarden.
Diese Freistellung von der Steuer kostet bis zum Jahre2005 17 Milliarden DM, die an anderer Stelle fehlen.Jetzt komme ich ins Schleudern. Wir haben eine sozi-aldemokratisch geführte Regierung. Ich frage Sie: Wiesoll ich den Bürgerinnen und Bürgern Folgendes erklä-ren? Wenn ein Bäckermeister seine Bäckerei aus ge-sundheitlichen Gründen oder Altersgründen verkauft hat,dann musste er unter Kanzler Kohl nur die halbe Steuerzahlen. Die jetzige Bundesregierung unter Führung derSPD sagt: Das ist ungerecht, er muss die volle Steuer zah-len. Wenn aber die Deutsche Bank verkauft worden wäre,wäre dies unter Kanzler Kohl voll zu versteuern gewesen.Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung sagtnun, dass sie dafür keinen Pfennig Steuern sehen möchte.Das geht einfach nicht in meine Birne rein.
Was soll daran sozialdemokratisch sein? Wie soll ich dasjemandem erklären? Es fällt mir schwer, dies verständlichzu machen. Ich hoffe, Herr Bundesfinanzminister, Siewerden das erklären.Ich habe gerade von 17 Milliarden DM gesprochen.Dabei habe ich mich versprochen. Die Steuerfreistellungkostet 14 Milliarden DM. Durch die Senkung der Körper-schaftsteuer kommen noch 59Milliarden DM hinzu. Aberauch das betrifft in erster Linie Banken, Versicherungenund Konzerne und nicht Personengesellschaften. Das wis-sen Sie. Hier hilft die Spielkasinovariante – bei der hatman ein Optionsmodell; wenn man sich aber einmal ent-schieden hat, kommt man nicht wieder zurück – nicht wei-ter. Was machen Sie aus einem Unternehmer, der in derWirtschaft tätig sein soll? Soll er zum Steuerspieler und-spezialisten werden? Wie soll er auf Jahre entscheiden,
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Dr. Gregor Gysi9779
welche Vor- und Nachteile mit den Modellen verbundensind? Das ist abenteuerlich.Sehen wir uns doch einmal die Struktur der Personen-gesellschaften an. Für 5 Prozent würde sich das Ganzevielleicht lohnen, für 95 Prozent würde sich das auf garkeinen Fall lohnen. Hier bleibt eine tiefe Gerechtigkeits-lücke bestehen. Letztlich kommt heraus, dass Sie durchdie Senkung der Körperschaftsteuer und durch den Ver-zicht auf jede Steuer bei Gewinnen im Hinblick auf dieVeräußerung von Kapitalanteilseigentum an Kapitalge-sellschaften die Großen ganz extrem begünstigen. Es ge-schieht nichts Vergleichbares für kleine und mittelständi-sche Unternehmen, nichts Vergleichbares für Selbststän-dige und Freiberufler und damit nichts Vergleichbares indem Bereich, in dem tatsächlich Arbeitsplätze geschaffenwerden könnten. Das ist einfach nicht akzeptabel. Dasstößt auf unsere fundamentale Kritik.
Dazu sage ich auch: Es ist nicht nachvollziehbar. Wirhaben Ausfälle in Höhe von 74 Milliarden DM. Ich frageSie: Wo ist die Kompensation? Sie haben noch keinenVorschlag gemacht, wie Sie das gegenrechnen. Sie stelleneine Rechnung mit einer großen Unbekannten auf. Wel-che Einsparungen sind vorgesehen? Es mag ein bisschenplatt sein, aber hier mache auch ich jetzt eine „Milch-jungenrechnung“, Herr Bundesfinanzminister. Wenn Siejetzt 74 Milliarden DM verschenken können, dann kön-nen Sie nicht glaubwürdig machen, weshalb Sie imHerbst die 10 Milliarden DM für die normaleNettolohnanpassung bei Rente, Arbeitslosengeld, Ar-beitslosenhilfe und indirekt auch bei der Sozialhilfe nichthatten, die es bis dahin immerhin Jahr für Jahr gegebenhat, auch unter der früheren Regierung. Sie haben das aus-fallen lassen. Dann hätten Sie nicht 74 Milliarden DM,sondern nur 64 Milliarden DM verschenken können undschon hätten Sie die 10 Milliarden DM für die normaleNettolohnanpassung gehabt.
Das heißt, diese Steuersenkungen haben die Rentne-rinnen und Rentner, die Arbeitslosen, die Sozialhilfeemp-fängerinnen und Sozialhilfeempfänger zum Teil jetztschon bezahlt. Ich sage: Auf deren Kosten darf ein Staatnicht sparen. Das ist unsozial und nicht hinnehmbar.Wenn dies Kohl gemacht hätte, hätte ich mich in meinenideologischen Ansichten bestätigt gefühlt und wäre damitdurch das ganze Land gereist. Da Sie es gemacht haben,bringen Sie mich einfach durcheinander. Ich lasse michnicht gerne durcheinander bringen und schon gar nicht indiese Richtung.
Auch Ihre Vorstellung zu den einbehaltenen Gewin-nen überzeugt mich überhaupt nicht. Ich bin im Unter-schied zur F.D.P. der Meinung, dass Steuern Steuernheißen, weil man damit steuern kann. Man kann auf be-stimmte Verhaltensweisen orientieren oder man kann siedelegitimieren, je nachdem, was man politisch will. Inso-fern verstehe ich den Grundgedanken. Nur eines versteheich nicht, Herr Bundesfinanzminister: Wenn Sie einbehal-tene Gewinne bei der Besteuerung besser stellen als aus-geschüttete, dann müssen Sie natürlich wissen, dass Siedamit, was Kleinaktionäre usw. betrifft, Kaufkraft ein-schränken. Das widerspricht eigentlich der Theorie derSPD.Warum unterscheiden Sie nicht – das ist viel entschei-dender – wenigstens bei den einbehaltenen Gewinnen da-nach, ob sie tatsächlich investiert werden oder ob sie fürSpekulationen genutzt werden? Wenn Sie hier unterschei-den würden, dann würde eine pauschale Besserstellungvon einbehaltenen Gewinnen keinen Sinn machen. Jetztfördern Sie Investitionen genauso wie Spekulationen. Dasist keine arbeitsmarktpolitische Maßnahme. Es ist maxi-mal eine Hoffnung auf Belebung des Arbeitsmarktes, dieSie mit dieser Politik verbinden, die sich aber nicht erfül-len wird.Ihre Behauptung, dass ein Hauptgrund für den Mangelan Arbeitsplätzen in Deutschland die nicht ausreichendeEigenkapitaldecke der Unternehmen sei, stimmt nicht.Die Eigenkapitaldecke der Unternehmen in Deutschlandhat sich 1998 im Vergleich zu 1991 mehr als verdoppelt.Trotzdem sind keine neuen Arbeitsplätze geschaffen wor-den. Ihre Behauptung trifft nur – das ist das Problem mitpauschalen Beurteilungen – auf einen Teil der Unterneh-men zu. Die Unternehmen in Ostdeutschland sowie Exis-tenzgründerinnen und Existenzgründer haben ein riesigesProblem mit der geringen Eigenkapitaldecke. Das istwahr. Deshalb hätten Sie diese Gruppen fördern müssen.Aber mit der generellen Behauptung, die Eigenkapital-decke deutscher Unternehmen sei zu niedrig, leugnenSie die Tatsache, dass die großen Aktiengesellschaftenbereits eine riesige Eigenkapitaldecke haben. Sie habensich nichts Spezifisches für Existenzgründerinnen undExistenzgründer sowie für die ostdeutschen Unternehmenüberlegt, deren Eigenkapitaldecke tatsächlich so niedrigist, dass man hätte etwas verändern müssen. Deshalb kön-nen wir Ihre Vorschläge in der jetzigen Form nicht akzep-tieren.
Lassen Sie mich auch noch etwas zur sozialen Fragesagen. Es ist wahr: Die Klein- und auch die Normalver-dienenden werden steuerlich etwas entlastet. Sie profitie-ren von der Erhöhung des Existenzminimums und derSenkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent. Dasunterstützen wir. Hierüber scheint es einen Konsens imHaus zu geben. Wir würden uns natürlich ein höheresExistenzminimum wünschen. Aber das sind nicht Ihreeinzigen Maßnahmen.Eine weitere Maßnahme ist die Senkung des Spitzen-steuersatzes. Ich habe Herrn Poß geradezu mit Leiden-schaft zugehört, als er sagte – jetzt beginnt natürlich derscharfe Konflikt mit der CDU/CSU und derF.D.P. –, dass eine weitere Senkung des Spitzensteuersat-zes völlig unsozial und falsch sei. Das kann ich unterstüt-zen. Aber das gilt genauso für die von Ihnen, Herr Eichel,geplante Senkung des Spitzensteuersatzes um 8 Prozentbis zum Jahr 2005. Das ist unsozial; denn im Durchschnittwerden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einemJahreseinkommen von bis zu 100 000 DM um etwa
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Dr. Gregor Gysi9780
1 400 DM entlastet. Aber wenn das durchschnittliche Jah-reseinkommen über 100 000 DM liegt, dann beträgt dieEntlastung über 4 000 DM. Das heißt – Sie können es dre-hen und wenden, wie Sie wollen –, die Spitzenverdienerwerden viermal begünstigt: durch die Anhebung desExistenzminimums, durch die Senkung des Eingangs-steuersatzes, durch die Abflachung des Tarifverlaufs unddurch die Senkung des Spitzensteuersatzes.Natürlich werden durch die Senkung des Eingangs-steuersatzes und durch die Erhöhung des Existenzmini-mums immer auch Besser- und Bestverdienende mit be-günstigt. Auch wenn wir den Eingangssteuersatz senkenund das Existenzminimum erhöhen würden, könnten wirdas nicht verhindern. Das ist ganz klar. Aber durch dieSenkung des Spitzensteuersatzes machen Sie aus denBesser- und Bestverdienenden doppelt und dreifach Be-günstigte.Wenn das Ergebnis einer Steuerreform ist, dass jemandwie ich einen Jahresvorteil von 4 000 DM hat und derMaurer nur einen von 1 000 DM, der zum Beispiel durchdie Ökosteuer wieder verringert wird, dann ist das letzt-lich die Fortsetzung der Umverteilung von unten nachoben, wenn auch etwas abgeschwächt; denn solche Spit-zenverdiener wie ich sind die deutlich Begünstigteren imVergleich zu den Normalverdienerinnen und Normalver-dienern und erst recht im Vergleich zu den Geringverdie-nern. Das ist die unsoziale Komponente Ihres Steuersen-kungsgesetzes, das wir deshalb auch nicht unterstützenkönnen. Das möchte ich hier ganz klar formulieren.
Wenn ich mir die zukünftigen Auswirkungen der ge-samten Steuerreform anschaue, dann sehe ich noch einweiteres Problem, das bisher nur am Rande erwähntwurde, nämlich die Steuerausfälle, die gerade die fi-nanzschwachen Bundesländer treffen. Mecklenburg-Vor-pommern wird Steuermindereinnahmen in Höhe vonrund 580 Millionen DM im Jahr haben, Sachsen-Anhalt 660 Millionen DM und Brandenburg 500 Milli-onen DM. Es sind keine Alternativen in Sicht. Angesichtsdieser Steuermindereinnahmen schlägt der Bundesfi-nanzminister diesen finanzschwachen Bundesländernvor, einmal darüber nachzudenken, ob es nicht möglichsei, im Rahmen der Länderhoheit eine Vermögensteuer zuerheben. Sie wissen doch selbst, wie viele Vermögende indiesen Bundesländern leben! Mit einer Vermögensteuerkönnten diese Bundesländer gerade einmal dreieinhalbLeute besteuern. Das können Sie vergessen. Diese drei-einhalb Leute würden sofort nach Bayern umziehen,wenn eine Vermögensteuer auf Länderebene erhobenwürde.
– Ich lebe ja nicht dort; ich lebe in Berlin, Herr Bundes-kanzler. Ich weiß ja nicht, wo Sie Ihren Hauptwohnsitzhaben.
– Immer noch in Hannover! Ist es dort steuerlich noch im-mer am günstigsten?Angesichts der eben aufgelisteten Steuerausfällemöchte ich fragen: Welche Kompensationsmaßnahmensind für die Bundesländer vorgesehen? Wir können dieProbleme doch nicht einfach verschieben. Deshalb sageich Ihnen: Mecklenburg-Vorpommern wird Ihrer Steuer-reform im Bundesrat nicht zustimmen – das ist dochklar –; denn Sie bieten keine Kompensation für die Steu-erausfälle an. Das heißt im Klartext, dass die Länder nochweniger Geld haben werden, dass sie noch weniger alsWirtschaftsfaktoren auftreten können. Sie können denKommunen noch weniger Geld geben. Die Folge ist, dasswir gerade in den neuen Bundesländern keine Wirt-schaftskreisläufe zustande bekommen. Das heißt, eine po-sitive Wirtschaftsentwicklung für den Osten geht von die-sem Steuergesetz ganz bestimmt nicht aus. Ganz im Ge-genteil: Die Abstände werden sich noch vergrößern.
Damit wird auch die Angleichung der Löhne und Gehäl-ter auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden.Das ist nicht hinnehmbar.Trotz einiger Vorzüge des Gesetzes, die ich nicht be-streite, werden wir zu diesem Gesetzesvorhaben aus fol-genden Gründen Nein sagen: Die Steuerausfälle sindnicht gegengerechnet und wurden schon bisher durchSozialabbau bei Rentnerinnen und Rentnern, Arbeitslosensowie Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeemp-fängern bezahlt und werden künftig erst recht durch Sozi-alabbau finanziert. Die Großen, das heißt die Banken,Versicherungen und Konzerne, werden im Vergleich zukleinen und mittelständischen Unternehmen, Freibe-ruflern und Selbstständigen dauerhaft und extrem begüns-tigt. Letztere werden entweder in geringerem Umfangoder letztlich gar nicht entlastet bzw. müssen sogar nochdraufzahlen. Die Spitzenverdienerinnen und Spitzenver-diener werden im Vergleich zu Gering- und Normalver-dienenden mindestens vierfach begünstigt. Das ist dieFortsetzung der Umverteilung von unten nach oben.Ihr Vorhaben ist eine Steuerreform, die den Osten nichtvoranbringt, die Bundesländer insgesamt und vor allemdie finanziell schlecht gestellten Bundesländer schwächt.Dies können wir nicht hinnehmen, weil es zugleich eineSchwächung der Kommunen bedeutet. Das alles wird unswirtschaftlich nicht voranbringen. Wir hätten statt einerFörderung einen Widerstand gegen das internationaleSpielkasino gebraucht, in dem insbesondere die Aktien-gesellschaften begünstigt werden. Diese brauchen nichtIhre Hilfe, diese kommen alleine klar und von denen hät-ten Sie die Versteuerung des Veräußerungsgewinns durch-aus erwarten können.Ihre Hilfe dagegen brauchen die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, die kleinen und mittelständischen Un-ternehmen sowie die sozial Bedürftigen. Diese bekom-men die Hilfe nach diesem Steuergesetz nicht. Das ist un-ser Problem damit und deshalb werden wir Nein dazu sa-gen.
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Dr. Gregor Gysi9781
Ich erteile dem Bun-
desminister der Finanzen, Hans Eichel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist inder Tat bemerkenswert, wie diese Gesetzgebung die Fron-ten im Deutschen Bundestag durcheinander bringt. Ichstelle fest: Fundamentalopposition von der PDS und derF.D.P. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Gemeinsam-keit!
Ich gehe jede Wette ein, dass Herr Kollege Möllemann,der sich erfolgreich aus dem Bundestag verabschiedet hat,der Erste wäre, der diesem Gesetz zustimmten würde,wenn er in Nordrhein-Westfalen in der Regierung säße.
– Ja, so wäre das.Als Zweites sage ich zur CDU/CSU: Verehrter HerrRauen, es ist eine spannende Veranstaltung. AnderthalbJahre sind Sie in der Opposition und halten solche Reden.Sie waren 16 Jahre in der Regierung und ich will Ihneneinmal sagen, was Sie in den 16 Jahren gemacht haben:
Sie haben in den ganzen 16 Jahren den Spitzensteuersatzum drei Punkte gesenkt; wir dagegen senken ihn um achtPunkte in sechs Jahren.
Den Eingangssteuersatz haben Sie einmal um dreiPunkte gesenkt und dann wieder um drei Punkte herauf-gesetzt. Wir dagegen senken ihn um rund 11 Prozent-punkte im Laufe von sechs Jahren.
Das steuerfreie Existenzminimum haben Sie so geringgehalten, dass das Bundesverfassungsgericht Ihnen dieVerfassungswidrigkeit bescheinigen musste.
Die Familien haben Sie so hoch besteuert, dass das Bun-desverfassungsgericht Ihnen auch hierfür die Verfas-sungswidrigkeit bescheinigen musste. Wir mussten das inOrdnung bringen.
Übrigens: In den Petersberger Beschlüssen – Ihre Kro-kodilstränen sind toll; Herr Schlauch hat das zu Recht be-merkt – setzte der Spitzensteuersatz mit einem zugegebe-nermaßen niedrigeren Satz schon bei 90 000 DM ein, beiuns erst bei 98 000 DM. Wie glaubwürdig ist denn all das,was Sie erzählt haben?
Wenn es Ihnen, sehr verehrter Herr Rauen, so um dasWohl der arbeitenden Menschen geht: Was haben Siedenn mit dem Wohngeld gemacht, was haben Sie mit demKindergeld gemacht,
was haben Sie mit dem BAföG gemacht? Alles haben Siegedeckelt! In keinem einzigen Fall haben Sie die Leistun-gen entsprechend der Inflationsrate angepasst, sodass derKreis der Berechtigten immer kleiner geworden ist undwir, verehrter Herr Gysi, müssen das alles mit unsererSparpolitik wieder anheben. Wir können das aber nicht inzwei oder drei Jahren in Ordnung bringen, was Sie in 16Jahren an Sozialabbau geleistet haben. So glaubwürdigsind Sie mit Ihrer ganzen Debatte!
Von der kalten Progression, mit der Sie völlig Rechthatten und die wir von Zeit zu Zeit immer wieder korri-gieren müssen, war doch in Ihrem Konzept überhauptnicht die Rede. Das ist doch die Wahrheit. Sozialabbau aufder ganzen Front!Was den Eingangssteuersatz anbetrifft, so ist dies einewunderbare Geschichte. Herr Merz ist zuerst mit 19 Pro-zent gekommen und Herr Faltlhauser musste ihn auf un-sere Linie von 15 Prozent bringen. Das ist doch alles dieWahrheit, mit der wir es zu tun haben, meine Damen undHerren.
Wenn in Ihrer Regierungszeit alles so wunderbar ge-wesen ist, dann stellt sich doch die Frage, warum wir jetztdie höchste Staatsverschuldung in Deutschland haben,die wir nach dem Kriege je hatten.
Warum ist denn in Ihrer Zeit die höchsteArbeitslosigkeiterreicht worden, die wir jemals in Deutschland hatten?Warum müssen wir denn die Sozialsysteme in Ordnungbringen, wenn alles in Ihrer Zeit so wunderbar gewesenist?
Warum eigentlich müssen wir Deutschland im internatio-nalen Wettlauf um höhere Wachstumsraten wieder nachvorne bringen? Warum steht seit 1995 Deutschland anzweitletzter Stelle in der Europäischen Union, wenn Sieso prächtige Arbeit geleistet haben, meine Damen undHerren?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 20009782
Wenn Sie sich wenigstens einigermaßen in der Konti-nuität Ihrer Politik bewegt oder auf die Sache eingelassenhätten, müsste ich jetzt nicht so einsteigen. Aber so gehtes wirklich nicht. Eine solche Regierungsbilanz nach16 Jahren, und anderthalb Jahre später halten Sie in derOpposition solche Reden! So geht es doch nicht.
Meine Damen und Herren, zu den Spezialitäten dieserDebatte gehört auch – insoweit hat Herr Gysi übrigensRecht –, dass Sie hier immer noch viel größere Steuer-senkungen fordern. Wenn Ihre Rechnungen richtig wären,Herr Rauen, warum sagte dann der saarländische Minis-terpräsident in einer öffentlichen Diskussionsveranstal-tung mit mir, mehr Entlastung könne das Saarland garnicht vertragen? Sie schreiben also doch offenbarSchimären in Ihr Steuerentlastungspapier.
Warum sagt denn der hessische Finanzstaatssekretär, Hes-sen sei mit dieser Steuerreform an der Grenze seiner Leis-tungsfähigkeit angelangt? Das ist doch öffentlich nachzu-lesen. Warum sagt mir ein Finanzminister mit Ihrem Par-teibuch – den Namen werde ich jetzt nicht nennen –, seinBundesland könne das überhaupt nicht tragen? UnsererPolitik stehen Ihre Schimären gegenüber und Sie tun so,als hätten die Länder mit Ihrem Konzept keine Probleme.Aber das ist Unsinn und Sie wissen das auch ganz genau.Deswegen möchte ich jetzt zum wirklichen Sachver-halt kommen. Hier müssen wir, meine Damen und Her-ren, drei Dinge zur gleichen Zeit sehen. Erstens müssenwir raus aus der Schuldenfalle.
Übrigens ist das in Deutschland sehr populär. Wenn ichmir den Luxus leiste – ich leiste ihn mir des Öfteren, wennich abends Zeit habe –, mich in eine Kneipe zu setzen, wasglauben Sie, wie oft ich von Leuten angesprochen werde,die sagen, sie seien Anhänger oder sogar Parteigänger vonIhnen? Aus Ihrem Wahlkreis, Herr Kollege Waigel, habenmich gerade vorgestern Abend am Potsdamer Platz Leuteangesprochen.
Sie haben mir gesagt: So wie Sie jetzt die Politik einlei-ten, indem Sie wirklich aus der Schuldenfalle herausge-hen, ist es endlich gut. – Das ist die Wahrheit und das wis-sen Sie auch.
Das ist die eine Seite der Sache. Von dieser Seite re-det – das halte ich für einen schweren Fehler – allerdingsHerr Kollege Gysi gar nicht. Wir können Mecklenburg-Vorpommern nicht helfen, wenn wir es nicht schaffen, ausdieser Schuldenfalle herauszukommen. Wissen Sie denn,wo wir sind? Wir zahlen mehr Zinsen auf unsere Schul-den, als wir Investitionen tätigen, und zwar seit der Re-gierungszeit von CDU/CSU und F.D.P.
– Regen Sie sich doch nicht so auf, Herr Repnik. Ich be-schreibe einen Sachverhalt, den Sie kennen.Wir nehmen nur noch Kredite auf, um Zinsen für alteSchulden bezahlen zu können. Getilgt wird nichts. Dasnennt sich solide Finanzpolitik der BundesrepublikDeutschland. Sie sollten sich schämen, dass Sie uns so et-was hinterlassen haben!
Weil man nicht von dieser Stelle aus immer nur sagenkann, man müsse mit den Steuern herunter, ohne die an-dere Seite zu bedenken, muss man – da hat Herr Gysi jaRecht – in der Tat einmal fragen, was zwischen den Ein-nahmen, die wir nicht erlangen können, und den Ausga-ben, die wir nicht tätigen können, weil alles zu zusätzli-cher Staatsverschuldung führt, passiert. Dazwischen ge-schieht folgendes: In allen Haushaltsberatungen sagenSie, hier und da und dort würden wir zu wenig ausgebenund alles kaputtsparen. So kann doch keine vernünftigeund seriöse Finanzpolitik betrieben werden, meine Da-men und Herren.
Deswegen ist es überhaupt die erste Voraussetzung,wenn man einen glaubwürdigen Beitrag zu dieser Debatteleisten will, dass man sich Gedanken darüber macht, wieman sich Spielräume für Steuersenkungen verschafft. Dasheißt, die Ausgabenseite des Haushaltes in Ordnung zubringen. Als ich dieses Vorhaben im vorigen Sommer an-gefangen habe, habe ich auf Ihrer Seite keine Leiden-schaft dafür festgestellt.
Die ganze Bundesregierung arbeitet daran gemeinsamund geschlossen. Von Ihnen aber habe ich nur gehört, esgehe nicht und sei an vielen Ecken nicht zu machen. WennSie sich so leidenschaftlich für die Senkung der Staats-schulden einsetzen würden, wie Sie sich hier für die Sen-kung der Steuern für Spitzenverdiener einsetzen, würdenwir uns viel besser verstehen.
Das ist die eine Flanke. Natürlich sind wir zu Kompro-missen bereit. Wer keine eigene Mehrheit hat, muss dasmit dem Bundesrat aushandeln. Das ist keine Frage.
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Bundesminister Hans Eichel9783
– Darauf komme ich, Herr Kollege Repnik, sofort nocheinmal zurück. – Die Grenze unserer Kompromissfähig-keit hierbei steht fest: Es wird mit uns keine Steuerreformgeben, die gleichzeitig dazu führt, dass sich das Tempoder Staatsverschuldung wieder erhöht. Wir müssen ausder Schuldenfalle heraus und zu ausgeglichenen Haushal-ten kommen. Ich richte nun an Ihre Adresse die Frage:Wollen Sie das auch?
Ich habe jetzt gerade die Steuerschätzungen vorlie-gen. Eine Reihe von Leuten haben bei diesen Schätzun-gen ja ihre finanzpolitische Reputation verloren. Wir ha-ben nämlich inzwischen seriöse Grundlagen für Steuer-schätzungen; das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen.Diese kommen zu dem Ergebnis, dass es keine nennens-werten Abweichungen gibt. Ich lese es Ihnen gleich vor:Im Jahr 2000 beträgt die positive Schätzabweichung fürden Gesamtstaat 5,1 Milliarden DM, davon entfallen1,8 Milliarden DM auf den Bund. Manche sagen jetzt, daskönne man sofort zur Steuersenkung einsetzen. Ich weiseaber auf eine Kleinigkeit hin: Wir machen in diesem Jahr50 Milliarden DM neue Schulden. Man muss sich docheinmal vor Augen führen, was vor diesem Hintergrund fürDebatten geführt werden. Als privater Schuldner könntenSie sich eine solche Diskussion gar nicht leisten.Im Jahre 2001 betragen die Steuermehreinnahmenim Gesamtstaat 3 Milliarden DM, davon entfällt 1 Milli-arde DM auf den Bund; im Jahre 2002 sind es 4,1 Milli-arden DM für den Gesamtstaat und 1,1Milliarden DM fürden Bund,
im Jahre 2003 sind es 7,1 Milliarden DM für den Ge-samtstaat und 2,5 Milliarden DM für den Bund. Das sindaber Abweichungen, die sich im Rahmen des Üblichen beiSchätzungen bewegen. So sieht die Wirklichkeit aus, mitder wir es zu tun haben. Nachdem wir jetzt seriöse Grund-lagen haben, werden wir nicht mehr den Reinfall erleben,den wir früher bei jeder Steuerschätzung erlebt haben. Wirspielen nämlich kein Roulette, sondern hier wird seriösgearbeitet. Nichts anderes. Deshalb können Sie auf diesenPunkt nicht setzen.
Auf der einen Seite müssen wir heraus aus der Schul-denfalle. Ich möchte wissen, wie Sie das machen wollen.Auf der anderen Seite müssen wir die Steuern und Abga-ben senken; aber nur dann, wenn Sie die Ausgabenseite imGriff haben – ich weiß nicht, welcher Kollege es gesagthat, aber er hat Recht damit –, sind doch Steuer- und Ab-gabensenkungen überhaupt glaubwürdig. Ich glaube,Herr Kollege Poß war es, der zu Recht gesagt hat, dasswir, wenn wir jetzt Steuersenkungen auf Pump finanzie-ren, damit Steuererhöhungen für die Zukunft beschließen.Das wäre völlig unglaubwürdig. So können Sie doch keinVertrauen schaffen, weder bei den Bürgern noch bei derWirtschaft.
Nun zur Entlastung: Erstens müssen wir – Sie blendenda eine ganze Menge, übrigens auch aus Ihren eigenenReden, bewusst aus – die gesamte Steuer- und Abgaben-politik dieser Regierung, seit sie angetreten ist, zusam-mennehmen. Dann ist der Fall völlig eindeutig, denn esgibt eine massive Entlastung. Natürlich gibt es, HerrRauen, die kalte Progression, sie führt allerdings auch zuKostenerhöhungen für alle. Das möchte ich nur nebenbeisagen, denn auch Sie selber wissen das. Natürlich bewegtsich die Entlastung genau in der Größenordnung, wie wirsie errechnet haben. Deswegen stöhnen ja auch die Län-der. Es gibt also zunächst fast 57 Milliarden DM für dieprivaten Haushalte. Nach und nach baut sich das nachhal-tig in drei Stufen auf.Wir bekennen uns allerdings dazu, dass wir denSchwerpunkt bei den unteren Einkommen gesetzt haben.Mit dem Schwerpunkt auf den unteren Einkommen tragenwir zur Steigerung der Binnennachfrage bei, mit demSchwerpunkt auf den unteren Einkommen geben wir denMenschen eine Chance, mehr Eigenvorsorge für die Zu-kunft und für die Rente zu betreiben, was nötig ist. Wirsetzen den Schwerpunkt auf die unteren Einkommen, weilwir den Umstieg aus der Abhängigkeit von Arbeitslosen-geld und Arbeitslosenhilfe in normale Beschäftigungsver-hältnisse erleichtern müssen.Kommen Sie mir im Zusammenhang mit diesem Punktdoch nicht mit Ökosteuer und Lohnnebenkosten. Sie ha-ben beides hoch getrieben: Die Mineralölsteuer wurdevon 1989 bis 1994 um 50 Pfennig und die Lohnnebenko-sten wurden um 3 Prozent erhöht. Wir treiben die Mine-ralölsteuer nicht so hoch und senken noch die Lohnne-benkosten. Wegen Ihrer eigenen Regierungspraxis sindSie die ungeeignetsten Kritiker in diesem Punkt.
Da Sie so am Spitzensteuersatz hängen, weise ich auffolgenden Punkt hin. Seit den 50er-Jahren haben Sie zweiDrittel der Zeit den Finanzminister gestellt. In dieser Zeitist das Zusammenschnurren von oben und unten, das Siean dieser Stelle richtig beschrieben haben, doch von Ihnenzu verantworten gewesen. Es gab keinen Versuch, das zuverändern; auch nicht in den Petersberger Beschlüssen.Bleiben Sie doch redlich und geben Sie dieses angesichtsder Tatsache zu, dass Sie dieses Thema plötzlich zumZentrum Ihrer Debatte machen! Das ist doch mehr das Er-gebnis Ihrer als unserer Politik. Das muss einmal festge-halten werden.
Im Übrigen befinden wir uns mit unserem Vorschlagbezüglich des Spitzensteuersatzes an zweitniedrigsterStelle in der Europäischen Union.
Was den Eingangssteuersatz anbelangt, liegen wir im Mit-telfeld. Dieser Punkt muss festgehalten werden. Sie müs-sen den Menschen erklären, wie Sie zum Beispiel die rund30 Milliarden DM, die Sie im Rahmen Ihres Steuermo-dells für die Absenkung des Spitzensteuersatzes auf
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Bundesminister Hans Eichel9784
35 Prozent zusätzlich brauchen, finanzieren wollen. Ichbin da auf den Vermittlungsausschuss gespannt.Sie haben Recht, dass ich den Vermittlungsausschussvon innen kenne: Ihre Vorschläge halten Sie nur so langeaufrecht, wie sie öffentlich diskutiert werden und so langeklar ist, dass es im Vermittlungsausschuss keine Mehrheitdafür gibt. Genauso lange bestehen Ihre Vorschläge undkeinen Augenblick länger.
Ich war schon auf dem Petersberg dabei. Damals habenIhre Kollegen Finanzminister von CDU, CSU und F.D.P.gesagt: Ihr bleibt doch standhaft! – Das ist die Wahrheit.
Die Länder konnten es nicht finanzieren. Das wissen Sieganz genau. Deswegen haben Sie die Vorschläge am Endeder Wahlperiode vorgelegt, weil Sie wussten, dass Siediese Vorschläge am Ende der Wahlperiode nicht mehrumsetzen konnten.
Wir legen unsere Vorschläge am Anfang der Wahlperiodevor. Bei Ihnen gab es diesbezüglich ein großes Versäum-nis.
Zweitens: Entlastung der Unternehmen. Sie, Herr Kol-lege Merz, müssen nur Ihre eigenen Reden vom Frühjahrdes vorherigen Jahres nachlesen. Damals haben Sie genaudas Gegenteil von dem behauptet, was jetzt Herr Rauenerzählt. Herr Rauen sagt nämlich: Ihr entlastet die Großenund die Kleinen kommen schlecht weg. – Im vorigenFrühjahr haben Sie genau das Gegenteil erzählt.
Sie haben gesagt, wir würden eine Steuerpolitik machen,um die Großen zu vertreiben. Was denn nun?Die Wahrheit ist einfach. Es ist beides richtig und bei-des falsch. Das heißt, die Großen sind in der Tat durch dasSteuerentlastungsgesetz belastet worden. Sie werden aberentlastet durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes.Am Schluss geht es für diese Unternehmen praktisch nullfür null auf. Die 20 Milliarden DM Entlastung für die Un-ternehmen kommen ausschließlich bei den kleinen undmittleren Unternehmen an.
Übrigens ist es eine spannende Frage, welche Unter-nehmen Sie als kleine und mittlere Unternehmen definie-ren. Wir nehmen die Definition des Instituts für Mittel-standsforschung: Kleine und mittlere Unternehmen sindsolche, die bis 500 Arbeitsplätze und bis 100 Milli-onen DM Umsatz haben. Ich kenne aber Betriebe vonganz anderer Größenordnung, die noch als Personenge-sellschaft geführt werden und die den von ihnen aus ver-ständlichen, von mir aus aber nicht hinnehmbaren Ver-such machen, durch Kombination die Vorteile aller Be-steuerungssysteme für sich zu nutzen. An diesem Punktmache ich allerdings nicht mit.
Herr Kollege Eichel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, von
mir aus gerne.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesfinanzminister,
ich habe nur eine ganz kurze Frage: Würden Sie einräu-
men, dass die Belastungen der Großen entweder zeitlich
befristet oder nur einmalig sind, während die Entlastun-
gen dauerhaft sind, sodass letztlich für die Großen eine
sehr viel größere Entlastung herauskommt? Einmalige
oder zeitlich befristete Belastungen kann man nicht Ent-
lastungen gegenüberstellen, wenn die Großen über Jahre
und Jahrzehnte dauerhaft entlastet werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr ver-ehrter Herr Kollege Gysi, Sie haben Recht und auch wie-der nicht Recht. Die Entlastung gilt für alle Unternehmen.Die Abschreibungen sind nur Streckung der Steuerschuld.Sie sind ein Finanzierungsinstrument und kein Steuerer-lass. Insofern gilt diese Regelung für den gesamten Un-ternehmensbereich, also für die kleinen und mittleren ge-nauso wie für die großen Unternehmen. Es gibt in diesemBereich eine Entlastung.
Nun komme ich zu einer Frage, auf die ich von Ihneneine Antwort hören möchte. Ich gehe ein auf das ThemaGleichmäßigkeit der Besteuerung der verschiedenenEinkunftsarten und Verwendungen. Wir regeln hier etwas,was seit 50 Jahren das Handwerk und den Einzelhandelmassiv belastet und ärgert. Ich kenne dieses Problem, weilmein Vater Freiberufler, nämlich Architekt war. Er hättesich nie im Leben damit einverstanden erklärt, Gewerbe-steuer zu zahlen.Der Handwerksmeister hat aber immer gesagt: Wirverstehen überhaupt nicht, wieso wir Gewerbesteuer zah-len und der Anwalt und der Zahnarzt zahlen sie nicht. Wirbeseitigen diesen Missstand. Jetzt erklären Sie mir ein-mal, warum Sie nicht zustimmen, wenn wir diesen Miss-stand beseitigen. Das möchte ich von Ihnen jetzt wissen.
Wir werden in jede einzelne Handwerksversammlunggehen und sagen: Genau das, was ihr seit 50 Jahren be-klagt, dass ihr nämlich mehr Steuern zahlen müsst als die
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Bundesminister Hans Eichel9785
Freiberufler und als der normale Arbeitnehmer, weil es füreuch die Sonderbelastung Gewerbesteuer gibt, beseitigenwir für euch als Kostenfaktor. Aber – das werden wir ih-nen auch sagen – CDU, CSU und F.D.P., die klassischen„Mittelstandsparteien“, sind dagegen. Das werden Sie ih-nen erklären müssen. Da werden Sie noch viel Zeit brau-chen.
Da hilft mir der Hinweis, man müsse die Gewerbe-steuer abschaffen, überhaupt nicht. Selbst wenn ich darü-ber nachdenke, muss ich Ihnen sagen: Die Vorschläge, dieich von Ihnen zur Einkommensteuer gehört habe, sindschlicht verfassungswidrig. Sie wissen genau, dass wir inder Verfassung die Garantie einer wirtschaftsbezogenen,mit Hebesatzrecht ausgestatteten Steuer haben. Alsowird es nur funktionieren – da liegt übrigens in Wirklich-keit ein Weg über das Optionsmodell, meine Damen undHerren –, wenn wir zu einer wirtschaftsnahen Steuer kom-men, bei der auch die Kommunen ein Hebesatzrecht krie-gen. Ich würde das an Ihrer Stelle nicht wegwerfen. Dasist nämlich in Wirklichkeit eine richtige Schneise in dieZukunft. Da läge eine Chance. Sie werden es über die Ein-kommensteuer nicht machen können; das ist verfassungs-widrig.Im Übrigen gibt es aus gutem Grund eine wirtschafts-bezogene Steuer der Kommunen,
weil die Kommunen nämlich Interesse am Wohlergehender Wirtschaft vor Ort haben sollen. Ergo gab es für unsnur die Situation, entweder auf Ihre Forderung einzuge-hen und die Gewerbesteuer abzuschaffen – das hätte be-deutet, diese Steuerreform mindestens um vier oder fünfJahre zu vertagen, weil man sie dann mit einer Gemein-definanzreform verbinden muss –, oder sie jetzt zu ma-chen und das große Problem, die besondere Belastung desHandwerks und der mittelständischen Betriebe durch dieGewerbesteuer, zu beseitigen. Genau das tun wir, und Siewerden erklären müssen, warum Sie das nicht wollen.
Damit komme ich zum Thema Kapitalgesellschaftenund Personengesellschaften.Dass das, was Sie erzählen,falsch ist, wissen Sie ganz genau. Ich habe es hier schonein paar Mal erklärt, ich werde es auch in jeder Ver-sammlung wieder sagen. Ich nehme übrigens an vielenMittelstandsversammlungen teil. Da komme ich ganzprima klar, die können nämlich rechnen.
38 Prozent Definitivbesteuerung als Durchschnittssatz er-reicht der Mittelständler, der einzelne Unternehmer, un-verheiratet, erst, wenn er einen steuerpflichtigen Gewinnvon mehr als 200 000 DM ausweist, wenn er verheiratetist, von mehr als 400 000 DM.
Ich sehe die Mittelständler jedes Mal vor mir: Die rech-nen dann einen Moment und sagen, davon sind wir garnicht betroffen. Richtig. Nur 5 Prozent der mittelständi-schen Personengesellschaften kommen über diesen Ge-winn hinaus und sind davon betroffen. Alle anderen habeneine niedrigere tarifäre Belastung als die Körperschaften,meine Damen und Herren. Das ist die schlichte Wahrheit.
Dass übrigens dennoch die Körperschaften keineschlechte Form für die kleinen Betriebe sind, das wissenSie auch. Es gibt nämlich eine Fülle von kleinen Unter-nehmen, die Körperschaften sind. Deswegen ist das, wasSie erzählen, falsch. Das Optionsmodell ist doch keinSteuersparmodell, mal rein, mal raus. Das macht übrigensauch kein Betrieb; das ist ja völliger Unsinn.
Er entscheidet sich einmal, und zwar bereits am Anfang,für eine Rechtsform. Deswegen ist die Frage nach der Op-tion nichts anderes als die Frage nach seiner Rechtsform,von gleicher Schwierigkeit. Nur muss er sie dieses Malgar nicht beantworten.
Er kann nämlich – das ist doch eine Stärkung der Perso-nengesellschaften – Personengesellschaft bleiben undkann, wenn er es will, alle Vorzüge der Körperschaftsteuerin Anspruch nehmen. Das ist eine Wahlfreiheit für die Un-ternehmen, verehrter Herr Thiele.
Weshalb das die F.D.P. stört, verstehe ich überhaupt nicht.
Außerdem funktioniert das in Frankreich und in den Ver-einigten Staaten. Es gibt eine Reihe europäischer Länder,die ihre Personengesellschaften steuerlich grundsätzlichwie Körperschaften behandeln.Ich sage Ihnen: Denken Sie noch einmal über denPunkt nach, dass hier in Wirklichkeit – und zwar rechts-formunabhängig – eine Chance für die Zukunft des Steu-errechts und für die Zukunft einer rechtsformneutralenUnternehmensbesteuerung liegt. Ich würde das an IhrerStelle nicht ablehnen. Eine Reihe Klügerer haben das in-zwischen sehr genau begriffen. Deswegen ist das allesfalsch. Die Personengesellschaften werden tarifär weni-ger belastet, und die 20 Milliarden DM an Einnahmeaus-fall kommen ja auch irgendwo her.
Nun zu einem anderen Punkt: Gleichmäßigkeit derBesteuerung.Wer wie Sie für eine Abgeltungssteuer beiKapitaleinkünften plädiert, soll doch von der Gleichför-migkeit der Besteuerung unabhängig vom Einkommennicht mehr reden; denn die Abgeltungssteuer ist nichts an-
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Bundesminister Hans Eichel9786
deres als eine niedrigere Besteuerung der Kapitalein-künfte bei höheren Einkommen als die normale Be-steuerung der Arbeitnehmer und ihrer Arbeitstätigkeit.
Auch das wollen wir einmal festhalten.Dann zu dem entnommenen und im Unternehmen ver-bleibenden Gewinn. Die Sache ist doch anders: Bisheute – das haben Sie zu vertreten – benachteiligen wirden im Unternehmen reinvestierten Gewinn. Der Aus-schüttungssteuersatz bei der Körperschaftsteuer beträgt30 Prozent, die Steuer für den einbehaltenen Gewinn40 Prozent. Auch so kann man Unternehmen kaputtma-chen! Wundern Sie sich nicht über die hohe Zahl von In-solvenzen, die wir in Deutschland haben.
Wer über die Frage nachdenkt, wie wir zu einer stabi-leren Unternehmensstruktur und zu weniger Insolvenzenkommen – übrigens gehen sie in unserer Zeit zurück;
darauf will ich einmal hinweisen –, kommt direkt zum Be-richt der Deutschen Bundesbank vom Oktober vergange-nen Jahres, der im Vergleich Deutschland/Frankreichklargemacht hat, dass – übrigens nicht nur im Osten, HerrKollege Gysi, aber da besonders – die Unternehmen einezu geringe Eigenkapitalausstattung haben. Es ist Unsinn,die Entnahme steuerlich zu privilegieren. Genau das ha-ben wir aber vorgefunden. Jedes Unternehmen muss an-ständig investieren; sonst hat es keine Zukunft. Ein Un-ternehmen ist doch keine spekulative Veranstaltung, son-dern hat auch eine Verantwortung.Deswegen wollen wir von Ihnen ganz genau beant-wortet bekommen, wie Sie das regeln wollen. An derStelle haben wir eine völlig klare Position.Nun komme ich zur Frage der Entlastungsvolumina.Auch hier ist die Frage an Sie ganz einfach. Wenn Sie derMeinung sind, Sie könnten noch mehr tun, und wenn Siedas ernst meinen, fordere ich Sie auf: Beziffern Sie, wo-her Sie das nehmen wollen! Das würde ich gerne genauwissen. Und dann bringen Sie mir mit Unterschrift der Fi-nanzminister, die das CDU- oder das CSU-Parteibuch ha-ben, und zwar aller, die Bestätigung, dass die zusätzlichenEinnahmeausfälle, die Sie nach Ihrem Gesetzentwurf pla-nen, von Sachsen, Thüringen, Berlin, Bremen usw. auchfinanziert werden können!All das sind Fragen, auf die Sie keine Antwort geben;das sind Schaugefechte für die Öffentlichkeit. Insofern istes gut, dass der Vermittlungsausschuss hinter verschlos-senen Türen tagt. Das erleichtert Ihnen nachher ein biss-chen den Rückzug.
Eines jedenfalls ist zwingend erforderlich – das ist eineFrage der Offenheit und Ehrlichkeit einer Debatte –:Wenn Sie höhere Einnahmeausfälle akzeptieren wollen,dann möchte ich ganz gerne, dass Sie auch öffentlich sa-gen, woher Sie das Geld nehmen wollen,
ob Sie es durch weitere Ausgabeeinschränkungen einneh-men wollen, was ein redlicher Weg wäre, denn auch Siesagen, dass Sie keine höheren Staatsschulden wollen.Aber Sie müssen sagen, woher Sie das Geld nehmen wol-len. Ich komme gleich noch auf die Risiken zu sprechen.Das ist ja eine Gespensterdebatte, wenn man die Finanz-lage einmal ernsthaft betrachtet. Deswegen wird Ihr Ge-setzentwurf den Tag auch nicht überstehen.Über zusätzliche Steuereinnahmen bekommen Sie dasGeld nicht; das zeigt die Steuerschätzung. Übrigens sindSie auch mit Ihren Summenangaben völlig unredlich.Darin sind zum Teil sogar Ihre eigenen Steuererhöhungenenthalten. Wir haben Ihnen doch mit einem Punkt Mehr-wertsteuererhöhung zum 1. April 1998 aus der Patschegeholfen, damit Sie nicht eingestehen mussten, dass derRentenversicherungsbeitrag auf über 21 Prozent steigt.Auch wir wollten das nicht, weil das Gift für die deutscheWirtschaft ist. Aber das sind doch die Steuererhöhungen,die Sie gewollt haben! Weil Sie das in Ihrer Koalitionnicht über die Mineralölsteuer regeln konnten, sind Sie zuuns gekommen und haben gesagt: Unterstützt uns bei derMehrwertsteuererhöhung. Das haben wir getan. Aberdann können Sie doch nicht behaupten, der Staat hätte da-durch mehr Geld, sondern dieses Geld haben Sie genom-men, um den Rentenversicherungsbeitrag wenigstens sta-bil zu halten. Was ist nun dagegen einzuwenden, wenn wirdas Geld aus der Ökosteuer nehmen, um den Rentenver-sicherungsbeitrag zu senken? Sie müssen sich wenigstenseinmal mit Ihrer eigenen Praxis konfrontieren. So kurzkann Ihr Kurzzeitgedächtnis gar nicht sein!
Zu den Privatisierungserlösen. Ich denke, jeder, dereinigermaßen seriös Finanzpolitik macht – da stimme ichauch mit öffentlichen Äußerungen von FinanzministernIhrer Seite und zum Beispiel vom Kollegen Biedenkopfoder vom Kollegen Diepgen überein –, weiß, dass Priva-tisierungserlöse nicht für dauerhafte Ausgaben zur Verfü-gung stehen. Das ist doch völlig klar. Darüber brauchenwir unter seriösen Leuten hoffentlich keinen Streit anzu-fangen. Im Übrigen brauchen wir sie alle für die Telekomund die Post-Unterstützungskassen. Ich habe übrigens ei-nen tollen Ratschlag von einem Professor gelesen, ganzabenteuerlich: Ich könnte jedes Jahr alleine von der Tele-kom 100 Milliarden DM holen. Da hat er sich wohl nichtdie Aktienkurse angeschaut. Wer das machen will, treibtdie Kurse in den Keller. Mit solchen Dingen muss mandoch seriös umgehen.Die Debatte zu den Privatisierungserlösen verstehe ichnicht. Wir haben das Geld noch nicht und wissen auch garnicht, wie viel wir bekommen. Aber ich habe lauter Vor-schläge auf dem Tisch, nach denen es schon dreimal aus-gegeben ist. So sieht dann auch die Finanzlage diesesStaates aus. Eine solche öffentliche Debatte dürfen wir
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Bundesminister Hans Eichel9787
alle nicht mitmachen, wenn wir ernst genommen werdenwollen.
Deswegen geht an dieser Stelle nur eines – das ist dereinzige seriöse Vorschlag; der Bundeskanzler hat das öf-fentlich betont –: Das Geld, das durch Privatisierungenzur Verfügung steht, wird zur Schuldentilgung eingesetzt.Ich weiß ja noch gar nicht, wie hoch die Erlöse sein wer-den. Wenn wir dann vernünftig vorgehen und die Zinsennicht sehr steigen, dann haben wir geringere Zinsausga-ben. Wir müssen dann also nicht die Ausgaben erhöhen.Vielmehr verbessern wir unsere Ausgabenstruktur.Die dann zur Verfügung stehenden Mittel können wirfür die Infrastruktur einsetzen. In diesem Zusammenhanggibt es noch eine Reihe von Aufgaben, zum Beispiel denAufbau Ost. Das ist überhaupt keine Frage. Deswegensollten Sie sich nicht nur hier herstellen und weitere Steu-ersenkungen fordern. Sie sollten vielmehr Ihre sonstigenForderungen auf den Tisch legen.Ich bin zu den Rentengesprächen eingeladen worden.Ich will bei dieser Gelegenheit zu diesem Thema nur ei-nen Satz sagen. Es tut mir Leid: Ich wollte bei der Frage,die ich in diesem Zusammenhang zu beantworten habe,kein Missverständnis anrichten. Aus Ihren Reihen kommtdoch der Vorschlag – er ist ja nicht falsch –, das Renten-problem zusammen mit den damit in Verbindung stehen-den steuerlichen Fragen zu bearbeiten. Darauf habe ichgesagt: Ich würde gerne alle Rechtsrahmenbedingungendieses Bereiches kennen. Das ändert nichts an dem Fahr-plan von Walter Riester; wir sind uns darin völlig einig.
Die andere Frage aber ist – um nichts anderes geht es –:Erledigen wir den Teil, den ich bearbeiten muss, im Blind-flug und warten wir nicht ab, was das Bundesverfas-sungsgericht hinterher dazu sagt, oder ist es nicht ver-nünftiger, das so hinzubekommen, dass die Vorgaben ausKarlsruhe gleich mit eingearbeitet werden?
Meine Damen und Herren, im Moment bestehen fürmich drei große Risiken. Es handelt sich um drei Urteileaus Karlsruhe. Es geht erstens um diejenigen, die von1945 bis 1949 enteignet worden sind und die jetzt aufhöhere Entschädigungszahlungen klagen. Zweitens gehtes um die Einmalzahlungen im Bereich Arbeitslosengeldund Arbeitslosenhilfe, denen keine Leistungen gegen-überstehen, und drittens um die Frage, wie künftig Ren-ten und Pensionen besteuert werden. Hier gibt es also rie-sige Risiken.Wenn ich noch ein wenig Geld hätte – das habe ich lei-der nicht –, dann würde ich gerne Reserven bilden, umdiese in der Zukunft bestehenden Risiken abdecken zukönnen. Das sollten auch Sie von einem vorsorgenden Fi-nanzminister erwarten. Die finanzpolitischen Sprecheraller Fraktionen müssten sich eigentlich so verhalten.Man kann doch nicht finanzpolitisch von der Hand in denMund leben.
Deswegen sage ich Ihnen zum Schluss: Es gibt nurdann eine gemeinsame Linie, wenn wir auf der einen Seiteaus der Schuldenfalle herauskommen und auf der anderenSeite die Steuern und Abgaben seriös senken. Wir solltenden Menschen nicht etwas vorgaukeln, was man in Wirk-lichkeit gar nicht durchhalten kann, und sollten bei all die-sen Maßnahmen eine Politik definieren, die dieses Landwirklich nach vorne bringt und seine Ausgabenstrukturzukunftsgerichteter gestaltet.Folgende Frage macht mir große Sorgen: Fürchten Sieangesichts Ihrer einseitigen Konzentration auf weitereSteuerentlastungen – die werden übrigens die Ländernicht mitmachen, auch die von Ihnen regierten nicht –nicht auch, dass uns unsere Kinder, wenn wir im Jahre2010 – vielleicht auch ein bisschen früher – den Höhe-punkt der Staatsverschuldung erreicht haben, die Dänenaber längst keine mehr haben und inzwischen auch derehemals hoch verschuldete amerikanische Staat völligschuldenfrei ist, fragen werden: Welche Lasten habt ihruns da aufgebürdet und wieso haben wir so viel mehr zutragen als die jungen Dänen oder die jungen Amerikaner?Fürchten Sie das nicht auch?
– Lieber Herr Repnik, die Frage ist, ob Sie diese Lastenin die Zukunft bzw. auf unsere Kinder verschieben, in-dem Sie den Menschen vorgaukeln, es entstünden keineLasten, oder ob Sie den Menschen sagen, dass es Lastengibt und wie sie zu finanzieren sind.
Wenn unsere Kinder für unsere Schulden Steuern zah-len müssen, wird sie dies nicht sehr lustig stimmen. Siewerden ihnen im Jahre 2010 mit diesem Argument nichtsehr glaubwürdig gegenübertreten können. Auch Sie wis-sen das ganz genau. Deswegen ist an dieser Stelle nichtmit der Regierung zu verhandeln. Es ist völlig klar, dasswir nicht zu höherer Staatsverschuldung zurückkehrenwerden, sondern den Weg aus der Staatsverschuldungkonsequent weitergehen werden. Wie gesagt, ich wüsstevon Ihnen gerne, ob das eine Leitplanke ist, die auch Sieakzeptieren. Dann könnte man über vieles andere leichtersprechen.Ich wüsste von Ihnen zudem gerne, ob Sie den Abbauder Ungleichbehandlung, die heute im Hinblick auf dieHandwerker und den Mittelstand im Vergleich zu denFreiberuflern und Arbeitnehmern besteht – wir beseitigendiese jetzt –,
mittragen oder ob Sie diesen Abbau blockieren wollen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Bundesminister Hans Eichel9788
Angesichts dessen, dass Sie stärkere Steuersenkungen mithöheren Einnahmeausfällen wollen, wüsste ich von Ihnengerne, wie Sie das finanzieren wollen.Deutschland ist mit unserer Politik offenkundig aufdem richtigen Weg.
– Ich brauche doch nur ein einziges unverdächtiges Insti-tut zu nennen, an dessen Spitze inzwischen ein Deutschersitzt, der Ihr Parteibuch hat, nämlich Horst Köhler.
Der Internationale Währungsfonds kommt in seinem neu-esten Weltwirtschaftsbericht, und zwar mit ausdrückli-chem Hinweis auf die Steuer-, Abgaben- und auch Haus-haltspolitik dieser Bundesregierung, zu dem Ergebnis –ich mache mir dies noch gar nicht zu Eigen, weil ich einvorsichtiger Mann bin –, dass Deutschland im Jahr 2001von allen reichen Industrienationen die höchste Wachs-tumsrate haben und damit die Konjunkturlokomotive inEuropa sein wird.
Sie haben ja immer beklagt, es gebe die Statistik überdie Zahl der Beschäftigten nicht. Jetzt gibt es sie wieder,aber Sie machen natürlich keinen Gebrauch davon, weilIhnen das Ergebnis nicht passt. Nach dieser Statistik istdie Arbeitslosigkeit seit Oktober vergangenen Jahres ge-sunken, und zwar nicht nur deshalb, weil mehr Ältere aus-scheiden, als Junge nachkommen, sondern weil mehrArbeitsplätze geschaffen werden.
Seit Oktober vergangenen Jahres sind bereits 155 000neue Arbeitsplätze geschaffen worden, meine Damen undHerren.
Das ist die Wirklichkeit.
Wenn Sie die Zahlen aus Ihrer Zeit noch einmal hörenwollen: Die Zahl der Arbeitsplätze hat 1995 um 37 000, in1996 um 277 000 und in 1997 um 287 000 abgenommen.Seien Sie also ganz vorsichtig mit Ihren Bemerkungen.Deutschland ist mit dieser Politik – und das wissen Sie –auf dem richtigen Weg.Und warum gibt es eine so große Akzeptanz in der Ge-sellschaft, in der Wirtschaft und bei den Gewerkschaften?Es gibt sie, weil wir mit ihnen gemeinsam – darüber soll-ten Sie nachdenken – daran gearbeitet haben. Der Vorsit-zende der Steuerreformkommission war der Steuerex-perte des Deutschen Industrie- und Handelstages, für dasHandwerk hat Herr Hinterdobler daran teilgenommen.Und bevor die Brühler Reformkommission ihre Entschei-dung getroffen hat, haben alle Herren bei ihren Verbändennachgefragt, ob sie dem zustimmen dürfen.
Deswegen ziehe ich vor denen in der Wirtschaft wieauch in der Gewerkschaft den Hut, die, wenn eine Verab-redung getroffen worden ist, auch dann dazu stehen, wennsie von CDU und CSU angegriffen werden.
Ich habe wenig Verständnis für diejenigen, die mit unsVerabredungen treffen, und zwar im eigenen Interesse,und anschließend, wenn sie meinen, der Wind wehe vonder anderen Seite, sagen, dass sie das alles nicht gewussthätten. Nein, das ist kein vernünftiges Zusammenspiel.Eine Nation hat Anspruch auf eine ernsthafte Führung.
Das richtet sich nicht nur an die Politik, sondern auch andie Repräsentanten der großen gesellschaftlichen Grup-pen. Der Bundeskanzler hat recht daran getan, das Bünd-nis für Arbeit einberufen zu haben und es, im Unterschiedzu seinem Vorgänger, zu pflegen,
weil die Menschen im Lande genau diese Ernsthaftigkeitvon uns erwarten und auch erwarten können. Das ist näm-lich unsere Aufgabe.Ich sage Ihnen: Wir sind auf dem richtigen Wege. Wirwerden im Vermittlungsverfahren Kompromisse machen.Aber Sie werden in diesem Verfahren auch bekennenmüssen, was überhaupt zu finanzieren ist. Dann wird derSpuk ein Ende haben, den Menschen auf der Straße öf-fentlich etwas zu versprechen, von dem Sie selber schonheimlich sagen, dass das überhaupt nicht geht. Lassen Sieuns dieses Thema im Sommer abschließen – wie gesagt,mit Kompromissen; das wird sein müssen. Aber diesesLand braucht den großen Fortschritt, der in dieser Politiksteckt. Wir sind auf dem richtigen Wege. Mit dieser Poli-tik kommen wir jetzt richtig voran.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Herr Minister, im Mittelpunkt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Bundesminister Hans Eichel9789
Ihrer Rede stand wieder einmal die Vergangenheitsbe-wältigung und dabei – wie es bei den Steuerdebatten nichtanders sein kann – das Wort Verschuldung. Wie bei allIhren Reden haben Sie auch heute vergessen, dass in denletzten zehn Jahren etwas in unserem Land geschehen ist,nämlich die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes.
Lassen Sie mich anlässlich des heutigen 18. Mai aufein Ereignis hinweisen, das gerade von dieser Regierungso vergessen wurde, wie die Einheit von ihr überhauptvergessen wird. Genau heute vor zehn Jahren wurde derVertrag unterzeichnet, der zur deutschen Währungsunionführte. Unterzeichnet hat ihn unser damaliger Finanzmi-nister Theo Waigel.
Damit wurden die wesentlichen Weichen für eine positiveEntwicklung in den neuen Ländern gestellt; damit wurdedie wesentliche Grundlage für eine gemeinsame wirt-schaftliche, politische und soziale Entwicklung in unse-rem Vaterland gelegt. Ich möchte die Gelegenheit wahr-nehmen, Helmut Kohl und Theo Waigel ganz herzlichdafür zu danken.
Wir beraten heute nicht über einen Gesetzentwurf, son-dern – im Gegensatz zur letzten Legislaturperiode – überzwei Gesetzentwürfe. Im Gegensatz zur letzten Legisla-turperiode hat sich die jetzige Opposition konstruktiv andiesem Beratungsprozess mit einem eigenen, ausformu-lierten Gesetzentwurf beteiligt.
Es wäre gut gewesen, wenn sich die Regierungskoalitiondem Rat der Sachverständigen und den Vorschlägen derOppositionsfraktionen nicht so verschlossen hätte, wie siesich verschlossen hat. Sie haben nicht nur bei den An-hörungen die Zahl der Sachverständigen begrenzt, son-dern Sie haben sogar die Anhörungen offiziell als „Auf-marsch der Lobbyisten“ bezeichnet. Konsequenterweisehaben Sie in den Ausschussberatungen an Ihren Gesetz-entwürfen nur Marginalien geändert.
Das, was Sie geändert haben, ist zum Teil noch schlechterals das, was Sie vorher vorgelegt haben, beispielsweisebei der Gewerbesteueranrechnung.
Ihre Regelung bedeutet eine zusätzliche Verschlechterungfür die Gewerbesteuer zahlenden Betriebe.Herr Minister, es bleibt dabei: Die größte Schwach-stelle in diesem Entwurf ist die Schieflage zwischen Ka-pitalgesellschaften auf der einen und den Personenun-ternehmen auf der anderen Seite.
Sie bevorzugen einseitig die Aktiengesellschaften und dieGmbHs; Sie benachteiligen die Personenunternehmenund die Einzelunternehmen. Sie bevorzugen einseitig diegroßen und benachteiligen deutlich die kleinen und mitt-leren Unternehmen.
Das ist nicht nur unsere Auffassung. Darin sehen wir unsin Übereinstimmung mit einer Reihe von Verbänden, dienicht nur mittelständische Unternehmen vertreten. Nichtnur Herr Kühn und Herr Hinterdobler, die von Ihnen zi-tiert wurden, beten uns inständig an,
bitten uns, das Nötigste zu tun und diese Schieflage zula-sten des Mittelstandes zu beseitigen.
Es ist niemand anderes als der Bundesverband der Deut-schen Industrie – der wirklich nicht nur mittelständischeInteressen vertritt –, der geschrieben hat – das ist wörtlichnachzulesen –: „Nachbesserungen für den Mittelstandsind dringend erforderlich“.Meine Damen und Herren, Sie ersehen daraus: Wir ste-hen nicht allein; unsere Kritik ist berechtigt. Ich will sieIhnen auch begründen. Worin liegt die Schieflage? – Sieliegt in zwei Dingen. Zum einen liegt sie im Verlauf desEinkommensteuertarifs imEinkommensteuerhöchstsatz –beides im Vergleich zu der Senkung bei der Körper-schaftsteuer – und sie liegt zum anderen – das, HerrMinister, haben Sie überhaupt nicht angesprochen – beider steuerlichen Behandlung von Veräußerungsgewinnen.
Es ist schon verwunderlich, dass Sie dieses Thema über-haupt nicht angesprochen haben, mit keinem Satz. Ichhabe genau zugehört. Das lässt tief blicken.
Nun zum Steuersatz und Steuertarif. Wir haben inunserem Entwurf vorgesehen, dass wir beim Anrech-nungsverfahren bleiben, dass wir deshalb den Körper-schaftsteuersatz für die einbehaltenen Gewinne von40 Prozent auf 30 Prozent und für die ausgeschütteten auf25 Prozent senken.
– Das hat überhaupt nichts mit Steuervereinfachung zutun.
Sie wissen, dass sich dies bewährt hat und überhauptnicht – was Sie immer unterstellen – kompliziert ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Gerda Hasselfeldt9790
Jetzt sagen Sie, Herr Minister, wir würden damit die ei-nen Gewinne bevorzugen und die anderen benachteiligen.Offensichtlich haben Sie das System nicht verstandenoder es ist Ihnen falsch aufgeschrieben worden. Im Ge-gensatz zu Ihrem Entwurf, nach dem der Körperschaft-steuersatz definitiv bei 25 Prozent liegen soll, und nichtmehr angerechnet werden darf, wollen wir, dass für dieeinbehaltenen Gewinne ein Satz von 30 Prozent und fürdie ausgeschütteten Gewinne ein Satz von 25 Prozent gilt,wobei dieser dann auf die individuelle Einkommensteuerangerechnet werden soll. Das ist eine völlig andereGrundlage als das, was Sie vorhaben. Deshalb: Sie kön-nen nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal im Haus sach-kundig zu machen. Ihre Beamten können Ihnen das sichereinmal erklären.Ein Satz von 25 Prozent klingt ja zunächst einmal sehrgut.Manmeint, damitwürden –wie Sie das gesagt haben –alle entlastet, auch die kleinen GmbHs. Bei den kleinenGmbHs jedoch, wo der Geschäftsführer einen Großteilseines Gehalts dem Gewinn entnehmen muss, wird sichim Vergleich zur bisherigen Situation eine zusätzliche Be-lastung einstellen, eben weil das Anrechnungsverfahrennicht mehr gilt – von vornherein gilt der Steuersatz von25 Prozent – und dann noch das Halbeinkünfteverfahrenangewendet wird. Das heißt, für die kleineren GmbHs, woder Anteil des Geschäftsführergehalts größer ist, ist dassogar von Nachteil, ganz abgesehen davon, dass durch dieBevorzugung des einbehaltenen Gewinns eine Gewinn-verwendungsstrategie gefahren wird, die überhaupt nichtsachgerecht ist.Noch deutlicher zeigt sich die Benachteiligung im Ver-gleich zur Einkommensteuerbelastung. Nach den Vor-schlägen der Regierungsfraktionen gilt ab dem Jahr 2001ein Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent und einEinkommensteuerhöchstsatz von 48,5 Prozent – nicht von45 Prozent, sondern von 48,5 Prozent!
Obwohl die mittelständischen Unternehmen schon imletzten Jahr durch die Gegenfinanzierung im Zuge desSteuerentlastungsgesetzes – zum Beispiel durch Abschaf-fung von Abschreibungsmöglichkeiten – belastet wurden,sollen sie jetzt über die Änderung des Einkommensteu-ertarifs in gleicher Weise und zur gleichen Zeit, nämlichschon ab dem Jahr 2001, wie die Körperschaften belastetwerden. Das ist die Ungleichbehandlung.
Wenn Sie dann noch hinzunehmen, dass Sie die Grenze,ab der der Spitzensteuersatz greifen soll, von jetzt120 000 DM auf 98 000 DM heruntersetzen wollen – dasist ja schon mehrfach erwähnt worden –, dann wird die zu-sätzliche Belastung erst so richtig deutlich.Natürlich kann man die Definitivbelastung durch denKörperschaftsteuersatz nicht unmittelbar mit demHöchststeuersatz vergleichen, dem Grenzsteuersatz von48,5 Prozent. Aber auch die Durchschnittssteuerbelastungwird durch diesen Tarifverlauf – beginnend mit98 000 DM bis zu einer Spitzenbelastung von 48,5 Pro-zent – erhöht, was dazu führt, dass viele mittelständischeUnternehmen, die als Personenunternehmen organisiertsind, eine stärkere Belastung haben, als dies bei Kapital-gesellschaften der Fall ist. Diese Ungleichbehandlungmachen wir nicht mit.
Nun haben Sie – auch das wurde vorhin schon ange-sprochen – dieses „schöne“ Optionsmodell vorgeschla-gen. Allein die Tatsache, dass Sie dies vorgeschlagen ha-ben, macht deutlich, dass Sie eine Ungleichbehandlungsehen; sonst würden Sie das gar nicht aufnehmen.
In der Sachverständigenanhörung war die Kritik dazu soverheerend, dass Sie eigentlich spätestens dann hätten sa-gen müssen: Davon nehmen wir Abstand, wir machen dasim Wege einer Änderung des Einkommensteuertarifes.Da war die Rede von einem „bürokratischen Monster“,von der „Steuerfalle“, von „Scheingesetzgebung“ unddergleichen.Ich will noch auf einen Widerspruch hinweisen, dermir erst heute so richtig deutlich geworden ist: Herr Poßund auch Sie, Herr Minister, sprachen in Bezug auf dieUngleichbehandlung im Einkommensteuertarif da-von, dass 95 Prozent der Unternehmen ein zu versteuern-des Einkommen von weniger als 200 000 DM haben unddeshalb von dieser Ungleichbehandlung gar nicht be-troffen seien.Daraus ist zu schließen, dass 5 Prozent über 200 000 DMliegen und für sie die Option vielleicht von Interesse wäre.Andererseits haben Sie in den Ausschussberatungenimmer darauf hingewiesen, dass Sie davon ausgehen, dass25 bis 30 Prozent der Unternehmen von dieser Möglich-keit Gebrauch machen werden.
Meine Damen und Herren, was stimmt denn nun eigent-lich? An diesem Beispiel wird doch deutlich, dass Sie sichselber, uns und die Öffentlichkeit an der Nase herum-führen. Das lassen wir uns nicht gefallen.
Sie wissen genau, dass mit der Optionslösung eineFülle von Schwierigkeiten verbunden ist: dass alle Ge-sellschafter dafür optieren müssten,
und zwar einstimmig und unabhängig von ihrer individu-ellen Situation, die sich bei jedem anders darstellt, dasswir eine zusätzliche Steuerbelastung bei stillen Reservenhaben, dass Sie eine deutliche zusätzliche Belastung beider Erbschaftsteuer einführen und vor allem dass der Un-ternehmer und sein Berater hellseherische Qualitäten ha-ben müssen, um zu entscheiden, ob sich die Option auflange Sicht rentiert oder nicht.
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Gerda Hasselfeldt9791
Der Kollege Rauen hat vorhin die Situation aus seinemBetrieb mit sich ständig ändernden Gewinnerwartungenund tatsächlichen Gewinnen und Verlusten dargestellt.Dies alles so vorherzusehen, dass man sagen kann, dieOption ist richtig oder die Einkommensbesteuerung istrichtig,
ist völlig unmöglich. Deshalb steht diese Lösung nur aufdem Papier, es ist eine Feigenblattlösung, ein Alibi. DieOptionslösung soll verschwinden und an ihre Stelle musseine Änderung im Einkommensteuertarif treten.
Unser Vorschlag ist, sich beim Einkommensteuerta-rif auf die Größenordnung zwischen 15 und 35 Prozent zueinigen, bei der Körperschaftsteuer – ich habe es vorhinangesprochen – beim Anrechnungsverfahren bei 30 Pro-zent und 25 Prozent zu bleiben und die Senkung der Ge-werbesteuer vorzunehmen, und zwar für alle, auch fürdie Kapitalgesellschaften. Wir brauchen eine gleich-mäßige Senkung der Gewerbesteuer und damit die Entlas-tung aller Gewerbesteuerzahlenden und nicht die Krückemit der Gewerbesteueranrechnung, die Sie vorgesehenhaben, die aber nur zur Komplizierung des Systems führt.
Wenn Sie das mitmachten, hätten wir eine Gleichbe-handlung beim Steuersatz und -tarif und eine Gleichbe-handlung aller Einkommensarten und könnten auf diekomplizierten Krücken und Verrenkungen wie Gewerbe-steueranrechnung und Optionslösung verzichten.Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein paarSätze zur Steuerfreiheit bei Veräußerungsgewinnen sa-gen. Das ist wirklich die zweite Komponente der Un-gleichbehandlung von Kapitalgesellschaften und Perso-nenunternehmen. Nach dem, was Sie vorgesehen haben,würde Folgendes gelten: Wenn eine AktiengesellschaftAnteile an einer Aktiengesellschaft verkauft, ist das steu-erfrei. Wenn die SPD ihre Medienbeteiligungen verkauft,ist das auch steuerfrei; das will ich hier nur am Rande er-wähnen.
Wenn eine Personengesellschaft Anteile an einer Aktien-gesellschaft verkauft, ist das nicht steuerfrei, sonderndann gilt die hälftige Besteuerung. Wenn ein Unternehmerzum Beispiel ein Grundstück an einen Mitunternehmerverkauft – also einen Teil des Unternehmens umstruktu-riert –, ist das nun aufgrund Ihres so genannten Steuerent-lastungsgesetzes voll steuerpflichtig, während es frühersteuerfrei war.
Wenn ein Metzger seinen Betrieb aufgibt und ihn ver-kauft, ist seit dem letzten Jahr aufgrund Ihrer Gesetzge-bung der volle Steuersatz zu bezahlen, während das früherzum halben Steuersatz möglich war.
Meine Damen und Herren, an diesen Beispielen wirddeutlich, dass das mit Gerechtigkeit nichts zu tun hat.
Das sind vergleichbare Sachverhalte, die ungleich behan-delt werden.
Ich will Ihnen einen für uns wirklich unverdächtigenZeugen zitieren, nämlich Professor Jarass. Das ist einSachverständiger, der auch in der Brühler Kommissionmitgearbeitet hat und von der SPD und den Grünen immermit benannt wird. Er sagt:Der Einzelunternehmer subventioniert mit überhöh-ten Steuern die Steuerfreiheit der Konzerne.Wo er Recht hat, hat er Recht. Deshalb machen wir dasnicht mit.
Mit der von Ihnen vorgesehenen Regelung schaffen Sieneue Steuerschlupflöcher, und zwar für die Reichen, fürdiejenigen, die so etwas gestalten können, die Ihre Ver-mögenswerte durch komplizierte Firmenbeteiligungen,durch Gründungen von GmbHs und Holdings so aufteilenkönnen, dass erzielte Veräußerungserlöse steuerfrei sind.Die Personenunternehmer, die Inhaber kleiner und mittel-ständischer Unternehmen, die nicht so reich sind, könnendies nicht. Eine solche Ungleichbehandlung aber geht ein-fach nicht. Deshalb sollten wir uns gemeinsam darumbemühen, sie zu beseitigen.
Es ist richtig, dass wir Umstrukturierungen steuerlichnicht behindern dürfen.
Aber dies darf nicht nur für Kapitalgesellschaften, son-dern muss für alle gelten, also auch für unsere deutschenPersonenunternehmen, für die Einzelunternehmer undHandwerker, deren Anteil an allen deutschen Unterneh-men 85 Prozent ausmacht.
Unser Vorschlag ist deshalb, für Erlöse aus Veräuße-rungen von Anteilen an Kapitalgesellschaften eine Rein-vestitionsrücklage in Höhe von 60 Prozent zu schaffen,die steuerfrei ist. Das bedeutet eine Gleichbehandlung derPersonengesellschaften und der Kapitalgesellschaften beiVorliegen desselben Sachverhalts. Darüber hinaus schla-gen wir die Rücknahme dessen vor, was Sie im Steuer-entlastungsgesetz an Belastungen, an Verschlechterungenfür die Umstrukturierungsmaßnahmen beschlossen ha-
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Gerda Hasselfeldt9792
ben, nämlich insbesondere die Rücknahme der Entschei-dungen zur steuerneutralen Übertragung von Wirtschafts-gütern. Es ist wesentlich, dass diese Benachteiligungendes Mittelstandes wieder aufgehoben werden.Als weiteren wichtigen Punkt schlagen wir die Rück-kehr zum halben durchschnittlichen Steuersatz bei Be-triebsaufgaben vor. Die von Ihnen vorgesehene Erhöhungdes Freibetrages von 60 000 auf 100 000 DM ist wirklichlächerlich.
Wie ich Sie kenne, Frau Scheel, werden Sie dies sichernoch sehr loben,
aber dann sagen Sie doch auch etwas zur 300 000-DM-Abschmelzungsgrenze.
Warum haben Sie diese nicht gleichmäßig erhöht? Dashängt doch damit zusammen. Die Erhöhung des Freibe-trages allein bringt fast überhaupt nichts.
Nun hat sich eines wie ein roter Faden durch die Rededes Ministers gezogen: Das alles können wir nicht finan-zieren. Deshalb stehe er Änderungen nicht aufgeschlos-sen gegenüber. Herr Minister, es kann nicht sein, dass SieGeld für die Aktiengesellschaften und GmbHs, aber nichtfür die Personenunternehmen und die Arbeitnehmer ha-ben. Das geht nicht.
Im Übrigen gilt: Wenn Sie, Herr Minister Eichel – dashören wir in den letzten Monaten fast gebetsmühlenartig –,und der heutige Bundeskanzler Schröder vor drei Jahrenwenigstens im Ansatz dazu bereit gewesen wären, wozuSie heute zumindest dem Anschein nach bereit zu seinscheinen, hätten wir seit drei Jahren eine Steuerreform,die den Namen wirklich verdient, die zu mehr Wachstumund Beschäftigung geführt hätte. Dann hätten wir dieseProbleme heute nicht.
Dann wäre wahrscheinlich auch die Entwicklung desEuro ein wenig anders.
Aber das ist Vergangenheit. Heute geht es darum, dieWeichen für diese Reform zu stellen.
Sie können davon ausgehen, dass unser Ansatz einehöhere Selbstfinanzierung und einen höheren Wachs-tumseffekt beinhaltet. Dies schafft auch die Grundlagedafür, dass es finanzierbar ist. Das gilt abgesehen davon,dass Sie die in den vergangenen Jahren schon erzielten zu-sätzlichen Steuereinnahmen sowie die, die noch hinzu-kommen, mit einkalkulieren können. Wir brauchen keineBuchhaltermentalität, meine Damen und Herren, sonderneine volkswirtschaftliche Betrachtungsweise des Ganzen.
Wir werden heute Ihrem Gesetzentwurf nicht zustim-men. Wir haben einen Alternativvorschlag gemacht. Auchim Bundesrat wird die Union voraussichtlich nicht zu-stimmen. Vor drei Jahren haben Sie eine Totalblockadegemacht.
Diese Strategie verfolgen wir so nicht. Aber für unsereZustimmung ist unabdingbar notwendig, dass alle Ein-kommensarten steuerlich gleichbehandelt werden. Des-halb kann es eine Zustimmung nur geben, wenn die Be-nachteiligung des Mittelstandes wegfällt.
Deshalb kann es eine Zustimmung nur geben, wenn esVerbesserungen beim Einkommensteuertarif gibt undwenn eine Gleichbehandlung bei Umstrukturierungsmaß-nahmen erfolgt. Meine Damen und Herren, wenn Sie dazubereit sind, können wir uns treffen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt Kolle-
gin Christine Scheel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauHasselfeldt, es ist in gewisser Weise schon sehr abenteu-erlich, was Sie hier vorstellen, wenn Sie sagen, wir brau-chen keine Buchhaltermentalität. Heißt denn das, dass Ih-nen vollkommen egal ist – davon gehen wir aus –, wasIhre Maßnahmen kosten, und dass Sie keine Ahnung da-von haben, wie die Haushaltssituation ist und wie sich dieHaushalte in den nächsten Jahren finanzieren sollen?
Es ist auch sehr ärgerlich, dass hier immer nur halbeWahrheiten verkündet werden. Das kann die CDU/CSU-Fraktion verdammt gut. Das muss man Ihnen zugestehen.
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Gerda Hasselfeldt9793
Die andere Hälfte der Wahrheit neben Ihrem Konzept, dasSie damals vorgestellt haben, wäre die Mehrwertsteuerer-höhung um 2 Prozentpunkte gewesen.
Aus diesem Grund haben wir damals gesagt, dass wir die-ses Konzept nicht unterstützen wollen, weil wir nicht ein-sehen, dass die Allgemeinheit der Verbraucher und Ver-braucherinnen Ihre drastische Senkung des Spitzensteu-ersatzes auf 39 Prozent finanzieren soll.
Zum aktuellen Gesetzentwurf der CDU/CSU mussman auch sagen, dass dieser Entwurf – vielleicht nochkombiniert mit diesem, wie Herr Schlauch schon gesagthat, unverantwortlichen Hokuspokus der F.D.P.-Fraktion;das wird ja demnächst noch kundgetan –
einen recht schönen Blick ins Wunschtraumland der Steu-erpolitik vermittelt, allerdings mit der Konsequenz, dassDeutschland immer weiter, tiefer und letztendlich boden-los in die Schuldenfalle geraten würde.Das ist genau der Punkt, an dem wir uns anscheinendunterscheiden: Wir wollen eine solide Finanz- und Haus-haltspolitik gestalten, während Sie in der Steuerpolitik mitabstrusen Vorschlägen kommen, ohne die Haushaltslagezu berücksichtigen.
Es gibt eine ganz klare Aussage dieser Koalition, für diewir Hans Eichel sehr dankbar sind: Wir wollen die Netto-neuverschuldung bis zum Jahr 2006 auf Null abbauen.
Wir haben in diesem Zusammenhang dennoch einSteuerreformkonzept mit einem Nettoentlastungsvolu-men von 45 Milliarden DM vorgelegt. In diesem Kontextmuss man auch mit betrachten, dass wir mit dem Steuer-bereinigungsgesetz, mit dem Steuerentlastungsgesetz, dasbereits beschlossen ist, und mit den Familienförderungs-komponenten, die auch jetzt in der Stufe 2 noch kommenwerden, über ein Gesamtnettoentlastungsvolumen vonrund 73 Milliarden DM entscheiden wollen. Das ist wirk-lich das gigantischste Nettoentlastungsvolumen, das dieseBundesrepublik bislang gesehen hat.
Wir beschließen heute eine Steuerreform, die sozialausgewogen ist und die alle Steuerzahler und Steuerzah-lerinnen gleichermaßen begünstigt. Es wird durchgrei-fende Erleichterungen geben, sodass wir auch dieWachstumsimpulse, die wir dringend brauchen – HansEichel hat ja bereits die 155 000 neu entstandenenArbeitsplätze genannt –, bekommen werden, sodass wirvon einer weiteren Belebung des Arbeitsmarktes durchdiese Reformpolitik ausgehen. Das Rheinisch-Westfäli-sche Institut – das ist übrigens das Einzige, das hierzu einePrognose gewagt hat – geht perspektivisch von zusätzlich400 000 Arbeitsplätzen aus, die, verbunden mit dieser Re-form, in diesem Land entstehen können.Wir haben mit dem vorgelegten Gesetz auch im Be-reich des Mittelstandes eine enorme Entlastung vorge-schlagen. Da können Sie hunderttausendmal das Gegen-teil sagen; es stimmt einfach nicht.Wir haben auch in den Beratungen – das wissen Siedoch sehr gut – gegenüber dem Entwurf noch einmalnachgelegt. Wir haben sehr gute Nachrichten für dieKleinanleger, eine zusätzliche Steuerentlastung von315Millionen DM gegenüber dem, was ursprünglich vor-gesehen war.Wir haben die Vergabe von Risikokapital, auch das En-gagement von Business Angels und auch die Beteiligungvon Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen am Produtiv-kapital kleiner Firmen jetzt attraktiver gestaltet, indemwir bis zu einer Beteiligungshöhe von 5 000 DM amNennkapital Steuerfreiheit gewähren, und zwar unabhän-gig davon, wie hoch die Veräußerungsgewinne sind. Auchhier ist eine zusätzliche Entlastung gegeben.Wenn Sie, Frau Hasselfeldt, sagen, dass 100 000 DMbei der Veräußerung eines Unternehmens fast nichtssind, dann ist das nicht zu verwechseln mit dem Veräuße-rungserlös. An diesem Punkt sind Sie auf dem falschenDampfer. Denn der reine Veräußerungsgewinn von100 000 DM wird sozusagen als Altersfreibetrag in derKombination mit bestimmten Kriterien freigestellt. Diesbringt für die Altersvorsorge des Unternehmers oder derUnternehmerin ein Gesamtvolumen von einer halbenMilliarde DM bzw. 500 Millionen DM. Dies als Pipifaxoder als fast nichts zu bezeichnen, liegt absolut daneben.Wir haben gerade für diesen Bereich Vorsorge getroffen.Es ist eine mittelstandsfreundliche Verbesserung, diewährend des parlamentarischen Gesetzgebungsverfah-rens auch von uns Bündnisgrünen erfolgreich angestoßenwurde.
Wenn man sich ernsthaft mit Ihrem Konzept, soweit esmöglich ist, auseinander setzt, dann erkennt man, dass IhrKonzept insgesamt 77 Milliarden DM kosten würde. Ichhabe schon viele Gespräche mit den Finanzministern derLänder geführt. Das tun wir von grüner Seite auch. Das istklar. Die Länderfinanzminister sind zum großen Teil –vielleicht bis auf einen oder zwei – der Auffassung, dassihre Länderhaushalte keine Nettoentlastung über die hi-naus, die wir in diesem Gesetz vorgelegt haben, verkraf-ten können. Wir sind sehr gespannt auf die Diskussionenim Vermittlungsverfahren, wenn die Zahlen auf den Tischkommen. Hier haben einige mit Erschrecken festgestellt,welche Nettoentlastungsvolumina die weiteren Vor-schläge des CDU/CSU-Modells in sich bergen. Das kannman im Moment nur als reinen Populismus bezeichnen.Ich hoffe, dass wir das nicht so ernst nehmen müssen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Christine Scheel9794
Wenn wir, wie Sie auch immer wieder zu suggerierenversuchen, Kritik von dem einen oder anderen Verbandbekommen, dann ist vollkommen klar, dass die versu-chen, das Möglichste herauszuholen. Das ist legitim undvollkommen in Ordnung. Es ist aber überhaupt nicht mehrverständlich, wenn gesagt wird, dass im Handwerk zuwenig getan wird. 70 Prozent der Handwerksbetriebe lie-gen unter einem Grenzsteuersatz von 25 Prozent. Ichmuss Sie im Ernst fragen: Was haben diese Handwerks-betriebe von einer weiteren drastischen Senkung des Spit-zensteuersatzes? Sie haben überhaupt nichts davon. Hierzu sagen, wir täten irgendetwas, was dem Handwerk nichtzugute kommt, ist auch völlig daneben.Sehen wir uns einmal den internationalen Vergleich an.
Wir bleiben auf dem Boden und machen eine solide Fi-nanzpolitik – bodenständig und kein Wolkenkuckucks-heim, wie das einige von Ihnen vielleicht gerne hätten.Sonst wären wir angreifbar. Das sind wir nicht, und dasist gut so.
Im internationalen Vergleich haben wir mit 45 Prozentden zweitniedrigsten Spitzensteuersatz.Mit einem Kör-perschaftsteuersatz von 25 Prozent haben wir einen derniedrigsten Steuersätze aller europäischen Länder. Auchwenn wir Japan und die USA hinzunehmen, gehören wirin den unteren Bereich. Eine solche Entlastung ist enorm.Dies ist auch für ausländische Investoren, für Firmen, diesich überlegen, hier zu investieren, für Privatanleger, dieüberlegen, in Deutschland mehr zu machen, ein hervorra-gendes Angebot. Es geht ja auch um das internationaleRenommee. Wenn Sie die internationalen Zeitungen ver-folgen, stellen Sie fest, dass die Finanz- und Steuerpolitikvon Rot-Grün gelobt wird, vor allem in Kombination –ich muss es an dieser Stelle wiederholen – mit einem ver-antwortungsvollen Umgang mit dem Haushalt, indem wirdie Nettoneuverschuldung reduzieren und trotzdem in derLage sind, in diesem Land eine solche Steuerentlastungvorzunehmen.Ich sage immer klipp und klar: Die Vorschläge, die vonIhnen jetzt wieder gekommen sind – Sie haben es auch inIhrem Gesetzentwurf stehen –, den Grenzsteuersatz auf35 Prozent zu senken und erst ab 110 000 DM greifen zulassen, bedeuten, wenn wir den Tarifverlauf betrachten,dass wir zusätzliche Steuerausfälle in einer Größenord-nung von 52,6 Milliarden DM haben. Wenn dann be-hauptet wird, das sei eine verantwortungsvolle Haushalts-und Finanzpolitik, dann kann man als verantwortungs-volle Politikerin nur noch den Kopf schütteln. Wir ma-chen keine Voodoo-Politik. Es wird auch nicht Roulettegespielt; denn solche Steuerausfälle, die die Folge wären,wenn Ihre finanzpolitischen Vorstellungen umgesetztwürden, ließen sich nur durch eine weitere Staatsver-schuldung finanzieren. Das wissen Sie doch auch.
Die Selbstfinanzierungseffekte sind in unsere Reform jaschon eingerechnet. Man kann nicht davon ausgehen,dass die Selbstfinanzierungseffekte so groß sein werden,dass sie solche Steuerausfälle kompensieren. Wer davonausgeht, kann nicht ernsthaft von einer soliden Finanzpo-litik sprechen. Deswegen lehnen wir Ihre Vorschläge ab.
Sie behaupten immer wieder, dass Körperschaftenund Personenunternehmen ungleich behandelt würden.Es ist aber einfach falsch, zu behaupten, dass Körper-schaften wesentlich geringer als Personenunternehmenbesteuert würden. Der Körperschaftssteuersatz liegt inDeutschland bei 25 Prozent. Hinzu kommt – das ist be-reits angesprochen worden – die Gewerbesteuer. DieseArt der Besteuerung – scheinbar ist dies bei Ihnen nochimmer nicht angekommen; man kann es nicht oft genugwiederholen – wird von der ersten bis zur letzten D-Markdurchgehalten. Die Körperschaften unterliegen damit ei-ner Definitivbesteuerung von 38 Prozent. Es ist vollkom-men richtig, wenn gesagt wird, dass die durchschnittlicheSteuerbelastung aller Einzelunternehmen und Personen-gesellschaften unter 38 Prozent liegt. Diese Zahl muss füreinen internationalen Vergleich herangezogen werden,nicht der Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent und derobere Grenzsteuersatz von 45 Prozent. Der letztere Ver-gleich hinkt; denn Sie müssen die reale Belastung be-trachten. Sie sollten mit Ihren Spielereien den Leutennicht zu suggerieren versuchen, dass es hier eineUngleichbehandlung gäbe. Das ist falsch. Unsere Vorge-hensweise ist steuerpolitisch vollkommen korrekt.Wenn Sie, Herr Thiele, dafür sorgen wollen, dass dieunterschiedliche Besteuerung von Einkommen beseitigtwird, dann frage ich Sie: Heißt das in der Konsequenz,dass Sie die Körperschaftsteuer abschaffen wollen? Wirhaben es hier doch mit zwei verschiedenen Steuertatbe-ständen zu tun, die international gang und gäbe sind. Wirsorgen dafür, dass die Belastungen und die Entlastungendurch diese beiden Steuerarten das von mir vorhin be-schriebene internationale Niveau haben. Wenn Sie be-haupten, man müsse hier gleichziehen, dann kann ich nursagen: Das ist Unsinn; denn man muss die reale Belastungbetrachten. Man darf seine Politik nicht so populistischgestalten, wie es die F.D.P. in der letzten Zeit getan hat.Ein weiterer Punkt ist die Steuerfreiheit für Veräuße-rungsgewinne. Die Steuerfreiheit für Gewinne aus derVeräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaftenist keine Begünstigung, Frau Hasselfeldt; vielmehr istsie notwendig, um eine Doppelbesteuerung zu vermei-den. Wenn die stillen Reserven tatsächlich als Gewinnerealisiert werden und wenn die unterbewerteten Wirt-schaftsgüter Gewinne produzieren, dann werden sie imUnternehmen definitiv mit 25 Prozent und beim An-teilseigner hälftig besteuert. Das hängt mit der System-umstellung zusammen, die Sie anscheinend noch im-mer nicht verstanden haben. Es gibt hier keine Besteue-rungslücke. Allerdings – das muss man einschränkendsagen – müssen Missbrauchsmöglichkeiten ausgeschlos-sen werden. Das ist vollkommen klar. Darüber kann man
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Christine Scheel9795
im Vermittlungsausschuss noch reden. Das ist nicht derentscheidende Punkt.Wenn Sie aber für Personenunternehmen eine Steuer-freistellung wie bei den Körperschaften fordern, dannmuss ich Ihnen sagen: Das ist nicht möglich; denn dieseunterliegen nicht einer Definitivbesteuerung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Scheel,
kommen Sie bitte zum Schluss.
An diesem Punkt vergleichen Sie Äpfel mit Birnen. Das
geht so nicht.
Wir gehen davon aus, dass das Reformkonzept noch in
der ersten Hälfte dieses Jahres im Rahmen des Vermitt-
lungsverfahrens gemeinsam beschlossen wird und dass
Deutschland im Jahr 2001 – das kann man mit Blick auf
die internationale Entwicklung nur hoffen – eine refor-
mierte Steuergesetzgebung haben wird, die international
konkurrenzfähig sein wird, die unsere Kaufkraft stärken
wird, die gut für unser Wirtschaftswachstum sein wird
und die sozial ausgewogen sein wird. Dafür werden wir
uns einsetzen.
Ich kann nur sagen: Auch wir Grünen werden Hans
Eichel in den weiteren Bemühungen zur Konsolidierung
der Haushalte unterstützen. Für uns gibt es nur beides: die
Senkung der Verschuldung und die Durchführung dieser
Reform, die auch nach dem Vermittlungsverfahren noch
finanzierbar sein muss.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Kollegin
Scheel, Sie haben sich auch heute wieder als Chamäleon
der Steuerpolitik erwiesen. Sie kritisieren in den Medien,
zum Beispiel beim Frühstücksfernsehen, Ihre eigene
Steuerreform und beschließen heute gleichzeitig das Ge-
genteil. Sie betreiben damit ein Täuschungsmanöver in
der Steuerpolitik und machen sich auch – das müssen Sie
gegen sich gelten lassen – zum Steigbügelhalter von bru-
talen Diskriminierungen insbesondere des Mittelstandes.
Sie treiben bereits mittlere Einkommen in den Spit-
zensteuersatz. Das ist eine Tatsache. Selbstverständlich
haben die Zusammenhänge und der Vergleich zwischen
der Körperschaftsbesteuerung und der Einkommensbe-
steuerung einen klaren Grundsatz, was ich Ihnen an fol-
gendem Rechenmodell verdeutlichen will: Von Ledigen
geführte Personenunternehmen zahlen bei einem zu ver-
steuernden Einkommen von 200 000 DM 38,6 Prozent
Einkommensteuer und bei Anrechnung der Gewerbe-
steuer 33,6 Prozent, wenn man einen Satz von 400 Pro-
zent unterstellt. Des Weiteren müssen Soli und Gewerbe-
steuer gezahlt werden, sodass insgesamt 47 Prozent des
Einkommens an Steuern abzuführen sind. Ab 2001
kommt noch die Gegenfinanzierung hinzu, die Sie natür-
lich vergessen haben. Gleichzeitig ist in diesem Punkt die
Vorfinanzierung des Mittelstandes aus dem Steuerentlas-
tungsgesetz zu sehen.
Ich sage Ihnen deutlich: Sie unterscheiden zwischen
den Kapitalgesellschaften und den Personengesellschaf-
ten – das ist eine Diskriminierung der Personengesell-
schaften –; sie teilen damit die Wirtschaft in Unternehmen
und Unternehmer und differenzieren zwischen „guten“
und „schlechten“ Einkünften. Das ist eine Tatsache. Sie
wollen den Weg von eigentümergeprägten Personenge-
sellschaften zu anonymen Kapitalgesellschaften einschla-
gen.
Sie beschreiten damit einen absoluten Irrweg, nämlich
zu einem „Deutschland mit beschränkter Haftung“. Es
war immer die wesentliche Stärke der deutschen Wirt-
schaft, Unternehmer zu haben, die mit ihrem eigenen Ver-
mögen voll und ganz für das einstehen, was sie unterneh-
merisch tun. Die deutsche Wirtschaft würde ärmer, wenn
Eigentümerunternehmer durch Geschäftsführerunterneh-
mer künftig immer mehr zurückgedrängt würden.
Was ich Ihnen besonders vorwerfe, Frau Kollegin
Scheel: Sie wollen, dass 2 Millionen Unternehmen – und
das ist die Mehrheit – nicht angemessen entlastet werden.
Die Steuerschätzung, die von Herrn Bundesfinanzminis-
ter Eichel vorab deutlich angekündigt wurde, prognosti-
ziert für die Jahre 2000 bis 2003 Mehreinnahmen in Höhe
von 19,1 Milliarden DM. Das müssen Sie sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen: Im Jahre 2003 wird die Steu-
erleistungsgrenze von 1 Billion DM in Deutschland über-
schritten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Michel-
bach, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Das sind 100 Milli-
arden DM mehr als 1999. Deswegen kann ich Ihnen nur
sagen: Bemühen Sie sich, für Entlastung zu sorgen, und
belasten Sie nicht den Mittelstand. Beseitigen Sie insbe-
sondere die Diskriminierung des Mittelstandes!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Scheel,
bevor ich Ihnen zur Erwiderung das Wort erteile, gebe ich
dem Kollegen Schwarz-Schilling das Wort zu einer wei-
teren Kurzintervention. Ich bitte Sie, danach auf beide
Kurzinterventionen zusammen zu antworten.
FrauKollegin, Sie haben für sich in Anspruch genommen, dassdie großen, die mittleren und die kleineren Unternehmengleich besteuert werden. Das, was Frau Hasselfeldt überdie Freibeträge und die Größenordnung gesagt hat, be-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Christine Scheel9796
zeichnen Sie als vollkommen daneben und Sie sprechenvon einem Vergleich von Äpfeln und Birnen.Ich glaube, Ihnen ist nicht ganz klar – entschuldigenSie, wenn ich Ihnen das sage –, wie bei uns gerade in denletzten beiden Jahren die innovativen Unternehmenüberhaupt in Gang gekommen sind. Der Grund dafür ist,dass wir endlich einen Neuen Markt haben und damit dieBörsengängigkeit kleiner Unternehmen möglich wird.Hier müssen die Venture-Capital-Unternehmen und -Un-ternehmer einen Risikoausgleich vornehmen; anderen-falls könnten sie das Kapital gar nicht zur Verfügung stel-len. Bei den Unternehmensveräußerungen, die für denZeitpunkt vorgesehen sind, zu dem die Unternehmen aufdie Schiene gekommen sind – und die Venture-Capitalistswieder aussteigen –, liegt das Verhältnis bei etwa acht zuzwei: Die Venture-Capitalists erwirtschaften bei zwei Un-ternehmen, die hervorragend auf die Schiene gekommensind, das Kapital, das sie bei acht anderen verlieren.Jetzt sorgen Sie dafür, dass sie bei den zwei erfolgrei-chen Veräußerungen voll versteuert werden, weil die1-Prozent-Grenze bei einem Venture-Capitalist, also dem,der das Risikokapital gibt, natürlich immer überstiegenwird, wenn die Zurverfügungstellung von Kapital für daszu veräußernde Unternehmen überhaupt von Bedeutungsein soll. Insofern ist Ihnen – das sage ich hier ganz deut-lich – der gesamte Mechanismus der innovativen Unter-nehmen, wie er in den Vereinigten Staaten angefangenund nun endlich auf die Bundesrepublik Deutschlandübergegriffen hat, überhaupt nicht klar. Anderenfallskönnten Sie so nicht reden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung auf
beide Kurzinterventionen erteile ich jetzt der Kollegin
Christine Scheel das Wort.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt lieber nichts sagenwürden, Herr Waigel. Aber ich möchte gerne auf die bei-den Beiträge von Herrn Michelbach und Herrn Schwarz-Schilling eingehen.Ich bin Herrn Michelbach in gewisser Weise dafürdankbar, dass er bestätigt hat, dass man bei einem zu ver-steuernden Einkommen von 200 000 DM bzw. von400 000 DM, wenn man verheiratet ist, nur einen durch-schnittlichen Steuersatz von 38 Prozent zu zahlen hat.Das ist richtig. Ich habe vorhin angesprochen, dass dieMasse der Unternehmen – abgesehen von einer Hand vollAusnahmen gilt das für fast alle Handwerksbetriebe undauch für andere Branchen – darunter liegt. Das bedeutet,dass Ihr Vorwurf, den Sie hier jetzt zum wiederholtenMale vorgetragen haben – ich vermute, dass Sie jetzt eineso lange Intervention gemacht haben, weil Sie von IhrerFraktion keine Redezeit bekommen haben –,
einfach falsch ist und auch dadurch nicht richtig wird,dass Sie ihn erneut wiederholen.Hier geht es – ich kann es an diesem Beispiel nur nocheinmal sagen – um unterschiedliche Situationen. Wir ha-ben ein Körperschaftsteuerrecht mit einer Definitivbela-stung und ein Einkommensteuerrecht. Die einkommen-steuerliche Belastung ist im Ergebnis weitaus geringer. Eskommt ja darauf an, was real an Steuern gezahlt wird,nicht aber darauf, welcher Spitzensteuersatz auf dem Pa-pier steht. Das wissen die Leute draußen alle. Es ist alsoein Humbug, immer zu suggerieren, für die einen gelte einSteuersatz von soundso viel Prozent, für die anderen aberder Spitzensteuersatz. Dann muss man auch einmal sagen,welches der Unternehmen denn den Spitzensteuersatz er-reicht. Es ist eben nur eine Hand voll, weil Gewerbetrei-bende die Betriebsausgaben verrechnen können. Sie sindja neben Ihrer Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter auchnoch Gewerbetreibender, Herr Michelbach, und kennendas sehr gut; mich würde einmal interessieren, welchedurchschnittliche Belastung Sie in Ihrem Betrieb haben.Sie ist bestimmt relativ gering. Deswegen verstehe ichauch nicht, warum Sie sich an dieser Stelle so aufregen.Zu der Steuerschätzung, die Sie ebenfalls angespro-chen haben: Wir sind aufgrund der steuerrechtlichen Re-gelungen, die wir bereits beschlossen haben und heuteverabschieden werden, endlich so weit, dass die Steuer-einnahmen wieder kalkulierbar sind.
In den vergangenen 16 Jahren Ihrer Regierung gab esSteuerschätzungen, die in einem Volumen von 30 bis40 Milliarden DM daneben gelegen haben. Das hing da-mit zusammen, dass man enorme Gestaltungsmöglichkei-ten im Steuerrecht hatte, sodass es für diejenigen, die dasSteueraufkommen zu beurteilen hatten, überhaupt nichtberechenbar war, wie sich die Steuereinnahmen ent-wickeln würden. Dies haben wir wieder auf das Normal-maß zurückgeführt.Wir haben sehr viele Vergünstigungen abgebaut. Siewürden sie gerne wieder einführen; aber an diesem Punktkommen Sie mit uns nicht weiter. Wir wollen eine Ver-breiterung der Bemessungsgrundlage. Wir wollenniedrige Steuersätze, die finanzierbar sind. Dazu stehenwir. Entlastet werden vorwiegend die kleinen und mittle-ren Unternehmen. Aber auch für die Großunternehmensind die Auswirkungen dieser Maßnahmen, wie HerrEichel sagte, nicht bloß neutral, sondern sie bringen fürEnergiekonzerne und die Versicherungswirtschaft sogarein kleines Minus aufgrund der Auflösung von Rückstel-lungen und vielem mehr mit sich. Damit ist, wie ich finde,eine faire Behandlung im Steuerrecht gegeben, die sichauch an dem ausrichtet, was finanzierbar ist. So kann manhier von einer Besteuerung reden, die alle mehr oder we-niger gleichmäßig trifft und nicht Großkonzerne, wie eszu Ihrer Zeit der Fall war, überdurchschnittlich bevorteilt.Dagegen hatten wir ja schon damals andere Vorschlägeunterbreitet.
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Dr. Christian Schwarz-Schilling9797
Ganz kurz zu den Ausführungen von Herrn Schwarz-Schilling: Anscheinend ist Ihnen entgangen – anders kannich mir das nicht erklären –, dass wir gerade im Bereichvon Existenzgründungen, Venture-Capital und derneuen Medien, in dem jetzt neue Berufe entstehen, einneues Angebot eingefügt haben. Wenn man jetzt in eineneu gegründete GmbH einsteigt – diese Form wählen jadie meisten –, kann ein Nennkapital bis 5 000 DM steuer-frei sein. Damit wird ein enormes Volumen an kleinen Be-teiligungen von ganz normalen Kapitalanlegern aktiviert.Wir reizen hier also einen Markt an; im Ergebnis wird daszu vielen neu geschaffenen Arbeitsplätzen führen, wasletztendlich auch unserer Wirtschaft helfen wird.Die Senkung der Steuerfreiheit bei Beteiligungenvon 10 auf 1 Prozent dient dazu, dem Missbrauch vorzu-beugen. Fänden Sie es gut, wenn eine 10-prozentige Be-teiligung eines Privatmannes an irgendeiner großenFirma, zum Beispiel an einer Reederei oder an Siemens –ohne jetzt für eine Firma Werbung zu machen –, an derkein normal Sterblicher im Regelfall so hohe Beteiligun-gen hält, auch nach der Änderung des Verfahrens bei derBesteuerung in Form des Halbeinkünfteverfahrens nochsteuerfrei wäre? Dann wäre doch Missbrauch möglich.Wenn man Missbrauch bekämpfen will, muss man dieseGrenze von 10 Prozent auf 1 Prozent senken. Damit hatsich auch der Vorwurf, wir würden Gestaltungsmöglich-keiten eröffnen, die Missbrauch fördern, erledigt. Ichglaube, dass diese Entscheidung gut ist.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Debatten-
redner ist der Kollege Rainer Brüderle für die Fraktion der
F.D.P.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Herr Minister Eichel, Sie hatten denHinweis eingefügt, Herr Möllemann würde in Nordrhein-Westfalen diese Reform gerne mittragen. Ich darf Aussa-gen von zweien Ihrer sozialdemokratischen Kollegen,nämlich von Herrn Steinbrück und Herrn Schwanhold, zi-tieren: Herr Schwanhold sagt, er verspüre keine Neigung,das Optionsmodell zu verteidigen. Herr Steinbrück sagt,es komme für maximal 5 Prozent der Betriebe in Betracht,die nordrhein-westfälische Regierung halte es daher fürentbehrlich. So viel zu Ihren eigenen Kollegen.
Sie lenken mit einer Popanzdiskussion über den Spit-zensteuersatz und dadurch, dass Sie ständig Daten ausdem Handwerk heranziehen, davon ab, dass gerade dasHandwerk und seine Organisation zu den schärfsten Kri-tikern Ihrer Steuerreform gehören. Hören Sie sich einmalan, was Herr Philipp und seine Organisation dazu sagen!
Wie die Reformpolitik in Deutschland, dem größtenIndustriestaat in Euroland, draußen bewertet wird, kön-nen Sie täglich an den Devisenmärkten ablesen. DerEuro sank von 1,18 auf unter 0,90 Dollar. Ich fürchte, erwird weiter sinken, weil auch diese Steuerreform an einerordnungspolitischen Schieflage krankt. Sie ist kein Bei-trag zur Vereinfachung des Steuerrechtes. Es wird viel-mehr alles noch komplizierter. Gerade für die Kleinenläge in einer Vereinfachung eine Chance. Die komplizier-ten Steuerrechtsfragen können nur große Konzerne mitAbteilungen von Spezialisten und Advokaten, die aufGrauzonen spezialisiert sind, lösen.
Was Sie mit dem Mittelstand machen, ist wirtschaftspoli-tisch obszön.
Ihre Regelungen zu den Veräußerungsgewinnen halteich teilweise für nachvollziehbar. Man muss natürlich auchsehen, woher Sie politisch kommen: Vor drei Jahren hatRot-Grün die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse imBundesrat blockiert. Immerhin haben Sie sich vonLafontaine gelöst. Bei Ihnen ist es jetzt nicht mehr tabu,vom Selbstfinanzierungseffekt der Steuerreform zu spre-chen. Angebotspolitik ist für Sie nicht mehr Teufelsvoka-bular.Sie sehen auch ein, dass man die Unternehmen entlas-ten muss. Nur machen Sie es nicht ausreichend. Es fehltIhnen entweder die Überzeugung oder das politische Um-feld, dies konsequent zu tun. Vielleicht spekulieren Sieauch darauf, dass Ihr Gesetzentwurf im Vermittlungsaus-schuss eh nicht durchgeht und dass Sie dann Verhand-lungsmasse haben. Sie sollten aber gleich sagen, wohinIhr Kurs führt; denn der von Ihnen vorgelegte Gesetzent-wurf wird so nie im Bundesgesetzblatt erscheinen.
Es geht eben nicht, die großen Banken bei Veräußerungensteuerfrei zu stellen, aber die Mittelständler nicht. Für denMittelständler geht es um seine Alterssicherung. DerHandwerker, der früher darauf vertraut hat, nur den hal-ben Steuersatz zu zahlen, ist der Dumme.Ich komme zum Optionsmodell: Dieses Modell ist sokompliziert und so wenig attraktiv, dass Ihre eigenen Kol-legen sagen, dass es nur für vielleicht 5 Prozent derUnternehmen interessant sei. Sie wollen dieses Modelleinführen, obwohl Sie in Wahrheit wissen, dass eine Dif-ferenz in der Steuerbelastung von 10 Prozentpunkten zwi-schen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaftenverfassungswidrig ist.
Das Schlimme ist: Die Erhöhung des Drucks in Rich-tung der Option Kapitalgesellschaft bewirkt eine Qua-litätsveränderung. Es ist nämlich ein Unterschied, ob Un-ternehmer mit ihrem persönlichen Vermögen für ihre Ent-scheidungen einstehen oder ob im Fall von GmbHs undCo. KGs Steuerzahler für die Entscheidungen haften. Das
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Christine Scheel9798
ist ein schleichender Systemwandel. Lösen Sie sich vondem ideologischen Ballast von vorgestern!
Der Kardinalfehler ist die Trennung der Besteuerungvon einbehaltenen und ausgeschütteten Gewinnen.Hier gibt es ebenfalls eine ideologische Altlast; ein Restvon Karl Marx aus dem Trier-Museum schimmert dadurch. Damit bewirken Sie gerade das Gegenteil. Die Ma-nager der großen Konzerne haben jetzt einen zusätzlichenVorwand, das Geld im Unternehmen zu lassen und esnicht den Aktionären zu geben. Da Manager ihre Gehäl-ter zunehmend auch in Form von Aktienbesitz erhalten,werden diese doppelt begünstigt. Sie sind doch der Kum-pel der Superbosse und Manager und nicht der selbst haf-tenden Unternehmer. Das ist Ihr klassischer Kardinalfeh-ler.
Diese unterschiedliche Behandlung führt zu skurrilenFolgen.
– Dass Sie schreien, ist verständlich; denn es trifft Sie insMark, dass Sie nicht mehr für die Kleinen auftreten, son-dern Politik für die großen Konzerne machen. Sie werdenzu der Partei der Bosse und sind nicht mehr die Partei derKleinaktionäre, der Arbeitnehmer und des Mittelstandes.Das muss Ihnen Sorge machen. Sie sollten sich für dieSchieflage Ihrer Politik schämen.
Noch haben Sie eine Chance, Ihre Politik zu korrigieren,damit Sie nicht länger Ihre Scham verstecken müssen.Skurril ist, dass das Bundesfinanzministerium selbstSteuerschlupflöcher empfiehlt. Wegen der ungleichenBehandlung empfiehlt es, private Kapitalgeber sollteneine GmbH vorschalten, die dann steuerfrei veräußernkönne. Ein Steuervorschlag, bei dem eine Umgehunggleich mitgeliefert wird, ist unredlich.
Machen Sie doch klare, einfache, gerechte und verständ-liche Steuervorschläge! Wenn Sie unser Modell nichtübernehmen wollen, dann nehmen Sie das F.D.P.-Modellvon Struck: 15, 25 und 35 Prozent. Dieses Steuermodellist verständlich und sozial gerecht. Lösen Sie sich aus Ih-rer Verklemmung! Ich verstehe, dass es schön ist, wennman als Sozi mit den großen Bossen essen und dicke Zi-garren aus Kuba rauchen kann.
Das sind doch nicht Ihre Wähler. Wir kämpfen für dieKleinen. Sie aber setzen sich zu den Großen und wollendann sozusagen den Großen spielen. Darin liegt IhreSchieflage begründet. Sie stehen in der falschen Ecke.
Ein Glück, dass es den Bundesrat gibt.
Ein Glück, dass der Bundesrat das korrigiert, was Sieheute vorlegen, ohne rot zu werden – da könnten Sie wirk-lich einmal rot werden, vor Scham –, und dass er Sie da-vor bewahrt, Ihre eigene Wählerschaft zu verraten.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Den Begriff„skurril“, Herr Kollege Brüderle, will ich gern aufgreifen.Auch mir kam manches heute merkwürdig vor. FrauHasselfeldt und Kollegen der CDU leisten eifrig Trauer-arbeit über all das, was sie nicht zustande gebracht haben,aber vielleicht zustande gebracht hätten, wenn man sie ge-lassen hätte. Aber der Wähler hat nun mal anders ent-schieden. Wir machen das jetzt.Bei Ihnen, Herr Brüderle, springt doch aus jedemKnopfloch die Befürchtung, dass wir nicht nur mit denkleinen Leuten, mit den Beziehern kleiner Einkommen,gut klarkommen, die wir erheblich entlasten, sondern dasswir auch beim Mittelstand, der massiv entlastet wird, un-sere Schnitte kriegen und darüber hinaus auch mit denje-nigen gut klarkommen, die Export organisieren, wovondie Wirtschaft lebt. Es ist doch Aufgabe der Regierung,mit denen gut klarzukommen, die das Geschäft hier be-stimmen. Das gelingt uns ganz gut.
Solange wir – das ist doch das Wichtigste – bis 2005,also in wenigen Jahren, in mehreren Schritten eine Steu-erentlastung von rund 75Milliarden DM hinkriegen, vondenen ein großer Teil bei der mittelständischen Wirtschaftlandet, der größere Teil aber natürlich bei den Privathaus-halten und insbesondere bei den Familien, ist die Sym-metrie sehr gut gewahrt. Ich denke, damit können wir unsals rot-grüne Koalition sehr gut sehen lassen. Das wirdletztendlich auch von allen goutiert, von wenigen Exper-ten wie Philipp abgesehen, der seinen eigenen persönli-chen Spitzensteuersatz im Auge hat und nicht den derHandwerker, die er zu vertreten vorgibt.
– Ich bitte Sie, Peter Rauen, die Handwerksstatistik istvöllig eindeutig. Nur ein verschwindend kleiner Bruchteilvon Handwerksunternehmen kommt überhaupt jemalsin die Verlegenheit, in die Nähe des Spitzensteuersat-zes zu rutschen. Denen hilft Philipp mit seinen Parolen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Rainer Brüderle9799
überhaupt nicht, sondern er hilft allenfalls sich selbst undseinem eigenen Ego, aber nicht der Klientel, die er vertritt.
Wenn wir es noch in dieser Legislaturperiode er-reichen, dass eine Familie mit zwei Kindern erst ab56 000 DM aufwärts die erste Mark Steuern zahlt unddann mit 15 Prozent einsteigt, ist das eine Großtat gegen-über über all dem, was wir hier vorgefunden haben. Bruttofür netto wird gerade für die kleinsten Einkommen Wirk-lichkeit; das muss man einfach sehen. Es gibt viele Ein-kommen, die deutlich unterhalb dieses Betrages liegen.Der Einstieg mit 15 Prozent wird auch zur positivenEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Das wirdvon allen, von den Wirtschaftsverbänden, von den Unter-nehmen, aber auch von den Wissenschaftlern, bestätigt.Er wird dazu beitragen, dass auch Erwerbsarbeit im Nied-rigstlohnbereich attraktiv ist. Das ist der Sinn der Senkungdes Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent. Das tut den Leu-ten gut und es hilft natürlich auch der Wirtschaft.Die wirtschaftsfreundliche Besteuerung von Unterneh-men in Deutschland wird nach der Reform, die trotz schonvorhandener höchster Aufwendungen des Staates für Spit-zeninfrastruktur, für Bildung und Ausbildung und für so-ziale Sicherheit durchgeführt wird, im Vergleich zu ande-ren großen Industriestaaten erhebliche Wettbewerbsvor-teile schaffen. Wir werden in vielen Punkten, auch wasden Steuerstandort Deutschland angeht, deutlich bessersein als die viel gepriesenen Vereinigten Staaten. Das wirddas Ergebnis sein.Zum Systemwechsel, der den Steuerberatern so vielKummer macht: Ein bisschen Weiterbildung kann denennatürlich auch nicht schaden. Wenn sie sagen, das sei fürsie alles zu kompliziert, sie hätten sich seit Bismarck andas gegenwärtige System gewöhnt, dann müssen sie haltmal mitdenken und mitlernen. Das ist überhaupt nichtkompliziert.
Der Systemwechsel von der bisher üblichen steuerli-chen Begünstigung entnommener Gewinne hin zur steu-erlichen Förderung von Gewinnen, die in der Wirtschaftweiter arbeiten, also nicht privat entnommen werden,wird die Eigenkapitalausstattung und die Eigenfinanzie-rungsquote in allen deutschen Unternehmen, aber insbe-sondere im Bereich des Mittelstandes, stärken. Geld wirdwieder Realanlage suchen und nicht anonyme Finanzan-lage. Das wird das Ergebnis sein.Es wird endlich auch das abgestellt, was über vieleJahre unter der schwarz-gelben Koalition begünstigtwurde, nämlich die finanzielle Ausplünderung deutscherTochterunternehmen ausländischer Mütter, die Aktien-gesellschaften auf Micky-Mouse-GmbHs heruntergefah-ren haben, sie darlehensfinanziert haben, um hier Kostenzu produzieren und die Gewinne an einem steuerlich gün-stigeren Standort zu realisieren. Es wird eine Umkehrunggeben. Es wird wieder Vermögenszufluss in die deutschenTöchter ausländischer Konzerngesellschaften geben. Daswollen wir zugunsten der Wirtschaftskraft hier inDeutschland erreichen.
Entnommene Gewinne werden künftig zur Hälfte mitdem persönlichen Einkommensteuersatz des Anteilseig-ners belegt, in der Spitze mit 45 Prozent, also – das ist hiervielfach schon dargestellt worden – um 8 Prozentpunktedeutlich abgesenkt; „zur Hälfte“ deswegen, weil es bereitseine Unternehmensteuerbelastung von 25 Prozent gibt,die die Unternehmen bezahlt haben und die nicht mehr ge-gen die nachgelagerte Einkommensbesteuerung verrech-net werden kann.Es besteht kein Zweifel, dass das Vollanrechnungsver-fahren mit den Steuergutschriften für die betroffenenDeutschen praktisch und häufig angenehm war, aber euro-patauglich oder gar globalisierungstauglich war diesesSteuersystem eindeutig nicht. Denn es gibt in vielen Län-dern, die mit uns im Austausch stehen, Anteilseigner, diekeine Chance haben, die hohe Körperschaftsteuervorbelas-tung in ihrem Heimatland gegen irgendetwas gegenzurech-nen.
Wer fordert, das aufrechtzuerhalten, macht eine deutscheWagenburgsteuerpolitik – ohne Blick auf internationaleVerflechtungen, die wir als großer, internationaler Playerauch weiterhin gerne wollen.Ganz wichtig im Zusammenhang mit dem System-wechsel ist natürlich die Frage: Was heißt eigentlich De-finitivbesteuerung? – Gewinn, der im Unternehmen oderin der Wirtschaft bleibt, verwandelt sich in Eigenkapital,unabhängig davon, ob er auf einem Konto liegt, ob er beiDritten angelegt wird oder ob man damit Maschinen oderBeteiligungsunternehmen kauft. Es ist völlig egal, welcheGestalt dieser umgewandelte Gewinn annimmt. Da kannman sich doch nicht hinstellen und sagen: Wenn wir unsvon diesem in Kapital umgewandelten Gewinn, zum Bei-spiel in Form einer Beteiligung, trennen, muss der Fiskuszuschlagen. Damit würden wir das Prinzip der Definitiv-besteuerung einseitig durchbrechen. Das würde bestraftwerden.Daran, wie die Märkte in dieser ganz zentralen Fragezu dem Zeitpunkt, als die Steuerfreiheit von Veräuße-rungsgewinnen angekündigt wurde, reagiert haben, zeigtsich: Die gesamte Reform würde wie ein Bettvorleger lan-den, nachdem sie wie ein Tiger gestartet ist, wenn wir da-rauf verzichten würden. Der Steuerstandort Deutschlandwürde Schaden nehmen. Wir würden an der Wall Street,in London, in Tokio ausgelacht werden, wenn wir nichtden Mut zum Sprung beweisen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schultz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich erlaubesie.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Reinhard Schultz
9800
Herr Kollege Schultz, Sie ha-
ben gerade wieder das Wort „Veräußerungsgewinne“ in
den Mund genommen, genau wie die Kollegen vonseiten
der CDU/CSU und der F.D.P., natürlich mit einem sehr
negativen Beigeschmack. Ich habe die Frage an Sie: Kön-
nen Sie mir sagen, wie sich die Steuerfreiheit der Ver-
äußerungsgewinne in den nächsten Jahren auf die Stei-
gerung des Bruttosozialproduktes und auf den Arbeits-
markt auswirken wird?
Herr Kol-lege Lennartz, ich persönlich bin sehr sicher, dass dersteuerlich nicht gebremste Austausch von Kapital und dieMöglichkeit, dass sich Anlagen die jeweils beste Verwen-dung suchen, dazu führen werden, dass durch Veräuße-rungsgewinne Investitionen getätigt werden, von denenwir in der Vergangenheit nur geträumt haben.Ich darf einmal zitieren, was der Chef der DeutschenBörse gestern in der „FAZ“ dazu geäußert hat: Er wagt diePrognose, dass die Kapitalkosten von Kapitalgesellschaf-ten um 14 Prozent sinken werden, dass wir Investitions-kapital für neue Anlagen in Höhe von etwa 150 Milliar-den DM frei machen und dass wir einen sehr agilen, li-quideren Aktienmarkt haben werden, der Neugründungenauch im Venture-Capital-Bereich deutlich begünstigenwird. Er geht sogar davon aus, dass alleine dieser Punktder Steuerreform zu einem Wachstum des Bruttosozial-produktes von 1 Prozent führen wird. So mutig wäre ichnicht, das zu prognostizieren; das sagt der Chef der Deut-schen Börse. Aber von 0,7 Prozent Wachstum gehe auchich aus und das wäre ein gewaltiger Beitrag, mit dem dieohnehin gute Konjunktur nachhaltig unterstützt werdenkönnte. – So weit die Antwort.
Die Kampagne, die Teile der Opposition gemeinsammit Teilen der Wirtschaftspresse in den letzten Tagen los-getreten haben, dass die Steuerfreiheit von Veräußerungs-erlösen geradezu ein gigantisches neues Steuerschlupf-loch aufreißen würde, entbehrt jeder sachlichen Grund-lage. Das muss man wirklich sagen. Die Herren Jarass undLang, die ich sonst außerordentlich schätze und denen ichzugestehe, dass sie mit der Bekanntgabe ein Steuer-schlupfloch entdeckt zu haben, das Werbeverbot für be-stimmte Beratungsberufe sehr geschickt und sehr populärumgangen haben, haben sich meines Erachtens im„Hasselfeldt“ verloren.Frau Hasselfeldt ist ja diejenige, die immer wieder be-tont, man könne durch Gestaltung Vermögen maximierenund dann auch privat konsumieren. Das ist ein großer Irr-tum. Wir mischen uns nicht darin ein, wie sich Unterneh-men organisieren. Wir sagen nur: Wenn Geld, das heißtGewinne oder Veräußerungserlöse, in der privaten Sphärelandet, dann wird es hälftig zum persönlichen Steuersatzbesteuert. Solange dieses Geld aber in der Wirtschaftbleibt, soll es so arbeiten, wie es die Wirtschaft für richtighält.Herr Gysi sagt, das müsse der Staat regeln. Wir habenweder bei uns in der Fraktion noch in der Regierung einenHerrn Mittag, der so etwas regelt. Das muss die Wirtschaftselber tun. Frau Hasselfeldt, ich glaube, auch Sie sehnensich nicht nach Herrn Mittag.Wir wollen, dass die Wirtschaft im Rahmen bestimm-ter Spielregeln selber entscheidet, wie sie sich organisiert.Erst wenn Geld im privaten Portemonnaie landet, mussdie Einkommensteuer zuschlagen – und das zu Recht.Denn sonst wäre das Prinzip, Geld, das arbeitet, besser zubehandeln, nicht mehr gerechtfertigt. Aber auch diejeni-gen, die Einkommensteuer zu zahlen haben, werden bes-ser gestellt.
Ich denke, die so genannte Optionslösung, die wir denPersonengesellschaften anbieten, die gut verdienen, istgut. Ihr Vorwurf, dass die Optionslösung nur für 5 Prozentder Personengesellschaften interessant ist, ist völligerBlödsinn. Es handelt sich um ungefähr 7 Prozent, die da-von Gebrauch machen könnten. Wenn man alle Unter-nehmen berücksichtigt, dann kommt man zu dem Ergeb-nis, dass davon nur 7 Prozent Körperschaften sind. Fürdiese sehen wir sogar ein eigenes Körperschaftsteuersys-tem vor. Ihr Argument, die Optionslösung sei nur für5 Prozent der Personengesellschaften interessant, ist alsonicht tragfähig. Es handelt sich nämlich – sei es Boehringer,seien es andere große Personengesellschaften – umaußerordentlich ertragsstarke Unternehmen, die, volks-wirtschaftlich gesehen, eine große Bedeutung haben undum die man sich kümmern muss; das ist gar keine Frage.Die bekommen die gleichen Chancen wie Kapitalgesell-schaften, ohne gezwungen zu sein, sich in eine andereRechtsform umzuwandeln. Ich halte das für vernünftig.Das würde auch bedeuten, dass eine als Personenge-sellschaft geführte Vermögensholding, wenn sie denn op-tiert, selbstverständlich die Möglichkeit hat, ihrer Hol-ding Beteiligungserlöse steuerfrei zuzuführen und dieseim Rahmen neuer Beteiligungen wieder anzulegen. Dasgilt auch für den berühmten „business angel“, der soebenvon Herrn Schwarz-Schilling zitiert worden ist, also fürden berühmten Venture-Kapitalisten. Er muss, wenn ernicht sowieso schon über eine Rechtsform verfügt, ledig-lich optieren,
damit sichergestellt ist, dass er die Erlöse aus seinen er-folgreichen Aktionen in eine andere – hoffentlich auch er-folgreiche – Aktion investieren kann. Mehr ist das nicht.Es ist doch schlau gedacht: Wir schützen im Grundegenommen die wirtschaftlichen Möglichkeiten dieser Un-ternehmen, schaffen aber gleichzeitig eine klare Abgren-zung zwischen der privaten Einkommenssphäre und derunternehmerischen Tätigkeit. Das ist, so denke ich, ange-messen und daran halten wir fest.
Natürlich muss eine solche umfangreiche Reform auchfinanziert werden. Einiges haben wir schon vorher getan:Wir haben bereits in der ersten Stufe der Steuergesetzge-bung den Sumpf an Steuerschlupflöchern fast trocken
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000 9801
gelegt. Wir sehen an den Einnahmen, dass dies wirkt. DieFinanzverwaltungen bestätigen dies.Wir haben in Bezug auf die Versicherungs- und dieEnergiewirtschaft Maßnahmen ergriffen, weil dort unge-rechtfertigt hohe Rückstellungen angesammelt wordensind und man daher in der Lage war, ganze volkswirt-schaftliche Zweige aufzukaufen. Aber es bleibt ein Selbst-finanzierungsanteil in nennenswerter Größenordnung, beidem ein großes Risiko besteht.Wer heute fordert, die sich im Rahmen der Steuer-schätzung ergebenden Mehreinnahmen auszugeben, derhandelt unseriös. Wir haben bereits 30 Milliarden DM alsSelbstfinanzierungseffekt – sozusagen als Wechsel auf dieZukunft – eingerechnet. Wir geben 20 Milliarden DM ausden Einnahmen aus der Ökosteuer aus, um die Renten zustabilisieren. 50 Milliarden DM sind also bereits ausge-geben. Der Rest ist vorgesehen für das Ausgabenwachs-tum von nicht einmal 2 Prozent im öffentlichen Dienst desBundes, der Länder und der Gemeinden. Dadurch sind130 Milliarden DM schlicht und einfach ausgegeben. Da-von bleibt nichts übrig. Herr Thiele, Sie berichten hieralso die ganze Zeit von einem Phantom. Die Wirklichkeitsieht anders aus.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schultz,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich freue
mich besonders, dass es gelungen ist, mit den kommuna-
len Spitzenverbänden zu dem Agreement gekommen zu
sein, in der Zukunft Jahr für Jahr eine Feinjustierung vor-
zusehen, damit die Kommunen angesichts der Erhöhung
der Gewerbesteuerumlage, über die sie ihren Anteil an der
Steuerreform finanzieren, nicht über den Tisch gezogen
werden. Wir haben versprochen, diese Feinjustierung spä-
testens in vier Jahren noch einmal zu überprüfen. Denn
wir wollen nicht zulasten der Gemeinden arbeiten. Sie
sollen lediglich in dem Umfange, indem sie am Steuerauf-
kommen insgesamt beteiligt sind, an der Gegenfinanzie-
rung der Steuerreform beteiligt werden.
Unterm Strich, denke ich, handelt es sich um eine sehr
gelungene Sache. Wir können wirklich stolz darauf sein;
denn dadurch wird Wachstum produziert, wird die Wirt-
schaft von unnötigen steuerpolitischen Bremsen und
strukturellen Nachteilen befreit und wird es letztendlich
auch zur Stabilisierung der gemeinsamen europäischen
Währung kommen. Angesichts der Größe unserer Volks-
wirtschaft bin ich da sehr zuversichtlich.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Minister für Finanzen und Bundesangelegenheiten des
Saarlands, Peter Jacoby.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einigen Ta-gen war in einem Kommentar der „Süddeutschen Zei-tung“ zu lesen:Ab Donnerstag müssen Lösungen gesucht werden,die Aufbruchstimmung erzeugen, statt zu frustrieren.
Der Bundesfinanzminister hat jetzt mit Blick auf dasVermittlungsverfahren, in diesem Fall mit Blick auf dieFinanzminister und Ministerpräsidenten der Union, dieKategorie „Nettoentlastung und Verträglichkeit mit denöffentlichen Haushalten“ als zentrales Argument in dieDebatte eingeführt. Zu diesem Themenbereich will ichFolgendes sagen: Natürlich ist das ein wichtiger Punkt.Aber wenn es um eine zukunftsorientierte Steuerreformgeht, ist das nur einer von mehreren Punkten und nochnicht einmal der entscheidende. Entscheidend ist viel-mehr die Frage: Ist die Konzeption zukunftsorientiert, istsie tauglich? Denn wenn sie zukunftsorientiert und taug-lich ist, leisten wir einen Beitrag zugunsten von mehrWachstum und Beschäftigung, intensivieren wir dieSelbstfinanzierungseffekte und verbessern die Lage deröffentlichen Haushalte. Das ist der Zusammenhang, umden es bei dieser Debatte geht.
Deshalb wäre es – auch aus der Verantwortung der Fi-nanzminister heraus – völlig verkürzt, dieses Thema nurin fiskalpolitisch enger Weise anzugehen.
Man muss sich diesem Thema im Gesamtzusammenhangstellen. Ich sage es noch einmal: Die entscheidende Frageist die Frage nach der Konzeption.Mich hat schon etwas verblüfft, Herr Bundesfinanzmi-nister, wie leichtfertig Sie über Einwendungen etwa derDeutschen Bundesbank oder von Professor Bareis, demInitiator der Diskussion, den Sie, als Sie in der Oppositionwaren, als Kronzeugen bemüht haben, hinweggehen. Wirsehen uns jetzt sehr nahe bei der Position von HerrnBareis. Das ist doch ein Hinweis darauf, wie unterschied-lich man je nach Verantwortung mit den entsprechendenHinweisen aus der Wissenschaft und der Fachwelt um-geht. Oder wie wird mit den Hinweisen von ProfessorPeffekoven oder mit denen Ihres eigenen Beraters Jarassumgegangen, von dem eben ein verehrter Vorredner ge-sagt hat, dass er oft Recht habe, hier aber nicht? Die Fun-damentaleinwendungen solcher Leute gegen die Konzep-tion können doch angesichts des anstehenden Vermitt-lungsverfahrens nicht mit dem Totschlagsargument„Nettoentlastung und Verträglichkeit mit den öffentlichenHaushalten“ beiseite gerückt werden. Das will ich klarund eindeutig sagen.
Mit Blick auf die Konzeption möchte ich Folgendesanmerken: Wenn wir kritisieren, dass das Steuerrecht beiUmsetzung der von Ihnen vorgelegten Pläne nicht einfa-
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cher, sondern komplizierter wird, dann ist das Kritik be-zogen auf die unzureichende Konzeption. Wenn wir dieunzureichende Balance zwischen der Entlastung der Ka-pitalgesellschaften auf der einen Seite und der Entlas-tung der Personengesellschaften, des Mittelstandes aufder anderen Seite beklagen, dann hat das nichts mit derVerträglichkeit mit den öffentlichen Haushalten zu tun.Wenn wir die unnötigen Systemwechsel kritisieren –Stichworte: Halbeinkünfteverfahren, Optionslösung, Ge-werbesteueranrechnung –, dann ist auch das ein entschei-dendes konzeptionelles Gegenargument, das wir unisonovertreten. Dadurch kann – ich sage es noch einmal – mitBlick auf mehr Wachstum und Beschäftigung und damitdas zukünftige Erschließen von Steuerquellen mehr be-wirkt werden als durch das, was uns seitens der Bundesre-gierung bisher vorgelegt worden ist.
Der Bundesfinanzminister spricht von finanziellen Risi-ken; wir sprechen in diesem Zusammenhang von konzep-tionellen, unkalkulierbaren, im Übrigen auch verfas-sungsrechtlichen Risiken.
Damit bin ich bei einem anderen Thema, das ich an-sprechen will. Die Ministerpräsidenten und die Länderfi-nanzminister haben natürlich insbesondere eine regional-politische Verantwortung. Wenn man aus einer Gegendkommt, in der 90 Prozent der Unternehmen Personenge-sellschaften des Mittelstandes sind, dann ist das für micheine nur zu natürliche Bezugsgröße. Wir stehen in denLändern auch vor der Aufgabe, die öffentlichen Haus-halte, die jeweiligen Länderhaushalte zu sanieren.Ich könnte übrigens bei Ihrer rückwärts gewandtenDiskussion im Blick auf die 90er-Jahre und die Tätigkeitder Vorgängerregierung gut mitmachen. Ich könnteebenfalls eine Diskussion zum Thema Erblast führen –mit Blick auf Ihre 15 Jahre. Lassen wir das außen vor.Konzentrieren wir uns auf die Sachfragen.Wir stehen vor der Notwendigkeit, die Haushalte zukonsolidieren; wir stehen aber genauso vor der Notwen-digkeit, den Strukturwandel zur Kenntnis zu nehmenund ihn zu beschleunigen. Ferner stehen wir vor der Auf-gabe, unter den Gegebenheiten des Wettbewerbs der Re-gionen im Vergleich zu Wirtschaftsstandorten im benach-barten Ausland konkurrenzfähiger zu werden. Dass wirfeststellen, dass viele Investoren mittlerweile dem Stand-ort Deutschland, insbesondere in den Grenzregionen, denRücken gekehrt haben
und wenige Kilometer hinter der Grenze Standorte gefun-den haben, wo sie investieren, hat entscheidend etwas mitden steuerrechtlichen Rahmenbedingungen zu tun.
Die extreme Spreizung zwischen der Körperschaft-steuer einerseits und der Einkommensteuer andererseitsist hinderlich. Regelungen, die eine Benachteiligung desMittelstandes gegenüber den großen Kapitalgesellschaf-ten mit sich bringen, werden den von mir genannten An-liegen nicht gerecht. Die Ungleichbehandlung von einbe-haltenen und ausgeschütteten Gewinnen, also die fiktiveUnterscheidung zwischen Betrieben und Betriebsinha-bern, ist ebenfalls der falsche Ansatz. Das hat im ÜbrigenAuswirkungen auf die Kapitalbeschaffung insbesonderejunger Existenzgründer – sie brauchen wir als Träger desStrukturwandels –, und berührt den Kapitalmarkt. Des-halb haben wir gegen das, was vorgelegt worden ist, kon-zeptionelle Einwände.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Nicht eine Poli-tik des geringsten fiskalischen Risikos ist gefragt, sonderneine verantwortbare Politik, die sich auch in einen Ge-samtzusammenhang einordnen lässt. Billiger kann auchalles andere als besser sein; es kann eben auch schlechtersein. Das sagen wir in Bezug auf die Pläne, die seitens derBundesregierung und der sie tragenden Koalition vorge-legt worden sind.Das Folgende will ich sagen, weil der Blick immernur auf die Ministerpräsidenten und die Finanzministerder Union gerichtet wurde. Ministerpräsident Müller istdahin gehend zitiert worden, er wolle die Auswirkungenauf den saarländischen Haushalt kalkulierbar und ver-antwortbar halten. Das ist wahr. Nur, was Sie nicht nen-nen, sind die konzeptionellen Antworten, die ebenfallsgegeben werden. Was Sie insbesondere verdrängen,sind die Äußerungen, die aus Ihren eigenen Reihen zudem kommen, was heute zu beurteilen ist. Der KollegeBrüderle hat ja eben schon ein, zwei Stimmen genannt.Ich will daran anknüpfen.Der Vorsitzende des Finanzausschusses des Bundesra-tes, der Kollege Steinbrück – er kommt aus Nordrhein-Westfalen, dem großen Bundesland, das Sie bis zum letz-ten Sonntag als Herzkammer der SPD bezeichnet haben –,hat dieser Tage öffentlich erklärt:Einerseits ist ... eine Steuerfreistellung der Veräuße-rungsgewinne bei Kapitalgesellschaften geplant. An-dererseits werden Personengesellschaften seit An-fang 1999 voll besteuert, wenn sie Beteiligungen ver-kaufen.
Im Sinne von Mittelstandsförderung muss an dieserUngleichbehandlung etwas geändert werden ... Vor-nehmlich geht es mir um die kleinen Betriebe.Exakt das ist unsere Position. Die Veränderungen hin-sichtlich der Freistellungsgrenze, die Sie zwischenzeitlichnachgeschoben haben, sind nur marginal und nichtannähernd in der Lage, eine Kompensation zu bewirken.
Herr Poß, der Kollege Steinbrück sagt ganz deutlich:Klar muss sein, dass Personengesellschaften nichtschlechter gestellt werden als Kapitalgesellschaften.Der SPD-Kollege aus Rheinland-Pfalz, Gernot Mittler,
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Vorsitzender der Finanzministerkonferenz, sieht das inder Steuerreform vorgesehene Optionsmodell sehr kri-tisch. Er wurde dieser Tage im „Handelsblatt“ mit folgen-der Aussage zitiert:Über das Optionsmodell bin ich nicht glücklich. DasModell ist missbrauchsanfällig, beratungsintensivund konfliktträchtig.Also, meine Damen und Herren, ziehen wir doch imBlick auf das anstehende Vermittlungsverfahren die Kon-sequenzen aus diesen Einwendungen aus der Fachweltund der Wissenschaft. Zu diesen Stimmen, auch von fach-und sachlich Zuständigen aus Ihren eigenen Reihen, ha-ben Sie, Herr Bundesfinanzminister, heute leider nichtsgesagt.
Ich fasse zusammen: Die Ausgangslage für eine wirk-liche Steuerreform ist so gut, wie sie es schon lange nichtmehr war.
Wir machen keine Blockade, wie wir es leider in den Jah-ren 1997 und 1998 erlebt haben.
Wir weisen darauf hin: Die Steuereinnahmen laufen gut.Die Privatisierung von Bundesvermögen sowie die zuerwartenden Versteigerungserlöse aus den Mobilfunk-lizenzen schaffen weitere Spielräume, ohne dass dasZiel der Haushaltskonsolidierung, zu dem auch wir unsbekennen und das wir unterstützen, infrage gestellt wer-den müsste. Deshalb sind wir davon überzeugt: Wennwir an dieser Stelle anknüpfen und einen mutigen Schrittmachen, dann werden die Selbstfinanzierungselementeverstärkt und erweitert und dann werden wir in der Lagesein – etwa wenn wir die Gelder aus der Versteigerung derMobilfunklizenzen dazu nutzen, den Fonds DeutscherEinheit abzulösen
und damit den Schuldenstand zu tilgen –, aus dem bündi-schen Prinzip heraus einen Beitrag zur Entlastung derLänder und Kommunen zu leisten. Wir verbreitern soSpielräume und diese Spielräume nutzen wir zugunsteneiner zukunftsorientierten Steuerreform.Ich bedanke mich.
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Es spricht jetzt derKollege Lothar Binding für die SPD-Fraktion.Lothar Binding (SPD) (von Abgeordne-ten der SPD mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Sehrverehrte Damen und Herren! Ich glaube, es ist nicht dieAufgabe von Herrn Jacoby, an diesem Platz den StandortDeutschland schlecht zu reden. Es ist sinnvoller, sich da-rum zu kümmern, dass Deutschland in gutem Licht er-scheint,
und die Dinge beim Namen zu nennen, die angesprochenwerden müssen.Herr Jacoby hat beispielsweise das Wort „Spreizung“benutzt. Nun möchte ich ganz kurz darstellen, worauf sichdieser Begriff bezieht: Er vergleicht zwar nicht unbedingtÄpfel mit Birnen, aber er vergleicht eine Gerade mit einerKurve. Jeder lernt in der Schule, dass man eine Gerade –ein konstanter Steuersatz von null bis unendlich – nichtmit einer Kurve vergleichen kann, die, wie hier, eine Pro-gression beschreibt.
Es wäre sehr hilfreich, diese elementare Mathematik auchim Bundestag nicht zu missachten.Wir haben heute gelernt, dass die vorgelegte Reformzur Senkung der Einkommensteuer und die Reform derUnternehmensteuer zukunftsfähig und sozial orientiertsind. Wir haben gelernt, dass die Steuern für alle Men-schen gesenkt werden und dass die sozialen Sicherungs-systeme durch einen Abbau der Arbeitslosigkeit gestärktwerden. Wir haben gelernt, dass das geplante Steuersys-tem zukunftstauglich ist,
woraus indirekt folgt, dass das bisherige nicht zukunfts-tauglich war. Wir haben gelernt, dass alle Unternehmenetwas von dieser Steuerreform haben. Wir haben etwasaus einem alten Grundsatz gelernt, nämlich: Man darf dasnicht verschenken, was einem noch gar nicht gehört. Da-mit wird die Reform finanziert.
Hierin besteht der entscheidende Unterschied zu allen Re-formansätzen der vorherigen Regierung.Ich will das mit einigen Zitaten belegen und mit einerFormulierung von Herrn Rauen beginnen. Herr Rauen hatvorhin gesagt: In sieben endlos langen Jahren erst werdenwir das Ziel, die Rückführung der Nettoneuverschul-dung, erreichen. Abgesehen davon, dass sieben kleinerals sechzehn ist, ist vielleicht noch von Belang, dass wirfür diese sieben Jahre einen Plan haben. Wir haben16 lange Jahre erlebt, in denen es keinen Plan gab.
– Zur deutschen Einheit komme ich gleich noch. FrauHasselfeldt hat nämlich gesagt, wir vergäßen immer diedeutsche Einheit.
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Es ist bei näherer Betrachtung nicht so, dass die we-sentlichen wirtschaftlichen Parameter, die Sie hinterlas-sen haben, aus der deutschen Einheit resultieren. Wirmüssen uns klarmachen, dass das, was HelmutSchmidt hinterlassen hat, ein Drama war. Er hat400 Milliarden DM Staatsverschuldung hinterlassen. Daswar schlimm. Aber was war bis 1989 angewachsen? Dawaren es plötzlich – ohne deutsche Einheit – 1 000 Milli-arden DM. Das ist aber merkwürdig.
Helmut Schmidt hat eine dramatische Situation, nämlich1 Million Arbeitslose, hinterlassen. Was haben Sie bis1989 – 1989 gab es noch keine Vereinigung – daraus ge-macht? Über 3 Millionen Arbeitslose.
Man muss sich schon überlegen, ob man alles auf diedeutsche Einheit schieben darf.
Herr Michelbach sagte, es komme zu einer brutalenDiskriminierung des Mittelstands. Dagegen frage ich,Herr Michelbach: Ist es nicht brutal, dass der Staat dieLohnsteuer und die Steuern, die der Mittelstand bezahlt,einkassiert und in Zinsen verwandelt? Das halte ich fürbrutale Steuerpolitik. Im Ergebnis hatte das auch einengewissen Erfolg: Allianz, Dresdner Bank, Deutsche Bank,RWE und VIAG haben zum Beispiel von dieser Politikder Umwandlung von Lohnsteuer in Zinsen, mit denen siewirtschaften, einen entsprechenden Erfolg, der jetzt zukorrigieren ist, erzielt. Wer ein bisschen darauf achtet, wiedie Überkreuz- und die echten Beteiligungen funktionie-ren, weiß auch, dass es sehr wohl notwendig ist, die Ver-äußerungsgewinne jetzt steuerfrei zu stellen und gleich-wohl, Frau Hasselfeldt, nicht zu vergessen, dass sie eineNachversteuerung in dem Moment erfahren, in dem diestillen Reserven an natürliche oder private Personen über-gehen. Insofern ist die Besteuerung sichergestellt undauch der Gerechtigkeit zwischen Großunternehmen, in-ternationalen Strukturen und dem Mittelstand Genüge ge-tan.Ich will noch einen Satz zur Modernität dieses Geset-zes sagen. Wir haben ein altmodisches System vorgefun-den, das nicht einmal europatauglich war. Wir haben einSystem vorgefunden, das darauf basierte, dass man sichnicht sonderlich um die Neuverschuldung gekümmert hat.Frau Hasselfeldt ließ sich hinreißen, zu sagen: Wir brau-chen keinen Buchhalter. – Ich glaube, dass wir sehr wohleinen Buchhalter brauchen, der darauf achtet, dass dieNeuverschuldung nicht exorbitant wächst und alle Steuer-einnahmen als Zinsausgaben auffrisst.
Ich möchte noch auf einen Aspekt eingehen, der deut-lich macht, wie modern das Gesetz ist. Denn nach diesemGesetz wird es künftig möglich sein, elektronische Rech-nungen als Nachweis für den Vorsteuerabzug anzuerken-nen. Das ist verbunden mit modernen Prüfungsverfahrender Finanzverwaltungen, die künftig auf die Datenverar-beitungsanlagen der Unternehmen zurückgreifen können.Damit wird die Effizienzsteigerung in den Unternehmenmit der Effizienzsteigerung der Prüfungsbehörde kombi-niert. Wir glauben, dass das in einer Welt, in der wir vomInternet, von neuen Medien, von E-Commerce, von virtu-ellen Lagern und virtuellen Bestellvorgängen sprechen,ein sehr guter Einstieg in eine moderne Gesetzgebung ist,die zukunftstauglich ist und zeigt, in welche Richtungdiese Regierung denkt und handelt.
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Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hansgeorg Hauser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kol-lege Binding, Sie haben völlig Recht: Neue Buchhalterbraucht das Land, damit man all das bewältigen kann, wasSie mit Ihrer Steuerreform angestellt haben.
Es gibt zwar durchaus eine gute, aber natürlich aucheine schlechte Nachricht über die heutige Debatte. Diegute Nachricht lautet: Es wird eine Steuerreform geben –das Steuersenkungsgesetz wird die parlamentarischen Be-ratungen am Ende sicherlich passieren – und es wird eineUnternehmensteuerreform geben. Aber die schlechteNachricht lautet:
Der uns vorgelegte Gesetzentwurf hat eine so mangel-hafte Qualität und wird so schwer verdaulich sein, weilalles so viel komplizierter wird, dass es mit Sicherheitzu einer Fülle von Nachbesserungen kommen wird.Aber das ist bei dieser Regierung absolut nichts Neues.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieserStelle auch sagen: Es war für mich schon sehr befremd-lich, mitzuerleben, wie wir im Finanzausschuss diskutierthaben. Im Grunde waren gar keine großen Diskussionenmöglich, weil die Bereitschaft, ein wirklich gutes Gesetzzu machen, auf Ihrer Seite des Hauses einfach nicht vor-handen war. Frau Scheel, es entspricht nicht meinem Ver-ständnis von parlamentarischen Beratungen von Geset-zen, darauf zu verweisen, dass es noch den Vermitt-lungsausschuss gibt und die Länder schon alles richtenwerden.
Das stellen auch andere, so zum Beispiel die Wirt-schaftsverbände, fest, die so gelobt worden sind. VonHerrn Hundt ist heute zu lesen: Dass die Steuerreformtrotz ihrer gravierenden Schwächen, trotz einer drasti-schen Schieflage zulasten des Mittelstandes und trotzaller sachlichen Gegenargumente ihren parlamentari-schen Gang nehme und für Nachbesserungen nur noch der
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Vermittlungsausschuss bleibe, sei keine gute Lösung. –Meine Damen und Herren, wir sollten uns selbstbewuss-ter mit diesen Themen beschäftigen.Die CDU/CSU-Fraktion ist sich ihrer staatspolitischenund volkswirtschaftlichen Verantwortung sehr wohl be-wusst und wird das Gesetz am Ende sicherlich nichtblockieren. Niemand von uns wird eine so schäbige Rolleübernehmen, wie sie der damalige Ministerpräsident desSaarlandes und mittlerweile abgehalfterte Kurzzeitfi-nanzminister Lafontaine gespielt hat.
Aber auch Sie, verehrter Herr Bundesfinanzminister, sindmit der unbeweglichen Haltung, die Sie damals im Bun-desrat als Koordinator der SPD eingenommen haben, be-stimmt kein Vorbild.
Die von der CDU/CSU vorgelegte Steuerreform wäre fi-nanzierbar gewesen. Alle Argumente der SPD-geführtenLänder waren nur vorgeschoben, um eine Steuerreformaus wahltaktischen Gesichtspunkten zu verhindern.Die sicherlich positive Nachricht lautet, dass es zu ei-ner spürbaren Steuersatzsenkung für Kapitalgesellschaf-ten kommt. Eine Absenkung auf 25 Prozent macht die Ka-pitalgesellschaften international sicherlich ein Stück weitwettbewerbsfähiger und die Anrechnung der Gewerbe-steuer bei einigen Unternehmen – nicht bei allen – ist si-cherlich ebenfalls eine Entlastung. Aber das sind schonalle Vorteile.Der Systemwechsel weg von der klassischen Anrech-nung, die einmal als großer Erfolg gefeiert worden ist, denSie vornehmen, bringt so viele neue Schwierigkeiten,dass ich bezweifle, ob er auf Dauer haltbar ist. Das Steu-ersenkungsgesetz verstößt gegen grundlegende Prinzi-pien der Steuersystematik. Es verletzt die Rechtsform-neutralität und das Prinzip der Finanzierungsneu-tralität. Eine so eklatante Differenzierung bei der Be-steuerung von Einkünften hat es noch nie gegeben. Diedeutliche Bevorzugung der Kapitalgesellschaften istschon mehrfach angesprochen worden.
Dies wird auch gesellschaftspolitische Folgen haben.Herr Brüderle, Sie haben dies völlig richtig dargestellt.Ich fordere Sie deshalb auf, wieder Chancengleichheitherzustellen. Wenn bei den Kapitalgesellschaften die Ver-äußerungsgewinne steuerfrei bleiben – dafür mag esdurchaus Gründe geben –, müssen auch Personengesell-schaften und Einzelunternehmer in gleicher Weise ihreChance für Umstrukturierungsprozesse erhalten. Deshalbist es unerlässlich, den halben Steuersatz bei der Besteue-rung der bei der Veräußerung von Unternehmen und Be-teiligungen erzielten Gewinne wieder einzuführen. Auchandere Umstrukturierungshilfen, die Sie abgeschafft ha-ben, müssen wieder zur Geltung kommen.Die zweite Forderung heißt: Beseitigen Sie die Unter-schiede bei den Steuersätzen zwischen Körperschaft-steuer und Einkommensteuer! Es ist einfach nicht hinzu-nehmen, dass eine deutliche Absenkung des Körper-schaftsteuersatzes und die Beibehaltung des steil anstei-genden Progressionstarifs mit frühzeitigem Beginn derSpitzenbesteuerung zu solchen ungleichen Belastungen,die sich insbesondere beim Mittelstand auswirken,führen.Das führt zu neuen Gestaltungen und Missbräuchen.Dann stellen Sie sich wieder hin und sagen: Diese Miss-bräuche müssen beseitigt werden; das sind Steuertrickse-reien. – Es ist ja in den Kommentaren dieser Tage weit-gehend angesprochen worden, welche neuen Möglichkei-ten es hier gibt und wie das ausgenutzt werden wird.Die dritte Forderung heißt: Beseitigen Sie diese unsäg-liche Optionsmöglichkeit!
Es ist eine Missgeburt ohnegleichen, was hier gemachtwird.Wissen Sie, ich stehe mit diesen Forderungen ja nichtallein. Es sind Minister aus verschiedenen Ländern undalle möglichen anderen zitiert worden. Aber, liebe FrauScheel, ich darf einmal Ihre Kolleginnen zitieren. DieFraktion der Grünen hat heute im Bayerischen Landtageinen Dringlichkeitsantrag eingebracht.
– Heute. – Darin heißt es:Die Staatsregierung wird aufgefordert, im Bundesratbei den zu erwartenden Verhandlungen im Ver-mittlungsausschuss folgende Kompromisslinie zuverfolgen:Erstens. Annäherung der bisher unterschiedlichenSteuerbelastung bei Veräußerungen zwischen Perso-nengesellschaften und Kapitalgesellschaften.
Zweitens. Erhöhung der Einkommensgrenze für denSpitzensteuersatz von 45 Prozent zur Abmilderungder so genannten kalten Progression.Das, was Sie bei Herrn Rauen so kritisiert haben, stehtin diesem Dringlichkeitsantrag.
Weiter heißt es hier:Drittens. Überprüfung des Optionsmodells für Per-sonenunternehmen.Das ist genau die Methode, die Sie, Frau Scheel, stän-dig praktiziert haben, indem Sie etwas angekündigt habenund im Finanzausschuss dazu geschwiegen und es nichtmehr weiter verfolgt haben.
Letzten Endes: Die Entlastung kommt zu spät. Deswe-gen fordere ich Sie auf, im Vermittlungsausschuss bereitzu sein, die Absenkung des Tarifverlaufs nicht erst 2005,sondern schon wesentlich früher zu akzeptieren.
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Weil Herr Kollege Rauen wegen seiner Beispielrech-nungen so kritisiert worden ist, sage ich noch dies: DerBund der Steuerzahler hat Ihnen allen einen Brief ge-schrieben und an einem Beispiel Folgendes sehr deutlichgemacht:Die direkten Abzüge mit Steuern und Sozialabgabenwerden bei einem ledigen Durchschnittsverdienermit einem Jahresbruttoeinkommen im Jahr 2000 von52 200 DM auch im Jahr 2005 noch immer bei49 Prozent liegen. Dies sind nur 2,9 Prozentpunkteweniger als 1998.Bitte bewirken Sie eine deutliche und frühzeitige Ent-lastung! Das kommt der Wirtschaft, den Arbeitnehmernund den Investoren zugute. Damit könnte man wirklicheine wertvolle Stütze für die konjunkturelle Belebungschaffen. Geben Sie Ihre starre Haltung auf! Nutzen Sie,weil es nicht mehr anders geht, da Sie vorher nicht dazubereit waren, wenigstens im Vermittlungsausschuss diegegebenen Spielräume!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist Kollege Dr. Ditmar Staffelt für die SPD-
Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da er der letzte Red-
ner vor der namentlichen Abstimmung ist, bitte ich Sie
ausdrücklich darum, auch dem Kollegen Dr. Staffelt die
entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich amEnde dieser Debatte noch einige kurze Anmerkungen zuden Realitäten in unserem Lande machen. Das, was ichhier in den letzten drei Stunden gehört habe, war ein Sze-nario, das mit den Tatsachen und mit dem Optimismus inunserem Lande überhaupt nichts zu tun hat.
Die Realitäten sind die: Der BDI, immerhin ein wich-tiger Verband in unserem Lande, der die Industrie reprä-sentiert, hat gerade erklärt:Die deutsche Konjunktur ist mit Rückenwind insneue Jahr gestartet. Der Aufschwung gewinnt zu-nehmend an Breite und Dynamik. Die konjunkturel-len Frühindikatoren zeichnen ein überaus freundli-ches Bild. Die wirtschaftliche Lage als auch die Ge-schäftserwartungen der Unternehmen geben Anlasszu Optimismus wie schon lange nicht mehr.Meine Damen und Herren, das sind die Nachrichten, aufdie Sie einmal hören sollten.
Ihr Geschwätz über Negativentwicklungen in diesemLande wird von niemandem mehr ernst genommen.
Deshalb ist Ihr Verhältnis zur Wirtschaft in unseremLande auch zerrüttet.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Vorhin ist daraufverwiesen worden, dass die Steuerreform, die wir ma-chen, nicht die Ausgeburt von Ideen aus Ministerien undVerwaltungen ist. Nein, die Vertreter der Wirtschaft habenmit am Tisch gesessen, haben die Reform wesentlich mit-geprägt. Jetzt haben wir das Ergebnis. Es ist ein gutes Er-gebnis. Alle Vertreter der großen Verbände in diesemLande haben gesagt: „Jawohl, wir könnten uns die eineoder andere Verbesserung vorstellen. Aber die Richtungist richtig. Wir wollen diese Reform.“ Dies ist die Bot-schaft, über die wir heute zu reden haben.
Schauen Sie sich – das hat auch etwas mit unserer Dis-kussion zu tun – die Entwicklung der Haushaltslage an!Es ist darüber debattiert worden. Wir werden in allerBreite bei dem Versuch unterstützt, den Haushalt zu kon-solidieren, endlich von der Verschuldung und den Zins-notwendigkeiten, die wir haben, wegzukommen. Auchdas ist eine Politik, die die Unterstützung der Mehrheit inunserem Lande hat. Daran gibt es gar keinen Zweifel.
Wenn Sie sich die Arbeitsmarktzahlen ansehen, dannkönnen wir auch hier sagen: Ja, es gibt eine Entwicklungzum Besseren. Wir bewegen uns auf dreieinhalb Milli-onen Arbeitslose zu. Es werden neue Arbeitsplätze ge-schaffen. Im Gegensatz zu Ihren Anmerkungen haben wirsehr wohl bei den kleinen und mittleren Unternehmen inden neuen Technologien einen Boom an Existenzgrün-dungen. Das muss doch Gründe haben.
Das Klima ist also gut. In einem Punkt kann ich HerrnMichelbach beruhigen. Ich weiß nicht, ob er anwesend ist.Es ist aber üblich, Fragen zu stellen und dann nicht mehrzuzuhören.
Ich sage Ihnen Folgendes: Ihre Unterstellung, als würdeirgendwer in der Sozialdemokratischen Partei oder in derKoalition von dem persönlich haftenden UnternehmerAbstand nehmen wollen, ist durch nichts zu belegen undnicht haltbar. Wir wollen Unternehmerpersönlichkeiten indiesem Lande. Wir tun sehr viel dafür, dass sich solcheUnternehmerpersönlichkeiten herausbilden können. Wirschaffen Rahmenbedingungen, die Sie nicht geschaffenhaben.
Wenn wir über die Steuerreform reden, lassen Sie michmit einem gewissen Schmunzeln einmal darauf hinwei-sen, wie die Diskussion neuerdings verläuft: die CDUals Rächer der Enterbten, Sie als diejenigen, die die so-ziale Frage entdeckt haben, die sich im Übrigen für diekleinen und mittleren Unternehmen ins Zeug werfen, alshätten Sie noch nie etwas mit großen Unternehmen in un-serem Lande zu tun. – Wir brauchen uns nur einmal die
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Hansgeorg Hauser
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veröffentlichten Spenden bei Ihnen etwas näher anzuse-hen, um Ihre Verbindungen zur Großindustrie und zu denKonzernen festzustellen.
Ich sage sehr sachlich: Es ist eine völlige Fehlein-schätzung, zu glauben, die Großen könnten ohne dieKleinen und die Kleinen ohne die Großen in unseremLande vernünftig existieren. Schauen Sie sich einmal dieZulieferbetriebe bei uns an! Es geht uns darum, dass so-wohl die Kapitalgesellschaften als auch die Personenge-sellschaften von dieser Steuerreform profitieren. Ich sageIhnen: Sprechen wir in einem Jahr wieder darüber, dannwerden Sie sehen, dass es auch bei Ihnen Erkenntnissegibt, über die Sie heute nur reden, die dann aber durch dieRealitäten gedeckt sein werden.
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte: DieSteuerreform insgesamt wird etwas für die Unternehmenbringen. Aber wir haben – dazu bekennen wir uns – auchetwas für die soziale Gerechtigkeit getan. Wir haben diekleinen Einkommen entlastet. Das gehört – das muss im-mer wieder gesagt werden – zum Gesamtszenario diesesgroßen Steuerpakets der Bundesregierung. Deshalb wer-den wir mit großer Überzeugung diesem Steuerpaket zu-stimmen. Ich bin ganz sicher, dass wir in den Verhand-lungen im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss eintragfähiges Ergebnis für unser Land erzielen werden.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zu den Abstimmungen.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über denTagesordnungspunkt 3 a, und zwar zunächst über den Ent-wurf eines Steuersenkungsgesetzes der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Bun-desregierung auf den Drucksachen 14/2683, 14/3074 und14/3366 Nr. 1 Buchstabe a. Dazu liegen zwei Änderungs-anträge der Fraktion der PDS vor, über die wir zuerst ab-stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag aufDrucksache 14/3383? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen desHauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-che 14/3384? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses ge-gen die Stimmen der PDS abgelehnt.Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab-stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alleUrnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstim-mung. –Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Ich schließe die Abstimmung und weise darauf hin, dass34 Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion*) und einKollege der PDS-Fraktion**) Erklärungen zur Abstim-mung nach § 31 der Geschäftsordnung abgegeben haben.Diese Erklärungen werden zu Protokoll genommen. Ichbitte nunmehr die Schriftführerinnen und Schriftführer,mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zunehmen, weil wir jetzt mit den Abstimmungen fortfahren.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der PDS zum Steuersenkungs-gesetz auf Drucksache 14/3390. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hau-ses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.Noch zum Tagesordnungspunkt 3 a: Der Finanzaus-schuss empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 14/3366 die An-nahme von zwei Entschließungen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Op-positionsparteien angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfder Fraktion der CDU/CSU zur Umsetzung einer Steuer-reform für Wachstum und Beschäftigung auf Drucksa-che 14/2903. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Druck-sache 14/3366 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzuleh-nen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der CDU/CSU aufDrucksache 14/2903 abstimmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen vonSPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung derF.D.P. und gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitereBeratung.Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung desFinanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu einer Steuerreform für mehr Wachstum und Be-schäftigung auf Drucksache 14/3366. Der Ausschussempfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, denAntrag auf Drucksache 14/2688 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmenvon SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen dieStimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. ange-nommen.Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu demAntrag der Fraktion der F.D.P., „Unternehmensteuerre-form – Liberale Positionen gegen die Steuervorschlägeder Koalition“, Drucksache 14/3366. Der Ausschuss emp-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Dr. Ditmar Staffelt9808
*) Anlagen 2 und 3**) Anlage 4fiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung, den Antragauf Drucksache 14/2706 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmenvon SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen dieStimmen der F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU-Frak-tion angenommen.Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu demAntrag der Fraktion der PDS, „Besteuerung der Unter-nehmen nach deren Leistungsfähigkeit“, Drucksa-che 14/3366. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 5 sei-ner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksa-che 14/2912 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlus-sempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegendie Stimmen der PDS angenommen.Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu demBericht der Bundesregierung über die Höhe des Existenz-minimums von Kindern und Familien für das Jahr 2001,Drucksache 14/3366. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 6seiner Beschlussempfehlung, den Bericht auf den Druck-sachen 14/1926 und 14/2770 zur Kenntnis zu nehmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung isteinstimmig angenommen.Wir warten noch auf das Ergebnis der namentlichenAbstimmung. Ich unterbreche die Sitzung.
Wir fahren in den Be-ratungen fort.Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den Gesetzentwurf eines Steuersenkungsge-setzes der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen sowie derBundesregierung aufDrucksachen 14/2683,14/3074 und 14/3366 bekannt: Abgegebene Stimmen622. Mit Ja haben gestimmt 324, mit Nein haben ge-stimmt 298, Enthaltungen keine.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters9809
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 625davonja: 324nein: 301JaSPDBrigitte AdlerGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseDr. Eberhard BrechtRainer Brinkmann
Bernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannUrsula BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtSebastian EdathyLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerPetra ErnstbergerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherIris FollakNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagPeter Friedrich
Lilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannProf. Monika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseWolfgang GrotthausHans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterEike HovermannChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzProf. Dr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderWaltraud LehnRobert LeidingerKlaus LennartzEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Christa LörcherErika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieHeide MattischeckMarkus MeckelUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensProf. Dr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfMichael Müller
Jutta Müller
Christian Müller
Franz MünteferingAndrea NahlesVolker Neumann
Gerhard Neumann
Dr. Edith Niehuis
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Dr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothProf. Dr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugProf. Dr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichDr. Carola ReimannMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigMarlene RupprechtThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerHorst SchildDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderDr. Emil SchnellWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Reinhard Schultz
Volkmar Schultz
Ewald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenRolf SchwanitzBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseReinhold Strobl
Dr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberDr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerJochen WeltDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekJürgen Wieczorek
Helmut Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Brigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyBÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENGila Altmann
Marieluise Beck
Volker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerGrietje BettinAnnelie BuntenbachEkin DeligözFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Katrin Dagmar Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtMonika KnocheSteffi LemkeDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeOswald MetzgerWinfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchWerner Schulz
Christian SimmertChristian SterzingHans-Christian StröbeleJürgen TrittinDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerSylvia VoßHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
NeinCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtHans-Dirk BierlingDr. Joseph-Theodor BlankRenate BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümFriedrich BohlDr. Maria BöhmerSylvia BonitzWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepePaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberHartmut Büttner
Dankward BuwittCajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Leo DautzenbergWolfgang DehnelHubert DeittertAlbert DeßRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelUlf FinkIngrid FischbachDirk Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerKurt-Dieter GrillHermann GröheManfred GrundHorst Günther
Carl-Detlev Freiherr vonHammersteinGottfried Haschke
Gerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen HedrichHelmut HeiderichUrsula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannKlaus HoletschekJosef HollerithSiegfried HornungJoachim HörsterHubert Hüppe
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Susanne JaffkeGeorg JanovskyDr.-Ing. Rainer JorkBartholomäus KalbSteffen KampeterDr.-Ing. Dietmar KansyIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr.-Ing. Paul KrügerDr. Hermann KuesKarl LamersDr. Norbert LammertHelmut LampDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Bernd Neumann
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Katherina ReicheErika ReinhardtHans-Peter RepnikKlaus RiegertFranz RomerHannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseKurt J. RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Michael von SchmudeBirgit Schnieber-JastramDr. Rupert ScholzReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffDiethard Schütze
Clemens SchwalbeDr. Christian Schwarz-SchillingWilhelm-Josef SebastianHorst SeehoferHeinz SeiffertRudolf SeitersWerner SiemannJohannes SinghammerBärbel SothmannMargarete SpäteCarl-Dieter SprangerWolfgang SteigerDr. Wolfgang Freiherr vonStettenAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenDr. Rita SüssmuthEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlGunnar UldallArnold VaatzAngelika VolquartzAndrea VoßhoffDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlAribert WolfElke WülfingPeter Kurt WürzbachWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerF.D.P.Hildebrecht Braun
Rainer BrüderleErnst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherKlaus HauptDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichBirgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich Leonhard KolbGudrun KoppJürgen KoppelinIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperDr. Günter RexrodtDr. Edzard Schmidt-JortzigGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkPDSMonika BaltDr. Dietmar BartschPetra BlässMaritta BöttcherEva-Maria Bulling-SchröterRoland ClausHeidemarie EhlertDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang GehrckeDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiUwe HikschDr. Barbara HöllUlla JelpkeSabine JüngerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerRolf KutzmutzHeidi LippmannUrsula LötzerDr. Christa LuftHeidemarie LüthAngela MarquardtKersten NaumannRosel NeuhäuserChristine OstrowskiDr. Uwe-Jens RösselChristina SchenkGustav-Adolf SchurDr. Ilja SeifertDr. Winfried WolfEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUAbgeordneteBehrendt, Wolfgang, Bühler, Klaus , Haack, Karl-Hermann, (Extertal)SPD CDU/CSU SPDLamers, Dr. Karl A., Siebert, Bernd, Zierer, Benno,CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSUDer Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 bauf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungAgrarbericht 2000Agrar- und ernährungspolitischer Bericht derBundesregierung– Drucksache 14/2672 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten derEuropäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten
aa) zu der Unterrichtung durch die BundesregierungAgrarbericht 1999Agrar- und ernährungspolitischer Bericht derBundesregierung– zu dem Entschließungsantrag der Fraktion derCDU/CSU– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-ten Kersten Naumann und der Fraktion der PDS– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
und der Fraktion der F.D.P.– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-ten Matthias Weisheit, Bernhard Brinkmann
, Christel Deichmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke,Kersten Müller , Rezzo Schlauch und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENbb) zu der Unterrichtung durch die BundesregierungAgrarbericht 1998Agrar- und ernährungspolitischer Bericht derBundesregierung– Drucksachen 14/347, 14/348 ,14/1155, 14/1156, 14/1157, 14/1158, 13/9823,13/9824 , 14/272 Nr. 100,14/2198 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter BleserZu dem Agrarbericht 2000 liegen ein Entschließungs-antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen und ein Entschließungsantrag der Fraktion derCDU/CSU vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Das Hausist damit einverstanden. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst demBundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Fors-ten, Karl-Heinz Funke, das Wort.Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Die Ergebnisse des Agrarberichtes 2000sind Ihnen bekannt. Es gibt keinen Zweifel: Das Wirt-schaftsjahr 1998/99, um das es dabei geht, war unter demStrich kein Grund zum Frohlocken. Das Tief bei denSchweinepreisen hat bei den Veredelungsbetrieben eingroßes Loch in die Kasse gerissen. Man darf sagen, dasswenigstens die Futterbaubetriebe, die immerhin 60 Pro-zent der landwirtschaftlichen Betriebe ausmachen, einPlus verbuchen konnten.Deutlich wird, meine Damen und Herren – das hat sichhier einmal mehr bestätigt –: Die Einkommen werden ent-scheidend durch die Märkte bestimmt. Daran ändernauch Versuche nichts, von wem auch immer sie kommenmögen, der Bundesregierung eine Mitschuld an den Ein-kommenszahlen des letzten Wirtschaftsjahres in dieSchuhe zu schieben. Ich glaube auch – das will ich dabeigerne unterstreichen –, dass man einem Phantom nach-jagt, wenn man den Eindruck erweckt, dass man den Be-trieben auf Dauer Einkommen und Existenz durch Preis-stützung und Absatzgarantien sichern könne. Ich bin so-gar der Auffassung, man darf einen solchen Eindrucknicht länger erwecken.
Viele von uns haben das ohnehin nie richtig geglaubt,vielleicht auch jene nicht, die zumindest in Wortbeiträgenhier und da diesen Eindruck zu erwecken versuchten.Wenn es auf den Märkten nicht stimmt, kann es derStaat auch bei noch so viel gutem Willen – der sei durch-aus unterstellt – auf Dauer nicht richten. Größere Markt-schwankungen bei Schweinen, Kartoffeln, Obst undGemüse, um nur einmal diese Produkte zu nehmen, hat esimmer gegeben und wird es auch in Zukunft geben. DieErfahrung zeigt: Im Endergebnis werden schlechte Jahredurch gute ausgeglichen und insgesamt fahren die Land-wirte damit nicht schlecht. Ich will an dieser Stelle auchdarauf hinweisen – wir sollten das in der Öffentlichkeitvielleicht öfter als in der Vergangenheit tun –, dass manzukünftig mehr als früher Instrumente wie Warentermin-börsen nutzen sollte, um sich zum Beispiel gegen Preis-schwankungen abzusichern.In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass zuneh-mend darüber diskutiert und die Einschätzung geteiltwird, dass wir in der ganzen Absatzkette mehr Koopera-tion brauchen, um in der Vermarktung so schlagkräftigzu werden, dass wir über den Markt entsprechende Erlöse
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Vizepräsident Rudolf Seiters9812
erzielen können. Ich will das an dieser Stelle nicht vertie-fen, aber für mich ist das eine Konsequenz nicht nur ausdiesem Agrarbericht, sondern im Grunde auch aus denagrarpolitischen Debatten und den Agrarberichten derletzten Jahre.Der Staat kann die regulierende Wirkung des Markt-mechanismus auf Dauer nicht außer Kraft setzen undsollte es im Grunde auch nicht versuchen. Gerade bei denSchweinen haben wir in den letzten Monaten gesehen,dass die Selbstregulierungskräfte auf diesem Marktfunktionieren. Hier wird, wohlgemerkt von einem niedri-gen Niveau ausgehend, wieder Geld verdient. So war esim Übrigen richtig, dass wir in Brüssel konsequent ge-blieben sind und uns nicht auf eine Diskussion eingelas-sen haben, die darauf hinauslaufen sollte – das wurde voneinigen Ländern durchaus gewünscht und wiederholt in-tensiv vorgetragen –, mit entsprechenden Instrumentenbis hin zu Produktionsquoten in diesen Markt einzugrei-fen.
Auch auf anderen Märkten – uns liegen gerade diejüngsten Berichte dazu vor – hat sich die Situation in denletzten Monaten stark verbessert. Anziehende Welt-marktpreise verbessern die Exportbedingungen – dazugehört alles, was man mit „Währungsrelationen“ um-schreiben kann – und helfen Lager zu räumen.
Der Rindfleischberg ist praktisch abgeräumt. Ich halte dasfür einen großen Erfolg, weil er uns die letzten Jahrzehntegroße Schwierigkeiten und Sorgen auch hinsichtlich derPreise und damit verbundener Einkommen bereitet hat.Die erhöhten Prämien aufgrund der Agenda und stabileErzeugerpreise bieten den Rindfleischerzeugern positiveRahmenbedingungen. Ich will auch das einmal deutlichsagen.Auch bei der Milch geht es mit den Preisen Gott seiDank wieder bergauf. Beim Getreide wurde vor einigenTagen erstmals seit Jahren wieder eine größere MengeWeizen zum Export ohne Erstattung zugeschlagen. Ichhalte das für eine bemerkenswerte Tatsache, weil daszeigt, dass wir zunehmend in der Lage sind, über auf denMärkten erzielte Preise Einkommen zu erzielen.
– Das habe ich eben exakt gesagt, als ich das Stichwort„Währungsrelationen“ nannte, das genau diesen Punktumfasst. Ich habe es zwar anders formuliert, aber genaudas war gemeint.
– Dann verstehe ich den Zwischenruf allerdings nicht.
– Vielen Dank für die Bestätigung. Ich bin durchausfriedlich gestimmt und will keine unnötige Kontroverseaufkommen lassen.Für mich sind diese positiven Entwicklungen eine Be-stätigung auch des Agenda-Kurses, der ja mehr Marktori-entierung bedeutet. Damit ist für mich belegt, dass dievorhandenen Befürchtungen, aufgrund der Agenda wür-den die Preise förmlich ins Bodenlose fallen – ich erinneremich in diesem Zusammenhang an den einen oder ande-ren Beitrag –, nicht gerechtfertigt waren. Man muss sichhier Gott sei Dank eines Besseren belehren lassen.Die erfreuliche Marktentwicklung – die ersten Anzei-chen liegen vor – wird auf die Einkommen der Landwirtedurchschlagen. Der Deutsche Bauernverband hat seinenegative Einkommensprognose für das laufende Wirt-schaftsjahr schon korrigiert. Das ist gut so. Unsere imHause aktuell durchgeführten Berechnungen deuten aufeinen Einkommenszuwachs von bis zu 5 Prozent hin.Damit nicht der Vorwurf kommt, es würde etwas un-terschlagen, will ich sagen, dass ein Wermutstropfen vonder Wetterfront kommt, was die Getreide- und Ölsaaten-bestände anbelangt. Diesen Punkt möchte ich aber nur amRande erwähnen. Im Übrigen ist durch die Agenda auchdiesbezüglich ein positiver Effekt gegeben: Ernteunab-hängige Flächenprämien ermöglichen im Gegensatz zurPreisstützung auch eine gewisse Risikoabsicherung. Dasgehört auch zur Wahrheit.Was der Staat zur Zukunftssicherung unserer Land-wirtschaft tun kann und tun sollte – wir haben wiederholtdarüber diskutiert –, ist, zumindest für annähernd gleicheWettbewerbsbedingungen zu sorgen. Wir bemühen uns indiesem Bereich. Angesichts meiner begrenzten Redezeitwill ich hier den Stand der Diskussion nicht im Einzelnendarstellen. Hier liegt eine dauerhafte Aufgabe, nicht erstseit heute, sondern schon seit längerem.Wir müssen außerdem gewährleisten, dass der Struk-turwandel ohne Verwerfungen und soziale Härten ver-läuft. Wir müssen Anreize schaffen, dass auch nichtmarktgängige Leistungen, die gleichwohl von der Gesell-schaft erwünscht sind, erbracht werden. Ich denke hier anden Umwelt- und Naturschutz.
Auf der einen Seite arbeiten wir daran, dass die euro-päische wie die deutsche Landwirtschaft Chancen hat, anwachsenden Agrarmärkten mit den eben beschriebenenTendenzen teilzuhaben. Auf der anderen Seite müssen wirdas Modell des europäischen landwirtschaftlichen Betrie-bes, das europäische Agrarmodell, verteidigen und seineUmsetzung gewährleisten. Ich verweise in diesem Zu-sammenhang darauf, was wir beim so genannten Agrar-diesel erreicht haben. Wir sind entschieden der Auffas-sung, dass das Geld bei den Bauern ankommen muss. Inder Diskussion, die wir darüber führen, gibt es keine ideo-logische Fixierung. Es kann nicht sein, dass wir Geld be-reitstellen, es aber zwischendurch sozusagen auf derStrecke bleibt und nicht bei den Höfen ankommt. Die ent-sprechenden Entscheidungen sind getroffen.
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Bundesminister Karl-Heinz Funke9813
Herr Bundesminis-
ter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ja, gerne.
Herr Bundesmi-nister Funke, Sie haben eben zwei Punkte angesprochen,bei denen ich gerne nachfragen möchte. Sie haben sichdafür ausgesprochen, die Wettbewerbsbedingungen fürdie deutsche Landwirtschaft im europäischen Binnen-markt zu harmonisieren. Sie haben gleichzeitig das Wort„Agrardiesel“ in den Mund genommen. Wenn ich mir ein-mal die Zahlen für Frankreich ansehe, dann kann ich fest-stellen, dass dort der Preis etwa ein Drittel des Preises inder Bundesrepublik Deutschland beträgt. Die Preise inDeutschland haben sich in diesem Bereich verdoppelt.Sie haben weiterhin gesagt, der deutsche Staat solle nichtversuchen, in die Marktentwicklung einzugreifen. Wennich die Situation in meinem eigenen Wahlkreis betrachte,kann ich feststellen, dass Sie die Kosten für die Betriebe –darin sind Ihre Verbesserungen, die Sie eben für das kom-mende Jahr angekündigt haben, schon eingerechnet – ummehr als 115 Prozent erhöht haben. Das ergeben Modell-rechnungen für Betriebe, die tatsächlich existieren.In diesem Zusammenhang lautet meine Frage: Wie schät-zen Sie die Harmonisierung vor dem Hintergrund ein,dass Sie beim Agrardiesel eine Wettbewerbsverzerrungherbeigeführt haben?Wie wollen Sie eigentlich das, was Sie eben zumAgrardiesel gesagt haben, in die Realität umsetzen, wennSie als Staat geradezu eingreifen und nicht die Wettbe-werbsbedingungen verbessern, sondern im Gegenteil demdeutschen Landwirt den Wettbewerb erschweren undseine Chancen verschlechtern?Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Die zweite Frage habe ichschlichtweg im ersten Teil nicht verstanden, deswegenkann ich darauf nicht antworten. Ich weiß nicht, was Siemit der 115-prozentigen Steigerung meinten. Das könnenSie mir noch einmal mitteilen, dann will ich Ihnen dasgern erläutern.Zum ersten Teil: Es ist unstrittig, dass wir hier höherePreise haben. Wir haben wiederholt darüber diskutiert –insoweit ist der Neuigkeitswert dieser Intervention nichtgerade horrend –, dass wir höhere Preise zu zahlen habenund dass es unsere Wettbewerbsinitiative gibt, um Har-monisierung in Europa zu erreichen. Ich wäre froh gewe-sen, wenn das schon in den letzten Jahren geleistet wor-den wäre. Ich muss Ihnen das Argument wieder nennen:Sie haben ja zwischendurch auch die Mineralölsteuerkräftig erhöht, ohne die Dieselrückerstattung ebenfallszu erhöhen, die nach Ihrem Duktus eigentlich hätte erhöhtwerden müssen, wenn Sie von gleichen Wettbewerbsbe-dingungen reden. Sie haben da Ihre Hausarbeiten auchnicht erledigt. Ich gebe gerne zu, dass es hier eine Wett-bewerbsverzerrung gibt; das ist auch unstrittig. Wir wer-den weiter daran arbeiten, diese Wettbewerbsunter-schiede, so gut es geht, anzugleichen.Allerdings sage ich auch hier wieder ganz entschieden:Wettbewerbsunterschiede immer auf einen Punkt zu re-duzieren ist nicht sach- und fachgerecht, sondern Sie müs-sen dann die ganze Bandbreite der Wettbewerbsbedin-gungen sehen, von der Umsetzung der Agenda über dasBaurecht bis hin zu Energiepreisen.Es ist bemerkenswert – ich lasse das im Moment auf-arbeiten, weil ich es genauer wissen will –, was französi-sche Bauern zu den Wettbewerbsbedingungen sagen. Im„Ernährungsdienst“ ist gerade ein schöner Artikel veröf-fentlicht worden, wonach die französischen Schweine-halter ihrer Regierung vorhalten, dass die Wettbewerbs-bedingungen in diesem Sektor insbesondere in Deutsch-land und Spanien günstiger seien als in Frankreich.
Auch das ist bemerkenswert. Diese ganze Debatte überWettbewerbsbedingungen will ich gerne tiefer ausloten;ich habe mich in früherer Eigenschaft damit auch schonbeschäftigt.
– Nein, Herr Kollege Schindler, es ging dabei nicht um dieWildschweine. Da muss ich Sie enttäuschen. Es ging aus-drücklich um die Hausschweine. Ich gebe allerdings zu,dass ich die spezifischen Haltungsbedingungen für Wild-schweine in Frankreich nicht kenne.
Meine Damen und Herren, ich wollte jetzt eigent-lich darauf hinweisen, dass wir – durchaus nach großenMühen – auf europäischer Ebene Gott sei Dank, einen Be-schluss zur Rindfleischetikettierung durchgesetzt ha-ben. Ich erwähne das in diesem Zusammenhang, weil esfür mich auch ein Wettbewerbsvorteil für deutsche Land-wirte ist, wenn wir zum 1. September eine Rindfleische-tikettierung – das vorziehend, was europaweit erst späterkommt – durchführen, weil man damit am Markt Vorteileerheischen kann. Die Tatsache, dass wir bei der Kenn-zeichnung dann eindeutig garantieren, dass das Fleischzur Gänze – von der Zucht über die Mästung bis zurSchlachtung, Zerlegung und Verarbeitung – aus Deutsch-land kommt, führt auch zu mehr Chancen am Markt undermöglicht es, sich im Wettbewerb gegenüber anderenkonkurrierenden Mitgliedstaaten eher durchzusetzen. Fürmich ist das eindeutig ein Wettbewerbsvorteil.Wir werden darum alles tun, um das so schnell wiemöglich umzusetzen. Ich möchte von dieser Stelle aus andie Länder appellieren. Sie haben ja immer gefordert, dasswir eine möglichst zügige Umsetzung garantieren. Wirhaben in einer, wie ich meine, Rekordzeit von elf Tagendie entsprechenden Vorbereitungen getroffen, um das Ge-setzgebungsverfahren in Gang zu setzen. Ich möchte dieLänder bitten, hier ebenfalls zügig zu arbeiten, damit wirbis zum Herbst alles umsetzen können.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 20009814
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, CDU/CSU-
Fraktion.
Vielleichtsolltest du das einmal bleiben. Es wäre zumindest ange-bracht, dass man, bevor man hier Kommentare abgibt, ersteinmal zuhört.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Funke hat einiges gesagt, nicht allzu viel. Er hatdavon gesprochen, welche Auswirkungen die Schwächedes Euro hat. Er hat die positiven Effekte auf den Exportvon Nahrungsmitteln aus der und den Import von Nah-rungsmitteln in die Euro-Zone beschrieben. Dem kannman zustimmen. Aber es gilt dann auch, zumindest lang-fristig über einige negative Aspekte zu diskutieren. Eswürde jedoch den Rahmen dieser Debatte sprengen, wennwir das hier aufarbeiten würden.Er hat dann vom Wettbewerb gesprochen, dem sichdie deutsche Landwirtschaft zu stellen hat. Wir gehen ja,trotz der Euro-Schwäche, von einem immer stärker wer-denden Wettbewerbsdruck aus. Insoweit folge ich HerrnFunke. Das hat er in den letzten Monaten immer wiederverkündet, häufig als seine Erkenntnis, obwohl ichglaube, dass viele Agrarpolitiker, auch viele Landwirte,diese Erkenntnis teilen. Aber wenn ich schon von einemzunehmenden Wettbewerbsdruck ausgehe, der sich, zu-mindest in der Euro-Zone, ohne Währungsverschiebun-gen niederschlagen wird, muss ich doch fragen: Was ma-che ich in der deutschen Agrarpolitik, damit die deutschenBauern dem Wettbewerbsdruck besser standhalten kön-nen?
Das andere brauchen wir doch hier nicht zu diskutie-ren. Dass Preise steigen, kann man sich agrarpolitisch ge-nauso wenig auf die Fahnen schreiben, wie man sinkendePreise Herrn Funke anlasten sollte, es sei denn, die Rah-menbedingungen hätten sich an bestimmten Stellen durchdie Agenda 2000 so verschlechtert, dass es zu einemPreisdruck kommt. Ansonsten ist das nicht festzumachen,weder an der Politik von Herrn Funke noch an der Politikvon früheren Landwirtschaftsministern, weder im Positi-ven noch im Negativen.Aber hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der deut-schen Landwirtschaft entscheidet sich doch vieles in derhausgemachten Agrarpolitik und darüber gilt es zu disku-tieren.
Da wird aber immer wieder abgelenkt. Wir diskutierenjetzt über Agrardiesel, über die agrarsozialen Sicherungs-systeme und über andere Schwerpunkte, wie wir die Wett-bewerbsfähigkeit verbessern, und wir schauen, was dieanderen Länder machen, die möglicherweise schlechtersind als wir, zum Beispiel Frankreich, wo sich die Rah-menbedingungen noch schlechter darstellen als inDeutschland.
Ich finde, wir sollten um die besseren und nicht um dieschlechteren Rahmenbedingungen in der nationalen Poli-tik konkurrieren.
Wenn die rot-grüne Regierung in Frankreich für die fran-zösischen Bauern zurzeit schlechtere Rahmenbedingun-gen schafft, dann ist das kein Vorbild für die deutscheAgrarpolitik; das dürfte es zumindest nicht sein.
Aber wenn man sich anschaut, wie hier Agrarpolitikbetrieben wird, stellt man fest, dass es in der deutschenLandwirtschaft ein ungeheures Belastungsszenario gibt,das nicht mit dem in anderen volkswirtschaftlichen Be-reichen zu vergleichen ist. Das ist unser Kritikpunkt undden werden wir immer wieder aufgreifen, bis Rot-Grünmöglicherweise eine Kehrtwende in der Agrarpolitik voll-zieht.
Da ist die Frage Agrardiesel aufzugreifen. Am Endeder Agrardiesellösung, im Jahre 2003, wird der Agrardie-sel in Deutschland doppelt so teuer sein wie der Diesel,der in der Landwirtschaft in Dänemark eingesetzt wird.Die Dänen werden etwa 60 Pfennig bezahlen, wir1,20 DM. Wir müssen aber mit den Dänen konkurrieren.Mir hat einmal jemand gesagt, in Griechenland sei derDiesel, den man in der Landwirtschaft einsetzt, noch teu-rer als in Deutschland. Mich interessiert gar nicht, was dieGriechen bezahlen. Mich interessiert, was die Dänen, dieFranzosen, die Niederländer und die Belgier bezahlenmüssen, weil das unsere Hauptwettbewerber sind.Hier findet eine extreme Wettbewerbsverschlechte-rung statt. Wir haben früher trotz der Mineralölsteuerer-höhungen, die wir vorgenommen haben, pro Liter Dieselnur etwa 60 Pfennig gezahlt. Es ist richtig, wenn HerrThalheim immer wieder darauf verweist, wir hätten in den16 Jahren unserer Regierung Mineralölsteuererhöhungenin Höhe von 17 Pfennig vollzogen.
Aber Sie vollziehen innerhalb von vier Jahren Mineralöl-steuererhöhungen von 35 Pfennig.
Das Problem ist, dass Sie das innerhalb von vier Jahrentun.Sie finden in diesem Zusammenhang keine adäquateLösung für den Agrardiesel. Das habe ich Ihnen hier
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bereits vorgehalten. Damit wird in der deutschen Land-wirtschaft die Energie einseitig verteuert.
Herr Meister hat doch Recht, dass damit für die deutschenLandwirte ein Problem entsteht. Das wird durch entspre-chende Preise für den Agrardiesel nicht kompensiert.Ich will jetzt nicht darüber sprechen, dass es erst umdas Einfärben von Agrardiesel ging, es dann zu allen mög-lichen Lösungsmöglichkeiten kommen sollte und manjetzt doch wieder an ein Erstattungsverfahren denkt, dasauch wir früher praktiziert haben.
Was ist daran so neu? Dass diese Dinge jetzt der Zollabwickeln muss, dass beim Zoll eine neue Bürokratieaufgebaut wird und dass die alten Bürokratien, die sichmit dem Erstattungsverfahren vernünftig auseinander ge-setzt haben, jetzt ausgeblendet werden?
Was soll das Ganze? Hierzu ist zu sagen: Anstatt neueBürokratien entstehen zu lassen, sollten Sie den Landwir-ten über den Agrardiesel lieber eine höhere Gasölverbilli-gung zukommen lassen. Das wäre eine sinnvolle Agrar-politik.
– Wilhelm, melde dich bitte zu einer Zwischenfrage.Dann bin ich bereit, sie zu beantworten. Ich gehe aber da-von aus, dass du keine richtige Zwischenfrage zurAgrarpolitik formulieren kannst, was gar nicht gegen dichspricht.Bei den agrarsozialen Bedingungen ist von Folgendemauszugehen: Überall spricht man davon, dass die Sozial-beiträge gesenkt werden sollen. Nur bei der Landwirt-schaft steigen sie. Uns wurden im letzten Jahr im Bereichder agrarsozialen Alterssicherung etwa 400 MillionenDM gestrichen. Dem Bereich der Knappschaft werden zu-sätzlich 390Millionen DM zur Verfügung gestellt. Das istdoch ein Widerspruch in sich. Erkläret mir, Graf Oerindur,diesen Zwiespalt der Natur! Wieso finanziert man den ei-nen Bereich stärker öffentlich mit und wieso zieht mansich aus einem anderen Bereich zurück?Das Gleiche betrifft die Beiträge zu den Berufsgenos-senschaften. Ich bin ja damit einverstanden, wenn wirauch im Ernährungsausschuss des Deutschen Bundesta-ges – wir von der CDU/CSU haben bisher als Einzige einschlüssiges Konzept vorgelegt –
über Reformanstrengungen im Hinblick auf die Berufs-genossenschaften diskutieren.
– Wir haben ein Reformkonzept vorgelegt. Ihr wollteteuch dem sogar anschließen und habt euch dann verwei-gert, weil wahrscheinlich das Bundeskanzleramt gesagthat, dass ihr nicht zustimmen dürft.Wir haben gesagt, bei den Berufsgenossenschaf-ten sollten Konzentrationsprozesse eingeleitet werden, esdürfe aber keine bundeseinheitliche Berufsgenossen-schaft geben. Wir haben gefordert, bei den Berufsgenos-senschaften die Verwaltungskosten nicht mitzufinanzie-ren, damit wir die schon bestehenden überhöhten Verwal-tungskosten durch eine Mitfinanzierung des Bundes nichtnoch unterstützen.
Wir haben einen entsprechenden Antrag vorgelegt.Matthias Weisheit, dieser Antrag sollte sogar gemeinsamvorgelegt werden. Ihr habt euch dann verweigert – ob-wohl wir zugestimmt haben –,
weil ihr damals, wie übrigens in der entsprechendenAgrarsozialdebatte nachzuweisen ist, noch für eine bun-deseinheitliche Berufsgenossenschaft wart.Aber deswegen ist doch eine Politik nicht richtig, dieden strukturellen Wandel, der in der Landwirtschaftgrößer ist als in allen anderen volkswirtschaftlichen Be-reichen – in der Landwirtschaft gibt es die höchstenRationalisierungserfolge unserer Volkswirtschaft –, nichtdurch eine Mitfinanzierung der Berufsgenossenschaft ab-federt. Denn sonst führte dies zu dem Ergebnis, dass aufeinen in diesem Bereich Beschäftigten mehr Rentnerkommen, als das in anderen volkswirtschaftlichen Berei-chen der Fall ist. Deshalb halte ich jedenfalls die Mitfi-nanzierung für richtig.Es wird auch zu einer Steigerung der Beiträge für dieBerufsgenossenschaften kommen. So wird die Landwirt-schaft in Deutschland ständig zusätzlich belastet. Aberwenn man sich in den Wettbewerb begeben soll, dann darfman nicht zusätzlich Klötze an die Beine gebunden be-kommen, die man als Handicap im Wettbewerb mit ande-ren mit sich herumschleppen muss. Die Landwirtschaftmuss von diesem Handicap befreit werden. Sie muss denanderen Teilen unseres Wirtschaftsstandortes durch Ent-lastungen gleichgestellt werden, um sich auf den Märk-ten, auch auf den Weltmärkten besser positionieren zukönnen.
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Heinrich-Wilhelm Ronsöhr9816
Herr Kollege
Ronsöhr?
Nein, ich
habe nur noch etwa eine Minute Redezeit.
Die Zeit wird nicht
angerechnet.
Herr
Weisheit kann ja etwas dazu sagen, wenn er spricht. Ich
habe gesehen, dass er auf der Rednerliste steht.
Ich bin der Auffassung, dass diese Belastungen der
Landwirtschaft auch bei einer positiven Marktentwick-
lung Chancen nehmen. Sie muss das kompensieren kön-
nen, was sie bei negativen Marktentwicklungen zu ver-
kraften hatte. Das halte ich für entscheidend.
Hinzu kommt ein Weiteres: Herr Funke, mir wurde im
nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf gesagt, Sie
hätten sich hingestellt und gesagt, Herr Fischler habe Sie
gezwungen, die Vorsteuerpauschale um 1 Prozent zu
reduzieren.
Ich habe mit Herrn Fischler darüber gesprochen und halte
Ihre Aussage deshalb für verkehrt. Ich will das hier rich-
tig gestellt wissen; denn damit darf man nicht auf agrar-
politische Veranstaltungen gehen: Hätten wir die
Vorsteuerpauschale bei 10 Prozent belassen, hätten wir
der deutschen Landwirtschaft auch bei steigenden Preisen
möglicherweise 1 Prozent mehr Umsatzvolumen gelas-
sen. Auch das wäre entscheidend gewesen. Dann nämlich
hätten sich die Gewinne nicht so reduziert, wie es im
Agrarbericht der Bundesregierung aufgezeigt wird.
Ich meine, mit Hilfe dieser Stellschrauben, die hausin-
tern eingestellt werden können, muss eine Weichenstel-
lung in Richtung einer vernünftigen Agrarpolitik stattfin-
den. Dies fordern wir von der CDU/CSU immer wieder
ein.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Ulrike
Höfken.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Tendenzen, diesich im Agrarbericht 2000 widerspiegeln, sind ja nicht ge-rade gegenläufig zu den bisher verzeichneten Tendenzen.Der Strukturwandel ist die langfristige Folge der Agrar-politik der letzten Jahrzehnte.Ich muss sagen: Es schmerzt mich natürlich, wenn ichlese, dass 30 000 Betriebe ihre Hoftore geschlossen ha-ben. Das ist keine Entwicklung, die ich begrüße; ganz imGegenteil. Aber man muss in diesem Zusammenhang aufeines hinweisen: Der Grund für das Aufgeben vieler Be-triebe liegt doch darin, dass es keine Hofnachfolger und-nachfolgerinnen gibt. Das heißt: In ihrer langfristigenPlanung ist für junge Menschen der Bereich Landwirt-schaft immer weniger attraktiv geworden.
– Das ist ja absolut lächerlich. Es geht doch um die Ent-scheidungen, die in den letzten zehn Jahren getroffen wor-den sind.
Das können Sie in jedem Ausbildungsbericht schwarz aufweiß nachlesen.Das hat sehr viel mit einer mangelnden Reformbereit-schaft und mit einem bisher mangelnden Reformwillen inder Agrarpolitik zu tun. Es ist statt in Arbeitnehmer in Ma-schinen investiert worden. Es ist, statt sich auf Lohnunter-nehmen auszurichten, eine Übermechanisierung der Be-triebe eingeleitet worden, was zu der Situation geführthat, dass die Arbeitsbelastung immer unerträglicher wird
und junge Menschen, aber auch Frauen diese Arbeit vonmorgens bis abends nicht mehr machen wollen.
Es ist übrigens noch zu verzeichnen, dass die Situationim Osten Deutschlands relativ stabil ist. Das ist immerhinfür viele Regionen und für viele Betriebe eine erfreulicheEntwicklung.
Im Agrarbericht ist verzeichnet – in diese Richtungging auch die Stellungnahme des DBV –, dass es im Be-reich der Absatzmärkte eine Entwicklung gibt, dieaußerordentlich negativ ist. Aber hier gilt das, was Minis-ter Funke schon gesagt hat: Es ist nicht an der Politik,diese Absatzmärkte auf Dauer auszurichten. Das wird sienicht können.Zu Recht führt der Bauernverband an, dass es in denBereichen Schweinefleisch, Milch, Eier, Rindfleisch Ein-bußen gegeben hat. Aber auch bei dieser Frage möchte ichnoch einmal auf die Diskussion gestern im Ausschuss ver-weisen. Man kann sich hier stundenlang trefflich über dieFeuchtigkeitsvorschriften bei der Intervention unterhal-ten. Diese neuen Grenzen haben wir übrigens in den letz-ten Jahren nie erreicht. Aber es ist doch ein Skandal, dasszwei Drittel der Roggenernte als Interventionsbestandeingelagert wird. Das ist keine Entwicklung, die man aufDauer fortschreiben kann.
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Ich will auch noch einmal an einen Diskussionsbeitragzum Thema Flachs und Hanf im Ausschuss erinnern. DerVertreter der EU-Kommission hat eindeutig gesagt, not-wendig sei – und das wird von der EU-Kommission ein-geleitet –, eine wachsende Unabhängigkeit der Landwirt-schaft von staatlichen Subventionen. Daran wird sich dieKommission orientieren, und daran wird sich die Politikausrichten müssen.
Im Übrigen haben wir im Bereich Hanf Initiativen zurbesseren Verteilung der Kontingente eingeleitet.
Ich will im Zusammenhang mit der Einkommensent-wicklung zu einem anderen Punkt kommen. Auch derDBV hat die Frage der Kosten angesprochen. Es werdensteigende Kosten bei den Maschinen und auch bei denDienstleistungen angeführt. Ich möchte hier auf eines hin-weisen – diese gesamte Diskussion wird zum großen Teilpolemisch geführt –: Die Steigerung der Energiekosten,die hier so beklagt wird und die auf die Bundesregierungzurückgeführt wird, hat mit der Politik der Bundesregie-rung überhaupt nichts zu tun.
In diesem Jahr 2000 beträgt die Gasölbeihilfe 835 Milli-onen DM; im Jahre 2001 wird sie 375 Millionen plus460 Millionen betragen; das macht 835 Millionen DM.Das heißt, der Rückgang, der hier zu verzeichnen ist, gehtauf ein anderes Konto, nicht auf das der Bundesregierung.Ich möchte gleichzeitig erwähnen: Es hat eine Strom-verbilligung gegeben,
die der Deutsche Bauernverband selbst mit etwa 350 Mil-lionen DM beziffert hat.
Es hat weiterhin die Markteinführungsprogramme gege-ben.
Es sind 200 Millionen DM für erneuerbare Energien zurVerfügung gestellt worden; es gibt 20 Millionen DM fürdie Förderung biogener Treib- und Schmierstoffe. Wennhier auf die 6 Pfennig Belastung durch die Ökosteuer hin-gewiesen wird, muss ich sagen: Es gibt Kompensations-möglichkeiten, die kurz- oder langfristig wirken können.Im Bereich des Agrarhaushalts gibt es bisher keine Ein-bußen zu verzeichnen.
Frau Kollegin
Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
neten Hornung?
Nein,im Moment nicht. – Probleme sind verschleppt und nichtgelöst worden. Das ist genau der Punkt, den diese Bun-desregierung anpackt. Ich muss schon sagen, HerrRonsöhr: Ihre Rede hat mich in Erstaunen versetzt. Sie be-klagen die fehlende Reform der Sozialversicherungen.Die Missstände in diesem Bereich haben sich allerdingsschon vor zehn Jahren abgezeichnet und Reformen hättenlängst einsetzen müssen.
Diese Bundesregierung hat die Arbeit daran aufgenom-men und bis Ende des Jahres wird sie einen entsprechen-den Reformentwurf vorlegen. Das Gleiche gilt für den Be-reich der Milch. Die Belastungen durch die Milchquoten-kosten bei den Milcherzeugern sind dramatisch gestiegenund nichts ist getan worden.
– Nein, überhaupt nicht, das war zu Zeiten Ihrer Regie-rung. – Wir haben hier immerhin einen Kompromiss ge-funden. Jetzt endlich gibt es eine Entlastung für die akti-ven Betriebe.
Weiter zum Bereich Pflanzenschutz. Es gab riesigeProbleme mit den Lückenindikationen. Das aber ist Ihnenerst jetzt aufgefallen. Es gibt dazu eine EU-Richtlinie, diemehr als sechs Jahre alt ist. Am 4. April 2000 ist derCDU/CSU aufgefallen, dass es hier Beschleunigungsbe-darf gibt. Nach Ihren eigenen Worten hat die Zusammen-arbeit zwischen den Behörden im Bereich des Pflanzen-schutzes noch nie so gut geklappt wie heute. Es gibt effi-ziente, praxisgerechte Lösungen. Man bereitet sich aufdie Umsetzung der Richtlinie vor. Das wurde endlich an-gegangen, in einer ganz anderen Stimmung als die, dievorher geherrscht hat.
Wir haben gerade die Steuerreform beschlossen. Dasist sehr gut, weil darin auch die Anliegen der Landwirt-schaft zu einem großen Teil aufgenommen worden sindund weiter diskutiert werden. Dadurch wird sich die Kauf-kraft erhöhen. Wir sind wild entschlossen, dafür zu wer-ben, dass von der Kaufkrafterhöhung nicht nur Mallorca
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Ulrike Höfken9818
profitiert, sondern ein Teil davon den Landwirten und denLebensmittelproduzenten zugute kommt.
Auch beim Agrardiesel ist – das ist bereits von Minis-ter Funke erwähnt worden – eine Lösung gefunden wor-den, die besser ist als das, was vorher war.Nun zum Bereich Naturschutz, wo es endlose Kon-fliktlinien gegeben hat. Wir werden Ende des Jahres eineNovellierung des Naturschutzgesetzes zu diskutieren ha-ben. Auch hier wird es, so denke ich, zu vernünftigen Lö-sungen kommen, die der Landwirtschaft eine Perspektivebieten werden –
ich hoffe, mit Ihrer Unterstützung.
Schließlich noch zu den Herkunftskennzeichnungen.Seit der BSE-Krise hat die alte Bundesregierung diesesVorhaben immer wieder herbeigeschworen, niemalswurde es umgesetzt. Endlich ist die Etikettierung da –Minister Funke hat es gesagt: Wir haben sie gerade be-schlossen –, und zwar so, dass der Verbraucher etwas da-mit anfangen kann und dass unsere Produkte vernünftigbeworben werden können.Nachdem dieser Reformstau angegangen und aufge-löst worden ist – natürlich sind das Kompromisse; Ide-allösungen haben auch wir nicht erreicht, aber es gibt Lö-sungen –, wenden wir uns den Anforderungen der Zukunftzu. Das ist in erster Linie die Vorbereitung auf 2006.Natürlich ist es in unserem Sinne – und dies ist auch dieHaltung der Bundesregierung –, dass im Rahmen derAgenda 2000 für die Landwirtinnen und LandwirtePlanungssicherheit besteht. Wir wissen aber alle, dass dieOsterweiterung der EU, dass die WTO, dass die Finanz-kapazität der Europäischen Union eine Neuorientierungunausweichlich machen. Insofern haben wir die Aufgabe,uns auf diese Zukunftsanforderungen vorzubereiten. Dasheißt, es wird zu einer Neuorientierung der Agrarförde-rungen kommen.Die Green-Box-Maßnahmen, die jetzt in der WTOverankert worden sind, werden einen immer größerenRaum einnehmen. Übrigens glaube ich nicht, dass Agrar-diesel auf Dauer dazuzählen wird. Darüber hinaus wirddie Verordnung Ländlicher Raum in der EU eine größereRolle spielen, zulasten der – wie sich das schon zurzeit ab-zeichnet – Abteilung Garantie. Es ist unsere Aufgabe, dieAgrarpolitik auf diese Anforderungen, auf diese Wettbe-werbsbedingungen auszurichten.
Dies wurde von Ihnen vernachlässigt. Sie diskutierenewig und drei Tage über die Feuchtigkeitsgehalte von Ge-treide, aber nicht darüber, wie man die Agrarförderungendgültig auf eine andere Ebene stellt.
Zu den Zukunftsanforderungen zählen im Wesentli-chen fünf Punkte: Lebensmitteln und Landwirtschaftmuss ein neuer Stellenwert gegeben werden. Das ist eineAufgabe, die sich nicht nur in parlamentarischen Anträ-gen niederschlagen darf, sondern natürlich auch in einemneuen Stellenwert. Dieses Ziel haben wir als Grüne so-wohl auf unserem Parteitag – mit unserer Kampagne„Natürlich. Gesund. Genießen.“ – als auch hier im Bun-destag und zusammen mit der Bundesregierung unterstüt-zen, das heißt Wiedergewinnung des Vertrauens der Ver-braucher, Lebensmittelsicherheit sowie regionale Verar-beitung und Vermarktung, Transparenz und Sicherheit beider Anwendung und der Vermarktung von gentechnischveränderten Produkten, also ein eindeutiger Schutz derVerbraucher.Der zweite Punkt ist die Orientierung auf Verbrau-cher- und Gesundheitsschutz. Weitere Antibiotika inFuttermitteln sollen ersetzt werden. Übrigens ist die of-fene Deklaration von Futtermitteln ein Erfolg, der geradeerst erreicht werden konnte. Minister Funke hat sich in derEU-Kommission dafür eingesetzt. Endlich ist sie da.Da Sie gerade von Frankreich gesprochen haben,möchte ich Ihnen sagen: Frankreich setzt überhaupt keineTiermehle mehr ein, und auch wir müssen diskutieren, obwir Tierkadavermehle oder entsprechende Risikomate-rialien weiterhin in Futtermitteln einsetzen wollen.
Dazu zählt aber auch die Reduzierung von Pestizid-rückständen, die im Übrigen bei der Kindernahrung ge-rade erreicht wurde. Dazu zählt ferner das Programm„Umwelt und Gesundheit“, das dafür Sorge tragen wird,dass dem Verbraucherschutz in Unterstützung des Weiß-buchs der EU-Kommission ein deutlich höherer Stellen-wert eingeräumt wird,
und natürlich auch mit der Intention, das Vertrauen in dieLebensmittel wieder herzustellen.Der dritte Punkt ist der Tierschutz. Dieser Punkt hateine sehr hohe Priorität beim Verbraucher. Der eingelei-tete Schritt zur Abschaffung der Käfighaltung in der EUwird von uns begrüßt und unterstützt. Wir werden inDeutschland eine Umsetzung erreichen, die Rücksicht aufdie Anforderungen und die Spielräume des Urteils desBundesverfassungsgerichts nimmt.Dank der Länder Nordrhein-Westfalen und Nieder-sachsen sind wir heute in der Lage – das hat die Politik lei-der in den vergangenen Jahrzehnten nicht geschafft –, zueiner neuen Tierschutzpolitik im Bereich der Hennenhal-tung zu kommen.
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Ulrike Höfken9819
Heute fordern wir in unserem Entschließungsantragdie Bundesregierung auf, die Entscheidung der Verbrau-cher auf dem Markt im Hinblick auf tierschutzgerechteProdukte, wie zum Beispiel die Kennzeichnung von Eiernvon in Käfigen gehaltenen Hühnern, zu unterstützen. Wirwerden weitere Anstrengungen im Bereich der Tiertrans-porte und des Tierschutzes unternehmen. So steht es auchim Entschließungsantrag.Der vierte Punkt ist die Orientierung auf Natur- undUmweltschutz. Hier werden die Fördertatbestände derZukunft liegen. Dazu gibt es eine wichtige gesellschaftli-che Unterstützung und wir erwarten, dass die ideologi-schen Schranken vonseiten der Verbände, der Nutzer undteilweise auch der Umweltschutzorganisationen nieder-gerissen werden
und dass es eine konstruktive zukunftsgerichtete Diskus-sion geben wird, die bis zum Ende dieses Jahres ziel-führend sein wird.
Der fünfte Punkt ist die Orientierung auf Arbeits-plätze. Das Bündnis für Arbeit im ländlichen Raum ist inGang gekommen und soll weitergeführt werden. Darauflegen wir großen Wert. Es gibt hier eine Entwicklung, dieich für überfällig halte: Das Landwirtschaftsministeriumund wir als Landwirtschaftspolitiker müssen uns als In-teressensverwalter und Interessenswahrnehmer des länd-lichen Raums insgesamt betrachten und dies in der Poli-tik entsprechend umsetzen.
Dazu gehören die Förderung und Unterstützung vonQualifizierung, Bildung, Ausbildung, neue Medien unddie Förderung von Wirtschaftsinitiativen im Bereich desHolzabsatzes und des ökologischen Landbaus, die ar-beitsplatzorientiert sind, nachwachsende Rohstoffe,
Energiedienstleistungen, neue Dienstleistungen insge-samt und natürlich auch, wie die IG BAU in ihrer Stel-lungnahme schreibt, eine zunehmende Orientierung aufArbeitnehmer. Das sind wichtige Aufgaben unserer poli-tischen Arbeit.
Der letzte Punkt ist ein sehr wichtiger für uns: Wir ha-ben vereinbart, uns noch stärker in den ökologischenLandbau einzubringen. Wir haben gestern ein Gesprächmit dem Handel gehabt. Zweistellige Zuwachsraten wer-den hier bei Bioprodukten weiterhin erwartet.
Wir haben schon viele grundlegende Schritte getan, undich muss ganz klar sagen: Wer diesen Markt verschenkt,verschenkt die Chancen für die Landwirtschaft.
Trotz der Zuwachsraten sind wir in Deutschland immernoch das Schlusslicht im Vergleich zu Italien, Österreich,Dänemark und anderen, die massiv in diese Märkte ge-hen. Wir wollen im Bundestag und in den Anhörungen imAusschuss noch stärker in diese Richtung unterstützendwirken. Erste Ergebnisse haben wir erreicht, so beispiels-weise das Institut für ökologischen Landbau in Trenthorstund auch Verbraucher-Informationsbroschüren, die auf-gelegt werden. Gerade den Bereich der Verbraucherinfor-mation und des Absatzes werden wir weiterhin unterstüt-zen. Die Reform der Gemeinschaftsaufgabe hat bereitsstattgefunden. Hier sind auch die Länder aufgefordert,diese neuen Möglichkeiten zur Förderung der ökologi-schen Landwirtschaft, zur Förderung des Absatzes undder Verarbeitung von Ökoprodukten zu nutzen. Ich dankeIhnen.
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Ulrich Heinrich.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heuteüber den Agrarbericht 2000. Herr Minister, Sie habennicht stolz Bilanz gezogen, sondern eher lustlos eine Redevorgetragen, die große Lücken aufwies.
Herr Minister, Sie haben nichts gesagt, was als zukunfts-weisende Rahmenbedingung im Bereich der WTO ge-nommen werden könnte. Sie haben sie nicht einmal er-wähnt. Sie haben auch kein Wort zur Osterweiterung ge-sagt. Das sind Themen, die uns in den nächsten Wochenund Monaten beschäftigen werden und zu denen wir gerneine Auskunft darüber erhalten hätten, wie die Bundesre-gierung in Zukunft ihre Politik gestalten will.
Für die F.D.P. geht es darum, Chancen für die Zukunftder Landwirtschaft zu nutzen, in Deutschland und Europaeine zukunftsfähige Landwirtschaft aufzubauen bzw. wei-terzuentwickeln. Wir bekennen uns nachdrücklich zumeuropäischen Agrarmodell: Nachhaltigkeit, Multifunktio-nalität und wettbewerbsfähige Landwirtschaft. Meine Da-men und Herren, darin sind wir uns sicherlich einig.Aber wenn es ins Detail geht und darauf ankommt, dieRahmenbedingungen zu definieren, die notwendig sind,um überhaupt erst Wettbewerbsfähigkeit herzustellen,sieht es leider Gottes nicht so besonders gut aus. Wir stel-len fest: Wichtige Entscheidungen sind bereits gefallen.Die Ökosteuer ist gelaufen. Heute wurde die Unterneh-mensteuerreform in dritter Lesung verabschiedet. Die na-mentliche Abstimmung hat die Regierung gewonnen.
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Ulrike Höfken9820
Die Agenda 2000 ist verabschiedet, aber es sind nochkeine Auswirkungen definitiv spürbar. Es ist völlig unge-klärt, was hinsichtlich der in Zukunft in der WTO-Rundezu treffenden wichtigen Entscheidungen auf uns zu-kommt. Welchen Rat sollen wir unseren Landwirten ge-ben? Wie sollen sie betriebswirtschaftlich reagieren, da-mit sie nicht in die falsche Richtung laufen? Dazu hättenwir uns heute eine Auskunft gewünscht.
Auch die Entscheidungen in Richtung Osterweite-rung sind noch nicht getroffen. Wir befinden uns mittenin einem Entstehungsprozess. Die osteuropäischen Staa-ten haben große Bedenken dass sie gegebenenfalls vonden Produkten aus der Europäischen Union überflutetwerden könnten. Das Verhältnis ist nämlich 1:8. Es gehenachtmal mehr Waren aus der Europäischen Union in Rich-tung Polen und Osteuropa als umgekehrt. Es bestehen al-lerdings auf beiden Seiten Bedenken. Darüber muss poli-tisch diskutiert werden und dies muss thematisiert wer-den.Für uns ist es nach wie vor entscheidend, dass die Rah-menbedingungen stimmen. Herr Minister, selbstverständ-lich kann die Regierung die Einkommen nicht setzen.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Wenn wirvon Rahmenbedingungen sprechen, sind die Steuernselbstverständlich an erster Stelle zu erwähnen. Herr Pro-fessor Köhne von der Universität Göttingen hat gesagt,durch das Steuerentlastungsgesetz entstehe eine Schief-lage zuungunsten der Landwirtschaft. Hier frage ichmich: Wer setzt die Rahmenbedingungen, damit sich dieLage verbessert und wir wettbewerbsfähig bleiben, oderwer geht in die falsche Richtung?
Mit der Ökosteuer haben wir eine zusätzliche Belas-tung, die auch nicht durch die jetzige Agrardieselregelungausgeglichen wird, die in ganz Europa kein anderes Landzu tragen hat. Dazu muss ich schon sagen: Die Rahmen-bedingungen sind eben nicht so, dass wir sie positiv for-mulieren könnten und die Herausforderungen aus der all-gemeinen Entwicklung entsprechend annehmen könnten.
Zum Agrardiesel. Meine Damen und Herren, wennman gewusst hätte, dass das, was heute beschlossen wor-den ist, auf den Tisch kommt, dann hätte man es bei deralten Regelung belassen können.
Das Gesetz hat beide Ziele verfehlt, meine Damen undHerren. Erstens. Die Bürokratie wurde nicht abgebaut.
Es ist eher zu befürchten, dass es noch mehr Bürokratiegibt. Zweitens. Die Belastung für die Landwirtschaftdurch die Mineralölsteuer wurde erhöht und nicht abge-senkt. Hier wird von Green Box gesprochen. KollegeCarstensen hat bereits bei der Rede der Kollegin Höfkendarauf hingewiesen. Wenn denn die Green Box so toll ist,dann macht es doch, wo ihr es könnt. Aber ihr macht dasGegenteil, ihr belastet die Bauern auch im Bereich desAgrardiesels zusätzlich und entlastet sie nicht.
Da könnt ihr zusammenrechnen, was ihr wollt, aber ihrkönnt nicht gegen Adam Riese Politik machen. Das mussman hier einfach zur Kenntnis nehmen.
Hier verläuft die Entwicklung der Rahmenbedingungenin die falsche Richtung.Meine Damen und Herren, große Sorgen habe ich, dassdiese Bundesregierung nicht in der Lage sein wird, die3. Novelle des Naturschutzgesetzes, in der das Eigentumnoch seinen Stellenwert hat, tatsächlich so bestehen zulassen, wie wir sie in der letzten Legislaturperiode verab-schiedet haben, und die Länder aufzufordern, sie umzu-setzen.
Wenn man hört, welche Verwässerung UmweltministerTrittin im Bereich Naturschutz vorhat, dass er einfach soeinmal zwischen 50 000 und 100 000 Hektar verschenkt,dann muss jeder erkennen, welches grundsätzliche Ver-ständnis von Eigentum dies darstellt.Wenn darüber geredet wird, dass die gute fachlichePraxis neu definiert werden muss, dann haben wir jaschon genau den Ansatz. Sie sind dabei, die Rahmenbe-dingungen zu verschlechtern,
denn Sie wollen natürlich das Niveau der Ausgleichsre-gelung absenken. Sie wollen natürlich mit dieser Neude-finition, dass es keine Entschädigungsleistung gibt.
Genau das sind die Punkte, die uns zu schaffen ma-chen, und zwar nicht nur der Landwirtschaft, sondernauch der Forstwirtschaft.Wir haben große Sorgen, dass zusätzlich zu den He-rausforderungen, die die Landwirtschaft nun einmal be-stehen muss, weil sie in Europa keinen isolierten Bereichdarstellt, Belastungen auf sie zukommen. Sie kündigenzusätzliche Belastungen im Bereich Umweltschutz an,Sie wollen vom Vertragsnaturschutz abgehen, einer Er-rungenschaft, die auf der Basis der persönlichen Einsichtbasiert und nicht par ordre du mufti entstanden ist. Siemeinen, dass wir staatliche Regelungen brauchen, obwohl
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Ulrich Heinrich9821
wir heute schon über 40 Prozent der landwirtschaftlichgenutzten Flächen im Vertragsnaturschutz haben. Dabrauche ich doch keine zusätzliche staatliche Knute,
sondern muss das Instrument, das ich zur Verfügung habe,entsprechend einsetzen.
Ich habe große Sorgen, dass das Eigentum bei dieserRegierung in diesen Fragen unter die Räder kommt, erstrecht, wenn jetzt über eine Grundsteuererhöhung und eineneue Bemessung diskutiert wird.Meine Damen und Herren, wenn ich die Gewerbe-steuer absenken will und gleichzeitig die Grundsteueranhebe, um die Absenkung der Gewerbesteuer finanzie-ren zu können, dann ist das ein Eingriff in das Eigentum,dann ist das eine Substanzbesteuerung. Substanzbesteue-rungen waren schon allemal die falsche Richtung.
Besteuern Sie das Einkommen, besteuern Sie das Gutha-ben, aber besteuern Sie nicht die Substanz, denn mit derSubstanz müssen die Menschen kalkulieren und von ihrmüssen sie leben können. Wenn sich das derzeit Disku-tierte so auswirkt, dass wir im Forstbereich zum Beispieleine bis zu 40fache Erhöhung bei der Grundsteuer be-kommen, dann ist das alles andere als eigentumsfreund-lich. Das ist absolut eigentumsfeindlich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich zum Abschluss noch zwei wichtige Themen anspre-chen.Zum Ersten. Versetzen Sie die deutsche und die euro-päische Landwirtschaft in die Lage, dass sie sich mit mo-dernen Produktionstechniken im Wettbewerb behaup-tet. Blockieren Sie nicht die Gentechnik, wie Sie es beimBT-Mais gemacht haben, was völlig ungerechtfertigt war.Der Wissenschaftliche Beirat rauft sich die Haare undweiß nicht mehr, was er noch machen soll, weil von derMinisterin genau das Gegenteil dessen gesagt wurde, wasursprünglich vom Wissenschaftlichen Beirat vorgelegtworden war.
Zum Zweiten: die Osterweiterung. Reden wir mit denMenschen über die Osterweiterung nicht als eine unbe-herrschbare Problematik, sondern reden wir mit den Men-schen so darüber, dass sie auf beiden Seiten, auf der Seiteder Kandidatenstaaten und auf der Seite der 15 Mitglied-staaten der EU, positive Aspekte sehen können. Gestaltenwir das so, Herr Minister. Das wird das Entscheidendesein. Sie sitzen im Ministerrat und haben selbstverständ-lich die Möglichkeit, sich dort entsprechend einzumi-schen. Ich bin der Meinung, dass es auf beiden Seitengroße Chancen gibt. Wenn zum Schluss die Finanzierungdie einzige Ausrede dafür ist, dass das eine oder anderenicht gemacht werden kann, dann möchte ich deutlich inErinnerung bringen, dass alle Wissenschaftler, alle Volks-wirtschaftler sagen, dass sich die Osterweiterung für dieVolkswirtschaften der osteuropäischen Staaten, aber auchdes Europas der Fünfzehn positiv auswirken kann, wennman das Ganze richtig macht. Darum lasst es uns richtigmachen. Lasst uns das Schwert, das immer wieder he-rausgeholt wird, einstecken und lasst uns in dieser Frageeine sachliche Diskussion führen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Kersten Naumann.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Ich habe den Eindruck, die Debattenzum Agrarbericht drohen zu einem Ritual zu verkommen.
Auch für den Agrarbericht 2000 gelten die Feststellun-gen des Entschließungsantrages der PDS von 1999, derheute endlich mit zur Abstimmung steht.Bei all den schönen Worten zur Ökosteuer, Strukturpo-litik und Agenda 2000, um die Landwirtschaft auf denWeg der Wettbewerbsfähigkeit zu bringen, muss manfeststellen, dass die praktische Politik anders aussieht. Diewirtschaftliche Situation vieler Landwirte ist so miserabelwie nie zuvor.Zu den Fakten: Der langjährige Abwärtstrend derBrutto- und Nettowertschöpfung hält an. Der weitere Ver-fall der Agrarpreise konnte nicht gestoppt werden. Die ge-setzliche Verpflichtung aus dem Landwirtschaftsgesetzwird wiederum verfehlt. Arbeitskräfte werden zuneh-mend freigesetzt und der Differenzierungsprozess in denAgrarstrukturen geht weiter vonstatten.In der Agrarpolitik schlägt die allgemeine Politikent-wicklung der Neoliberalisierung durch. Die Schlagwortesind Flexibilität, Investitionen, Globalisierung und Ost-erweiterung, also Marktausweitung, Betriebsvergröße-rung, Direktvermarktung und Nischenproduktion.Mit der Weltmarktorientierung verschärfen sich dieKonkurrenzbedingungen. Der Preisverfall ist ein Vorzei-chen für die bevorstehenden Kämpfe um Marktanteile.Die entscheidende Ursache für die negative Entwicklungund Entwertung der landwirtschaftlichen Produkte ist derVerfall der Agrarpreise. Die Erzeugerpreise sanken ge-genüber 1994/95 auf 91 Prozent. Dem stehen Preiser-höhungen bei Nahrungsmitteln auf 102 Prozent und beiden Lebenshaltungskosten auf 104 Prozent gegenüber.Vergleicht man allerdings die Bruttowertschöpfung je Ar-beitskrafteinheit zu festen Preisen, so zeigt sich sogar einAnstieg der Produktivität um 45 Prozent von 1995 bis1999. Zu diesem Problem findet sich im Agrarberichtkeine klare Aussage.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Ulrich Heinrich9822
Das Auseinanderdriften von Agrarpreisen und Preisenanderer Erzeugnisse setzt sich gnadenlos fort. In den ein-zelnen bäuerlichen Haupterwerbsbetrieben verringertsich der Gewinn um 7,3 Prozent, je Hektar landwirt-schaftliche Nutzfläche sogar um 10,1 Prozent. Im Klar-text heißt das: Die Schere geht immer weiter auseinander.Die Bauern arbeiten mehr und verdienen trotzdem weni-ger. Ist das die Auffassung der Bundesregierung von so-zialer Gerechtigkeit?1997 hatten die zehn größten Handelsunternehmen desLebensmittelsektors einen Anteil am Umsatz von 83 Pro-zent. Die Landwirtschaft ist dieser Machtstellung gna-denlos ausgeliefert. Ich meine, sie kann ihren Anteil ander Wertschöpfung nur dann erhöhen, wenn sie mit star-ken Erzeugergemeinschaften der Lebensmittelindustrieentgegentritt.Die vom Landwirtschaftsgesetz immer wieder ange-mahnte Einkommensparität in der Landwirtschaft und inden übrigen Wirtschaftszweigen erweist sich als Fehlan-zeige. So enthält zwar der vorliegende Agrarbericht Ver-gleichsrechnungen. Aber wie immer wird auch in diesemJahr eine Gesamtaussage tunlichst vermieden. Eine Hoch-rechnung ergibt nämlich, dass allein in den Haupt-erwerbsbetrieben ein Gesamtvolumen von 5,5 Milliardenbis 6 Milliarden DM an vergleichbaren Einkommenfehlt. Das sind pro Arbeitskraft etwa 7 000 bis 8 000 DM.Die dramatische Talfahrt der Einkommen in den letz-ten Jahren und der chronische Verfall der Erzeugerpreisekönnen nur gestoppt werden, wenn den Bauern durch einMaßnahmenpaket zugesichert wird, dass Preisdumpingnicht als Inflationsbremse benutzt wird, dass der Konzen-trationsprozess in der Lebensmittelindustrie zurückge-führt wird, dass die regionalen Wirtschaftskreisläufe in-klusive nachwachsender Rohstoffe und Bioenergien stär-ker gefördert werden und dass der Eigenversorgungsgradstabilisiert bzw. wieder angehoben wird.
In dem Abschnitt „Bündnis für Arbeit“ des Agrarbe-richts wird eine wahre Spitzenleistung vollbracht: Hierwird außer allgemeinen Appellen, neue Einkom-mensquellen zu erschließen, lediglich der Urlaub aufdem Bauernhof angepriesen. Wenn Ihnen, meine Damenund Herren von der Regierungskoalition, dazu nicht mehreinfällt, dann wird die Geschichte nicht mehr vom Bau-ernleben, sondern vom Bauernsterben berichten.
Hier der Beweis: In den Jahren von 1991 bis 1999 ging dieGesamtzahl der Betriebe von 654 000 auf 464 000 zurück.Das ist ein Rückgang um 190 000 Betriebe innerhalb von8 Jahren. Also haben im Durchschnitt jährlich über 23 000Bauernhöfe ihre Tore geschlossen. Das hat sicherlichnicht nur etwas mit fehlenden Hofnachfolgern zu tun,Kollegin Höfken.Das Mindeste, was die Bauern aus meiner Sicht brau-chen, sind sozial abgesicherte Regelungen für den unge-wollten Ausstieg. Da gab es schon einmal etwas, nämlichdie Landabgaberente aus dem Jahre 1969. Heute ist sie ge-strichen. Eine Vorruhestandsregelung für die Landwirteist jedoch nicht in Sicht, obwohl die Bundesregierung dieeinmalige Chance hätte, eine solche Vorruhestandsrege-lung – gemäß den Beschlüssen zur Agenda 2000 – zurHälfte aus Brüssel finanzieren zu lassen.Doch was ist zu all den Problemen in der Landwirt-schaft aus dem verantwortlichen Bundesministerium zuhören: „Unternehmertum ist auch in der Land- und Forst-wirtschaft mehr denn je gefragt.“ Unternehmertum istalso die sozialdemokratische Umschreibung und Vernied-lichung von Verdrängungswettbewerb, Einkommensver-lusten, gnadenlosem Preisverfall, Verödung von Flächenund ganzen Dörfern. Unternehmertum ist die Strategie derrücksichtslosen Intensivierung, der Missachtung der Na-tur, der Zerstörung von Arbeitsplätzen und des Kampfesum Marktanteile, durch den die Existenzen anderer ver-nichtet werden. „Landwirtschaft hat Zukunft“, propagiertder Bundeslandwirtschaftsminister dennoch und zählt diefrommen Wünsche nach Erhalt der Arbeitsplätze und derExistenzen in der Landwirtschaft auf. Gern höre ich wohldie Botschaft, Herr Funke, allein mir fehlt der Glaube. IhrLösungsweg heißt: Sicherung der vorhandenen Märkteund Erschließung neuer Märkte. Da wird natürlich ersteinmal auf die osteuropäischen Märkte geschielt. Absatzvon Überproduktion und Ausschöpfung eigener Verarbei-tungskapazitäten sind das eigentliche Interesse.„Die Wirtschaftswoche“ ist da schon ein Stück weiterund zitiert Folgendes:Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Ab-satz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über dieganzeErdkugel.Überallmuss sie sich einnisten, über-all anbauen, überall Verbindungen herstellen.
Was meinen Sie wohl, von wem dieses Zitat stammt? KarlMarx, 1848, „Kommunistisches Manifest“.
– Ich freue mich, dass Sie das kennen.
– Da staune ich wirklich.
– Wie gesagt, es freut mich, dass Sie das kennen.Im Zentrum der Agrarpolitik stand im Berichtsjahr1999 die Verabschiedung der Agenda 2000.Die rot-grüneBundesregierung hat die Weichen für eine stärkere Libe-ralisierung gestellt, mit all den ihr innewohnendenökologischen und sozialen Gefahren. Schon im laufendenWirtschaftsjahr ist zu erkennen, dass Agrarstrukturen zu-nehmend nur auf wettbewerbsfähige Betriebe hinauslau-fen und wieder über 20 000 Bauern auf der Verliererseitestehen werden.
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Kersten Naumann9823
Alles in allem erwartet die PDS von einem Agrarbe-richt tiefgründigere und differenziertere Aussagen zu denlangfristigen ökonomischen, sozialen und ökologischenProzessen in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum.Gestatten Sie mir noch ein persönliches Wort an Mi-nister Funke: Ihrem gereimten Gespräch mit demRind, das besonders in seinem letzten Vers so sehr anlafontainesche Fabeln erinnerte, möchte ich eine pessimi-stische und eine optimistische Strophe hinzufügen.
Die pessimistische Strophe: Der Ochs war schon immerein Opfertier. Er ist Leid gewöhnt – von dir und mir. Je-doch ist ernsthaft zu bedauern das Los des deutschen Ein-zelbauern. – Nun die optimistische Strophe: Genforscherngilt es zu beweisen: Die deutsche Kuh kann Euro sch...Solang dies Wunder nicht vollbracht, hilft Brüssel uns beiZins und Pacht. – Das nächste Mal können wir das singen.
Ich gebe der Kollegin
Jella Teuchner von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Bei dem, was wir heute vonseiten derCDU/CSU und der F.D.P. gehört haben, könnte man bei-nahe den Glauben verlieren. Wir können darüber aber imAusschuss noch einmal grundsätzlich diskutieren. Viel-leicht könnten Sie, Herr Ronsöhr, uns dann Ihr Konzeptzur Reform der agrarsozialen Sicherungssysteme vorle-gen. Ich kenne es bis heute nicht.
– „Wir haben etwas vorgelegt“, sagen Sie. Auch demDeutschen Bauernverband ist nicht bekannt, dass Sie et-was vorgelegt haben. Wir warten noch auf Ihre Vor-schläge.Als agrarpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion
möchte ich mich auf den verbraucherpolitischen Teil desAgrarberichtes beziehen.
– Sie können sich gerne zu einer Zwischenfrage melden,wenn Sie eine stellen möchten. Aber ich denke, dass Sienicht die Absicht haben, das zu tun.Bei dem Stichwort „Lebensmittel“ fallen Ihnen si-cherlich nicht nur Vitamine und Nährstoffe, sondernauch – das ist ebenfalls heute schon angesprochen wor-den – die Begriffe „Dioxin“ und „BSE“ ein. Die Sicher-heit von Lebensmitteln zu gewährleisten sollte eigentlichheißen, dass unsere hohen Standards zu halten und – vorallen Dingen – auszubauen sind. Das heißt aber auch, Kri-minellen das Handwerk zu legen, die sich auf Kosten derGesundheit der Menschen bereichern wollen.
– Ich unterstelle den Bauern keine kriminellen Handlun-gen. Das möchte ich ganz speziell betonen.
Die deutschen Landwirte produzieren hochwertige undsichere Lebensmittel. Ein Netzwerk von lebensmittel-rechtlichen Vorschriften, die amtliche Lebens- und Fut-termittelkontrolle der Länder und die Strategie der Mini-mierung von Belastungen sorgen dafür, dass die Verbrau-cherinnen und Verbraucher einwandfreie Lebensmittelkaufen können. Dieses Netzwerk werden wir kontinuier-lich verbessern, um die Qualität der Lebensmittel zu si-chern und um den vorbeugenden Gesundheitsschutz zustärken.
Die Lebensmittelsicherheit war auch im letzten Jahrtrotz Dioxin- und Klärschlammskandal zu jeder Zeit ge-währleistet. Die Lebensmittelüberwachung funktionierteund sorgte dafür, dass diese Skandale nicht zu Katastro-phen wurden. Die Ursachen dieser Skandale liegen imVersagen Einzelner in der Produktionskette. Einzelne ha-ben das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucherin die Sicherheit der Lebensmittel erschüttert. Dieses Ver-trauen gilt es zurückzugewinnen.Wir als Verbraucher wollen uns beim Essen sicherfühlen. Dies ist unser aller berechtigtes Interesse. Das istaber auch das berechtigte Interesse von Landwirten; dennes geht um ihre Absatzmärkte. Unser Ziel muss es dahersein, die Qualität der Lebensmittel ständig zu verbessernund gleichzeitig diese hohen Qualitäten durch effektiveLebensmittelkontrollen zu sichern. Wir müssen dabei dieLebensmittel vom Futterrohstoff bis zum Teller im Augebehalten und gleichzeitig für Transparenz sorgen. Nie-mand von uns kauft gerne die Katze im Sack, insbeson-dere wenn es um Lebensmittel geht.
– Ich weiß nicht, wie Sie Ihre Haustiere versorgen.
Die Verbraucher wollen wissen, woher ihre Lebens-mittel kommen und was getan wird, um die Lebensmit-telsicherheit zu gewährleisten. Wir sind hier auf einemguten Weg und haben einiges erreicht: Die Voraussetzun-gen für eine umfassende Rindfleischetikettierung wur-den geschaffen. Für britisches Rindfleisch wurden spezi-elle strengere Regelungen getroffen. Die Verbraucher
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Kersten Naumann9824
werden dadurch bei ihrer Kaufentscheidung berücksichti-gen können, woher das Fleisch kommt, das sie kaufen.
Durch die Verabschiedung des Biosicherheitsproto-kolls ist der Vorsorgegrundsatz als Leitgedanke für denHandel mit gentechnisch veränderten Organismen veran-kert worden. Die Novel-Food-Verordnung und die Ver-ordnung zur Kennzeichnung von Lebensmitteln aus ge-netisch verändertem Soja und Mais schaffen eine europa-weite Kennzeichnung.Die Sicherheit vor Antibiotikaresistenzen wurde wei-ter erhöht. Es wurden antibiotische und antimikrobielleLeistungsförderer in Futtermitteln verboten; weitere Er-satzstoffe für Antibiotika wurden zugelassen. Die Kon-trolle der Verwendung bestimmter Tierarzneimittel wurdeverschärft. Strengere Gemeinschaftsregeln bei Rückstän-den von Pflanzenschutzmitteln in Säuglingsnahrung undbei der Lebensmittelbestrahlung wurden beschlossen.Darauf wollen wir aufbauen: Wir halten an der Mini-mierungsstrategie und am Ziel des vorbeugenden Ge-sundheitsschutzes fest. Wir wollen eine Ausweitung derKennzeichnung von Futter- und Lebensmitteln. Wir wol-len die Kontrollen verbessern. Wir werden uns dafür ein-setzen, dass alle europäischen Staaten ihre Aufgaben ernstnehmen. Kontrollen müssen in allen Mitgliedstaaten derUnion im notwendigen Umfang durchgeführt und Ge-fährdungen ohne Verzögerungen weitergemeldet werden.
Wir werden uns ferner dafür einsetzen, dass sichere Le-bensmittel auch im internationalen Handel Standard blei-ben.Die Verantwortung von Produzenten und Handel mussin der gesamten Kette bis hin zum Verbraucher weiterent-wickelt und gesichert werden. Das heißt, dass landwirt-schaftliche Rohstoffe, Futtermittel und Lebensmitteleinschließlich gentechnisch veränderter Produkte trans-parent gekennzeichnet werden müssen. Das bedeutet aberauch, dass Herkunftssicherungssysteme ausgebaut wer-den müssen, damit zu jedem Zeitpunkt die Qualität derNahrungsmittel garantiert werden kann.
Lebensmittelsicherheit bedeutet aber auch ein engesZusammenspiel in der Europäischen Union. Die Ausge-staltung der Rindfleischetikettierung wurde in Brüsselbeschlossen, genauso die Kennzeichnungspflicht fürProdukte aus gentechnisch verändertem Soja und die ver-schärften Vorschriften für Babynahrung. Das Sicherheits-niveau, das wir für die in Deutschland verkauften Le-bensmittel erreicht haben, ist auch Ergebnis eines europä-ischen Harmonisierungsprozesses.
Wir unterstützen daher die von der Europäischen Kom-mission im Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit defi-nierten Ziele: Die bestehenden Gesetze sollen zusam-mengeführt werden, Lücken in der Gesetzgebung sollengeschlossen werden, das Kontrollsystem muss verbessertwerden und die Kompetenzen zur Lebensmittelsicherheitsollen gebündelt werden. Mit dem Weißbuch zur Lebens-mittelsicherheit hat die Kommission ihren Willen be-kräftigt, einen höchstmöglichen Standard der Lebens-mittelsicherheit zu gewährleisten. Wir unterstützen alleVorschläge, die zu einem weiter verbesserten gesundheit-lichen Verbraucherschutz führen.
Wir setzen uns daher auch dafür ein, schrittweise eineuropäisches Lebensmittelmonitoringsystem aufzubauen,das als ständiges Mess- und Beobachtungssystem für Le-bensmittel dazu dienen soll, die Lebensmittelbelastungenund ihre Entwicklung zu ermitteln, Gesundheitsgefähr-dungen frühzeitig zu erkennen und Quellen festgestellterBelastungen aufzudecken und zu schließen.Unseren Kindern sagen wir ja oft: Was auf den Tellerkommt, wird auch aufgegessen. Wir essen allerdings nurungern, wenn etwas auf den Teller kommt, von dem wirnicht wissen, was es ist. Wir wollen die Sicherheit der Le-bensmittel so weit wie möglich garantieren. Wir wollenauch, dass sich die Verbraucherinnen und Verbraucherdessen sicher sind. Wir haben einiges erreicht und werdendiesen Weg auch zukünftig weitergehen.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Helmut Heiderich für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Alle, diein diesen Tagen mit offenen Augen durch Deutschlandfahren oder gehen
– auch laufen oder joggen –, sind begeistert von derSchönheit unserer Landschaft. Die meisten nehmen dasunbeschwert und fröhlich so hin und denken nicht weiterdarüber nach, dass das gar nicht so selbstverständlich ist;denn auch dies ist ein Stück Agrarbericht. Es ist eine be-sondere Leistung unserer flächendeckenden bäuerlichenLandwirtschaft, die sie sozusagen nebenbei erbringt. Ichglaube, der Freizeitwert Deutschlands wäre um ein Er-hebliches geringer, wenn es unsere Bauern nicht gäbe.
Auch deshalb ist es unsere Aufgabe als Politiker, unsum das Wohl und Wehe der deutschen Landwirtschaft undihrer Zukunft zu kümmern. Deshalb geht es in der jährli-chen Debatte um den Agrarbericht nicht nur um die Ausle-gung von Zahlenkolonnen oder um die Interpretation sta-tistischer Größen. Es geht vielmehr darum, welche Be-deutung wir der Landwirtschaft für unsere Gesellschaftbeimessen.
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Jella Teuchner9825
Dazu sei noch eine weitere Leistung angemerkt, diemeist ebenso selbstverständlich hingenommen wird. DieVerbraucher wenden in Deutschland inzwischen wenigerals ein Siebtel ihres Einkommens für die Ernährung auf.
Dies ist eine direkte Folge der gewaltigen Produktivitäts-leistung unserer Bauern.
Ehe manche aus Unkenntnis ständig von angeblicher Sub-ventionierung reden, sollten sie erst einmal zur Kenntnisnehmen, dass davon hauptsächlich die Verbraucher inForm von preisgünstigen und trotzdem hoch qualitativenLebensmitteln profitieren.
Die landwirtschaftlichen Betriebe sind aber unter Rot-Grün heftig gebeutelt worden. Im Durchschnitt – daswurde eben schon gesagt – ist ihr Gewinn um 7 Prozentzurückgegangen. 22 700 Betriebe sind Opfer der rot-grü-nen Politik geworden und mussten ihre Höfe aufgeben.
– Ja, meine Damen und Herren, lesen Sie es doch imAgrarbericht nach! – Die Einkommen der Verbliebenenliegen um rund 30 Prozent unter den gewerblichen Ver-gleichslöhnen. Am stärksten hat es die Nebenerwerbs-landwirte mit 18 Prozent und die großen Betriebe mit17 Prozent Einkommensverlust getroffen.Die schwarzen Zahlen, die wir noch in den Vorjahrenhatten, hat die neue Bundesregierung schon im ersten An-lauf in kräftig rote Zahlen umgekehrt. Das hat Folgen fürdie Betriebe, auch für Haupterwerbsbetriebe. DieVerbindlichkeiten haben zugenommen, die Nettoinvesti-tionen sind zurückgegangen. Kurz und knapp heißt das:Die Landwirte waren gezwungen, von der Substanz zu le-ben.In diesem Zusammenhang ist auch, verehrte Frau Kol-legin Höfken, die Frage zu stellen, warum so wenig jungeLeute einen Hof als Nachfolger übernehmen wollen. Dasliegt daran, dass Ihre Politik ihnen die Perspektiven fürdie Zukunft genommen hat, und nicht daran, weil sie sichvor Arbeit drücken wollen.
So weit zur Situation.Nun frage ich Sie – das habe ich weder den Ministernoch andere aus Ihrer Koalition vortragen gehört –: Wieverhält es sich angesichts all dessen mit dem Versprechender Regierungskoalition, das Sie deutlich in schriftlicherForm abgegeben haben, nämlich die Entwicklung einerwettbewerbsfähigen und umweltverträglichen Landwirt-schaft voranbringen zu wollen? Meine Damen und Her-ren, wo sind Ihre Initiativen, wo sind Ihre Aktivitäten, mitdenen Sie dem Gewinneinbruch in der Landwirtschaftund dem beschleunigten Höfesterben entgegentreten wol-len? Sie stellen doch die Regierung. Bei Ihnen sind dieLandwirte nicht nur vom Regen in die Traufe gekommen,sondern, wie ich meine, sie sind zwischen die Mühlsteinegeraten.
– Es ist wohl richtig, Herr Kollege Dreßen, dass es auchfrüher schon geregnet hat, aber bei Ihnen sind sie zwi-schen die Mühlsteine grüner Träumereien, so wie wir sievorhin schon in vielerlei Form beispielhaft zur Kenntnisnehmen durften, und der eiskalten Abkassiererei durch dieSozialdemokraten in verschiedenen Bereichen geraten.
Denn – das will ich Ihnen nachweisen – statt den Land-wirten in einer – von allen anerkannt – schwierigen Si-tuation zur Seite zu stehen, statt ihnen mit klaren Kon-zepten zumindest europäische Wettbewerbsfähigkeit zugarantieren, fallen Sie ihnen zusätzlich in den Rücken.Im vorigen Jahr – ich habe im Protokoll der Debatteüber die Agenda 2000 nachgelesen – haben Sie von derKoalition den Bauern empfohlen, „den Gürtel enger zuschnallen“. Jetzt ziehen Sie den Bauern den Gürtel umzwei weitere Löcher enger. Das sollen die neuen Akzenteund Rahmenbedingungen sein, die Sie den Landwirtenversprochen haben?
So sieht Ihre Politik in der Praxis aus.
Ich zähle Ihnen die entscheidenden Punkte gerne auf:die Kürzung der Vorsteuerpauschale, die Kürzung vonFreibeträgen, die Erfindung der Ökosteuer, die massiveSteuererhöhung beim Agrardiesel, die zusätzlichen Belas-tungen im Steuerrecht. Das alles muten Sie jetzt denLandwirten zu.Die dreisteste und, wie ich finde, ungerechteste Art desZugriffs, die Sie sich in diesem Zusammenhang erlauben,ist der Zugriff auf die landwirtschaftlichen Sozialkas-sen.
Während Sie der gesetzlichen Rentenversicherung massivneues Geld zuführen – Sie haben extra die Ökosteuerdafür erfunden –,
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Helmut Heiderich9826
während Sie die Strukturprobleme der Bergleute durch ei-nen auf 14,2 Milliarden DM erhöhten Bundeszuschussabdecken, kassieren Sie bei der Landwirtschaft die bishe-rigen Strukturfördermittel in großem Umfang wieder ein.
Lassen Sie mich an einem Beispiel deutlich machen,dass die Grenze des Erträglichen erreicht ist. Während Sieauf der einen Seite die eisern angesparten Rücklagen derlandwirtschaftlichen Krankenkassen abkassieren,
geniert sich Ihr Finanzminister nicht – ich habe Ihnen dasCorpus Delicti in voller Größe mitgebracht –, dieses an-gesparte Geld zur Befriedigung seiner Profilneurose imbundesdeutschen Blätterwald auszugeben.
Das ist Ihre Art der gerechten Behandlung der Landwirt-schaft.
Inzwischen sind Sie in Ihrer Argumentation – FrauHöfken ist vorhin auf alle möglichen Nebenbereiche aus-gewichen, nur zum Hauptpunkt hat sie sich nichtgeäußert – schon so hilflos geworden, dass Sie selbst dieErhöhung des Grundfreibetrages der Einkommensteuer,die ja wegen des Existenzminimums notwendig war unddie vom Bundesverfassungsgericht gefordert wird, alsLeistung für die Landwirtschaft verkaufen. Mir stellt sichangesichts dieses Vorgehens die Frage, Frau Höfken:Wann kommt der Zeitpunkt, an dem Sie auch die Er-höhung der Sozialhilferegelsätze als Leistung für dieLandwirtschaft darstellen?
Es bleibt festzustellen: Unter Ihrer Verantwortung istdie früher verhalten positive Entwicklung der Landwirt-schaft in den letzten Jahren deutlich ins Negative umge-schlagen.
Es besteht die große Befürchtung, Frau Kollegin Höfken,dass mit den erheblichen weiteren Belastungen, die Siejetzt vornehmen, eine dauerhafte Talfahrt verursacht wird.Wenn das Höfesterben, das Sie mehrfach angesprochenhaben, unter Ihrer Regierung so weitergeht, dann habenSie nach vier Jahren Regierungszeit 20 Prozent der deut-schen landwirtschaftlichen Existenzen vernichtet.Deshalb ist der Agrarbericht nicht zuletzt ein Signal,die ungerechten und weit überzogenen „Strafaktionen“,die Sie gegen die Landwirtschaft unternehmen, endlich zubeenden.
Sie müssen den Landwirten endlich die gleichen Chancenwie den Berufskollegen in anderen europäischen Ländernverschaffen.
Meine Damen und Herren Agrarexperten der Koali-tion, machen Sie endlich eine Politik für die Landwirteund lassen Sie sich nicht länger als Kassenfüller für HerrnEichel missbrauchen!Schönen Dank.
Nach dem Kollegen
Helmut Heiderich spricht nun der Kollege Holger Ortel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! KollegeHeiderich, ein Wort zum beschleunigten Höfesterben. Siehaben 16 Jahre ganz unrühmlich sehr hoch vorgelegt. Ichhabe mir die Zahlen vom Deutschen Bauernverband ge-ben lassen. Wenn man das zurück- und umrechnet, warenes 41 Betriebe pro Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tageim Jahr, und das 16 Jahre lang, mit einem Gesamtminusvon über 271 000 Betrieben.Wenn Sie Ihre unrühmlich hohen Zahlen für die Er-werbstätigen auch noch hören wollen: 64 Erwerbstätigepro Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr, unddas 16 Jahre lang. Insgesamt haben wir 421 000 wenigererwerbstätig Beschäftigte in der Landwirtschaft.
Das Wirtschaftsjahr 1998/1999 war für viele Land-wirte in Deutschland ein schwieriges Jahr. Der Ministerhat es auch schon erwähnt. Der Preisverfall unter ande-rem auf dem Schweinemarkt ließ die Gewinne teilweisedramatisch einbrechen. Im aktuellen Wirtschaftsjahr1999/2000 zeichnet sich für die Veredelungsbetriebe eindeutlicher Anstieg der Gewinne ab. Die Verluste aus demVorjahr – das muss man auch zugeben – können dadurchvoraussichtlich aber nur zum Teil ausgeglichen werden.
Die Entwicklung vieler Betriebe bleibt auch im Jahr1999/2000 nicht ganz befriedigend. Ich gebe das ja zu.Der Grund dafür liegt auch in den Versäumnissen der Ver-gangenheit. Die Produktions-, Vermarktungs- undVerarbeitungsstrukturen werden vielfach nicht den Anfor-derungen gerecht, die der Wettbewerb im Binnen- undWeltmarkt stellt. Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit
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Helmut Heiderich9827
ist und bleibt deshalb von herausragender Bedeutung.Strukturelle Defizite müssen abgebaut werden.Mit dem Beschluss zur Agenda 2000 wurde ein klaresSignal in Richtung mehr Markt- und Umweltorientierunggegeben und die Förderung der ländlichen Entwicklungwurde aufgewertet. Die Agenda 2000 schafft für die kom-menden Jahre verlässliche Rahmenbedingungen und so-mit auch Planungssicherheit für unsere Landwirte.Die neue Bundesregierung hat wieder Bewegung in dieAgrarpolitik gebracht. Sie hat in ihrer EU-Ratspräsident-schaft mit den Beschlüssen der EU-Staats- und Regie-rungschefs vom März 1999 wesentliche Grundlagen fürdie zukünftige gemeinsame Agrarpolitik geschaffen.Diese Bundesregierung hat in vielen Bereichen neueAkzente gesetzt. Trotz der schwierigen Haushalts-situation wurden die Bundesmittel für die Gemein-schaftsaufgabe der Agrarstruktur und des Küstenschutzesstabil gehalten.
Die Gemeinschaftsaufgabe ist das zentrale Instrument dernationalen Agrarstrukturpolitik. Die Ziele sind klar um-rissen. Die Landwirtschaft und die ländlichen Räume sindzu stärken, die Landwirtschaft ist in ihrem strukturellenWandel zu unterstützen und die Beschäftigung in denländlichen Regionen ist zu sichern.Viele von uns nutzen, sobald es die Zeit erlaubt, jedeGelegenheit, in einer ländlichen Region Erholung vomAlltag zu finden.
Der ländliche Raum hat also einen erheblichen Freizeit-und Erholungswert.
Viele leben und arbeiten jedoch auch in den ländlichenRegionen, die auch in Deutschland nach wie vor wesent-lich durch die Land- und Forstwirtschaft geprägt sind.Die Agrarwirtschaft ist hier ein bedeutender Wirt-schaftsfaktor. Die wirtschaftliche Zukunft der ländlichenRäume ist daher immer noch eng mit der wirtschaftlichenPerspektive der Land- und Forstwirtschaft verknüpft.Land- und forstwirtschaftliche Betriebe tragen zur Stabi-lität und Attraktivität dieser Räume bei und sind damit einwesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen ländlichenEntwicklung. Die Wettbewerbsfähigkeit dieser Betriebemuss deshalb verbessert, neue Wege der betrieblichenEntwicklung müssen unterstützt werden.
Die Agrarpolitik unterstützt und sichert mit ihren Instru-menten die Rolle der Land- und Forstwirtschaft. Agrar-strukturpolitische Fördermaßnahmen sind hier von be-sonderer Bedeutung.Die Umsetzung der Politik für ländliche Räume erfolgtin Deutschland über eine Ergänzung der Gemeinschafts-aufgabe mit Landesprogrammen. Bei mir in Niedersach-sen zum Beispiel heißt dieses Programm „Pro Land“.
Aus diesem Programm saugen die ländlichen Regionen inNiedersachsen bis zum Jahr 2006 ihren Honig.Was leistet die Gemeinschaftsaufgabe? Sie sichertdie Teilhabe aller Regionen an der Agrarstrukturförde-rung, bündelt agrarstrukturpolitische Interessen von Bundund Ländern gegenüber der EU, konzentriert EU-, Bun-des- und Landesmittel zur Verbesserung der Effizienz deröffentlichen Mittelverwendung und setzt die EU-Ge-meinschaftsinitiative für Garantie und Ausrichtung um.Im Haushaltsjahr 1999 betrug der Bundesmittelansatzzur Durchführung der Maßnahmen der Gemeinschafts-aufgabe 1,7 Milliarden DM. Zusammen mit den Landes-mitteln ergab das rund 2,8 Milliarden DM in 1999.
Der Haushalt 2000 sieht ebenfalls Bundesmittel in Höhevon 1,7 Milliarden DM vor. Zusammen mit den Landes-mitteln ergibt sich auch in diesem Jahr wieder eineSumme von rund 2,8 Milliarden DM.Der Planungsausschuss der Gemeinschaftsaufgabe hatfür den Rahmenplan 2000 bis 2003 beschlossen, in derAgrarinvestitionsförderung Neben- und Haupterwerbsbe-triebe gleichzustellen. Die Förderung der benachteiligtenGebiete wird auf besonders ungünstige Standorte undGrünland konzentriert. Bei den Agrarumweltmaßnahmenwerden die Schwerpunkte künftig in den Bereichen derextensiven Grünlandnutzung, der Pflege und Erhaltungeiner vielfältigen Kulturlandschaft sowie der Stärkungdes ökologischen Landbaus liegen.
Der gestiegenen Nachfrage der Verbraucher nach re-gional erzeugten Produkten wollen wir durch die Neuauf-nahme der Förderung der regionalen Verarbeitung undVermarktung Rechnung tragen. Die Gemeinschaftsauf-gabe enthält eine große Palette sowohl einzelbetrieb-licher als auch überbetrieblicher Maßnahmen und trägtden nachhaltigen Entwicklungserfordernissen ländlicherRäume verstärkt Rechnung.
Die einzelbetriebliche Investitionsförderung ist einwichtiges Instrument zur Erhaltung der Wettbewerbskraftder deutschen Landwirtschaft. Laut Gemeinschaftsauf-gabe sind Haupt- und Nebenerwerbslandwirte künftig so-wohl in der Investitions- als auch in der Junglandwirte-förderung gleichzustellen. In der Milchkuhhaltung entfal-len die bisher bei Bestandsaufstockungen geltendenObergrenzen. Der bisherige Ausschluss der Förderungvon Kapazitätsaufstockungen in der Schweinehaltungwird aufgehoben.Eine weitere wichtige einzelbetriebliche Maßnahmestellt die Förderung von Gebieten dar, die aufgrund ihrer
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Holger Ortel9828
natürlichen und wirtschaftlichen Standortbedingungen be-nachteiligt sind. Da diese Gebiete ökonomisch betrachtetmit den günstigen Lagen Europas nicht konkurrenzfähigsind, bleibt die Verbesserung der Einkommenssituationder Landwirte eine der größten Herausforderungen, um dietraditionelle Bewirtschaftung dieser Gebiete zu sichern.Deshalb soll mit der Gewährung der Ausgleichszulage er-reicht werden, dass die Bewirtschaftungsstrukturen in denwirklich benachteiligten Gebieten gesichert werden.
Der Präsident hat schon die Zeit angemahnt. Darumlassen Sie mich ganz kurz zum letzten Thema kommen,zum Küstenschutz. Der Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten und ich haben in unseren be-nachbarten Wahlkreisen zusammen über 150 KilometerSeedeiche. Dies unterstreicht sicherlich, dass auch dasThema Küstenschutz bei uns bzw. bei dieser Regierung inden richtigen Händen liegt. Auch in Zukunft werden sichdie Menschen an der Küste auf diese Bundesregierungverlassen können.
Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun der Kollege Albert Deß.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Herr Kollege Ortel, Sie habenvom Strukturwandel gesprochen und haben uns Vor-würfe im Hinblick auf den Strukturwandel während derCDU/CSU-Regierung gemacht. Dazu kann ich Ihnen ge-naue Zahlen nennen: Im gemittelten Durchschnitt betrugder Strukturwandel in diesen 16 Jahren pro Jahr 2,41 Pro-zent. In den 13 Jahren, in denen Ihre Partei die Regie-rungsverantwortung hatte, betrug der durchschnittlicheStrukturwandel 4,6 Prozent, also fast das Doppelte. Siesollten diese Zahlen also sehr vorsichtig verwenden.
Im Übrigen war das letzte Jahr unserer Regierungszeit,in dem wir zumindest bis zum Herbst regiert haben, dasJahr 1998 also, eines der Jahre mit dem geringsten Struk-turwandel der letzten Jahrzehnte. Er betrug in dem Jahr1,7 Prozent. Deshalb kann man hier nicht davon sprechen,dass die damalige Bundesregierung die Bauern von ihrenHöfen vertrieben hätte.Lieber Bundesminister Funke, Sie haben einige Punkteangesprochen, zu denen ich kurz Stellung nehmenmöchte. Sie sagten – da gebe ich Ihnen Recht –, dass derStaat nicht auf Dauer die landwirtschaftlichen Einkom-men sichern kann. Aber der Staat darf die deutschen Bau-ern auch nicht in einem Ausmaß belasten, das über die Be-lastung aller anderen Berufsgruppen hinausgeht. Dasführt dazu, dass unsere Bauern Einkommen verlieren,wofür die jetzige Bundesregierung die Verantwortungträgt.Sie haben weiter festgestellt, wenn die Märkte nicht inOrdnung seien, könne dies der Staat nicht regeln. Sie wis-sen, dass ich Ihnen vorwerfe, dass bei der Agenda 2000genau dieser Ansatz nicht genutzt worden ist, nämlich dieMärkte in Europa besser zu ordnen. Aus Zeitgründen kannich das jetzt nicht näher erklären; aber es wäre gut gewe-sen, wenn man in diesem Zusammenhang mehr auf eineMengenbegrenzung als auf eine Mengenausweitung ge-setzt hätte.Sie haben ferner angesprochen, dass sich die Bauern inder Absatzkette für eine stärkere Kooperation ausspre-chen sollten. Leider kann ich meine bayerischen Bauerndavon, dass sie sich in große Kooperationen, zum Beispielim Rahmen der Milchwirtschaft, einbringen, kaum über-zeugen, wenn ich feststellen muss, dass die Bauern inNorddeutschland, wo eine riesige Milchkooperation exis-tiert, pro Liter Milch bis zu 5 Pfennig weniger erhalten,als dies bei kleinen bayerischen Molkereien der Fall ist.Das bedeutet, dass ein 400 000-Liter-Milchviehbetrieb imNorden pro Jahr 20 000 DM weniger für seine Milch er-hält als der, der an eine kleine bayerische oder rheinland-pfälzische Molkerei angeschlossen ist. Deshalb sind dieBauern hier auch so skeptisch.
Hierzu möchte ich ganz deutlich sagen – das gilt für dieWirtschaft ebenso wie für die Landwirtschaft –: Größeallein löst die Einkommensprobleme nicht.Nun zum Agrarbericht. Die Zahlen im Agrarberichtzeigen, dass dieser – abgesehen von Bayern, wo wir einPlus von 4,1 Prozent haben, von Brandenburg, wo es zueinem Plus von 0,3 Prozent kommt, und von den Futter-baubetrieben, die ein Plus von 12,6 Prozent zu verzeich-nen haben – eine Auflistung roter Zahlen ist. Beim Pro-duktionswert kommt es zu einem Minus von 3,6 Prozent,bei der Nettowertschöpfung zu einem Minus von 7,7 Pro-zent, beim Einkommen der Haupterwerbsbetriebe zu ei-nem Minus von 7,3 Prozent, bei der Nettowertschöpfungje Arbeitskraft zu einem Minus von 5,3 Prozent, bei denVeredelungsbetrieben zu einem Minus von 83,5 Prozent,in Niedersachsen zu einem Minus von 16,8 Prozent undin Nordrhein-Westfalen zu einem Minus von 29,3 Pro-zent. In D-Mark ausgedrückt kommt es im Wirtschafts-jahr 1998/99 im Vergleich zum Wirtschaftsjahr 1996/97bei der Nettowertschöpfung zu einem Minus von 3,6 Mil-liarden DM.
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Holger Ortel9829
Für diese Minuszahlen mache ich die rot-grüne Bun-desregierung nicht allein verantwortlich.
Aber wofür ich die rot-grüne Bundesregierung verant-wortlich mache, sind die Konsequenzen, die sie aus die-sen Zahlen zieht. Die Antwort, die Rot-Grün auf dieseEntwicklung gibt, ist verkehrt. Sie belastet nämlich diedeutsche Landwirtschaft weiter und benachteiligt sie ein-seitig. Das ist die falsche Antwort auf die Zahlen, die dervorliegende Agrarbericht ausweist.
Mitte Januar dieses Jahres ist ein SPD-internes Papierausgearbeitet worden. Dort ist berechnet worden, dass diedeutsche Landwirtschaft durch die Auswirkungen der rot-grünen Agrarpolitik im Zieljahr 2003 mit einer Belastungvon 3Milliarden DM rechnen muss. Das sind nicht unsereZahlen; das sind Ihre Zahlen, Herr Minister, die hier be-rechnet worden sind und die unsere Landwirtschaft enormbenachteiligen. Ich habe manchmal den Eindruck, dassRot-Grün nicht nur ein kernenergiefreies Deutschland in30 Jahren will, sondern, wenn diese Politik so weiter be-trieben wird, noch viel früher ein bauernfreies Deutsch-land schafft.
– Lieber Matthias Weisheit, ich wäre da mit Kritik sehrvorsichtig. Ich habe hier eine Aussage eines bayerischenSPD-Kollegen vorliegen, der in einem Brief an denBundesfinanzminister geschrieben hat – ich zitiere ausdem BBV-Pressedienst vom 16. März –:Die derzeitige Agrarsozialpolitik ist politisch nichtmehr vertretbar.
Etwas später schreibt er:Es kann auch nicht unseren Vorstellungen undForderungen von sozialer Gerechtigkeit entsprechen,dass gerade die Einkommensschwächeren mit derartmassiven Beitragserhöhungen belastet werden.
Weiter schreibt er, die soziale Absicherung dürfe nicht derGrund für ein weiteres rasantes Bauernsterben und fürlandwirtschaftliche Existenzverluste sein. – Das sind sehrdeutliche Aussagen eines SPD-Kollegen.Er schließt damit, dass dies eine sehr gefährliche Ent-wicklung sei, und schreibt: „Wir sollten dieses Vertrauennicht weiter aufs Spiel setzen“.
Bezüglich des letzten Satzes hat er nicht Recht, denn Rot-Grün hat bereits das ganze Vertrauen verspielt. Hier kannnichts mehr aufs Spiel gesetzt werden.
– Dann müsste er aber nach Bonn gehen; denn bei denBayern hat er, da er ein SPD-Kollege ist, keine Chance,Landwirtschaftsminister zu werden. Das wird er in nächs-ter Zeit nicht erleben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Brief isttrotzdem unvollständig, weil dieser Kollege aus demBayerischen Landtag nur auf die Kürzungen im Agrarso-zialbereich hinweist. Er hätte auch all die steuerlichenMaßnahmen ansprechen müssen, die sich auch auf diesenBereich gewaltig auswirken.
Ich bin der Meinung, Rot-Grün schreibt unsere Bauernab. Rot-Grün verlängert in den AfA-Tabellen die Ab-schreibungszeiten für landwirtschaftliche Maschinen undBetriebsgebäude und verkürzt die Abschreibungszeit fürunsere Bauernhöfe. Das passt nicht zusammen, HerrBundesminister. Oder doch? Aus Sicht des Finanzminis-ters steckt durchaus System dahinter: Zuerst wird die Be-triebsaufgabe erzwungen, dann wird bei der Betriebsauf-gabe steuerlich abkassiert. Das genau ist das rot-grüneAgrarmodell.Ich muss fragen, Herr Bundeslandwirtschaftsminister:Wo bleibt da Ihr Aufschrei? Wir von der CDU/CSU wür-den Ihnen gerne Rückdeckung geben, wenn wir feststel-len könnten, dass Sie für unsere Bauern kämpfen. Aberdas stellen wir leider nicht fest. Das können wir nirgendsheraushören und herauslesen. Es kann nicht Aufgabe ei-nes Bundeslandwirtschaftsministers sein, draußen bei denBauern die rot-grüne Agrarpolitik zu beschönigen. Sokann man keine Agrarpolitik für die Zukunft unserer Bau-ern gestalten. Wir von der CDU/CSU-Fraktion werdennicht zulassen, dass die Interessen unserer Bauern vondieser rot-grünen Bundesregierung massivst vernachläs-sigt werden.
Außerdem, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol-legen von Rot-Grün, verstößt diese Agrarpolitik gegenIhren eigenen Koalitionsvertrag. In einem SPD-internenPapier heißt es:Im Hinblick auf die Entwicklung ländlicher Räumewürde eine Verschärfung des landwirtschaftlichenStrukturwandels im Widerspruch zu den Zielen der
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Albert Deß9830
Koalitionsvereinbarung für den ländlichen Raumund die Umwelt stehen.Auch das ist eine ganz klare Aussage, dass die rot-grüneAgrarpolitik nicht zu verantworten ist.
Ich möchte noch eines deutlich anmerken: Wer glaubt,dass durch eine verschärfte Strukturentwicklung – dasrichtet sich nicht nur an Rot-Grün, es gibt ähnliche Ver-treter auch in anderen Parteien – die Pro-blematik derlandwirtschaftlichen Einkommens-verhältnisse gelöstwerden kann, der wird sich gewaltig täuschen. Wenn demnämlich so wäre, dann dürfte es ja in den Vereinigten Staa-ten von Amerika keine Probleme geben. In Europa beträgtdie durchschnittliche Betriebsgröße 17,5 Hektar. DieAmerikaner haben zehnmal so viel, nämlich 175 Hektar.Trotzdem hat die amerikanische Landwirtschaft gewal-tige Einkommensprobleme.Wer die Agrarstatistik von 1999 liest, der kann sehr in-teressante Erkenntnisse daraus gewinnen, nämlich, dassim vergangenen Jahr von den amerikanischen Großbe-trieben – das sind die Betriebe mit einer durch-schnittlichen Größe von 610 Hektar – 9 220 das Handtuchgeworfen haben. Nach Aussage des amerikanischenLandwirtschaftsministers wurden sie meist – in An-führungszeichen – wegen Reichtum geschlossen. Diemittleren Betriebe mit 180 Hektar Durchschnittsgrößehaben immerhin 3 760 Betriebsaufgaben zu verzeichnen.Zugenommen hat nur die Zahl der Kleinbetriebe mit45 Hektar Durchschnittsgröße, nämlich um 15 690 Be-triebe. Bei uns macht man eine Agrarpolitik, durch diediese Landwirtschaft, die Strukturen hat, die wir alle wün-schen, kaputtgemacht wird. Es kann nicht Ziel einer deut-schen Agrarpolitik sein, dass wir in Deutschland eineagrarindustrielle Produktion bekommen. Dies liegt auchnicht im Interesse der Verbraucher.Ich bitte Sie deshalb, dem Antrag der CDU/CSU zuzu-stimmen. Dieser Antrag zeigt auf, was in der Agrarpolitikzu tun ist, damit die Benachteiligung unserer Bäuerinnenund Bauern beendet wird und der bäuerlichen Jugend wie-der eine Perspektive für die Zukunft gegeben wird.
Herr Kol-
lege Deß, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin beim letzten Satz,
Herr Präsident. – Ich möchte etwas Optimistisches ver-
breiten; ich bin nämlich als Agrarpolitiker auch optimis-
tisch.
Ich bin nämlich der Meinung: Es wird in Deutschland län-
ger Bauern geben, als es diese rot-grüne Bundesregierung
gibt.
Ich
möchte noch nachtragen, dass der Redner, der vor Kolle-
gen Deß gesprochen hat, Holger Ortel, seine erste Rede
im Deutschen Bundestag gehalten hat und ich möchte ihn
dazu herzlich beglückwünschen.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
gebe ich dem Kollegen Matthias Weisheit von der SPD
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Als Letzter in einer solchenRunde steht man in der Regel vor einem Problem:
dass man etwas vorbereitet hat,
dass es aber in der Tat notwendig ist, auf einige Beiträgeeinzugehen. Ich will das jetzt anhand meines Notizzettelsversuchen.Eigentlich müssten wir Agrarpolitiker den heutigenTag der Agrardebatte rot im Kalender anstreichen:
Dass diese Debatte zu einer solchen Tageszeit geführtwerden kann, das haben wir lange nicht erlebt.
Meistens waren wir um Mitternacht oder kurz vor Mitter-nacht an der Reihe. Das wir heute so früh dran sind, ist in-sofern schon ein erfreuliches Ereignis.
– Natürlich, Peter Harry, daran seid ihr schuld, dass es ge-regnet hat, weil es den Bauern gut tut, und die Hitze vor-her haben wir zu verantworten.
Aber lassen wir jetzt diesen Blödsinn bleiben.Bei einer solch frühen Debattenzeit hätten wir natür-lich auch die Chance, die vielen Menschen, die am Fern-seher jetzt zuschauen, darauf aufmerksam zu machen,welche Leistungen die Landwirtschaft für sie erbringt undwas sie tun könnten, um der Landwirtschaft zu helfen, da-mit die Initiativen, die jetzt laufen, in vernünftige Bahnengelenkt werden können. Leider ist dem nur ein Kollegevon der Opposition in einem Teil seiner Rede nachge-kommen. Jella Teuchner hat sehr viel über den Verbrau-cherschutz geredet; das geht an die Adresse der Verbrau-cher und der Menschen draußen. Aber leider nur der Kol-lege Heiderich hat auf das hingewiesen, was ich ebenangesprochen habe. Alle anderen Reden der Opposition
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waren wieder nur dazu angetan, Aggressionen gegen dieLandwirtschaft bei der restlichen Bevölkerung zuwecken,
weil nichts anderes getan wurde, als zu jammern und zusagen: Es geht uns schlecht; wir brauchen mehr Kohle. –So kommt es rüber und das ist genau das Gegenteil des-sen, was wir hier in diesem Hause machen sollten, wennwir der Landwirtschaft nützen wollen.
Auf einen weiteren Punkt muss man eingehen. Hierwird beklagt, dass Höfe zugrunde gehen.
Ich habe kein Problem damit, dass ein Strukturwandelstattfindet. Er hat immer stattgefunden. Das darf mannicht der einen oder der anderen Regierung zuschieben.
– Moment. Strukturwandel ist notwendig. Ich behauptesogar: In den letzten Jahren hat zu wenig Strukturwandelin Teilen dieser Republik stattgefunden.
Das wird jetzt nachgeholt.
– Natürlich! Wer will eigentlich einem Bauern mit30 Hektar und 15 Kühen klarmachen, dass das noch eineExistenzgrundlage für ein vernünftiges Einkommen ist?Er macht das seinen Kindern bestimmt erst recht nichtklar, was für eine Existenzgrundlage das ist. In demMoment, wo er Schluss macht, sagen die Kinder „Vater,das war’s dann, ich möchte den Hof nicht haben!“, weilsie nämlich woanders, in der Industrie oder im Gewerbe,mehr Geld verdienen können und mehr Freizeit haben.
Herr Kol-
lege Weisheit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Straubinger?
Ja.
Bitte
schön.
Herr Kollege
Weisheit, führen Sie die neue Agrarpolitik der rot-grünen
Bundesregierung etwa auf die Auffassung zurück, dass es
in der Landwirtschaft zu wenig Strukturwandel gab?
Ich stelle hier fest: Dieletzten Jahre hat zu wenig Strukturwandel stattgefunden.
Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Milchquotefestgezurrt war und man damit ein Geschäft machenkonnte. Die Neuregelung macht mit dieser Situationaber Schluss. Damit ist klar, dass nach 2006 mit derMilchquote kein Geschäft mehr zu machen ist. Das führtdazu, dass ein großer Teil der Bauern vor dem Stichtag derneuen Regelung ihre Milchquote verkauft haben, langfris-tig verpachten und ihren Landwirtschaftsbetrieb früheraufgeben als vorgesehen. Das ist eine durchaus vernünf-tige Entwicklung.
Kommen wir zu dem, was im Zusammenhang mit demAgrardiesel angesprochen worden ist. Führen wir uns dieTatsachen noch einmal vor Augen: Wir haben im Agrar-bereich einen Haushalt übernommen, der ausgemolkenwar bis zum Letzten.
– Ja, natürlich, er ist in den letzten Jahren Ihrer Regierungständig massiv zurückgefahren worden, übrigens als ein-ziger Haushalt.
Das wissen Sie ganz genau. Hinzu kommt diese abenteu-erliche Verschuldung, die uns zwingt, jede vierte Steuer-mark für Zinsen abzudrücken.
Jede vierte Steuermark geht für Zinsen drauf und das ha-ben Sie zu verantworten.
spruch bei der CDU/CSU)Dass die Haushaltskonsolidierung an erster Stelle stand,das ist doch nicht wegzudiskutieren. Deshalb musste auchdie Landwirtschaft ihren Teil dazu beitragen.
– Lieber Heinrich-Wilhelm, jetzt beruhige dich wieder!Die Kürzungen im Agrarhaushalt haben dazu geführt,dass wir die Gasölverbilligung alter Form zurückführenmussten.
– Wir mussten sie zurückführen, sonst hätten wir woan-ders kürzen müssen.
– Natürlich, auch die Agrarpolitiker mussten ihren Anteilleisten. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
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– Ach, schwätz doch nicht so ein Blech!
Das musste also gemacht werden.Um die Belastungen nicht zu hoch werden zu lassen,musste deshalb eine Möglichkeit gefunden werden, dieLandwirtschaft im Treibstoffbereich zu entlasten.
– Moment! Jetzt komme ich zu den Modellen.Es bestehen durchaus Unterschiede zu vorher: Es gibtjetzt einen festen Steuersatz für Agrardiesel – das war vor-her nicht der Fall – und diese Position taucht auch nichtmehr im Agrarhaushalt auf. Auch mein Freund OswaldMetzger, den ich da hinten sitzen sehe, kann jetzt nichtmehr sagen – die Haushälter der Opposition haben dasfrüher genauso gemacht –: An diesem Punkt möchte icheuren Haushalt abbauen.Insofern hat sich qualitativ durchaus etwas verändert.Dass wir, Uli Heinrich, uns nicht auf einen rot, grünoder wie auch immer eingefärbten Agrardiesel haben ver-ständigen können, das bedauere ich ganz massiv – und derMinister auch.
Wir wollten ihn ja haben, aber etwas gegen den massivenWillen des Deutschen Bauernverbandes –
– wir haben gestern mit denen geredet –
Herr Kol-
lege Weisheit, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Hornung?
– ja, gleich, wenn ich den
Gedanken zu Ende gebracht habe – und gegen den massi-
ven Willen der Mineralölindustrie durchsetzen zu wollen,
führt nur zu einem blutigen Kopf. Wir tun das nicht, nur
um euch einen Gefallen zu tun. Nein, das kann nicht sein.
Wir machen das jetzt, wie die es wollen, und das ist eine
gute Geschichte.
Erlauben
Sie jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Hornung?
Jetzt, Siegfried, bitte
schön.
Herr Kol-
lege Hornung, bitte schön.
Herr Kollege
Weisheit, dem Herrn Minister ist es vorhin nicht gelun-
gen, darzulegen, wie die Verbilligung und Verbesserung
beim Gasöl stattfinden soll. Jetzt erklären Sie wiederum,
dass es Verbesserungen geben soll. Ich will einmal die alte
Art, die teilweise Erstattung von Steuern, beiseite lassen
und es auf den neuen Terminus bringen. Damals betrug
die Belastung mit Steuern 27 Pfennig pro Liter Diesel.
Nun geht sie über Stufen auf 57 Pfennig Steuerbelastung
pro Liter. Wer kann mir erklären, dass 57 Pfennig Steuern
besser sind als 27?
Das hätte ich gern gewusst.
Herr Kollege Hornung, ichhabe die Geschichte vorhin von Anfang an aufgedröselt.Wir haben die Gasölbeihilfe gekürzt. Für einen großenTeil der Betriebe wären mit dem Deckel bei der Gasöl-beihilfe bei 3 000 DM nicht einmal mehr 10 Pfennig her-ausgekommen.
Diesen Punkt haben wir verändert. Durch den Agrardieselwerden alle Betriebe gleichbehandelt und die wachstums-willigen und größeren Betriebe erhalten ihre Verbilligung.
Der Kollege Ronsöhr hat behauptet, wir hätten IhreAnregungen zur Reform der agrarsozialen Sicherungleichtfertig vom Tisch gewischt. Ich habe den Antrag ge-sehen, er beinhaltet vier Forderungen. Die sind längst inArbeit. Wir haben dazu aufgefordert – ich habe mich beider Kollegin Wolf, die das Thema fachlich für uns bear-beitet, danach erkundigt; sie steht in Kontakt mit demKollegen Hornung –, diese Geschichte weiter zu betrei-ben.Ich komme jetzt auf den Agrardiesel und die 375 Mil-lionen DM zurück, die wir für die Gasölverbilligung inden Haushalt eingestellt haben. In dem Moment, in demwir den Agrardiesel bekommen, wird der Betrag frei undkann gezielt in die agrarsoziale Sicherung und in die Ge-meinschaftsaufgabe gesteckt werden. Hier gibt es einenechten Zugewinn.
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Eines muss aber klar sein: Bei dieser Reform deragrarsozialen Sicherung kann es nicht angehen, dass allesso bleibt, wie es ist, und nur mehr staatliche Knete gezahltwird. Ich will es noch einmal verdeutlichen: Wir bezahlenfür die Unfallversicherung 500 Millionen DM. Es kannnicht sein, dass man immer mehr obendrauf packt undnichts an der Struktur ändert.Ich bin sehr gern bereit, darüber zu reden, dass wir dieso genannte alte Last an Unfallrenten – Stichtag: heuteoder dann, wenn das Gesetz in Kraft tritt – aus Staatsmit-teln übernehmen – die Zahl ist berechenbar –, aber alles,was neu hinzukommt, muss sich ohne jeglichen Zuschussseitens der öffentlichen Hand selber tragen. Darüberkönnten wir uns durchaus verständigen, weil damit derZuschuss auf längere Sicht gesehen – zunächst würde ersteigen – abnimmt. Über ein solches Modell können wirgern im Ausschuss reden. Das ist ein hochinteressanterund zukunftsorientierter Vorschlag zur Zusammenarbeit,den ich Ihnen hier unterbreite.Jetzt ist meine Redezeit bereits so weit abgelaufen,dass ich zu dem Kollegen Heinrich außer einem nichtmehr viel sagen kann:
Hinsichtlich der Osterweiterung und der WTO hat er alldas bestätigt, was wir hier machen und was der Ministergesagt hat.
– Natürlich hat er bzw. sein Staatssekretär etwas dazu ge-sagt.
– Ja, hier und jetzt hat er nichts dazu gesagt, aber in derÖffentlichkeit, und man kann – das wissen Sie selber unddas erlebe auch ich gerade – nicht alle Themen in so kur-zer Zeit abhandeln.
Herr Kol-
lege Weisheit, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Bundesregierung ist
auf einem guten Weg. Das zeigt der Agrarbericht. Wir
werden diesen Weg unbeirrt weitergehen.
Danke schön.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Albert Deß das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Matthias Weisheit hat einmal wie-
der das Märchen erzählt, dass die Kürzungen im
Agrarhaushalt deshalb notwendig seien, weil wir einen
Haushalt hinterlassen hätten, der diese Kürzungen erfor-
dere. Nun möchte ich die entsprechenden Zahlen einmal
vortragen. Sie müssen in der Öffentlichkeit einmal ge-
nannt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch
wenn es Ihnen nicht passt:
Der Ausgabenanteil des Bundeshaushaltes am Brut-
toinlandsprodukt betrug 1970, als Sie damals kurz an der
Regierung waren, 13 Prozent. Er stieg bis Ende des Jah-
res 1982 auf 15,4 Prozent, ohne dass eine Wiedervereini-
gung zu verkraften war. 1989 lag er wieder bei 13 Prozent.
1993 stieg er durch die Wiedervereinigung bedingt auf
14,5 Prozent. Theo Waigel hat seinen Haushalt mit einem
Anteil von 12 Prozent am Bruttoinlandsprodukt abgege-
ben.
Das Gleiche gilt für die Staatsquote: 1970 betrug die
Staatsquote in unserem Land 39,1 Prozent, am Ende Ihrer
Regierungszeit damals 50,1 Prozent. 1989 waren wir bei
45,8 Prozent, 1993 bei 50,6 Prozent und wir haben den
Haushalt mit einer Staatsquote in Höhe von 48 Prozent
übergeben. Ihr habt es im ersten Jahr eurer Regierungszeit
geschafft, dass die Staatsquote bereits wieder auf 49 Pro-
zent gestiegen ist.
Deshalb sind diese Vorwürfe unbegründet.
Ich möchte auch noch etwas zu den Leistungen der
Landwirtschaft anmerken. Mir ist es aufgrund der be-
grenzten Redezeit nicht möglich gewesen, dies vorhin in
meiner Rede zu erwähnen:
Die deutsche Landwirtschaft hat mit den größten Beitrag
zur Wohlstandssteigerung in unserem Land geleistet.
1960 musste – ich kürze das jetzt ab – ein Industriearbei-
ter für sechs verschiedene Agrarprodukte – immer pro
Kilo gerechnet – 8,31 Stunden arbeiten, damit er diese
kaufen konnte. 1980 waren es noch 3,27 Stunden und
1999 musste er weniger als zwei Stunden für das arbeiten,
wofür er früher acht Stunden arbeiten musste.
Das heißt, die deutsche Landwirtschaft hat mit den größ-
ten Beitrag zur Wohlstandssteigerung in unserem Land
geleistet.
Herr Kol-lege Deß, Sie wissen, dass die Kurzintervention nicht derVerlängerung der Redezeit dient,
sondern dass Sie auf die Argumente des Vorredners ein-gehen sollen.
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Matthias Weisheit9834
Herr Kollege Weisheit, Sie haben jetzt die Chance, zuerwidern.
Herr Kollege Deß, zu den
Prozentzahlen, die Sie als Beweis für den hervorragenden
Haushalt des Kollegen Waigel vorgetragen haben, sage
ich bloß noch einmal eines: Es ist richtig, dass sich die
Schulden auf 1,5 Billionen DM beliefen – die Zahl steht –
und dass jede vierte Steuermark für Zinszahlungen abge-
drückt werden muss.
Das sind Tatsachen. Daran, dass es Konsolidierungsbe-
darf gab, gibt es überhaupt nichts zu deuteln.
Zu Ihrer zweiten Ausführung: Ich bin Ihnen sehr dank-
bar dafür, dass Sie angesprochen haben, was die deut-
schen Bauern leisten. Der Kollege Heiderich ist auch
schon darauf eingegangen. Ich halte es allerdings für fa-
tal, dass wir hier sagen, wie toll es ist, dass die deutschen
Bauern dafür sorgen, dass die Verbraucher weniger be-
zahlen müssen. Umgekehrt muss es sein. Es besteht das
Problem, dass der deutsche Verbraucher eigentlich nur
noch Ramschpreise für Ware von sehr guter Qualität
bezahlt, die mit dem Wert des Produktes im Sinne des
Wortes „preiswert“ überhaupt nichts zu tun haben.
Wenn wir endlich wieder dahin kämen, dass der Ver-
braucher anständige Preise für Lebensmittel bezahlt, dann
wäre manche Debatte über irgendwelche Subventionen
völlig überflüssig und man könnte sich anderen Dingen
zuwenden.
Man soll also hier nicht herausheben, wie gut es ist,
dass die Bauern den Mallorca-Urlaub durch ihre niedri-
gen Preise finanzieren, sondern eher darauf drängen, dass
dieser Trend umgekehrt wird, weil das, was bisher läuft,
falsch ist.
Ichschließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstim-mungen und Überweisungen, zunächst zum Tagesord-nungspunkt 4 a.Interfraktionell wird Überweisung des Agrarberichts2000 auf Drucksache 14/2672 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Entschließungsanträge auf Drucksachen 14/3391und 14/3380 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesenwerden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Nun zum Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zu derBeschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten zu dem Agrarbericht 1999 derBundesregierung, Drucksache 14/2198. Der Ausschussempfiehlt unter Nummer 1 seiner Beschlussempfehlung,den Agrarbericht 1999 auf Drucksachen 14/347 und14/348 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung einstim-mig angenommen.Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung desAusschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forstenzu vier Entschließungsanträgen zum Agrarbericht 1999auf Drucksache 14/2198 ab.Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 2 seiner Be-schlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Frak-tion der CDU/CSU zum Agrarbericht 1999 auf Drucksa-che 14/1155 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlus-sempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derFraktion der CDU/CSU und Enthaltungen der Fraktionender F.D.P. und der PDS angenommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 3 seiner Be-schlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Frak-tion der PDS zum Agrarbericht 1999 auf Drucksa-che 14/1156 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen derCDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS an-genommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 4 seiner Be-schlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Frak-tion der F.D.P. zum Agrarbericht 1999 auf Drucksa-che 14/1157 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen dieStimmen der F.D.P. und einiger CDU/CSU-Abgeordneterbei Enthaltung der übrigen Abgeordneten der CDU/CSUangenommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 5 seiner Be-schlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Frak-tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum Agrar-bericht 1999 auf Drucksache 14/1158 unverändert anzu-nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieBeschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen an-genommen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten zum Agrarbericht 1998 derBundesregierung, auf Drucksache 14/2198. Der Aus-schuss empfiehlt unter Nummer 6 seiner Beschlussemp-fehlung, den Agrarbericht 1998 auf Drucksachen 13/9823und 13/9824 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmigangenommen.Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Überweisungenim vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Bevor ich die-sen Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich bekanntgeben, dass die Fraktion der CDU/CSU mitgeteilt hat,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms9835
dass sie auf die Durchführung der von ihr beantragtenAktuellen Stunde zu dem Thema „Haltung der Bundesre-gierung zu Äußerungen von BundesfinanzministerEichel, die Rentenreform zu verschieben“ verzichtet; siesollte heute im Anschluss an die Ohne-Debatte-Punkteaufgerufen werden. Ich weise vorab darauf hin, damit Siesich darauf einstellen können. Wenn wir das etwas frühererfahren hätten – erlauben Sie mir den Hinweis –, hätteman eine Aktuelle Stunde zu einem anderen Thema an-setzen können.
– Möglicherweise hätte es ein solches Verlangen gegeben,dem man dann hätte entsprechen können. Übrigens, auchSie von der SPD hätten dann natürlich eine AktuelleStunde beantragen können.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 h und 6sowie die Zusatzpunkte 1 a bis 1 d auf:20 Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zurÄnderung des Aufenthaltsgesetzes/EWG– Drucksache 14/3274 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll vom 14. Dezember 1998 zur Änderungdes am 3. Dezember 1980 in Bonn unterzeich-neten Abkommens zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und den Vereinigten Staatenvon Amerika zur Vermeidung der Doppelbe-steuerung auf dem Gebiet der Nachlass-, Erb-schaft- und Schenkungsteuern– Drucksache 14/3248 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussc) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desPersonenbeförderungsgesetzes
– Drucksache 14/2995 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesend) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schorn-steinfegergesetzes und anderer schornsteinfe-gerrechtlicher Vorschriften– Drucksache 14/3333 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zunge) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung desRindfleischetikettierungsgesetzes– Drucksache 14/3369 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionf) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung produkthaf-tungsrechtlicher Vorschriften– Drucksache 14/3371 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für. Wirtschaft und TechnologieAusschuss für. Ernährung, Landwirtschaft und Forsteng) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Dr. Ruth Fuchs, Petra Bläss,Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDSVerbot derWerbung für den Tabakkonsum– Drucksache 14/3318 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionh) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung hier: Monitoring„Xenotransplantation“– Drucksache 14/3144 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
RechtsausschussAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung6 Erste Beratung des von den Abgeordneten NorbertGeis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiterenAbgeordneten und der Fraktion der CDU/CSUeingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Än-derung des Gesetzes zur Entlastung derRechtspflege und des Jugendgerichtsgesetzes– Drucksache 14/2992 –Überweisungsvorschlag:RechtsausschussZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten AlfredHartenbach, Joachim Stüncker, HermannBachmaier, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
, Christian Ströbele, Irmingard
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms9836
Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlänge-rung der Besetzungsreduktion bei Strafkam-mern– Drucksache 14/3370 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
– Drucksache 14/3267 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussc) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Karlheinz Guttmacher, Horst Friedrich, Hans-Michael Goldmann, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Änderung des Altschulden-hilfe-Gesetzes– Drucksache 14/3209 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineLeutheusser-Schnarrenberger, Dr. HelmutHaussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P.Für eine China-Resolution der VN-Menschenrechtskommission– Drucksache 14/2915 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache14/3369 – Tagesordnungspunkt 20 e – soll zusätzlich anden Ausschuss für Wirtschaft und Technologie überwie-sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 21 a bis21m und 13 sowie zum Zusatzpunkt 2. Es handelt sich umdie Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 21 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zuder Vierten Änderung des Übereinkommensüber den Internationalen Währungsfonds
– Drucksache 14/3075 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/3346 –Berichterstattung:Abgeordnete Jörg-Otto SpillerLeo DautzenbergDer Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa-che 14/3346, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derCDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der Fraktion derPDS angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.Tagesordnungspunkt 21 b:b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 19.Dezember 1996 über den Beitritt des König-reichs Dänemark, der Republik Finnland unddes Königreichs Schweden zum SchengenerDurchführungsübereinkommen und zu demÜbereinkommen vom 18. Mai 1999 über die As-soziierung der Republik Island und des Köni-greichs Norwegen– Drucksache 14/3247 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/3389 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Peter KemperDr.Hans-Peter UhlCem ÖzdemirDr. Max StadlerUlla JelpkeDer Innenausschuss empfiehlt auf Drucksa-che 14/3389, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. beiEnthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 c – Änderung des Futtermit-telgesetzes – wird zurückgestellt.Tagesordnungspunkte 21 d und 21 e:
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d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wahl-prüfung, Immunität und Geschäftsordnung
zu dem Überprüfungsverfahren
des Abgeordneten Dr. Klaus Grehn gemäß § 44b Abs. 2 des Abgeordnetengesetzes
– Drucksache 14/3145 –e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Wahl-prüfung, Immunität und Geschäftsordnung
zu dem Überprüfungsverfahren
nach § 44 b des Abgeordnetengesetzes
– Drucksache 14/3228 –Kann ich davon ausgehen, dass Sie die Berichte desAusschusses zur Kenntnis genommen haben? – Das istder Fall.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 21 f bis 21m, zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschus-ses.Tagesordnungspunkt 21 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 153 zu Petitionen– Drucksache 14/3301 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 153 ist einstimmig angenom-men.Tagesordnungspunkt 21 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 154 zu Petitionen– Drucksache 14/3302 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? –Sammelübersicht 154 ist einstimmig angenom-men.Tagesordnungspunkt 21 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 155 zu Petitionen– Drucksache 14/3303 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Tagesordnungspunkt 21 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 156 zu Petitionen– Drucksache 14/3304 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 156 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derübrigen Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 21 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 157 zu Petitionen– Drucksache 14/3305 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und derF.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 21 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 158 zu Petitionen– Drucksache 14/3306 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen dieStimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.angenommen.Tagesordnungspunkt 21 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 159 zu Petitionen– Drucksache 14/3307 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vonCDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 21 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 160 zu Petitionen– Drucksache 14/3308 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und derF.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 13:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Protokoll vom 9. September 1998 zur Än-derung des Europäischen Übereinkommens
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vom 5. Mai 1989 über das grenzüberschrei-tende Fernsehen– Drucksache 14/2681 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Kultur und Medien
– Drucksache 14/3362 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Werner BertlBernd Neumann
Hans-Joachim Otto
Angela MarquardtDer Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt aufDrucksache 14/3362, den Gesetzentwurf unverändert an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf mitden Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf mit dem glei-chen Stimmenverhältnis angenommen.Zusatzpunkt 2:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu der Ver-ordnung der BundesregierungVerordnung über die Entsorgung polychlorier-terBiphenyle, polychlorierterTerphenyle sowiehalogenierter Monomethyldiphenylmethaneund zur Änderung chemikalienrechtlicher Vor-schriften– Drucksachen 14/3286, 14/3345 Nr. 2.1,14/3395 –Berichterstattung:Abgeordnete Marion Caspers-MerkFranz ObermeierWinfried HermannBirgit HomburgerEva-Maria Bulling-SchröterDer Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-sache 14/3286 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und derF.D.P. bei Gegenstimmen der PDS angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c) auf:5a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENCharta der Grundrechte der EuropäischenUnion– Drucksache 14/3387 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion
PetitionsausschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterHintze, Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUDie Rechte der Bürger stärken – Für eine bür-gernahe Charta der Grundrechte der Europä-ischen Union– Drucksache 14/3368 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion
PetitionsausschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzungAusschuss für Kultur und Medienc) Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineLeutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P.Verbindlichkeit der Europäischen Grund-rechte-Charta und Beitritt der EuropäischenUnion zur Europäischen Men-schenrechtskonvention– Drucksache 14/3322 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion
PetitionsausschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ichdas Wort dem Kollegen Professor Dr. Jürgen Meyer vonder SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grundrechte-Charta der EU ist eines der spannendsten europapoliti-schen Themen, mit denen wir uns zurzeit beschäftigen.
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Ich bin davon überzeugt, dass die Grundrechte-Chartamindestens dieselbe Bedeutung erlangen kann wie dieWährungsunion und die Osterweiterung.Warum ist dies so? Das hängt mit den beiden Zielen, diewir mit der Grundrechte-Charta verfolgen, zusammen.Das erste Ziel ist, deutlich zu machen, dass die Euro-päische Union nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft,sondern auch eine Wertegemeinschaft ist. Wenn künftigEuropäer gefragt werden: „Was macht euch denn aus, wasunterscheidet euch von Bürgerinnen und Bürgern auf an-deren Kontinenten?“, dann – so hoffe ich – werden sie alsAntwort nicht nur die Brieftasche zücken und sagen: Wirhaben den Euro.
Ich hoffe, dass sie dann auch ein kleines Büchlein vorzei-gen und sagen: Wir haben die Grundrechte-Charta; das istunsere Werteordnung.
Das ist nicht nur eine theoretische Vorstellung; vielmehrhat dies auch eine große praktische Bedeutung.Nach der Verkündung der Europäischen Grund-rechte-Charta im Dezember in Nizza wird sich der Euro-päische Gerichtshof in Luxemburg bei der Interpretationvon Begriffen wie „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ nachderen Konkretisierung durch die Grundrechte-Chartarichten. Bei der Entscheidung über die Osterweiterung derEuropäischen Union, bei der es darum geht, Länder in dieUnion aufzunehmen, die Demokratien und Rechtsstaatensind, wird die Grundrechte-Charta wiederum eine großeRolle spielen.Dabei geht es nicht etwa nur darum festzustellen, ob indem betreffenden Kandidatenland – Sie wissen, wovonich spreche – die Todesstrafe abgeschafft ist, das heißt:nicht mehr verhängt und vollstreckt werden darf, oder obMinderheiten respektiert werden. Es könnte auch um dieFrage gehen, ob – wie es das Bundesverfassungsgericht inKarlsruhe formuliert hat – ein Lebenselement der Demo-kratie, nämlich die Pressefreiheit, in dem Kandidatenlandgilt. Sie sehen: Das ist eine außerordentlich praktischeFragestellung.Das zweite Ziel, das wir mit der Grundrechte-Chartaverfolgen, ist ebenso praktisch wie handfest. Es geht da-rum, die wachsende Macht der EU-Organe in Brüsseleiner Kontrolle zu unterwerfen, die es bisher nicht in aus-reichendem Maße gibt. Bekanntlich haben wir zur Kon-kretisierung der Begriffe „Demokratie“ und „Rechtsstaat“eine reiche Rechtsprechung, zum Beispiel des Europä-ischen Gerichtshofs. Aber wer kennt eigentlich dieseRechtssprechung? Ich behaupte, dass es nur wenige Juris-ten gibt, die die vorzüglichen Entscheidungen des Euro-päischen Gerichtshofs kennen. Es geht also neben derIdentität der Europäer als vorrangiges Ziel auch um so et-was wie Transparenz; es geht darum, dass die Menschenin Europa ihre Rechte kennen und durchsetzen können.
Die praktische Bedeutung dieses Sachverhalts will ichwiederum mit einem Beispiel belegen, wobei ich Sie,Herr Kollege Müller, weil Sie mich so freundlich anspre-chen, einbeziehe: Ich unterstelle, dass Sie einen Freundhaben, dessen Freundin sich gelegentlich mit einem Dro-genhändler trifft.
Schon befinden Sie sich im Umfeld eines Drogenhändlersmit der Folge, dass Ihre Personalien im Computer von Eu-ropol gespeichert werden. Das, Herr Kollege Müller, istnatürlich hoch bedenklich. Ich vertraue darauf, dass SieIhr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung,das durch die Charta garantiert werden wird, geltend ma-chen und sagen: Ich bin nicht damit einverstanden, dassich, der Abgeordnete Müller, im Computer von Europolgespeichert bin. Zurzeit können Sie gegen eine solche Er-fassung nur mit einem Beschwerdeverfahren vorgehen;Sie können sich aber nicht an den Europäischen Gerichts-hof wenden. Das müssen wir ändern, da sind Sie doch si-cher derselben Meinung.
Ich will ein zweites Beispiel nennen: Ein Journalist,der in den nordischen Ländern die Finanzierung einesgroßen Straßenbauvorhabens recherchiert, kann dort zur-zeit zur Straßenbaubehörde gehen und Akteneinsicht ver-langen. Künftig wird ihm vielleicht gesagt werden: Dasmachen wir in unserem Staat nicht mehr; vielmehr wirddies maßgeblich in Brüssel bearbeitet. Dann geht derJournalist zu dem zuständigen Kommissar oder seinemSachbearbeiter und bittet um Akteneinsicht. Daraufhinwird ihm gesagt: Ein Informationsrecht oder gar ein Rechtauf Akteneinsicht, und dann auch noch für Journalisten,kennen wir hier bei der EU nicht.
Ich bin der Auffassung, dass wir das ändern müssen.Wir müssen dafür sorgen, dass die Übertragung von Kom-petenzen von der nationalstaatlichen Ebene auf die EU-Ebene nicht dazu führen kann, dass die Menschen in Eu-ropa weniger Rechte haben als bisher.
Als drittes Beispiel nenne ich eine Entscheidung desEuropäischen Patentamtes, die vielleicht versehentlich er-gangen ist und besagt, das Klonen von Menschen mit ei-nem bestimmten Patent schützen zu wollen. Dagegen gibt
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es zurzeit ein Einspruchs- und Beschwerdeverfahren.Man kann sich bei nationalstaatlichen Gerichten, alsozum Beispiel dem Bundespatentgericht, dagegen wehren.Aber dies wirkt eben nur innerhalb des betreffenden Staa-tes. Ich bin der Auffassung, dass dies auf EU-Ebene mitWirkung für alle 15 Länder möglich sein muss. Also brau-chen wir zum Beispiel ein neues Grundrecht, das das Klo-nen von Menschen verbietet und auch die Nutzungmenschlicher Gene für gewerbliche Zwecke untersagt.Dies muss beim Europäischen Gerichtshof durchgesetztwerden können. Wir brauchen daher mehr Rechtsschutz.
Nun habe ich Ihnen ein paar Beispiele dafür genannt,wie sich die Grundrechte-Charta praktisch auswirkenkönnte. Ich möchte noch einen Grund nennen, warumdiese Charta ein Erfolg werden muss. Wir haben einenKonvent, der sich am 17. Dezember vergangenen Jahreskonstituiert hat und dessen Vorsitz an diesem Tag RomanHerzog als Beauftragter der Bundesregierung übernom-men hat. Ich möchte hier gern feststellen, dass RomanHerzog seine Aufgabe hervorragend und mit Einfüh-lungsvermögen, Sachverstand und Kompetenz erfüllt.Wichtig ist aber, dass dieses Gremium zu drei Vierteln ausParlamentariern besteht. Jedes Mitgliedsland entsendetzwei Parlamentarier. Für die Bundesrepublik Deutschlandsind dies – ich nehme an, er wird sich nachher noch zuWort melden – der Europaminister von Thüringen, HerrGnauck, und ich als Delegierter des Deutschen Bundesta-ges. Dabei arbeite ich, was ich hier auch gerne vermerkenwill, mit dem Kollegen Altmaier gut zusammen.
Bei je zwei Parlamentariern pro Mitgliedstaat sind also30 nationale Parlamentarier im Konvent vertreten. Dazukommen 16 Europaparlamentarier. Zusammen sind dies46 von 62 Mitgliedern des Konvents. Weitere 15 Mit-glieder sind Delegierte der Regierungen der Mitgliedstaa-ten. Ferner wird die Kommission durch den KommissarVitorino im Konvent vertreten. Demnach sind drei Viertelder Mitglieder des Konvents Parlamentarier.Bei diesem ganz wichtigen Experiment geht es darum,endlich eine europapolitische Weichenstellung nicht vonRegierungen oder, ohne dass das verächtlich gemeintwäre, von Bürokraten durchführen zu lassen, sondern vonAbgeordneten mit einer demokratischen Legitimation.Ich bin der Auffassung, dass dieses Experiment gelingenmuss, damit Europapolitik künftig demokratischer wird.Damit es ein Erfolg werden kann, muss dieses Gremiumeine beispielhafte Funktion entfalten, die auch Nachah-mung findet.
Dabei haben wir natürlich ein Mandat zu beachten, dasuns vom Europäischen Rat in Köln erteilt worden ist. Die-ses Mandat fordert, dass wir unserer Arbeit die Europä-ische Menschenrechtskonvention sowie die dazu ergan-gene Rechtsprechung zugrunde legen, Bürgerrechte in dieCharta einarbeiten und unter anderem die Sozialchartaberücksichtigen. Ich halte es für ganz wichtig, dass wir diegemeinsame Verfassungsentwicklung der Mitglied-staaten in unserer Arbeit berücksichtigen. Das bedeutet,dass jeder Vorschlag für die Grundrechte-Charta, der nuraus der Sicht des nationalen Rechts erfolgt, also etwa mitdem Tunnelblick, wie er teilweise in Deutschland ge-schieht, nicht überzeugen kann. Wir müssen – das ist eineanspruchsvolle Aufgabe – Verfassungsrechtsvergleicheversuchenunddabeinicht nurdieVerfassungs-, dieGrund-rechtslage in den 15 Mitgliedsländern, sondern auch dieVerfassungen der fünf neuen Bundesländer berücksichti-gen. Darüber hinaus müssen wir auch – sonst wäre die An-hörung der Kandidatenländer eine Farce – die zum Teilhervorragenden neuen Verfassungen der Kandidatenlän-der berücksichtigen.
Ich weise etwa auf die sehr gute und überzeugende Ver-fassung von Polen hin. Diese Aufgabe stellt sich jetzt.Deshalb bin ich froh, hier und heute eine Art Werkstatt-bericht geben zu können.Wer hätte eigentlich gedacht, dass sich diese Angele-genheit in den letzten Wochen und Monaten dieses Jahresso zügig entwickeln würde? Als ich vor fünf Jahren alsAbgeordneter das Thema Grundrechte-Charta zur Spra-che brachte, sprach ich von einer Vision für Europa. Ei-nige mögen gedacht haben, dass das wohl eher eine Träu-merei sei. Jetzt reden wir über von uns abgegebeneWerkstattberichte. Ich bin der Auffassung, dass der politi-sche Durchbruch zur EU-Grundrechte-Charta unter derdeutschen Präsidentschaft in Köln durch die rot-grüneBundesregierung erzielt worden ist. Ich denke, auch dieKolleginnen und Kollegen der Opposition sollten so fairsein und die Größe haben anzuerkennen, dass diesesinsbesondere ein Verdienst der Justizministerin FrauDr. Däubler-Gmelin ist, die den Kölner Gipfel engagiertvorbereitet hat, und von Bundeskanzler GerhardSchröder, der diesen Erfolg in Köln ermöglicht hat. Dassollten Sie alle anerkennen.
Es ist ein Erfolg der rot-grünen Bundesregierung.Die Grundrechte-Charta wird aus drei großen Ab-schnitten bestehen. Der erste Abschnitt, der die klassi-schen Grundrechte enthält, ist nach der ersten Lesung inder vorletzten Woche mit Formulierungsvorschlägen desPräsidiums des Konvents zu 29 Artikeln abgeschlossenworden. Ich werde dazu – hoffentlich auch mit Ihrer Un-terstützung – eine Reihe von Änderungsvorschlägen ein-bringen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir alle der Mei-nung sind, dass zum Beispiel die Kunstfreiheit und dieFreiheit von Forschung und Lehre in die Grundrechte-Charta gehören.
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Ich könnte mir vorstellen, dass Sie es als selbstverständ-lich empfinden, dass die Gleichstellung von Frauen nichtnur durch eine Diskriminierungsklausel verankert wird,sondern durch ein Gleichstellungsgebot verankert werdenmuss. Über diesen Punkt hat sich der Konvent nach mei-nem Eindruck schon geeinigt.
Ich bin froh darüber, dass entsprechend einem Vorschlag,den ich schon vor fünf Jahren in einem Diskussionsent-wurf unterbreitet habe, die Garantie der Unverletzlichkeitder Menschenwürde an die Spitze dieser klassischenGrundrechte gestellt werden wird.
Ich will jetzt über den zweiten Abschnitt, die Bürger-rechte, bei denen es zum Beispiel um das Wahlrecht geht,aus Zeitgründen nichts sagen, sondern mich in der ver-bleibendenZeitdemstrittigenKapiteldersozialenGrund-rechte zuwenden. Hier geht es nach meiner Überzeugungum das europäische Modell, das heißt, wir müssen deut-lich machen, dass sich die Europäische Union im Grund-rechtsbereich nicht nur auf Abwehrrechte beschränkt,sondern entsprechend der Verfassungsentwicklung im 20.Jahrhundert in Deutschland auch Teilhaberechte vorsieht.Gegen diese sozialen Grundrechte wird häufig einge-wandt, speziell von sozialdemokratischer Seite werdeversucht, so etwas wie ein Recht auf Arbeit durchzuset-zen, was so viel wie ein individuell einklagbares Recht aufeinen Arbeitsplatz bedeute. Das ist abwegig.Das Recht auf Arbeit, das zum Beispiel in den Verfas-sungen der neuen Bundesländer und auch in den Verfas-sungen etlicher Mitgliedstaaten der EU garantiert ist, hateinen anderen, viel handfesteren und konkreteren Inhalt.Beim Recht auf Arbeit geht es um Respektieren, Schützenund Fördern.Respektieren heißt, es darf keine Arbeitsverbote geben.Das hat zum Beispiel der Europäische Gerichtshof in sei-ner Entscheidung zum Waffendienst von Frauen in derBundeswehr anerkannt. Dort ging es nicht nur – aberselbstverständlich auch – um Gleichstellung, sondernauch um die Ablehnung pauschaler Arbeitsverbote.Schützen bedeutet – das ist das europäische Modell –,es darf in der Europäischen Union keine willkürlichenund sozial unverträglichen Kündigungen geben; das bein-haltet also genau das Gegenteil dessen, was dasamerikanische Modell „hire and fire“ in diesem Bereichvorsieht. Es geht also um den Schutz von Arbeitsplätzen.
Herr Kol-
lege Professor Meyer, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Niebel?
Ja, gerne.
Bitte
schön, Herr Niebel.
Herr Kollege, Sie haben gerade
gesagt, es dürfe keine Arbeitsverbote geben. Ich unter-
stütze Sie darin. Wie erklären Sie aber, dass im März die-
ses Jahres der Antrag der F.D.P.-Bundestagsfraktion auf
Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht unter anderem
auch von Ihrer Koalition abgelehnt worden ist? Wie er-
klären Sie die Tatsache, dass der so genannte Clever-Er-
lass, der Asylbewerbern, die seit dem Mai 1997 eingereist
sind, die Arbeitserlaubnis und damit die Aufnahme einer
Arbeit grundsätzlich verwehrt, immer noch nicht abge-
schafft worden ist, obwohl bereits viele Landessozialge-
richte diesen als rechtwidrig erachtet haben?
Ich will Ihnen aufdiese Frage ganz freimütig antworten. Ich habe in Erinne-rung, dass Ihr Entwurf auch wegen gewisser handwerkli-cher Mängel abgelehnt worden ist. Um es mir nicht zueinfach zu machen, will ich gleich hinzufügen: Das Rechtauf Arbeit ist gemäß meinen Vorstellungen ein Men-schenrecht. Deshalb muss man Arbeitsverbote aus-schließen. Ich persönlich bin daher der Auffassung, dasswir über die Frage von Arbeitsverboten für Asylbewerbersehr kritisch diskutieren und eventuell neu entscheidenmüssen. Das ist meine klare Antwort.
Zum Recht auf Arbeit gehört schließlich die Förderungder privaten oder öffentlichen Arbeitsvermittlung. Es gehtalso um ganz handfeste Rechte.Ich stelle mir vor, dass im Rahmen der Gewährung vonsozialen Grundrechten auch das Recht auf Bildung ga-rantiert werden muss. Es wird manchmal eingewandt, esgebe hierfür keine EU-Kompetenz. Richtig ist, dass durchdie Charta keine einzige neue Kompetenz begründet wer-den darf. Wenn man aber in den Amsterdamer Vertrag hin-einschaut, dann findet man die Art. 149 und 150 des EG-Vertrages. Dort ist eine Teilkompetenz der EU hinsicht-lich des Rechts auf Bildung festgeschrieben. Es gibtbereits entsprechende Programme, etwa das Programm„Socrates“. Zu behaupten, ein Recht auf Bildung könnenicht geschaffen werden, weil es im Bereich Bildungkeine Kompetenz der EU gebe, ist nicht richtig.
– Herr Kollege Müller, über die Frage der Anwendung desSubsidiaritätsprinzips können wir gerne an anderer Stellereden. Dieses Thema wurde schon in vielen Ausschusssit-zungen erörtert.
Ich will zum Schluss noch meine Vorstellungen vortra-gen, wie man den offenen Konflikt bezüglich der sozialenGrundrechte lösen kann. Dazu gibt es drei Lösungs-möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist zu sagen, der
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Artikel, der die Menschenwürde garantiert, reicht eigent-lich aus. Daraus haben der Bundesgerichtshof und dasBundesverfassungsgericht seit 1949 soziale Grundrechteabgeleitet. Vielleicht kann man noch Selbstverständlich-keiten wie etwa das in der Sozialcharta enthaltene Rechtder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Informa-tion und Anhörung, sofern es um Arbeitsbedingungenoder um geplante Massenentlassungen geht, hinzufügen.Diese Möglichkeit wird aber erstens dem Auftrag desEuropäischen Rates nicht gerecht. Zweitens wird dadurchdie Entwicklung sozialer Grundrechte auf die nächsten50 Jahre verschoben, weil sie dem Europäischen Ge-richtshof überantwortet werden würde. Drittens wäre dasein Zufallsverfahren; denn der Europäische Gerichtshofkann nur entscheiden, wenn ihm etwas vorgelegt wird. Erkann außerdem nur fallbezogen entscheiden und keineGrundrechte-Charta entwickeln.Die zweite Lösungsmöglichkeit ist – das ist das andereExtrem –, alle überhaupt vorstellbaren sozialen Grund-rechte in die Charta aufzunehmen, aber keines rechtsver-bindlich auszugestalten. Ich bin sehr froh, dass dieBundesregierung mehrfach erklärt hat: Wir wollen nurGrundrechte aufnehmen, das heißt: einklagbare Rechte,
sonst endet das ganze Unternehmen in einer großen Ent-täuschung wie bei der Weimarer Reichsverfassung. Siebeinhaltete auch einen umfangreichen Grundrechtekata-log, aber kein einklagbares Grundrecht.Mein Lösungsvorschlag, den ich auch im Konvent ein-gebracht habe, lautet, ein drittes Modell, ein Dreisäulen-modell, durchzusetzen. Die erste Säule ist die Anerken-nung – der können auch Sie sich nicht verschließen – nichtnur des Grundwertes, sondern auch des Rechtsgrund-satzes der Solidarität. Dieser Rechtsgrundsatz wird in diePräambel oder an einer anderen geeigneten Stelle aufge-nommen. Daraus lassen sich alle sozialen Grundrechteableiten.Die zweite Säule sollen soziale Grundrechte sein, vondenen ich einige nannte, auf die man sich nach meinemEindruck durchaus verständigen kann. Dazu gehört zumBeispiel auch der Anspruch auf Zugang zu sozialenDienstleistungen, wie von etlichen Sozialverbänden ge-fordert.Die dritte Säule soll eine dynamische sein. Dabei sollvonderTatsacheausgegangenwerden,dass sozialeGrund-rechte sich in einem ständigen Prozess der Weiterent-wicklung befinden. Ich nenne etwa die Sozialcharta, dieratifiziert ist. Aber die revidierte Sozialcharta ist leidernoch nicht ratifiziert. Ich fordere die Bundesregierungauf, das Verfahren einzuleiten, um die revidierte Sozial-charta zu ratifizieren.Der Konvent kann die Entwicklung künftiger sozialerGrundrechte nicht abblocken; es sollte vielmehr ein Arti-kel in die Grundrechte-Charta etwa mit folgendem Inhalteingefügt werden: Die sozialen Grundrechte, die durchKonventionen anerkannt sind, denen sich die Mitglieds-länder angeschlossen haben, werden bei der Interpretationund Durchsetzung der einzelnen Artikel der Charta be-achtet.Ich hoffe sehr, mit diesem Vorschlag dazu beitragen zukönnen, das Haupthindernis für einen Erfolg der Arbeitgerade im Bereich sozialer Grundrechte zu beseitigen. Ichbitte um Unterstützung und ich bitte Sie alle, die öffentli-che Diskussion so positiv und so engagiert mit den Dele-gierten des Konvents zu führen, dass wir am Ende sagenkönnen: Dieses ist eine Grundrechtscharta und sie ist daseuropäische Modell.Ich bedanke mich.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Altmaier
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Erarbeitung der Grundrechtscharta ist in der Tat einwichtiger, ein großer, ja auch ein historischer Schritt aufdem Weg zur europäischen Integration.
Sie kann zu dem grundlegenden Dokument der Europä-ischen Union werden, das mehr über die Zusammen-gehörigkeit, die Identität und das Selbstverständnis derEuropäer aussagt als alle bisherigen Verträge und Proto-kollnotizen zusammen. Sie kann aber auch, falls sie schei-tert, weil sie überladen wird mit unrealistischen Forde-rungen, mit ideologisch motivierten Vorschlägen, falls siemissbraucht wird für innerstaatliche Debatten und Strei-tigkeiten, zum weithin sichtbaren Dokument unserer Un-fähigkeit werden, in Europa Wichtiges von Unwichtigemzu unterscheiden und das Viele, das uns in Europa ge-meinsam ist, vor das Wenige zu stellen, das uns in Europatrennt.Meine Damen und Herren, ich möchte deshalb zu Be-ginn der Debatte sagen: Das Projekt dieser Grundrechts-charta ist ein gemeinsames Projekt aller demokratischenFraktionen in diesem Haus. Es ist kein rot-grünes Projektin erster Linie, es ist auch kein exklusives Projekt derCDU/CSU. Wir haben uns seit vielen Jahren gemeinsamfür dieses Projekt eingesetzt und wir haben die gemein-same Verantwortung, dieses Projekt durch unsere Arbeitin diesem Haus und im Konvent in Brüssel auch zum Er-folg zu führen.
Meine Damen und Herren, die Europäische Unionsteht am Beginn des neuen Jahrhunderts vor tief greifen-den inneren Reformen. Die Regierungskonferenz und derVertrag von Nizza mit der Herstellung der Erweiterungs-fähigkeit der Europäischen Union, die Erweiterung derEuropäischen Union in den nächsten Jahren auf bis zu 30Mitgliedstaaten mit Folgen für die Struktur der Europä-ischen Union, die kein Mensch abschätzen kann – all dasmacht deutlich, dass die Europäische Union am Beginn
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Dr. Jürgen Meyer
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einer gänzlich neuen Phase ihrer Entwicklung steht. Des-halb ist die mit Abstand wichtigste Funktion dieserCharta, dass sie rechtzeitig vor Beginn dieses Prozesses,von dem niemand weiß, wohin er uns führen wird, deut-lich macht, dass die Europäische Union viel mehr ist alsnur ein großer Binnenmarkt mit freiem Waren-, Güter-und Dienstleistungsverkehr,
dass sie in erster Linie und vor allem eine Wertegemein-schaft ist und dass es diese Wertegemeinschaft ist, die unsin Europa und weltweit unterscheidbar und erkennbarmacht.
Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft.Freiheit, Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaat-lichkeit, das sind nicht irgendwelche, sondern die ent-scheidenden Grundsätze, das Fundament, auf dem die Eu-ropäische Union beruht. Dieses Fundament ist über Jahr-hunderte gewachsen. Herr Kollege Meyer, Sie sind jaStaatsrechtler. Sie wissen, dass die Ursprünge weit zu-rückreichen. Die griechische Polis, wo man erkannt hat,dass gemeinsame Angelegenheiten gemeinsam geregeltwerden müssen, die englische Magna Charta von 1215,wo man erkannt hat, dass staatliche Macht immer auch derBegrenzung bedarf, die Französische Revolution und ihregroßen Prinzipien der Gleichheit, der Freiheit und der So-lidarität, die Paulskirchen-Versammlung von 1848, dasdeutsche Grundgesetz von 1949, die friedliche Revolu-tion in Osteuropa – das alles zeigt, dass wir in den Mit-gliedstaaten der Europäischen Union eine Tradition imHinblick auf Menschenrechte, Demokratie undGrundfreiheiten haben, die unglaublich reich und ver-schiedenartig ist und die sich so in keinem anderen Teilder Welt findet.
Zu diesem gemeinsamen Erbe gehören dann auch dieschrecklichen Erfahrungen mit totalitären Ideologien, mitdem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, bei-des Ideologien, die in Europa entstanden sind, die in Eu-ropa aber auch wieder überwunden worden sind.Ich meine, man kann mit Fug und Recht davon spre-chen, dass sich als Ergebnis dieser jahrhundertelangen Er-fahrungen ein europäisches Menschenbild entwickelthat, das auf der christlichen Anthropologie und der Tradi-tion der Aufklärung fußt und das die entscheidenden Wur-zeln unseres modernen Grund- und Menschenrechtsver-ständnisses darstellt.Wenn die Erweiterung der EU, der Beitritt neuer Staa-ten mit all der begrüßenswerten Unterschiedlichkeit undVerschiedenartigkeit, die er zur Folge hat, nicht zur Be-liebigkeit führen soll, wenn an die Stelle innerer Über-zeugung kein reiner Positivismus treten soll, dann müssenwir den Mut haben, uns zu diesem europäischen Men-schenbild in der Grundrechtscharta an entscheidender undzentraler Stelle zu bekennen. Lieber Herr Kollege Meyer,wir arbeiten im Grundrechtskonvent in Brüssel sehr gutzusammen. Bitte helfen Sie mit, dass wir es in Brüsselschaffen, dieses Bekenntnis zum europäischen Men-schenbild in der Grundrechtscharta deutlich und klar zuverankern.
Es ist in der Tat so, dass gerade in der jetzigen Zeit, inder die Unteilbarkeit und die Universalität der Menschen-rechte weltweit zunehmend anerkannt, aber leider Gottesnicht weltweit durchgesetzt werden, von dieser Chartaeine Signalwirkung für Demokratie- und Menschen-rechtsbewegungen in der ganzen Welt ausgehen kann.Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir in der Grund-rechtscharta an prominenter Stelle auch das Verbot derTodesstrafe, der Folter und der erniedrigenden Behand-lung zum Ausdruck bringen, selbst wenn die Gefahr, dassdie Europäische Union dagegen verstößt, eher als geringeinzuschätzen ist. Aber wir gäben damit ein Zeichen, dasweit über die Europäische Union hinauswirkt.Die Charta hat allerdings – das ist ein ganz wichtigerPunkt – nicht nur einen hohen Symbolgehalt, nicht nureine hohe grundsätzliche Bedeutung; sie wird auch ganzkonkret etwas im Verhältnis der europäischen Bürger zurEuropäischen Union und ihrer Politik ändern. Der ersteund wichtigste Punkt ist, dass die Charta die Akzeptanzund die Legitimation des Handelns der EuropäischenUnion erhöhen kann, ja sogar erhöhen muss. Wir habendoch das Problem, dass sich viele Bürger, denen manschnell und voreilig Euro-Skeptizismus oder antieu-ropäische Haltung vorwirft, dem, was aus Brüssel kommt,egal ob es berechtigt oder unberechtigt, gut oder schlechtist, zum Teil hilf- und schutzlos ausgeliefert fühlen. Dieeuropäischen Bürger haben weder die Möglichkeit, aufdie Politik des Europäischen Rates einzuwirken, noch ha-ben sie die Möglichkeit, auf die Politik der EuropäischenKommission einzuwirken. Auch die Wahl zum Europä-ischen Parlament ändert wenig an europäischer Agrarpo-litik oder europäischer Verkehrspolitik.
Deshalb müssen wir deutlich machen, dass gerade ineiner Zeit, in der die Europäische Union immer stärkerHandlungskompetenzen in Anspruch nimmt, in der dieZahl der Verordnungen und Richtlinien zunimmt, die Or-gane der Europäischen Union – Kommission, Parlament,Ministerrat – die Umsetzung von Verordnungen, Richtli-nien und Entscheidungen an den gleichen strengen Maß-stäben messen müssen, wie dies nach den Maßstäben desGrundgesetzes für das Handeln der nationalen Institutio-nen seit jeher geschieht.Nun wird man einwenden können, dass wir seit vielenJahren im Rahmen der Rechtsprechung des Euro-päischen Gerichtshofes und durch Art. 6 des EU-Vertra-ges einen europäischen Grund- und Menschenrechts-schutz haben. Nach meiner Kenntnis aber ist es so – diefrühere Justizministerin wird dies bestätigen können –,dass bis heute keine einzige europäische Verordnung undkeine einzige europäische Richtlinie wegen eines Ver-stoßes gegen Grund- oder Menschenrechte aufgehoben
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worden sind. In der gleichen Zeit gab es in Karlsruhe Dut-zende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts,durch die Maßnahmen des deutschen Gesetzgebers auf-gehoben worden sind. Ebenso verhält es sich in Frank-reich und den anderen Mitgliedstaaten. Ich glaube aller-dings nicht, dass die europäischen Organe unfehlbar sind.Ich glaube, dass bislang in der Europäischen Union dieDimension des Grund- und Menschenrechtsschutzes zukurz gekommen und unterschätzt worden ist.
Deshalb müssen wir die Europäische Union in diesem Be-reich vom Kopf auf die Füße stellen. Dazu kann die Eu-ropäische Grundrechte-Charta einen wichtigen Beitragleisten.
Das ist im Übrigen nicht antieuropäisch und nicht euro-skeptisch, sondern der demokratische Normalfall.Die Erarbeitung einer europäischen Grundrechtschartaist das erste große europäische Projekt, das nicht einfachnur in Form einer Einbahnstraße zu einer neuen Kompe-tenzerweiterung der Europäischen Union führt – das tut esgerade nicht –, sondern dazu, dass die vorhandenen Kom-petenzen effektiver kontrolliert und begrenzt werden kön-nen. Auch dies ist im Fortgang der europäischen Integra-tion ein ganz wichtiges Ereignis. Wir müssen deutlichmachen, dass die Ausübung europäischer Gewalt auch aufder anonymen Brüsseler Ebene kontrollierbar und be-herrschbar ist.Deshalb ist die Grundrechtscharta der erste Schritt zueiner weiterführenden Diskussion über eine grundsätzli-che Kompetenzabgrenzung in der Europäischen Union imRahmen der Frage: Was wollen wir in Zukunft auf derEbene der Mitgliedstaaten und was wollen wir auf derEbene der Europäischen Union regeln? Das wird nicht indieser Charta entschieden. Aber von ihr geht der Anstoßaus, dieses Thema im Rahmen der Regierungskonferenzanzugehen und dann hoffentlich auch entsprechende Fort-schritte zu erreichen.Meine Damen und Herren, entscheidend für das Zu-standekommen der Charta ist allerdings nicht nur die guteAbsicht der Beteiligten, sondern auch ihr Inhalt. Ichstimme Herrn Meyer zu, dass es ganz entscheidend daraufankommt, dass wir die Achtung und den Schutz der Men-schenwürde, die für unser christlich geprägtes Grund- undMenschenrechtsverständnis zentral ist, an prominenterStelle in der Grundrechtscharta verankern.
und dass wir zu den neuen Technologien im Bereich desKlonens bzw. der Bio- und Gentechnologie eine Aussagetreffen.Erlauben Sie mir an diesem Punkt folgende Bemer-kung: Vor der letzten Bundestagswahl waren wir schoneinmal so weit, dass wir fast dem europäischen Biomedi-zinübereinkommen beigetreten wären. Ich habe dazu vonder neuen Koalition noch keine Aussagen gehört, wie siemit diesem Projekt umgehen will. Wenn man den Ent-wicklungen in diesen Bereichen eine entsprechende Be-deutung beimisst, dann muss man sich der Diskussionstellen, wie sie im Rahmen des Europarates seit vielenJahren stattfindet, und muss in diesem Haus eine Ent-scheidung über einen Beitritt zu dieser Konvention her-beiführen.
Ich halte es für wichtig, dass wir die klassischen Frei-heits- und Verfahrensrechte als Rechte der europäischenBürger, die im Sinne der Abwehr und der Kontrolle deshoheitlichen Handelns der Europäischen Union zu ver-stehen sind, in den Mittelpunkt der Charta stellen. Ichglaube, dass die klassischen Grundrechte gerade in derheutigen Zeit, in der es fast nur noch auf Effizienz undSchnelligkeit ankommt, vor einer Renaissance stehen.
Herr Kol-
lege Altmaier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Seifert von der PDS-Fraktion?
Bitte sehr.
Herr Kollege, Sie haben gerade
sehr vehement dafür plädiert, dass die Bundesrepublik die
Bioethik-Konvention ratifizieren soll. Diese ist ja zur
Täuschung der Öffentlichkeit in „Menschenrechtsüber-
einkommen zur Biomedizin“ umbenannt worden. Wollen
Sie allen Ernstes, dass wir die Forschung an nicht einwil-
ligungsfähigen Menschen erlauben, oder sind Sie nicht
auch der Meinung, dass die in der Bundesrepublik
Deutschland bestehenden Gesetze geeignet sind, davor zu
schützen, und dass eine Verabschiedung von Gesetzen,
die wir noch benötigen, um einen größeren Schutz zu or-
ganisieren, auch ohne den Beitritt zu dieser Konvention
im nationalstaatlichen Rahmen möglich ist?
Herr Kollege, ich war inder letzten Wahlperiode Berichterstatter meiner Fraktionzu diesem Thema. Ich kann Ihnen sagen, dass ein Beitrittzur Europäischen Bioethik-Konvention keine einzigeweitergehende gesetzliche Bestimmung in Deutschlandaußer Kraft setzen wird.
Aber ich weiß natürlich, dass es in diesem Hohen Hausunterschiedliche Auffassungen über die Wünschbarkeiteines Beitritts zu dieser Konvention gibt. Wir hatten in derletzten Wahlperiode auch vereinbart, dass es in dieserFrage keinen Fraktionszwang geben wird. Niemand sollgegen seinen Willen gezwungen werden, eine andere Auf-fassung zu vertreten. Nur glaube ich, dass wir diese Ent-scheidung hier einmal treffen müssen und dass wir sienicht auf die lange Bank schieben dürfen, während über-all in Europa und in der Welt die technischen Entwick-lungen in diesem Bereich weitergehen.
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Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir unsim Zusammenhang mit der Grundrechtscharta auch ei-nem Problem stellen müssen, das bislang erstaunlichwenig diskutiert worden ist: dem Problem der Vertrei-bung und des Schutzes von Minderheiten in Europa.Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Vertrei-bungen und der Nichtachtung von Minderheitenrechten,und zwar nicht nur im Zweiten Weltkrieg, sondern bishinein in die jüngste Zeit. Denken Sie zum Beispiel andie Ereignisse auf dem Balkan, im Kosovo und inBosnien-Herzegowina. Die Grundrechtscharta wäre des-halb meiner Meinung nach unglaubwürdig, wenn sie sichmit allen möglichen Grundrechten beschäftigte – von Bil-dung über Mutterschutz bis hin zu anderen Fragen –, daszentrale Problem der Vertreibung und des Minderheiten-schutzes aber außen vor ließe.Mein Eindruck ist, dass es in Brüssel Unterstützung fürdiesen Standpunkt gibt. Ich möchte Sie, Herr KollegeMeyer, bitten, dass wir uns gemeinsam dafür einsetzen,dass eine entsprechende Vorschrift, für die es in Textender Vereinten Nationen Vorbilder gibt, in die Grund-rechtscharta aufgenommen wird.Wir müssen uns auch der Frage stellen, wie wir dasAsylrecht auf europäischer Ebene regeln können. Wennwir ehrlich sind, werden wir das nationale deutscheAsylrecht nicht in dieser Form in die Grundrechtschartaaufnehmen können. Wir werden aber in einem europä-ischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtsunter strikter Beachtung der Genfer Flüchtlingskon-vention eine Institutsgarantie zustande bringen können.Es gehört zur Ehrlichkeit, dies auch unseren innerstaatli-chen Gesprächspartnern zu sagen; denn zu der Fähigkeitund der Bereitschaft, eine solche Grundrechtscharta zuformulieren, gehören auch die Fähigkeit und die Bereit-schaft zum Kompromiss.Lassen Sie mich zu den sozialen Grundrechten noch ei-nige Sätze anführen. Niemand in diesem Haus ist dage-gen, das soziale Modell, das in Europa entwickelt wordenist, auf das wir in Deutschland und auf das auch unsereNachbarstaaten stolz sind, in der Grundrechtscharta fest-zuschreiben. Was wir jedoch nicht wollen, ist, dass durchdie Aufnahme eines großen Bauchladens an sozialenGrundrechten Erwartungen geweckt werden, die entwe-der nicht zu erfüllen sind, weil wir den Menschen mit all-gemeinen Programmsätzen Steine statt Brot geben, oderdie dazu führen, dass auf dem Umweg über die Grund-rechtscharta in einem Bereich, in dem die EuropäischeUnion bislang keine Zuständigkeiten hat, neue Hand-lungspflichten der Mitgliedstaaten begründet werden.
Ich glaube, wir sollten den Menschen ehrlich sagen:Diese Europäische Union ist eine sozial verantwortlicheUnion. Aber die Grundentscheidungen über die Ausge-staltung des Systems der sozialen Sicherheitwerden aufder Ebene der Mitgliedstaaten getroffen. Sie sind dochnoch nicht einmal auf der Ebene der Bundesrepublik im-stande, die anstehende Rentenerhöhung so vorzunehmen,wie es gesetzlich über viele Jahre vorgesehen war. Wirsollten daher nicht der Versuchung erliegen, auf europä-ischer Ebene große Erwartungen zu erwecken, die wirnicht erfüllen können.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:Die europäische Grundrechtscharta muss nicht nur denhohen Erwartungen an ihren Inhalt gerecht werden. Wirmüssen auch versuchen, sie so klar, einfach und überzeu-gend zu formulieren, dass sie von den Bürgern gelesenund verstanden werden kann. Ich glaube, dies ist genausowichtig wie die Verbürgung der einzelnen Grundrechte.Die europäische Integration schreitet immer mehrvoran. Sie wird für die Bürger immer wichtiger. Gleich-zeitig ist sie immer schwieriger zu verstehen. Auch für dieLehrer in den Schulen wird es schwieriger, sie zu erklä-ren. Ich habe aus meiner Schulzeit eine Stelle im deut-schen Grundgesetz behalten:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichenGewalt.Wenn wir es schaffen würden, in der EuropäischenGrundrechte-Charta einen einzigen solchen Satz zu ver-ankern, der in Zukunft von Nord bis Süd und von West bisOst unsere gemeinsame Identität in Europa zum Ausdruckbringt, dann hätten wir unseren Auftrag bei der Erarbei-tung dieser Grundrechtscharta erfüllt. Allein deswegenlohnt es sich, an diesem Ziel mitzuarbeiten.Vielen Dank.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Claudia Roth vonBündnis 90/Die Grünen das Wort.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Europa braucht dringend einen verfassungsgebenden Pro-zess, weil es im wahrsten Sinne des Wortes in schlechterVerfassung ist. Eine Grundrechtscharta als Teil diesesProzesses kann Mittel sein, mit dem man Europa das ge-ben kann, was es kaum hat: das Vertrauen der Bürgerin-nen und Bürger. Bürgernähe erreicht man nur, wenn dieMenschen wissen, warum sie dieses Europa überhauptwollen sollen, wenn Europa nicht mehr nur Konsumentenund Produzenten kennt, sondern Bürgerinnen und Bürgermit Rechten und Pflichten, wenn Europa endlich ein bür-gerrechtliches Fundament bekommt und die Menschen soetwas wie eine europäische Demokratiedividende erle-ben.Die Grundrechtscharta ist ein zentrales Projekt der not-wendigen Demokratisierung und Politisierung Europas.Bei der Gründung der Gemeinschaft standen politischeund wirtschaftliche Ziele nebeneinander; heute ist daswirtschaftliche Europa, die Wirtschafts- und Wäh-rungsunion, der Goliath und das politische Europa stehtals kleiner David daneben. Eine Grundrechtscharta kannendlich wieder ein Gleichgewicht schaffen. Sie kann im
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besten Sinne identitätsstiftend sein, was der Euro nichtschafft – da gebe ich Herrn Meyer Recht – und auch derfreie Verkehr von Kapital, Waren und Dienstleistungennie und nimmer schaffen wird.Voraussetzung für den Erfolg sind aber europaweiteDiskussionsprozesse. Ich begrüße ausdrücklich die großeRepräsentanz von Parlamentariern und Parlamentarierin-nen im Konvent und ich begrüße den Versuch des Kon-vents, dazu beizutragen, dass auch die Zivilgesellschaftzu Wort kommt, dass Nichtregierungsorganisationen indiese Debatte einbezogen und mit beteiligt werden. Denndas ist eine Voraussetzung für das Entstehen einer euro-päischen Öffentlichkeit.Eine Charta, die der Kern der Rechtsstaatlichkeit inEuropa sein soll, kann nicht von oben verordnet werden.Sie muss von unten mit entstehen. Damit nähern wir unslangsam dem, was Demokratie auch in Europa, was euro-päische Demokratie auszeichnet: Partizipation, was bis-lang ein Fremdwort in der Europäischen Union ist.Ich würde mir aber sehr wünschen, dass in diesen eu-ropäischen Aneignungsprozess sehr viel mehr als bisherauch die Beitrittsländer einbezogen werden; denn es istihre und unsere gemeinsame Zukunft, die gebaut wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es richtig ist,dass man nur einigen kann, was schon eine innere Einheitbesitzt, dann wirft das die Frage auf, was die Einheit Eu-ropas eigentlich ist. Wir sind nicht ein Volk; wir habennicht dieselbe ethnische Herkunft. Wir sprechen nicht die-selbe Sprache. Wir haben nicht eine einzige Kultur undwir haben auch nicht nur das christliche Wertebewusst-sein. Unsere Geschichte ist vom Krieg gegeneinander ge-zeichnet. Aufgrund unscharfer Grenzen können wir Eu-ropa noch nicht einmal als geographische Einheit klar er-kennen. Was also verbindet uns? Was ermöglicht es unszusammenzuleben? Die Antwort mag banal erscheinen:Es ist der größte Reichtum, den wir gemeinsam haben:Demokratie und Menschenrechte. Das macht die EinheitEuropas aus. Was immer Fragwürdiges von diesem Kon-tinent ausgegangen ist: Demokratie und Menschenrechtesind eine Botschaft dieses Kontinents, die unbestreitbarglobale Gültigkeit hat. Nach dem 20. Jahrhundert, demJahrhundert der Schrecken und der ultimativen Verbre-chen, ist der moralische Imperativ dieses Kontinents: DieWürde des Menschen ist unantastbar.Ich zitiere:Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Be-sitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das mei-ste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, son-dern dem gemeinsamen europäischen Fundus ent-stammt. Vier Fünftel unserer inneren Habe sindeuropäisches Gemeingut.Diese Erkenntnis des Philosophen Ortega y Gasset hatRoman Herzog in einer Rede vor dem EuropäischenParlament 1995 vorgetragen. Jetzt müssen RomanHerzogs Elan, auch seine Erfahrung und bayerische Be-harrlichkeit dazu beitragen, dass aus der Grundrechte-Charta etwas anderes wird als ein neuer Stoß Papier aufdem Berg von Resolutionen und feierlichen Erklärungen,die es in Europa schon gibt.Unsere Kollegen Herr Meyer und Herr Altmaier, denenich für ihr Engagement ausdrücklich danke, sowie natür-lich die Bundesregierung werden mithelfen müssen, da-mit aus dem gemeinsamen rechtlichen Fundus Europasein rechtliches Fundament wird. Denn europäische De-mokratie ergibt sich eben nicht automatisch aus der Addi-tion von 15 Demokratien; sie funktioniert nicht nachAdam Riese. Sie funktioniert nur dann, wenn man denMenschen Rechte gibt.Es genügt eben nicht, dass alle Mitgliedsländer der Eu-ropäischen Union der Menschenrechtskonvention beige-treten sind – die Europäische Union aber nicht. Es kannnicht länger normal sein, dass EU-Recht nationales Rechtbricht, ohne dass die Union selber eine klare und umfas-sende Grundrechtsordnung besitzt.Es muss beunruhigen, wenn im Bereich der Informati-ons- und Kommunikationstechnik, im Bereich der Bio-wissenschaften – die unser Leben und unseren Begriffvom Menschen mehr verändern werden als alle Revolu-tionen zuvor – neue Grundrechtskonflikte aufbrechen,ohne dass Europa darauf mit einem Grundrechtskonsenseine Antwort findet. Schon heute werden technische, wer-den moralische Grenzen überschritten, die bislang als sta-bil galten. Wir brauchen einen europäischen menschen-rechtlichen Schutzstandard; denn nicht alles, was möglichist, darf möglich sein.Es kann uns nicht gleichgültig lassen, dass in hochsen-siblen Bereichen der Europäischen Union – wie in derdritten Säule, der Polizei- und Justizkooperation,oder in der zweiten Säule, der Außen- und Sicherheitspo-litik – die parlamentarische und gerichtliche Kontrolleund damit die Garantie des Grundrechtsschutzes faktischausgehöhlt sind. Die Europäische Union ist so lange un-vollständig, wie zwar die Herrschaft des Rechts und dieMacht der Institutionen wachsen, nicht aber im selbenAusmaße die Abwehr- und Freiheitsrechte und derRechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger. Und: Es dür-fen keine Rechte versprochen werden, ohne dass sie fürdie Bürgerinnen und Bürger Recht werden. Rechtsver-bindlichkeit und der Zugang zu den Gerichtshöfen sindmit Grund- und Menschenrechten untrennbar verbunden.Gleiches gilt für die Unteilbarkeit der Grundrechte.Alle Politikbereiche, alle Institutionen und Organe derEuropäischen Union müssen dieser Grundrechtschartaunterliegen; sonst bliebe sie Makulatur und Proklamation.Die Grundrechtscharta wird ihren Namen nur dann mitRecht tragen, wenn ihre Bestimmungen, anders etwa alsdie der Weimarer Reichsverfassung, gerichtlich einklag-bar sind für alle, die in der Europäischen Union leben –also keine neuen Mauern, keine Hierarchisierung vonMenschen in Bürger erster, zweiter oder dritter Klasse.Der Konvent hat schon einige wegweisende Formulie-rungsvorschläge erarbeitet. Einzelne Aspekte wurden je-doch noch gar nicht oder nur unbefriedigend bearbeitet.Wir sehen deshalb Nachbesserungsbedarf und drängenauf substanzielle Ergebnisse. Wir wollen, dass neueGrundrechte kodifiziert werden, und zwar im Bereich derUmwelt, der Biowissenschaften, des Datenschutzes, desinformationellen Selbstbestimmungsrechtes. Die Vielfaltvon Lebensgemeinschaften, von Lebensformen gilt es
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ebenso zu schützen wie das Recht derjenigen, die denKriegsdienst verweigern möchten.Wir möchten die Beteiligungsrechte der Menschenausbauen und erweitern. So brauchen wir einen umfas-senden und effektiven Schutz vor Diskriminierung, alsoauch Schutz vor Diskriminierung aufgrund des Alters, ei-ner Behinderung oder der sexuellen Identität. Menschen-rechte sind unteilbar, das heißt, die wirtschaftlichen, diesozialen, die kulturellen Rechte sind zu verankern unterBeachtung des Schutzes der Menschenwürde, des Per-sönlichkeitsrechts sowie der körperlichen und geistigenIntegrität sowie des Rechts auf Gleichheit aller Men-schen.Wir wollen keine fruchtlosen Debatten darüber führen,wie Kollege Meyer gesagt hat, ob zum Beispiel das Rechtauf Arbeit justiziabel ist. Ziel muss es aber sein, einHöchstmaß an individuellem Rechtsschutz zu erreichen.Über das bloße Diskriminierungsverbot hinaus sollte dieGleichstellung und aktive Förderung von Frauen und derSchutz der kulturellen Rechte von Minderheiten eineGrundlage in der Charta finden.Der Rechtsschutz muss gestärkt werden. Ich glaube,dass gerade wir Deutsche einen besonderen Beitrag leis-ten können, wenn es um das Grundrecht auf Asyl geht.
Sorgen wir also dafür, dass künftig in Europa der GenferFlüchtlingskonvention uneingeschränkte und allumfas-sende Gültigkeit zuteil wird, wie es der EU-Rat in Tam-pere letzten Oktober beschlossen hat. Das ist nicht nur fürFlüchtlinge von existenzieller Bedeutung, sondern auchein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Charta und un-seres Verständnisses eines effektiven Grundrechts-schutzes.Individuell einklagbare Schutzrechte sind tragendeSäulen unserer Demokratie. Grundrechte sind kein Gna-denakt des Staates und gerade das Asylrecht ist Teil unse-rer historischen Verantwortung. Es darf und kann alsonicht über Europa ausgehöhlt oder verringert werden,sondern es sollte unser bester Exportbeitrag für die De-batte über die Europäische Grundrechte-Charta sein.
Deswegen ist für die Debatte über eine europäischeGrundrechte-Charta eine Renaissance der nationalenGrundrechte Voraussetzung. Denn solange nationaleGrundrechte immer wieder zur Disposition gestellt undzur Aushöhlung vorgeschlagen werden – so wie leidergestern in einer Pressekonferenz von Herrn Stoiber dasGrundrecht auf Asyl wieder zur Disposition gestelltwurde –, so lange wird man auch in Europa nur hohleGrundrechte bekommen.
Europa braucht also eine Demokratieoffensive. DieDemokratie in Europa ist keine Vision, sondern eine Vo-raussetzung für die Zukunft dieses Kontinents.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es istrichtig und alle haben es bisher konstatiert: Die Europä-ische Union befindet sich in einer ganz entscheidendenEntwicklungsphase. Die Reform der Institutionen der Eu-ropäischen Union – sprich: die Notwendigkeit, Erfolg beider Regierungskonferenz zu haben und nicht nurüber das zu reden, was die Regierung jetzt beabsich-tigt –, die Osterweiterung und der Ausbau der Gemeinsa-men Außen- und Sicherheitspolitik sowie gemeinsameZusammenarbeit von Polizei und Justiz werden die Euro-päische Union immer stärker zu einer politischen Unionmit mehr Staatlichkeit machen.Eine europäische Grundrechte-Charta, die die europä-ischen Organe bindet, die die Mitgliedstaaten bei der Um-setzung europäischer Entscheidungen verpflichtet, die dieRechte der Bürgerinnen und Bürger stärkt und die die Bei-trittskandidaten in diesen Wertekonsens einbezieht,gehörte nach Auffassung der F.D.P. schon immer zu ihrereuropäischen Vision.
Denn diese gab es schon früher, es gab sie schon 1981 mitder Genscher-Colombo-Initiative, als erstmalig eine euro-päische politische Union skizziert wurde, die dann in dieEuropäische Wirtschafts- und Währungsunion und in denVertrag von Amsterdam einmündete. Dies alles war Teileines lang angelegten Entwicklungsprozesses, der natür-lich von Finalität bestimmt ist. Denn die Liberalen wol-len kein Europa, das sich Schritt für Schritt, abhängig vonZufälligkeiten integriert, ohne zu sehen, was am Endesteht.Gerade die Finalität des europäischen Integrationspro-zesses hat die Liberalen motiviert, immer mitentschei-dender Faktor und Initiator dieser europäischen Politik zusein.
Deshalb brauchen wir uns hier überhaupt nicht über dieNotwendigkeit einer europäischen Grundrechte-Chartaauseinander zu setzen. Dafür gibt es politische Gründe, sozum Beispiel, die europäischen Wertevorstellungen ein-mal nachlesbar zu formulieren. Es soll eben nicht so sein,dass Verweisungen auf Traditionen der Verfassungen inden Mitgliedstaaten oder auf die Europäische Menschen-rechtskonvention dem Bürger ein vollkommen undurch-sichtiges Bild dessen geben, was denn Wertekonsens ist.Wir wollen, dass sich das aus der Europäischen Grund-rechte-Charta nachvollziehbar, begeisternd, klar und da-mit auch einprägsam und für jeden Bürger akzeptabel er-gibt.
Deshalb reicht uns die – sicherlich verdienstvolle –Rechtsprechung des EuropäischenGerichtshofes nicht,die die Defizite, die durch das Fehlen einer verbindlichenCharta bestehen, natürlich nur kasuistisch ausgefüllt hat.
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Dies ist hervorragend, aber dies kann eine formulierteGrundrechte-Charta natürlich nicht ersetzen. Die Recht-sprechung füllt auch nicht den quasi grundrechtsfreienRaum bei der dritten Säule, bei der Zusammenarbeit vonPolizei und Justiz, bei der Schaffung neuer europäischerInstitutionen und Organe mit immer mehr Kompetenzen,mit operativen Befugnissen. Beim Handeln dieser Organegilt eben nicht das verbindlich, was allgemeiner Konsensist.Wir wollen die Befugnisse dieser Organe ausdehnen.Wir wollen OLAF, die Betrugsbekämpfungseinheit, im-mer selbstständiger machen. Auch Europol wird sich wei-terentwickeln. Dies können wir nicht losgelöst von derAchtung der Rechte des Bürgers zum Schutz seiner Per-sönlichkeit, gerade auch hinsichtlich des Datenschutzes,und nicht ohne Kontrolle staatlichen, also europäischenHandelns machen.
Für die F.D.P. ist die Grundrechte-Charta ein entschei-dendes Element für einen europäischen Verfassungsge-bungsprozess. Ich glaube, man muss dies hier deutlichaussprechen: Es nützt nichts, dies zu einem Tabu nachdem Motto zu machen: Jetzt unterhalten wir uns in schö-nen Worten, denen alle zustimmen, über eine Grund-rechte-Charta. Dann schreiben wir diese in einem Papiernieder, dann gibt es eine feierliche Proklamation, unddann ist dieser Prozess vielleicht erst einmal ins Stockengeraten. Davon, liebe Kolleginnen und Kollegen, habendie Bürgerinnen und Bürger in Europa nichts. Dann hät-ten wir keine Verbindlichkeit dieser Grundrechte-Charta.
Auch die Auslegung des Europäischen Gerichtshofes,die Sie, Herr Meyer, skizziert haben, wird nicht durch eineGrundrechte-Charta mit Goldrand, die in der Schubladeliegt, beeinflusst. Weil Art. 6 des Vertrages von Amster-dam die Europäische Menschenrechtskonvention nichtunmittelbar zur Geltung bringt, sondern nur sagt, mansolle sie achten, werden Rechte des Bürgers und der Bür-gerin nur in schwacher Form gewahrt. Die Auslegunghängt zudem von Zufälligkeiten des Verfahrens ab.Deshalb müssen wir hier klar sagen: Wir wollen jetztdiese Grundrechte-Charta. Wir wollen, dass sie einen an-spruchsvollen Inhalt hat. Ich glaube, dass am ehesten zudiesen Punkten eine Verständigung in diesem Hause her-beigeführt werden kann. Dies gilt wahrscheinlich auch fürdie anderen Mitgliedstaaten, die sehr viel zurückhaltenderund mit sehr viel mehr Vorbehalten als wir hier inDeutschland an dieses Projekt herangehen.Entscheidend wird es erst, wenn sich die Bundesregie-rung auf dem Europäischen Rat in Nizza dafür einsetzenmuss, diese Charta nicht nur als einen hervorragendenEntwurf des Konvents, mit dessen Erstellung gerade auchder Präsident des Konvents, Roman Herzog, gute Arbeitgeleistet hat, zu sehen, sondern zu sagen: Dies soll nunGegenstand eines verbindlichen Papiers zur Änderungder Europäischen Verträge werden. Wir wollen, dass dieEuropäische Grundrechte-Charta in diesen Verträgen anvorderster, an prominentester Stelle verankert wird.
Dann ist sie verbindlich, dann haben wir das, was wir allehier wollen und was wir beschwören,
was aber nicht eintritt, wenn wir nicht wirklich diesenProzess einfordern.Deshalb denke ich, es ist zu wenig, zu sagen, die Bun-desregierung muss die Arbeit des Konvents unterstützen.Ich gehe davon aus, dass das ohnehin passiert. Etwas an-deres kann ich mir nicht vorstellen. Es steht zudem in derKoalitionsvereinbarung.Entscheidend ist vielmehr, dass die Bundesregierungder Vision von Joschka Fischer zur Realität verhilft undgerade bei dem ersten Fall, in dem das möglich ist, dasauch tatsächlich tut. Der erste Fall tritt dann ein, wenn derEntwurf der Charta vorliegt und auf der Ratstagung vonNizza über das weitere Prozedere beraten wird.Joschka Fischer und damit auch die Bundesregierung –davon gehe ich aufgrund dessen, was ich jetzt lesenkonnte, aus – haben das Tabu gebrochen, das bisher imKonvent doch wohl galt: Die Grundrechte-Charta ist dasEine, aber auf keinen Fall wollen wir eine Verfassung inEuropa; dieser ganze Prozess ist etwas anderes. Das istjetzt aufgekündigt worden. Jetzt sagt die Bundesregierungehrlich, worum es geht. Jetzt kommt die entscheidende,schwierige und langfristige Überzeugungsarbeit gegen-über den Mitgliedstaaten. Da wissen wir, dass eben ein eu-ropäischer Verfassungsprozess und das, was dann amEnde stehen kann, zum Teil sehr misstrauisch beobachtetwird.Ich bin der Meinung, da muss man auch Klartext reden.Da muss man klar sagen, was man unter einem Leitbild„Föderation“ Europa versteht. Ein Gegensatz zu einemvon Minister Fischer so genannten „synthetischen Kon-strukt eines Bundesstaates“ besteht ja in dieser Formnicht, sondern es geht darum, wie ein bundesstaatlich –föderales System innerlich ausgestaltet wird, wie dieKompetenzverteilungen aussehen, wie man die einzelnenOrgane stärkt, wie das Europäische Parlament nicht nurvon den nationalen Parlamenten abgeleitete Rechte be-kommt. Alles das ist jetzt hier in Deutschland durch dieBundesregierung in die Debatte eingebracht worden. Beiallem, was wir hier richtig an Inhalten der Grundrechte-Charta nennen, muss dies deutlich betont werden.
Frau Kol-
legin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Professor
Meyer?
Ja, gern.
Herr Kol-lege Professor Meyer, bitte.
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger9849
Frau Kollegin Leut-
heusser-Schnarrenberger, Sie wissen, dass wir gemein-
sam für die Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta ein-
treten, wie ich das ausgeführt habe. Meine Frage zielt auf
Ihre Ausführungen zur Verfassung.
Einmal abgesehen davon, dass in der gegenwärtigen
Situation die Forderung nach einer Verfassung erhebliche
Widerstände auch gegen die Grundrechte-Charta auslö-
sen könnte, was möglicherweise eine eher taktische Über-
legung ist, möchte ich Sie fragen: Macht nicht die Grund-
rechte-Charta auch dann Sinn und ist sie nicht auch dann
erforderlich, wenn es jedenfalls vorerst nicht zu einer
vollständigen europäischen Verfassung käme?
Meinen Sie nicht – das ist meine zweite Frage –, dass
die Forderung einer Verfassung mit vollständigem Kom-
petenzkatalog, wie sie zum Beispiel mit anderer Zielrich-
tung als bei Ihnen, was ich unterstelle, von Herrn Stoiber
gefordert wird, zurzeit nicht hilfreich ist, weil erstens der
Konvent sich mit der Frage eines Kompetenzkataloges,
wie Kollege Altmaier richtig ausgeführt hat, nicht befasst
und weil wir zweitens, nachdem der Amsterdamer Vertrag
gerade ein Jahr in Kraft ist, erst Erfahrungen mit dem Sub-
sidiaritätsprinzip sammeln sollten und erst nach etlichen
Jahren der Konkretisierung dieses Prinzips auch eine
überzeugende Verfassung mit Kompetenzkatalog schrei-
ben können?
Herr Meyer, ich bin wie Sie der Auffassung, dass dieGrundrechte-Charta ein unverzichtbarer Bestandteil einerkünftigen europäischen Verfassung ist und dass mandann, wenn man sich jetzt für die Verbindlichkeit einsetzt,damit ganz klar auch für diese Finalität der Entwicklung,nämlich einen europäischen Verfassungstext eintritt.Der Konvent hat nicht den Auftrag, sich mit einer eu-ropäischen Verfassung in toto zu beschäftigen. DerAußenminister hat aber die Finalität jetzt zu seinemThema gemacht,
weil er damit wohl die besondere Verpflichtung der Bun-desregierung und ihre Verantwortung für die anstehendenEntscheidungen deutlich machen wollte. Das ist jetzt dieMesslatte, die angelegt wird. Das werden wir bei der Be-wertung der Ergebnisse der Räte auch tun.
Dies ist also nicht wegzudenken. Wir können nicht mehrsagen, dass es diesen Verfassungsprozess nicht mehr gibt.Der Konvent wird mit Sicherheit – so sehe ich die bishe-rigen Arbeiten – ein recht gutes Papier zur Grundrechte-Charta erstellen. Wenn es so wird, wie die noch nicht be-schlossenen Unterlagen aussehen, geht es in die richtigeRichtung. Entscheidend ist dann die Frage – darin stim-men wir auch überein, Herr Meyer – der Implementie-rung, nämlich der Umsetzung, und damit die Verbindlich-keit. Wenn wir Erwartungen wecken und zu Recht sagen,die Bürgerinnen und Bürger sollten sich mit diesem Eu-ropa, das ihnen mehr als Bürokratie und fern ihrer Heimatbegegnet, identifizieren können, dann müssen wir dieCharta verbindlich machen. Nichts anderes ist möglich;wir würden sonst eine gegenteilige Wirkung hervorrufen.Deswegen finde ich es gut, dass das Tabu eines Zusam-menhangs zwischen Grundrechte-Charta und einem Ver-fassungsgebungsprozess aufgelockert worden ist.Lassen Sie mich noch einige Worte zu den Inhalten sa-gen. Es ist vieles erwähnt worden. Dass die EuropäischeMenschenrechtskonvention – also die klassischen Frei-heitsrechte – Ausgangspunkt ist, muss ich nicht erwäh-nen. Ich möchte aber noch zwei Punkte nennen.Erstens. Wir Liberale möchten, dass das Recht aufAsyl als Grundrecht in der Europäischen Grundrechte-Charta steht.
Man sollte zunächst einmal Forderungen und Vorstellun-gen formulieren und nicht mit kleiner Münze an die Fra-gen herangehen, die strittig sind. Das wissen wir auslangjährigen Erfahrungen.Zweitens. Einem Diskriminierungsverbot kommteine große Bedeutung zu. Es darf nicht – das habe ich denWorten von Herrn Meyer entnommen – kleingeredet wer-den. Natürlich bin ich für Gleichberechtigung und für dieStandards, die wir entwickelt haben. Das Diskriminie-rungsverbot, wie ich es mir vorstelle, geht sehr viel wei-ter. Der diskriminierungsfreie und eben nicht willkürlichverbaute Zugang gerade zu sozialen Leistungen und Si-cherungssystemen ist das, was nach dem Vorbild von Pro-fessor Simitis, der die Arbeitsgruppe Grundrechte geleitethat, erarbeitet worden ist. Er hat dies vorgeschlagen, weilwir sonst in einen Bereich kommen, in dem Ziele formu-liert werden, die sich vielleicht wie subjektive Rechte le-sen lassen, aber tatsächlich nicht einklagbar und damitnicht durchsetzbar sind. Das, liebe Kolleginnen und Kol-legen, wollen wir auf keinen Fall. Wir wollen keine schönlesbaren Texte, aus denen sich auf den ersten Blick viel-leicht Rechte ableiten, die aber nichts sind als mehr oderweniger Aufgabenkataloge für bestimmte Organe. Mitdem Diskriminierungsverbot mag dann etwas Einklagba-res formuliert sein, was sich aus den Texten aber nicht un-mittelbar ergibt.
Soziale Grundrechte sind eben nur Grundrechte,wenn sie einklagbar sind. Auch hier müssen wir ehrlichsein, sonst sind es keine sozialen Grundrechte, sondernsoziale Vorstellungen, Leitbilder, Rechte. Deshalb bin ichfür eine klare Trennung, auch für eine Formulierung viel-leicht in einer Präambel einer Grundrechte-Charta. Ich binaber nicht für eine Verankerung in einer Grundrechte-Charta, die Verbindlichkeitsrang hat, dem Bürger abernicht das gibt, was er glaubt daraus ableiten zu können.Mein letztes Wort – ich habe meine Redezeit schonüberschritten –: Tun wir nicht so, als könnten wir nochviele Monate über die Charta reden. Bis Ende Juni soll
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weitestgehend ein Text im Konvent erarbeitet sein. Wirhaben in der ersten Stunde dieser Debatte den Eindruckerweckt, als würden wir einen monatelang dauernden Pro-zess einleiten. Er hat schon begonnen und ist, was die For-mulierung angeht, schon fast am Ende. Es ist ein Problem,ob darüber letztendlich im Konvent eine Einigung erzieltwerden kann. Daher ist es umso wichtiger, möglichst klarund auf den Kern, auf die Menschenwürde bezogen, einegemeinsame Resolution zu erarbeiten, die die Chance hat,in die Arbeit des Konventes einzufließen.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Uwe Hiksch von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Es ist ein wichtiger Schritt – vielleichtsogar der wichtigste Schritt –, den die Europäische Uniongerade geht und der mit der Erarbeitung einer Europä-ischen Grundrechte-Charta begonnen wurde. Es ist viel-leicht deshalb der wichtigste Schritt, weil wir alle wissen,dass es in der Europäischen Union auf der einen Seite De-mokratiedefizite gibt und auf der anderen Seite eineLücke im Grundrechteschutz feststellbar ist. Die Europä-ische Grundrechte-Charta gibt uns die Chance, dieseLücke zu schließen. Deshalb freut es die PDS-Fraktionauch, dass fast alle Parteien, die im Hause vertreten sind,dieser Grundrechte-Charta positiv gegenüberstehen.
Ich sage „fast alle Parteien“, weil ich in der „Welt“ vom16. Mai dieses Jahres lesen musste, dass die bayerischeCSU Front gegen die europäische Verfassung macht. HerrMüller – ich möchte Sie direkt ansprechen –, es gibt unssehr zu denken, dass jetzt der rechte Teil der Union, näm-lich die bayerische CSU, zu einem historischen Projekt,das die europäischen Völker zusammenführt, wieder Neinsagt, so wie schon in den 70er-Jahren, als die damaligeOpposition aus CDU/CSU – vereint mit Hoxhas Alba-nien – gegen den KSZE-Prozess gekämpft hat.
Ich möchte speziell auf zwei Aussagen eingehen, dieSie, Herr Müller, gegenüber der „Welt“ gemacht haben.Sie haben zum einen die Frage gestellt: „Wo ist denn …der Bedarf, Grundrechte neu zu formulieren?“ In IhrenReden haben Sie sonst richtigerweise darauf hingewiesen,dass die Verlagerung von immer mehr nationalstaatli-chen Kompetenzen auf die Europäischen Union, bei-spielsweise im Bereich der Polizei, der Justiz sowie derWirtschafts- und Sozialpolitik, nicht demokratisch legiti-miert ist. Ausgerechnet jetzt, wo wir gemeinsam – außerder CSU – eine demokratische Legitimierung der Verla-gerung von Kompetenzen des Nationalstaats auf die eu-ropäische Ebene durchsetzen wollen, sprechen Sie sichgegen die Legitimation solcher Rechte aus.Ein weiteres Beispiel. Sie sagen deutlich, dass es nichtIhre Absicht sei – das steht übrigens im Gegensatz zu demAntrag, den Ihre Fraktion vorgelegt hat –, die Charta indie Europäischen Verträge einzubeziehen. Ich stelle fest:Der rechte Teil des Hauses – das zeigt sich seit langem inden Diskussionen über Europa – entfernt sich leider im-mer mehr von dem, worüber einmal Konsens im Hausebestand, nämlich dass wir die europäische Idee und deneuropäischen Gedanken weiterentwickeln wollen.Einige Anmerkungen zu den entscheidenden Gründen,warum die PDS die Grundrechte-Charta unterstützt undwie sie die Grundrechte-Charta entwickeln möchte. Wirsollten gemeinsam dafür eintreten, dass in der Europä-ischen Grundrechte-Charta einklagbare Normen nichtnur für die Bürgerinnen und Bürger der EuropäischenUnion, sondern für alle in der Europäischen Union leben-den Menschen festgeschrieben werden sollten,
weil wir der Überzeugung sind, dass Grundrechte sowohlim sozialen als auch im individuellen Bereich für alle inder EU lebenden Menschen gelten müssten und alle in derEU lebenden Menschen auch das Recht haben müssten,diese Grundrechte einzuklagen.Nach unsere Meinung ist deshalb der rechtsverbind-liche Charakter einer Europäischen Grundrechte-Chartaeine Grundvoraussetzung dafür, dass das Legitimati-onsdefizit in der Europäischen Union, das von immermehr Menschen festgestellt wird, überwunden werdenkann.
Weil wir eine rechtsverbindliche Charta wollen, setzenwir uns dafür ein, dass mittelfristig entweder eine eigeneKammer für Grundrechtefragen am Europäischen Ge-richtshof oder sogar ein Unionsgericht für Grundrechte-fragen eingerichtet wird, vor dem jeder in der Europä-ischen Union lebende Mensch oder auch jeder Mensch,der außerhalb der Europäischen Union lebt und der seineGrundrechte nicht von der Europäischen Union vertretenfühlt, direkt klagen kann und die europäischen Rechte ein-fordern kann.
Wir treten des Weiteren dafür ein, dass ausdrücklichauch für Nichtregierungsorganisationen ein Beteiligungs-und Klagerecht geschaffen werden sollte. Wir treten dafürein, dass auch auf europäischer Ebene ein Verbandsklage-recht, dessen Einführung in der Bundesrepublik wir im-mer gefordert haben, geschaffen wird.
Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, wollen wir in dennächsten Jahren auch dafür kämpfen, dass die Grund-rechte-Charta in die Verträge der Europäischen Union in-tegriert wird. Wir glauben, dass es gerade darum gehenmuss, dass es in einem mittelfristigen Prozess – darinstimme ich Ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger,ausdrücklich zu – gelingen muss, die Grundrechte-Chartain einen Verfassungsrang zu heben und die europäischenMindestrechte, die natürlich von Nationalstaaten nochüberboten werden können, festzulegen.
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger9851
Die PDS tritt ausdrücklich dafür ein, dass sich die Un-teilbarkeit der Grund- und Menschenrechte auch im We-sen und im Wortlaut dieser Europäischen Grundrechte-Charta und mittelfristig auch in einer europäischen Ver-fassung wiederfindet. Wir sind der Überzeugung, dassFreiheits-, Bürger- und Gleichheitsrechte auf der einenSeite von wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rech-ten auf der anderen Seite nie mehr getrennt werden dür-fen und immer gemeinsam gesehen werden müssen, undzwar rechtsverbindlich.
Wir treten für die Gleichheit der individuellen bürger-lichen Rechte auf der einen Seite, aber auch für dieGleichheit der kollektiven Rechte auf der anderen Seiteein. Wir wollen, dass in die Europäische Grundrechte-Charta ein Recht zur Vereinigung in Gewerkschaften undausdrücklich auch das Streikrecht festgeschrieben wer-den. Das muss durchgesetzt werden.Wir sehen die Chance, dass im Rahmen der Diskussionüber die Europäische Grundrechte-Charta die Debatteüber Menschenrechte und über Grundrechte einen neuen,einen innovativen Charakter bekommen kann. Dieserneue und innovative Charakter könnte gerade darinbestehen, dass man, anders als Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ausgeführt haben, endlich auch darüberdiskutiert – das ist im Rahmen der Menschenrechtsdis-kussion ein altes Thema –, einklagbare soziale Men-schenrechte und einklagbare soziale Grundrechte fest-zuschreiben.Für uns von der PDS heißt das, dass wir ausdrücklichdafür eintreten, dass das Recht auf existenzsichernde Ar-beit festgeschrieben werden muss,
dass das Recht auf bezahlbaren Wohnraum, das Recht aufeine existenzsichernde Grundversorgung – das fordernbeispielsweise alle Wohlfahrtsverbände der Bundesrepu-blik, auch der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband –und das Recht auf „Daseinsfürsorge“, so stand es in derStellungnahme der Wohlfahrtsverbände, als einklagbareRechte in der europäischen Verfassung bzw. in dieser Eu-ropäischen Grundrechte-Charta festgeschrieben werdensollten.Innovation sollte unserer Meinung nach bedeuten, dassauf der einen Seite soziale Grundrechte festgeschriebenwerden, dass aber auf der anderen Seite auch gesehenwird, dass die neuen Grundrechtsbedrohungen deutlich inder Verfassung von Europa, in der Grundrechte-Charta,ausgewiesen werden. Das heißt für uns, dass wir den Her-ausforderungen der Informations- und Biotechnologien,beispielsweise durch ein Recht auf informationelleSelbstbestimmung, und den Herausforderungen, die sichbeispielsweise durch unsere Ablehnung der Bioethik-Konvention ergeben, gerecht werden. Es war die PDS, diebeim Europäischen Patentamt Einspruch dagegen einge-legt hat, dass menschliche Gene in Zukunft geklont wer-den können. Wir treten dafür ein, dass diese Forderungenin einer europäischen Verfassung, in dieser EuropäischenGrundrechte-Charta, wiedergefunden werden können.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Wir sehen die Aufgabe, dass diese Europäische Grun-
drechte-Charta breit getragen wird. Für uns bedeutet das,
dass die Menschen Europas auch über eine europäische
Verfassung, über die europäischen Menschen- und
Grundrechte abstimmen können müssen. Deshalb wird
die PDS dafür eintreten, dass in einem europäischen Re-
ferendum über eine europäische Verfassung, deren Ein-
haltung von allen Menschen eingefordert werden kann,
entschieden wird. Diese Verfassung sollte fortschrittlich
sein und soziale und bürgerliche Grundrechte zusammen-
führen.
Danke schön.
Als
nächster Rechner hat der Staatsminister Christoph Zöpel
das Wort.
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Es mag sein, dass der Auftrag des Europä-ischen Rats von Köln, einen Konvent zu berufen, der überdie Europäische Grundrechte-Charta beraten und Vor-schläge entwickeln soll, eine deutliche Richtungsände-rung des Wegs zur europäischen Einigung dargestellt hat,und zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt des Abbausdes Demokratiedefizits im europäischen Gemeinwesen.Seit dem Vertrag von Maastricht hat die EuropäischeUnion eine solche Fülle von Aufgaben übertragen be-kommen, dass die Verfahrensregeln und auch das materi-elle Recht der Europäischen Union den eigenen europä-ischen Anforderungen an Demokratie meines Erachtensnicht mehr voll gerecht werden.
Dem ist Abhilfe zu schaffen. Die Arbeit, die begonnenwurde, ist ein Schritt dahin.Dies gilt, so meine ich, unter drei Aspekten von De-mokratie: erstens unter dem Aspekt der durch Werte fun-dierten Verfahren. Erstmals führt weder eine Vorlage derEuropäischen Kommission noch ein Kompromissergeb-nis der Beratungen der europäischen Diplomatie dazu,dass ein Fortschritt auf dem Wege zur europäischen Eini-gung erarbeitet werden soll. Vielmehr soll ein Konventdies tun, dem zu drei Viertel gewählte Abgeordnete desEuropäischen Parlaments und der Parlamente der Mit-gliedstaaten angehören. Das ist als Erstes festzuhalten unddas ist von den Regierungen gewollt; denn Regierungensind und bleiben – das macht demokratische Regierungen
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Uwe Hiksch9852
aus – den Parlamenten verpflichtet. Oft merken Sie es jaauch im Alltag.
Es ist eine Entscheidung der Regierungen, diesen Schrittzu gehen.Zweitens ist es ein Versuch des Abbaus von Defizitenan Demokratie in materieller Hinsicht. Hier muss nachden für mich anregenden und bedeutsamen Beiträgen derSprecher der Fraktionen nicht mehr wiederholt werden,worum es materiell geht. Es ist selbstredend, dass Europaeine verfassungsrechtliche Verpflichtung auf seine Wertebraucht, die nach Auffassung der Bundesregierung, bezo-gen auf ein demokratisches Gemeinwesen, am besten inder Philosophie von Immanuel Kant niedergelegt sind.Das Spektrum dessen, was hier dargelegt wurde, zeigt denTiefgang und die Breite des Denkens, das in dem und fürden Konvent geleistet wird. In dem Konvent haben diesvor allem die Beiträge von Ihnen, Herr Professor Meyer,und von Ihnen, Herr Altmaier, in hervorragender Weiseaufgezeigt.
Der Aspekt, ob es auch soziale und wirtschaftlicheRechte gibt, ist durch Auftrag des Europäischen Rats inKöln in den Konvent eingeführt worden. Zu diesem Auf-trag gehört es, hierüber zu beraten. Alle diejenigen, denenes darum geht, tatsächlich einen europäischen Grund-rechtekatalog zu haben, seien darum gebeten. Die Dis-kussion des deutschen Verfassungs- und Staatsrechts überdie Unterschiede von Grundrechten, die – zum Beispiel zupolitischen Staatszielen – justiziabel sind, ist ausgeprägtgenug, um diese Erfahrungen auch in einen europäischenGrundrechtskatalog aufzunehmen, ohne überflüssige undin Deutschland ausgestandene Diskussionen darüber wie-derzubeleben, dass man bestimmte soziale und wirt-schaftliche Rechte tatsächlich nicht vor Gerichten einkla-gen kann. Zumindest lassen sie sich als konstitutive poli-tische Ziele eines europäischen Gemeinwesens derZukunft festhalten.Drittens besteht die Notwendigkeit, dieses Demokra-tiedefizit in Richtung auf klarere demokratische Kontrol-len sowie auf den klaren Anspruch des Bürgers abzu-bauen, gegen Fehlentscheidungen im Rahmen des politi-schen Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungs-prozesses der Europäischen Union vorgehen zu können.An dieser Stelle mache ich eine Bemerkung, die ich ab-gewogen habe: Ich glaube, der Zustand der EuropäischenUnion und die Fülle der von ihr übernommenen Aufgabensind so, dass es nicht antieuropäisch ist, die Frage zu stel-len, ob eine bestimmte Regelung auf europäischer Ebenefehl am Platze ist.
In den Jahren nach Schuman und Monnet war noch un-streitig richtig, zu überlegen, welche Politikfelder zusätz-lich in das Gemeinschaftsrecht integriert werden könnten.Dies ist angesichts der Fülle der Zuständigkeiten der Eu-ropäischen Union, wie im Vertrag von Maastricht festge-legt, nicht mehr notwendig. Es ist sinnvoll, wenn sichBürger, Kommunen, Regionen, Länder mit Staatsqualität,wie es sie in Deutschland gibt, und Mitgliedstaaten vorGericht, gestützt auf Verfassungs- und Grundrechtsbe-stimmungen, vergewissern können, ob sie oder die Euro-päische Union Recht haben. Bei allem Respekt vor demEuropäischen Gerichtshof möchte ich darauf hin-weisen, dass es sein könnte, dass er in seiner Rechtspre-chung, also wenn er Güterabwägungen vornimmt, viel-leicht noch zu sehr der Anfangsphilosophie der Europä-ischen Union verhaftet ist. Insoweit halte ich dieAufstellung eines solchen Kataloges für notwendig.Nachdem ich das so formuliert habe, bin ich in der Tatdabei, aufzuzeigen, dass die Diskussion um eine europä-ische Verfassung bereits begonnen hat. Auch hier solltenwir keine Begriffsklaubereien begehen. Schon jetzt ent-hält das europäische Vertragsrecht unstreitig Sätze, dienach dem deutschen verfassungspolitischen Verständnisin das Verfassungsrecht eingeordnet und als Verfassungs-rechte definiert werden können. Das jetzt deutlicher zumachen ist notwendig.In den nächsten Jahren sind Schritte notwendig – dasmöchte ich an dieser Stelle sagen –, um die Kompetenzender Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten klarund bestimmt abzugrenzen.
Es muss auch über den Rahmen bestimmter Prinzipien derEuropäischen Union nachgedacht werden. Auch Wettbe-werb ist kein isoliertes Ziel, sondern – das haben wir inDeutschland gelernt – bedarf eines Rahmens. Der rheini-sche Kapitalismus – ich gebrauche wieder einmal diesesWort – hat es uns gelehrt.
Mir ist auch wichtig, an dieser Stelle sehr deutlich festzu-halten, dass alle, die in den Zeitungen etwas anderes le-sen, etwas Falsches lesen. Es ist gemeinsames Ziel derBundesregierung und der Länder, in Zukunft zu einerKompetenzabgrenzung und zu einer klaren Definition ei-nes europäischen Wettbewerbsrechts, das dem europä-ischen Verständnis von Sozialstaat angemessen ist, zukommen. Alles andere ist falsch.Kompetenzabgrenzungen und Definitionen, wann so-ziale und ökonomische Aspekte im Wettbewerb berück-sichtigt werden müssen, sind kein Problem allein der Län-der, sondern ein Problem der deutschen Föderation. Ichsage für das Ministerium, in dem ich arbeiten darf: Nachder Verfassungsinterpretation des Außenministeriums istes seine selbstverständliche Aufgabe, den föderalen StaatDeutschland mit all seinen föderalen Elementen zu ver-treten.Damit bin ich bei den nächsten Schritten, die jetzt kom-men können. Es ist gefragt worden, was zu tun ist. DieBundesregierung geht davon aus, dass der Vorsitzende,Bundespräsident a. D. Herzog, dessen Arbeit hinsichtlichder Effizienz fast alle Erwartungen übertrifft, auf dem
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Staatsminister Dr. Christoph Zöpel9853
Gipfel im Juni in Feira dem Europäischen Rat berichtenwird und dass damit der Entscheidungsprozess eingeleitetwerden kann, wie der Europäische Rat in Nizza die Er-gebnisse des Konvents berücksichtigt. Es spricht ausdeutscher Sicht nichts dagegen – in jedem Gespräch mitanderen Regierungen betonen wir das auch –, die Ergeb-nisse des Konvents in die Verträge aufzunehmen.
Es ist aber zu prüfen, in welcher Weise.Wir haben ein einziges, sehr pragmatisches Kriteriumfür das, was in die Verträge aufgenommen werden kann:Durch die Ratifizierung der notwendigen Vertragsände-rungen darf die Osterweiterung nicht gefährdet werden.Es spricht deshalb einiges dafür, darüber nachzudenken,ob die Ratifizierung der Ergebnisse des Konvents, fallsman sich in Nizza dazu durchringt, sie zu übernehmen,nicht aufgeteilt werden kann: und zwar in eine sofortigeRatifizierung des Teils, der die Osterweiterung nicht be-hindert, und eine eventuelle spätere Ratifizierung – dieseIdee ist jetzt noch nicht abgesprochen, hat mich aber inDiskussionen überzeugt – einer europäischen Verfassungdurch ein Referendum, das mit den nächsten Wahlen zumEuropäischen Parlament verbunden werden könnte.
Der nächste Schritt hin zu einer europäischen Demo-kratie ist die Beteiligung des Parlaments in einer Weise,wie sie vorher noch nie erfolgt ist. Aber auch der Schritt,in bestimmten und dafür geeigneten Fragen das Instru-ment des Referendums auf europäischer Ebene einzu-führen, ist damit angesprochen und sozusagen auf der eu-ropäischen Agenda angekommen.Lassen Sie uns auch einen Dank an die Bundesregie-rung richten – ich danke insbesondere dem Justizministe-rium und dem Auswärtigen Amt –, die dafür vor Ende1998 ebenso wie danach mit die Initiative übernommenhat. Es ist sinnvoll festzustellen, dass oft gute Menschenunterwegs sind und mit welcher List die Vernunft siegt.Wir halten fest, dass Sie daran beteiligt waren, dass wir soweit gekommen sind. Mein Dank gilt schließlich allen,die daran jetzt aktiv mitarbeiten.Ich habe durch meinen Beitrag versucht, die Fragen andie Bundesregierung, die in den Anträgen enthalten sind,zu beantworten. Es bleibt übrig, noch die Relation zu derMenschenrechtskonvention des Europarats herzustellenund auch dieser beizutreten.Die europäische Civitas – vor allem Konservative ha-ben wenig gegen den Gebrauch einer anderen als der Mut-tersprache, wenn es sich bei der anderen Sprache um La-tein handelt – hat einen Stand erreicht, der es ihrenMitgliedern ermöglicht, einer Konvention, nämlich derEuropäischen Menschenrechtskonvention, beizutreten,die sich die Beachtung der Menschenrechte durch Staatenzur Aufgabe gemacht hat. Es ist kein Gegensatz, einen ei-genen Grundrechtskatalog zu haben, aber auch der Kon-vention des Europarates beizutreten. Die Vorschläge, diedazu der Konvent macht – soweit wir informiert sind, de-battiert er darüber –, dürften für die Haltung der Bundes-regierung, aber auch für die Haltung der Regierungen an-derer Mitgliedstaaten wesentlich sein.Diese Debatte spiegelt einen erfreulichen Prozess wi-der. Lassen Sie mich parteiübergreifend sagen: Eine Poli-tik, wie wir sie seit der „politeia“ kennen – das ist eineweitere Sprache, gegen die zu benutzen Konservativenichts haben –, macht Sinn, zeigt Erfolge und ist nicht vonder Beliebigkeit, wie manchmal von voreiligen Feuilleto-nisten beschrieben wird.Allen, die sich beteiligt haben, herzlichen Dank.
Bevor ich nun dem
Kollegen Dr. Gerd Müller von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort erteilte, möchte ich Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, darauf hinweisen, dass derjenige, der bis jetzt
präsidiert hat, hinsichtlich der Redezeit sehr großzügig
gewesen ist. Ich wäre auch gerne großzügig. Aber da wir
noch einen längeren Abend vor uns haben, wäre ich sehr
dankbar, wenn Sie sich alle an die Redezeit halten wür-
den.
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, auchich baue natürlich auf Ihre Großzügigkeit.
Ich glaube, es war richtig, dass hinsichtlich der Redezeitgroßzügig verfahren wurde; denn vor der Debatte habenmich einige Kolleginnen und Kollegen, aber auch Besu-cher gefragt, über was wir heute im Zusammenhang mitdem Thema Grundrechtscharta diskutieren.Wir sind mitten in einer europäischen Verfassungsde-batte. Dieses Projekt – der frühere Bundeskanzler hättegesagt: je nachdem, was hinten herauskommt – wird dasZusammenleben von 500 Millionen Bürgern in Europa inwenigen Jahren in allen Bereichen zentral bestimmen. Ichfreue mich, dass die Wichtigkeit dieses Themas zwi-schenzeitlich deutlich wird und dass wir es nicht zu spä-ter Stunde, sondern jetzt debattieren.Derzeit laufen in Europa drei Großprojekte parallel.Erstens der Prozess der Erweiterung von 15 auf 27 Mit-gliedstaaten. Dieser Prozess geht nach Vorstellung derBundesregierung noch weiter und umfasst auch die Tür-kei und darüber hinaus andere Staaten. Zweitens die Frageder inneren Reform. Wie stellen wir überhaupt die Hand-lungsfähigkeit der Europäischen Union sicher, die schonjetzt nicht gegeben ist? Drittens die Erarbeitung der Eu-ropäischen Grundrechtscharta. Alle drei Prozesse stehenim Zusammenhang.Die Grundrechtscharta könnte dazu ein wichtiger Bau-stein sein. Ich schließe mich der Meinung der Vorredneran, insbesondere der Meinung von Peter Altmaier, dersagte: Ein gemeinsames Wertefundament für die
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Staatsminister Dr. Christoph Zöpel9854
Europäische Union zu schaffen, das wäre eigentlich dasWesentliche.
Das ist der Kern für die CDU/CSU. Für uns war die Eu-ropäische Union stets eine Wertegemeinschaft, die aufder Grundlage unseres gemeinschaftlichen christlichen,abendländischen Kulturerbes gründet. Demokratie,Rechtsstaatlichkeit, Freiheits-, Abwehr- und Kontroll-rechte und die Würde des Menschen sind Grundwerte eu-ropäischer Kultur- und Staatstradition, die es zu bewahrenund fortzuschreiben gilt.Ich unterstreiche nachdrücklich: Die EuropäischeUnion braucht eine innere Solidarität, einen Zusammen-halt auf Basis dieser Grundwerte und nicht auf der Basisvon Exportzahlen, von Aktienkursen und von Mega- undMultifusionen. Dadurch wird noch lange keine europä-ische Solidarität in der Europäischen Union begründet.Die Grundrechtscharta könnte hier Wesentliches leis-ten. Deshalb bin ich ein Stück weit enttäuscht, dass es beider Debatte um die Grundrechtscharta wiederum in ersterLinie um die Festschreibung materieller Leistungsrechtegehen soll. Ich habe heute Nachmittag nur die Aufzählungvon Rechten vernommen, die wir den europäischen Bür-gern von Portugal bis Anatolien einräumen wollen.
Insbesondere Kollege Hiksch von den Kommunisten hatsich hervorgetan.
Es geht natürlich auch um Pflichten.Ich möchte beim derzeitigen Stand der Diskussion eineReihe von grundlegenden Fragen für meine Fraktion ein-führen.Erstens. Gelingt bei der Formulierung, wie Sie, Kol-legin Leutheusser-Schnarrenberger, dies auch angedeu-tet haben, eine Beschränkung auf die klassischenGrundrechte, wie sie sich aus der EuropäischenMenschenrechtskonvention, dem Grundgesetz und dengemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, oderwird am Ende dieses Prozesses – wir sind ja mitten imProzess – durch die Aufnahme einklagbarer sozialer Leis-tungen von Portugal bis Anatolien, wie Sie, Herr Profes-sor Meyer, immer betonen, eine wesentliche Ausdehnungder EU-Kompetenzen festgeschrieben? Das ist einer derKernpunkte, über die wir miteinander diskutieren müs-sen.Der jetzt vorliegende Entwurf und die Diskussions-beiträge im Konvent – Herr Professor Meyer, Sie sindVertreter Deutschlands im Konvent; wir schauen unsdiese Beiträge natürlich an – sowie Ihre Rede und die Re-den der SPD-Fraktion lassen den Schluss zu, dass dieBundesregierung nicht eine Beschränkung auf klassischeGrundrechte anstrebt, sondern vielmehr genau diesen Ka-talog einklagbarer sozialer Leistungsrechte begründenwill. Ich will nicht ins Detail gehen, das lässt die Redezeitnicht zu. Sie haben selber einige Beispiele genannt –Recht auf Bildung, Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnung,Verbandsklagerecht, Kunstfreiheit –, für was Europa allesstehen soll, welche Rechte dem Bürger gewährleistet wer-den sollen.Es kommt auch auf eine zweite Kernfrage in diesemProzess an: Wird der Text einer europäischen Grund-rechtscharta im Zuge einer Proklamation der Regierungs-chefs verkündet – auch dies hätte bereits rechtlicheAuswirkungen – oder als Vorschlag zur Regierungskon-ferenz in die Verträge aufgenommen? Dies ist noch offen,ist aber für die Rechtsverbindlichkeit natürlich maß-geblich.Nach derzeitigem Stand streben die Bundesregierungund die Mehrheit im Konvent an, über die Grundrechts-charta auch die Mitgliedstaaten beim Vollzug des Unions-rechts rechtlich zu binden. Dies ist ein ganz zentralerPunkt, ob es um die Umsetzung der FFH-Richtlinie, derMilchgarantiemengenregelung oder der Wasserrichtliniegeht. Praktisch jeder Bürger könnte mit dieser Begrün-dung seinen Grundrechteschutz europaweit über eineKlage beim Europäischen Gerichtshof einklagen.Dies hätte flächendeckend natürlich enorme Auswir-kungen, nämlich eine unglaubliche Aufwertung des Euro-päischen Gerichtshofes. Dem Bundesverfassungsgerichtkönnte in nicht allzu naher Zukunft dann ein Schattenda-sein – es wäre dann einem Landesverfassungsgericht ver-gleichbar – drohen und das Grundgesetz könnte die Be-deutung von Länderverfassungen erhalten.
Wir müssen darüber reden, ob wir in der Finalität dieswollen.Herr Professor Herzog hat gesagt: Die Verfassungs-wirklichkeit steht am Ende. Das Grundgesetz umfasste1949 20 Seiten. Heute, im Jahr 2000, nach über 50 Jahren,hat das Bundesverfassungsgericht mit 20 000 SeitenRechtsprechung Verfassungswirklichkeit in Deutschlandgesetzt.Mir stellt sich nun – drittens – die Frage, ob der Euro-päische Gerichtshof durch die angestrebte Grundrechts-charta und die rechtliche Bindewirkung für die Mitglied-staaten quasi in die Rolle eines europäischen Verfas-sungsgerichtshofes hineinwächst. Ich sage: DieGrundrechtscharta kann und darf in diesem Sinne keineeuropäische Verfassung sein. Europa ist kein Staat.Ich möchte – viertens – die Frage stellen: Wäre einesolch weitgehende Entwicklung überhaupt mit den Fest-legungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts imZuge des Maastricht-Urteils zur Rolle der Nation und zumErhalt des Kernes der Staatlichkeit sowie zur Bedeutungder nationalen Parlamente für die Legitimation europä-ischer Rechtsetzung und mit unserem Grundgesetz nochvereinbar? Natürlich muss die Frage geklärt werden, auchvon den Verfassungsrichtern, wie weit wir hier in der Fi-nalität der Abgabe von Rechten, von Möglichkeiten derNation, der Eigenstaatlichkeit überhaupt gehen können.
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Dr. Gerd Müller9855
Weil ich der Meinung bin, dass dieser Prozess nicht ausdem Ruder laufen darf, möchte ich zusammenfassend dreiBedingungen für die abschließende Ratifizierung nen-nen: Erstens. Wir erwarten eine Beschränkung auf dieklassischen Grundrechte. Zweitens. Wir wollen keineFestschreibung einklagbarer sozialer Leistungsrechte,wie sie sich jetzt abzeichnet. Drittens. Wir wollen keineKompetenzausweitung, sondern erwarten Kompetenzbe-schränkungen.
An diesen drei grundlegenden Feststellungen werden wirdas Ergebnis des Grundrechtskonventes messen, wenndie Verträge über den Ratifizierungsprozess in das natio-nale Parlament zurückkommen.Mein Kernsatz an dieser Stelle ist: Von diesen drei Be-dingungen machen wir unsere Zustimmung im Ratifizie-rungsprozess abhängig. Wir werden den vorliegendenEntwurf an diesen drei Punkten messen und unsere end-gültige Entscheidung daran festmachen.
Ich stimme Herrn Zöpel zu, wenn er sagt, dass sich dieEU heute zunehmend als Exekutivdemokratie darstellt,ohne genügende Transparenz, mit mangelnder Ge-waltenteilung und ungenügender parlamentarischer Mit-wirkung, insbesondere der nationalen Parlamente. Ichhalte dies mit Blick auf die derzeitige Praxis der Rechts-setzung der Europäischen Union bereits heute für verfas-sungswidrig. Ich freue mich, dass auch der deutscheAußenminister dies erkannt hat. Denn wir brauchen dieAkzeptanz der Bevölkerung für die Europäische Union.Wir können diese Dinge nicht nur von oben herab intel-lektuell zimmern und auf den Weg bringen. Die Europä-ische Union befindet sich in einer Akzeptanzkrise. Wirmüssen als nationales Parlament unseren Beitrag dazuleisten, das zu ändern. Diese Idee, diesen Gedanken, dieseZusammenarbeit mit Ihnen greifen wir an dieser Stellesehr gerne auf.Herzlichen Dank.
Ich erteile nun dem
Kollegen Christian Sterzing, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Waswir gerade hier erlebt haben, ist die souveräne Ignoranzdessen, was sich in den letzten 50 Jahren entwickelt hat,
sowohl integrationspolitisch als auch hier in der Bundes-republik, als auch hinsichtlich dessen, was den Men-schenrechtsbegriff in den letzten Jahrzehnten geprägt hat.Wenn Ihre Worte hier ernst genommen werden sollen,erwarte ich in Bälde eine ganze Reihe von Verfassungs-änderungsanträgen aus Ihrer Fraktion, die all das aus demGrundgesetz beseitigen, was über die klassischen Grund-rechte hinausgeht. Denn zumindest bislang sind wir unsdarüber einig gewesen, dass dieses Grundgesetz von 1949mehr enthält – zu Recht – als das, was man im Allgemei-nen unter dem klassischen Grundrechtsbegriff versteht.
Wir sollten sehen, was sich in den letzten Jahrzehntenan tief greifenden Veränderungen getan hat, welchen In-tegrationsprozess es gegeben hat, von der EuropäischenWirtschaftsgemeinschaft über die Europäischen Gemein-schaften bis zur Europäischen Union. Wir stehen seitMaastricht nicht mehr vor der Frage, ob wir eine politi-sche Union wollen, sondern wir stehen vor den viel-fältigen Fragen: Wie soll sie gestaltet werden? Wie weitsoll die Binnenmarktintegration fortentwickelt werden?Welche Regelungen braucht dieser Raum der Freiheit, desRechts und der Sicherheit? Welche Gestalt soll dieseGemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik haben? Also:Welchen Grad an Vertiefung wollen wir und welche Kom-petenzen soll die Europäische Union haben?Auf all diese Fragen gibt die Grundrechte-Charta keineAntwort. Sie kann es nicht, sie soll es nicht. Dennoch istsie notwendig. Denn die immer tiefer gehende Integrationerfordert eine Flankierung dieser Regelungsdichte durcheinen effektiven Grundrechtsschutz.Wenn wir über den weiteren Bau am Haus Europa spre-chen, dann ist es höchste Zeit, dass wir für dieses Haus eintragfähiges, ein menschen- und bürgerrechtliches Funda-ment bauen, das der Gesamtarchitektur dieses europä-ischen Hauses auf Dauer Stabilität verleiht.Gerade die wachsenden Kompetenzen der EU sind es,die einen Grundrechtsschutz notwendig machen. Es istdeutlich darauf hinzuweisen: Grundrechte bedeuten eineBeschränkung von Kompetenzen und von Kompetenz-ausübung.
Insofern habe ich wenig Verständnis für die mit der Euro-päischen Grundrechte-Charta verbundene Angst, dass eszu einer unregelbaren Ausweitung der Kompetenzen derEU kommen kann. Nein, Kompetenzen und Grundrechts-schutz gehören zusammen. Das sind die zwei Seiten einerMedaille. Insofern ist nicht eine Kompetenzerweiterungdas Problem, sondern eine Kompetenzbegrenzung unddie Kontrolle der Kompetenzen. Hier soll und muss dieEuropäische Grundrechte-Charta ihren Beitrag leisten.Meine Damen und Herren, die Erarbeitung einerGrundrechtscharta geht auf eine Initiative der Bundesre-gierung zurück. Es ist Grund zur Freude, dass diese Ini-tiative aufgegriffen worden ist. Der Konvent arbeitet seitDezember letzten Jahres mit hoher Intensität und untergroßem Zeitdruck. Wir sollten unseren Vertretern in die-sem Konvent, insbesondere dem Kollegen Meyer unddem Kollegen Altmaier, für ihre engagierte Mitarbeit
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Dr. Gerd Müller9856
Dank sagen, die ihnen von vielen Mitgliedern des Kon-ventes nachgesagt wird.
Lassen Sie mich drei Bemerkungen zum Konvent ma-chen, die mir wichtig erscheinen: Der Konvent – dies istder erste Aspekt – sollte ein Vorbild für die Fortentwick-lung des Integrationsprozesses sein. Mit seiner mehr-heitlichen Zusammensetzung aus Parlamentariern des Eu-ropäischen Parlamentes und der nationalen Parlamenteverkörpert er sozusagen eine Alternative zu dem her-kömmlichen intransparenten Prozess der Regierungskon-ferenzen, in denen die europäische Integration bislangweiterentwickelt worden ist. Die Unzufriedenheit mit derMethode der Regierungskonferenzen ist ja weit verbrei-tet. In Rahmen dieses Konventes ist sehr viel mehr Trans-parenz gewährleistet. Die parlamentarische Zusammen-setzung und auch die ergebnisorientierte Arbeitsweisesollten im Rahmen dessen, was in Europa passiert, Schulemachen.Die zweite Bemerkung: Wir sollten uns die Arbeits-weise des Konventes sehr genau anschauen. Hier wirdnicht nur in vorbildlicher Weise transparent gearbeitet.Vielmehr sind auch zivilgesellschaftliche Kräfte, alsoMenschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen, indie Arbeit des Konventes eingebunden. Das trägt ganzwesentlich zur Entwicklung einer transnationalen De-mokratie in Europa bei. Auch dies sollte Schule machen.Die dritte Bemerkung ist allerdings eine kritische: Un-zureichend ist die Beteiligung der Beitrittsländer an die-sem Arbeitsprozess. Die Regierungen der Beitrittsländerwerden einmal angehört. Aber die Zivilgesellschaften derBeitrittsländer haben keinerlei Chance, Stellung zu neh-men. Ich glaube, dass wir hier die Chance vertan haben,durch eine gemeinsame Auseinandersetzung über dasWertefundament der EU der in diesen Ländern wachsen-den Skepsis gegenüber dem Beitrittsprozess entgegenzu-wirken und an einer gemeinsamen europäischen Identitätzu arbeiten. Das hätte ein Signal sein können. DieseChance ist leider verspielt worden.Insofern können wir mit der zuletzt genannten Ein-schränkung feststellen, dass dieser Konvent mit seinerparlamentarischen und gesellschaftlichen Partizipationeinen wesentlichen Fortschritt darstellt. Wir alle solltendafür sorgen, dass dies keine Eintagsfliege bleibt.
Was sollen die Ziele einer Grundrechte-Charta sein?Man kann dies in drei Stichworten zusammenfassen: Stär-kung der Legitimation, Förderung der europäischen Iden-tität und Vertiefung der Integration.Zunächst zur Stärkung der Legitimation. Wir redenimmer wieder über das Demokratie-, aber eben auchüber das Legitimationsdefizit innerhalb der EU. Ichglaube, es ist allen deutlich geworden, wie wichtig es ist,den Fortschritten in der Entwicklung der Integration mitder Stärkung der Legitimation ein Fundament zu geben.Der Grundrechtsschutz, der bislang in der EU existiert, istlückenhaft, er gilt nicht bei allen drei Säulen gleicher-maßen. Die Unionsbürger und -bürgerinnen haben einRecht darauf, zu wissen, welche Rechte ihnen gegenüberder Union und ihren Organen zustehen. Sie haben einRecht darauf, dass die EU ihnen zusichert, dass sie dieseRechte auch durchsetzen können. Insofern muss klar sein:Zur Stärkung der Legitimation der EU brauchen wir dieRechtsverbindlichkeit dieser Grundrechts-Charta.Zum zweiten Ziel, zur Förderung der europäischenIdentität. Es ist nicht zu übersehen, dass Europamüdig-keit und Europaverdrossenheit mehr und mehr um sichgreifen. Ich glaube, es ist wichtig, die Erarbeitung derGrundrechte-Charta dafür zu nutzen, sich der gemeinsa-men Traditionen in Europa zu versichern und über die täg-lichen Auseinandersetzungen hinaus – über Rind-fleischetikettierungen, Altölverordnungen und Fettbe-standteile in der Schokolade – Gemeinsamkeitenherauszuarbeiten. Wenn es dem Konvent gelingt, einebreite gesellschaftliche Debatte zu initiieren, dann könntedie Erarbeitung der Grundrechte-Charta gerade auch imHinblick auf die bevorstehenden EU-Beitritte ein wichti-ger Beitrag zur Stärkung dieser europäischen Identitätwerden.Drittens zur Vertiefung der Integration. Das ist einganz wichtiger Punkt. Bei der Grundrechte-Charta giltes – das wurde schon angesprochen –, zwei Aspekte zuberücksichtigen: Sie ist Teil des verfassungsgebendenProzesses in Europa. Wir müssen aber auch sehen, dasswir über sehr unterschiedliche menschen- und grund-rechtliche Traditionen in Europa verfügen. Ziel muss essein, diese zusammenzufügen. Darüber eine produktiveAuseinandersetzung im Konvent und in einer transnatio-nalen, europäischen Öffentlichkeit zu führen ist eine ganzwesentliche Aufgabe. Es muss uns gelingen, diese pro-duktive Zusammenarbeit so zu gestalten, dass mehr alsein Minimalkonsens dabei herauskommt.
Wenn es uns gelingt, dass die Grundrechte-Charta dieVielfalt Europas widerspiegelt, wenn die spezifischen na-tionalen Grundrechtstraditionen berücksichtigt werden,dann ist uns, so glaube ich, ein gutes Stück Arbeit auf demWeg der Integration gelungen und dann kann die Grund-rechte-Charta die Hoffnungen erfüllen, die wir mit ihrverbinden. Ich glaube, wir alle sind bereit – das ist heutedeutlich geworden –, dazu einen Beitrag zu leisten.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte amSchluss dieser sehr wichtigen und, wie in der grundlegen-den Zielsetzung der Grundrechte-Charta zum Ausdruck
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Christian Sterzing9857
kommt, breit getragenen Debatte – von Details abgese-hen – auf den entscheidenden Ansatz für eine Grund-rechte-Charta der Europäischen Union zurückkommen.In der Tat besteht hier gegenwärtig ein Defizit – aller-dings weist die Europäische Union, ehrlich gesagt, zurzeitandere, größere Defizite auf –: Da, wo die EuropäischeUnion einen staatlichen bzw. bundesstaatlichen Charakterhat, das heißt, wo sie staatliche Gewalt ausübt, brauchendie Bürger der Union transparente und handhabbareRechte gegenüber der EU.
Das ist der Beginn einer Verfassungsdebatte – Herr Zöpel,da stimme ich Ihnen zu –, die mit einer Verfassung odereinem Verfassungsvertrag enden wird. Das können wirjetzt noch nicht genau festlegen. Die CDU/CSU-Fraktionunterstützt genau dieses Anliegen der EuropäischenUnion. Es geht in erster Linie um die Begrenzung staat-licher Gewalt gegenüber den Bürgern der Union.Wir begrüßen auch die Zusammensetzung und Ar-beitsweise des Grundrechtskonventes. Möglicherweisewird – nur dann, wenn die Arbeit von Erfolg gekrönt seinwird – die Zusammensetzung des Grundrechtskonventsexemplarisch für künftige grundlegende Reformen in derEuropäischen Union sein. Dabei stellt sich nach wie vordas Problem, dass im Wesentlichen Regierungen oder Be-amte verhandeln und die Mitgliedstaaten irgendwann ra-tifizieren können. Dann sind sie eher geneigt, zuzustim-men, statt einen wichtigen Ratifizierungsprozess anzuhal-ten, weil der eine oder andere Teil nicht ordnungsgemäßumgesetzt worden ist.Ich möchte einige Bemerkungen zu Gefahrenmachen,die ich in der Debatte um die Grundrechte-Charta zurzeitsehe. Ich sehe, dass in dem Maße, wie die effektive Arbeitan der Regierungskonferenz zur institutionellen Reformnicht vorankommt, europäische Regierungen – diesenVorwurf richte ich nicht unbedingt an die Bundesregie-rung – mehr Interesse an der Diskussion um die Grund-rechte-Charta zeigen, und zwar mit einer Zielrichtung, dieich für gefährlich halte: Es ist nämlich durchaus möglich –das ist ein großes Problem, von dem wir zurzeit heraus-gefordert werden –, dass bei einem nicht für ausreichendgehaltenen Ergebnis der Regierungskonferenz Ende die-ses Jahres in Nizza die Regierungschefs – wir kennen alledas Ritual von Gipfeln; wir wissen, wie sie stattfinden;das ist unabhängig von der parteipolitischen Zusammen-setzung der Teilnehmer – geneigt sein werden, einengroßzügigen und weiten Grundrechtskatalog feierlich zudeklarieren, der den Eindruck vermitteln soll, dass siewieder sehr erfolgreich gewesen sind, der aber letztlichkeine direkten Konsequenzen für die Bürger der Europä-ischen Union haben wird.Ein Problem wiegt besonders schwer: Wenn dieeuropäische Öffentlichkeit wieder einmal den Eindruckgewinnt, dass die Regierungen formulieren, welche Rech-te die Bürger ihnen gegenüber haben, dann ist das auf je-den Fall nicht vertrauensbildend. Die Grundrechte-Chartakann nur erfolgreich sein, wenn die Bürger der Europä-ischen Union sie als Teil ihrer Identität annehmen. Dasheißt, dass die Beteiligung der Parlamentarier an der Ar-beit an dieser Grundrechte-Charta von ganz entscheiden-der Bedeutung ist.
Gerade aufgrund der Gefahren, die ich eben beschrie-ben habe, halte ich es für sehr wichtig, das der DeutscheBundestag heute über die Arbeit an der Grundrechte-Charta debattiert. Ich denke, dass sich in den nächstenWochen entscheiden wird, ob dieses Projekt gelingt oderob es zu einer Showveranstaltung der Regierungen derMitgliedstaaten verkommt, möglicherweise – das habeich schon erwähnt – auch noch als Ersatz für die fehlendesubstanzielle Reform im institutionellen Bereich auf demGipfel in Nizza Ende dieses Jahres.Wir, die CDU/CSU-Fraktion, wollen bei der Grund-rechtsdebatte – darüber sind wir uns im gesamten Haus imWesentlichen einig – keinen Wettlauf um die schönste undmodernste Charta, die vielleicht wirkungslos sein wird,sondern wir wollen einen Wettlauf um die effizientesteund wirkungsvollste Charta der Grundrechte der Europä-ischen Union, die dann Bestandteil der Europäischen Ver-träge werden muss.Ich möchte noch kurz auf drei Schwerpunkte zurück-kommen, die für uns besonders wichtig sind. Die Grund-rechte-Charta soll kurz und knapp formuliert werden; siesoll so formuliert werden, dass sie als verbindlicher Textin die EU-Verträge aufgenommen werden kann – undzwar so, wie der Grundrechtskonvent sie verabschiedethat –, sodass die darin enthaltenen Rechte für den Bürgereinklagbar und durchsetzbar sind.
Wir werden bei dem weiteren Verfahren betreffend dieGrundrechte-Charta sehr deutlich darauf achten, dassnicht –wer an derAnhörungmit denNGOs teilgenommenhat, hat das ja deutlich hören können – mit der Grund-rechte-Charta sozusagen durch die Hintertür neue Rechtefür die Europäische Union auch gegenüber den Mitglied-staaten eingeführt werden. Wenn es eine Kompetenzaus-weitung geben soll – sie wird es geben; daran werden wiruns konstruktiv beteiligen –, dann muss die Debatte darü-ber mit offenem Visier geführt werden und es darf keineKompetenzausweitung durch die Hintertür, durch eineGrundrechte-Charta, geben.Ferner ist mir besonders wichtig, darauf hinzuweisen,dass diese Grundrechte-Charta, wenn sie, als Bestandteilder Europäischen Verträge, Erfolg haben soll, ein wichti-ger, aber nur der erste Baustein für die weitere Arbeit aneinem europäischen Verfassungsvertrag ist. Der nächsteBaustein, der entscheidend ist, ist der, dass die Euro-päische Union spätestens nach Konstituierung dieserGrundrechtscharta mit der Arbeit an der Konstituierungeines Kompetenzkataloges der Europäischen Union be-ginnen muss, der einerseits die Rechte der EuropäischenUnion gegenüber den Mitgliedstaaten darstellt, aber auchandersherum die Rechte der Mitgliedstaaten gegenüberder Europäischen Union klar definiert.
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Michael Stübgen9858
Deshalb schlage ich folgende Verfahrensweise vor, diezum Teil – das weiß ich aus den Ausschussberatungen –auch von der Bundesregierung unterstützt wird: Auf demGipfel der Staats- und Regierungschefs in Nizza Ende die-ses Jahres sollte neben der Beschlussfassung zu einer sub-stanziellen institutionellen Reform und neben der Be-schlussfassung zu der Grundrechtscharta ein Rahmenbe-schluss über einen zu schaffenden Kompetenzkataloggefasst werden und damit gleichzeitig der Auftrag an dieEuropäische Union verbunden werden, diesen Kompe-tenzkatalog detailliert zu erarbeiten. Bei der Arbeit an die-sem Kompetenzkatalog sollten sich die europäischen Or-gane an dem Vorschlag der so genannten drei Weisen fürdie institutionelle Reform orientieren, nämlich der Zwei-teilung der Verträge in einen grundsätzlichen – sagen wireinmal: verfassungsähnlichen – Teil und einen flexiblerenTeil der üblichen vertraglichen Bestimmungen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Obleutedes Europaausschusses haben sich bei ihrer letzten Sit-zung die Aufgabe gestellt, zu versuchen, die drei Anträge,die heute zur Abstimmung vorliegen, nach der Überwei-sung an den federführenden Ausschuss zu einem Antragzusammenzuführen. Ich halte dieses Projekt für erfolg-versprechend; denn wenn man die drei Anträge liest,merkt man sehr genau, dass es in den grundsätzlichen Li-nien große Übereinstimmung gibt. Es besteht sicherlichdie Möglichkeit, dass man in den Details zu tragbarenKompromissen kommt.Das heißt, wir von der CDU/CSU unterstützen nach-haltig das Ziel, einen gemeinsamen Antrag zu formulie-ren. Erstens hat das den Vorteil, dass unsere Mitglieder imGrundrechtskonvent ein klares Votum des DeutschenBundestages mit breiter, verfassungsgebender Mehrheitabgeben können. Zweitens ist das wichtig als Signal fürunsere europäischen Partner: damit sie erkennen, dass einbedeutendes Mitgliedsland der Europäischen Union, dieBundesrepublik Deutschland, in seinem Parlament ingroßer Einmütigkeit einen Grundsatzbeschluss zur Aus-formulierung dieser Grundrechtscharta gefasst hat.
Ich hoffe, dass wir in der Sache vorankommen unddass die Grundrechtscharta ein Erfolg der EuropäischenUnion wird und die Integration und Identität der Europä-ischen Union vorantreibt.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als Letztem in dieser
Debatte erteile ich das Wort dem Parlamentarischen
Staatssekretär Professor Eckhart Pick.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Ich denke, dass wir heute insgesamt eine ausge-sprochen inhaltsreiche und gute Debatte geführt haben.Die Bundesregierung bedankt sich natürlich für das Lob,das in der Debatte gelegentlich durchschien.Ich möchte dieses Lob aber zurückgeben und zunächsteinmal dem Kollegen Jürgen Meyer sehr herzlich danken,dass er diese Debatte heute so eindrucksvoll bestritten hat.Aus meiner persönlichen Erfahrung darf ich sagen: AlsJürgen Meyer vor fünf Jahren mit der Idee kam, eineCharta der Grundrechte – er nannte sie schon damals so –auf europäischer Ebene ins Leben zu rufen, ist ihm vielStaunen, Ungläubigkeit und Skepsis entgegengebrachtworden. Ich denke, es ist ein großer Erfolg, dass diese Ini-tiative heute eine derartige Dimension und Intensität –nicht nur in diesem Hause, sondern insgesamt in Europa –gefunden hat.
Der Dank gilt nicht minder Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Herrn Altmaier,
die ich jetzt vor anderen hervorheben will, weil ich weiß,dass sie diese Fragen mit besonderem Engagement ver-folgen.Wir wollen – das ist die Absicht der Bundesregie-rung – mit dieser Charta die Union den Bürgern und dieBürger der Union näher bringen. Der Konvent arbeitet in-tensiv an Texten, die nach unserer Auffassung eine guteGrundlage für den angestrebten Entwurf darstellen. Auchdas ist aus deutscher Sicht ein Erfolg.Nun gibt es – das ist schon angesprochen worden – indem Konvent unterschiedliche Strömungen. Deswegenhaben wir keineswegs die Garantie für den Erfolg des Pro-jekts in Händen. Da dieser Konvent ein neuartiges Gre-mium ist – aus europäischen Parlamentariern, aus natio-nalen Abgeordneten und aus Regierungsbeauftragten zu-sammengesetzt –, muss man die Ergebnisse abwarten,denn es liegen bisher noch keine Erfahrungen mit der Ar-beitsweise entsprechender Gremien vor. Insofern steht dieBewährungsprobe noch aus.Die Verhandlungen im Konvent sind vielstimmig unddie Unterschiede verlaufen weder eindeutig entlang derParteigrenzen noch entlang der verschiedenen Gruppenvon Teilnehmern. Am stärksten lassen sich die Unter-schiede immer noch nach den Staatsgrenzen feststellen.Es gibt eine gewisse Skepsis bei den Kollegen aus Groß-britannien; umgekehrt ist deutlich, dass gerade Frank-reich, insbesondere bei den sozialen Grundrechten, eineehrgeizige Charta wünscht.Zwischen den Vorstellungen der Beteiligten, und ins-besondere der nationalen Regierungen, muss schließlichein Kompromiss gefunden werden, damit wir in diesemPunkt in Nizza einen Erfolg in Händen halten.Ich denke, oberstes Ziel ist, dass eine echte Charta zu-stande kommt. Das bedeutet, dass der Integrationsschrittüber das Richterrecht und die Generalklausel hinaus zu ei-ner Umschreibung der einzelnen Grundrechte gelingt.Schon das Grundgesetz fordert, dass die Europäische
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Michael Stübgen9859
Union einen dem Grundgesetz im Wesentlichen ver-gleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Alles an-dere würde hinter dem erreichten Stand der Recht-sprechung des Europäischen Gerichtshofs zurückbleiben.Allerdings gibt es auch bei den klassischen Freiheits-und Abwehrrechten, über die in der Sache europaweitKonsens besteht, im Konvent noch Divergenzen in derFormulierung, und man muss sicher noch über dieVerbesserung der Möglichkeit der Anrufung des Europä-ischen Gerichtshofs in Grundrechtsangelegenheiten nach-denken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz wichtig ist eineFormulierung, die erlaubt, die Grundrechtscharta unver-ändert in die Verträge aufzunehmen, und – auch das istheute schon allgemein betont worden – entscheidend fürdie Vollendung der Rechtsstaatlichkeit ist die Festschrei-bung als einklagbare, rechtlich verbindliche Gewährleis-tungen.Schließlich kommt es darauf an, möglichst eine opti-male Fassung der einzelnen Grundrechte und der gesam-ten Charta auszuhandeln. Ich denke, dass bei den klassi-schen Freiheits- und Abwehrrechten die Ausformulierungder einzelnen Gewährleistungen vor dem Hintergrund dessachlichen Grundkonsenses eine spezifisch juristischeAufgabe ist.Meine Damen und Herren, ich stehe nicht an und ver-suche auch nicht, eine Zusammenfassung der heutigenDiskussion vorzunehmen. Ich denke, sie kann uns insge-samt optimistisch stimmen. Die Bundesregierung undauch das Bundesministerium der Justiz sagen zu, die Ver-treter Deutschlands in diesem Konvent wie bisher soweitwie möglich und soweit es gewünscht wird zu unterstüt-zen; denn wir alle müssen ein großes Interesse daran ha-ben, dass dieses Projekt, das von Deutschland ausgegan-gen ist, schließlich zu einem europäischen Projekt wirdund zu einem europäischen Ergebnis führt.Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3368 und 14/3322 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/3387 soll an dieselben Aus-
schüsse wie die Vorlage auf der Drucksache 14/3368
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das
ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlos-
sen.
Das Präsidium schließt sich dem Wunsch des Kolle-
gen Stübgen an, möglichst ein gemeinsames Votum des
Deutschen Bundestages in dieser wichtigen Frage zu er-
reichen. In diesem Sinne wünsche ich denjenigen, die da-
ran arbeiten, viel Erfolg.
Ich rufe jetzt den vorhin zurückgestellten Tagesord-
nungspunkt 21 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Futtermittelge-
setzes
– Drucksache 14/2636 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
– Drucksache 14/3348 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Bleser
Zunächst erteile ich dem Berichterstatter, dem Abge-
ordneten Peter Bleser, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache
14/2636 –, dem Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Än-
derung des Futtermittelgesetzes, möchte ich folgende Er-
läuterung abgeben: Der Beschluss des Ausschusses, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
14/2636 unverändert anzunehmen, bedeutet, dass die Än-
derungen, die sich aus der Gegenäußerung der Bundesre-
gierung zu der Stellungnahme des Bundesrates unter An-
lage 3 der Bundestagsdrucksache 14/2636 ergeben, ein-
zubeziehen sind.
Danke schön.
Jetzt wissen wir alle,worum es geht. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirt-schaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 14/3348 dieAnnahme des Gesetzentwurfes. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf mit den soeben vom Berichterstattervorgetragenen Änderungen zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Beim Futtermittel sind wir uns alle ei-nig und der Gesetzentwurf ist angenommen.
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Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick9860
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten JohannesSinghammer, Max Straubinger, Klaus Hofbauer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUKurzfristige Beschäftigungen im Rahmen des630-DM-Gesetzes entlasten– Drucksache 14/2990 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch, dann ist dies so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenJohannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsi-dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Jahr nachder Neuregelung der 630-DM-Beschäftigungsverhält-nisse lautet die Schadensbilanz wie folgt: 600 000 ge-ringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind effektiv ver-loren gegangen.
Das entspricht der Einwohnerzahl von Dortmund.
Der bürokratische Aufwand übertrifft die schlimmstenVorhersagen. Viele mittelständische Unternehmen gera-ten in Existenznot und die Schattenwirtschaft blüht.
Deshalb muss dieses 630-DM-Gesetz weg! Es musskorrigiert werden. Es ist von Grund auf falsch.
Die Auswirkungen:
Arbeitnehmer und Arbeitgeber flüchten vor zu viel Büro-kratie und neuem Abkassieren. Eine wachsende Mehrheitvon Menschen in Deutschland, ob Arbeitnehmer oder Ar-beitgeber, lehnt den Gesetzespfusch der 630-DM-Rege-lung ab.
Der Einzige, der noch dafür ist und die rosarote Brilleaufsetzt, ist der Arbeitsminister. Der spricht von planvol-len Erfolgen, die allerdings außer ihm niemand erkennenkann.
– Warten Sie nur, ich erkläre es Ihnen.Erstens. Die vor kurzem veröffentlichte Kienbaum-Studie schätzt, dass nur rund 100 000 neue sozialversi-cherungspflichtige Stellen entstanden sind. Der gleichzei-tige Kahlschlag – betroffen sind 700 000 geringfügig Be-schäftigte – kann damit jedoch nicht annähernd ausgegli-chen werden.Zweitens. Zu Recht machen sich die geringfügigBeschäftigten über angeblich verbesserte Möglichkeitender Alterssicherung keinerlei Illusionen. Das ergibt sichauch daraus, dass nur 2,5 Prozent der geringfügig Be-schäftigten von der Möglichkeit einer freiwilligen Auf-stockung der Rentenversicherungsbeiträge Gebrauch ma-chen.Dies ist auch verständlich, denn nachdem diese rot-grüne Bundesregierung die 18 Millionen Rentnerinnenund Rentner in den zurückliegenden Monaten ständiggetäuscht hat, hat keiner mehr Vertrauen.
Es ist vor allem auch deshalb verständlich, –
– Das hören Sie nicht gerne, Herr Dreßen.
– Herr Dreßen, soll ich Ihnen noch einmal vorlesen, wasder Bundeskanzler auf dem politischen Aschermittwochin Vilshofen im Jahr 1999 gesagt hat?
– Sie können es schon noch einmal von mir hören. Ichhatte mir gedacht, diesmal erspare ich es Ihnen; aber wennSie mich provozieren, sage ich es Ihnen noch einmal.Er hat damals gesagt: Wir bleiben bei der nettolohnan-gepassten Rente. Hundert Tage später, in einem Interviewmit der „Bild“-Zeitung, sagte er: Das war ein Irrtum, wirmüssen leider von der nettolohnangepassten Rente Ab-stand nehmen. In der Sendung von Frau Christiansen imOktober 1999 sagte er: Ich muss mich bei den Rentnernentschuldigen.Sie können noch mehr davon hören. Wenn das keine lu-penreine Täuschung ist, wenn das nicht ein gebrochenesWahlversprechen ist, dann weiß ich nicht, was das sonstsein soll.
Herr Dreßen, rufen Sie also nicht so oft dazwischen.Es ist aber auch verständlich, dass sich so wenige da-ran beteiligen, weil nämlich selbst bei einer Ausschöp-fung der möglichen Rentenanwartschaft gemäß der 630-DM-Regelung der tatsächliche Anstieg der Rente, wennsonst nichts anderes hinzukommt, 6,79 DM im Monatausmacht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dafür kannsich ein Rentner gerade einmal zwei Käsebrötchen imMonat leisten. Bei diesem Betrag kann von einer Alters-sicherung nicht im Ansatz die Rede sein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs9861
Die ständig wachsenden Schwierigkeiten in der Ren-tenversicherung bekommen Sie damit natürlich auchnicht in den Griff, sondern dafür müssen Sie endlich eingeschlossenes Rentenkonzept vorlegen. Statt desHerumdokterns brauchen Sie eine Konzeption.
Drittens. Die neuen zusätzlichen Beitragseinnahmenfür die Sozialversicherungen sind natürlich mit Steuer-ausfällen teuer erkauft. Die neu eingeführte Freistellungfür geringfügig Beschäftigte verringert das Steuerauf-kommen, auch wenn Sie das nicht hören wollen.Viertens. Die Neuregelung dieser 630-DM-Jobs ent-puppt sich letztlich als wahrer Treibsatz für die Schatten-wirtschaft. Das haben Sie erreicht.
Der Schwarzarbeitsexperte Friedrich Schneider hat vorkurzem auf einem Kongress, an dem auch Ihr Bundes-kanzler teilgenommen hat, vorgerechnet, dass sich alleindurch die Neuregelung das Umsatzvolumen von illegalerArbeit an Sozialkassen und Fiskus vorbei auf 12 Milliar-den DM erhöht hat.
Wenn ich nur davon ausgehe, dass davon etwa 2 Milli-arden DM in die Sozialkassen fließen könnten oderfließen würden, dann meine ich, mit diesen 2 Milliar-den DM könnte man viel Gutes tun, beispielsweise im Be-reich der Pflegeversicherung für die Demenzkranken; dakönnten wir es wieder ausgeben.
Fünftens. In vielen Branchen steigen der Leistungs-druck und die Arbeitsbelastung der fest angestellten Mit-arbeiter. Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandelserklärt, dass ihm kein einziger Fall bekannt sei, in dem einehemaliger 630-DM-Beschäftigter in ein reguläres Ar-beitsverhältnis übernommen wurde. Vielmehr sei es so,dass die Festangestellten jetzt die Arbeit der Aushilfen miterledigen müssten. Statt mehr Beschäftigungsverhältnissebedeutet dies für die Betroffenen mehr Hetze, mehr Druckund mehr Leistungsverdichtung.Die bürokratischen Regelungen entmutigen viele Ar-beitgeber und lassen sie ein neues geringfügiges Beschäf-tigungsverhältnis gar nicht mehr ausprobieren. Die Aus-gestaltung der Verwaltungsvorschriften für diese Neure-gelung ist in der Tat verdächtig für den Nobelpreis fürverdiente Bürokraten.Verheerend wirkt sich diese nicht zu Ende gedachteRegelung für eine Reihe mittelständischer Unternehmenund ihre Mitarbeiter aus. Ich darf nur ein markantes Bei-spiel herausgreifen. Man könnte viele andere Branchenähnlich exakt beschreiben. Ich nehme das Beispiel derAnzeigenblätter.Anzeigenblätter – das wissen Sie – wer-den vielfach einmal in der Woche ausgetragen. Ein festes,dauerndes Arbeitsverhältnis in der üblichen Weise ist des-halb nicht möglich. In diesem Bereich findet kein Miss-brauch statt, eine andere Art der Beschäftigung istschlichtweg ausgeschlossen. Viele Anzeigenzusteller ver-dienen sich ein Zubrot. Sie arbeiten nicht nur in einemJahr bis zu 50 Tage, sondern sie arbeiten mehrere Jahrelang bis zu 50 Tage im Jahr.Bei den Verdiensten von 50DM bis 630DM, die in die-sem Bereich gezahlt werden, ist es völlig ausgeschlossen,dass ein solcher Zeitungszusteller von seinem Nebenver-dienst auch noch die Sozialversicherungsbeiträge zahlt.Dies geschieht durch die Betriebe. Die Betriebe haben da-durch eine Belastung von jährlich 65Millionen DM. Demsteht ein gigantischer Verwaltungsapparat gegenüber. Je-dem Beschäftigten muss im Lohnzahlungszeitraum, dasheißt monatlich, eine Bestätigung über weitere Einkünfteund eine entsprechende Negativerklärung abverlangt wer-den. Diese Negativerklärung muss archiviert und aufge-hoben werden, eine Steuerkarte muss vorgelegt werdenund die entsprechenden Beträge müssen abgeführt wer-den. Der oft geringe Verdienst – nehmen wir einen mittle-ren Verdienst von 200 bis 300 DM – steht daher in keinemVerhältnis zum bürokratischen Aufwand.Ganz schlimm wird es dann, wenn zum Beispiel einSchüler, der etwa 50 DM im Monat bekommt, weil er et-was austrägt, vergisst, dem Verlag mitzuteilen, dass ereine Lehre begonnen hat oder eine andere Krankenkassegewählt hat. Wenn dies nach drei Monaten auffällt – diestritt in vielen Fällen auf –, muss der Verlag Folgendes er-ledigen – ich kann es Ihnen nicht ersparen –: Erstens. Ermuss die Abrechnung mit dem Zusteller rückwirkend kor-rigieren. Zweitens. Er muss rückwirkend eine Meldung andie alte und die neue Krankenkasse senden. Drittens. Ermuss Korrekturen der Beitragsnachweise der alten undder neuen Krankenkasse einholen. Viertens. Er muss dieBeitragszahlungen korrigieren. Und Fünftens. Er mussdie interne Verbuchung korrigieren.Meine sehr verehrtenDamenundHerren, beiSozialver-sicherungsausgaben in Höhe von maximal 12,50 DM –um das Beispiel fortzuführen – und bei einem Entgelt von50DM fällt oft ein höherer Betrag von Verwaltungskostenan, als der Auszahlungsbetrag selbst ausmacht. Ein größe-res Maß an Unproduktivität als in diesem Beispiel istschlichtweg nicht mehr vorstellbar.
Das ist der Grund, warum wir eine neue Regelung fürdiesen speziellen Bereich verlangen – abgesehen davon,dass wir ohnehin für eine grundsätzliche Neuregelungsind –, das heißt
eine Neuregelung der 50-Tage-Regelung. Wenn jemand50 Tage in einem Jahr arbeitet, dann kann er diese Tätig-keit nicht ohne weiteres im nächsten Jahr fortsetzen.Diese Regelung soll zumindest in diesem einen Punktgeändert werden. Das Korsett der 50-Tage-Regelung sollerweitert werden auf mehrere Jahre. Den Verlagen habenSie – einige von ihnen sitzen hier – in Gesprächen durch-aus signalisiert, dass dieses Problem nicht erfunden ist,sondern von Ihnen als real und drückend empfunden wird.Leider sind den Ankündigungen vonseiten der Regierungkeinerlei Taten gefolgt, sodass viele in dieser Branche,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Johannes Singhammer9862
aber auch in anderen Branchen dies als politischen Wort-bruch neuerer Art empfinden müssen.
Ein weiteres Beispiel ist der Gastronomiebereich. AusZeitgründen erspare ich Ihnen das.Meine Bitte an Sie ist: Nachdem Sie das Gesetz zurScheinselbstständigkeit nach neun Monaten korrigiert ha-ben – es zumindest versucht haben –, machen Sie einenzweiten schlimmen Fehler, den Sie im letzten Jahr mitdem 630-DM-Gesetz begonnen haben. Korrigieren Siedas Gesetz zumindest so, wie wir es Ihnen jetzt vorge-schlagen haben.
Ich erteile der Kolle-
gin Leyla Onur von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr ver-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeSinghammer, Sie sind sich auch wirklich für nichts zuschade. Ich kenne Sie ja aus dem Ausschuss. Aber das,was Sie heute abgeliefert haben,
spottet jeder Beschreibung.
Aber damit sind Sie nicht alleine; denn die gesamteCDU/CSU hat seit der letzten Aussprache zu den 630-Mark-Arbeitsverhältnissen nichts, aber auch gar nichtsdazugelernt. Deshalb versuchen Sie mit Ihrem heutigenAntrag zu den 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissen,dieses Thema wieder – man kann nur noch sagen – hoch-zuziehen.
Haben Sie, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, noch immer nicht begriffen, dass getretenerQuark zwar breit, aber ganz sicherlich nicht stark wird?Vielleicht versuchen Sie das endlich einmal zu verstehen.Nach Art der berühmten tibetanischen Gebetsmühle be-haupten Sie wieder und immer wieder, das Gesetz zurNeuregelung der 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissehabe negative Folgen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt.Diese Behauptung war, ist und bleibt falsch, auch wennSie uns etwas anderes weismachen wollen.Tatsache ist, dass unser Gesetz eine Erfolgsstory ist.
Die neuesten Zahlen des Bundesarbeitsministeriumssprechen für sich. Inzwischen sind 4 Millionen aus-schließlich geringfügig Beschäftigte registriert. Es gehennoch immer Nachmeldungen der Arbeitgeber ein, die sichauf den April 1999 beziehen, also auf den Zeitpunkt, andem das Gesetz in Kraft getreten ist.
Vielleicht erinnern Sie sich noch – falls Sie sich erin-nern wollen; das ist natürlich die Voraussetzung –, dass1998 von 5,5 Millionen geringfügig Beschäftigten dieRede war,
einschließlich der Zahl der geringfügig Nebenbeschäftig-ten. Die Tatsache, dass heute 4 Millionen ausschließlichgeringfügig Beschäftigte sozialversichert sind – es istklar, dass die Zahl der geringfügig Nebenbeschäftigtenstatistisch gar nicht mehr separat erfasst werden kann –,übertrifft unsere Erwartungen bei weitem.
Wiederum bestätigt sich, dass die Neuregelung der 630-Mark-Arbeitsverhältnisse notwendig und richtig war.
Mit Genugtuung stellen wir fest, dass die Einnahmender Renten- und Krankenversicherung stetig gestiegensind. Das ist ein willkommener Beitrag zur Senkung derLohnnebenkosten. Dazu einige Zahlen und Fakten: 1999betrugen die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversi-cherung aus den Beiträgen der ausschließlich geringfügigBeschäftigten insgesamt 1,85 Milliarden DM. Für dasJahr 2000 werden 2,85 Milliarden DM erwartet. Rund140 000 geringfügig Beschäftigte nutzten die Möglich-keit, die Pauschalbeiträge auf den vollen Beitragssatz auf-zustocken, um damit ihre Alterssicherung zu verbessern.Das ist ein Anfang. Ich bin ganz sicher, die Frauen undauch die Männer werden zunehmend diese Chance er-greifen.
Die positive Bilanz setzt sich auch bei der Kranken-versicherung fort. 1999 flossen 1,6 Milliarden DM in dieKassen der Krankenversicherungen. Für 2000 wird – vor-sichtig geschätzt – mit Einnahmen in Höhe von 2,4 Milli-arden DM gerechnet. Wohlgemerkt, dieser Geldsegen fürdie Sozialversicherung bedeutet keine zusätzliche Belas-tung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. EhrlicheArbeitgeber werden auch nicht belastet; denn die Pau-schalsteuer ist weggefallen. Zwar verzichten Bund undLänder mit der Neuregelung der 630-Mark-Beschäfti-gungsverhältnisse auf erhebliche Steuereinnahmen, aberganz bewusst zugunsten der Sozialkassen.Noch einmal für die Langsamdenker in diesem HohenHause:
Mit unserem Gesetz zur Neuregelung der 630-Mark-Jobshaben wir das eingehalten, was wir vor der Wahl verspro-chen haben.
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Johannes Singhammer9863
Auf dem Arbeitsmarkt herrschen wieder mehr Ordnungund Gerechtigkeit. Die Grundlagen der Sozialversiche-rung sind nachhaltig gestärkt worden.Das, was mich an Ihrem Antrag, meine Damen undHerren von der CDU/CSU, allerdings besonders wundert,ist das dünne Eis, auf das Sie sich begeben haben.Sie erwähnen die Ergebnisse der Studie, die von den Län-dern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsenzu den Folgen des 630-Mark-Gesetzes 1999 in Auftraggegeben wurde. Das von Nordrhein-Westfalen und Nie-dersachsen mitgeteilte Resultat der Studie wertet das 630-Mark-Gesetz als Erfolg.
Zusammengefasst die Ergebnisse: Die Aufsplitterungnormaler Beschäftigungsverhältnisse wurde gestoppt.Vormals geringfügige Arbeitsverhältnisse wurden sogarvermehrt in sozialversicherungspflichtige Arbeitsver-hältnisse umgewandelt: in Niedersachsen 13 000, in Sach-sen 4 000, in Nordrhein-Westfalen sogar 24 000. Das630-Mark-Gesetz bringt der Renten- und Krankenver-sicherung höhere Einnahmen – die Zahlen habe ich ge-nannt – und neue Kontrollmöglichkeiten. Missbrauch undSchwarzarbeit werden verringert.
Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs hat nicht zu demvon vielen befürchteten verstärkten Abwandern in dieSchwarzarbeit geführt;
vielmehr zeigen die Ergebnisse der Studie – Sie sollten sieendlich einmal zur Kenntnis nehmen –, dass die so ge-nannte Meldelücke kleiner geworden ist und sich fast nurnoch auf die Privathaushalte konzentriert.
Das Fazit dieser Untersuchung lautet für die nieder-sächsische und die nordrhein-westfälische Landesregie-rung – ich zitiere –: „Eine Korrektur des Gesetzes er-scheint vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnissenicht erforderlich.“
So viel zum Thema „Dichtung und Wahrheit im CDU/CSU-Antrag, erster Teil“.Zum Thema „Dichtung und Wahrheit, zweiter Teil“ isterst einmal festzustellen, dass unsere Neuregelung vom24. März 1999 an den Bestimmungen zur 50-Tage-Rege-lung gar nichts geändert hat.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Wir sind in der Zeit schon so weitfortgeschritten und wir haben das Thema so oft durchge-kaut, dass wir die Redezeit nicht unnötig verschwendensollten.
Hören Sie lieber zu, dann begreifen vielleicht auch Sie esendlich einmal!
Die 50-Tage-Regelung steht – ich wiederhole es auchfür Sie – im Sozialgesetzbuch und nicht im 630-Mark-Ge-setz. Durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichtsim Jahre 1995 wurden der kurzfristigen Beschäftigungsehr enge Grenzen gesetzt: Sobald der Ansatz von regel-mäßiger Beschäftigung vorlag, entstand Sozialversiche-rungspflicht. Das ist in der Tat so.Um jedoch dem besonderen Bedarf in der Gastronomieund bei der Zustellung von Wochenblättern entgegenzu-kommen, ist die alte Regelung im Sozialgesetzbuch neuinterpretiert worden, und zwar so, dass sich die Spitzen-verbände der Sozialversicherungsträger darauf geeinigthaben, die 50-Tage-Regelung im Einvernehmen mit demBundesarbeitsministerium flexibler zu handhaben. Somithaben wir bereits drei Monate, bevor Ihr Antrag überhauptauf den Markt gekommen ist, gehandelt und Fakten ge-schaffen.
Was hat sich bei der Interpretation dieser alten Rege-lung im Sozialgesetzbuch geändert? Bisher galt: Einekurzfristige Beschäftigung liegt vor, wenn die Beschäfti-gung innerhalb eines Jahres seit ihrem Beginn auf läng-stens zwei Monate oder 50 Tage begrenzt ist. Für diesekurzfristige Beschäftigung bestand Sozialversicherungs-freiheit unabhängig von der Einkommenshöhe. Wichtigwar, dass die Tätigkeit nur gelegentlich, also nicht regel-mäßig, und nicht berufsmäßig ausgeübt wurde.Seit Januar 2000 gilt, dass eine kurzfristige Beschäfti-gung auch dann vorliegt, wenn ein Arbeitsvertrag mit ei-ner Laufzeit von höchstens einem Jahr abgeschlossenwird. Bedingung ist, dass für diesen Einjahreszeitraumnicht mehr als 50 Arbeitstage vereinbart werden. Soll imAnschluss ein neuer Arbeitsvertrag geschaffen werden, somuss ein Abstand von zwei Monaten eingehalten werden.Der Kernpunkt ist also: Die Arbeitstage können über dasganze Jahr verteilt werden, auch regelmäßig.Wenn wir uns das anhand eines Beispiels in der Praxisansehen, erkennen wir die Auswirkungen: Eine Büroan-gestellte möchte sich am Wochenende etwas dazuverdie-nen. Sie bekommt eine Tätigkeit in einem Hotel angebo-ten, wo sie einmal wöchentlich am Samstag oder Sonntagarbeiten kann. Der Vertrag ist natürlich auf ein Jahr be-grenzt; sie arbeitet also maximal 50Arbeitstage. So bleibtdieser Nebenjob versicherungsfrei. Das ist im Sinne der
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Aushilfe und ganz sicherlich auch im Sinne des Hotelbe-sitzers. Einzige Bedingung: Will die Aushilfe länger alsein Jahr, also über den vertraglich festgesetzten Zeitraumhinaus arbeiten, muss sie allerdings eine zweimonatigePause einlegen.
Diese neue Interpretation der alten 50-Tage-Regelungist praxisnah und kommt sowohl Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern
als auch zum Beispiel den Verteileragenturen oder denUnternehmen im Hotel- und Gaststättengewerbe entge-gen.Was Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, darüber hinaus fordern, ist schlicht absurd. Siewollen, dass Personen zum Beispiel einmal wöchentlichkurzfristig länger als ein Jahr für denselben Arbeitgebertätig sein können, ohne dass Beiträge zur Sozialversiche-rung fällig werden. Man muss sich allein diese Formulie-rung einmal auf der Zunge zergehen lassen: „kurzfristiglänger als ein Jahr“. Ich frage Sie, ob Sie wirklich jedesGefühl für Zeit und Raum verloren haben.
Eigentlich müsste auch Ihnen klar sein: Alles, was überein Jahr hinausgeht, ist beim besten Willen keine kurzfris-tige Beschäftigung mehr, sondern eine auf Dauer ange-legte Beschäftigung bzw. Nebentätigkeit.
Meine Damen und Herren, ich halte noch einmalfest – für die Antragsteller von CDU/CSU sozusagen zumMitschreiben –:
Erstens. Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs hat sich ein-gespielt und ist ein voller Erfolg.
Zweitens. Auch die Länder Niedersachsen und Nord-rhein-Westfalen sehen auf Grund der Ergebnisse der be-reits erwähnten Studie keinen Änderungsbedarf.
Drittens. Die Regelungen zur kurzfristigen Beschäftigungwurden neu interpretiert und sind jetzt flexibel und pra-xisnah anwendbar.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und auchvon der F.D.P., ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie un-ser Erfolgsgesetz loben.
Aber lassen Sie doch endlich das gebetsmühlenartigeMäkeln an sinnvollen Neuerungen.
Mein guter Rat, ebenso persönlich wie herzlich gemeint,lautet: Ziehen Sie diesen peinlichen Antrag zurück undüberlegen Sie sich etwas Besseres!
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Offenkundig haben Sie,Frau Kollegin Onur, niemals Zeitungen ausgetragen.
Sonst hätten Sie nämlich nicht so geredet, wie Sie es ge-tan haben.
Ich habe das schon einmal gemacht.
Auch das ist eine Tätigkeit, die kurzfristig sein kann,wenn man sie über einen längeren Zeitraum als ein Jahrausübt.Dieses Gesetz zur Neuregelung der 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse ist ein absoluter Flop und die-ser Flop kann von Ihnen auch in noch so vielen Debattenhier nicht schöngeredet werden.
Von den 5,5 Millionen geringfügig Beschäftigten, von de-nen Sie zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens ausge-gangen sind, sind gerade einmal sage und schreibe rund100 000 zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigtengeworden.
Allerdings hat diese Neuregelung natürlich auch einen fürSie positiven Effekt gehabt: eine Veränderung der Ar-beitslosenstatistik. Im letzten April ist die Zahl der Ar-beitslosen aufgrund Ihrer Neuregelung um 0,4 Prozentgesunken, weil die 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissesozialversicherungspflichtig geworden sind.4 Milliarden DM Mehreinnahmen bei den sozialen Si-cherungssystemen aufgrund dieser Neuregelung veran-lassen Sie zum Jubeln, statt dass Sie strukturelle Verände-rungen bei den sozialen Sicherungssystemen vornehmen,die zukunfts- und tragfähig sind.
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Leyla Onur9865
Von den verbliebenen 3,5 Millionen Beschäftigungsver-hältnissen auf 630-Mark-Basis haben sage und schreibenur 2,5 Prozent die Option auf das Rentenmodell ge-nutzt, weil es auch gar keinen Sinn macht. Man mussnämlich 150 Jahre lang auf 630-Mark-Basis arbeiten, umeine Rente oberhalb des Sozialhilfeniveaus zu bekom-men.
Ich frage mich übrigens angesichts einer Ausgangszahlvon 5,5 Millionen geringfügig Beschäftigten und den ver-bliebenen 3,5 Millionen, was denn aus den anderen 2Mil-lionen geworden ist, die Ihrer Meinung nach offensicht-lich nicht in der Schattenwirtschaft arbeiten. Sie müssteneinmal mit den Verbänden reden. Sie hätten heute Morgenzum parlamentarischen Gespräch mit dem Hotel- undGaststättenverband gehen sollen. Sie hätten dann gehört,was aus den Menschen in diesen Beschäftigungsverhält-nissen geworden ist. Sie arbeiten jetzt in aller Regelschwarz.
Sie hätten in den letzten Tagen, wenn Sie statt murks-hafte Politik zu veranstalten in den Biergarten gegangenwären, ausreichend Gelegenheit gehabt, festzustellen,was für konkrete Auswirkungen Ihr Gesetz hat. Es gibtkaum noch Bedienungen, es lohnt sich nicht mehr, einer630-Mark-Beschäftigung mit Steuerklasse V nachzuge-hen, da man 109,66 DM Lohnsteuer zahlen muss. Manfindet keine Kräfte mehr, die diese Tätigkeit ausüben.
Auch die 50-Tage-Regelung ist nicht sonderlich hilf-reich. Was ist nämlich mit einem Arbeitgeber, wenn derBeschäftigte versehentlich vergisst, mitzuteilen, dass ernebenher noch eine andere Beschäftigung auf Basis die-ser 50-Tage-Regelung hat? Plötzlich gibt es ein riesen-großes Problem; das wird auf die Arbeitgeberinnen undArbeitgeber abgewälzt.Statt etwas flexibler zu sein und sich Gedanken darü-ber zu machen, ob man vielleicht die Saisonbeschäftigungverlängert, und im Rahmen der EXPO statt für drei Mo-nate für sechs Monate Saisonkräfte zuzulassen, sind Sieabsolut starr und steif in Ihrem ideologischen Denken. Ih-nen ist es lieber, dass die Arbeitgeberinnen und Arbeitge-ber ihre Aushilfskräfte zwischendrin noch einmal neu ein-arbeiten müssen und die gesamte Belegschaft gewechseltwerden muss. So kann die Wirtschaft in diesem Landnicht dauerhaft wachsen.
Dessen ungeachtet, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Union, muss ich Ihnen wirklich in Ihr Stammbuchschreiben, dass Ihr Antrag halbseidener Murks ist. Er istnicht ganz so schlimm wie das Gesetz, das die Regierungvorgelegt hat; aber dieses Gesetz ist derartig schlecht,dass man nicht hier und da Reparaturen vornehmen kann.Man kann es nur verschrotten. Deswegen können wirIhrem Antrag nicht zustimmen. Sie sind nämlich nichtkonsequent. Durch Ihren Antrag beweisen Sie wieder – inder 13. Legislaturperiode haben Sie das ja auch schon ver-sucht –, dass auch Sie im Grunde genommen für eine sol-che Regelung wie die der Regierungskoalition sind. Ein-zig die F.D.P. als Partei der sozialen Verantwortung
hat dafür gesorgt, dass auch die Menschen in geringfügi-gen Beschäftigungsverhältnissen ihren Lebensunterhaltwenigstens teilweise mit Lohn aus eigener Arbeit bestrei-ten können.
Ihr Antrag, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, ist nicht zielführend, Ihre Politik ist nicht ziel-führend. Ziehen Sie die blau-gelbe Karte, dann könnenwir eine Politik machen, die dieses Land voranbringt.Vielen Dank.
Nun hat das Wort die
Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verab-schiedung des 630-Mark-Gesetzes – darüber brauchenwir hier nicht zu streiten – war sicherlich keine populäreEntscheidung gewesen. Wir sind aber nicht hier, um Spaßzu haben oder populistische Entscheidungen zu treffen,sondern wir sind hier, um Entscheidungen zu treffen, dieden Menschen weiterhelfen und – das unterstreiche ich –die für mehr soziale Gerechtigkeit in diesem Lande sor-gen.
Wenn wir die soziale Gerechtigkeit als Maßstab anle-gen, dann müssen wir feststellen, dass die neue 630-Mark-Regelung eine Erfolgsgeschichte ist. Als etwas an-deres kann man sie gar nicht bezeichnen.
Im ersten Quartal 1999 hatten wir 6,5 Millionen gering-fügig Beschäftigte. Damit war der Höhepunkt der Ent-wicklung im Bereich der 630-DM-Jobs erreicht. Heutehaben wir wieder das Niveau von 1997 erreicht, nämlich5,8 Millionen. Aus den Personengruppen, die darauf an-gewiesen sind, arbeiten kaum weniger als in der Zeit vorder Neuregelung geringfügig. Diese Zahlen, die sich jetzt
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Dirk Niebel9866
verstetigen und die wir wohl dauerhaft haben werden, be-wegen sich jetzt übrigens auf einem Niveau, von dem Siefrüher, als Sie noch an der Regierung waren, immer be-hauptet haben, dass es alarmierend hoch sei. Sie solltendas nicht vergessen, nur weil Sie jetzt nicht mehr regieren.Auch einer Opposition steht eine Mindestportion an Se-riosität gut zu Gesicht.
Wir haben mit der Neuregelung erreicht, dass die ge-ringfügige Beschäftigung nicht weiter ansteigt, dass re-guläre Beschäftigungsverhältnisse in diesem Land ge-schaffen wurden und dass reguläre Jobs nicht mehr inmehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse aufge-splittet werden. Den Raubbau an den Sozialkassen – dieKosten wurden auf die regulär Beschäftigten, auf die Ar-beitnehmer und Arbeitnehmerinnen, verteilt – haben wirmit diesem Gesetz gestoppt.
Wir haben heute Mehreinnahmen von rund 2,85 Mil-liarden DM pro Jahr in den Sozialkassen.
Das konnten wir allein mit der Neuregelung der geringfü-gigen Beschäftigungsverhältnisse erreichen. Zugleich ha-ben wir erreicht, dass die Branchen, die auf geringfügigBeschäftige angewiesen sind, ihre notwendige Flexibilitäterhalten konnten, was jetzt von Ihnen so vehement gefor-dert wird.
Zur bürokratischen Abwicklung, die Sie so sehr kri-tisieren: Ausgerechnet die Studie, die Sie zitiert haben,besagt, dass es zwar zu Beginn, also in der Übergangs-phase, Probleme gab, die jetzt aber gelöst sind. Die Ver-hältnisse haben sich normalisiert und verstetigt.
Die meisten Probleme, die Sie hier angesprochen haben,gehören längst der Vergangenheit an und spielen heute inder Debatte überhaupt keine Rolle mehr.
Wir haben 110 000 reguläre Arbeitsplätze geschaffen.
Das wollen Sie uns vorwerfen? Ich verstehe das nicht.Diese Erfolgsbilanz wird in der Fachwelt von niemandemin Zweifel gezogen. Dass man es prinzipiell besser ma-chen könnte – einfacher, unbürokratischer und übersicht-licher –, das kann man immer sagen. Wir sind für Vor-schläge offen. Aber Ihre Vorschläge sind weit davon ent-fernt.Ihre Forderungen berühren überhaupt nicht die 630-Mark-Regelung, sondern sie beziehen sich auf einen ganzanderen Bereich. Hinsichtlich der kurzfristigen Beschäf-tigung hat das Frau Onur schon ausgeführt. Auch über dieHandhabbarkeit dieser Regelung haben wir uns schon un-terhalten. Es gibt eine Vereinbarung der Spitzenverbändeder Sozialversicherungsträger vom November 1999, dieeine Erleichterung gebracht hat. Die von Ihnen genanntenProbleme – Sie haben die Personengruppen Wochen-blattzusteller und Tutoren an den Universitäten angespro-chen – haben wir überhaupt nicht mehr.Jetzt stellt sich die Frage: Warum gibt es diesen Uni-onsantrag überhaupt? Wenn er nicht überflüssig ist – ichglaube, dass er es ist –,
kann er eigentlich nur einen Zweck haben: Sie versuchendurch die Hintertür ein Einfallstor für die Ausweitung dergeringfügigen Beschäftigung zu schaffen. Das aber wäreweder im Sinn der Beschäftigten noch im Sinn der Sozi-alversicherungen.Es gibt also nur zwei Möglichkeiten, diesen Antrag zubewerten: Entweder ist er einfach nur stümperhaft oderSie wollen unbedingt, dass wir einen Rückschritt zu denalten Missständen machen. Deshalb ist Ihr Antrag für uns,sowohl für die Grünen als auch für die Koalition insge-samt, inakzeptabel und unsinnig.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! 630-Mark-Jobs – die25. Auflage und immer noch die alten Hüte von IhrerSeite.
Herr Niebel, Brötchen und Zeitungen kommen immernoch pünktlich zum Morgenkaffee. Auch auf ein ordent-lich gezapftes Bier muss niemand verzichten. An Taxi-fahrerinnen und Taxifahrern besteht überhaupt kein Man-gel. Es scheint also ein Stück Normalität trotz monatelan-ger Panikmache, mit der Sie uns vonseiten der CDU/CSUund F.D.P. belästigt haben, eingekehrt zu sein.
– Die Panikmache fand ich schon belästigend.Es gab also keinen Verlust dieser lieb gewordenenDienstleistungen, nachdem die Neuregelung der 630-Mark-Jobs beschlossen wurde, die uns übrigens – das willich hier sagen – nie weit genug gegangen ist. Inzwischen
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Ekin Deligöz9867
zeigen sich aber – das erkennen wir natürlich an – durch-aus positive Ergebnisse. Anders, als Sie es behaupten,wird von der ISG-Studie, die Sie hier zitiert haben, bestä-tigt: Die Ausweitung der Minijobs konnte gestoppt wer-den.In vielen Bereichen sind stattdessen sogar normale sozial-versicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden. Das istdoch ein Ergebnis, das wir wirklich nur begrüßen können.
Auch von Massenkündigungen von 630-Mark-Jobskann nicht die Rede sein, höchstens bei den Nebentätig-keiten, und – das erscheint mir ganz wichtig – die Erwar-tungen hinsichtlich der zusätzlichen Beitragseinnah-men für die Sozialversicherung sind – das ist hier schongesagt worden – in der Tat übertroffen worden. Im „Han-delsblatt“ konnte man am 27. März nachlesen, dass dieSozialkassen Mehreinnahmen von 4,7 Milliarden DM er-warten. Das ist natürlich ein kräftiger Brocken, um die so-zialen Sicherungssysteme zu stabilisieren.Es zeigt aber auch, wie die Unternehmer seit Jahrendurch versicherungsfreie Beschäftigung zur Ausplünde-rung der Sozialkassen beigetragen haben.
Jetzt sind Gott sei Dank diese Möglichkeiten weitgehendverschlossen, mit einer Ausnahme, und hier wollen Sieden Hebel wieder ansetzen: die kurzfristige Beschäfti-gung. Sie soll bekanntermaßen versicherungsfrei bleiben,wenn die Tätigkeit nicht länger als ein Jahr dauert. Ichsage Ihnen: Seit der Neuregelung der 630-Mark-Jobs ver-suchen Arbeitgeber, insbesondere im Handel und in Gast-stätten, aber auch in den Zeitungsverlagen, genau dieseRegelung zu nutzen, um die Sozialversicherungspflichtnun doch noch zu unterlaufen. Und nun will die CDU ih-nen dabei auch noch helfen. Herzlichen Glückwunsch!
– Das finde ich ein niedliches Kompliment.Ihr Antrag, auch 50-Tage-Jobs, die regelmäßig längerals ein Jahr dauern, versicherungsfrei zu machen, öffnetsolchen Bestrebungen Tür und Tor und das genau wollenwir nicht.
Ich will ein Beispiel nennen: Im Zustellbereich arbei-ten nach Angaben der IG Medien bis zu 200 000 Aushil-fen nur 50 Tage im Jahr, aber dies schon seit Jahrzehnten.Ihr Vorstoß bedeutet für diese Menschen, nun auch denletzten Rest an minimaler sozialer Sicherung zu verlieren.Das ist doch einfach unsozial. Diese Entwicklung wollenwir nicht. Sie würde die positiven Ansätze, die wir bei densozialversicherungspflichtigen Minijobs durchaus sehen,stoppen und die ohnehin mehr als dürftigen Schutzrechtegeringfügiger Beschäftigung erneut aushebeln. Das ist füruns einfach nicht zu akzeptieren. Deshalb treten wir dafürein, dass diese Korrektur auf jeden Fall nicht durch-kommt.Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell ist Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2990 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Sicherstellung der Rentenauszahlung
im Vormonat
– Drucksache 14/3159 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 14/3330 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Wir verabschieden heute ein Ge-setz, mit dem wir sicherstellen, dass die Renten bereits imVormonat ausgezahlt werden. „Laufende Geldleistungenwerden zum letzten Bankarbeitstag des Monats ausge-zahlt, der dem Monat vorausgeht, in dem sie fällig wer-den.“ So lautet in Zukunft der Gesetzestext. Bisher muss-ten sie am Ersten des Fälligkeitsmonats auf dem Kontosein.
Anfang Februar ist deutlich geworden, dass etwasgeändert werden muss. Heute, Mitte Mai, setzen wir dieGesetzesänderung in Kraft. Nur vier Wochen hat es vonder ersten bis zur letzten Lesung gedauert. Dafür, dass dasso schnell gegangen ist, möchte ich dem Bundesarbeits-ministerium und der Bundesregierung insgesamt aus-drücklich danken.
Die schnelle Reaktion war nötig. Viele Rentnerinnenund Rentner waren im Februar überrascht, weil ihre Renteam Monatsende nicht auf dem Konto war, und haben sich
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Dr. Heidi Knake-Werner9868
natürlich über die spätere Auszahlung beschwert, obwohldieses Vorgehen damals dem gültigen Gesetz entsprachund es aus der Sicht der Rentenversicherungsträger auchgute Gründe dafür gab.Aber ebenso gute Gründe haben jetzt zu der Gesetzesän-derung geführt. Wir wollen, dass alle Rentnerinnen undRentner gleich behandelt werden.Wir wollen aber außerdem, dass sich alle Rentnerinnenund Rentner darauf verlassen können, dass sie ihr Geld inZukunft genauso früh bekommen wie bisher.
Wir haben also gesetzlich geregelt, dass die Zahlungs-frist entsprechend vorverlegt wird, weil das Geld auf denvielen Rentnerkonten auch bisher am Ende des Vormonatseingegangen ist. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Ren-ten werden nach wie vor im Voraus bezahlt, sind also amMonatsende auf dem Konto.Ich will jetzt nicht die Abläufe der Bankgeschäfte er-klären. Wir haben das bei der ersten Lesung hier im Par-lament gemacht. Ich möchte nur ganz kurz zusammen-fassen, worum es eigentlich geht.Renten nach dem Sozialgesetzbuch VI und VII – dassind die Altersrenten und die Unfallrenten – werden in Zu-kunft spätestens bis zum letzten Bankgeschäftstag desVormonats ausgezahlt, weil das in den letzten Jahren inder Praxis in vielen Fällen schon so gehandhabt wordenist und die Rentner deshalb Miete, Strom und Gas ent-sprechend früh vom Konto abbuchen lassen.Die Rentenversicherungsträger haben sich von der Pra-xis, zum spätestmöglichen Zeitpunkt auszuzahlen, Eins-parungen von rund 16 Millionen DM erhofft. Das hörtsich nach viel Geld an, macht aber letzten Endes nicht ein-mal 0,04 Promille ihrer Jahresausgaben aus. Wir sind derAnsicht, dass dieses Geld im Vertrauen der Rentner in dieRentenversicherung gut angelegt ist. Deshalb erhalten wirden Zustand, den sie gewohnt sind, und machen ihn zumGesetz.
Darin, dass wir das Vertrauen der Rentnerinnen undRentner erhalten müssen, sind wir uns hier im Hause alleeinig. Genauso hoffe ich, dass wir uns jetzt, nach der Wahlin Nordrhein-Westfalen, auch über die Rentenreformweiter einig werden. Die Voraussetzungen dafür, dass wiruns in den nächsten Monaten darauf beschränken können,sachlich zusammenzuarbeiten, sind schließlich so gut wielange nicht mehr, denn bis zur nächsten Wahl dauert esnoch so lange, dass sich der Wahlkampf jetzt nicht lohnt.
Wegen des Vertrauens der Menschen in das Alters-sicherungssystem wollen wir als Koalition – wir habeneinige Punkte schon hier im Hause diskutiert – dort auchdie bedarfsabhängige soziale Mindestsicherung ein-führen. Das hat viel mit den derzeitigen Rentnerinnen undRentnern zu tun. Die Verschiebung der Rentenbuchungenhat mir wieder einmal deutlich gemacht, dass es in unse-rem Land noch immer Menschen gibt, die sich auch imAlter Sorgen machen müssen. 1998 bezogen rund 180 000Menschen in Deutschland im Alter von über 65 JahrenHilfe zum Lebensunterhalt, und das neben ihrer Rente.Das sind nicht Menschen, die in Einrichtungen leben; dortist die Zahl der Sozialhilfebezieher höher. Von diesenrund 180 000 Menschen beziehen 50 000 bereits längerals fünf Jahre Hilfe zum Lebensunterhalt. 70 Prozent die-ser Personen sind, wie Sie sicherlich ahnen, Frauen.Wir alle wissen, dass es aber auch Rentnerinnen gibt,die ihren Rechtsanspruch auf Sozialhilfe nicht erheben,weil sie sich schämen, weil sie einen, wie ich denke,falschen Stolz haben oder weil sie ihr Verhältnis zu ihrenKindern nicht gefährden oder belasten wollen, da siefürchten, dass ihre Kinder bei Bezug von Sozialhilfe imRückgriff herangezogen werden. Man kann nicht zu demSchluss kommen, sie seien doch selbst schuld, wenn siedarauf verzichten. Ich denke, dass sich dieser Gedankeverbietet.Ich habe sogar ein gewisses Verständnis. Da ist eineMutter – oder ein Elternpaar –, die den Kindern etwas ver-erben kann, ein Haus, Grundbesitz oder anderes, währenddie andere Mutter, weil sie immer wenig verdient hat, weilsie zum Beispiel Teilzeit gearbeitet oder Erziehungspau-sen gemacht hat, bis zum Lebensende auf Sozialhilfe bzw.die Kinder angewiesen ist. Das wollen wir so verändern,dass diese Rentnerinnen und Rentner – natürlich nach ei-ner Bedürftigkeitsprüfung – einen Zuschlag zu ihrerRente erhalten, ohne dass es einen Rückgriff auf ihre Kin-der gibt.
Das Problem der Altersarmut wird, so befürchte ich,nicht verschwinden. In den nächsten Jahren werden Er-werbstätige oder Arbeitslose in Rente gehen, die in ihremErwerbsleben erhebliche Lücken haben. Auch für Ost-deutschland wird dies kein kleines Problem sein, wennbedacht wird, dass dort viele Tarifeinkommen niedrigersind als die in Westdeutschland. Wir alle wissen, dass inganz vielen Fällen noch nicht einmal Tariflöhne gezahltwerden. Von daher wird für die Alterssicherung dieserMenschen ein Problem entstehen. Dem wollen wir schonjetzt beizeiten vorbeugen.
Wir denken aber auch an die Menschen, die von Geburtan erwerbsunfähig sind oder sehr früh in ihrem Leben er-werbsunfähig geworden sind. Sie sollen ebenso in die ausSteuermitteln zu finanzierende bedarfsabhängige Min-destsicherung einbezogen werden. Sie haben oft noch kei-nen Rechtsanspruch auf Rente und ihre Eltern werdendurch den im Rahmen der Sozialhilfe festgelegten Rück-griff belastet.Natürlich soll im Rahmen der sozialen Mindestsiche-rung und vor der Gewährung eines Rentenzuschlages dasVermögen des jeweils Betroffenen – bis auf bestimmteBeträge – aufgezehrt sein. Es muss gesichert sein – wirwollen das jedenfalls –, dass Kinder, die schon mit ihren
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Erika Lotz9869
Steuerzahlungen die Sozialhilfe finanzieren, nicht nocheinmal den Sozialhilfebedarf der Eltern finanzieren.Die Rentenversicherung verfügt über eine Reihe wei-terer Instrumente, Lücken zu überbrücken und bestehendeProbleme zu lösen. Lassen Sie uns das Vorhaben der Ren-tenreform zügig angehen. So schnell wie bei dem Gesetzzur Sicherstellung der Rentenauszahlung im Vormonatwird es natürlich nicht gehen. Im Ausschuss für Arbeitund Sozialordnung haben alle Fraktionen dem heute vor-liegenden Gesetzentwurf zugestimmt. Diese Zusammen-arbeit könnte ja Richtschnur auch für die nächsten Monatesein.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlichrichtig, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für dieRentner Sicherheit geschaffen wird. Es geht um den imtäglichen Geschäftsleben wichtigen letzten Bankge-schäftstag vor dem Monatsersten. Ich bedauere ausdrück-lich – das sage ich auch vor dem Hintergrund dessen, wasSie, Frau Lotz, zuletzt zur verschämten Armut, wie ich dasbeschrieben wissen möchte, gesagt haben –, dass es dazukommt, dass die Versicherungsanstalten ihre Versichertennicht als Kunden sehen und sie nicht kundenfreundlichbedienen. Es ist bedauerlich, dass wir dieses Vertrauenmit einem Gesetz wieder herstellen müssen.
Wir tun dies. Wir werden diesem Gesetzentwurf zu-stimmen. Man wollte über diese Zahlungsstreckung – ichnenne sie einmal so; im Geschäftsleben ist das so üblich– einige 100 Millionen DM einsparen und den Rentnernvorenthalten. Der Rentner hat jetzt wieder die Sicherheit,seine Rente pünktlich zum Monatsende, also vor einemFeiertag oder einem Wochenende am Monatsende zu er-halten. Denn es ist ja üblich, dass Kassen am Ende einesMonats auf Ist und Soll gestellt werden. Man weiß ja, dassGeld, das man am Ende einer Woche einzahlt, erst mon-tags gutgeschrieben wird, während Geld, das man in An-spruch nimmt, bzw. Überweisungen schon freitags vomKonto abgezogen werden. Das ist eine alte Übung. Dasführt bei einem Rentner, der seine Geldgeschäfte auf-grund der Sicherheit der bargeldlosen Verkehrswege inForm von Daueraufträgen erledigt, zu Problemen undletztlich auch zu entsprechenden Zinsbelastungen.Diesen Aspekt berücksichtigen wir; wir stimmen derneuen Regelung also zu. Damit wird die Rechtsprechungdes Bundesgerichtshofes, was die Wertstellung der Soll-und Istbeträge auf den Konten angeht, gesetzlich veran-kert.Ich darf feststellen – nehmen Sie uns das bitte nichtübel –, dass wir jetzt endlich ein Licht im Tunnel sehen.Nach anderthalb Jahren haben wir nun den ersten sub-stanziellen Gesetzentwurf zur Sozialgesetzgebung vorlie-gen. Das ist eine tolle Leistung.
Ich sage es Ihnen ausdrücklich: Bisher war da nicht sehrviel zu holen. Das aber ist eine Headline, die hoffen lässt.Vielleicht kommen wir uns auf dem gemeinsamen Weg –denn wir stimmen diesem Gesetz zu – ein Stück näher.Jetzt haben wir den Termin und die Zahlungsweise ge-regelt. Wie aber ist es mit der Rente? Ist das schon gere-gelt?
Einen genauen Zeitplan gibt es nicht; zumindest wird erimmer wieder in Frage gestellt. Der Rentner weiß nicht,ob der Generationenvertrag trägt. Frau Lotz, was Sieeben dazu gesagt haben, ist ganz wichtig. Sie haben einenbestimmten Personenkreis angesprochen und gefragt, wiees mit dem Generationenvertrag weitergehen soll. DieseFrage muss in diesem Zusammenhang erlaubt sein. Fürden Rentner ist nämlich nicht nur der Weg wichtig, alsodas Konto und die Beschreibung des Geldverkehrs, son-dern auch, wie viel auf dem Konto ist.Ich will einmal die bisherigen Stationen nennen. Sta-tion 1: Im Dezember 1998 gab es das Renten-Korrektur-gesetz, die Aussetzung der blümschen Rentenreform.Station 2: Dann kam die Ökosteuer mit einer Belastungder Rentner; denn von der Beitragsentlastung hat derRentner nichts.Station 3: Es wurde angekündigt, die nettolohnbezo-gene Rente werde bleiben – ein hehrer Spruch –; aller-dings folgten die Ernüchterung und der schmerzhafte Ein-schnitt auf dem Fuß; denn die Rentenerhöhung lediglichum die Inflationsrate war fällig.Station 4: Bei der Inflationsrate geht es nicht um diePreissteigerungsrate in dem Jahr, in dem der Rentner vonseiner Rente leben muss, im Jahr 2000, sondern um diedes Jahres 1999. Da betrug die Inflationsrate 0,6 Prozent.Mittlerweile liegt sie aber bei 1,6 Prozent. Dem Rentnerwird also nichts geschenkt, ihm wird eher etwas genom-men.Station 5 – jetzt kommt der große Hammer und da müs-sen wir aufpassen –: Wenn wir gemeinsam eine Renten-reform machen, dann dürfen wir nicht den Finanzmini-ster dazunehmen; da haben wir unsere Erfahrungen. Dergroße Zampano hat ja schon gesagt, dass er die Rentenre-form sozusagen mit dem Bundesverfassungsgericht aufden Nimmerleinstag vertagen und ihm anheim stellenwill, wie das mit der Rente und zukünftig mit dem Gene-rationenvertrag aussieht.Ich warne vor solchen Entwicklungen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Erika Lotz9870
Hier sollte das Parlament Herr des Geschehens bleibenund endlich einmal zu Potte kommen.
Wir werden uns dieser Gesetzgebung nicht verschließen.Wir werden uns auch den zukünftigen Beratungen nichtverschließen.Frau Lotz, abschließend möchte ich sagen, dass wir unsdem Personenkreis werden zuwenden müssen, den Siehier genannt haben, ob es um die Witwe oder um diekleine Rente oder um die verschämte Armut geht. Das istein grundsätzliches Anliegen. Wir müssen sicherlich auchfür diejenigen, die aus Gründen einer Behinderung früh-zeitig in Rente gehen müssen, eine Regelung finden.
Wir werden aber bei der Leistungsbezogenheit bleibenmüssen.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege
Schemken, wir wissen mit Hilfe des neuen Gesetzes zwar,
wann die Leute ihre Rente bekommen, aber haben Sie als
Sozialexperte auch Kenntnis davon, wie viel Rente die
Leute nach den Plänen der Bundesregierung bekommen
werden und wonach sich das berechnet?
Ich kann Ihnen nur
eines sagen: Es liegt mir hierzu, wenn ich das als be-
scheidener Sozialexperte offenbaren darf, bisher nichts
Konkretes vor.
– Frau Schmidt, mir liegt nichts Konkretes vor. Ich weiß,
dass Sie in der Fraktion auch ab und zu über soziale An-
liegen sprechen. Soweit mir bekannt ist, haben aber auch
Sie nicht den entscheidenden Durchbruch geschafft. Ich
will Ihnen das sagen, wenn Sie schon dazwischenrufen.
Herr Laumann, ich hoffe auf Ihre Mithilfe. Ich weiß
sehr wohl, dass Sie dabei sind. Ich hoffe, dass wir mitei-
nander den Generationenvertrag so sichern werden, dass
die Rentner wissen, was auf sie zukommt, dass die Kin-
der wissen, was sie in Zukunft für die vorangegangenen
Generationen zu tragen haben, dass der Beitragszahler
weiß, was er zu zahlen hat, dass darüber hinaus das be-
währte System, das von der sozialen Marktwirtschaft und
einer sozialen Rechtsstaatlichkeit geprägt ist – ob es das
Bundessozialhilfegesetz oder die Rentengesetzgebung
ist –, ein System, das uns in Deutschland von anderen
Staaten in Europa abhebt, auch für die Zukunft beispiel-
haft sein möge, dass wir mit den Alten so umgehen, wie
sich das in einer humanen Gesellschaft gehört, und dass
wir damit zugleich das erreichen, was Ihnen am Herzen
liegt. So habe ich Ihre Frage verstanden.
Schönen Dank.
Herr Kollege, ichhabe sogar Ihre Redezeit gestoppt. Aber dieses freundli-che Angebot haben Sie nicht angenommen. Vielen Dank.Jetzt kommt die Kollegin Katrin Göring-Eckhardt,Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! Lieber Herr Schemken, ich finde auch, dassdas, was Sie vorgetragen haben, nämlich das Problem mitdem Rentenauszahlungstermin, ein eher kleineres Pro-blem ist, das wir zu lösen haben. Ich glaube aber, manchenLeuten war es ziemlich ernst, als sie das Gefühl hatten, derTermin, zu dem sie ihre Rente bekommen, würde jetzt zurDisposition stehen.Herr Schemken, möglicherweise sollten Sie sich in Ih-rer Fraktion auch einmal darüber unterhalten, wie wichtiges für die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUist, dass wir im Rahmen der Rentenkonsensgesprächeauch mit dem Finanzminister sprechen. Ich kann nur sa-gen: Wir sind dafür, dass wir den Finanzminister einbe-ziehen,
weil wir über die Frage der privaten Vorsorge und über dieFrage der nachgelagerten Besteuerung mit dem Finanz-minister gemeinsam reden müssen. Der Meinung warenauch die Kolleginnen und Kollegen aus Ihren Reihen. Ichdenke, wir sollten dabei bleiben.
Wir sollten auch bei unserem Zeitplan bleiben. Ich binmir ganz sicher, dass wir zwar eine konstruktive, sachli-che und gründliche Diskussion brauchen, dass wir aber indiesem Jahr den Rentnerinnen und Rentnern auf der einenSeite und den Jungen auf der anderen Seite ganz dezidiertsagen müssen, wo es mit ihren Beiträgen und ihrer Al-tersversorgung hingehen soll. Aus diesem Grunde glaubeich, dass wir bei dem Zeitplan bleiben sollten. Das habenwir uns auch gemeinsam vorgenommen. Ich denke, wirsind auf einem guten Weg, das auch zu schaffen.Mit dem, was wir heute hier ja glücklicherweise ge-meinsam beschließen, werden wir einen Schritt in Rich-tung auf Verlässlichkeit tun. Es mag einem ja wie einSymbol vorkommen: Es geht eigentlich nur um einen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Heinz Schemken9871
Termin; ich habe schon gesagt, dass es manchen damitnatürlich sehr ernst war. Wenn wir das heute gemeinsambeschließen, könnte eintreten, was Erika Lotz vorhinschon gesagt hat, dass das nämlich auch ein Zeichen dafürist, dass wir auch andere Dinge gemeinsam regeln kön-nen. Es geht darum, das Vertrauen in die gesetzlicheRentenversicherung zu stärken. Wir wollen verhindern,dass es eine Verunsicherung gibt, so wie das in Bezug aufden Termin Anfang Februar dieses Jahres geschah undwie das nicht zuletzt auch durch die Debatten, die hier indiesem Haus geführt worden sind, und durch die Verunsi-cherungskampagnen – ich glaube, man kann es nicht an-ders nennen – in der Vergangenheit geschehen ist. Ichglaube, dass Tricksereien mit Argumenten und in Bezugauf Auszahlungstermine keine ehrlichen Angebote sind.Wir brauchen eine ehrliche und mutige Reform, geradeim Sinne der Jüngeren, die stabile Beiträge erwarten unddie natürlich auch erwarten, dass sie aus dem Rentensys-tem eine eigene Altersversorgung erhalten können. Zu ei-ner mutigen Reform gehört auch, dass wir sie armutsfestgestalten. Erika Lotz hat hierzu einiges gesagt und ichpersönlich glaube, dass wir keine wirkliche Reform schaf-fen werden – auch gemeinsam nicht –, wenn wir nichtsehr deutlich sagen, wie wir die Rente im unteren Bereichabsichern wollen, wie wir mit denen umgehen wollen, diees nicht schaffen, sich durch Erwerbsarbeit eine eigeneAlterssicherung aufzubauen, wie wir beispielsweise mitden vielen in Ostdeutschland umgehen wollen, die in denletzten Jahren wirklich nicht erwerbstätig sein konnten,die nichts haben, was sie einsetzen können, die kein Ver-mögen und kein Wohneigentum haben und die natürlichin einer großen Unsicherheit darüber sind, was aus ihnendenn im Alter werden wird.Mit einer Rentenreform, die nicht deutlich macht, dasswir eine Absicherung treffen und somit eine Armut füralte Menschen verhindern, werden wir kein Vertrauen ge-winnen, sondern nur weitere Verunsicherung schaffen.Deshalb plädiere ich ganz im Sinne meiner Kollegindafür, diese Armutsabsicherung definitiv zu schaffen.Wir müssen ein System für den Ausbau der privaten undübrigens auch der betrieblichen Altersvorsorge einführen,damit die Menschen auch im Alter ihren Lebensstandardsichern können. Das werden wir nicht allein durch die ge-setzliche Rentenversicherung schaffen.Wir bekommen nur dadurch Verlässlichkeit, dass wirden Menschen sagen, wann sie wie viel Rente bekommenwerden. Die Frage des Wann klären wir mit diesem Ge-setz, die Frage des Wie viel werden wir hoffentlichgemeinsam und in aller Einmütigkeit in diesem Jahrklären können.Das ist, wie ich finde, ein guter Weg. Wir sollten auf die-sem Weg weitermachen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben gesagt, FrauLotz, die Rentner sollten nicht verunsichert werden. Aberdie Rentner sind längst verunsichert.
Das ist auch kein Wunder. Die Tatsache, dass die Renteerst einen Tag später als bisher üblich ausgezahlt werdensollte, war im Grunde genommen nur das letzte Stein-chen, das in dem Gesamtmosaik der Verunsicherungfehlte.Die Verunsicherung begann damit,
dass der Demographiefaktor der alten Regierung aufge-hoben wurde. Die Rentner ahnten sehr bald, dass das nurein scheinbarer Vorteil war, da sie sehr genau wissen, dasszumindest etwas Ähnliches spätestens Anfang des nächs-ten Jahres wieder eingeführt werden muss.Auf die Abschaffung des Demographiefaktors folgtedie Anpassung der Renten in Höhe der Inflationsrate.Schon das führte zu Aufregungen, weil die Anpassung so-mit niedriger war als die von den Rentnern erwartete Er-höhung. Hinzu kam die zusätzliche Enttäuschung, dassder Anpassungsbetrag noch um ein Prozent unter der ak-tuellen Inflationsrate liegt.
Dies kann man erklären, aber: Erklären Sie das einmal denRentnern, die mit einer höheren Anpassung gerechnet ha-ben. Hinzu kam schließlich noch die Ökosteuer.Wenn jemand sagt, dass bei diesem Bündel von nega-tiven Entscheidungen die Rentner noch nicht verunsichertseien, hat er die Wirklichkeit in unserer Gesellschaft nichtbegriffen.
Deswegen ist es gut gemeint – das war auch der Grund,dass ich für die F.D.P.-Fraktion angekündigt habe, dasswir diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen –, per Ge-setz festzulegen, die Renten am letzten Tag eines jedenMonats für den folgenden Monat auszuzahlen.Nun möchte ich aber gerne vom Arbeitsministeriumwissen – ich vermute oder hoffe, dass der Parlamentari-sche Staatssekretär dazu noch reden wird –, ob es die De-tails der Durchführung dieses Gesetzes auch mit den Ban-ken geklärt hat.
Der Vorsitzenden des Ausschusses für Arbeit und Sozial-ordnung und dem Arbeitsministerium liegt ebenso wieuns ein Brief des Zentralen Kreditausschusses des Bun-desvorstandes der deutschen Banken vor. In diesem Briefwird zwar nicht gesagt, dass die beabsichtigte gesetzlicheRegelung nicht möglich sei; es wird aber auf die Gefahr
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Katrin Göring-Eckardt9872
hingewiesen, dass die Gefahr besteht, dass die Renten-zahlungen den Empfängern zukünftig erst zu einem spä-teren Zeitpunkt als bisher üblich zur Verfügung stehen. Indiesem Punkt hätte ich schon gerne Aufklärung vom Ar-beitsministerium darüber, wie es sich zu diesem Themastellt und ob es die Notwendigkeit sieht, wenigstens mitden Banken zu sprechen, um diese Frage zu klären unddamit eine zusätzliche Verunsicherung der Rentner zuverhindern.
Da die Kolleginnen und Kollegen auch auf die lau-fende Rentendebatte abgehoben haben, die zweifellossehr wichtig ist, möchte ich dazu abschließend zwei Be-merkungen machen. Frau Göring-Eckardt, das ange-strebte Gespräch mit dem Finanzminister war nicht ge-rade die Idee der Koalition. Sie haben ebenso wie ich da-beigesessen und es war klar, dass F.D.P. und CDU/CSUdarauf bestanden haben, mit dem Finanzminister zu re-den, weil ohne eine ausreichende Förderung eine privateVorsorge von den Menschen nicht angenommen würdeund deswegen dann in der Tat Versorgungslücken im Al-ter entstehen würden.
Der zweite Punkt: Die Armutsfestigkeit der zukünf-tigen Alterssicherungwird doch in erster Linie über eineprivate Vorsorge für alle hergestellt und nicht über dieIdeen, die Sie in Form einer sozialen Grundsicherung aus-gebreitet haben.
Bemerkenswert, Frau Lotz, finde ich – ich glaube, das isteine Basis, auf der wir weiter diskutieren können –, dassSie die Organisationsfrage für das Auffangen der Alters-armut, das heißt des gleichzeitigen Bezugs von Sozial-hilfe, noch offen gelassen haben. Wir haben heute aus-führlich darüber gesprochen und unterschiedliche Mög-lichkeiten im Rahmen der Sozialhilfe erörtert. Ich glaube,dass dies ein vernünftiger Weg ist, über den wir im Inte-resse der alten Menschen, im Interesse einer sich hoffent-lich bald wieder aufbauenden Verlässlichkeit und im Inte-resse einer hoffentlich vorübergehenden Verunsicherungder Rentner gemeinsam und in Ruhe weiter diskutierenkönnen.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat die Kollegin Monika Balt.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Endlich ist es nun auch in diesem Hause an-gekommen: Pünktlichkeit bei der Rentenzahlung istwohl das Mindeste, was die Rentnerinnen und Rentner er-warten dürfen. Schließlich haben sie ja auch ihr Lebenlang pünktlich Rentenversicherungsbeiträge gezahlt.
Die PDS kann diesem vernünftigen Gesetzentwurf nurzustimmen, weil damit die bisher übliche Praxis bei derRentenauszahlung gesetzlich geregelt wird. Es war jawohl ein schlechter Scherz, dass Rentnerinnen und Rent-ner ihre Rente erst zu Beginn eines laufenden Monats er-hielten, während gleichzeitig zum Ersten eines jeden Mo-nats verbindliche Zahlungsverpflichtungen wie Mieten,Betriebskosten und andere Kosten bezahlt werden muss-ten. Das heißt, es gab jedes Mal ein Minus auf den Ren-tenkonten. Zinsgewinne auf Kosten älterer Menschenlehnen wir strikt ab.
Was sich hier im Februar dieses Jahres abgespielt hat,ist nicht nur Vertrauensschwund, sondern Vertrauensmiss-brauch. Übrigens: An die Adresse der Verursacher undVerantwortlichen sage ich, so etwas ist schwer wiedergutzumachen. Meiner Meinung nach ist die Rente Aus-druck der erbrachten Lebensleistung.
Rentnerinnen und Rentner haben einen Anspruch auf ihreRenten und deren pünktliche Auszahlung. Die Rente istdoch kein staatlicher Gnadenakt und die Auszahlung kanndoch nicht nach dem Motto „Kommt sie heute nicht,kommt sie eben morgen“ erfolgen.Ich glaube schon – da gebe ich meinen Kolleginnenund Kollegen der anderen Fraktionen Recht –, dass dasvorliegende Gesetz das Vertrauen der Rentnerinnen undRentner in den Eingang ihrer Rentenzahlungen zum letz-ten Bankgeschäftstag vor dem Monatsersten wieder her-stellen wird. Es ist auch höchste Zeit.
Aber die nächsten Schwierigkeiten scheinen schonvorprogrammiert zu sein. In seiner Stellungnahme vom8. Mai weist der Bundesverband der Deutschen Volks-banken und Raiffeisenbanken auf rechtliche und techni-sche Probleme bei der Umsetzung dieses Gesetzes hin.Ich kann ja nachvollziehen, dass trotz modernster elek-tronischer Technik die Banken für die Überweisungs-vorgänge bis zum endbegünstigten Institut bestimmteLaufzeiten brauchen. Wir sind auch dafür, dass die Be-stimmungen des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank,wonach Zahlungen erst nach Eingang des Gegenwertes,also erst bei Vorliegen der Deckung, weitergeleitet bzw.gutgeschrieben werden dürfen, eingehalten werden. Aberdas alles kann und darf nicht zu der Konsequenz führen –ich zitiere –,dass die Einführung derartiger gesetzlicher Regelun-gen möglicherweise den – in jedem Fall uner-wünschten – Effekt haben könnte, dass die Renten-auszahlungen den Empfängern zukünftig erst zu ei-nem späteren Zeitpunkt als bisher üblich zurVerfügung stehen.Der heute zu verabschiedende Gesetzentwurf – alleFraktionen hier im Bundestag signalisieren Zustimmung –wird die Auszahlung der Renten zum letzten Bankarbeits-tag des Vormonats regeln. Wenn wir glaubwürdig seinwollen, müssen sich Rentnerinnen und Rentner von nun
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Dr. Irmgard Schwaetzer9873
an darauf verlassen können. Deshalb fordere ich Sie, HerrMinister Riester – auch wenn Sie heute nicht da sind –, auf:Setzen Sie sich mit den Rentenversicherungsträgern, derDeutschen Post AG und den Banken an einen Tisch.Finden Sie Durchführungsbestimmungen und Regelun-gen, die den bestehenden gesetzlichen BestimmungenRechnung tragen. Sie hätten eine große Chance, das Ver-trauen von 17 Millionen Rentnerinnen und Rentnern wie-derzugewinnen und ihnen eine große Sorge zu nehmen.Wenn Sie dann noch die Nettolohnanpassung wieder ein-führen, wäre das ein zweiter guter Schritt.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicher-
stellung der Rentenauszahlung im Vormonat, Drucksache
14/3159. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
empfiehlt auf Drucksache 14/3330, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dieter
Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Abschaffung derArznei- und Heilmittelbudgets
– Drucksache 14/3299 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Dr. Dieter Thomae für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Erstens. Das Arznei-und Heilmittelbudget gefährdet die medizinische Versor-gung der deutschen Bevölkerung.
Sie, meine Damen und Herren Patienten, merken heute,dass Sie auch medizinisch unbedingt notwendige Arznei-mittel nicht mehr bekommen, dass der Arzt sie nicht ver-schreibt, weil er durch die Budgetierung dazu gezwungenist. Dies kann nicht Sinn und Folge einer Gesundheitsre-form sein.
Die Problematik sehen Sie insbesondere am Ende desQuartals und am Ende des Jahres. Dann wird der Arzt im-mer wieder das Gespräch mit Ihnen suchen und mitteilen,dass er nicht mehr in der Lage ist, die entsprechenden Arz-neimittel zu verschreiben. Das Schlimme an der Budge-tierung ist, dass dann, wenn das Budget ausgeschöpft ist,der sozial Schwache getroffen wird. Er muss dann dieKosten zu 100 Prozent tragen, ist dazu aber ökonomischnicht in der Lage. Dies ist völlig unsozial.
Zweitens sage ich Ihnen: Es ist nicht nur die Budgetie-rung bei den Arzneimitteln, die uns große Sorge bereitet,sondern auch die Budgetierung bei Massage, Kran-kengymnastik, Logopädie und Ergotherapie. Auchdiese Leistungen können nicht mehr erbracht werden.Dazu möchte ich ein Beispiel nennen: Schlaganfallpati-enten werden heute sehr intensiv im Krankenhaus behan-delt. Aber danach ist das Budget erschöpft, sodass die an-schließend benötigte logopädische Behandlung nichtmehr durchgeführt werden kann. Eine solche Gesund-heitspolitik können doch wohl auch SPD und Grüne nichtwollen.
– Doch, das sind die Fakten. Erkundigen Sie sich an derBasis.Drittens. Es ist völliger Wahnsinn, das Arznei- undHeilmittelbudget so zu organisieren, dass es zu einer Kol-lektivhaftung der Ärzte kommt.
Der Radiologe wird genauso in die Haftung genommenwie der Hausarzt. Meine Damen und Herren, Sie solltennicht die Fehler machen, die in der Vergangenheit schoneinmal gemacht worden sind. Eigentlich sollten Sie da-raus lernen. Eine Kollektivhaftung ist in meinen Augenverfassungsrechtlich nicht haltbar.
Daher freue ich mich, dass es bald Prozesse geben wird,in denen geprüft wird, ob dies verfassungsrechtlich istoder nicht. Ich sehe hier große Probleme.Viertens. Die Politik ist zu feige, genau zu sagen, wel-che medizinischen Leistungen im Rahmen des gesetzli-chen Systems erbracht werden sollen. Sie machen denArzt zum Mangelverwalter und delegieren die Verant-wortung auf die Ärzte. Das ist untragbar. Wann haben Sieendlich den Mut, Ausgrenzungen über das Leistungspaketvorzunehmen? Sie versprechen alles und halten nichts!
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Monika Balt9874
Fünftens. All diese Maßnahmen führen zur Rationie-rung, also zum Qualitätsverlust der medizinischen Ver-sorgung in Deutschland. Dafür gibt es in nennenswertemUmfang entsprechende Beispiele.Das ist doch völlig schizophren.Wie kann der niedergelassene Arzt, wenn sein Arznei-mittelbudget erschöpft ist, aus dieser Falle heraus kom-men? Sehr häufig wird der Patient dann ins Krankenhausüberwiesen, was erheblich teurer ist.
– Ich könnte Ihnen an einer Menge von Beispielen aus derPraxis aufzeigen, dass es so ist.Wir haben diese Regelung 1997 klugerweise abgeschafft– schauen Sie ins Gesetz hinein –, weil wir negative Er-fahrungen damit gemacht haben. Meine Damen und Herren, diese negativen Erfahrun-gen sollten Sie veranlassen, einen anderen Weg zu gehen.Ich kann Ihnen nur empfehlen, unseren Vorschlag von1997/98 aufzugreifen und zu versuchen, die Problematikmit Richtgrößen besser in den Griff zu bekommen.
Dies ist gerechter, weil es keine Kollektivhaftung mehrgibt, sondern der Einzelne mit in die Verantwortung ein-bezogen wird. Aber dafür sind Sie anscheinend einfachnoch nicht reif. Gehen Sie Ihren Weg weiter, das Arznei-mittel- und Heilmittelbudget beizubehalten, dann werdenSie recht bald merken, dass die Patienten dies nicht mehrmitmachen. Ich werde ihnen überall erklären, dass das derfalsche Weg ist.
Sie behaupten, wir hätten gern auf sektorale Budgetsverzichtet, wenn das Globalbudget gekommen wäre; derBundesrat hätte dies abgelehnt.
Auch das ist eine Lüge Ihrerseits, vor allen Dingen derGrünen. Sie haben bei Ihrem Konzept 2000 zwar ein Glo-balbudget gewollt, aber dennoch gleichzeitig in vielenBereichen sektorale Budgets eingeführt, auch im Arznei-mittel- und Heilmittelbereich.Ich kann Ihnen nur raten: Gehen Sie von dieser Kon-zeption ab! Es ist von großem Nachteil für die Patienten,weil gerade die chronisch Kranken nicht mehr die Arz-neimittel bekommen, die sie dringend benötigen. Ichglaube, dies kann Rot-Grün auf Dauer nicht verantworten.Von daher empfehle ich Ihnen: Organisieren Sie den Arz-neimittel- und Heilmittelbereich neu, so wie es der Pati-ent in der Bundesrepublik Deutschland verdient hat!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt Kollege Klaus Kirschner.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ihr Antrag, verehrter Herr Kollege Dr.Thomae, ist ein reiner F.D.P.-Lobbyistenantrag. „Marke-ting mit dem Rezeptblock“ sollte Ihr Antrag ehrlicher-weise lauten.
Sie zeichnen das Bild einer Unterversorgung. Das ist inAnbetracht von 42 Milliarden DM Ausgaben der gesetz-lichen Krankenversicherung für Arznei- und Heilmittelim vergangenen Jahr – hinzu kommen noch einmal4,5 Milliarden DM an Selbstbeteiligung – geradezulächerlich.
Sie unterstellen den Ärzten, die ihre Patienten erfolgreichversorgen, sie würden diesen absichtlich die benötigteTherapie vorenthalten.
Das ist nun nicht mehr zum Lachen.Was würde Ihr Antrag denn für die Patienten bedeu-ten? – Mit Ihrem Entschließungsantrag anlässlich der Ver-abschiedung der Gesundheitsreform 2000 – daran möchteich erinnern – , mit der Forderung nach Kostenerstattunganstelle des Sachleistungssystems, mit der Forderungnach weiterer Selbstbeteiligung und Selbstbehalte lassenSie doch die Katze aus dem Sack und machen deutlich,worum es Ihnen in Wirklichkeit geht. Der Patient zahlt beiIhnen die Zeche; das haben Ihre Gesetze in der Vergan-genheit immer wieder gezeigt.
Das unterscheidet uns von Ihnen. Bei uns steht der Pati-ent im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik. Er hat einenRechtsanspruch auf die medizinisch notwendige, qua-litätsgesicherte Vollversorgung.
Sie stellen in Ihrem Antrag die Behauptung auf, dassdie Budgets die Versorgung der Patientinnen und Patien-ten gefährdeten und dass diese statt mit innovativen mitveralteten, aber gleichwohl teuren Arzneimitteln versorgtund damit unterversorgt würden. Das ist Ihre Behauptung.
Herr Kollege Dr. Thomae, Sie sollten sich hier seriöserArgumente bedienen. Ich will mich damit auseinandersetzen.Sie wissen doch, dass die Kassenärztlichen Vereini-gungen mit den geringsten Arzneimittelausgaben deshalbmit ihrem Budget zurechtkommen – das dürfen Sie dochnicht verschweigen –, weil diese eine rationelle Arznei-mitteltherapie betreiben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Dr. Dieter Thomae9875
Die Analyse des Arzneiverordnungsverhaltens derletzten beiden Jahre zeigt, dass nicht die Verordnung in-novativer Medikamente, sondern die Verordnung teurerSchrittinnovationen den überwiegenden Kostenanstiegverursachte. Hinzu kommen nicht indizierte Verordnun-gen von Medikamenten und das Nichtverwenden preis-günstiger Alternativen, beispielsweise der Generika. Daszeigt die Analyse.Ich will an dieser Stelle deutlich feststellen, dass dieHälfte der Kassenärztlichen Vereinigungen ihr Budgetnicht ausgeschöpft hat; dass sollten Sie nicht vergessen.
Sie sollten sich das einmal genau anschauen und nicht sotun, als ob die Kassenärztlichen Vereinigungen nicht mitihrem Budget zurechtkommen.Gerade in den preisgünstigen Kassenärztlichen Verei-nigungen fällt auf – ich setze mich mit dem, was Sie sa-gen, auseinander –, dass besonders intensiv wirkende undwichtige Medikamente wie Aids-Therapeutika, Antibio-tika und Chemotherapeutika gegen Krebs keineswegs ingeringem Maße angewendet werden, sondern einen über-proportional hohen Ausgabenanteil ausmachen.Die Beobachtung, dass es gerade die Bundesländer mitgeringen Arzneimittelausgaben sind, die auch mit gerin-gen Gesamtausgaben für Krankenhäuser auskommen,widerspricht der Behauptung, Patienten würden zur Ver-meidung der Verschreibung teurer Arzneimittel in Kran-kenhäuser abgeschoben. Schauen Sie sich die Arzneimit-telstatistik an, schauen Sie sich die Krankenhausstatistikan.Ich will Sie daran erinnern, dass es schon vor Bestehendes Arzneimittelbudgets die individuellen Prüfungen fürÄrzte gab. Sie haben nicht verhindert, dass bis 1992 dieArzneimittelausgaben jährlich in einer Größenordnungvon bis zu 9 Prozent gestiegen sind. Das können Sie nichtwegdiskutieren.Sie wollen nun diesen Druck von den KassenärztlichenVereinigungen nehmen. Diese üben dann keinen Druck inRichtung eines verantwortlichen Umgangs mit Arznei-mitteln – und damit mit Beitragsgeldern – mehr aus. Siehätten auch keinen Anlass mehr, Prüfverfahren von sichaus zu intensivieren. Der einzelne Arzt steht allein vor sei-ner Richtgröße und kommt möglicherweise erst recht aufden Gedanken, im Zweifelsfall teure Patienten auf eineandere Versorgungsebene abzuschieben. Ein Richt-größenkonzept für Arzneimittel kann vom einzelnenArzt relativ leicht durch willkürliche Fallzahlvermehrungumgangen werden. Ärzte, die mit Arzneimittelverordnun-gen Marketing betreiben – das können Sie nicht leugnen;das hat auch der Vorsitzende der Kassenärztlichen Verei-nigung Hessen, Herr Dr. Bausch, deutlich gemacht –,würden begünstigt, während Ärzte, die verantwortlich mitArzneimitteln umgehen, Patienten verlieren würden.Lassen Sie mich feststellen: Sie arbeiten mit den Äng-sten der Patienten. Sie unterschlagen, dass das Gesetz aus-drücklich vorsieht, dass die Budgets Altersstruktur, Preis-entwicklung und Innovation zu berücksichtigen haben.Wenn durch medikamentöse Behandlung Einsparungenin der stationären Versorgung erzielt werden, können dieArzneimittelbudgets in diesem Umfang sogar über denGrundlohnsummenanstieg steigen. Richtgrößen sieht dasGesetz bereits vor. Der einzelne Arzt kann darüber hinausPraxisbesonderheiten geltend machen. Das Arzneimittel-budget führt nicht dazu, dass rationiert werden muss; viel-mehr hat der Patient einen Anspruch auf die notwendigenArznei- und Heilmittel. Wenn der Arzt bei nachgewiese-ner wirtschaftlicher Verordnung seine Richtgröße über-schreitet, wird er nicht in Regress genommen. Ohnehin –das will ich deutlich sagen – ist der Regress der letzteSchritt. Im ersten Schritt sollen die Selbstverwaltungs-partner die Ärzte, die ihre Richtgrößen wegen un-wirtschaftlicher Verordnung überschreiten, frühzeitig imJahr informieren und sie beraten. Nur wer sich beratungs-resistent verhält und weiter unwirtschaftlich verordnet,wird individuell in Regress genommen. Eine Überschrei-tung des Arznei- und Heilmittelbudgets führt nicht auto-matisch zum kollektiven Regress.
Vielmehr haben die Selbstverwaltungspartner zweiJahre die Möglichkeit, eine Überschreitung durch bessereSteuerung auszugleichen. All dies steht in dem Gesetz,das seit 1. Januar dieses Jahres gilt.Herr Kollege Dr. Thomae, Sie sollten das nicht unter-schlagen. Das alles negieren Sie. Wir werden dies im Aus-schuss ausführlich diskutieren. Ich bin überzeugt, dass Siedort schlechte Karten haben werden.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Wolf Bauer.
Frau Präsidentin! MeineDamen! Meine Herren! Lieber Herr Kirschner, ichmöchte eines richtig stellen – wir haben uns schon einmaldarüber unterhalten –: Wenn Sie Statistiken der einzelnenKassenärztlichen Vereinigungen nehmen – solche gibt es –,dann werden Sie feststellen, dass es eine bestimmte An-zahl von besonders häufigen Erkrankungen in den einzel-nen Kassenärztlichen Vereinigungen gibt. Nehmen Siezum Beispiel die Diabetiker-Statistik: Wenn die Anzahlder Diabetiker in einer Kassenärztlichen Vereinigunghöher ist als in einer anderen, dann sind auch die Arznei-mittelausgaben automatisch dort höher. Das ist etwasganz Logisches. Das muss man doch berücksichtigen.Man darf das nicht so pauschal darstellen, wie Sie es tun.
Auch Sie kennen sicherlich die Umfrage der Univer-sität Bremen. Laut dieser Erhebung fühlen sich 27,4 Pro-zent der Versicherten nicht so versorgt, wie es eigentlichsein müsste.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Klaus Kirschner9876
Als Erklärung steht in der Antwort der Bundesregierungletztendlich nichts anderes, als dass eine nicht ausrei-chende medizinische Versorgung ein Verstoß gegen dievertragsärztlichen Pflichten sei. So einfach kann man sichdas nicht machen. Man muss schon etwas seriöser an dieSache herangehen.Ich möchte es gleich vorwegnehmen: Dem Antrag derF.D.P.-Fraktion auf Abschaffung des Arznei- und Heil-mittelbudgets stimmen wir zu.
Das heißt allerdings nicht, dass wir bereit sind, Stück fürStück an der Reparatur des so genannten Gesundheitsre-formgesetzes 2000 mitzuwirken.
Wir haben sowohl im Gesundheitsausschuss als auch imPlenum immer wieder darauf hingewiesen, dass diesesGesetz nicht dazu geeignet ist, unser Gesundheitssystemzu reformieren. Trotzdem haben SPD und Grüne das Ge-setz durch den Bundestag gepeitscht und alle Änderungs-anträge und Warnungen der Opposition abgeschmettertbzw. ignoriert.
Schließlich waren es auch die Koalitionsparteien, diedavon überzeugt waren, dass sie nicht alles anders, abervieles besser machen. Was ist bei diesem „Bessermachen“ –das ist die viel interessantere Frage – herausgekommen?Es ist etwas dabei herausgekommen, nämlich die Ein-sicht, dass Ihre Reform reformiert werden muss.
Das SPD-interne Diskussionspapier von Frau Schaich-Walch hat gezeigt, dass es so wie bisher nicht weitergehenkann und dass Sie in eine Sackgasse geraten sind.
Es ist noch etwas anderes dabei herausgekommen,nämlich die späte – aber nicht zu späte – Einsicht, dassman die Zusammenarbeit mit der Opposition suchenmuss. Wir sind zu einer konstruktiven Mitarbeit bereit.Wir sind allerdings nicht bereit, uns in die Mitverantwor-tung zwingen zu lassen, nachdem der Karren im Drecksteckt.
Also, Frau Ministerin: Legen Sie ein überzeugendesGesamtkonzept vor. Es muss allerdings wirklich ein Ge-samtkonzept sein und darf nicht nur aus Restanten einesbereits gescheiterten Gesetzes bestehen. Das bedeutetnatürlich auch, dass Sie von der Budgetierung Abstandnehmen müssen.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-tion – –
– Ich meine natürlich: von der Koalition; der Versprecherlässt sich noch korrigieren; wir waren so lang in einer Re-gierungskoalition, dass ein solcher Versprecher schon ein-mal vorkommen kann. Also, wenn Sie der Oppositionnicht glauben, dass die Budgetierung nicht hilfreich ist,dann glauben Sie doch wenigstens den Experten, diewährend einer Anhörung im September des vergangenenJahres zu diesem Thema fast einmütig das Gleiche gesagthaben. So erklärte zum Beispiel der SPD-StaatssekretärProfessor Dr. Azzola:Die Preisgabe des Ziels der Gewährleistung derFinanzierung aller medizinisch notwendigen undzweckmäßigen Leistungen stellt einen gesetzgeberi-schen Rückschritt und keine Reform dar.
– Für die SPD-Abgeordneten? Nein, die haben das ver-standen.
Ich weiß ja, dass Sie, meine Damen und Herren von derKoalition, im Wahlkampf zum Beispiel versprochen ha-ben, die Zuzahlungen zu Arzneimitteln marginalzurückzuführen. Ich finde es unfair, dass Sie den Versi-cherten – das haben Sie damals nicht gesagt – das Geld,das diese bei den Zuzahlungen sparen, auf der anderenSeite heimlich, still und leise wieder dadurch aus der Ta-sche ziehen,
dass Sie die medizinische Versorgung rationieren undnicht mehr allen das zur Verfügung stellen, was sie brau-chen. Das finde ich sozial ungerecht und unfair den Ver-sicherten gegenüber.
Wir waren auch nicht stolz auf die Höhe der Zuzah-lungen während unserer Regierungszeit. Aber eines mussich sagen: Immerhin haben wir die Höhe der Zuzahlungendurch die Sozialklausel und die Überforderungsklauselsozial verträglich gestaltet. Ich erinnere daran: 24 Milli-onen Versicherte mussten überhaupt keine Zuzahlungenleisten.
– Einverstanden, aber das spielt in diesem Zusammen-hang keine Rolle. Ausschlaggebend ist doch, dass 24 Mil-lionen Versicherte keine Zuzahlungen leisten mussten.Jetzt ist es so weit, dass ein Teil der Leistungen für dieKinder zu 100 Prozent selbst gezahlt werden muss.Ich möchte Sie auch noch auf etwas anderes hinweisen,was mir auch sehr wichtig erscheint. Sie können zwar un-sere Vorschläge kritisieren und meinen, alles besser ma-chen zu können als wir. Aber, meine Damen und Herrenvon der Koalition, wir hatten bis zum Zeitpunkt des Re-gierungswechsels dafür gesorgt, dass ein Defizit von6 Milliarden DM abgebaut worden ist und dass die GK-Ven in den Jahren 1997 und 1998 einen Überschuss inHöhe von jeweils 1,1 Milliarden DM hatten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Dr. Wolf Bauer9877
– Die durchschnittlichen GKV-Beitragssätze waren sta-bil; Lohnnebenkostenerhöhungen konnten gestoppt wer-den.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Bauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kirschner? – Bitte, Herr Kollege Kirschner.
Herr Kollege Dr. Bauer, ist
Ihnen eigentlich nicht geläufig, dass in Ihrer Regierungs-
zeit der Beitragssatz von 12 Prozent auf 13,5 Prozent ge-
stiegen ist und dass die Zuzahlungen auf insgesamt mehr
als 20 Milliarden DM angewachsen sind? Wollen Sie das
negieren?
Die Zuzahlungen habenSie lediglich um ein Minimum zurückgeführt. Und wasden Beitragssatz angeht: Ich sprach von den Beitragssat-zerhöhungen in den letzten Jahren. Für diese Zeit gilt ge-nau das, was ich Ihnen eben geschildert habe.
Während des Regierungswechsels – ich sage es nocheinmal – war genügend Zeit vorhanden, um gemeinsamüber eine solide und zukunftsorientierte Reform des Ge-sundheitswesens zu diskutieren. Sie aber haben unüber-legten Aktionismus an den Tag gelegt.
Als Zeugin nenne ich die Bundesgesundheitsministerin,die ich nicht aus der Kritik nehmen will, wenn ich zitiere,dass sie Ihnen damals Folgendes nahe gelegt hat:Aber zuerst beschließen und sich danach öffentlichüber das zu beklagen, was man beschlossen hat, istweder überzeugend, noch hat es politisches Format.
Jeder in diesem Haus müsste einsehen, dass eine Bud-getierung die demographische Entwicklung nicht berück-sichtigt.
Jeder müsste einsehen, dass eine Budgetierung nur wenigPlatz für Innovationen in der Medizin bietet. Jeder müssteeinsehen, dass die Budgetierung dem Fünften Buch Sozi-algesetzbuch nicht gerecht wird, nach dem jedem Versi-cherten notwendige Leistungen zugesichert werden.
Von dem Wachstumsmarkt Bundesrepublik Deutschlandund seinen Standortfaktoren, die eine nicht zu vernach-lässigende Rolle spielen, will ich hier gar nicht sprechen.
Wenn wir eine wirkliche Reform wollen, Herr Kirschner,dann müssen wir die Eigenverantwortung stärken.
Wenn man die Eigenverantwortung stärken will, danndarf man eben nicht das tun, was Sie getan haben, näm-lich die Wahlmöglichkeiten der Versicherten in Bezug aufKostenerstattung, Selbstbehalte, Nichtinanspruchnahmevon Leistungen und damit auch in Bezug auf Beitrags-rückerstattung radikal einschränken.Wenn Sie die Eigenverantwortung stärken wollen,dann müssen Sie Transparenz in das System hineinbrin-gen. Sie müssen dem Patienten sagen, was seine Behand-lung kostet. Wenn Sie die Eigenverantwortung stärkenwollen, dann müssen Sie natürlich auch die Absicherungvon Bagatellerkrankungen, von medizinisch nicht not-wendigen Leistungen in die Einzelverantwortung legen –mit allen damit zusammenhängenden Problemen. Wereine Vollkaskoversicherung wählt, der muss entsprechendmehr als derjenige bezahlen, der nur Kernleistungen inAnspruch nimmt. Das geben wir gerne zu.
– Es gibt bereits Definitionen. Wir können gemeinsamversuchen, das vernünftig zu definieren. Wenn das ge-lingt, dann kommen wir weiter.
Ich will nur noch eines sagen, was mir wichtig er-scheint: Wir müssen endlich auch einmal die GKVen nachversicherungsfremden Leistungen durchforsten undaus ihnen das herausnehmen, was nicht hineingehört.
– Nein, wir hatten dazu keine Zeit.
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Ich muss michbeeilen; sonst läuft mir die Zeit davon. Ich würde Ihnengern mein Beispiel, den Schwangerschaftsabbruch, nähererläutern: Wenn das Haus mehrheitlich beschließt – daranwar ich nicht beteiligt –, den Schwangerschaftsabbruchüber die medizinische Indikation hinaus auch bei Vorlie-gen anderer Indikationen zu legitimieren, dann muss dieGesellschaft und nicht die GKV die Kosten dafür über-nehmen, dann ist die Solidargemeinschaft gefragt. Wiralle, die das politisch wollen, sind gefragt und die Ange-legenheit muss anders finanziert werden.Aber ich will nicht nur kritisieren; vielmehr möchte ichauch die notwendigen Steuerungsinstrumente – KollegeDr. Thomae hat schon einige genannt – nennen. Ich er-wähne schlagwortartig: bedarfsgerechte Richtgrößen, Re-gelleistungsvolumina, Fallpauschalen. Das sind Instru-mente, die wir weiterentwickeln können und die weiter-entwickelt werden müssen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Dr. Wolf Bauer9878
Wir haben also genug Ansatzpunkte; es gilt, sie in ver-nünftiger Art und Weise umzusetzen. Es muss uns einfachgelingen, von Budgetierungen und damit von Rationie-rungen wegzukommen. Das muss unser Ziel sein.
Ich hätte jetzt gern noch ein Wort dazu gesagt, dass esauch nicht sein darf, dass Sie die Rationierungen durch ir-gendwelche Hintertürchen umzusetzen versuchen. Mirscheint das manchmal mit der Positivliste so zu sein. Abermit Sicherheit war es bei der 10. AmG-Novelle so. Daversuchten Sie ja auch, still und heimlich eine ganzeReihe von Arzneimitteln vom Markt zu nehmen.
Auch diese stehen letztendlich den Patienten nicht mehrzur Verfügung. Auch das ist eine Rationierung.
Das hat, wenn auch indirekt, Auswirkungen auf die GKV.Sie werden in diesem Haus immer wieder unsere Kritikhören, wenn Sie solche Versuche unternehmen. Wir wer-den das nicht zulassen, weil wir Verantwortung für dieGKV und deren Patienten und Versicherten tragen.
Hier greife ich zum ersten Mal das auf, was Sie gesagthaben, und unterstütze Sie: Wenn wir eine Reform ma-chen, muss der Patient im Mittelpunkt stehen. Nur, HerrKirschner, dann stellen Sie doch mit Ihren Mitstreiternden Patienten endlich einmal in den Mittelpunkt, anstattihn permanent zu bevormunden und ihm zu sagen, was eran Leistungen braucht. Lassen Sie doch den Versichertenein bisschen darüber mitbestimmen. Fragen Sie ihn dochendlich einmal, was er in die gesetzliche Krankenversi-cherung einzubringen bereit ist.
Aber ich komme noch einmal ganz kurz auf die 10. No-velle zum Arzneimittelgesetzes. Da wird von einem Kö-nigsweg gesprochen. Das hört sich natürlich wunderbaran. Ich hoffe nur, dass Sie nicht noch mehr solcher „Kö-nigswege“ auf Lager haben.
– Holzwege klingt in diesem Zusammenhang besser alsKönigsweg. Wir werden konstruktiv mitarbeiten und allestun, damit den Versicherten der GKVnicht das widerfährt,was Sie ihnen antun wollen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Bun-
desministerin für Gesundheit, Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der KollegeBauer wird mir sicherlich gleich noch Ort und Anlass desZitats, das er gerade von mir gebracht hat, nachreichen,wie es hier parlamentarischer Brauch ist.Wenn man all Ihre Rhetorik wegnimmt, dann bleibt –das ist schon ganz interessant –, dass Sie sagen, es sollealles gemacht werden, was die Leute wollen, und manwerde sehen, dass sie dafür auch irgendwie privat bezah-len würden.
– Nein.Das Interessante ist doch – hier waren die Ausführun-gen zur 10.AmG-Novelle gerade sehr hilfreich –, dass Siedamit den Eindruck erwecken, dass alles, was wir machenwollen, um Arzneimittelverschreibungen rational zu ma-chen, dort Überflüssiges zu vermeiden und die Qualität zusichern, falsch sei. Aber die Negativliste ist nichts Über-flüssiges. Die Positivliste will die Medikamente nachQualität vergleichen. Mit der 10. AmG-Novelle sollenMedikamente qualitätsgesichert werden, die seit Jahr-zehnten ungeprüft auf dem Markt sind.
Das ist eine Frage des Verbraucherschutzes. Sie lehnenall dies aber ab. Es ist Ihnen irgendwie immer nicht recht.In diesem Zusammenhang müssten Sie sagen, dass esfür den Gesundheitsschutz in diesem Lande notwendigist, 40 000 Medikamente zu haben, während alle anderenLänder um uns herum mit einem Bruchteil davon aus-kommen, ohne dass dort davon die Rede wäre, die Men-schen seien deswegen weniger gesund als bei uns.Hier sind Sie einfach inkonsequent. Mit dem Vor-schlag, dass es irgendwelche Richtgrößen geben müsse,geben Sie ja zumindest zu, dass offensichtlich ein Bedarfan Steuerung des Arzneimittelmarktes besteht. Hier sindSie argumentativ ganz schwach auf der Brust.
Sie lehnen jedes Instrument, das wir diskutieren und um-setzen, um gute Arzneimittelverschreibungen zu unter-stützen, ab. Sie sagen aber auch nicht, dass dann, wennman es so macht, wie Sie es sich jetzt vorstellen, Sie ent-weder den Markt teilen und sehr viele private Zuzahlun-gen einführen müssen oder alle Beiträge der Versichertensteigen müssen. Dieser Weg steht uns meines Erachtensaber nicht mehr offen, weil die Menschen in diesemLande schon genug belastet sind.
Da Sie also Richtgrößen vorschlagen, geben Sie zu-mindest zu, dass man im Arzneimittelmarkt irgendetwassteuern muss oder dass er wenigstens nicht problemlosfunktioniert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Dr. Wolf Bauer9879
– Ja, das, was Sie gesagt haben.Jetzt reden wir noch einmal über Richtgrößen. WennSie sich einmal das Gesetz, das Sie so heftig kritisieren,anschauen – das würde ja vielleicht helfen –, dann werdenSie feststellen, dass die Richtgrößen auch in unserem Ge-setz zur Arzneimittelbudgetsteuerung enthalten sind.
Individualregress geht nämlich erst einmal vor Kollek-tivregress. Auf diese Weise finden die Wirtschaftlichkeits-überprüfungen statt.
Das heißt, es geht darum, dass die Ärzte herangezogenwerden sollen, die eine unwirtschaftliche Verordnungs-weise nicht widerlegen können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Aribert
Wolf?
Nein. – Wir haben dieses Instrument geschaffen und ha-ben, damit es schneller greift, den Schwellenwert, bei demeine Überprüfung einsetzt, herabgesetzt.Übrigens haben ja wir die unbegrenzte Kollektivhaf-tung abgeschafft, die noch in Ihrem Gesetzentwurf stand,und die Haftung auf 5 Prozent der Budgetsumme redu-ziert. Wir haben auch – das war in Ihrer Budgetierungs-politik jahrelang nicht vorgesehen – ausdrücklich gesagt,medizinische Innovationen müssen bei der Festlegungdes Budgets berücksichtigt werden.
Außerdem soll – davon war hier eben schon die Rede –auch ein Ausgleich über Jahre hinweg möglich werden.Übrigens: Wenn die Richtgrößen, für die auch Sie ein-treten, nicht angemessen festgesetzt werden, liegt das ander Selbstverwaltung und nicht am Bundesge-sundheitsministerium. Auch das sollte man in diesem Zu-sammenhang einmal sagen.Die Ablösung von Budgets durch Richtgrößen habenSie ja schon einmal vorgeschlagen und in ihr GKV-Neu-ordnungsgesetz hineingeschrieben.
Das Interessante ist ja, dass die Kassenärztlichen Vereini-gungen, obwohl Sie sich heute zu deren Sprachrohr ma-chen und sagen, sie würden das kritisieren und darunterleiden, von Ihrem Angebot kaum Gebrauch gemacht ha-ben. Es hat ja fast keine Kassenärztliche Vereinigung ge-geben, die von diesem Instrument Gebrauch gemacht hat.
Ich glaube, dass das ein ganz interessanter Punkt ist: Esgibt offenbar doch einen Unterschied zwischen den For-derungen, die auf politischer Ebene von der Ärzteschafterhoben werden, und den Dingen, die aus der Perspektivedes einzelnen Arztes nötig sind.In einem einzigen Punkt gebe ich Ihnen Recht: Diemangelnde Datentransparenz stellt ein Problem dar. DieDatengrundlage für die Budgetsteuerung ist nicht gut ge-nug. In unserem Gesetz war aber all das drin; Sie habendas über den Bundesrat verhindert. Es war dort ein Ab-schnitt über Datentransparenz enthalten, der uns wesent-lich weitergeholfen hätte. Eine verbesserte Datengrund-lage wäre im Übrigen die mindeste Voraussetzung dafür,wenn Sie die Arzneimittelbudgets ausschließlich überRichtgrößen steuern wollten. Dann müssten nämlich nochwesentlich mehr Anforderungen an die Qualität der Datengestellt werden, weil dann der einzelne Arzt hätte haftenmüssen.Ich glaube, dass es ein Irrweg ist, zu denken, dass dasSteuerungsproblem ausschließlich über die Richtgrößengelöst werden könnte
und so eine Art individuelles Arztbudget eingeführt wird.An der Tatsache, dass jetzt schon sehr viele Missver-ständnisse vorhanden sind, die sehr häufig zu Ärgerführen, können Sie sehen, dass das Problem auf dieseWeise nicht zu lösen ist.
Ich finde, Sie sind am Zuge.
Eingangs habe ich eben gesagt: Allen unseren Bemühun-gen zur Qualitätssicherung, die dazu dienen, um in die-sem außerordentlich unübersichtlichen Arz-neimittelmarkt in Deutschland die Qualität zu erhöhenund eine wirtschaftlichere Verordnungsweise für die ein-zelnen Ärztinnen und Ärzte zu erleichtern, verweigern Siesich. Sie brauchen deshalb hier nicht Krokodilstränen zuvergießen und so zu tun, als seien Sie die Stimme der ein-zelnen Ärzte.
Sie tun die ganze Zeit so, als hätten wir es bei derArzneimittelverordnung mit einer Art Naturgesetz zu tunund als ob wir diejenigen seien, die sich fälschlicherweisediesem Naturgesetz in den Weg stellen. Das ist falsch. Daswissen auch Sie ganz genau. Dass die KassenärztlichenVereinigungen verantwortlich in die Aufgabe einbezogenwerden, hauptsächlich für eine wirtschaftliche Verord-nungspraxis zu sorgen, ist doch Ausdruck des Sicherstel-lungsauftrages. Ich habe bislang noch nicht gehört, dasssie den abschaffen wollen. Das will heißen, dass die Kas-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Bundesministerin Andrea Fischer9880
senärztlichen Vereinigungen eine gemeinsame Verant-wortung sowohl bezüglich der positiven Auswirkungenals auch der schwierigen Auswirkungen des Sicherstel-lungsauftrages tragen. Das kann man sich nicht aussu-chen. Dass sie diese aber höchst unterschiedlich wahr-nehmen, haben wir eben schon gehört und das zeigen auchdie Zahlen.
Wenn man den Schutz, den der Sicherstellungsauftragbietet, haben will, dann muss man auch die Aufgaben er-ledigen, die damit untrennbar verbunden sind.Mit Ihrem Antrag können Sie vielleicht kurzfristig po-pulistisch ein paar Punkte machen, aber für die Gesund-heitspolitik bringt er keinen Erkenntnisfortschritt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Lieber Kollege Thomae, ich habe einen
Fakt in Ihrem Antrag nicht gefunden und Sie haben ihn
auch nicht in Ihrer Rede benannt. Ich glaube aber, dass Sie
wissen, dass es bei der Arzneimittelversorgung natürlich
Rationalisierungsreserven gibt und dass das komplexe
Ursachen hat. Es sind unserer Meinung nach nach wie vor
zu viele und vor allem auch zu viele ungeprüfte Medika-
mente auf dem Markt. Auch der Einfluss der pharmazeu-
tischen Industrie auf das ärztliche Verordnungsverhalten
führt zusammen mit vergleichsweise hohen Arzneimittel-
preisen zu überhöhten Kosten beim Medikamentenver-
brauch.
Nachdem die Vorgängerkoalition auf diese Entwick-
lung bestenfalls halbherzig reagiert hat, griff die jetzige
Regierung zu einer strikten Verschärfung der Budgetie-
rung. Damit hat sie das Problem aber nur einseitig auf den
Rücken der Ärzte verlagert; denn der jetzt wirkende Ein-
spardruck, meine Damen und Herren von der Koalition,
senkt eben nicht nur fragwürdige Leistungen, sondern –
das ist das Schlimme – auch den medizinisch notwendi-
gen Mitteleinsatz.
Ob Sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, meine Da-
men und Herren von der Koalition: Es ist leider Realität.
Die Patienten erleben zunehmend, dass erforderliche Me-
dikamente nicht mehr verschrieben werden. Die Wahrheit
ist auch: Die Verlierer sind vor allen Dingen die sozial
Schwächeren und jene, die sich nicht wehren können.
Auf solche Weise werden soziale Gerechtigkeit und
Chancengleichheit in der gesundheitlichen Versorgung
infrage gestellt.
Hinzu kommt, dass es in der Arzneimittelversorgung
aber auch – ich betone, Herr Kirschner: aber auch – große
Felder gibt, in denen Nachholbedarf herrscht. Ich denke
dabei an Bluthochdruck- und Diabeteskranke
oder an die bestehenden Defizite in der medikamentösen
Behandlung bei multipler Sklerose oder bei Demenz-
krankheit.
Den Vorschlag der F.D.P., fachgruppenspezifische
Richtgrößen einzuführen, bei denen auch Praxisbeson-
derheiten berücksichtigt werden, möchte ich gar nicht in-
frage stellen.
Um die Probleme zu lösen, ist er aber nicht ausreichend.
Unseres Erachtens setzt eine Aufhebung des Budgets ein
ganzes Bündel von Maßnahmen im Sinne einer überzeu-
genden Arzneimittelpolitik voraus.
Dazu gehört unter anderem die Herstellung von mehr
Transparenz – das ist heute schon gesagt worden –, nicht
zuletzt mithilfe einer Positivliste. Sie lehnen sie ab; wir
möchten sie gerne.
Für wichtig halten wir die Verbesserung der ärztlichen
Aus- und Weiterbildung auf dem Gebiet der Arzneimit-
teltherapie sowie mehr herstellerunabhängige fachliche
Information und Fortbildung der Ärzte. Auch sollten die
Selbstmedikation begrenzt und Laienwerbung für Arznei-
mittel eingestellt werden. Ich weiß wirklich nicht, was Sie
unter mehr Einbeziehung der Patienten verstehen. Woher
soll ich wissen, welche Medizin im Falle einer Krankheit
für mich die richtige und die einzig wahre ist? Ich glaube,
so geht es vielen Menschen.
Der Umgang mit dem besonderen Gut Arzneimittel
darf nicht primär an Umsatz- und Gewinnmaximierung,
sondern muss in erster Linie am medizinisch Erforderli-
chen orientiert sein. Wenn das erreicht ist, erübrigt sich
eine Budgetierung. Dann entfällt nämlich die Notwendig-
keit staatlicher, bürokratischer Eingriffe. Nur wenn das
erfüllt ist, können wir uns der Forderung nach Abschaf-
fung des Arznei- und Heilmittelbudgets anschließen. Un-
ter den jetzigen Bedingungen ist Ihr Antrag für uns nicht
zustimmungsfähig.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin indieser Debatte ist die Kollegin Gudrun Schaich-Walch,SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Bundesministerin Andrea Fischer9881
Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie sich intensiv mit
diesem Thema auseinander setzen, dann wissen Sie, dass
im Bereich der Arzneimittelversorgung wie auch in ande-
ren Bereichen unseres Gesundheitssystems Fehlversor-
gung, Unterversorgung und Überversorgung zu finden
sind. Mit diesem Problem geht die Ärzteschaft in der Bun-
desrepublik sehr unterschiedlich um.
Der größte Teil unserer KVs in der Bundesrepublik
Deutschland ist bereit, auch die ökonomische Verant-
wortung für die Ausgaben im Gesundheitsbereich zu
übernehmen. Es gibt einen kleinen Teil, der dazu nicht be-
reit ist. Ein großer Teil der Ärzte tut es bereits. Wir kön-
nen feststellen, dass Ihre Behauptung, Innovatives würde
nicht verordnet, nicht zutreffend ist. Wir können nämlich
klar erkennen, dass die Zahl der Verordnungen abgenom-
men hat. Dafür ist aber die Wertigkeit der Verordnungen
– also betreffend das Preisgefüge und damit das In-
novative – in vielen Bereichen auf ein vernünftiges Maß
gestiegen.
– Das können Sie am Beispiel der KVs in Hessen und in
Südbaden erkennen.
Wir haben es – leider Gottes – noch nicht in allen Be-
reichen geschafft. Solange wir nicht in all diesen Berei-
chen einen verantwortungsbewussten Umgang der Ärzte-
schaft gegenüber dem medizinisch Notwendigen, aber
auch die ökonomische Verantwortung gegenüber den ver-
sicherten Patientinnen und Patienten haben, können wir
Arznei- und Heilmittelbudgets – davon bin ich überzeugt
– nicht abschaffen.
Mit Ihrem Vorschlag der Richtgröße treffen Sie nur ei-
nen Punkt:
Bei der Richtgröße tun Sie etwas für die Menge, Sie tun
aber überhaupt nichts für die Qualität.
Dagegen haben wir im Koordinationsausschuss mit den
Leitlinien sehr wohl beides im Blick. Sie können nicht
einfach nur auf die Menge gehen, dann noch auf die
10. Novelle zum Arzneimittelgesetz zurückgreifen und
sagen: Die Verbraucher müssen alles haben, was sie wol-
len, wir können nichts vom Markt nehmen. Natürlich
muss man im Sinne des Verbraucherschutzes das vom
Markt nehmen, was nicht nach europäischem Qualitäts-
standard zugelassen ist. Dazu hatten Sie 20 Jahre Zeit.
Wir dagegen haben das umgesetzt und das ist, denke
ich, eine Verbesserung für die Verbraucher.
Wenn Sie sich so vor den Verbraucher stellen und dessen
Schutz einklagen, dann frage ich mich: Wie konnten Sie
von der F.D.P. eigentlich vorige Woche beantragen, das,
was wir für die Verbraucherberatung eingestellt haben,
wieder abzuschaffen und aus dem Budget herauszuneh-
men?
Wenn Sie die Verbraucherberatung wieder abschaffen,
dann frage ich mich, wie Sie zu den Patienten kommen
wollen, die letztendlich irgendwann mit beurteilen kön-
nen, was für sie sinnvoll und notwendig ist und wann sie
Einsatz brauchen. Das ist mir wirklich schleierhaft.
Jetzt zu etwas, von dem ich glaube, dass es Richt-
größen begleiten muss, nämlich zur Qualität.
Wir brauchen entweder eine Fortschreibung der Negativ-
liste – da wären Sie gefordert mitzumachen –, oder wir
brauchen die Positivliste. Zudem brauchen wir zur Auf-
rechterhaltung einer vernünftigen Gesundheitsversor-
gung Qualitätszirkel. Nur dann werden wir die durchaus
knappen Mittel in der GKV sinnvoll und vernünftig ein-
setzen können.
Sie wollen aber nicht eine Steuerung der Menge plus
mehr Qualität, Sie schlagen in Ihrem Gesetzentwurf ein-
zig und allein mehr Geld für das System vor.
Sie sagen nicht einmal, von wem dieses Geld kommen
soll – bestenfalls im Wege von Zuzahlungen.
Ich bitte Sie ganz ernsthaft, sich die Untersuchung von
Professor Lauterbach anzuschauen, der sich mit den Zu-
zahlungen beschäftigt hat. Dabei ist nämlich eines sehr
deutlich herausgekommen: Zuzahlungen sind nicht sinn-
voll zum Zweck der Verbrauchssteuerung und im Bereich
der chronisch Kranken,
Eine Gruppe, die sowieso schon gesundheitlich gekniffen
ist, würde mit Zuzahlungen noch einmal gekniffen. Diese
Gruppe haben wir jetzt entlastet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Schaich-Walch,gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bauer? –Nein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 20009882
Der zweite Ge-
sichtspunkt ist dann: Wer leistet Zuzahlungen und bei
wem haben die Zuzahlungen dazu geführt, dass die
medizinische Leistung nicht mehr so in Anspruch genom-
men worden ist, wie das vorher der Fall war? Bei dieser
Untersuchung stellt sich eines ganz deutlich heraus: Es
hat steuernde Wirkung nur bei den Menschen mit den
niedrigsten Einkommen in der Bundesrepublik. Es kann
aber doch nicht Zielsetzung sein, dass ich denjenigen, die
schon wenig Einkommen haben,
die sozial schlecht gestellt sind und damit zum großen Teil
auch schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung ha-
ben, noch Zuzahlungen aufbrumme. Das kann es nicht
sein.
Deshalb müssen wir zunächst einmal zusehen, die
Überversorgung, Unterversorgung und Fehlversorgung
abzubauen und die Reserven im System auszunutzen.
Dann kommt vielleicht irgendwann der Zeitpunkt, wo wir
darüber reden müssen, ob das Geld, das wir dann haben,
ausreicht. Aber solange wir von den Versicherten die Gel-
der abkassieren, müssen sie von uns auch die Garantie be-
kommen, dass wir genau prüfen, was damit passiert. Wir
müssen fragen: Ist die Qualität in Ordnung? Ist die Menge
in Ordnung? Wir dürfen uns nicht ausschließlich an der
Interessenlage und der Einkommenssituation derer aus-
richten, die im Gesundheitsbereich arbeiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3299 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 4
auf
9. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sondergeneralversammlung der Vereinten Na-
tionen: Überprüfung der Beschlüsse der Pekin-
gerWeltfrauenkonferenz – Peking + 5
– Drucksache 14/3386 –
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
SPD sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-
Gerigk, Christian Simmert, Kerstin Müller ,
Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN
Sondergeneralversammlung der Vereinten Na-
tionen: Nationale Umsetzung der Beschlüsse
der PekingerWeltfrauenkonferenz
– Drucksache 14/3385 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das
Wort für die SPD-Fraktion der Kollegin Christel
Hanewinckel.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Fünf Jahre nach derWeltfrauenkonferenz in Peking 1995 sollten nach demWillen der Regierungen, die die Aktionsplattform unter-zeichnet haben, die nationalen Aktionspläne umgesetztsein. Wenn ich heute, 14 Tage vor der UN-Sondergene-ralversammlung, Bilanz ziehe, stelle ich fest, dass vondiesen fünf Jahren drei Jahre vertan worden sind – durchUntätigkeit und Passivität der damaligen Frauenministe-rin bzw. Regierung.
Unverbindliche Aussagen über unverbindliche Vorha-ben prägten die nationale Nachbereitungskonferenz imMärz 1996. Für Kreativität und Ideen, für Problem-anzeigen, aber auch Problemlösungen wurden dieNichtregierungsorganisationen als zuständig erklärt. Aberauch die Vorstellungen der Nichtregierungsorganisatio-nen verwandelten sich in den Händen der Frauenministe-rin zu Absichtserklärungen. Immer wieder forderten dieOpposition und die Nichtregierungsorganisationen, dassder Erfolg der Aktionsplattform nachdrücklich durch dasEngagement der Regierungen, internationalen Organisa-tionen und Institutionen auf allen Ebenen gewährleistetwird.Eine Frauenpolitik, die diese Bezeichnung verdient,haben wir erst seit Herbst 1998. Die Frauen in Deutsch-land haben bei der Bundestagswahl deutlich gemacht,dass sie eine Politik wünschen und fordern, die Macht,Verantwortung und Chancen zwischen Männern undFrauen teilt. Die rot-grüne Regierung hat sich in allen Po-litikfeldern darangemacht, Stück für Stück zu entrümpelnund sich der Diskriminierung von Frauen entgegenzustel-len.
Der Weg ist noch weit und vieles ist noch zu tun und zuverändern. Gleichstellungspolitik ist vor allem auf demArbeitsmarkt vonnöten. Noch immer bilden die Frauendie Spitze bei den Arbeitslosenzahlen und der Besetzungvon Teilzeitarbeitsplätzen, noch immer werden Frauenausgegrenzt, weil sie potenzielle Mütter sind, und noch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000 9883
immer haben Mädchen erhebliche Probleme bei der Su-che nach Ausbildungsplätzen.Das Programm „Frau und Beruf“ stellt die Weichen ineine andere Richtung und stößt in den Köpfen der Men-schen, vor allem der männlichen Menschen, Veränderun-gen an. Ein verändertes Gleichstellungsgesetz für den öf-fentlichen Dienst und auch für die Privatwirtschaft sindauf diesem Wege unverzichtbar und markante Punkte.
Die gesellschaftliche Realität bekommt in Deutschlandnach und nach ein anderes Gesicht. Unser Antrag enthältdie Auflistung all der Punkte, die in den vergangenen18 Monaten umgesetzt worden sind, und der Punkte, dienoch umgesetzt werden müssen. Ich hoffe sehr, dass dasganze Haus diesem Antrag zustimmen wird.Neben den konkreten Erfolgen der hauptamtlichen Po-litikerinnen und Politiker – denn es sind ja schließlich Re-gierungskonferenzen – möchte ich hervorheben, wiewichtig die Arbeit der Nichtregierungsorganisationenin allen Bereichen ist. Ohne das Engagement, den Druckund die Arbeit der Frauen in den Nichtregierungsorgani-sationen würden jede Regierung und jedes Parlamentziemlich alleine dastehen.
Ich danke den Frauen in den Organisationen inDeutschland, vor allen Dingen im Deutschen Frauenratmit seiner Vielzahl von Frauenverbänden, aber auch inden vielen anderen Verbänden, Vereinen und Initiativen.Sie sind es, die sich mit ihrer Zeit, ihren Ideen, ihren Er-fahrungen, ihrer Solidarität und oft auch mit ihrem Geldfür die Weiterentwicklung der Gleichstellung in diesemLand, in Europa und in der Welt einsetzen.Wer die Erklärung von Peking gelesen und sich durchdie Beschlüsse der Aktionsplattform gearbeitet hat, diedort vor fünf Jahren mühsam erarbeitet wurden, fragt sichvielleicht: Lohnt sich denn der Aufwand von solchenWeltkonferenzen? Die Weltfrauenkonferenzen sind Ver-anstaltungen von einer Woche. Die Ausgangspositionender Teilnehmerstaaten sind oft völlig unterschiedlich unddie Ergebnisse reichen den Frauen häufig nicht aus.Trotzdem sind ihre Wirkungen enorm. Sie schlagensich nieder in Beschlüssen von Regierungen und habenAuswirkungen auf Regionen und bis hin zu den Kommu-nen. Vor allen Dingen haben sie Einfluss auf die nationaleund internationale Rechtsprechung. Sie ermutigen dieeinzelnen Frauen und die Frauenverbände weltweit – dasist für mich der wichtigste Punkt –, sich für ihre Rechteeinzusetzen. Die Frauen und auch einzelne Männer wis-sen sehr gut, dass dies ein wirklich langwieriger und sehrmühsamer Prozess ist. Weltkonferenzen bieten Raum fürden Austausch von Erfahrungen und Lösungen zwischenFrauen aus den unterschiedlichsten Ländern, die sonstkeine Möglichkeit dazu haben.Ich hoffe sehr, dass die Nachfolgekonferenz in NewYork auch in Deutschland deutliche Auswirkungen habenwird. Ein Erfolg wäre es, wenn alle Landesregierungen inDeutschland begreifen würden, dass ohne Frauen keinStaat zu machen ist. Leider ist das noch außergewöhnlich.Deshalb ist das Vorgehen von Sachsen-Anhalt, wo es quaKabinettsbeschluss – er ist gerade erst getroffen worden –ständige Aufgabe aller Ministerinnen und Minister ist, dasZiel der Gleichstellung in allen Ministerien umzusetzen,mutig.
Ich hoffe sehr, dass die innerhalb des nächsten Jahres vor-gesehene Überprüfung der Umsetzung dieses Zieles deut-lich macht, dass sich Ministerinnen und Minister nicht nurdaran messen lassen müssen, sondern dass die Frauenlautstark Ergebnisse einfordern. Wenn dies alle Frauenund vor allen Dingen die Männer begriffen haben, dannmuss Gender-Mainstreaming auch in Deutschland keinFremdwort mehr sein.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Teilnahme an derWeltfrauenkonferenz in Peking war für mich ein großesErlebnis. In einer konzentrierten und konstruktiven At-mosphäre wurden mit Zuversicht und dem Willen voran-zukommen Fortschritte bei der Gewährung von Frauen-rechten und der Durchsetzung von Fraueninteressen er-reicht.Drei Ziele standen für die damalige deutsche Delega-tion unter Führung von Bundesfrauenministerin Nolte imVordergrund:Erstens. Das zentrale deutsche Anliegen, die Sicherungder Menschenrechte für alle Frauen, konnte festgeschrie-ben werden.Zweitens. Gewalt gegen Frauen wurde umfassend be-nannt und gebrandmarkt.Drittens. Die Forderung der sexuellen Selbstbestim-mung der Frau konnte verankert werden.Meine Damen und Herren, das waren Forderungen, diegemeinsam, über die Fraktionsgrenzen hinweg, getragenwurden. Es ging und geht darum, Frauen zu fördern,Chancengleichheit zu erreichen und das Gender-Main-streaming in der Politik zu verankern. Vieles wurde ge-tan. Aber es muss noch mehr getan werden, um voranzu-kommen.So ist es mir unbegreiflich, dass die rot-grüne Koalitionmit ihren frauenpolitischen Anträgen offensichtlich nichtden Wunsch nach gemeinsamer konstruktiver Arbeit mitder Opposition verbindet.
Trotz diverser Bemühungen war es nicht möglich, vorDienstag dieser Woche Ihre Anträge zur Verfügung ge-
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Christel Hanewinckel9884
stellt zu bekommen. Das ist für mich keine Zu-sammenarbeit. Sie wollen wohl nicht zusammenarbeiten.Statt zu polemisieren, Frau Hanewinckel, wäre es ange-messen gewesen, gemeinsam mit uns nach einer Lösungzu suchen. Ihre Forderungen sind nämlich konsensfähig.Aber wenn Sie mit vielen Worten versuchen, die wenigenkonkreten Aktivitäten der neuen Bundesregierung zu ka-schieren, können wir dem natürlich nicht zustimmen.Ich greife heute beispielhaft einen zentralen Punkt he-raus, der auch in den Forderungen Ihres frauenpolitischenAntrags zur Sondergeneralversammlung der VereintenNationen in New York enthalten ist: die Vereinbarkeitvon Erziehung und Erwerbsarbeit für Mütter und Vä-ter. Die CDU/CSU räumt, wie Sie wissen, diesem Ziel seitvielen Jahren einen großen Stellenwert ein. Im Gegensatzzur rot-grünen Koalition verstehen wir aber unter Verein-barkeit von Familie und Beruf nicht eine staatlich verord-nete Minimierung der Erziehungszeiten und eine Maxi-mierung der Erwerbstätigkeit.Wir haben in unserer Regierungszeit eine Frauenpoli-tik für alle Frauen gemacht. Ihr Zielsetzung geht sowohlan den Wünschen der Mehrheit der deutschen Frauen alsauch an den Bedürfnissen vieler Kinder vorbei.
Eine echte Wahlfreiheit für Mütter und Väter muss dasZiel sein. Dazu gehört aber sowohl die gleichzeitige Ver-einbarkeit von Familie und Beruf als auch die Möglich-keit, sich in bestimmten Phasen ganz der Kindererziehungwidmen zu können. Die bisherigen Aktivitäten der Bun-desregierung für Frauen fördern einseitig die Erwerbs-tätigkeit von Frauen.Um nicht missverstanden zu werden: Wir unterstützenjede sinnvolle Verbesserung der Chancengleichheit vonFrauen im Beruf und der Erwerbsmöglichkeit gerade vonMüttern. Dazu gehört die Flexibilisierung von Arbeits-plätzen. Eltern sollten wählen können, wann sie wo wielange arbeiten. Dann ist eine Vereinbarkeit von Familieund Beruf am ehesten möglich. Diese Rahmen-bedingungen aber müssen Teil einer echten Familien- undFrauenpolitik sein.Die von der Regierung immer wieder angepriesenenProgramme, allen voran das Programm „Frau und Be-ruf“, sind einseitig auf die Erwerbstätigkeit von Frauenausgerichtet. Selbst die geplante Änderung desErziehungsgeldgesetzes ist davon geprägt. Ich fordere Sieauf, bei der Neuformulierung dieses Gesetzes dafür zusorgen, dass nicht die Mehrheit der deutschen Frauen beiIhren Maßnahmen außen vor gelassen wird.
Viele Frauen – hoffentlich auch zunehmend Männer –wollen sich in den ersten Lebensjahren der Kinder ganzder Erziehung widmen;
ob nur einige Monate oder mehrere Jahre, ist allein Ent-scheidung der Eltern. Auch für diese Familienphase mussdie Frauen- und Familienministerin sinnvolle Rah-menbedingungen schaffen. Mit dem Erziehungsgeldge-setz hatten Sie die Chance dazu. Doch die Anhebung derEinkommensgrenzen wird nach Ihren Planungen sehr be-scheiden sein.Ganz besonders deutlich wird die Einseitigkeit derFrauenpolitik der Bundesregierung bei der geplantenBudgetregelung. Wenn Eltern, derzeit zu 98,5 ProzentMütter, das Erziehungsgeld nicht zwei Jahre, sondern nurein Jahr in Anspruch nehmen, erhalten sie dafür einen be-trächtlichen Bonus. Das Erziehungsgeld wird dann von600 auf 900 DM erhöht. Damit wird ein deutlicher Anreizgeschaffen, die elterliche Betreuung und Erziehung desKindes auf das erste Lebensjahr zu beschränken. Das isteinseitige Berufsförderungspolitik.
Auch die Anhörung zur geplanten Änderung desErziehungsgeldgesetzes am Montag hat deutlich ge-macht, dass alle Experten, unabhängig von ihrer politi-schen Orientierung, den Entwurf in vielen Punkten sehrkritisch beurteilen. Neben der inhaltlichen Kritik sind,wie so oft bei den Gesetzentwürfen dieser Bundesregie-rung, auch handwerkliche Mängel aufgezeigt worden.Gerade die Budgetregelung ist nach den Ausführungender Experten nahezu undurchführbar. Auch der man-gelnde Anreiz für Väter, Erziehungsurlaub zu nehmen,muss kritisiert werden, zumal die derzeitige Regelungnicht mehr den EU-Vorgaben entspricht, die einen eigen-ständigen Anspruch auf Erziehungsurlaub für Väter vondrei Monaten vorschreiben.
Wir fordern eine Verlängerung des gesamten An-spruchs auf Erziehungsurlaub um mindestens drei Mo-nate für die Eltern, die beide einen Teil des Erziehungsur-laubs in Anspruch nehmen. Dies wäre ein klares Signalfür Väter,
mehr Erziehungsverantwortung zu übernehmen, und da-mit auch ein wesentlicher Beitrag zur Frauenpolitik. Denndas Engagement der Väter in der Erziehung zu stärkenheißt immer auch, den Müttern mehr beruflicheFreiräume zu eröffnen. Gleichzeitig würde dem EU-Recht entsprochen.Meine Damen und Herren, noch einige Worte zu denvorliegenden frauenpolitischen Forderungen. In einemAntrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden,„die erfolgreiche Gleichstellungspolitik seit Übernahmeder Regierungsverantwortung ... fortzusetzen“. DieCDU/CSU fordert vielmehr, dass die Regierung den vie-len Worten ihrer Programme und Pläne und den zahlrei-chen „Wir werden prüfen“, „Es soll“ und „Es muss“ end-lich Taten folgen lässt.
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Maria Eichhorn9885
Die Forderung, das „Gender Mainstreaming“ durchge-hend zur Grundlage des Regierungshandelns zu machen,ist sicherlich notwendig. Wir als CDU/CSU-Fraktionwerden aber darauf achten, dass dabei Frauen mit derVielfalt ihrer Lebensentwürfe ernst genommen werden.
Auch wir sind dafür, dass sich Deutschland in NewYork – ich zitiere aus dem Antrag – „für weitere Maßnah-men zur Umsetzung der Aktionsplattform“ einsetzt unddie Beschlüsse der vierten Weltfrauenkonferenz bekräf-tigt und weiterentwickelt. Aber wir werden hier vor Ortdarauf achten, dass in der nationalen Umsetzung keineeinseitige Frauenpolitik betrieben wird, die einer großenZahl von Frauen in Deutschland nicht gerecht wird.
Frau Hanewinckel, am Beginn Ihrer Rede haben Sieauf Ihre großen Leistungen hingewiesen. Ich bin ge-spannt, wann Ihren Worten endlich Taten folgen werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die KolleginIrmingard Schewe-Gerigk.
Kollegen! Den Worten müssen Taten folgen; die KolleginEichhorn hat es gerade gesagt. Das ist auch meine Mei-nung; das ist auch die Konsequenz aus der Pekinger Welt-frauenkonferenz. Denn heute, nach fast fünf Jahren, hatsich die Lebenssituation von Frauen in den 189 Un-terzeichnerstaaten nicht wesentlich geändert oder verbes-sert.Ich gehe zunächst auf die Situation von Frauen welt-weit ein und beziehe mich dabei auf eine Bilanz der Ge-neralsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty Inter-national, Barbara Lochbieler. Ich zitiere:Trotz aller Versprechungen und Deklarationen, dievor fünf Jahren bei der 4. Internationalen Frauen-konferenz in Peking verabschiedet wurden, habendie Regierungen sehr wenig getan, um die Rechte derFrauen umzusetzen und um sie vor Menschenrechts-verletzungen zu schützen, denen sie einzig aufgrundihres Geschlechtes ausgesetzt sind. Der mangelhafteSchutz der Rechte der Frauen spiegelt den fehlendenpolitischen Willen vieler Regierungen wider, sub-stanzielle Veränderungen im Leben der Frauen her-beizuführen. Im Namen von kulturellen oder religiö-sen Interessen ignorieren viele Regierungen die Ver-pflichtungen, die sie auf der internationalen Bühneeingegangen sind.Es gibt also einen enormen Unterschied zwischen derweltweiten Rhetorik der Regierungen und der tatsächli-chen Umsetzung derRechte von Frauen. Zahlen sind daimmer sehr anschaulich; deshalb möchte ich folgendesBild zeichnen: Weltweit sterben täglich mehr Frauen undMädchen an geschlechtsspezifischen Übergriffen als anallen anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen.Fünf Jahre nach Peking werden mehr Frauen und Kindergehandelt als je zuvor. Täglich werden 6 000 Mädchenund Frauen Opfer von Genitalverstümmelungen; weltweitsind es 130 Millionen Frauen. Frauen werden außerdemzu Tode geprügelt, lebendig verbrannt, gesteinigt, sexuellmissbraucht. In Pakistan beispielsweise werden jährlichHunderte von Frauen wegen der Verletzung der Familien-ehre getötet. In Sierra Leone und im Sudan werden Tau-sende Mädchen und Frauen sexuell versklavt und ver-schleppt. In Bangladesch – wir haben das in den letztenMonaten verstärkt mit ansehen müssen – werden immermehr Frauen Opfer von Säureattentaten, ausgeführt vonzurückgewiesenen Männern. In Indien werden circa 5 000Frauen Opfer von Mitgiftmorden. Etwa 1 MillionMädchen in Südostasien kommen ums Leben, weil siemedizinisch schlechter versorgt und schlechter ernährtwerden als Jungen.In Kriegs- und Krisenregionen sind Frauen beson-ders gefährdet. Sie stellen 80 Prozent aller Flüchtlingeweltweit. Sind sie auf der Flucht, sind sie in viel höheremMaße ungeschützt. Sie sind sexuellem Missbrauch vonSoldaten, Behördenvertretern und anderen Männernschutzlos ausgeliefert. Frauenrechte sind Menschen-rechte, hieß es auf der Konferenz von Peking. Sie werdenweltweit immer noch mit Füßen getreten; sie werden imNamen von Religion, Tradition oder Kultur im öffentli-chem oder im privaten Bereich ihrer elementaren Men-schenrechte beraubt. Hierfür tragen Regierungen dieHauptverantwortung.Aber auch wir sind verantwortlich. Denn wir leben ineiner Welt und darum müssen wir positive Ansätze vonRegierungen und Nichtregierungsorganisationen in die-sen Ländern auch finanziell unterstützen. Ein wichtigesInstrument ist dabei, dass im Entwicklungszusammen-hang die Gleichstellung der Geschlechter ein eigenständi-ger Grundsatz ist.Das hat zur Folge, dass die finanziellen Mittel das Empo-werment und die gesellschaftliche Stellung der Frauenstärken.Die zunehmende Armut in vielen Ländern und dermangelnde Zugang der Frauen zu sozialen Diensten, Bil-dung und Ausbildung müssen zu Beginn des 21. Jahrhun-derts endlich ein Ende haben.
Frauen brauchen weltweit einen gerechten Zugang zuwirtschaftlichen Ressourcen. Auch darum ist bei Ent-schuldungsinitiativen ein geschlechtsspezifischer Zugangnotwendig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiges Zielder Weltfrauenkonferenz 1995 war die weltweite Rati-fizierung eines Zusatzprotokolls zur Frauenkonventionbis zum Jahre 2000. Nur wenn dieses Zusatzprotokoll vonzehn Staaten ratifiziert wird, kann es auch in Kraft treten.
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Maria Eichhorn9886
Dies ist bis heute leider noch nicht geschehen. Seit elf Jah-ren gibt es bereits das Übereinkommen der Vereinten Na-tionen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierungder Frau.Diese Vereinbarung wurde vor elf Jahren von 163 Staa-ten ratifiziert. Es fehlte jedoch bislang die Möglichkeit,dass Betroffene ihren Diskriminierungsfall von dem zu-ständigen UN-Ausschuss überprüfen lassen können.Ansonsten könnte der Ausschuss dem entsprechendenVertragsstaat Maßnahmen auferlegen, das Opfer ent-sprechend zu schützen. Um diese Möglichkeit zu ge-währleisten, wurde im Oktober 1999 von der Generalver-sammlung der Vereinten Nationen ein Zusatzprotokollverabschiedet. Ich bin froh, dass Deutschland zu den ers-ten zehn Staaten gehört, die dieses Zusatzprotokoll unter-zeichnet haben.
Ich hoffe, dass wir auch zu den Ersten gehören werden,die dieses Protokoll ratifizieren, damit es dann weltweit inKraft treten kann.Zur Situation der Frauen in Deutschland nenne ichdie Bereiche, die auch vom UN-Ausschuss als besonderskritisch angesehen wurden: die Situation der Frauen inOstdeutschland, die Bedingungen für Frauen auf dem Ar-beitsmarkt, die Situation der ausländischen Frauen inDeutschland und Gewalt gegen Frauen. Seit der Unter-zeichnung der Pekinger Plattform hat sich zwar einiges,aber bei weitem nicht genug verändert.Die Frauendiskriminierung in Deutschland wurde inden 16 Jahren der Kohl-Regierung nicht wesentlich abge-baut. Das zu erledigen ist dringlichste Aufgabe der rot-grünen Regierungspolitik.
– Ja, wir sind schon dabei. Sie werden es gleich hören.Die rechtliche Gleichstellung ist bei uns relativ weitfortgeschritten. Das hat aber nicht zu einer faktischenGleichstellung geführt. Wie ist es sonst zu erklären, dassdie Arbeitslosenquote von Frauen in den neuen Bundes-ländern bei 21 Prozent liegt? Wie ist es zu erklären, dassFrauen nur durchschnittlich 77 Prozent des Einkommensvon Männern verdienen?Aber nicht nur die Erwerbslosigkeit ist ein Problem.Auf dem Arbeitsmarkt herrschen vielfältige Formen derBenachteiligung vor. Die rot-grüne Koalition hat sichzum Ziel gesetzt, die Fehler der Vorgängerregierung zukorrigieren und neue Wege einzuschlagen. Noch in die-sem Jahr – Frau Eichhorn, jetzt komme ich zu den an-gekündigten Punkten – wird es ein Gleichberechtigungs-gesetz für den öffentlichen Dienst geben, das mehr als einPapiertiger ist. Durch dieses Gesetz werden Frauen ihreErwerbs- und Karriereansprüche besser durchsetzen kön-nen. Dieses Gesetz wird Mädchen zukünftig auch dieHälfte der Ausbildungsplätze garantieren. Neben der Aus-bildung wird es bei Einstellung und Beförderung zu Quo-tenregelungen kommen.Aber auch die Privatwirtschaft muss ihrer Verantwor-tung nachkommen und wir werden sie dabei mit einemGesetz unterstützen, aber auch entsprechende Anreize ge-ben. Dies geschieht zum Beispiel durch die Koppelungvon öffentlichen Aufträgen an frauenfördernde Maßnah-men. Wir werden auch dem europarechtlichen Grundsatz„Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ Rechnung tra-gen.Auch bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wur-den Frauen von der alten Regierung bis heute allein ge-lassen.
Bei der Zuweisung der Rollen der Geschlechter schulternSie den Frauen immer noch den Löwenanteil an der Haus-und Familienarbeit auf, während sie in der Erwerbsarbeitaußen vor bleiben. Noch immer ist es so, dass von 400 000Frauen, die in den Erziehungsurlaub gehen, nur die Hälftewieder an den Arbeitsplatz zurückkehrt. Das muss sichändern. Ich wundere mich, dass Sie, Frau Eichhorn, kriti-sieren, was hier alles fehle. Wo sind Ihre Anträge zumErziehungsurlaub und wo sind Ihre Anträge zur PekingerWeltfrauenkonferenz?
Hier wird die Neuregelung des Erziehungsurlaubsge-setzes entscheidende Veränderungen bringen. Wir werdenauch die Rolle der Väter stärken. Väter werden stärker indie Verantwortung genommen werden können, weil sieRegelungen vorfinden, die ihren Lebensbedürfnissen ent-gegenkommen.Ein weiterer Missstand ist die Situation von ausländi-schen Frauen in Deutschland, die wir Bündnisgrünenschon seit langem bemängeln. Wir haben – Sie fragennach der Umsetzung – in einem ersten Schritt die Ände-rung des § 19 des Ausländergesetzes vorgenommen.Hier sind maßgebliche Rechte ausländischer Ehefrauengestärkt worden.
– Ja, Sie wundern sich, wie viel wir schon umgesetzt ha-ben.Auch der Schutz von Frauen und Kindern vor häusli-cher Gewalt wird noch in diesem Jahr verbessert.
Nicht mehr die geprügelte Ehefrau und ihre Kinder müs-sen das Haus verlassen, sondern der gewalttätige Mann.Das ist ein deutliches Signal an die Täter.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Irmingard Schewe-Gerigk9887
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Eine Revolution hatbegonnen!“, das war der Eröffnungsausruf auf derWeltfrauenkonferenz 1995. Nach fünf Jahren müssen wirfeststellen: Die Revolution ist eine Schnecke. DieUmsetzungsdefizite sind groß und in manchen Bereichengeht es nicht mehr darum, zu einer Weiterentwicklung zukommen, sondern die erzielten Fortschritte zu verteidi-gen.Darum habe ich mich sehr gefreut, im UN-Protokolldes Frauenrechtsausschusses zu lesen, dass die Bundesre-gierung für ihre Anstrengungen zur Herstellung der Chan-cengleichheit von Frauen gelobt wurde.
Dass Ihre Teilnahme, Frau Staatssekretärin Niehuis, undIhr Vortrag in New York über die jetzige Frauenpolitikvom UN-Ausschuss so stark gewürdigt wurden, sollte unsallen ein Ansporn sein, weiter für die Rechte der Fraueneinzutreten. Ich danke Ihnen sehr herzlich dafür.
Dennoch können wir uns nicht damit zufrieden geben.Auch in unserem Land gibt es noch genug zu tun. Wir ha-ben zwar nach der letzten Bundestagswahl die Richtunggewechselt, sind aber erst am Anfang eines Weges, an des-sen Ende Selbstbestimmung, Gewaltfreiheit und Demo-kratie zwischen den Geschlechtern sein wird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Wäre es doch schön, wenn wir ein Mindest-maß an Gemeinsamkeiten hätten. All das – so muss ich sa-gen – haben Sie mit diesem Tagesordnungspunkt wegge-wischt.
Ich bin erst seit dieser Legislaturperiode im Parlament.Wenn ich aber sehe, was es in der Vergangenheit bei derVorbereitung der Weltfrauenkonferenz von Peking an Ge-meinsamkeiten gegeben hat, während hier nur deutlichsichtbare Nichtgemeinsamkeiten vorhanden sind, dannfällt mir einfach auf, dass wir nicht mehr gemeinsam fürdie Frauen kämpfen, sondern jeder parteipolitisch auf sei-nem Platz.
Das bedauere ich außerordentlich. Ich habe gedacht, eswürde auch anders gehen.
Ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten hätten wir sehrwohl finden können.Ich bin wieder auf den Boden der Tatsachen zurückge-kehrt. Wahrscheinlich war ich auf einer gemeinsamenFrauenwolke, aber hier fällt man durch.
– Frau Hanewickel, Ihre ersten Worte haben mich schonsehr entsetzt. Ich habe sie noch sehr genau im Ohr.
Meine Damen und Herren, die Bundestagsfraktion derF.D.P. begrüßt, dass fünf Jahre nach der Weltfrauenkonfe-renz in Peking die Sondergeneralversammlung „Frauen2000“ der Vereinten Nationen in New York stattfindet.Wir brauchen eine Überprüfung der Beschlüsse der Pe-kinger Konferenz, und zwar national und international.Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden für das21. Jahrhundert sind Themen, mit denen wir Liberale unsidentifizieren. Hier im Parlament – ich möchte, dass dasnach all Ihren Beschimpfungen ganz deutlich wird – ha-ben wir Alternativen zum Erziehungsgeld, zur Erzie-hungszeit, zur Familienförderung im Frauenrecht vorge-legt, und es war auch die F.D.P., die es mit der Änderungdes § 19 des Ausländergesetzes durchgesetzt hat, dassausländische Frauen, die in Deutschland geschieden wer-den, einen Sozialhilfeanspruch haben. Das haben Sie ver-gessen.
Es wäre klug und sehr fair gewesen, Frau Schewe-Gerigk,wenn Sie dazu noch ein Wort gesagt hätten. Dass Sie esnicht getan haben, zeigt unsere Nichtgemeinsamkeiten.Meine Damen und Herren, die F.D.P. hat in der altenRegierung auch Gesetze initiiert. Ich denke dabei nur andie Problematik von Vergewaltigung in der Ehe. Hierzuhat es gemeinsame überparteiliche Abstimmungen gege-ben.1992, drei Jahre vor der Weltfrauenkonferenz in Pe-king, wurde von der alten Bundesregierung ein nationalesVorbereitungskomitee installiert. Dies habe ich allesnachgelesen. In zwölf Arbeitsgruppen haben intensiveVorbereitungsarbeiten stattgefunden. Damals, meineDamen und Herren und liebe Kolleginnen von SPD undGrünen, waren Bundestagsabgeordnete aus allen Fraktio-nen an diesem Prozess beteiligt.
– Nein, das ist nicht wahr. Heute legen Sie am Montagzwei Anträge für die Donnerstagssitzung vor, die Sie nichtim Ausschuss beraten lassen, und hier haben wir eineStunde für die Beratung des Themas „Weltfrauenkonfe-renz“.
Sie wissen, Frau Hanewinckel, dass dieses Vorgehen jen-seits einer wirklich intensiven Diskussion ist. Vielleicht
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Irmingard Schewe-Gerigk9888
hätten wir uns auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt,aber das haben Sie nicht gewollt, sonst wären Sie andersverfahren.
Ich meine, dass die Bundesregierung es auch versäumthat, uns Parlamentarierinnen und Parlamentarier umfas-send zu informieren. Ein konstruktiver Meinungsaus-tausch in sechzig Minuten bringt es nicht, Frau MinisterinBergmann. Dieses Thema hätte im Parlament etwas Bes-seres verdient.
Ich frage Sie: Wo ist Ihre Strategie? – Da lachen Sie,aber von Ihnen habe ich nichts gehört. Zu der Veranstal-tung am 12. April, die in meinen Augen total chaotischwar, sind wir nicht eingeladen worden. Aber das war ei-gentlich auch alles, was hier in Bezug auf die Sonderge-neralversammlung in New York passiert ist. Die Regie-rung sollte – dies kommt wahrscheinlich gar nicht mehran, denn bei ihr geht es auf der einen Seite hinein und aufder anderen Seite wieder heraus – bei der Konferenz inNew York auf Appelle im Schlussdokument weitgehendverzichten und den Schwerpunkt auf Durchsetzungsstra-tegien legen.Die Bundesregierung hat im letzten Jahr den Fragebo-gen zur nationalen Umsetzung der Aktionsplattformbeantwortet. Die Antworten zeigen, dass die alte und dieneue Bundesregierung Anstrengungen unternommen ha-ben, die teilweise erfolgreich waren. Ich habe die Ant-worten von vorn bis hinten gelesen. Sie mussten immerschreiben: „Diese Bundesregierung hat zwischen 1995und 1998 das und das gemacht.“ Ich finde es schofelig,wenn Sie darauf nicht eingehen und auch uns keine Mög-lichkeit dazu geben.
Beide Regierungen haben Anstrengungen unternom-men, aber fast auf jeder dritten Seite steht, dass diese un-zureichend sind. Wir wissen, dass sie unzureichend sind.Auch die Anstrengungen der alten Regierung waren un-zureichend.Wie weit Sie mit ihrem Gleichberechtigungsgesetz fürdie Wirtschaft kommen, werden Sie noch sehen. Ichglaube, dies wird ein abgespeckter Tiger. Sie werden alsBettvorleger landen. Dann wird die Situation noch vielschlimmer und wird die Arbeitsplätze von Frauen in derWirtschaft eher ungünstiger gestalten.Meine Damen und Herren, teilweise kann ich den Ant-worten der Bundesregierung zustimmen, aber teilweisesind die Antworten der von Ihnen getragenen Regierungsehr weit her geholt und sehr abenteuerlich. Ein Beispiel:In dem Kapitel „Frauen und Armut“ schreiben Sie in Ih-rer Antwort von dem Erfolg der Neuregelung der 630-Mark-Arbeitsverhältnisse.
Wir wissen das alles, aber die Bürgerinnen und Bürgerwissen nicht, worin dieser Erfolg liegt. Ich sage Ihnen nureines: Immer weniger Frauen arbeiten in ordentlichen630-Mark-Arbeitsverhältnissen, immer mehr arbeitenschwarz. Ich habe das selber am eigenen Leib mitbekom-men. Es ist eine Katastrophe. Dies gilt insbesondere fürHilfen in privaten Haushalten.Ich möchte noch einmal auf die Versammlung zurück-kommen. Es ist außergewöhnlich, dass diese Fraktionsan-träge heute diskutiert werden. Dieses Thema hätte inten-siver beraten werden können. Es hätte mir wirklichFreude gemacht, wenn wir dies in nicht öffentlicher Aus-schusssitzung beraten hätten. In den Anträgen sind vieleUnklarheiten enthalten. Es ergeben sich viele Fragen.Nicht aufgrund dieser Debatte, sondern aus drei ande-ren Gründen werden wir Ihren Anträgen nicht zustimmen:Erstens gibt es keine gründliche Beratung. Zweitens ha-ben wir aufgrund der Zeit keine Möglichkeit, etwas zu än-dern oder uns zu einigen. Drittens gibt es bei dieser Dis-kussion eine parteipolitische Lobhudelei, nicht nurschriftlich, sondern auch mündlich.Deshalb wird die F.D.P. nicht zustimmen. Aber wirwerden natürlich alles daransetzen, dass wir mit der Frau-enpolitik national und international weiterkommen.Sie wissen ganz genau, dass Ihre Anträge nichts nüt-zen, denn wir Parlamentarierinnen haben auf der Sonder-generalversammlung nur einen Beobachterstatus. Die Re-gierung ist diejenige, die handeln muss.Ich komme jetzt zum Schluss, Frau Präsidentin. DieF.D.P. wird die Sondergeneralversammlung Peking + 5 inNew York aufmerksam und konstruktiv verfolgen und be-gleiten. Wir werden sehen, mit welchen Ergebnissen dieBundesregierung aus New York zurückkehrt. Die Diskus-sion wird weitergehen. Die F.D.P. ist dabei. Mit liberalen,freiheitlichen Ideen werden wir trotz der krassen partei-politischen Töne, die ich heute gehört habe, konstruktivan diesem Thema weiterarbeiten.Ich bedanke mich, dass Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat
jetzt Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Auf dem Frauentreffen der 103. IPU-Tagung vor zwei Wochen in Amman waren sich die Par-lamentarierinnen aus der ganzen Welt einig: Der„Peking + 5“-Prozess bietet die Möglichkeit für notwen-dige Aktionen.Zweifellos ist es jetzt unser Hauptziel, für die Sonder-generalversammlung ein aktionsorientiertes Abschluss-dokument zustande zu bekommen. Substanzielle Analy-sen der gegenwärtigen Situation gibt es inzwischen ge-nug. Es steht außer Frage, dass wir ein aktualisiertes,handlungsorientiertes Dokument brauchen, das Bezugnimmt auf die großen Herausforderungen durch den Pro-zess der ökonomischen Globalisierung. Ich nenne Migra-tionsprozesse – ich verweise nur auf die weitere weltweiteFeminisierung der Armut, die Folgen kriegerischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Ina Lenke9889
Auseinandersetzungen – und die daraus resultierendenMigrationsströme.Ich konnte mir vor kurzem in New York auf der Prep-Com einen Eindruck über den Diskussionsprozess imVorfeld dieser Sondergeneralversammlung verschaffen.Es ist klar: Es gibt eine Wiederauflage der unheiligenAllianz des Vatikan mit fundamentalistischen Staaten. Esgibt auch die Gefahr, dass aggressive fundamentalistischeNichtregierungsorganisationen mehr Einfluss bekom-men, als das noch vor fünf Jahren der Fall war.Die mühevollen Verhandlungsrunden der Prep-Comhaben gezeigt, dass es einfach kein Zurück hinter die Be-schlüsse von Peking, von Kairo und von Wien geben darf.Im Übrigen hat sich hier die Bundesregierung im Rahmender Europäischen Union sehr engagiert, dass vor allem inden Punkten Menschenrechtsverletzungen gegenüberFrauen und reproduktive Gesundheit tatsächlich erst ein-mal der Status quo erhalten bleibt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Dreh- und An-gelpunkt ist zweifellos die Umsetzung eines solchen Do-kuments, wie des in zwei Wochen in New York zu verab-schiedenden.
Die NGO-Aktivistin Christa Wichterich, vielen hier imSaal sicherlich bekannt, hat zu Recht festgestellt:Der Revolution der Worte folgte keine der Taten.Leider stimmt die Analyse – sowohl auf internationa-ler als auch auf nationaler Ebene. Deshalb besteht meinesErachtens der größte Handlungsbedarf bei effektiven Um-setzungsmethoden und wirkungsvollen Überprüfungsme-chanismen für das Beschlossene.Wie wir es auch drehen und wenden – an einer ver-stärkten Bezugnahme auf das einzige völkerrechtlich ver-bindliche Dokument, nämlich das Übereinkommen zurBeseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau,CEDAW genannt, werden wir nicht vorbeikommen.Die Anregung der UN-Mitarbeiterin Yakin Ertürk aufdem Ammaner Parlamentarierinnentreffen, CEDAW alseine Art „Bill of Rights“ in der politischen Praxis zu nut-zen, findet meine Unterstützung. Doch wir alle als natio-nale Parlamentarierinnen und Parlamentarier wissen sehrgut, wie schwer es ist, sich im Alltag auf internationaleRegelungen und Beschlussfassungen zu beziehen undsich zum Beispiel auf dem Rechtsweg auf die entspre-chenden internationalen Dokumente zu berufen. Ich habeaber durchaus die Hoffnung, dass sich hier nach der Rati-fizierung des CEDAW-Zusatzprotokolls neue Möglich-keiten eröffnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der Bundes-republik ist die Aktionsplattform der 4. Weltfrauenkonfe-renz längst nicht ausreichend umgesetzt worden. DerSchattenbericht der Nichtregierungsorganisationen, übri-gens von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung her-ausgegeben, spricht da eine sehr deutliche Sprache.
Im Regierungsbericht zur Umsetzung der Aktions-plattform werden die strukturellen Diskriminierungenvon Frauen bei weitem nicht genügend berücksichtigt.Ebenso, wie das schon bei dem CEDAW-Bericht war – dagab es die Rüge vonseiten der UN bereits zum Jahresan-fang – ,wird die Lage von Migrantinnen und die Situationvon Frauen in Ostdeutschland in dem Regierungsberichtweitgehend ausgeblendet. Da wundert es einen schon einbisschen, wenn sich die Regierungsfraktionen heute inihrem Antrag doch mehr oder weniger – ich sage es sokrass – auf eine Selbstbeweihräucherung beschränken.Ja, die Bundesregierung hat das Aktionsprogramm„Frau und Beruf“ vorgelegt. Das erschöpft sich meinesErachtens aber bisher in Ankündigungen. Sie bemängeln,dass Frauen in höheren und hohen Positionen im öf-fentlichen Dienst unterrepräsentiert sind. Bei 1,3 Prozentweiblichen Abteilungsleiterinnen in den obersten Bun-desbehörden und 5 Prozent C-4-Professorinnen muss mansagen: Sie sind dramatisch unterrepräsentiert. Hier wirkentatsächlich Machtstrukturen, die nach wie vor Frauenstrukturell und systematisch ausgrenzen und diskriminie-ren.Wo bleibt das angekündigte Gleichstellungsgesetz fürden öffentlichen Dienst? Hier gibt es zum Glück endlicheinen Fahrplan. Ich frage aber vor allem nach dem Gleich-stellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Wir alle wissen,dass die gegenwärtig laufenden Dialogforen sehr wichtigund nützlich sind, Frau Ministerin. Wir wissen aber auch,wie wichtig konkrete Handlungen sind. Ich warne davor,zu hoffen, dass die Unternehmen in nennenswerter Mengefreiwillig Frauenförderung betreiben. Das scheint mir einbisschen naiv zu sein und kann möglicherweise – ich sagees mit Absicht so vorsichtig – ein Indiz dafür sein, dass esdie Regierung mit der Gleichstellung doch nicht so ernstmeint. Hier wird Ihnen auch der heraufbeschworene Pa-radigmenwechsel nicht helfen, demzufolge die Chancen-gleichheit der Geschlechter ein Leistungs- und Wett-bewerbsfaktor sei.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauenrechte sindMenschenrechte. Das war die zentrale Botschaft von Pe-king.Ich möchte abschließend noch an den Punkt der Aner-kennung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asyl-und Aufenthaltsgrund erinnern. Heute ist die Meldungdurch die Ticker gegangen, dass die Verwaltungsvor-schriften hierzuzu geändert werden. Das ist ein wichtigerSchritt. Ich sage aber in aller Deutlichkeit: Dieser Schrittwird nicht ausreichen, um zum Beispiel zu verhindern,dass traumatisierte und vergewaltigte Frauen aus einzel-nen Bundesländern abgeschoben werden. Wir müssenhier den Worten Taten folgen lassen, diese unsäglicheAsyldebatte endlich abbrechen und verfolgten Frauen ei-nen wirksamen Schutz und Aufnahme geben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hatjetzt die Frau Bundesministerin Christine Bergmann.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Petra Bläss9890
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erinnern wiruns: Es war die 4. Weltfrauenkonferenz, die 1995 dieGleichstellung von Frauen und Männern internationalwieder auf die politische Tagesordnung gesetzt hat.Mit der Aktionsplattform von Peking liegt erstmalsin der Geschichte ein politisches Gesamtkonzept der Ver-einten Nationen zur Gleichstellung der Geschlechter, zumAbbau von Diskriminierung und zum Schutz derMenschenrechte von Frauen vor. Wir sind uns darüber ei-nig: Bei all dem Streit, den es gibt, gehen von Peking ent-scheidende Impulse zur Gleichstellungspolitik aus.Ich denke, dass das, was uns beschäftigt, wichtig ist.Wir fragen uns: Wie ist es nun weitergegangen? Wenn wiruns in New York treffen und bilanzieren, was umgesetztworden ist, dann betrifft dies die nationale, aber auch dieinternationale Umsetzung. Wir wissen: Kein Land derWelt ist schon so gut, dass es dieses Thema nicht mehr aufder Tagesordnung hätte. Es gibt unterschiedliche Pro-bleme bei den Frauen. Aber überall ist die Gleichstellungnach wie vor nicht verwirklicht.Mit der Aktionsplattform von Peking wurden strate-gisch neue Weichen gestellt. So ist zum Beispiel die Ein-führung des Gender-Mainstreaming-Prinzips in der Po-litik als durchgängiges Prinzip in Peking vereinbart wor-den. Wir müssen einmal sehen, was davon umgesetztworden ist und ob die Forderungen eines interfraktionel-len Antrages zu Peking umgesetzt wurden. Wir müssenfeststellen, dass das erst in den letzten eineinhalb Jahrender Fall war.
Wir haben das Gender-Mainstreaming-Prinzip in dasProgramm „Frau und Beruf“ aufgenommen. Wir wer-den es in die Geschäftsordnung der Bundesregierung auf-nehmen. Wenn die interministerielle Arbeitsgruppe an-fängt zu arbeiten, geht es auch darum, Kriterien festzule-gen, dieses Prinzip in den einzelnen Ressorts, in denVerwaltungen so zu verankern, dass man nicht im Nach-hinein fragen muss, ob alles richtig gelaufen ist.Ich komme zum Programm „Frau und Beruf“. FrauEichhorn, Sie haben es wahrscheinlich nicht gewollt, aberSie haben mir ein richtig dickes Lob ausgesprochen. Siehaben nämlich gesagt, wir kümmerten uns um die Er-werbsarbeit der Frauen. – Ja, das tue ich. Das ist meineAufgabe. Es ist ganz wichtig, dass wir uns darum küm-mern.
– Ich werde gerade wieder von Frau Eichhorn gelobt odergescholten, je nach dem, wie man das einschätzt.Wir kennen doch die Situation der Frauen auf dem Ar-beitsmarkt. Wir wissen, wie Frauen bezahlt werden:Frauen erzielen im Durchschnitt nur 77 Prozent im Ver-gleich zu den Einkommen der Männer in den altenBundesländern. In den neuen Bundesländern sieht es bes-ser aus. Dort erreichen Frauen aufgrund der Berufswahlim Durchschnitt – noch – fast 90 Prozent im Vergleich zuden Einkommen der Männer. Natürlich ist es notwendig,sich um das, was Frauen wollen, zu kümmern.
Nicht nur junge Frauen wollen ihren Anteil an der Er-werbsarbeit. Frauen wollen nicht nur als Hinzuverdienererwerbstätig sein; vielmehr wollen sie einen ordentlichenAnteil am Erwerbsleben haben und ordentliche Karrierenmachen, und zwar in Berufen, die auch Spaß machen. Esist meine Aufgabe als Frauenministerin, dafür sorgen,dass dies auch möglich ist.
Wir haben das Programm „Frau und Beruf“ auf denWeg gebracht, weil wir wissen, dass Gleichstellungspoli-tik in der Arbeitswelt ansetzen muss. Unter dem Namen„Frau und Beruf“ verstehe ich vorrangig, Veränderungenin der Erwerbsarbeit und in der Arbeitswelt durchzuset-zen.
Das ist meine Vorstellung.
Ich möchte auf den Vorwurf, wir hätten das Programm„Frau und Beruf“ noch nicht ausreichend umgesetzt, einpaar Punkte erwidern: Das Gleichstellungsgesetz fürden öffentlichen Dienst – das ist von Frau Hanewinckelschon angesprochen worden – befindet sich zurzeit, wieSie sicherlich vernommen haben, in der Ressortabstim-mung. Wir werden mit diesem Gesetz ganz entscheidendeVerbesserungen erreichen. Die Zahlen, die genannt wor-den sind, belegen, wie schlimm es noch um die Gleich-stellung im öffentlichen Dienst bestellt ist. Dort sieht esauch nicht viel besser aus als in der Privatwirtschaft. Auchdas muss man ansprechen.Wir wollen, dass Frauen bei gleicher Qualifikation beiAusbildung, Einstellung und Beförderung bevorzugt wer-den, allerdings unter Berücksichtigung der Einzelfallge-rechtigkeit. Das ist die Vorgabe des EuropäischenGerichtshofes. Ich denke, wir werden weiter vorankom-men. Es wird verbindliche Gleichstellungspläne geben.Die Förderung der Gleichstellung wird als ausdrückli-che Aufgabe für alle Dienstkräfte mit Leitungsfunktionenverankert. Es gehört auch zum Gender-Mainstreaming,dass sich nicht irgendeiner um die Gleichstellung küm-mert; vielmehr ist die Durchsetzung der Gleichstellungauch eine Führungsaufgabe. Weiterhin werden dieGleichstellungsbeauftragten mehr Kompetenzen erhal-ten.Sie haben ein weiteres wesentliches Thema des Pro-gramms „Frau und Beruf“ angesprochen, nämlich dieDurchsetzung der Chancengleichheit von Frauen in derPrivatwirtschaft. Frau Bläss hat darauf hingewiesen, dasswir mit dem begonnenen Dialog bereits ein gutes StückWeg zurückgelegt haben. Ich möchte nur ein Missver-ständnis ausräumen: Wir setzen nicht auf das Prinzip derFreiwilligkeit. Es wäre schön, wenn wir das tun könnten.
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Aber angesichts der wenigen Unternehmen, die bisherfreiwillig etwas für die Chancengleichheit der Frauen ge-tan haben, ist mir dieses Prinzip als Perspektive zu mau.
Ich denke, wir bereiten den Boden mit dem begonne-nen Dialog gut vor. Es geht zum Beispiel um die Themenöffentliche Auftragsvergabe und die Vertretung der Inter-essen von Frauen. Es liegen eine ganze Menge guter,brauchbarer Vorschläge darüber auf dem Tisch, welchenWeg wir ab dem Herbst einschlagen sollen und mit wel-chen rechtlichen Regelungen wir unser Ziel erreichenkönnen.Ich möchte im Rahmen der Diskussion über das Pro-gramm „Frau und Beruf“ noch einen weiteren Punkt an-sprechen, nämlich die Informationsgesellschaft. Wir be-finden uns nicht auf dem Weg in die Informationsgesell-schaft; vielmehr sind wir schon mitten in ihr.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie habennicht nur diese gesamte Entwicklung, sondern auch dieTatsache verschlafen, dass die InformationsgesellschaftFrauen neue Arbeitsmärkte bietet.
Angesichts des Mangels an Fachkräften, der im IT-Be-reich herrscht, würden die Unternehmen auch Frauen neh-men, wenn sie gut qualifiziert wären. Aber diese gibt esnicht.Wir sind gut beraten, das, was wir uns im Aktionspro-gramm der Bundesregierung „Innovation und Arbeits-plätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhun-derts“ vorgenommen haben, auch umzusetzen, nämlichden Anteil der Frauen in den IT-Ausbildungsberufen undauch in den IT-Studiengängen in den nächsten fünf Jahrenauf 40 Prozent zu erhöhen. Momentan liegt der Anteilzwischen 13 und 14 Prozent. Hier müssen wir eine Mengetun.Im Rahmen der D-21-Initiative sind eine Menge prak-tischer Vorschläge auf den Tisch gelegt worden, um die-sen Anteil zu erhöhen. Im Rahmen dieser Initiative habensich die beteiligten Unternehmen verpflichtet, noch indiesem Jahr zusätzliche Arbeitsplätze für junge Frauen imIT-Bereich bereitzustellen.Wir sind auch dabei, Multiplikatoren, also junge Fach-frauen, die Mädchen werben und ihnen den Wert der Sa-che klar machen, in die Schulen zu schicken; denn dieAusbildungsplätze allein reichen nicht aus.Wir haben dieses Problem so schnell es irgend gingaufgegriffen. Ich kann nicht hinnehmen, dass es hier einenwunderbaren Arbeitsmarkt mit sicheren Arbeitsplätzengibt, auf dem die Frauen nur marginal vorkommen. Ichkann Sie nur um Unterstützung bitten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, Frau Lenke, bitte.
Frau Ministerin, vielleicht kom-men wir auch hier in einen kleinen Dialog. Ihre Redezeitwird in zwei Minuten beendet sein. Ich hatte von Ihnen ei-gentlich erwartet, dass Sie etwas über die Strategie, dieSie auf dieser Konferenz verfolgen, sagen.
Sie haben von all dem gesprochen, was Sie gemacht ha-ben, und Sie haben Ihre Programme genannt. Welche Er-folgsstrategie haben Sie für diesen Kongress? Ich fragedas Sie, denn Sie sind die Vertreterin der Regierung, dieErfolg erzielen muss. Darüber würde ich in den letztenzwei Minuten gerne noch etwas hören.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Lenke, ichwerde auch dazu noch etwas sagen. Haben Sie noch einkleines bisschen Geduld. Es geht auch darum, eine Bilanzdessen zu ziehen, was wir getan haben; denn Sie werfenuns permanent vor, wir hätten nichts getan.
Ich komme noch einmal auf das Gesetz über das Er-ziehungsgeld zu sprechen. Meine liebe Frau Eichhorn,wenn Sie erklären, wir schrieben irgendjemandem ir-gendetwas vor, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie ein-fach noch einmal in das Gesetz hineinschauen müssen.Wir erweitern die Wahlmöglichkeiten für Familien.
Die Familien können entscheiden, ob ein Elternteil oderbeide Erziehungsurlaub nehmen oder ob die Eltern dasalte Erziehungsmodell bevorzugen. Es gibt mehrere Op-tionen.Unser Versuch, mit den 30-Stunden-Teilzeitarbeits-plätzen die Väter anzusprechen, ist ganz vernünftig. Ichbekomme von jungen Vätern vielfach ein positives Echo.Wir wollen doch einmal sehen, ob wir nicht die Verhal-tensstarre überwinden.Ihr Umgang mit der Budgetierung ist nun wirklich al-bern und schlimm. Eine Budgetierung ist nur ein Angebot.Es gibt schon jetzt viele junge Eltern, die nur ein Jahr Er-ziehungsurlaub nehmen, vor allen Dingen, wenn die Kin-derbetreuung geregelt ist. Diese Eltern haben im Momentdas Geld, das ihnen zusteht, verloren.
– Ich komme gleich auf New York zu sprechen.
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann9892
Es ist angesprochen worden, was wir – dazu gehörenviele aus unserem Umfeld – dazu beigetragen haben, dassdas CEDAW-Zusatzprotokoll nach zehn Jahren zu-stande kam. Wir sind dabei, die Ratifizierung einzuleiten.Was können wir in New York erreichen? Frau Bläss hates schon angesprochen: Vor uns liegt ein schwieriger Pro-zess. Auf der Konferenz wird bilanziert.
Seit Wochen und Monaten gibt es Abstimmungen. Es gabdie ECE-Konferenz. Darüber haben wir Sie im April aufeiner Veranstaltung informiert.
Es gab die Brüsseler Konferenz, auf der sich die europä-ischen Länder verständigt haben.
– Hören Sie doch einmal einen Moment zu und seien Sienicht so aufgeregt! Was stört Sie denn eigentlich daran,wenn hier jemand Erfolge verkündet? Offensichtlich ha-ben Sie das nicht so gerne.Mein Dank gilt auch den NGOs, die kräftig beteiligtsind. Es gibt viele Bestrebungen, hinter die PekingerPlattform zurückzufallen, zum Beispiel beim Thema„Frau und Gesundheit“. Es besteht die Gefahr, dass dasErreichte einkassiert wird. Wir arbeiten seit Wochen undMonaten daran, dass die Beschlüsse der Pekinger Platt-form aufrechterhalten und weiterhin umgesetzt werden.Wir wollen weitere Strategien zur Umsetzung vereinba-ren. Wir verlangen von den Ländern über die Umsetzungentsprechende Berichte. Das können wir in New Yorkleisten. Wenn wir das geschafft haben, dann sind wir eingutes Stück weiter. An dieser Arbeit sind viele beteiligt.Zu einem Teil können Sie das miterleben; Sie sind ja inNew York dabei.Die Europäische Union – es ist schon gesagt worden:Sie ist ein Stück weit Motor – muss dafür sorgen, dass diePekinger Beschlüsse aufrechterhalten bleiben. An denUmsetzungsstrategien muss weiterhin gearbeitet werdenund nichts darf zurückgenommen werden; denn wir brau-chen am Beginn des 21. Jahrhunderts einen kräftigen Im-puls für die Gleichstellungspolitik, damit die Prophezei-ung von Matthias Horx, dass das 21. Jahrhundert ein Jahr-hundert der Frauen wird, ziemlich bald wahr wird. Bei derGleichstellung der Geschlechter geht es um Demokratie.Eine Demokratie ist in einem schlechten Zustand, wennsie das nicht zu ihrem Thema macht.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Erika Reinhardt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gleichberechti-gung, Entwicklung und Frieden sind die eng miteinanderverzahnten Ziele, die die frauenpolitische Richtung welt-weit bestimmen. Wenige Wochen vor der Peking +5-Kon-ferenz in New York müssen wir uns aber schon die Fragestellen, was wir eigentlich erreicht haben. Liebe Frau Mi-nisterin, wenn ich Sie jetzt gehört habe, dann muss ich sa-gen: Bisher gab es viel heiße Luft, aber keine konkretenAussagen.
Hält man sich – ich spreche hier jetzt in erster Linie fürdie Frauen in der Entwicklungspolitik – die Entwick-lungspolitik der rot-grünen Regierung vor Augen, dannmutet es schon geradezu zynisch an, dass die Fraktion derSPD 1996 in einem Antrag der damaligen Kohl-Regie-rung vorwarf:Angesichts der dürftigen 0,32 Prozent des Bruttoso-zialproduktes anstelle der von der UN geforderten0,7 Prozent für die Entwicklungszusammenarbeitund angesichts der Benachteiligung, die Frauen inder Dritten Welt erfahren, sind die von der Bundes-regierung angekündigten, allerdings auf vier Jahrebegrenzten Mehrausgaben zugunsten von Frauenzwar überfällig, aber vollkommen unzureichend.Nun muss ich Sie natürlich schon fragen, liebe FrauMinisterin, wie sich eigentlich das, was damals als „voll-kommen unzureichend“ bezeichnet wurde, zu Ihren heu-tigen Ausgaben verhält. Sie haben in all den Bereichen,die die Frauen betreffen, gekürzt.
Sie haben bei den Stiftungen gekürzt. Sie haben bei denErnährungsprogrammen gekürzt. Sie haben im Gesund-heitsbereich gekürzt. Sie haben überall dort gekürzt, woin erster Linie Frauen in der Entwicklungspolitik betrof-fen sind.
Das heißt, Sie haben sich mit Ihrer Politik davon ent-fernt, der Rolle der Frau in der deutschen Entwicklungs-politik wieder den Stellenwert zu geben, den sie unter derRegierung Kohl hatte.
– Sie brauchen gar nicht zu lachen. Lieber KollegeSchuster, der Etat des Entwicklungsministeriums wurdeum 8,7 Prozent gekürzt. Das hat es unter unserer Regie-rung nie gegeben.
Diese Einsparungen betreffen in erster Linie die Belangeder Frauen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann9893
Im „Spiegel“ stand ein herrlicher Satz: Wer das Lebender Menschen in Afrika verbessern will, muss etwas fürdie Frauen tun: ihnen Einkommen und Landbesitz ver-schaffen, sie besser ausbilden und medizinisch versorgen,die Zahl ihrer Kinder vermindern. Genau das sind diePunkte. Davon sind wir jetzt natürlich bei der Peking +5-Konferenz weit entfernt.In Ihrem Antrag sagen Sie, aufgrund der Schuldenre-gelung würden Mittel frei, die der Armutsbekämpfung,sozialen Diensten, der Bildung und Ausbildung sowie derGesundheitsförderung zugute kommen sollen. Das allessind Bereiche, in denen Sie ganz drastisch gekürzt haben.Aber Sie, liebe Frau Ministerin, müssen sich schon sagenlassen, dass die Entschuldungsinitiative, die wir natür-lich begrüßen, in dieser Frage zu kurz greift; denn ihreAuswirkungen werden erst mittelfristig zu spüren sein.Die Frauen in den Entwicklungsländern brauchen aberheute und nicht erst morgen unsere Solidarität.
Nach wie vor sind zwei Drittel der Ärmsten der ArmenFrauen. Auf ihnen lasten daher die Folgen der Mittelkür-zungen besonders. In Anbetracht dieser Mittelkürzungenmuss man sich schon fragen, ob Rot-Grün entwicklungs-politisch unter Vergesslichkeit leidet,
wenn es um die in Peking bekundete Handlungsbereit-schaft geht. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dassder wirtschaftliche Strukturwandel im Zeichen der Glo-balisierung besonders die Frauenrechte in der DrittenWelt bedroht. Fünf Jahre nach Peking werden mehrFrauen und Kinder als je zuvor gehandelt.Meine Damen und Herren, in dem Fragebogen der UNzur Umsetzung der Pekinger Beschlüsse – das ist schonangesprochen worden – hat die Bundesregierung nichtsanderes zustande gebracht, als Aussagen ohne Beispieleaneinander zu reihen. Der Bundesregierung ist es nichtgelungen festzustellen, ob sich die Lebenswirklichkeit derFrauen tatsächlich verändert hat.Auch im „Spiegel“ vom 15. Mai dieses Jahres – derwar jetzt einmal ganz gut –
stand ein passender Satz: Die Frauen in den Entwick-lungsländern sind die bessere Hälfte der Dritten Welt.– Dem kann ich eigentlich nur zustimmen.
Es ist auch interessant, dass ausgerechnet die den Grü-nen – Sie sollen ja schließlich auch Ihre Freude haben –nahe stehende Heinrich-Böll-Stiftung in einer Studie einvernichtendes Urteil über den frauenpolitischen Ansatzder aktuellen Entwicklungspolitik fällt. Ich glaube, dassSie einmal darüber nachdenken sollten.Rot und Grün haben zusammen noch niemals Lila er-geben. Das ist eine Tatsache. Mit schönen Worten allein,meine Damen und Herren, ist es nicht getan. Wir müssenund wollen Taten sehen.Die 5. Weltfrauenkonferenz ist für uns alle eine Hoff-nung und eine Chance zugleich. Es besteht die Hoffnung,die weiterführenden Forderungen durchzusetzen undFrauenförderung noch effektiver zu machen, sowie dieChance, die fortbestehende Diskriminierung von Frauenin das öffentliche Rampenlicht zu rücken und weitereMaßnahmen zu fordern. Wir brauchen die Stärkung derFrauen in den Entwicklungsländern. Dazu sind solcheKonferenzen wie jetzt in New York sicherlich hilfreich.Es darf aber nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben.Wir müssen auch handeln. An dem vorliegenden Antragder SPD muss ich schon kritisieren, dass Sie dort nurschreiben: „darauf hinzuwirken“, „zu unterstützen“, „zuberücksichtigen“, „anzuerkennen“, wieder „darauf hinzu-wirken“, „beizutragen“. Das sind Floskeln, die zeigen,dass dieser Antrag mit der heißen Nadel gestrickt wurde.Das ist ein Antrag, der keine Substanz hat. Deshalb – Siewerden mir das nicht übel nehmen – können wir diesemAntrag nicht zustimmen, denn er ist inhaltlich wirklichungenügend.
Ich hoffe, dass wir im Interesse der Frauen auf derKonferenz vielleicht doch noch gemeinsam etwas bewe-gen können.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort jetzt der Abgeordneten Hei-
demarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle daraufhinweisen, dass es morgen zum Thema Entwicklungspo-litik eine ausführliche Debatte gibt. Außerdem bitte ichdie Kolleginnen, die in diesem Bereich tätig sind, bei denFakten zu bleiben.Die Wahrheit ist – ich sage Ihnen das einfach noch ein-mal; ich habe es schon öfter getan; vielleicht behalten Siees doch einmal –:
Die Vorgängerregierung hat den Einzelplan 23 in den Jah-ren von 1991 bis 1998 um 5 Prozent gekürzt, während imgleichen Zeitraum das Volumen des Bundeshaushalts uminsgesamt 14 Prozent gestiegen ist. Das heißt, es ist er-sichtlich, dass zu Ihrer Regierungszeit dieser Haushalt alsSteinbruch benutzt worden ist.
Was jetzt stattfindet, ist zwar auch schmerzlich – damache ich mir gar nichts vor –, ist aber nötig zur Konso-lidierung. Ich wäre froh, wenn ein Teil von den 82 Milli-arden DM, die Sie uns an zwangsweisen Zinszahlungensozusagen aufgebürdet haben,
für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stünde.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Erika Reinhardt9894
Wir tragen durch Reduzierung der Schulden dazu bei,dass wir künftig wieder mehr Spielraum haben.Vielleicht wäre es auch wichtig, wenn Sie sich einmalumhören, wie die Entschuldungsinitiative in den Part-nerländern bewertet wird. Auf der Konferenz in Dakar,die sich mit Frauen- und Mädchenbildung beschäftigt hat,haben wir nur Lob bekommen. Bis jetzt sind durch dieEntschuldungsinitiative 14 Milliarden US-Dollar frei ge-worden, die für die Grundbildung von Mädchen undFrauen eingesetzt werden. So trägt sie mit dazu bei, dassdem Ziel der Gleichberechtigung Rechnung getragenwird. Eine solche umfassende Entschuldungsinitiative ha-ben Sie während Ihrer Regierungszeit verhindert. Wir tra-gen dazu bei, dass im globalen Maßstab die Möglichkeitder Förderung von Mädchen und Frauen geschaffen wird.
Ich will weiterhin darauf hinweisen, dass es zum Bei-spiel eine Zusage der alten Bundesregierung gegeben hat,40 Millionen US-Dollar für Beratung und Lobbyarbeitvon Frauen in den Entwicklungsländern zur Verfügung zustellen.
– Ja, die entsprechenden Zusagen setzen wir um.
– Das ist doch in Ordnung. Ich bin im Gegensatz zumanch anderen der Meinung, dass es eine Verbindlichkeitfür Zusagen im Bereich der außenpolitischen Beziehun-gen gibt. Das Hin- und Herschwanken, das Sie in diesenDiskussionen zeigen, finde ich gerade angesichts der Part-nerländer, mit denen wir es zu tun haben, lächerlich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich sage zum
Schluss: Was wir uns vorgenommen haben, das setzen wir
um.
– Hören Sie einmal mit dem Lachen auf! – Dazu gehören
zum Beispiel Maßnahmen gegen die Genitalverstümme-
lung. Wir tragen mit unseren Finanzmitteln dazu bei, dass
denjenigen das Handwerk gelegt wird, die diese Praktiken
gegenüber den Frauen in den Entwicklungsländern noch
anwenden.
Sie können uns für unsere Arbeit in diesem Bereich ru-
hig loben. Machen Sie unsere Arbeit nicht wider besseres
Wissen schlecht!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Reinhardt, bitte.
Liebe Frau Ministerin,
der Unterschied zwischen Ihrem und unserem Haushalt
liegt darin, dass wir nicht gekürzt haben. Vereinigungsbe-
dingt gab es nur weniger Ausgaben.
–Wir haben nicht den Haushalt gekürzt. – Sie aber haben
den Haushalt um 8,7 Prozent gekürzt. Das ging in erster
Linie zulasten der Frauen. An dieser Tatsache führt kein
Weg vorbei. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt. Das Gleichstellungskonzept von
Peking hat die alte Regierung umgesetzt; das waren nicht
Sie.
Die alte Regierung hat die 40 Millionen US-Dollar be-
schlossen und nicht Sie.
Sie haben in allen Bereichen gekürzt. Da helfen auch die
schönen Reden Ihrerseits überhaupt nichts.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Brigitte Adler, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Frauen in aller Welt hatten großeErwartungen und viel Hoffnungen in die Konferenz vonPeking 1995 gesetzt. Die Erklärungen und die Aktions-plattform hatten 12 kritische Hauptprobleme genannt, sounter anderem: Frauen und Armut, Bildung und Ausbil-dung von Frauen, Frauen und Gesundheit, Gewalt gegenFrauen, Frauen und bewaffnete Konflikte, Menschen-rechte und Frauen sowie Mädchen, Frauen und Umwelt.Die in Peking gefassten Beschlüsse sollen nun auf derSondergeneralversammlung der Vereinten Nationen vom5. bis 9. Juni dahin gehend überprüft werden, inwieweitsie von den Nationalstaaten umgesetzt worden sind. AlleRegierungen werden sich fragen lassen müssen, ob undinwieweit sie die mitgefassten und unterschriebenen Do-kumente in die Tat umgesetzt haben. Die nationalen Be-lange werden dort vorgetragen, aber auch die Belange derEntwicklungsländer werden einen breiten Raum – wie be-reits in Peking – einnehmen.In New York geht es nicht um Neuverhandlungen alterZusagen. Es geht ausschließlich um die Bilanz des Er-reichten. Einige Staaten im Norden und im Süden könnenErfolge vorweisen. Andere haben noch einiges aufzuho-len und aufzuarbeiten.Problempunkte, wie zum Beispiel Fragen des Schwan-gerschaftsabbruchs und der Familienplanung, über die inPeking strittig abgestimmt wurde, werden in New York
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Heidemarie Wieczorek-Zeul9895
nicht neu verhandelt werden. Es geht allenfalls um denZeitraum, bis wann diese Streitpunkte politisch in natio-nales Recht umgesetzt werden müssen.Frauen in aller Welt werden langsam ungeduldig. Viergroße VN-Konferenzen hat es bislang zum Thema Frauengegeben, mit vielfältiger Fortsetzung. Was ist jeweils alsErgebnis erreicht worden?1945 haben sich die Vereinten Nationen in einerGrundsatzerklärung zur Gleichberechtigung von Mannund Frau geäußert. Wie lange müssen Frauen in den ver-schiedenen Kontinenten und Kulturen noch darauf war-ten?Frauenrechte sind Menschenrechte. Warum gelingt esnicht, das in so vielen VN-Resolutionen beschworeneGrundrecht in politisches Handeln umzusetzen? Wie stehtes mit dem Recht der Frau auf sexuelle Selbstbestim-mung? Warum muss noch immer Gewalt gegen Frauenund Mädchen geächtet werden? Was ist mit der Forde-rung, für Frauen den freien und ungehinderten Zugang zuwirtschaftlichen Ressourcen und deren Kontrolle zu ge-währleisten?In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hatdie Gleichstellung der Geschlechter als eigenständigerGrundsatz in allen Entwicklungsvorhaben Eingang ge-funden. Damit soll erreicht werden, dass Mädchen undFrauen gleichberechtigt Einfluss auf die Gestaltung vonVorhaben der Entwicklungszusammenarbeit nehmen undNutzen daraus ziehen können.
Die Kollegin Reinhardt hat die Finanzsituation ange-sprochen. Die Antwort der Ministerin zeigt, dass es man-ches Mal nicht unbedingt auf das Geld ankommt,
sondern dass wir hier zügig und grundsätzlich den Frauenhelfen. Deshalb haben die beiden Koalitionsfraktionen zudieser Sondergeneralversammlung zwei Anträge vorge-legt und unsere Position bekräftigt. Wir bitten, diesen An-trägen zuzustimmen, da sie für die Konferenz fünf Jahrenach Peking die deutsche Auffassung zur nationalen undinternationalen Politik für Frauen deutlich machen.Dennoch bleibt die grundsätzliche Frage: Warumkonnte trotz vieler Deklarationen und Konventionen im-mer noch nicht das Ziel, „Männer und Frauen sind gleich-berechtigt“ erreicht werden? Haben wir als Frauen uns inder Vergangenheit zu sehr auf die papiernen Erklärungenverlassen? Haben wir kulturelle, religiöse und politischeInteressen nicht ernst genug genommen, die all diesenWünschen und all dem Gebotenen entgegenstanden?Die Forderung nach Schulbildung zum Beispiel wirdvon allen begrüßt. Nur, was ist, wenn eine deutsche Nicht-regierungsorganisation voll Engagement in Nord-Pakis-tan eine Schule für Mädchen baut und dann bei der Ein-weihung feststellen muss, dass die Väter ihren Töchternuntersagt haben, dorthin zu gehen, weil der Imam es ver-boten hat? Gut Gemeintes verkehrt sich ins Gegenteil.Konflikte bleiben nicht aus. Wie aber geht man damit um?Frauen in einem afrikanischen Dorf verbessern durchEigeninitiative ihre wirtschaftliche Lage. Das eingenom-mene Geld beansprucht aber der Ehemann. Welche Lö-sung bietet sich an? Erstens: Das Geld wird abgegebenund das Engagement schläft ein. Oder zweitens: DieFrauen stehen den anstehenden Konflikt in der Familiedurch. In dem Dorf fordern die Frauen eine Schule für alleKinder. Der nächste Konflikt ist bereits vorprogrammiert.Veränderungen können, müssen aber nicht immer zu Kon-flikten führen, wenn sich Gewohntes verändert und Neuesentwickelt. Für Frauen, die dann ihre soziale Sicherheitbedroht sehen, ist dies eine mutige und oft schwierigeEntscheidung.Haben wir in politischen Sphären geschwebt und hehreZiele formuliert, die nicht realistisch waren aufgrundwirtschaftlicher und politischer Interessen? Sind wir inFrauenprojekte in kleinen Dörfern ausgewichen, weil inden Städten der Widerstand zu groß war? Haben wir dieNachhaltigkeit unseres Tuns und Wollens in schönen Leit-linien versteckt?Mischen wir uns ein! Helfen wir in einem Netzwerk,um die Wortführer in Politik und Wirtschaft – von Wort-führerinnen kann ja in den meisten Fällen nicht gespro-chen werden – nicht aus der Verantwortung zu lassen.Die Schuldenkrise und die Aushebelung menschen-würdiger Arbeitsbedingungen in der Globalisierung kön-nen uns nicht kalt lassen. Wir sind es, die darunter leiden.Frauen des Nordens wie des Südens sind aufgerufen, sichauf ihre eigenen Kräfte und ihr eigenes Können zu besin-nen.Natürlich sind Bildung, Ausbildung, Gesundheitsfür-sorge, Abkehr von Gewalt, Teilhabe am Reichtum wirt-schaftlicher Ressourcen weiterhin Aufgaben der Zusam-menarbeit. Denn immer noch sind 70 Prozent der 1,3 Mil-liarden Armen der Welt Frauen.Die Aids-Infektionsrate bei Frauen und heranwach-senden Mädchen steigt und stellt bei weltweit insgesamt33 Millionen HIV-Infizierten und täglich weiteren 16 000Neuinfektionen gewaltige Anforderungen an die Ge-sundheitsfürsorge. 80 Prozent der Flüchtlinge vor Krie-gen und Katastrophen sind Frauen und Kinder. Etwa78 Prozent der Mädchen in Entwicklungsländern gehenzur Schule; dennoch sind immer noch 60 Prozent allerAnalphabeten Frauen.Nicht einmal ein Drittel der von Frauen geleisteten Ar-beit wird bezahlt. Dabei leisten Frauen weltweit mehr alsdie Hälfte aller Arbeitsstunden. Im informellen Sektorstellen sie 60 bis 80 Prozent der Beschäftigten. Diese Ar-beit ist rechtlich und sozial nicht gesichert, was Frauen inder Doppelfunktion in Familie und Beruf besonders harttrifft. Es gibt häufig keinen Kündigungsschutz, keine Zu-sicherung sozialer Mindeststandards, und gewerkschaftli-che Organisation wird häufig behindert.Jedes Jahr sterben weltweit mehr als eine halbe MillionFrauen an den Folgen fehlender oder mangelnder medizi-nischer Betreuung bei der Geburt. Frauen und Mädchensind sexuellem Missbrauch und physischer Misshandlungausgesetzt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Brigitte Adler9896
Dies muss, ja dies kann anders werden. Unser nationa-ler Bericht, den die zuständige Bundesministerin, FrauBergmann, vorgetragen hat, gibt uns Frauen in Deutsch-land ein positives Zeichen. Oft aber fehlt der politischeWille in Ländern des Südens. So sei auf ein Versprechender damals für die Peking-Konferenz zuständigen Minis-terin aufmerksam gemacht. 40 Millionen US-Dollar fürrechts- und sozialpolitische Beratung für fünf Jahre sindinzwischen ausgegeben worden. Das Ministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und seine Ministerinwerden demnächst das Ergebnis vorstellen.Die Konferenz von New York wird Bilanz ziehen. WoDefizite sind, wo das Wollen politisch Verantwortlichernicht vorankommt, wird man mit Nachdruck auf die ge-machten Zusagen pochen müssen.Frauen lassen sich nicht länger hinhalten. Frauen mi-schen sich ein. Diese Welt hat es verdient, dass sie ihreBegabungen und ihr Können mit einbringen, nicht nur ineinem Kral in Afrika, sondern auch auf den Chefsesselnder wichtigen, von Männern geschaffenen Institutionenwie der Weltbank und des IWF. Vielleicht geht es dann einbisschen gerechter zu. Männer und Frauen sind gleichbe-rechtigt – das ist das Credo von New York und das mussdas Credo sein und bleiben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Annette Widmann-Mauz
für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau MinisterinBergmann, ich stelle mir gerade vor, was in diesem Hausebei der Opposition los gewesen wäre, wenn die Rede, dieSie vorhin hier gehalten haben, unsere damalige Frauen-ministerin Claudia Nolte gehalten hätte.
Eine peinliche Aufführung!
Die Bundesregierung ist auf die Sondergeneralver-sammlung der Vereinten Nationen, die in gut zwei Wo-chen stattfindet, fast nicht vorbereitet. Die Äußerungender Regierungsvertreterinnen in dieser Debatte waren dasbeste Beispiel dafür.
Bis heute jedenfalls ist das Parlament so gut wie nicht in-formiert worden. Die zuständigen Ausschüsse konntensich inhaltlich praktisch nicht mit der Konferenz befassen.Allenfalls wurde die Weltfrauenkonferenz in fünf Minu-ten unter dem TOP „Verschiedenes“ erwähnt.Es ist weiterhin unklar, wer die Teilnehmerinnen derRegierungsdelegation sind, es ist weiterhin unklar, wel-che NGOs auf deutscher Seite teilnehmen werden,
es ist weiterhin unklar, welche Journalistinnen zum Bei-spiel mitgenommen werden, und es ist, auch nach IhrerRede, Frau Ministerin Bergmann, völlig unklar, was dieBundesregierung in New York eigentlich will.
Zur Vorbereitung der Weltfrauenkonferenz in Pekingvor fünf Jahren wurde eine Kommission eingesetzt, diesage und schreibe zwei Jahre im Vorfeld gearbeitet hat,und zwar zusammen mit dem Parlament, mit den Opposi-tionsparteien, mit den NGOs, mit den Journalistinnen, denKirchen, den Menschenrechtsgruppen usw. Ich wieder-hole: zwei volle Jahre!Die Rede, die Ministerin Claudia Nolte damals in Pe-king hielt, und ihr ganzes Verhandlungskonzept wurdenim Vorfeld im Deutschen Bundestag bis aufs Komma de-battiert. Und was machen Sie? Ganze zwei Wochen vorder Weltkonferenz schmeißen Sie dem Parlament eineschlampige Beschlussempfehlung hin. Das ist eine Miss-achtung des Parlaments,
nicht nur des Parlaments, sondern auch der NGOs und derFrauen in unserem Land.So stellen wir uns eine seriöse Vorbereitung nicht vor.
Hier ist die große Chance, eine breit angelegte gesell-schaftliche Frauendebatte zu führen, vertan worden. DennSie wollen diese Debatte im Grunde genommen nicht.Im Alltag von Arbeit und Familie geht es den Frauenunter Rot-Grün keinen Deut besser als vorher.
Frau Hanewinckel, zu diesem Ergebnis komme nicht nurich, sondern auch der Zusammenschluss der frauen- undentwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen,unter ihnen zum Beispiel die Welthungerhilfe, derJournalistinnenbund bzw. Terre des Femmes. Diese Orga-nisationen legten nämlich – das wurde schon angespro-chen – Anfang dieses Jahres, finanziert von der Heinrich-Böll-Stiftung, einen Bericht vor. Dieser ist ein kritischerKommentar der Antworten der Bundesregierung auf denUN-Fragebogen. Rot-Grün sieht die Lage der Frauen inDeutschland undifferenziert positiv. Sie sieht sie nichtlila, sondern leider rosarot.Sie rühmen Projekte und Maßnahmen, die wir auf denWeg gebracht haben. Denn seit eineinhalb Jahren kommtaus Ihrem Hause außer Ankündigungen nichts Substanzi-elles.
Wenn es je einen, wie Sie sonst immer betonen, Paradig-menwechsel gegeben haben sollte, dann nur den, der ausIhrer Tatenlosigkeit besteht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Brigitte Adler9897
In der Wirtschaft jedenfalls lässt sich eine positiveEntwicklung nicht mehr feststellen. In den technischenund in den naturwissenschaftlichen Berufen sowie im IT-Bereich haben Frauen zwar gute Perspektiven, aber keineechten Chancen. Bei den jungen Frauen sinken die Er-werbsquoten. In den neuen Bundesländern ist die Er-werbstätigkeit von Frauen von 90 auf 55 Prozent zurück-gegangen. Dieses Gefälle wird von der Bundesregierunggegenüber der UN mit keinem Wort erwähnt.Zwar scheut die Bundesregierung das Stichwort „neueArmut“ nicht. Aber angesichts der wachsenden Zahl vonbenachteiligten Frauen lapidar zu sagen – ich zitiere –:„Eine Beseitigung von ... Benachteiligungen, von denenFrauen betroffen sind, verläuft auch in Deutschland nichtimmer reibungslos“, ist entweder hilflos oder zynisch.
Es sind zunehmend mehr Kinder und ihre Mütter, dierelativ mittellos leben müssen. Fast 30 Prozent aller alleinerziehenden Frauen sind auf Sozialhilfe angewiesen.Diese Probleme werden in der Antwort der Bundesregie-rung völlig ausgeklammert, ebenso das Thema Frauen imAlter. Viele Frauen haben kaum eigene Rentenansprücheansammeln können. Rund 2 Millionen Frauen sind aus-schließlich auf eine Witwenrente angewiesen und die istin der Regel entsprechend niedrig.Insgesamt erweckt die positive Selbstdarstellung derBundesregierung den Eindruck, als würden die in Pekingbeschlossenen Strategien zur Überwindung der Benach-teiligung von Frauen überwiegend als Problem der ande-ren Länder betrachtet. Dies kam mir auch bei den zuvorgehaltenen Reden so vor. So aber geht es nicht!
Frau Ministerin, Sie haben die „Dialogforen zurGleichstellung von Frauen und Männern in der Privat-wirtschaft“ angeführt, die gegenwärtig durchgeführt wer-den und die von den Arbeitgeberverbänden als dialogfreieZone bezeichnet werden. Dies sind reine Alibiveranstal-tungen; sie zeigen keine Substanz.
In den Kanzlerrunden des Bündnisses für Arbeit wur-den die Frauen und ihre Belange von Anfang an außen vorgelassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Widmann-Mauz, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme
sofort zum Schluss. – Wo sind denn heute Abend Ihre Kol-
legen? Von Gender Mainstreaming, liebe Frau Bergmann,
sollten Sie an dieser Stelle nicht sprechen, ganz zu
schweigen von den Plänen Walter Riesters zu einer Ren-
tenreform.
Eine nachhaltige Politik in den Schwerpunktbereichen
wie zum Beispiel der Rente, aber auch in anderen gesell-
schaftlichen Bereichen setzt voraus –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Widmann-Mauz, ich muss Sie noch einmal erinnern: Sie
sind weit über Ihre Redezeit.
– ich bin
beim letzten Satz –, dass wir die Probleme klar beim Na-
men nennen und dass wir uns darin einig sind, die politi-
schen Herausforderungen nicht zulasten der Frauen zu lö-
sen, und zwar weder in Deutschland noch sonst wo auf der
Welt.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zu der Sondergeneralversammlung der Vereinten Natio-
nen zur Überprüfung der Beschlüsse der Pekinger
Weltfrauenkonferenz auf Drucksache 14/3386. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist gegen die Stimmen der Frak-
tionen der CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Zusatzpunkt 4. Wir kommen zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen zu der Sondergeneralversammlung der
Vereinten Nationen zur nationalen Umsetzung der Be-
schlüsse der Pekinger Weltfrauenkonferenz auf Drucksa-
che 14/3385. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion bei Enthal-
tung der PDS-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen , Rudolf Seiters, Dirk Fischer
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Ausbau und Modernisierung der Transrapid-
Versuchsanlage Emsland und Fortsetzung der
Planfeststellungsverfahren für die Magnet-
schwebebahn-Referenzstrecke Hamburg–Ber-
lin
– Drucksache 14/3183 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für die
Fraktion der CDU/CSU dem Kollegen Wolfgang Börnsen
das Wort.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Metadaten/Kopzeile:
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Annette Widmann-Mauz9898
Verehrte Kollegen! In wenigen Tagen eröffnet die EXPO2000 in Hannover ihre Tore.
Dort präsentieren wir uns als modernes Zukunftsland. DieTransrapid-Versuchsanlage im Emsland gehört dazu.In dieser faszinierenden Verkehrstechnologie liegtDeutschland an der Spitze der Entwicklung – noch. Ex-perten schätzen den Abstand zum härtesten Konkurrentenaus Japan auf gerade einmal 20 Monate. Dort wird jetztder Schwerpunkt auf die Anwendung der Technik gelegt,die Vorführzeit ist beendet.
Bei uns ist nicht nur die Referenzstrecke gestrichen.Nein, bei uns ist sogar die Phase der technischen Demon-stration in Gefahr, gekippt zu werden. Die Versuchsanlageim Emsland ist mittelfristig nur noch für den Abriss vor-gesehen. Es gibt kein Bekenntnis der Bundesregierungzur Zukunft der Demonstrationsstrecke, keine Aussagefür die Gewährleistung eines Transrapid-Technologie-Si-cherungsprogrammes, auch keine tatsächliche Perspek-tive für eine Referenzstrecke.
Das Einzige, was die Bundesregierung in der Verkehrs-technologiepolitik geschaffen hat, ist ein Scherbenhaufen.
Es wird eine Politik der potemkinschen Dörfer prakti-ziert: Während der EXPO-Monate, wenn Hunderttau-sende Besucher aus dem In- und Ausland einen Abstecherzur Emsland-Teststrecke unternehmen, soll der Eindruckbleiben, dass der Transrapid in Deutschland Zukunft hat.Die Fassade ist glänzend, doch dahinter verbirgt sich derTrümmerhaufen einer Transrapid-Politik.
In Bonn wurde noch versprochen: Wir bauen die Ma-gnetschwebebahn. In Berlin hieß es bis zum Februar, derBundeskanzler stehe mit seinem Wort für dieses Zukunfts-projekt. In China hat er sogar Vorverträge unterschrieben.Doch dann kam das Aus. Die Anwendungsstrecke Ham-burg–Berlin wurde nach sechs Jahren Planung ausgesetztund mit 350 Millionen DM Vorlaufkosten in den Sand ge-setzt – eine fatale Entscheidung.
Die neuen Haushaltsmittel beim Bundesfinanzministe-rium für die Versuchsanlage im Emsland wurden unterdem Stichwort „zu erfüllende Rückbauverpflichtungen“eingestellt. Die Versuchsanlage ist der einzige funktionie-rende Nachweis, die einzige Anschauungsmöglichkeit fürInteressenten aus aller Welt, ein einzigartiges For-schungsprojekt. Dies soll jetzt leichtfertig zu Fall ge-bracht werden. Das ist unvertretbar.
Schon beginnt die Abwanderung erster Know-how-Träger. Schon beginnt der Patentbesitzer nach eigenenAussagen mit Verkaufsgesprächen mit dem Ausland.Schon kommen landauf, landab zunehmend Zweifel auf,ob die derzeit stattfindende Untersuchung der fünf Alter-nativstrecken nicht nur eine Alibimaßnahme ist.Eines jedoch ist sicher: Gleichgültig, um welcheStrecke es geht, ob um eine Strecke in NRW, in Frankfurtoder Berlin, bei dem deutschen Planungsrecht und unse-rem Protestpotenzial ist eine Umsetzung in zehn Jahrenvöllig unrealistisch. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird eszu einer gefährlichen Entwicklungslücke für die Transra-pid-Technologie kommen.
Da man eine Technik nicht einfrieren kann, wäre derAusbau der Emslandbahn ein kurzfristiger Ausweg. Bes-ser eine kleine Lösung als keine Lösung! Auch die Sand-kastenspiele im Wahlkampf in NRWmit einem 12,4 Mil-liarden DM teuren Metrorapid ändern gar nichts an dieserEinschätzung.Bemerkenswert ist die Haltung der Grünen zum Rhein-Ruhr-Transrapid: Als sich die F.D.P. erfreulicherweiseeindeutig dazu bekannte, wurde die Magnetbahn plötzlichauch für die Bündnisgrünen repräsentabel. Flugs veröf-fentlichte man sogar Vorstellungen über einen Metroring.
So viel Flexibilität erweckt die Hoffnung, dass der Zugfür die Paradereferenzstrecke Hamburg–Berlin dochnoch nicht abgefahren ist: Keine Verbindung in Deutsch-land ist als Verkaufspräsentation besser geeignet als diezwischen den beiden größten Metropolen Deutschlands.Über 90 Prozent der Strecke wurden bereits planfestge-stellt. Mit dem Bau hätte im Herbst begonnen werdenkönnen. Der Preis betrug 6,1 Milliarden DM und nichtwie in NRW 12,4 Milliarden DM. Die Signale stehen alsonoch immer auf Grün. Zwei Konsortien privater Investo-ren aus der Schweiz und aus den USA haben ernsthaftesInteresse am Bau dieser Strecke. Für sie ist die StreckeHamburg–Berlin das Herzstück für ein europäisch ausge-richtetes Transrapid-Netz: nach Westen mit Groningenund Amsterdam, nach Osten mit Warschau und Prag, nachNorden mit Kopenhagen und Malmö.
Auch Bahnchef Mehdorn hat sich jüngst bei einem Po-diumsgespräch in der Hansestadt positiv zu einer privatenBaulösung geäußert, wenn die Bahn den Betrieb über-nimmt. Voraussetzung für diese Lösung ist, dass die Bun-desregierung diese Strecke in ihre Alternativen wiedereinbezieht, die auf Eis gelegten Fördermittel bereithältund bei den Betreibermodellen offen für andere Lösungenbleibt.Was jetzt notwendig ist, ist eine Allianz aller Verant-wortlichen für die Zukunft der Transrapid-Technologiebei uns in Deutschland.
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Wolfgang Börnsen
9899
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dazu bereit. Nichtnur die Vorgänge in NRW haben gezeigt, dass eine Revi-talisierung des Projektes realistisch ist. Schleswig-Hol-stein erwägt die Rücknahme seines Einspruches; Ham-burg ist offensiv; Berlin, Hessen und Brandenburg sindbei ihrem Ja geblieben. Würde man dieser Linie folgen,dann wären 2,35 Milliarden DM an Steuergeldern und470 Millionen DM an Geldern der Industrie – insgesamtalso 2,82 Milliarden DM, die in den vergangenen 30 Jah-ren für die Magnetschwebetechnik eingesetzt wurden –verantwortlich verwendet.Noch gilt das Bedarfsgesetz. Noch sind alle Pläne vor-handen.
Herr Kollege
Börnsen, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich
komme zum Schluss. – Noch gibt es Ankaufinteressenten
von China bis in die USA. Es gilt also, keine zehn Jahre
zu warten, sondern die Chancen jetzt zu nutzen.
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Kurt Bodewig.
K
Frau Präsi-dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe KollegenAbgeordnete! Der Antrag der Union hat auch etwasGutes: Er bietet Anlass, dem Parlament und auch der Öf-fentlichkeit den Sachstand zu präsentieren. Das will ichnun gerne tun, zumal der Minister am 20. Januar den da-maligen Sachstand dargestellt hat. So bleiben wir hier aufdem Laufenden. Das finde ich gut.Ich freue mich über die engagierte Rede des KollegenBörnsen; ich fand seinen Vortrag ausgezeichnet. HerrKollege Börnsen, ich will Ihnen die Scherben systema-tisch zusammensetzen.Sie alle kennen das Ergebnis des Spitzengesprächszwischen Vertretern von Bund, Bahn und Industrie am5. Februar in Frankfurt. Es war wichtig, eine gemeinsameEntscheidung über die Strecke Hamburg–Berlin zu tref-fen. Die Partner Bund, Deutsche Bahn AG und Industrie-konsortium haben gemeinsam festgestellt – dieses „ge-meinsam“ sollte Ihnen bewusst werden –, dass der Bauder Strecke für den Transrapid zwischen Berlin und Ham-burg nicht realisiert wird. Sie sind zu dem gemeinsamenBeschluss gekommen, dass weder auf der Basis des Eck-punktepapiers eine Realisierung möglich ist noch auf derGrundlage der danach erfolgten Prüfung alternativerSzenarien. Ich erinnere an dieser Stelle an den Vorschlagdes Herrn Kollegen Müntefering, der öffentlich breit dis-kutiert worden ist und mit Sicherheit auch hier Beachtungfand.Das Ergebnis von Frankfurt war die zwingende Folgeder Überprüfung der wesentlichen Projektdaten, und zwaranhand des Eckpunktepapiers vom April 1997, das Ihnenbekannt ist. Die Planfeststellungsverfahren wurden da-raufhin – ich denke das ist folgerichtig – vom Eisenbahn-Bundesamt – ich möchte das gerne herausstellen – auf An-trag der Deutschen Bahn AG als Trägerin des Projektseingestellt. Nach der Lektüre Ihres Antrages würde ich Ih-nen gerne sagen: Eine nicht mehr weiter verfolgte Pla-nung, werte Kollegen von der Union, kann nicht Gegen-stand eines öffentlich-rechtlichen Verfahrens sein.
– Das will ich auch gar nicht; unterschiedliche Auffas-sungen gehören zu einer parlamentarischen Debatte.
– Ich stimme zu, Herr Fischer, Sie sind der Kontrast.
Die von einem Planfeststellungsverfahren Betroffenenhaben ein Recht auf klare Verhältnisse. Wer zum BeispielGrundstücke in das Planfeststellungsverfahren einge-bracht hat, muss auch wissen, wie es weitergeht. Es musseine Rückübertragung erfolgen. Trotz der Entscheidung,die Magnetschnellbahn in der Verbindung Berlin–Ham-burg nicht zu realisieren, besteht Einigkeit darüber, dassdie Magnetschwebebahntechnologie für den Industrie-standort Deutschland von so herausragender Bedeutungist, dass sie auch in Deutschland zur Anwendung kommensollte. Ich will das später noch näher beschreiben.Am 5. Februar wurde vom Bund, der DeutschenBahn AG und dem am Projekt „Magnetschnellbahn Ber-lin–Hamburg“ beteiligten Industriekonsortium eine ent-sprechende Grundsatzvereinbarung unterzeichnet, die dieZukunftstechnik Magnetschwebebahn durch ein Pro-gramm sichern soll. Das Programm enthält im Wesentli-chen drei Elemente: erstens den Bau einer alternativenAnwendungsstrecke in Deutschland – wir haben dabeieine Reihe von Reaktionen erhalten –, zweitens den Aus-bau der Transrapid-Versuchsanlage Emsland – ich denke,der von Ihnen vorgeschlagene zweistufige Ausbau derTransrapid-Versuchsanlage Emsland macht deutlich, dasswir hier ein Planfeststellungsverfahren von mindestenszwei Jahren benötigen; Sie sind insofern in Ihrer eigenenArgumentation etwas inkonsequent – und drittens dieWeiterentwicklung der Magnetschwebebahntechnik.Dies ist sowohl in Form der bisherigen Fernverkehrskon-zeption als auch hinsichtlich der Nutzung als schnellesRegionalverkehrssystem spannend. Beides ist wichtig.
Wir haben hier zusätzliche Optionen. Das ist positiv.
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Wolfgang Börnsen
9900
Ich würde Ihnen gerne die Strategie des Bundes anhandder erwähnten drei Punkte kurz vorstellen: erstens Bau ei-ner Anwendungsstrecke. Die Auswahl und die Untersu-chung geeigneter Alternativstrecken erfolgen gemäß dermit den Ministerpräsidenten der Länder abgestimmtenVerfahren. Diese haben sich sehr rege an der Diskussionbeteiligt. Gemeldet wurden fünf Projektvorschläge. DasLand Bayern schlägt die Flughafenverbindung München-Hauptbahnhof–Flughafen-München vor, Berlin undBrandenburg die Verbindung zwischen dem LehrterBahnhof und dem geplanten Flughafen Berlin Branden-burg International, Hessen und Rheinland-Pfalz die Ver-bindung zwischen den Flughäfen Frankfurt/Main undHahn/Hunsrück, die Länder Niedersachsen, Bremen undHamburg regen die Fortführung dieser Strecke über Leerund Groningen nach Amsterdam an und Nordrhein-West-falen schlägt schließlich den Metrorapid in denunterschiedlichen Achsen – Ruhrachse, Rheinachse undBergische Achse – vor.Was Sie daraus erkennen können, ist, dass das ProjektTransrapid nicht der Vergangenheit angehört, sondernhier eine Vielzahl von Vorschlägen auf dem Tisch liegt.Das ist auch im Sinne Ihres eigenen Beitrages positiv unddas sollten Sie würdigen.Die Arbeiten werden von einem Projektbeirat begleitet,an dem wiederum – das ist wichtig – alle beteiligt sind:das Bundesministerium, das Eisenbahn-Bundesamt, dieverschiedenen Bundesländer sowie die DB AG. Wir kön-nen nur gemeinsam ein zukunftsfähiges Konzept ent-wickeln. Eine Entscheidung soll nach einer Vorstudieüber eine vertieft zu untersuchende Strecke spätestens An-fang 2002 abschließend gefunden werden.Ich komme zum zweiten Punkt, zur Transrapid-Ver-suchsanlage Emsland.
– Haben wir noch mehr Angebote? Ich nehme das allesgerne auf. Mit fünf Vorschlägen sind wir hier gut im Ren-nen.
– An den Finanzierungsvorschlägen erfreue ich mich auchimmer.Die Frage war doch immer: Was geschieht mit dieserTransrapid-Versuchsanlage? Das von Ihnen vorgetrageneHorrorszenario stimmt so nicht, da auch in der Grund-satzvereinbarung ausdrücklich festgehalten ist, dass wirdieses Projekt weiterführen, und zwar zunächst bis EndeOktober 2000. Damit ist auch die Durchführung des de-zentralen EXPO-Projekts sichergestellt, Herr KollegeBörnsen. Ich halte das auch hinsichtlich unseres Erschei-nungsbildes gegenüber der Welt für wichtig.Minister Klimmt hat sich diesbezüglich mit dem Bun-desminister der Finanzen, den wir heute wieder einmal alssehr sparsamen und konsolidierungsorientierten Ministerkennen gelernt haben, darauf verständigt, dass sich derBund mit 50 Prozent beteiligt. Ich denke, das ist etwas,was Sie würdigen sollten.
Wir werden den Weiterbetrieb der Transrapid-Ver-suchsanlage in den nächsten Jahren fortsetzen. Aber dazugehört natürlich die Beantwortung der Frage: Wie wirddas finanziert, und zwar von allen Beteiligten? Es kannnicht eine Angelegenheit allein des Bundes sein, sondernalle, die ein Interesse haben, sollten sich zusammenset-zen.Eines will ich ausdrücklich sagen: Wir wollen die wei-tere Nutzung auch davon abhängig machen, ob die erfor-derlichen Leistungen zur Weiterentwicklung vorhandensind. Dabei sollten wir prüfen, welche Aufgaben auf einenbeschleunigt bereitzustellenden ersten Abschnitt einerReferenzstrecke – also dort, wo er später eingesetzt wird –verlagert werden können. Ich halte es für ein sinnvollesVorgehen, dass wir dies einbeziehen.Hinzu kommt, dass wir bei der im Oktober 2000 vor-gesehenen ersten Auswahl mehrerer Anwendungs-strecken noch einmal den verkehrlichen und technologi-schen Anforderungen gerecht werden und diese in die ver-tiefte Machbarkeitsstudie einbeziehen. Das heißt, auchdie Versuchsanlage trägt zu der Entscheidung bei, welcheReferenzstrecke wir auswählen werden. Dann können wireinen Teil der Versuchsanlage kostengünstig und sinnvolleinbeziehen.
Herr Staatsse-
kretär, ich glaube, ich sollte Sie darauf hinweisen, dass Sie
sich schon in der Redezeit Ihres Kollegen befinden. Ich
weiß, dass ich die Regierung nicht unterbrechen darf, aber
ich wollte in aller Höflichkeit darauf hinweisen.
K
Frau Präsi-dentin, ich nehme diesen Hinweis gern auf. Gestatten Siemir, noch einen letzten Punkt anzusprechen. Ich bitte denKollegen, Nachsicht zu üben, wenn das etwas in seine Re-dezeit hineinreichen sollte.Ich will noch einmal deutlich machen: Die weitere Ent-wicklung der Magnetschwebebahntechnik verfolgen wirals Bund intensiv. Dies erfordert neben einer wirklichgründlichen Bestandsaufnahme Verhandlungen zurSchaffung der haushaltsrechtlichen Voraussetzungen. Ichweiß nicht, ob Haushälter im Saal sind; sie hören das nichtso gerne, aber wir müssen das vorher klären. Dieses Vor-gehen soll auch im Interesse aller an der Zukunftssiche-rung der Magnetschwebebahntechnik Beteiligten einequalitativ hochwertige und rechtlich einwandfreie Basisder weiteren Aktivitäten ermöglichen.Darüber hinaus wird derzeit in Kooperation mit den be-teiligten Systemfirmen die Konzeption eines kurzfristigumzusetzenden Arbeitsprogramms für die Weiterfüh-rung – Stichwort Kassel – entwickelt. Das heißt, wir wol-len das Know-how, das in Deutschland besteht, für die
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Parl. Staatssekretär Kurt Bodewig9901
Magnetschwebebahntechnik sichern und deren Realisie-rung als Schnellbahnsystem im öffentlichen Verkehr ge-währleisten.Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen, KollegeBörnsen, und allen Antragstellern sagen: Das Aus für denTransrapid auf der Stecke Hamburg–Berlin bedeutet keinAus für den Transrapid.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Michael Goldmann.
Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben schon einige Male über die Anwendungsstrecke
des Transrapid und über den Transrapid ganz generell ge-
redet. Ich will es jetzt mit aller Vorsicht sagen: Ich habe
den Eindruck, dass Sie, Herr Staatssekretär, die Gesamt-
problematik nicht ganz erfasst haben.
Ich will das wirklich mit aller Vorsicht sagen: Ich weiß
nicht, mit welchem Gesichtsausdruck Sie sonst sprechen,
aber wenn Sie einmal nach Lathen fahren, werden Sie
feststellen, dass dort mittlerweile mehr als ein Dutzend
hoch qualifizierter Ingenieure ausgestiegen sind, weil sie
der Politik der Bundesregierung nicht mehr vertrauen und
weil sie wissen, dass auch die Wirtschaft der Politik der
Bundesregierung nicht mehr vertraut. Denn die Wirt-
schaft sagt: Wir haben 280 Millionen DM hineingesteckt.
Die Firmen vor Ort, die sich mit mittelständischen Be-
trieben zusammengetan haben, um ein besonders kosten-
günstiges Angebot für die Erstellung der Strecke zu ma-
chen, wissen gar nicht mehr, ob sie sich in eine solche
Technologie begeben sollten, weil man überhaupt nicht
weiß, ob demnächst nicht wieder ganz kurz vor dem Er-
folg eine politische Entscheidung gefällt wird, die – wie
jetzt – der DB AG in die Schuhe geschoben wird.
Es ist aber eine politische Entscheidung, eine Ent-
scheidung der Regierung, wie sie mit einer Zukunftstech-
nologie umgeht.
In der Situation, in der sich die Bahn befindet, ist es für
die Bahn schwierig gewesen, sich für die Strecke Ham-
burg–Berlin zu entscheiden. Aber es wäre an Ihnen gewe-
sen, helfend einzugreifen, um – kurz vor dem Erfolg – den
Bau der Anwendungsstrecke auf den Weg zu bringen. Das
wäre ein Signal in Richtung dieser Zukunftstechnologie
gewesen.
Herr Staatssekretär, vor Ort werden keine Horrorszena-
rien entwickelt, sondern das Verhalten der Menschen ist
von einer sehr tiefen Sorge um die Zukunft dieser Tech-
nologie und ganz konkret um ihren Arbeitsplatz geprägt.
Dazu, dass Sie vorhin in Bezug auf den Kollegen
Börnsen gesagt haben, wir hätten Scherben produziert,
kann ich nur sagen: Scherbenverursacher in dieser Frage
waren eindeutig die Bundesregierung
und auch Herr Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen, der
alle Anstrengungen unternommen hat, den Transrapid zu
beerdigen.
Frau Mertens, auch Sie haben dabei tüchtig mitgeholfen.
Sie haben sich in dieser Frage von den Grünen durch die
Arena ziehen lassen.
– Na klar!
Als den Grünen in NRWauf einmal das Wasser bis zum
Halse stand, waren sie plötzlich bereit, die Anwendungs-
strecke in NRW zu akzeptieren. Sie haben vorher vonsei-
ten der Sozialdemokraten keinerlei Anstrengung in Rich-
tung einer Anwendung der Transrapid-Technologie unter-
nommen.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun seien Sie einmal
ganz ruhig. Lassen Sie sich einmal auf der Zunge zerge-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Anwendung in Lahten ist bis Oktober dieses Jahresgesichert.
– Vorerst. – Jeder, der planerisch überhaupt nur ein biss-chen weiterdenkt, weiß, dass in fünf, sechs oder acht Jah-ren eventuell wieder eine Entscheidung für eine neue An-wendungsstrecke getroffen werden muss.
Können Sie mir einmal sagen, welche Aussagen derStaatssekretär dazu gemacht hat, wie die Zeitspanne vonjetzt bis in acht Jahren überbrückt werden soll?
Können Sie mir anhand irgendeiner Aussage deutlich ma-chen, wo Sie Weichen für das gestellt haben, was Sie zumSchluss behaupten: Die Anwendungsstrecke Hamburg-Berlin wird nicht kommen, aber es wird eine andere An-wendungsstrecke in Deutschland geben? Können Sie mirein einziges Argument nennen, mit dem Sie dies hier vor-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Parl. Staatssekretär Kurt Bodewig9902
hin untermauert haben? Ich habe aus den Ausführungen,die hier gemacht worden sind, den sehr nachhaltigen Ein-druck gewonnen: Sie wollen jetzt die EXPO-Präsentati-onsphase irgendwie überstehen und danach werden Sie ei-nen Schlussstrich ziehen.
Herr Kollege,
denken auch Sie bitte an die Redezeit.
– Ich bin sofort
fertig, Frau Präsidentin. –
Frau Mertens, wenn wir beide genau das Gegenteil von
dem erleben, was ich eben behauptet habe, bin ich sehr
gern bereit, Sie nach Lathen einzuladen.
Dort gibt es ein schönes Lokal, den „Pingelanton“. Vorher
fahren wir dann Transrapid und hinterher sage ich: Ich
habe mich geirrt. Aber, liebe Frau Mertens, Sie müssen
einfach zugeben: Im Moment wollen Sie den Transrapid
nicht.
Sie tun nichts für den Transrapid. Sie stellen keine Wei-
chen. Sie gefährden diese Zukunftstechnologie in
Deutschland. Das ist eigentlich ein Kapitalverbrechen an
der Zukunftstechnologie in Deutschland.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Herzlich willkommen zu unserer mo-natlichen Transrapid-Debatte.
Ich freue mich, dass Sie eine gute Tradition der Grünenfortsetzen, nämlich durch immer neue Anträge dafür zusorgen, dass das Thema ja nicht in Vergessenheit gerät.
Der vorliegende Antrag, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, hat zwei Bestandteile. Zum einen geht es um die Auf-forderung, das Planfeststellungsverfahren erfolgreich ab-zuschließen. Zum anderen geht es um die Aufforderung,für die Versuchsstrecke im Emsland zu sorgen.Zu dem ersten Teil ist Folgendes zu sagen: Es war dieDeutsche Bahn AG, die sich bekanntermaßen für einen ra-schen Ausbau der Schienenverbindung zwischen Ham-burg und Berlin entschieden hat und die der Auffassungwar und ist, dass das dort eingesetzte Investitionsvolumenschneller und kostengünstiger zu dem Effekt, nämlich ei-ner erheblichen Fahrtzeitverkürzung in der Größenord-nung von eineinhalb Stunden, führen würde.
Das hat uns als Grüne sehr gefreut, weil damit die Bahndas gesagt hat, was wir schon einige Jahre vorher immergesagt hatten. Diese Freude will ich gar nicht verheimli-chen.
Eines muss an dieser Stelle jedoch hinzugefügt werden:Wir werden diesen Ausbau der Schienenverbindung vor-antreiben, und zwar mit zusätzlichen Finanzmitteln, dieon top auf den Schienenbauetat draufgesetzt werden.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,ich verstehe Ihre Aufregung gar nicht. Sie scheinen immernoch die Vorstellung zu haben, der Verkehrsminister sei soeine Art Staatskommissar, der dem Bundesunternehmenvorschreibt und verordnet, was es zu tun und wie es seineunternehmerischen Schwerpunkte zu setzen hat. Das isteine merkwürdige, sozialistische Vorstellung, HerrGoldmann, und hat mit Marktwirtschaft und einer priva-ten Aktiengesellschaft überhaupt nichts zu tun.
Deswegen bin ich sehr froh, dass wir dieses Modell derWeisung des Bundesministers für die Bahn, für das Bun-desunternehmen nicht haben.
Das Planfeststellungsverfahren ist, wie Sie wissen,am 28. Februar 2000 auf Antrag des Antragstellers, derDeutschen Bahn AG, eingestellt worden.
Insoweit ist Ihr Antrag in diesem Punkt überholt.
– In diesem Punkt ist der Antrag überholt, Herr Fischer;das müssen Sie doch zugeben. Wir können doch hier im
Metadaten/Kopzeile:
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Hans-Michael Goldmann9903
Bundestag nicht beschließen, was Unternehmen, zumBeispiel Daimler-Chrysler oder VW Wolfsburg oder dieDeutsche Bahn AG oder wer auch immer, morgen anInvestitionsentscheidungen beantragen. Das wäre ja gera-dezu absurd.
– Herr Kollege, Marktwirtschaft funktioniert anders.
Aber zur Versuchsstrecke: Die Projektbeteiligten ha-ben in ihrer Grundsatzvereinbarung vom Frühjahr diesesJahres auch festgehalten, dass die Zukunftstechnik Ma-gnetschwebebahntechnik mit folgenden Elementen wei-terbetrieben werden soll.
– Das haben sie nicht entschieden. Jetzt hören Sie docherst einmal, was die Projektbeteiligten, die Verantwortli-chen entschieden haben. Sie haben gesagt:Erstens. Eine Anwendungsstrecke wird in Deutschlandgesucht.Zweitens. Die Versuchsanlage Transrapid Emslandwird weiter gesichert und weiterbetrieben.
Drittens. Die Technik soll sowohl in Richtung auf einFernverkehrssystem als auch als mögliches Nahverkehrs-oder Regionalverkehrssystem weiter erforscht werden. –Dagegen habe ich doch nichts.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem, was unsereParteifreunde in Nordrhein-Westfalen gesagt haben, kannich nur zustimmen. Ich war bei der Pressekonferenz da-bei. Wir können uns doch nicht im Ernst darüber streiten,ob das Fahrzeug 10 Millimeter über der Schiene oder aufder Schiene fährt. Das kann doch nicht unser Thema sein.Das Thema muss sein, welchen Zweck wir mit einerbestimmten Technik verfolgen. Die zweite Frage richtetsich darauf, ob und zu welchen Kosten diese Technik denZweck erfüllt. Das ist die entscheidende Frage.Sie machen aber aus dieser Frage eine gleichsam reli-giöse Frage, eine konfessionelle Frage. Ich sage Ihnen:Ob man diese oder jene Technik einsetzt, ist keine Frageder Konfession, sondern eine Frage rationaler undwirtschaftlicher Überlegungen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin, ich bitte um Verständnis,
dass ich angesichts der bisherigen Debatten, die wir hier
hatten, nicht alle Argumente verbrauchen will, die wir in
einem Monat bei der nächsten Debatte wieder vortragen
müssen.
)
Ich komme zum Abschluss. Der Schienenverkehr und
auch die Bahn brauchen alles Mögliche. Sie brauchen ei-
nen technologischen Innovationsschub, sie brauchen Pla-
nungs- und Investitionssicherheit und sie brauchen Inves-
titionen auf hohem Niveau, aber Sie brauchen keine
Glaubenskriege und Schlachten aus der Vergangenheit,
die jeden Monat neu aufgewärmt werden.
Überlassen Sie die Überlegungen den an diesem Projekt
Beteiligten.
Ich sage eines ganz zum Schluss auch noch. Diese
Technologie wird keine Zukunft haben, wenn nicht auch
die Industrie bereit ist, ihren Anteil am Risiko zu über-
nehmen. Das war das eigentliche Problem.
Diese mangelnde Risikobereitschaft sollten wir nicht dem
Steuerzahler zumuten. Wenn die Industrie von den Er-
folgschancen dieses technischen Konzeptes überzeugt ist,
dann soll die Industrie auch ein Stück Risiko schultern
und nicht bei jeder Gelegenheit nach dem Bund und nach
dem Steuerzahler rufen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaubeauch, dass die erneute Debatte um den Transrapid einigegespenstische Züge hat.
Wenn die CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Börnsenund andere, die Bundesregierung jetzt beschuldigen, mitder Entscheidung gegen den Bau der Strecke Ham-burg–Berlin den Zukunftsweg zu verlassen, dann ist da-gegen zu sagen: Die CDU/CSU hatte 16 Jahre Zeit, die-sen Zukunftsweg zu realisieren.
Wenn Sie es nicht tat, Kollege Goldmann, dann lag dasnatürlich auch am Widerstand vor Ort. Es lag aber auch anWiderständen und Widersprüchen, die es bei dieserTechnologie gibt. Es lag auch daran, dass die finanziellenRisiken immer größer wurden. Es lag daran, dass ver-schiedene wichtige Aspekte zur Erprobung der Techniknoch nicht einmal im praktischen Versuch geklärt waren,womit wir mitten im Emsland, in Lathen, wären.Die CDU/CSU-Fraktion schlägt jetzt vor, die Trans-rapid-Versuchsanlage im Emsland zu modernisieren.Das wird präzisiert. Es soll ein zweigleisiger Ausbau derVersuchsanlage und der Bau eines Transrapid-Bahnhofserfolgen. Beides sei erforderlich, so die CDU, um – Zitat –
Metadaten/Kopzeile:
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Albert Schmidt
9904
... so praxisgerecht wie möglich sowohl denGegenverkehr als auch den Halt des Transrapids zudemonstrieren.Hier könnte das Deutsch noch nachgebessert werden. Ge-meint ist nicht der Gegenverkehr, sondern der Begeg-nungsverkehr. Ein Transrapid-Bahnhof dient auch weni-ger der Demonstration des Halts der Magnetbahn – dengab es ja oft auch auf freier Strecke. Er könnte aber dazudienen, die Fahrgast- oder Behindertenfreundlichkeitoder die Integrationsmöglichkeit dieses Verkehrsmittelsin städtischen Zentren oder auch das Gegenteil zu de-monstrieren.Aber gerade diese neuen Präzisierungen muten seltsaman. Eines der Argumente gegen den sofortigen Bau derStrecke Hamburg–Berlin lautete, bei dieser Technik seider Begegnungsverkehr noch nirgendwo in der Praxisgetestet worden. Dagegen argumentierten damals Sie vonder CDU/CSU und der F.D.P., Herr Krause und HerrWissmann, die Tests per Simulationscomputer seien ab-solut ausreichend. Verkehrsinitiativen, zum Beispiel hierin Berlin, haben damals dargelegt, dass ein Transrapid-Bahnhof schwerlich kompatibel mit einem Bahnhof destraditionellen Rad-Schiene-Systems gestaltet werdenkönnte, schon gar nicht im Bereich des zentralen LehrterBahnhofs. Auch damals wurden die Argumente wegge-fegt. Alles sei durch Simulation getestet.Im Grunde will die CDU jetzt in der Opposition dasnachholen, was sie als Regierungspartei 16 Jahre lang ver-säumt hat, nämlich den praktischen Beweis für die Taug-lichkeit und die Sinnhaftigkeit dieses Verkehrsmittels zuliefern. Allerdings bleibt auch hier die Frage: Weshalbsollen den bisherigen 2,5 Milliarden DM Transrapid-Sub-ventionen weitere Hunderte Millionen Mark hinzugefügtwerden? Wenn es sich tatsächlich um eine Technik derZukunft handelt, dann könnte die Transrapid-Industriedoch wenigstens jetzt die Mittel zur Modernisierung auf-bringen. Der Antrag ist also auch in diesem praktischenTeilen abzulehnen, aber vor allem auch deshalb, weil mitihm auch die Option für einen Bau der Strecke Ham-burg–Berlin offen gehalten werden soll.Das muss in jedem Fall abgelehnt werden, wobei an-zufügen ist: Indem sich SPD und Grüne bisher weigerten,das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz aufzuheben, las-sen auch sie eine Hintertür offen. Damit riskiert die Bun-desregierung – zur Freude, glaube ich, der CDU/ CSU undF.D.P. –, dass das Transrapid-Konsortium später mit mas-siven Schadenersatzforderungen nachkarten wird.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann Kues.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär
Bodewig, ich habe Ihren Ausführungen sehr genau zu-
gehört, weil ich herausbekommen wollte, ob Sie wirklich
für den Transrapid sind und was Sie für die Realisierung
einer tatsächlichen Anwendungsstrecke tun wollen.
Das habe ich aber leider nicht heraushören können. Das
bedaure ich.
Ich finde, wer regiert, muss nicht durch Reden bewei-
sen, was er will, sondern er muss es durch ganz konkretes
Handeln und Tun beweisen.
Das vermisse ich bei Ihnen.
Die Art und Weise, wie die Bundesregierung mit der
Magnetschwebetechnik umgeht, ist ein Trauerspiel: tech-
nologiepolitisch, verkehrspolitisch und industriepolitisch.
Wir laufen Gefahr, einerseits der Welt auf der EXPO in
Kürze die Einmaligkeit unserer Verkehrsinnovation vor-
zuführen, andererseits im eigenen Lande immer neue
Hürden für die Anwendung aufzubauen. Wenn wir nicht
aufpassen – das zeigen die heutige Debatte und die Ein-
lassung des Regierungsvertreters wie auch des Vertreters
der grünen Regierungsfraktion –, geben wir uns der
Lächerlichkeit preis;
denn den Anmerkungen von Herrn Schmidt war – entge-
gen den Aussagen von anderen Grünen – sehr klar zu ent-
nehmen, dass er die gesamte Technologie infrage stellt.
Das heißt, Sie haben innerhalb der Regierung nicht ein-
deutig geklärt, ob Sie für die Technik oder ob Sie gegen
die Technik sind.
Deswegen sind Ihre Aussagen zu den Referenzstrecken
auch wenig glaubwürdig.
Ich bin von einem fest überzeugt: Wenn die Bundesre-
gierung und die Deutsche Bahn AG nicht umgehend
Flagge zeigen und Farbe bekennen, was sie eigentlich
wollen, dann sind nicht nur die Exportchancen einer viel
gelobten Hochtechnologie im Eimer, nein, dann vergeben
wir auch die ausgezeichnete Möglichkeit zur Sicherung
und zur Schaffung zahlreicher hochinteressanter Ar-
beitsplätze in Deutschland, insbesondere in Niedersach-
sen und natürlich auch im Emsland.
Herr Kollege,gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Dr. Winfried Wolf9905
Ich gestatte diese
Zwischenfrage.
Herr Kollege
Dr. Kues, können Sie mir nach den Ausführungen, die
wir heute Abend vom Kollegen Schmidt gehört haben, er-
klären, wie die Tatsache verstanden werden muss, dass
der Hamburger Senat, der von den gleichen Parteien
gebildet wird wie die Bundesregierung, vor zwei oder
drei Tagen auf eine Anfrage in der Hamburger Bürger-
schaft einleitend geantwortet hat: „Der Hamburger Se-
nat hält unverändert die Transrapid-Anwendungsstrecke
Hamburg–Berlin für die beste Lösung.“? Können Sie
Zweifel insbesondere an der Glaubwürdigkeit der Frak-
tion der Grünen angesichts der Tatsache verstehen, dass
diese Antwort mit Billigung der Senatsmitglieder der
Grünen gegeben worden ist, zu denen immerhin die vom
Herrn Kollegen Schmidt so hochverehrte ehemalige Bun-
dessprecherin der Grünen, Frau Sager, als zweite Bürger-
meisterin gehört?
Herr KollegeFischer, ich bin Ihnen für Ihre Zwischenfrage sehr dank-bar.
Auch ich habe gehört, dass der Hamburger Senat, getra-gen von SPD und Grünen, die Anwendungsstrecke Ham-burg–Berlin nach wie vor für die beste hält. DieEinlassungen des Kollegen Schmidt und – ich sage dasvorsichtig; ich könnte es härter formulieren – das Herum-geeiere des Herrn Staatssekretärs in Verbindung mit denAussagen der Grünen während des Landtagswahlkampfesin Nordrhein-Westfalen –,
als sie meinten, dass ihnen die Felle endgültig weg-schwimmen würden – sind ein Beweis für die Wider-sprüchlichkeit der Koalition und dafür, dass sie aufgrundfehlender Überzeugungen gar nicht in der Lage ist, klarFlagge zu zeigen. Deswegen bedanke ich mich für IhreZwischenfrage, die mir Gelegenheit gegeben hat, dieshier klarstellen zu können.
Ich möchte deutlich sagen: Für jemanden, der regiert,genügt es nicht, durch Reden seine Glaubwürdigkeit zubeweisen. Nein, wer regiert, der muss durch konkrete Ta-ten dokumentieren, was er möchte. Das vermissen wir beiIhnen.
Ich glaube, dass die Unternehmen allein – das sage ichauch im Hinblick auf das, was der Kollege von der PDSvorhin angemerkt hat – mit den hohen Vorlauf- und Ein-führungskosten für die Magnetschwebetechnik einfachüberfordert wären.
Deswegen ist ein klares politisches Signal notwendig, umzu zeigen, dass man diese Technik und ihre Anwendungauch will. Dieses politische Signal lassen Sie einfach ver-missen.
Wir fordern deshalb – um das ganz klar zu sagen –, dassdie Transrapid-Versuchsanlage Emsland – ich forderedas auch besonders als emsländischer Abgeordneter – alsReferenz- und Demonstrationsstrecke umgehend moder-nisiert und ausgebaut wird, damit für die attraktive undexportträchtige Magnetschwebebahntechnik weiterhingeworben werden kann. Das Schaufenster „TransrapidEmsland“ muss unbedingt erhalten werden.
Das muss umso mehr gelten, als eine Alternativstrecke zuHamburg–Berlin realistischerweise nicht ohne weiteres inSicht ist. Deswegen ist umgehend zu klären, wie in Lathendurch den Ausbau zu einer zweigleisigen Strecken-führung und durch den Bau eines Bahnhofs so praxisge-recht wie möglich sowohl der Gegenverkehr als auch derHalt des Transrapid demonstriert werden können.Ein weiterer Punkt. Der Planungsbestand der Refe-renzstrecke Hamburg–Berlin, den man immerhin für350 Millionen DM geschaffen hat – nicht mit unerhebli-chen Mitteln des Steuerzahlers; darauf darf man auch ver-weisen; die Zahlen sind schon genannt worden –, mussnutzbar gemacht werden.
Bei der Gelegenheit sei auch vermerkt, dass sich alle unsmitgeteilten Überlegungen zur Nachrüstung der ICE-Er-satzstrecke als heiße Luft und als nicht realistisch erwie-sen haben.Drittens. Die Öffentlichkeit ist unverzüglich über dieverkehrspolitische Gesamtkonzeption unter Einbindungdes Transrapid ausführlich und erschöpfend zu unterrich-ten.Bei den Gerüchten, die es gibt, wäre es auch interes-sant, zu erfahren, ob und in welcher Größenordnung fürden Haushalt 2001 Mittel für den Transrapid eingeplantsind und wofür sie eingesetzt werden. Herr Staatssekretär,dazu hätten Sie aus Ihrer Kenntnis ein wenig sagen kön-nen. Das hätte uns mehr überzeugt. So konnten Sie unsleider nicht überzeugen. Was Sie geboten haben, war einHerumgeeiere. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass
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Sie damit die Menschen nicht nur im Emsland, sondernauch in Deutschland insgesamt auf den Arm nehmen.
Jetzt erhält der
Kollege Weis für drei Minuten das Wort.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich daserste Mal den Antrag der CDU/CSU-Fraktion las, habeich mich wirklich gefragt, wie man als Antragsteller einenso geringen Realitätsbezug haben kann. Wie kann manalle Diskussionen zwischen den Hauptakteuren beimTransrapid-Projekt Hamburg–Berlin so ausblenden, wieSie es gemacht haben? Aber ich musste nicht lange über-legen – auch die Debatte heute Abend hat es ganz deutlichgezeigt –: Sinn Ihres Antrages ist einzig, Ihr Vorurteil vonder angeblichen Technikfeindlichkeit der rot-grünen Ko-alition zu pflegen. Es gibt keinen sachlichen Hintergrund.
Wie soll man eigentlich der Öffentlichkeit erklären,dass zwei Parteien wie die CDU und die CSU, die gern fürsich in Anspruch nehmen, die berechtigten Interessen undArgumente der Wirtschaft bei ihren politischen Ent-scheidungen aufzugreifen, jetzt so tun, als hätten derenÜberlegungen überhaupt keine Rolle gespielt, als wäredie Haltung der Bundesregierung, die von finanzpoliti-scher Verantwortung geprägt ist, der alleinige Grund fürdas Ende des Projektes Hamburg–Berlin?Warum gestehen Sie nur dem Industriekonsortium zu,keine weiteren finanziellen Verantwortungen überneh-men zu müssen? Warum blenden Sie aus, dass die Bahnals Betreiber keine Chance sah, den Betrieb des Transra-pid auf dieser Strecke wirtschaftlich zu gestalten? WennSie dies mit den internen Problemen der Bahn AG zu be-gründen versuchen, dann frage ich Sie: Warum nehmenSie nicht wahr, dass es weit und breit keinen anderen In-teressenten gab, der bereit war, das Betriebsrisiko zu über-nehmen?
Dies war so, weil niemand die Chance sah, den Transra-pid zwischen Hamburg und Berlin mit Gewinn fahren zulassen.Glauben Sie nicht, dass es für die Vermarktung einesneuen Transportsystems – sei es auch so faszinierend, soinnovativ und mit so vielen Systemvorteilen wie derTransrapid versehen; das stelle ich überhaupt nicht in-frage – die schlechteste Vermarktungsstrategie ist, diesesSystem der Welt als defizitäres Unternehmen zu präsen-tieren?
Vielleicht ist dies sogar die späte Erkenntnis der Herstel-ler und der Grund für deren Absage gewesen. Entwedergibt es eine besser Alternative für die Erstanwendung oderdas Produkt Transrapid hat durch Ihr verbissenes Festhal-ten an der Strecke Hamburg–Berlin in Deutschland garkeine ehrliche Chance erhalten.Zu Ihrem Antrag. Er ist von mehr als einem Wider-spruch gekennzeichnet; auch wenn ich nur einen benenne:Es passt doch wohl nicht zusammen, dass Sie seit Jahren –bis heute – den Bau der Anwendungsstrecke Ber-lin–Hamburg verlangt haben und nie infrage gestellt ha-ben, dass die Strecke natürlich zweigleisig sein muss,während Sie erst heute fordern, die Tests und Demonstra-tionen zur Begegnung von Zügen auf der Versuchsanlagezu ermöglichen. Mit dieser Begründung stehen Sie ziem-lich allein.Die Testanlage an sich und ihre Ertüchtigung zu De-monstrationszwecken hat keinen Sinn. Die Weiterführungund die Ertüchtigung der Versuchsanlage muss meines Er-achtens nur unter dem Gesichtspunkt diskutiert werden,dass es ein alternatives Erstanwendungsprojekt gibt, dasneue Anforderungen stellt. In diesem Falle sollte man erstüberlegen, ob man es nicht den Japanern nachmachenkann, die ihre Versuchsanlage als Bestandteil einer späte-ren Anwendungsstrecke gebaut haben.
In dieser Weise hat auch der Staatssekretär diskutiert.Zum Abschluss möchte ich etwas zu den Forderungensagen, das Planfeststellungsverfahren für den Transra-pid Hamburg–Berlin weiterzuführen und abzuschließen.Diese Forderung geht ebenfalls weit an der Realität vor-bei. Da der Transrapid dort nicht gebaut werden wird,kann es Ihnen eigentlich nur um die Sicherung der Trassezwischen Hamburg und Berlin gehen. Was aber ist einPlanfeststellungsverfahren für ein Transrapidsystem wert,wenn es dann für eine konventionelle Eisenbahnverbin-dung genutzt werden soll?
Sie können doch mit dem Planfeststellungsbeschluss füreine Ortsumgehung auch keinen Flughafen bauen.
Haben Sie die Aussagen der Bahn AG und die Haus-haltssituation des Bundes aus Ihren Überlegungen aus-geblendet, wonach eine Neutrassierung zwischen Ham-burg und Berlin aus Kostengründen nicht infrage kommt
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Dr. Hermann Kues9907
und die Trassen über Uelzen und Stendal bzw. Witten-berge mit weniger Mitteln so hergerichtet werden können,dass man 90 Minuten Fahrzeit erreichen könnte?Sie merken an der Aufzählung der vielen Fragen, dieich Ihnen gestellt habe,
dass wir Ihren Antrag für sehr unüberlegt halten. Wir wer-den ihn dann natürlich bei der abschließenden Debatte,die wahrscheinlich auf uns zukommen wird, ablehnen.
Ich schließe da-
mit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 14/3183 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Kersten
Naumann, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der
PDS
Vererblichkeit von Bodenreformeigentum
– Drucksachen 14/1063, 14/2405 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Dr. Michael Luther
Werner Schulz
Jürgen Türk
Gerhard Jüttemann
Ich frage Sie, ob Sie einverstanden sind, dass die Ab-
geordneten Fornahl, Luther, Lemke und Funke ihre Reden
zu Protokoll geben. – Das scheint der Fall zu sein. Dann
eröffne ich jetzt die Debatte und gebe der Abgeordneten
Kersten Naumann das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Zehn Jahre nach der deutschen Ein-heit bewegt das hochsensible Thema der Vererblichkeitvon Bodenreformeigentum noch immer die Gemüterwie nahezu kein anderes. Es setzt voraus, dass man die ge-sellschaftliche und rechtliche Situation in der früherenDDR genau kennt und beachtet, dass ein Transforma-tionsprozess von DDR-Recht in bundesdeutsches Rechtvorgenommen wurde. Schließlich sind hohe ideologischeSchranken zu überwinden, die bei Eigentumsfragen be-sonders stabil sind.Eigenartigerweise und natürlich zu meiner großenFreude haben bei diesem Punkt PDS und F.D.P. die glei-che Rechtsauffassung. Ich zitiere den AbgeordnetenJürgen Türk aus der ersten Lesung:Bodenreformland ist vererbbar und darum haben dieErben ein Anrecht auf das Land. Alles andere wäreauch Unsinn. Der Gesetzgeber ist deshalb gefordert,das Einführungsgesetz des BGB in der Form zu än-dern, dass die Erben von Bodenreformland auch zuihrem Recht kommen.
Dass die F.D.P. in den Ausschussberatungen dann dochgegen den PDS-Antrag gestimmt hat, wundert mich sehr,
zumal Kollege Türk in seinem damaligen Redebeitragzum Urteil des Bundesgerichtshofs folgendermaßen argu-mentierte:Die Begründung des BGH dafür ist so diffus, dass ichmir gerade als juristischer Laie erspare, diese zu be-werten.Richtig so, Kollege Türk!Zwischenzeitlich hat das Landgericht Leipzig im Na-men des Volkes Recht gesprochen und Ihre Auffassungbestätigt. Es hat die Klage des Freistaates Sachsen aufHerausgabe eines vor dem 6. März 1990 ererbten Boden-reformstückes abgewiesen. In seinem Urteil vom 16. No-vember 1999 heißt es – ich zitiere jetzt die Kernaussa-gen –:Mit dem Gesetz über die Rechte der Eigentümer vonGrundstücken aus der Bodenreform vom 6. März1990 wurden diese Verfügungsbeschränkungendurch den Gesetzgeber der DDR jedoch aufgehoben.Mit Inkrafttreten des Gesetzes vom 6. März 1990 ...am 16. März 1990 haben die Beklagten daher infolgeder Aufhebung der Verfügungsbeschränkungen ausder Besitzwechselverordnung Volleigentum erwor-ben. ...Dieses Volleigentum gelangte am 3. Oktober 1990unter den Schutz von Art. 14 Grundgesetz.Das Gericht charakterisiert die Anwendung desArt. 233 EGBGB als eine „entschädigungslose Enteig-nung, die nicht durch Gründe des Allgemeinwohls ge-rechtfertigt ist“ und schließt sich deshalb der Ansicht desBundesgerichtshofes nicht an. Das Landgericht Leipzighat damit eine juristische Begründung des PDS-Antragesgeliefert. Mit weiteren juristischen Entscheidungen ist zurechnen. Wir hoffen, dass sich auch dabei die LeipzigerRechtsauffassung durchsetzt.Nun noch eine politische Begründung. Als Begrün-dung für Art. 233 EGBGB wird immer angeführt, dass dieDDR-Behörden die Besitzwechselverordnung schlampigumgesetzt hätten und deshalb eine Nachzeichnungspflichtbestehe. Die Besitzwechselverordnung ist zu DDR-Zeitenfünfmal geändert worden. Offensichtlich wurde sie nichtmehr angewendet, weil die Bedingungen für ihre Anwen-dung nicht mehr bestanden. Zum Beispiel konnte dieForderung, in der Landwirtschaft tätig zu sein, bei dem er-heblichen Rückgang der Arbeitskräfte in der Landwirt-schaft der DDR und der Ausgliederung landwirtschaftli-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Mai 2000
Reinhard Weis9908
cher Tätigkeiten in die Dienstleistungsbereiche gar nichtmehr aufrechterhalten werden. Die rückwirkende Ent-scheidung der Volkskammer war deshalb auch aus sachli-chen Gründen völlig berechtigt.
In der politischen Auseinandersetzung mit der PDSwird immer wieder die Forderung erhoben, sie müsse ersteinmal in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit an-kommen. Wenn wir uns auf den Weg machen, das sichernicht sehr einfache Rechtssystem der Bundesrepublikzu verstehen, dann sollten Sie uns wenigstens dabei un-terstützen.
Lassen Sie Recht sein, was Recht ist, und überspringenSie die ideologischen Hürden! Erkennen Sie an, dass imFalle des Erbes von Bodenreformflächen die PDS-Auf-fassung rechtlich korrekt ist! Stimmen Sie gegen dieBeschlussempfehlung des Ausschusses und bringen Sieeinen Gesetzesantrag ein, der den Art. 233 novelliert!
Wir kommen
nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu
dem Antrag der Fraktion der PDS zur Vererblichkeit von
Bodenreformeigentum. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/1063 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses
gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard
Jüttemann, Monika Balt, Petra Bläss, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der PDS
Gleichstellung der von Strukturkrisen betroffe-
nen Bergleute in Ost und West
– Drucksache 14/2385 –
Wieder möchte ich Sie fragen, ob wir die Reden der
Abgeordneten Labsch, Klinkert, Schulz und Hirche zu
Protokoll nehmen können? – Ich sehe, dass Sie damit ein-
verstanden sind. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und rufe als einzigen Red-
ner den Abgeordneten Gerhard Jüttemann auf.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Das Problem, das wir heute debattie-ren, lässt sich im Kern auf die einfache Frage reduzieren,warum Bergleute Ost gegenüber Bergleuten West in derBundesrepublik Deutschland in sozialpolitischer Hinsichtmassiv benachteiligt werden.1996 habe ich zu diesem Thema schon einmal hier ge-sprochen. So viel war klar, dass ich von der alten Regie-rung, den schwarzen Brüdern hier drüben, wenig undschon gar keine Hilfe erwarten konnte, weil man ja vor-her schon zugelassen hatte, dass unsere Arbeitsplätze ver-nichtet wurden, um wenigstens den Kalibergbau im Wes-ten zu sichern.
Schon 1996 bestand Anlass zu Befürchtungen, da damalsdas Renten-Überleitungsgesetz auslief. Bis dahin warenostdeutsche Bergleute den Bergleuten in den alten Bun-desländern sozialpolitisch gleichgestellt.Worum geht es eigentlich im Kern?
1971 hat man in der alten Bundesrepublik erkannt, dasseine Strukturkrise im Steinkohlenbergbau bevorstehenwürde. Man hat sozialpolitisch verträgliche Regelungenerlassen, indem ein Anpassungsgeld gewährt wurde. ImKern beinhaltete diese Regelung, dass Bergleute über50 Jahre, die länger als 25 Jahre unter Tage gearbeitet hat-ten, ein Anrecht darauf hatten, zu Hause zu bleiben, undmit 55 Jahren die Knappschaftsausgleichsleistung beka-men. Damit war ihnen zwar nicht geholfen, da sie gernegearbeitet hätten. Aber es wurde wenigstens eine sozial-verträgliche Lösung gefunden, die mit der Strukturkrisebegründet wurde.
– Bitte schön. Unsere Bergleute würden sich im Grabeumdrehen, wenn sie hören würden, welche Abfindungenjene bekommen haben.Jetzt kommen wir zu dem Problem: Im Zuge der Wie-dervereinigung ist der ostdeutsche Bergbau, zumindest imUntertagebereich, völlig weggebrochen. Haben wir nichteine ähnliche Strukturkrise gehabt? Die Bundesregierunghatte zumindest am Anfang noch dafür gesorgt, dass dieseKrise durch sozialverträgliche Regelungen aufgefangenwurde. Es gab das Renten-Überleitungsgesetz, Alters-übergangsregelungen und Vorruhestandsregelungen. DasRenten-Überleitungsgesetz ist aber 1996 ausgelaufen. Siewaren da an der Regierung und wussten, dass man etwasfür diese Bergleute tun musste; aber Sie haben nichts ge-tan.
– Es geht etwa um 300 Bergleute.
Ich selbst habe 17 Jahre unter Tage gearbeitet. In mei-nem Bergwerk in Bischofferode gibt es noch 70 betrof-fene Bergleute. Es ist schlimm genug, dass sie ihren eige-nen Arbeitsplatz abbauen und ihre Arbeit aufgeben müs-sen, obwohl sie noch lange hätten arbeiten können. DasSchicksal und Ihre Entscheidungen haben dazu beigetra-gen, dass ihnen jede Perspektive genommen wurde. Ich
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Kersten Naumann9909
sage Ihnen eins: Sie haben nicht die Chance, mit 55 Jah-ren noch in einem anderen Bergwerk beschäftigt zu wer-den. Das heißt für die meisten: In einem Alter von 52, 53Jahren will man sie mit der Rente für Bergleute in den Ru-hestand schicken.Wissen Sie eigentlich, wie viel sie dann bekommen?Ich habe die Bescheide von Bergleuten gesehen, die27 Jahre und länger unter Tage gearbeitet haben. Der Ren-tenbescheid für Bergleute – der Betrag beläuft sich im-merhin auf 40 Prozent der späteren Altersrente – enthälteine Summe von 740 DM. Von 740 DM kann keinMensch leben. Die Chancen für einen Bergmann, der über25 Jahre unter Tage gearbeitet hat, eine neue Anstellungzu finden, sind gleich null.Auf der anderen Seite haben Sie die Anpassungsgeld-regelungen für den bundesdeutschen Bergbau immer wie-der sozialverträglich verlängert. Ich finde das gut undrichtig. Aber ich kann keinem Bergmann bei mir zu Hauseerklären, warum im Steinkohlebergbau, der ja subventio-niert wird, heute noch im Rahmen einer sozialverträgli-chen Regelung Betriebsrenten gezahlt werden. UnsereBergmänner dagegen sollen jetzt vorzeitig ihren Arbeits-platz verlassen und mit einer Summe von 740 DM nachHause gehen. Das kann doch nicht wahr sein! Da istHandlungsbedarf angesagt.
Wir haben festgestellt, dass es sich um etwa 300 Be-troffene handelt. Ich muss eines deutlich sagen: Ich habezu Beginn des Jahres 1998 Hoffnung in die neue Regie-rung gesetzt. Ich hatte mit einigen Abgeordneten gewisseAbsprachen getroffen.
Ich habe ihnen gesagt: Ich will mir die Lorbeeren nichtunbedingt an den Hut heften. Tut selber etwas und schaffteine Regelung, damit etwas geschieht! Nun sind fast zweiJahre um; die neue Regierung hat aber nichts getan. Sieerweckt auch nicht den Anschein, als würde sie etwas tun.Aber eines kann ich Ihnen sagen: Solange ich noch Be-triebsrat bin – ich hoffe, ich bin es in diesem Bergwerknoch lange –, werden wir energisch Widerstand leisten.
Diesen Kollegen wird nicht gekündigt – und wenn ich imRuhrgebiet auf die Straße gehen muss, um dieses Themavorzutragen. Ich glaube nicht, dass dies in Ihrem Interesseist.Helfen Sie den 300 Bergleuten! Schaffen Sie eine Lö-sung, damit sie mit 55 Jahren wenigstens die Knapp-schaftsausgleichsleistungen bekommen können! Sie ha-ben nämlich ihre Beiträge gezahlt und einen Anspruch da-rauf. Denken Sie darüber nach! Dies war erst die ersteLesung. Sie haben noch Zeit.Ich danke vielmals.
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vor-
lage auf Drucksache 14/2385 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federfüh-
rung ist jedoch strittig.
Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion der PDS
wünscht Federführung beim Ausschuss für Angelegen-
heiten der neuen Länder. Ich bitte diejenigen, die dem
Überweisungsvorschlag der Fraktion der PDS zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Der Überweisungsvorschlag der PDS ist mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS ab-
gelehnt worden.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag
ist mehrheitlich gegen Stimmen aus der PDS bei einigen
Enthaltungen angenommen worden. Damit ist die Über-
weisung, wie von den Koalitionsfraktionen gewünscht,
mit Federführung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 19. Mai, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.