Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröff-
net.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
der Kollegin Erika Simm, die am 16. April ihren 60. Ge-
burtstag feierte, und dem Kollegen Jochen Borchert, der
am 25. April ebenfalls seinen 60. Geburtstag beging,
nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses aus-
sprechen.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der Kollege
Wolfgang Bosbach sein Amt als Schriftführer niederge-
legt hat. Ich danke dem Kollegen für seine langjährige
Unterstützung. Als Nachfolgerin wird die Kollegin
Edeltraut Töpfer vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die
Kollegin Töpfer als Schriftführerin gewählt.
Der ehemalige Abgeordnete Gerhard Schulz scheidet
zum 1. Juli 2000 aus dem Verwaltungsrat der Deutschen
Ausgleichsbank aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt
als Nachfolger für den Rest der Amtszeit des
Verwaltungsrats den Kollegen Bartholomäus Kalb vor.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Damit ist der Kollege Kalb als Mitglied in den
Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Pläne der Bundesregierung, die Erbschaftsteuer zu er-
höhen
2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung
der Bundesregierung zur Erhöhung der Sicherheit im In-
ternet vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem „I
love you“-Virus
3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich
Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.: Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche
Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zü-
gig abbauen – Drucksache 14/3298 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zu Veröffentlichungen, wonach Bun-
desfinanzminister Eichel eine Erhöhung der Mehrwert-
steuer im nächsten Jahr plant
Außerdem mache ich auf nachträgliche bzw. geänderte
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktli-
ste aufmerksam:
Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen wer-
den.
Gesetzentwurf der Bundesregierung über die
Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit
dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen
– Drucksache
14/2958 –
überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Bei den in der 99. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Vorlagen soll jeweils der
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ge-
strichen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Bun-
deserziehungsgeldgesetzes
– Drucksache 14/3118 –
überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
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102. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Beginn: 9.00 Uhr
Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Klaus Haupt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.: Erziehungszeit statt Erziehungsur-
laub – Drucksache 14/3192 –
überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Der in der 100. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO zur Mitbera-
tung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Bernd Reuter,
Dieter Wiefelspütz, Dr. Peter Struck und der Frak-
tion der SPD, der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Friedrich Merz, Michael Glos und der
Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Volker
Beck , Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der Abgeordneten Dr. Max Stadler,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der F.D.P.
sowie der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Gregor
Gysi und der Fraktion der PDS zur Errichtung ei-
ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ – Drucksache 14/3206 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Sind Sie auch damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Eidesleistung des Wehrbeauftragten
Der Deutsche Bundestag hat in seiner 100. Sitzung am
14. April 2000 Herrn Dr.Willfried Penner zum Wehrbe-
auftragten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes über
den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages leistet
dieser vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundgeset-
zes vorgesehenen Eid.
Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleistung
zu mir zu kommen.
Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie nun, den vorge-
schriebenen Eid zu sprechen.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages: Ich schwöre, dass ich meine Kraft
dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen
mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und
die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine
Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen
jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Wehrbeauftrag-
ter, Sie haben den im Gesetz vorgeschriebenen Eid ge-
leistet. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen im Namen des
ganzen Hauses alles Gute für Ihre Arbeit im Interesse der
Bundeswehr.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages: Vielen Dank.
Ich rufe nun die Ta-
gesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
4 a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Deutschland im Aufbruch – Moderne Wirt-
schaftspolitik für neue Arbeitsplätze
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Bessere Erwerbsaussichten für ältere Ar-
beitnehmer durch bessere Qualifizierung
– Drucksache 14/2909 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Gunnar Uldall, Birgit Schnieber-Jastram,
Wolfgang Börnsen , weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Beschäftigung als Ziel der Wirtschaftspoli-
tik herausstellen
– Drucksache 14/2988 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
drei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zweifel sindnicht mehr erlaubt: Es gibt in Deutschland einen kräftigenWirtschaftsaufschwung, und zwar einen Aufschwung, der
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Präsident Wolfgang Thierse9484
alle Branchen erfasst hat, den Export gleichermaßen wieden Binnenmarkt. Das weisen die Wachstumszahlen aus,die wir zu erwarten haben. Alle Institute rechnen mit ei-nem wirtschaftlichen Wachstum für dieses Jahr in Höhevon 2,8 Prozent sowie mit einem ebenso hohen im nächs-ten Jahr. Die Europäische Kommission und der Interna-tionale Währungsfonds halten sogar ein darüber hinaus-reichendes Wachstum für möglich. Fazit: Wir haben indiesem Land die Chance, die erste Dekade des neuen Jahr-hunderts zu einer Dekade der wirtschaftlichen Vernunftund des sozialen Ausgleichs zu machen. Wir werden dieseChance nutzen.
Aber es sind nicht nur kühle Zahlen über wirtschaftli-ches Wachstum, die beeindrucken – übrigens nicht nur inDeutschland, sondern auch international. Wir könnenvielmehr mit großer Freude feststellen, dass das Wachs-tum, dass der Aufschwung inzwischen auch den Arbeits-markt erreicht hat. Das weisen die Zahlen ebenso klar aus.Die Arbeitslosenzahlen sind im April dieses Jahres ge-genüber dem April des Vorjahres um exakt 156 000zurückgegangen. Wir sind unter der 4-Millionen-Grenze.Wir haben alle Chancen – so die wirtschaftswissenschaft-lichen Institute, so andere Institutionen, die sich mit die-sen Fragen befassen –, am Ende dieser Legislaturperiodeweniger als 3,5 Millionen Arbeitslose zu haben. Ich haltedas für den zentralen Erfolg der deutschen Politik.
Der Opposition, die gelegentlich daran erinnert, dassdas mit der Politik in diesem Land nichts zu tun habe, seiübrigens gesagt
– das ist sehr interessant –, dass während der ganzen 90er-Jahre, dass während der ganzen Zeit, in der Sie regierten,die Zahl der Arbeitslosen deutlich über 4 Millionen lagund während nicht unerheblicher Teile der 90er-Jahre so-gar an die 5-Millionen-Grenze herankam.
Jetzt sind wir bei unter 4 Millionen. Wir werden diesenWeg konsequent und entschlossen weitergehen.
Für mich besonders erfreulich ist der Rückgang derJugendarbeitslosigkeit. Wir hatten 1999 im Vergleich zu1998 über das Jahr hinweg einen Rückgang der Jugend-arbeitslosigkeit um mehr als 9 Prozent. Wir haben fürApril dieses Jahres, verglichen mit dem Monat März, ei-nen Rückgang der Arbeitslosenquote bei Jugendlichenum 1,8 Prozent. Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit,verglichen mit dem Rückgang der allgemeinen Arbeitslo-sigkeit, um mehr als das Doppelte verringern können. Dasist ein zentraler Erfolg der Politik unserer Regierung, derPolitik der rot-grünen Koalition.
Ich erinnere mich noch ganz gut an die Debatte überdas Sofortprogramm der Bundesregierung hier in diesemHohen Hause, in der uns quasi vorgeworfen worden ist,dass wir auch mit staatlichen Maßnahmen dafür sorgenwollen und werden, dass die Jugendarbeitslosigkeit inDeutschland zurückgeht. Was für ein Vorwurf meine Da-men und Herren! Wir haben es geschafft, den Jugendli-chen endlich wieder eine Perspektive zu geben. Das istnicht nur Arbeitsmarktpolitik, das ist Gesellschaftspolitikpar excellence.
Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen; dennwir wissen, dass in vielen wichtigen Bereichen, vor allenDingen im Osten unseres Landes, noch zu wenig betrieb-liche Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Dies istübrigens nicht deshalb so, weil die meisten Unternehmendort in puncto Ausbildung Drückeberger wären, sondernvor allen Dingen deshalb, weil es dort weniger Betriebegibt. Im Vergleich zum westdeutschen Durchschnitt gibtes etwa im Mittelstand deutlich weniger Betriebe als beiuns. Hierin liegt einer der zentralen Gründe, warum wirbei der Bereitstellung von betrieblichen Ausbildungs-plätzen im Osten des Landes noch mehr Probleme habenals im Westen des Landes; denn im Westen haben wir ingemeinsamer Anstrengung des Bündnisses für Arbeit inweiten Bereichen bereits eine ausgeglichene Situationzwischen dem Angebot an Ausbildungsplätzen und derNachfrage nach solchen.
Wir müssen deshalb insbesondere im Osten unseresLandes, in den neuen Bundesländern, mit den bisher rea-lisierten Programmen weitermachen, um den Jugendli-chen auch dort so weit wie möglich eine Perspektive imeigenen Land, in der eigenen Region zu geben. Das istKern unserer Anstrengungen, und wir werden nicht nach-lassen, auf diesem Weg fortzufahren.Meine Damen und Herren, das, was ich eben über wirt-schaftliches Wachstum und den Arbeitsmarkt gesagt habe,vollzieht sich in einer fast inflationsfreien Situation.
Übrigens: All diejenigen, die seinerzeit befürchtet haben,die dramatisch gestiegenen Rohölpreise und dieSchwäche des Außenwerts – ich betone: des Außen-werts – des Euro würden zu massiven Inflationsschübenim Inneren der Bundesrepublik führen, haben sichgetäuscht.
Im April dieses Jahres war eine Inflationsrate von 1,5Prozent – ich unterstreiche: 1,5 Prozent – zu verzeichnen,während sie im März noch bei exakt 1,9 Prozent lag. Siesehen also: Die Befürchtungen, die übrigens gelegentlichinsbesondere von denen ausgesprochen worden sind, die
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Bundeskanzler Gerhard Schröder9485
die Frage des Euro noch als eine Frage von Leben und Todin Europa bezeichnet haben, sind irreal.
Ich will dazu gleich ein paar Bemerkungen machen.Die positiven Wachstumsraten und die Tatsache, dass wirüber Inflation im Euroland Gott sei Dank nicht zu redenbrauchen, macht die Kraft der europäischen Volkswirt-schaften, jener Volkswirtschaften, die den Euro-Raum bil-den, deutlich. Diese Kraft der Volkswirtschaften und dieWachstumserwartungen, die wir nicht nur in Deutschland,sondern die wir im Euroland insgesamt haben, machen dieStärke der europäischen Währung aus. Deshalb ist eskeine Gesundbeterei, wenn man darauf hinweist, sondernökonomische Einsicht, und sie ist richtig. Es ist auch ver-nünftig, darauf hinzuweisen und keine Angstmacherei mitdiesem Tatbestand zu betreiben.
Im Übrigen – auch das gehört zu den ja doch verfüg-baren Einsichtsmöglichkeiten – habe ich mir einmal dieExportquote von Bayern geben lassen.
Das ist eine ganz interessante Zahl, weil man von einemdort amtierenden Ministerpräsidenten ja gelegentlichSprüche hört, die so klingen, als hätten seine Partei undsein früherer Parteivorsitzender mit der Einführung desEuro nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun.
Das hat er ja auch nicht, oder? – Ich habe es immer andersverstanden.Die Exportquote in Bayern beträgt ungefähr 37 Pro-zent.
Es fehlt euch noch ein bisschen, um auf 38 Prozent zukommen. Sie ist übrigens fast exakt so hoch wie die in denmeisten anderen Bundesländern und fast genauso hochwie die von Niedersachsen.
Das hat natürlich mit dem Auto zu tun; das ist ja keineFrage.
– Nein, nicht BMWmeine ich jetzt, sondern Volkswagen,Herr Glos.
Rund 30 Prozent aller deutschen Industriearbeitsplätzehängen vom Export ab. Aber es ist die Auffassung all der-jenigen, die wirklich Wirtschaft praktizieren, dass wir unstrotz der Schwäche des Euro, und zwar ausschließlich inder Parität zum Dollar, deswegen keine großen Sorgenmachen müssen, weil die Stärke der Währung unbezwei-felbar da ist. Ferner brauchen wir angesichts der Siche-rung der Arbeitsplätze im Export nicht unbedingt zu wei-nen, wenn es der deutschen Exportwirtschaft zulasten an-derer besser geht. Denn wir hatten schon einmal andereZeiten: Als die DM-Dollar-Parität bei 1,35 DM und dar-unter lag, hatten wir Grund, über den Außenwert zu wei-nen, weil wir enorme Schwierigkeiten beim Export hat-ten. Mir kommt es darauf an, allen Menschen in diesemLand zu sagen: Die Stärke einer Währung bemisst sichnach der Kraft der dahinter stehenden Volkswirtschaften.Der Außenwert dieser Währung wird sich dieser Kraft an-gleichen. Davon bin ich fest überzeugt. Bis dahin lasst unsein bisschen Freude daran haben, dass es unserer Export-wirtschaft so gut geht, meine Damen und Herren!
Ich stelle mir gelegentlich vor, welche Reden in diesemHaus gehalten würden, wenn die Machtverhältnisse um-gekehrt wären. Mit Zahlen, die nur ein Zehntel der jetzi-gen betragen würden, würden Sie einen Tanz um das gol-dene Kalb aufführen; davon bin ich fest überzeugt.
Als die Wachstumserwartungen für 1998 und 1999nicht so glanzvoll waren, wie wir sie gerne gehabt hätten,hat die Opposition gesagt, dass das natürlich an der Re-gierung liegt. Jetzt habe ich eine Stellungnahme – ichglaube, von Frau Merkel – gelesen, in der steht, jetzt, wodie Wachstumsraten nach oben gehen, liegt es natürlichnicht an der Regierung. Das überrascht mich.
Frau Merkel, das ist Politik nach dem Motto: Wenn inDeutschland die Sonne lacht, hat es die CDU gemacht.Gibt es winters Eis und Schnee, war es die böse SPD.
So kann man es doch nicht machen.Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass wir eineSituation in Deutschland haben, die im Vergleich zu dem,was wir im letzten Jahrzehnt der früheren Regierung er-lebt haben, glanzvoll ist, hat etwas mit den Ansätzen zutun, die wir gemacht haben und die zum Teil bereits in dasGesetzblatt Eingang gefunden haben. Das hat zum Bei-spiel mit der Steuerreform zu tun, die der Bundesfinanz-minister auf den Weg gebracht hat und die zu großen Tei-len bereits durchgesetzt ist und weiter durchgesetzt wer-den wird. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass wir unsnicht auf einen fruchtlosen Streit eingelassen haben, wel-ches der richtige Weg in der Wirtschafts- und Finanzpoli-tik sei: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Diese Si-tuation gäbe es, wenn wir nicht beides gemacht hätten, inDeutschland nicht.
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Bundeskanzler Gerhard Schröder9486
Wir haben mit den ersten Maßnahmen, mit dem Steu-erentlastungsgesetz, angesichts damaliger konjunkturellerSchwäche auf dem Binnenmarkt massiv für zugeführteKaufkraft bei den durchschnittlich Verdienenden in die-sem Land gesorgt. Es hat nicht nur soziale Gründe, dasswir Entlastungen in großem Umfang gemacht haben.Nein, es entsprang auch der ökonomischen Einsicht, dasses sinnvoll ist, die Nachfrage zu mobilisieren, da kon-junkturelle Erwartungen auf dem Binnenmarkt noch nichtso realisiert werden konnten, wie wir es uns wünschten.Deshalb ging es uns immer um wirtschaftliche Vernunftund sozialen Ausgleich, wenn wir dafür gesorgt haben,dass die breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung indiesem Land von dem, was sie brutto verdienen, nettomehr übrig haben. Das ist der Kern unserer Politik.
Das war auch der Grund, warum wir das Kindergeldkräftig erhöht haben, während Sie nur herumgeredet ha-ben. Wir haben das Kindergeld in mehreren Schritten um50 DM pro Kind erhöht. Es sind die größten Sprünge, diebeim Kindergeld in der Geschichte der Bundesrepublikgemacht worden sind. Das war wirtschaftlich vernünftigund sozial gerecht.
Das wird jetzt weitergehen. Wir befassen uns nun mitder Angebotsseite. Die Beschlüsse des Finanzausschussessind gefasst. In der nächsten Woche wird, soweit ich esmitbekommen habe, die Mehrheit im Deutschen Bundes-tag dafür sorgen, dass das eichelsche Unternehmenssteu-erkonzept Gesetz werden wird.
Es ist auch nötig, dass es Gesetz wird; denn damitnehmen wir die von uns beabsichtigte Stärkung der An-gebotsseite vor. Das soll den Unternehmen in Deutsch-land bessere Möglichkeiten geben. Sie sehen ja, dass dasgreift. Wenn ich „bessere Möglichkeiten für Unterneh-men“ sage, meine ich schlicht, dass wir jene Gewinne, diein Deutschland gemacht werden und die bei uns inArbeitsplätze investiert werden, steuerlich besser stellenwollen als jene Gewinne, die nach Luxemburg oderLiechtenstein transferiert werden. Ich weiß gar nicht, wasdaran falsch sein soll.
Das ist der Kern des eichelschen Konzepts. Das wirddurchgesetzt.Wir werden mit dem Pfusch jährlicher Steuergesetzeaufhören, weil diese zu völliger Unkalkulierbarkeit beiden Investoren, aber auch bei den Verbrauchern geführthaben. Das ist der Grund, warum Hans Eichel eine Kon-zeption vorgelegt hat, die bis zum Jahr 2005 tragen wird.Wir brauchen die Kalkulierbarkeit für Investoren.
Kern dessen, worum es uns geht, ist, eine im interna-tionalen und auch im europäischen Wettbewerb ver-gleichbare Unternehmensbesteuerung zu schaffen. Diesewird durchgesetzt. Wir, das heißt, die staatliche Ebene,werden uns mit einem Körperschaftsteuersatz von25 Prozent begnügen. Wir räumen den Personengesell-schaften – soweit sie es wollen – eine Optionsmöglichkeitein, ohne Körperschaften werden zu müssen.All denjenigen, die fragen: Was macht Ihr denn bei derEinkommensteuer?, möchte ich ein paar nüchterne Zah-len entgegenhalten, mit denen sich zum Beispiel bewei-sen lässt, dass durch eine weitere Senkung des Spitzen-steuersatzes, die immer wieder gefordert wird, alle mög-lichen Gruppen entlastet werden, aber jedenfalls nicht diehart arbeitenden Mittelständler in diesem Land.
Nach den Zahlen, die mir vorliegen, haben 78 Prozent de-rer, die über gewerbliche Einkommen verfügen, also dieklassischen Mittelständler, ein zu versteuerndes Einkom-men – ich betone: ein zu versteuerndes Einkommen; Siemüssen natürlich die Freibeträge einrechnen; ansonstenist es arg wenig – von unter 100 000 DM. Diesen Men-schen, also 78 Prozent derer, auf die Sie sich immer beru-fen, helfen Sie doch nicht mit der Reduzierung des Spit-zensteuersatzes. Die Einkommen dieser Menschen sinddoch gar nicht so hoch, dass sie auch nur in die Nähe desSpitzensteuersatzes kommen.
Auf den Weg, den Hans Eichel beschritten hat – Ein-gangssteuersatz senken, bei der Progression etwas tun undbei der Gewerbesteueranrechnung in doppelter Weisehilfreich sein –, sind die meisten Mittelständler angewie-sen. Sie machen dagegen Politik für vielleicht 5 Prozentdes Mittelstandes, aber nicht für mehr. Darüber müssenSie sich im Klaren sein.
Die Politik, die wir machen, für die der Bundesfinanzmi-nister steht und für die er sich übrigens große Zustimmungbei den Deutschen erworben hat, und zwar völlig zuRecht, wird unbeirrt Schritt für Schritt fortgesetzt werden.Ich kann an die Adresse der Mehrheit im Bundesrat, andie unionsgeführten Länder, nur warnend sagen: Derje-nige, der alle nasenlang ankündigt: „Wenn Ihr nicht deut-lich mit dem Spitzensteuersatz runtergeht, dann werdenwir die eichelsche Steuerreform blockieren“, der blockiertden Aufschwung, der blockiert den Abbau der Arbeitslo-sigkeit und der blockiert die Chancen für die jungen Leutein unserem Land. Das werden wir Ihnen jeden Tag deut-lich machen. Dann werden wir sehen, was passiert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
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Das dritte Element, mit dem wir die Rahmenbedingun-gen verbessert haben, ist das Bündnis für Arbeit. Ichhabe die Häme, besonders Ihre, Herr Brüderle, noch imOhr, mit der Sie sich über dieses Bündnis geäußert haben.Sie hatten wohl die Hoffnung, dass das Bündnis platzenwürde. Aber solche Hoffnungen sind Hoffnungen gegendie Menschen in unserem Land. Das müssen Sie sich klar-machen. Sie mögen parteipolitisch motiviert sein. Abersie haben mit den Interessen der Menschen in diesemLand nicht das Geringste zu tun.
Als wir dann, weil wir vernünftige Gesprächspartnergefunden hatten, eine Tarifrunde in den wichtigsten Bran-chen dieses Landes, die den Aufschwung und den Abbauder Arbeitslosigkeit unterstützt, zustande gebracht haben,hätten Sie wenigstens einmal sagen können: Das habenGewerkschaften und Arbeitgeberverbände unter der Stab-führung der Bundesregierung gut gemacht. Aber dieseGröße hatten Sie nicht.
Sie sollten sie sich erwerben, wenn Sie wieder etwas zusagen haben wollen.Im Bündnis für Arbeit haben wir nicht nur einen Aus-bildungskonsens hergestellt;
vielmehr haben wir durch Diskussionen dafür gesorgt,dass von den gesellschaftlichen Kräften – es geht um Be-reiche, in denen die Bundesregierung eben nicht autonomhandeln kann – jener Kurs, für den diese Bundesregierungund diese Koalitionsmehrheit stehen, offensiv unterstütztworden ist. Das ist eine Leistung, die man nicht kleinschreiben sollte; denn sie ist in diesem Land leider nichtselbstverständlich; sie musste erarbeitet werden.Wir werden im Bündnis für Arbeit in den nächsten Mo-naten an den Punkten Ausbildung und – vor allen Din-gen – Weiterbildung weiterarbeiten. Hinzu kommt eine –Gott sei Dank – wachsende Volkswirtschaft. Die Arbeitdaran wird diesmal hoffentlich mit Unterstützung desganzen Hauses getan. Aber die Frage, die wir noch nichtbeantwortet haben, lautet: Welche gesellschaftlichenGruppen profitieren von dieser wachsenden Volkswirt-schaft? Wir müssen im Bündnis für Arbeit und später dannauch hier nicht nur darüber reden, sondern auch Rahmen-bedingungen dafür schaffen, dass breite Schichten der ar-beitenden Bevölkerung am Wachsen des Kapitalstocksunserer Volkswirtschaft gerecht beteiligt werden. Das istunsere große Aufgabe.
Ich denke, damit ist der wirtschafts- und finanzpoliti-sche Dreiklang unserer Politik deutlich geworden. Daserste Element besteht in einer wachstums- und beschäfti-gungsorientierten Steuerpolitik und in einer ebensolchenAbgabenpolitik. Ich möchte einmal daran erinnern, dassbeispielsweise die Beiträge zur Rentenversicherung nachjahrelangem Anstieg gesunken sind, seit wir regieren. Dasist für die Betriebe, zumal für die lohnintensiven, außer-ordentlich viel wert. Das sollte man einmal zur Kenntnisnehmen.
Man sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass der Ver-such der Konsensbildung über das Bündnis für Arbeit –das zweite Element dieser Politik – richtig und wichtig ist.Dasselbe gilt für das dritte Element dieser Politik – ichnehme an, der Bundesfinanzminister wird sich in der De-batte noch dazu äußern –, nämlich die Konsolidierungdes Haushalts.Dies gilt angesichts der Tatsache, dass Sieuns 1,5 Billionen DM Schulden hinterlassen haben, fürdie wir jedes Jahr 82 Milliarden DM Zinsen zahlen müs-sen.
Diese Politik ist übrigens nicht nur im nationalen Maß-stab außerordentlich wichtig; vielmehr trägt die eichel-sche Konsolidierungspolitik dazu bei, dass die Europä-ische Zentralbank, die ja in eigener Verantwortung han-delt, ein für uns so wichtiges, weil wachstumsfreund-liches Zinsniveau aufrechterhalten kann. Ich gehe davonaus, dass das auch in Zukunft gelingt. Aber die unabding-bare Voraussetzung dafür, dass das gelingt, ist die Konso-lidierungspolitik des Bundesfinanzministers. Deswegenunterstreiche ich auch hier: All denjenigen, die bereitsjetzt darüber reden, dass man vielleicht zu erzielende Ein-nahmen – woraus auch immer – zur weiteren Absenkungdes Spitzensteuersatzes nutzen könnte, sage ich: Größe-ren Unsinn kann man wirtschaftspolitisch nun wirklichnicht anrichten.
Diese Einnahmen gehören – ich erinnere an die Größe-nordnung unserer Schulden – in die Schuldentilgung.Wenn das geschehen ist, kann man darüber reden – daswäre eine vernünftige Diskussion –, ob diejenigenZinsaufwendungen, die dann nicht mehr nötig sind, fürzukunftsgerichtete Investitionen verfügbar gemacht wer-den können. Nur so herum geht es. Wir können nicht be-reits verteilen, was wir noch gar nicht in der Tasche ha-ben.
Ich mache deutlich: Der Weg, den wir gegangen sind,ein Weg wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerech-tigkeit, führt zu sichtbaren Erfolgen, was das wirtschaftli-che Wachstum angeht, er führt zu sichtbaren Erfolgen,was den Arbeitsmarkt angeht. Deswegen werden wir die-sen Weg weitergehen, meine Damen und Herren, fest undentschlossen. Sie können und Sie sollten ihn kritisch be-gleiten, aber auf keinen Fall sollten Sie ihn blockieren,wenn Sie wirklich an Deutschlands Interessen und nichtnur an Parteipolitik denken.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Bundeskanzler Gerhard Schröder9488
Ich erteile nun dem
Kollegen Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! In der Tagesordnung für die heutigeSitzung des Deutschen Bundestages steht „Abgabe einerErklärung der Bundesregierung“. Streckenweise habe ichgedacht, es sei eher eine Kasperade, die hier abgehaltenwird.
Der Titel dieser Regierungserklärung, meine Damenund Herren, lautet: „Deutschland im Aufbruch – ModerneWirtschaftspolitik für neue Arbeitsplätze“. Dieser Titel al-lein täuscht über die wahre Lage der Volkswirtschaftund des Arbeitsmarktes der Bundesrepublik Deutsch-land hinweg. Deutschland ist nicht im Aufbruch, es gibtauch keine moderne Wirtschaftspolitik und, Herr Bundes-kanzler, wir sind von neuen Arbeitsplätzen in Deutschlandnun wirklich weit entfernt.
Sie berufen sich immer wieder und auch heute Morgenauf den Rückgang der Arbeitslosigkeit. Herr Bundes-kanzler, der Rückgang der Arbeitslosigkeit in der Bun-desrepublik Deutschland – Sie wissen das – ist im We-sentlichen statistisch begründet. Er ist im Wesentlicheneingetreten und er wird sich fortsetzen, selbst wenn Siesich mit Ihrer ganzen Regierung entschließen sollten, biszum Ende dieser Legislaturperiode in die Toscana zu rei-sen,
allein aus Gründen, die im Bevölkerungsaufbau, in der sogenannten demographischen Entwicklung der Bevölke-rung der Bundesrepublik Deutschland liegen.
Es scheiden nämlich sehr viel mehr ältere Beschäftigteaus dem Arbeitsmarkt aus, als jüngere Beschäftigte in denArbeitsmarkt nachwachsen. Ihre ganze Hoffnung, HerrBundeskanzler, richtet sich darauf, dass ältere Arbeitslosezu Rentnern werden, und nicht darauf, dass jüngere Ar-beitslose zu Beschäftigten werden. Das ist die Wahrheit.
Sie haben ganz offensichtlich aus erkennbaren Gründendarauf verzichtet, einen europäischen Vergleich über dieEntwicklung auf den Arbeitsmärkten anzustellen. HerrBundeskanzler, die Entwicklung des Arbeitsmarktes in derBundesrepublik Deutschland ist im Jahre 1999 praktischzum Stillstand gekommen. Es hat in Deutschland keineneuen Beschäftigten, keine zusätzlichen Arbeitsplätze ge-geben. Wir haben bei den Beschäftigten gerade einmal einWachstum von 0,2 Prozent gehabt. Das sind im Jahres-durchschnitt etwa 30 000 zusätzliche Beschäftigte. Hättenwir den europäischen Durchschnitt – nur den europäischenDurchschnitt! – im Zuwachs von Beschäftigung erreicht, –nicht bei der Statistik der Arbeitslosigkeit – der bei knapp2 Prozent lag, dann hätte es in der BundesrepublikDeutschland rund 500 000 Beschäftigte mehr geben müs-sen. Davon ist dieses Land weiter entfernt denn je zuvor.
Sie haben nicht nur auf den europäischen Vergleichverzichtet, sondern Sie haben mit ziemlich leichter Handauch die Lage in den neuen Bundesländern als einRandthema darzustellen versucht. In Wahrheit ist dieLage in den neuen Bundesländern besonders trostlos,Herr Bundeskanzler. Die Arbeitslosigkeit dort ist im Ver-gleich mit dem Vorjahr um über 50 000 gestiegen.Es hat einen Abbau von Arbeitsplätzen, einen Rück-gang der Beschäftigtenzahl um 50 000 gegeben. Diewissenschaftlichen Forschungsinstitute sagen für dasJahr 2000, also für das laufende Jahr, einen weiterenRückgang der Beschäftigtenzahl in den neuen Bundes-ländern um noch einmal 75 000 voraus. Die Menschen inden neuen Bundesländern müssen schon den Titel dieserRegierungserklärung als blanken Zynismus empfinden,meine Damen und Herren.
Herr Bundeskanzler, Sie haben auf einen weiteren eu-ropäischen Vergleich bewusst und aus guten Gründen ver-zichtet. Sie haben die Wachstumsraten in Deutschlandangesprochen. Es ist wahr: Das wirtschaftliche Wachstumin der Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Jahrund vermutlich auch im nächsten Jahr kräftig steigen.Aber im Gegensatz zu früheren Jahren ist die Bundesre-publik Deutschland nicht die Lokomotive in der Europä-ischen Union, sondern sie ist im europäischen Vergleichdas Schlusslicht.
Es reicht eben nicht aus zu sagen, wie gut die Lage inDeutschland ist, sondern es kommt immer darauf an, wiegut sie im Vergleich zu den europäischen und außereu-ropäischen Wettbewerbern ist.
Ich sage Ihnen hier ganz konkret: Wir haben dieses wirt-schaftliche Wachstum in Deutschland doch nicht wegendieser Bundesregierung und wegen ihrer Politik, sondernwir haben es trotz dieser Bundesregierung.
Die Bundesrepublik Deutschland fällt beim wirtschaft-lichen Wachstum im internationalen Vergleich weiterzurück. Während die europäischen Länder im Durch-schnitt ein wirtschaftliches Wachstum von zum Teil deut-lich über 3 Prozent erreichen, bleibt die BundesrepublikDeutschland in diesem Jahr mit 2,7 Prozent erneut deut-lich unter dem europäischen Durchschnitt. Herr Bun-deskanzler, Deutschland und auch ganz Europa fallen
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gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika bezüg-lich des wirtschaftlichen Wachstums auch im laufen-den Jahr 2000 wiederum zurück. Es kommt also nicht aufdie absoluten Zahlen an, sondern im Wettbewerb kommtes auf die relativen Zahlen im Vergleich zu anderen Indus-trienationen an. Es kommt darauf an, ob Deutschland mit-hält oder ob Deutschland zurückfällt.Im Wachstum wie bei der Beschäftigung fällt Deutsch-land gegenüber dem europäischen Durchschnitt undgegenüber der amerikanischen Volkswirtschaft weiterzurück. Darin, Herr Bundeskanzler, liegt ein wesentlicherGrund für die Außenwertschwäche des Euro. Amerikawächst, Europa wächst nicht genug mit und Deutschlandist mit Italien Schlusslicht in der Europäischen Union.
Nun will ich ausdrücklich unterstreichen und Ihnen indem zustimmen, was Sie zur gegenwärtigen Lage desEuro gesagt haben. Der Euro ist nach innen hin weitge-hend stabil. Erste erkennbare Inflationspotenziale sindvon der Europäischen Zentralbank mit einer, wie ichmeine, klugen Zinspolitik unter Kontrolle gebracht wor-den. Die eigentliche Sorge, die wir haben müssen, betrifftden Außenwert des Euro. Dass Sie nun in Ihrer Rede, inIhrer so genannten Regierungserklärung, Herr Bundes-kanzler,
an die Adresse des früheren Bundesfinanzministers Kritikrichten, veranlasst mich doch, darauf hinzuweisen und zufragen: Wer hat denn bei der Einführung des Euro voneiner kränkelnden Frühgeburt gesprochen. Wir oder Sie,Herr Bundeskanzler?
Wer hat denn die Voraussetzungen für die Einführung desEuro kritisiert? Der Euro ist ein Erfolg, aber ob er im Ver-hältnis zum amerikanischen Dollar und zur amerikani-schen Volkswirtschaft auch ein Erfolg bleibt, ob Europamithält oder weiter zurückfällt, das hängt entscheidendvon der Wirtschaftspolitik innerhalb der EuropäischenUnion ab und das wiederum hängt entscheidend vonder Wirtschaftspolitik innerhalb der BundesrepublikDeutschland als dem Land, das ein Drittel der Wirt-schaftskraft des Euro-Gebietes stellt, ab.
Woran liegt es, dass das wirtschaftliche Wachstum inder Bundesrepublik Deutschland nicht mit dem durch-schnittlichen europäischen Wachstum und auch nicht mitdem Wachstum vieler anderer europäischer Länder mit-hält? – Ich weiß nicht, ob ich mit meiner Rede die Unter-haltungen auf der Regierungsbank störe.
Herr Bundeskanzler, wir haben Ihnen zugehört, als SieIhre Regierungserklärung abgegeben haben. Dass von derlinken Seite des Hauses gestört wird, bin ich gewohnt undstört mich persönlich nicht. Aber dass auf der Regie-rungsbank die Mitglieder der Bundesregierung so tun, alsob die Debatte im Plenum nicht stattfindet, und dass Siesich ständig miteinander unterhalten, ist nicht in Ordnung.
Herr Bundeskanzler, Sie können noch so darüber lachen:Wir haben Ihnen beim Vortragen Ihrer Argumente zu-gehört. Ich finde, es gehört zum Stil des Parlamentes, dassauch die Mitglieder der Bundesregierung auf der Regie-rungsbank zuhören, wenn ein Redner der Oppositionspricht.
Woran liegt es, dass wir in der BundesrepublikDeutschland eine solche Wachstumsschwäche haben?Das Wachstum in Deutschland wird überwiegend vomExport getragen. Im Inland gibt es eine deutliche Schwächebei der Nachfrage. Diese Nachfrageschwäche im Inland,Herr Bundeskanzler, hat im Wesentlichen damit zu tun,dass in der Verantwortung dieser Bundesregierung imLaufe des Jahres 1999 die Steuer- und Abgabenbelastungauf einen neuen Höchststand gestiegen ist. Alle Behaup-tungen, die Sie in den letzten Tagen und Wochen aufge-stellt haben, nämlich dass Sie im Jahre 1999 die Abgaben-und Steuerbelastung in Deutschland gesenkt haben, sindnachweislich falsch. Die Abgabenbelastung in der Bun-desrepublik Deutschland hat im Jahre 1999 einen histori-schen Höchststand erreicht. Sie haben Steuereinnahmenerzielt, die einen Höchststand der Steuerquote bewirken.
Im Vergleich zum Jahr 1998 haben Bund, Länder undGemeinden durch Ihre Steuerpolitik über 90 Milliar-den DM mehr Steuern erhoben. Wenn Sie in diesem Zu-sammenhang die Behauptung aufstellen, dass die Sozial-versicherungsbeiträge, insbesondere der Rentenversiche-rungsbeitrag, gesunken seien, dann sagen Sie doch bitteauch dazu, dass der Rentenversicherungsbeitrag nur des-halb gesunken ist, weil Sie ihn mithilfe der Ökosteuer he-runtersubventioniert haben.
Es hat sich in Wahrheit nichts an der Steuer- und Abga-benbelastung geändert. Sie ist weiter gestiegen und nichtgesunken.Seit Sie an der Regierung sind, Herr Bundeskanzler,verlieren Sie praktisch kein Wort darüber, wie Ihre Vor-stellung hinsichtlich der langfristigen Entwicklung derStaatsquote ist. Die Staatsquote bringt zum Ausdruck,was der Staat durch Steuern und Abgaben von der er-brachten Wirtschaftsleistung dieses Landes für sich bean-sprucht. Die Staatsquote ist im Jahre 1999 nicht gesunken,sondern sie ist wieder auf knapp 49 Prozent gestiegen,und dies zu einem Zeitpunkt, wo der Herr Bundeswirt-schaftsminister in einer Broschüre – sie darf sich nichtmehr „Jahreswirtschaftsbericht“ nennen, weil er dafürnicht mehr zuständig ist; sie nennt sich jetzt „Wirtschafts-bericht ´ 99“ – zum Ausdruck bringt, dass nach seiner Auf-
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fassung die Staatsquote „auf 40 Prozent zurückgeführtwerden“ muss.
Wie wollen Sie es eigentlich bei steigender Steuer- undAbgabenbelastung erreichen, die Staatsquote in der Bun-desrepublik Deutschland auf 40 Prozent abzusenken?Wenn Sie diese Politik der weiteren Steuer- und Ab-gabenerhöhungen fortsetzen, wird die Staatsquote nichtsinken, Herr Bundeswirtschaftsminister, sondern siewird – entgegen dem, was Sie richtigerweise in IhremWirtschaftsbericht zum Ausdruck bringen – weiter stei-gen. Eine Staatsquote von knapp 50 Prozent lässt für eineVolkswirtschaft wie die der Bundesrepublik Deutschlandeben nicht genug Freiraum für Investitionen und für mehrBeschäftigung. So werden Sie Ihr Ziel nicht erreichen,Herr Bundeskanzler.
Dies sind nicht die Horrorszenarien einer verrückt ge-wordenen Opposition.
– Das ist wie beim pawlowschen Reflex: Ihnen brauchtman nur Stichworte zu sagen, dann reagieren Sie schon.
Ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit einmal das Sze-nario wiedergeben, das der so genannte Managerkreisder Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigen Tagen für denFall zu Papier gebracht hat, dass Ihre Steuerpolitik undIhre Politik bezüglich der sozialen Sicherungssysteme biszum Jahre 2030 fortgesetzt wird. Das ist ein Zeitraum, indem der Herr Bundesaußenminister nicht denkt, wie ergerade zu erkennen gibt.
Aber das ist ein Zeitraum, der gerade einmal eine Gene-ration umfasst. Ich spreche also über diejenigen, die heute20 Jahre alt sind und im Jahre 2030 50 Jahre alt sein wer-den.Meine Damen und Herren, in diesem Zeitraum, so sagtder Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung – nicht ir-gendwelche Turbokapitalisten, sondern diejenigen, dieSie zur Beratung Ihrer Wirtschaftspolitik in eine der SPDnahe stehende Stiftung berufen haben –, wird sich derRentenversicherungsbeitrag von heute 19,3 Prozent beiungebremster Entwicklung auf 28 Prozent erhöhen, derPflegeversicherungsbeitrag von 1,7 Prozent auf 3,5 Pro-zent mehr als verdoppeln, der Krankenversicherungsbei-trag von heute 13,6 Prozent im Durchschnitt auf 17,5 Pro-zent erhöhen. Alles in allem führt dies zu einer Steigerungder Staatsquote von heute knapp 50 Prozent auf im Jahr2030 sage und schreibe 65 Prozent. Das schrieb Ihnen derManagerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigenTagen ins Stammbuch unter der Voraussetzung, dass Siedas fortsetzen, was Sie mit der höchsten Steuer- und Ab-gabenbelastung, die dieses Land je gekannt hat, im Jahre1998 begonnen und im Jahre 1999 fortgesetzt haben.
Nun will ich mich nicht auf die Beschreibung und Kri-tik der Lage allein beschränken. Die Opposition wird völ-lig zu Recht – weniger von der Regierung, aber mehr vonder Bevölkerung – gefragt: Was ist denn zu tun? Ich willmich auf drei Punkte konzentrieren.Einen Punkt haben Sie selbst bereits angesprochen,Herr Bundeskanzler, das ist die Steuerreform. Ich weißnicht, wie Sie darauf kommen, die Vermutung zu äußern,dass die Opposition irgendetwas blockiert. Von Blockadeist bei uns – ich nehme das für alle unionsgeführtenBundesländer mit in Anspruch – bei niemandem Rede. ImGegenteil, ich habe mir in den letzten Tagen sogar schonöffentlich den Vorwurf machen lassen müssen, ich sei Ih-nen mit dem, was ich an der einen oder anderen Stelle ge-sagt habe, zu weit entgegengekommen.
Damit das aber klar ist: Herr Bundeskanzler, wir lassenuns von niemandem in diesem Land, auch nicht von Ih-nen, drohen und lassen uns von niemandem Warnungenaussprechen, wenn wir andere politische Überzeugungenhaben und andere politische Antworten auf das geben,was jetzt in der Steuerpolitik notwendig ist.
Wenn bis jetzt in Deutschland jemand blockiert und ab-gelehnt hat, in der Steuerpolitik zu vernünftigen Ergeb-nissen zu kommen, dann sind es nicht nur die SPD-ge-führten Bundesländer vor vier Jahren gewesen, sonderndann ist es auch diese Bundesregierung gewesen, die biszum heutigen Tag das Angebot der Opposition, im Ge-setzgebungsverfahren des Deutschen Bundestages jetztzu Verbesserungen bei Ihrer Steuerpolitik zu kommen, ab-gelehnt hat. Sie haben jeden Dialog verweigert.
Aber ich mache Ihnen noch einmal das Angebot: Siehaben darauf abgestellt, dass am Donnerstag der nächstenWoche in zweiter und dritter Lesung entschieden werdensoll. Wir haben bis dahin noch eine Woche Zeit. Wir kön-nen uns in dieser einen Woche sehr nüchtern und sach-lich – wir sind zu Kompromissen über Sätze, über Zeit-pläne und über vieles andere bereit – darauf verständigen,dass wir einen Grundsatz in der Steuerpolitik für die Zu-kunft aufrechterhalten, und das ist der Grundsatz derGleichmäßigkeit der Besteuerung aller Einkunftsarten.
Wenn Sie diesen Grundsatz bereit sind zu akzeptieren,Herr Bundeskanzler, akzeptieren wir auch Kompromissemit Ihnen, die Rücksicht auf die öffentlichen Haushaltenehmen.
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Ich will, weil Sie es angesprochen haben, es ausdrück-lich an dieser Stelle noch einmal sagen: Auch wir denkennicht im Traum daran, zur Finanzierung einer Steuerre-form, die notwendig ist und für die es in den öffentlichenHaushalten Spielräume gibt – es sind begrenzte Spiel-räume, aber sie gibt es –, Vorschläge zu machen, Einmal-einnahmen des Staates zur Finanzierung dauerhafterSteuersenkungen heranzuziehen. Wir machen diesen Vor-schlag ausdrücklich nicht. Ich mache mir zu Eigen, wasder frühere Kollege und heutige Finanzminister des Saar-landes, Peter Jacoby, gestern vorgeschlagen hat: DieEinmaleinnahmen, die Sie, Herr Bundesfinanzminister,erzielen werden und wollen – vielleicht geben Sie auchAuskunft darüber, welche Potenziale Sie da erwarten,übrigens Potenziale aus Privatisierungen, die Sie in derZeit, in der Sie hessischer Ministerpräsident waren, im-mer abgelehnt haben;
Sie haben immer abgelehnt, dass privatisiert wird unddass in diesem Bereich auch Privatwirtschaft möglichwird; aber Schwamm drüber, es geht nicht um die Ver-gangenheit, sondern um die Zukunft – , sollen dem Erblas-tentilgungsfonds zugeführt werden, damit auch die Schul-den und die Zinslast der Länder gesenkt werden.
Ich sage Ihnen noch einmal: Das sind schöne Formu-lierungen, die Sie im Zusammenhang mit den 1,5 Billio-nen DM Schulden verwendet haben. Aber dabei unter-schlagen Sie regelmäßig – das gehört natürlich zu Ihrerpolitischen Strategie –, dass in diesen 1,5 Billionen DMSchulden 500 Milliarden DM enthalten sind, die nicht dieSchulden von Helmut Kohl, sondern die Schulden vonErich Honecker sind.
Aber wir machen ganz konkrete Vorschläge.Es gibt Spielräume für eine Steuerreform, die auf Wirt-schaftswachstum und Beschäftigung ausgerichtet ist.Diese Steuerreform muss den Mittelstand genauso entlas-ten wie die großen Unternehmen in der BundesrepublikDeutschland.
Was mir auffällt: Sie reden in der Steuerpolitik undauch sonst viel von der so genannten „new economy“.Spüren Sie eigentlich nicht, dass das, was Sie in der Steu-erpolitik hinsichtlich der Entlastungswirkung vorschla-gen, ganz überwiegend nicht auf die „new economy“,sondern auf die „old economy“ abstellt?
Sie entlasten die großen Konzerngesellschaften, die über-wiegend zur „old economy“ gehören, und Sie missachtendie wirtschaftlichen Interessen und die Leistungsfähigkeitgerade derjenigen, die als junge Unternehmen, als Einzel-kaufleute jetzt tätig werden wollen und die auch Arbeits-plätze schaffen.
Wir werden ja in der nächsten Woche noch Gelegenheithaben, das hier ausführlich miteinander zu debattieren.Ich hätte mir nur gewünscht, da Sie so ausführlich überdie Steuerpolitik gesprochen haben, Herr Bundeskanzler,dass Sie hier wenigstens eine Klarstellung vorgenommenhätten. Es ist in den letzten Wochen, wohl gegen die Pla-nung der Bundesregierung, mehrfach öffentlich gewor-den, dass es sehr weit ausgereifte Pläne zur Erhöhung derErbschaftsteuer gibt. Warum, Herr Bundeskanzler, ha-ben Sie Ihre Regierungserklärung nicht genutzt, um klar-zustellen, dass es mit der Bundesregierung eine Erhöhungder Erbschaftsteuer nicht gibt? Sie hätten doch die Gele-genheit dazu gehabt. Ich will Ihnen sagen, warum Sie esnicht getan haben: Weil es einen Parteitagsbeschluss derSozialdemokraten vom Dezember des Jahres 1998 gibtund Sie die Linken in Ihren eigenen Reihen beruhigenmüssen. Da Sie erkannt haben, dass Vermögensteuern undVermögensabgaben nicht mehr erhoben werden können,haben Sie jetzt Pläne in der Schublade, die Erbschaft-steuer zu erhöhen.Ich sage Ihnen: Wer Arbeitsplätze und Ausbildungs-plätze in Deutschland schaffen will, darf nicht mittelstän-dische Betriebe mit noch höherer Erbschaftsteuer belas-ten. Es wäre gut gewesen, wenn Sie das heute Morgen ge-sagt hätten.
Damit wir uns alle nicht täuschen: Selbst eine gut ge-lungene Steuerreform – ich hoffe, dass es dazu kommt –wird die Steuer- und Abgabenbelastung in Deutschlandnicht so weit senken, wie es eigentlich notwendig wäre.Deswegen stehen wir vor grundlegenden Reformen dersozialen Sicherungssysteme, insbesondere der Renten-versicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung.Ich will das jetzt nicht im Detail ausführen. Aber ich willzwei grundsätzliche Bemerkungen machen.Erstens. Beide Reformen, die der Rentenversicherungwie die der gesetzlichen Krankenversicherung, müssenbis in das Jahr 2030 reichen. Sie werden uns, wenn es umschwierige politische Entscheidungen geht, nur dann mitin der Verantwortung finden, wenn Sie den Mut besitzen,auch jetzt die Probleme mit zu lösen, die es ab dem Jahr2015 im Hinblick auf die schon einmal beschriebenedemographische Entwicklung in der BundesrepublikDeutschland geben wird. Wenn Sie kürzer springen wol-len, wenn Sie kurzatmigere Politik machen wollen, dannwerden Sie die Unterstützung der Opposition im Deut-schen Bundestag dafür nicht finden.Zweitens. Wir erwarten von Ihnen, Herr Bundesar-beitsminister und Frau Gesundheitsministerin, dass SieVorschläge machen, wie die Rentenreform bis zum Jahr2030 ausfallen soll, und dass Sie Vorschläge machen, wiedie Reform der gesetzlichen Krankenversicherung biszum Jahr 2030 aussehen soll.Frau Fischer, Sie haben im letzten Jahr unser Angebot,gemeinsam diese Entscheidungen zu treffen, das wir imZuge des entsprechenden Vermittlungsverfahrens ge-
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macht haben, abgelehnt. Sie hatten zu Beginn des Ver-mittlungsverfahrens einen bereits ausformulierten Ge-setzentwurf in der Tasche, der der Zustimmung des Bun-desrates nicht bedurfte. Damals sind Sie mit dem Kopfdurch die Wand marschiert. Jetzt ist der Karren in denDreck gefahren. Wir sind – damit das klar ist – nicht be-reit, Ihnen dabei zu helfen, ihn wieder herauszuholen,ohne dass Sie vorher Vorschläge machen, wie das Ge-sundheitssystem in der Bundesrepublik Deutschlandlangfristig aussehen soll.
Meine Damen und Herren, zum letzten Thema: Auchhierzu haben Sie, Herr Bundeskanzler, praktisch nichtsgesagt. Das entscheidende Problem auf unserem Arbeits-markt und im Rahmen der Beschäftigungskrise in derBundesrepublik Deutschland ist die Lage der so genann-ten Langzeitarbeitslosen. Rund 40 Prozent der Arbeits-losen in der Bundesrepublik Deutschland sind länger alsein Jahr arbeitslos und haben keine abgeschlossene Be-rufsausbildung.Welche Angebote machen Sie eigentlich den Langzeit-arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland für einelangfristige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt?Welche Anreize werden für jemanden, der gering qualifi-ziert ist, geschaffen, sich vielleicht auch für eine etwasgeringfügiger bezahlte Beschäftigung wieder in den Ar-beitsmarkt zu integrieren?Die einzige Antwort, die die Bundesregierung bis zumheutigen Tage darauf gegeben hat, ist die Sozialversiche-rungspflicht der so genannten geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnisse mit dem Ergebnis, dass 100 000 sozial-versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehrentstanden sind und 700 000 geringfügige Beschäfti-gungsverhältnisse ersatzlos weggefallen sind. Das warIhre Antwort, die Sie bis jetzt gegeben haben. Aber Siebrauchen für das Problem der Langzeitarbeitslosigkeitbessere Antworten.Herr Bundesarbeitsminister, ich frage Sie: Wo sind IhreVorschläge? Wir haben angeboten, mit Ihnen zusammendiesen schwierigen Weg zu beschreiten. Wo sind Ihre An-gebote zur Verzahnung der Arbeitslosenhilfe und der So-zialhilfe? Sie selbst haben diesen Vorschlag gemacht. Wirhaben ihn aufgegriffen und haben Ihnen gesagt: Wir sindbereit, diesen sehr schwierigen Weg – auch auf der Ebeneder Kommunen – mitzugehen. Anderthalb Jahre sind Siean der Regierung. Sie haben keinen Vorschlag dazu ge-macht, die Verzahnung dieser beiden großen und zum Teilwidersprüchlichen sozialen Sicherungssysteme auf denWeg zu bringen.Ich habe eine ganz konkrete Frage, die dieses Jahr ent-schieden werden muss: Herr Bundeskanzler, was ge-schieht mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz?Wirdes eine Anschlussregelung geben? Das Beschäftigungs-förderungsgesetz läuft am 31. Dezember 2000 aus. Nachübereinstimmender Überzeugung aller Beteiligten wurdemit dem Beschäftigungsförderungsgesetz und dessenMöglichkeiten der befristeten Beschäftigung dafür ge-sorgt, dass gerade in den Problembereichen der Langzeit-arbeitslosen eine Vielzahl von Menschen wenigstens aufZeit wieder eine reguläre Beschäftigung finden konnte.Warum geben Sie auf die Frage, ob das Beschäftigungs-förderungsgesetz fortgesetzt werden soll oder nicht, keineAntwort?
Die Bundesrepublik Deutschland ist von einer wirklichmodernen Wirtschaftspolitik und der Schaffung vonneuen, dauerhaften Arbeitsplätzen leider weiter entferntals fast alle anderen europäischen Mitgliedstaaten. Wirbrauchen in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhundertsnicht nur wohlfeile Regierungserklärungen, sondern einewirkliche Agenda für die Modernisierung einer im Kerngesunden und leistungsfähigen Volkswirtschaft.Meine Vermutung ist, dass Sie, Herr Bundeskanzler,den Zeitpunkt, zu dem Sie eine solche wirkliche Moder-nisierung unseres Arbeitsmarktes, unseres Steuersystemsund unseres sozialen Sicherungssystems so auf den Wegbringen können, dass in Deutschland im vergleichbarenMaßstab dauerhaft neue Arbeitsplätze entstehen, währendIhrer Regierungstätigkeit schon jetzt verpasst haben.
Denn so grundlegende Reformen, bei denen viele Besitz-stände in Frage gestellt werden müssen,
die Mut erfordern und es nötig machen, etwas gegen dieWiderstände in den eigenen Reihen durchzutragen, HerrBundeskanzler, haben Sie in Wahrheit bis heute nicht an-gepackt.
In Beliebigkeit und schönen Medienbildern – das gebeich zu – sind Sie uns überlegen.
Aber zu einer langfristigen Ausrichtung Ihrer Politik, dieüber den nächsten Wahltermin hinausreicht, also nicht nurLegislaturperioden erfasst, und im Sinne der Generatio-nengerechtigkeit angelegt ist, fehlt Ihnen, Herr Bundes-kanzler, der Mut.
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Struck, dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrtenDamen undHerren! Ich hattemir eigentlich vor-genommen, mir während Ihrer Rede, Herr Kollege Merz,viele Stichworte aufzuschreiben, um die Alternativen
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kennen zu lernen, die Sie als Opposition anlässlich derBewertung der wirtschaftlichen Lage unseres Landes vor-schlagen. Sie sehen, dass ich ohne jeden Zettel ans Red-nerpult gekommen bin. Das ist das Ergebnis Ihrer Rede.Sie haben nämlich keine Alternativen.
Wir diskutieren über die wirtschaftliche Lage in unse-rem Land. Der Bundeskanzler hat, belegt mit vielen Zah-len, eine Analyse vorgelegt, die nach meiner Auffassungdie Realität in unserem Lande widerspiegelt. Sie als Füh-rer der größten Oppositionsfraktion haben diese Analysebezweifelt. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Kollege, dassIhre Kritik und Ihre Zweifel von fast niemandem in die-sem Lande geteilt werden. Herr Henkel, der BDI insge-samt und auch andere bestätigen, dass wir auf dem richti-gen Wege sind, dass der Aufschwung erfolgt, dass sichunser Land in einer sehr guten Position befindet. Sie ste-hen mit Ihrer Kritik völlig allein da.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, HerrJagoda, hat davon gesprochen, dass wir sieben goldenenJahren entgegenblicken. Ich wäre etwas vorsichtig mitsolchen Formulierungen; die Tendenz aber ist absolutrichtig. Ihre Reaktion darauf war, dass Sie Herrn Jagodakritisiert haben, er stünde dem Bundeskanzler zu nahe. Ersteht dem Bundeskanzler nicht nahe, sondern sagt nur das,was er aufgrund seiner Kenntnisse als Präsident der Bun-desanstalt für Arbeit prognostiziert. Deshalb liegen Siemit Ihrer Bewertung der Arbeitslosenzahlen völlig falsch.Ich gestehe auch den vielen Zuhörern und Zuschauerninsbesondere in den neuen Ländern gerne zu, dass wirüber die Entwicklung in den neuen Ländern noch nicht soglücklich sind wie über die in den westlichen, alten Bun-desländern. Aber ich will diesen Bürgerinnen und Bür-gern sagen, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben,der richtige ist: Wir fördern die Schaffung von Ausbil-dungsplätzen in den neuen Ländern. Wir fördern Inves-titionen in den neuen Bereichen, im Maschinenbau, inden neuen Technologien. Wir werden auch dort, wennauch etwas langsamer als im Westen, die Erfolge haben,die wir uns für unser ganzes Land wünschen. Diese Zu-sage geben wir den Menschen in den neuen Ländern.
Wenn Sie gestatten, dass ein dienstälterer Fraktions-vorsitzender Ihnen einige Ratschläge gibt, wie man sichim Plenum verhält: Sie haben etwas unsouverän auf dieTatsache reagiert, dass der Bundeskanzler nicht jede Se-kunde uneingeschränkt zugehört hat.
– In der Tat. Wenn der Inhalt es nicht erfordert, kann mansich auch einmal anderen Dingen zuwenden.
Herr Kollege Merz, Sie haben sich auf einem Terrainbewegt, das Ihnen aus Ihrer früheren Arbeit vertraut ist,nämlich auf dem Feld der Steuerpolitik. Auch mir ist die-ses Thema vertraut. Auch ich habe mich damit beschäf-tigt, bevor ich diese Funktion übernommen habe. Deshalbwill ich mit Ihnen gern in eine Debatte darüber eintreten,wenngleich wir heute in einer Woche darüber noch inten-siver diskutieren werden.Sie haben zunächst die hohe Abgabenlast in unseremLande angeprangert und haben dann gesagt: Das war janoch nie so schlimm wie unter eurer Regierung. Das istnun nicht ganz korrekt, um es einmal vornehm undzurückhaltend auszudrücken. Nehmen wir einmal unsereSteuerreform, deren erste Stufe schon in diesem Jahr inKraft getreten ist. Aus der gesamten Palette der damit zu-sammenhängenden Maßnahmen möchte ich auch denZuhörern einige Zahlen nennen:Als Sie – zu Recht – aus der Regierung abgewählt wor-den sind, betrug das steuerfreie Existenzminimum12 500 DM. Wenn wir die letzte Stufe im Jahre 2005 ab-geschlossen haben werden, wird das steuerfreie Existenz-minimum 15 000 DM betragen. Dabei handelt es sich umden Betrag, für den kein Mensch Steuern bezahlen muss.Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Eingangs-steuersatz 25,9 Prozent; wenn wir im Jahre 2005 dieletzte Stufe der Steuerreform in Kraft gesetzt haben wer-den, wird er 15 Prozent betragen, über 10 Prozentpunkteweniger – ein Erfolg, von dem jeder Steuerzahler profi-tieren wird, auch wir.
Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Körper-schaftsteuersatz 45 Prozent; wenn wir
unsere Steuerreform durchgesetzt haben werden, wird er25 Prozent betragen – eine Erleichterung für die Unter-nehmen in Deutschland.
Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Spitzensteu-ersatz 53 Prozent; im Jahre 2005 wird er 45 Prozent be-tragen –
nicht nur ein Erfolg für diejenigen, die oben sind, sondernfür alle Steuerzahler, weil sich das für alle positiv auswir-ken wird. Die Vorschläge von Eichel und der Bundesre-gierung sind genau der richtige Weg, auf dem man dieSteuerlast für alle Bürger in unserem Land deutlich mil-dern kann. Sie haben das noch nie geschafft, solange Sieregiert haben.
Sie haben auch noch etwas zu dem Thema Vermitt-lungsverfahren oder zu dem Thema Bund/Länder gesagt.
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Dr. Peter Struck9494
Das war übrigens – wenn ich dann doch Ihnen gegenüberein bisschen fair sein will –
der einzige Punkt, wo Sie etwas Konkretes vorgeschlagenhaben – im Gegensatz zu dem, wie wir es machen. Sie ha-ben gesagt, die einmaligen Einnahmen, die sich aus derVersteigerung der Lizenzen ergeben, sollen in denErblastentilgungsfonds gehen. Man kann über alles reden.Wenn man es vorher nur klargestellt hat und Sie sagen:„Das dürft ihr nicht für dauerhafte Steuersenkungen ver-wenden“, dann begrüße ich diesen Erkenntnisprozess inIhrer Fraktion. Man hat dazu ja auch andere Stimmengehört. Diese Klarstellung ist schon einmal sehr gut.
Es ist übrigens ein bisschen leichtfertig, wenn man inDeutschland anfängt – begonnen hat das in der Opposi-tion –, darüber zu reden, welches Geld man alles wofürausgeben könnte – Geld, das man noch gar nicht hat.Diese Politik haben Kohl und Waigel lange Jahre ge-macht. Das wollen wir nicht. Davor steht Hans Eichel.Herr Kollege Merz, Sie spielen ja auch in Ihrer Parteieine Rolle; die Parteivorsitzende der CDU ist leider nichtmehr da. Wie ist denn ein Beschluss des CDU-Parteitageszu bewerten, der nämlich zu der Frage der Einnahmen ausder Versteigerung der Lizenzen beschlossen hat: DieseEinnahmen sind für dauerhafte Infrastrukturmaßnahmenim Bereich des Verkehrs usw. zu verwenden? Diesen Be-schluss haben Sie jetzt sozusagen einkassiert;
das begrüße ich. Man kann in der Tat nicht so verfahren,wie Sie das auf dem Parteitag vorgeschlagen haben.Wir reden immer von der Staatsverschuldung; dassind 1 500Milliarden DM beim Bund allein. Ich habe nunauch bei vielen Veranstaltungen gemerkt: Das ist eineGrößenordnung – 1 500 Milliarden, 1,5 Billionen –, unterder sich die Menschen so recht nichts vorstellen können.So viel Geld hat eigentlich noch nie jemand auf einemHaufen gesehen. Ich will das deshalb anders formulieren:Die Verschuldung, die Sie uns hinterlassen haben, 82Mil-liarden DM Zinsen dafür im Bundeshaushalt, bedeutet:Jede Minute gibt der Bundesfinanzminister 156 000 DMfür Zinsen aus; alle drei Minuten entspricht das dem Ge-genwert eines Einfamilienhauses. Das müssen wir herun-terfahren; das müssen wir stoppen; das müssen wir än-dern. Deshalb geht das Geld in die Verringerung derStaatsverschuldung und nirgendwo anders hin.
Wir werden entscheiden müssen, was wir mit demGeld, das wir dann im Hinblick auf den Schuldendiensteinsparen, machen. Ich bin ganz entschieden der Mei-nung, die auch Hans Eichel geäußert hat, dass wir jetztüberhaupt nicht darüber reden sollten, wo das dann ver-wendet werden wird. Wir kennen die Größenordnung jaauch noch gar nicht. Die Versteigerung der Lizenzen hatnoch nicht stattgefunden. Deshalb rate ich zur Vorsicht.Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Linie der Bun-desregierung in diesem Punkte eindeutig zu.Sie, Herr Merz, haben auch noch über Rente und überGesundheit gesprochen. Nun zum Thema Rente.Wir ha-ben – das wissen Sie; Ihr Amtsvorgänger, Herr KollegeSchäuble, war für Ihre Fraktion beteiligt, undMichael Glos muss ja auch aus Proporzgründen immermit dabei sein, wenn so etwas stattfindet –
die Einrichtung einer Arbeitsgruppe von Koalition undOpposition verabredet. Die F.D.P. war auch mit dabei.Nun hat man mir über die Arbeitsgruppensitzungen,die unter Leitung des Arbeitsministers Walter Riesterstattgefunden haben, berichtet: Im Grunde war nur Sta-gnation zu verzeichnen. Sie – nicht wir – haben auf denkommenden Sonntag, den 14.Mai, gestarrt und daraus diegroße politische Linie abgeleitet: Wir dürfen uns über-haupt nicht auf irgendwelche Kompromisse einlassen, wirmüssen Rentenwahlkampf in Nordrhein-Westfalen ma-chen.Nur, das Ergebnis ist: Über Rente redet in Nordrhein-Westfalen inzwischen niemand, weil die Menschen er-kannt haben, dass die Maßnahmen, die wir im letzten Jahrdurchgesetzt haben, die richtigen Maßnahmen gewesensind, um die Zukunft der kommenden Generationen zu si-chern.
Daraus können Sie überhaupt keinen Speck mehr schnei-den.Ich mache Ihnen jetzt ein Angebot, Herr Kollege Merz,stellvertretend für die größte Regierungsfraktion. Nachdem kommenden Sonntag, dem 14. Mai, wird sichmanches beruhigen. Sie werden die Wahl verloren haben.Dann wird die Aufgeregtheit vorbei sein und wir kommenauch hier in Berlin wieder zur inhaltlichen Arbeit zurück.
Herr Kollege Merz, wir werden dann unter der Leitungvon Walter Riester intensiv darüber reden: Schaffen wirgemeinsam eine Lösung, die bis zum Jahr 2030 trägt – Er-werbsunfähigkeitsrente, Berufsunfähigkeitsrente, zusätz-liche private Vorsorge, soziale Grundsicherung, Minde-strente, Alterssicherung der Frauen, Witwenrente usw.?Darüber wollen wir reden. Das Angebot gilt nach wie vor,weil es für unser Land politisch wichtig wäre, dass mansich einigt, zumindest die andere große Volkspartei mitdieser Koalition.
– Daran ist gar nichts neu. Nur, ich beklage, dass nichtspassiert ist, und zwar deshalb, weil Sie glaubten, damitWahlkampf machen zu können.
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Dr. Peter Struck9495
Lassen Sie uns doch nach dem 14. Mai vernünftig da-rüber reden. Wir halten das Angebot nach wie vor auf-recht.Gleichzeitig sage ich aber klipp und klar: Wenn wir unsin diesen nächsten Wochen nicht einigen können, dannwird die Koalition ihre Mehrheit im Bundestag dazu be-nutzen, das Rentenreformrecht so durchzusetzen, wiewir es für richtig halten. Diese Verantwortung haben wir.
Zum Thema Gesundheitsreform. Es ist wahr: Wir ha-ben Vorstellungen für eine Neuordnung im Gesundheits-bereich vorgelegt, diese, wie man weiß, auch im Deut-schen Bundestag durchgesetzt und sind damit in den Bun-desrat gegangen. Das, was Andrea Fischer, was wirvorgelegt haben, ist nur zum Teil verwirklicht worden,weil Sie – entgegen Ihren Äußerungen – in einem Bereich,in dem wir Ihre Zustimmung brauchten, blockiert haben.Das heißt, Sie haben im Bereich der GesundheitspolitikMitverantwortung dort, wo wir Schwierigkeiten haben.Das ist so und das können Sie auch nicht wegreden.
Andrea Fischer hat angeboten, darüber ein Gesprächzu führen. Das ist ja auch vernünftig. Die Antwort Ihrerneuen Parteivorsitzenden war: „Machen wir nicht!“
Dann stellen Sie sich hier nicht hin und sagen, Sie würdennie blockieren. Natürlich wollen Sie blockieren. Das wardoch die Antwort von Frau Merkel in diesem Zusammen-hang.
Ich weiß ja nicht: Hat Frau Merkel nun etwas zu sagenoder haben Sie etwas zu sagen?
Wenn Sie bereit sind, mit uns über die Korrektur derMaßnahmen, die Sie uns nicht ermöglicht haben, zu re-den, wird dies geschehen.
– Die Ministerin wird auf Sie zukommen. Wir kommenauf Sie zu. Aber wenn Frau Merkel sagt „Ich rede garnicht mit Ihnen!“, dann behaupten Sie nicht, Sie würdennicht blockieren. Natürlich blockieren Sie.Zu einem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Esgeht auch am kommenden Sonntag in Nordrhein-West-falen um die Frage: Wird die Politik der Bundesregierung,die Politik der Koalition hier in Berlin von dem großenund mächtigen Bundesland Nordrhein-Westfalen mitge-tragen oder nicht? Ich appelliere deshalb von hier aus andie Bürgerinnen und Bürger in diesem Bundesland,
nicht nur die landespolitischen Fragen zu berücksichti-gen. Was meine Partei angeht, habe ich gar keine Sorge.Jeder weiß, dass viele Bürgerinnen und Bürger in Nord-rhein-Westfalen Clement für viel geeigneter halten als sei-nen Gegenkandidaten von der CDU, übrigens zu Recht.
Ich appelliere auch deshalb, weil wir die Unterstützungdes Landes Nordrhein-Westfalen im Bundesrat bei vielenMaßnahmen brauchen, wenn es um Steuerpolitik undviele andere Dinge geht. Berücksichtigen Sie bitte auchdie Erfolge, die wir in der Bundespolitik erreicht haben.Wir sind auf einem sehr guten Weg. Die Opposition hatkeine Alternative. Deshalb werden wir diesen Weg, so wieer dargestellt worden ist, unbeirrt fortsetzen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Jürgen Möllemann, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! HerrBundeskanzler, wer würde sich nicht mit Ihnen darüberfreuen, dass wir jetzt 156 000 Arbeitslose weniger habenals vor einem Jahr? Wir sind uns aber ebenso darin einig,dass dies die Dramatik von 3,986 Millionen Arbeitslosenund deren Angehörigen, also das Los von mehr als 10Mil-lionen Mitbürgern, nicht ändert.Ich habe Zweifel, ob die Zahl, die Sie hier vortra-gen konnten, den anspruchsvollen Titel „Moderne Wirt-schaftspolitik für neue Arbeitsplätze“ schon rechtfertigt.Im Hinblick auf das, was Sie angekündigt haben, hatte ichgrößere Erwartungen und bin über das, was jetzt eintritt,enttäuscht.
Die Prognosen, von denen Sie, Herr Bundeskanzler,sprachen, sagen nämlich auch, dass unser Wachstum nur2,8 Prozent betragen wird, während sich das derEU-Mitgliedstaaten im Schnitt auf 3,2 Prozent – wir sindda hinten dran – und das der Vereinigten Staaten von Ame-rika auf 4,4 Prozent beläuft. Sie haben vorhin davon ge-sprochen, Ihr Ziel sei es, dazu beizutragen – und nicht zubewirken, denn das können Sie alleine nicht, das kann diePolitik überhaupt nicht –, dass die Arbeitslosenzahl auf3,5 Millionen gesenkt werden soll. Das klingt schon be-merkenswert zurückhaltender als die Ankündigung zuBeginn der Legislaturperiode, als manchmal Prognosenbis hin zur Halbierung abgegeben wurden.
Genauso wurde im Bereich der Bildungsausgaben eineVerdoppelung angekündigt, während jetzt nur graduelle
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Dr. Peter Struck9496
Veränderungen auf dem Wege sind. Vielleicht ist das einneuer Realismus.Ich habe bei einigen der Beiträge, die ich gehört habe,irgendwie das Gefühl gehabt, dass diese gar nicht an un-ser Gremium gerichtet waren, sondern sich nur auf denMuttertag, den kommenden Sonntag, bezogen haben. Vonall denen, die hier geredet haben und noch reden werden,bin ich der Einzige, der in direkter Funktion damit be-schäftigt ist.
Deswegen nehme ich mir auch das Recht, dazu nichts zusagen.
– Nein, nicht zum Muttertag, sondern zum Wahltag, HerrMerz.Ich möchte gerne zu dem Thema, das auf der Tages-ordnung steht, sprechen, nämlich wie wir durch eine ver-nünftige Politik dazu beitragen können, dass schneller alsbislang absehbar mehr Arbeitslose in Arbeit kommen. Wirwissen doch – und dazu haben wir auch selbst beigetra-gen –, dass es in Wahrheit nicht nur 3,9 Millionen Ar-beitslose sind, sondern dass die Zahl der Menschen im er-werbsfähigen Alter, die keinen bezahlten Job haben, beiehrlicher Rechnung unter Hinzunahme all derer, die inABM oder im Vorruhestand sind, eher die 5-Millionen-Grenze überschreitet.
– Es hat doch gar keinen Zweck, bei einer Bestandsauf-nahme so zu tun, als sei nur eine Seite des Hauses am Zu-standekommen von Problemen beteiligt gewesen. Daswill ich ja gar nicht behaupten.Ich finde, dass das Thema dieser Aussprache ange-sichts seiner Dimension mehr als eine parteipolitischeProfilierung in einem Wahlkampf verlangt. Betreiben wirdiese parteipolitische Profilierung in der Frage der Ar-beitslosigkeit ohnehin nicht schon viel zu lange? Wissendie Vernünftigen in unseren Parteien in Wahrheit nichtlängst, was eigentlich getan werden müsste, und ist derKonsens in diesem Hause nicht eigentlich viel größer, alswir in solchen Debatten einräumen wollen?Wir wissen doch alle genau, dass Politik und StaatArbeitsplätze in Wahrheit nur im öffentlichen Dienstschaffen können. Gleichzeitig wissen wir, dass genau derkleiner werden muss, weil die öffentlichen Haushalte ein-geschränkt und sogar öffentliche Leistungen privatisiertwerden müssen. Wieso hören wir dann nicht einfach auf,so zu tun, als könne die Politik die Arbeitsplätze schaffen?Wir können den Weg von alten und neuen Unterneh-men hin zu neuen Jobs für deutlich mehr Erwerbstätig-keit frei machen. Wir alle wissen, dass wir die politischen,staatlichen und halbstaatlichen Hindernisse, dass wir diestaatlichen und halbstaatlichen Privilegien für starke Lob-bys wegräumen müssen, die alle zusammen schuld daransind, dass in Deutschland viel zu wenige neue Arbeits-plätze entstehen.
Wir alle wissen, dass wir den Weg für viele neue Jobs,und zwar für sehr gut bezahlte, gut bezahlte und wenigergut bezahlte Jobs, freiräumen müssen. Das amerikanische„Ruhrgebiet“ hatte vor 15 Jahren Arbeitslosenquoten inHöhe von 20 bis 25 Prozent. Heute liegt die Arbeitslosen-quote in Ohio unter 4 Prozent und damit noch unter demUS-Durchschnitt. Gut bezahlte Arbeitsplätze im Bereichder Informationstechnik prägen heute diesen Teil desamerikanischen mittleren Westens, nicht zuletzt dadurch,dass dort deutsche Firmen jene Bedingungen vorfanden,die wir ihnen hier vorenthalten. Damit exportieren wirArbeitsplätze, die wir hier dringend brauchen.Warum das so ist, Herr Bundeskanzler, steht übrigensim Schröder-Blair-Papier. Ich zitiere:Die Ansicht, dass der Staat schädliches Marktversa-gen korrigieren müsse, führte allzu oft zur überpro-portionalen Ausweitung von Verwaltung und Büro-kratie im Rahmen sozialdemokratischer Politik.Weiter heißt es:Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immerhöheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohneRücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der ho-hen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäfti-gung oder private Ausgaben.Einfacher gesagt heißt das doch: Unsere Langzeitar-beitslosigkeit ist zum größeren Teil politisch hausge-macht. Mich interessiert inzwischen der Streit darüber,wer das eigentlich mehr oder weniger verschuldet hat,nicht mehr sehr. Ich will auch nicht mit Ihnen darüberstreiten, ob der Rückgang der Arbeitslosenzahlen mehrauf Vorruhestand und andere statistische Kunstgriffe alsauf neue Arbeitsplätze zurückzuführen ist.Ich finde, wir sollten stattdessen das Nötige tun. Wirsollten die Hindernisse für das Entstehen vieler guterneuer Jobs beseitigen. Ich möchte Ihnen in acht Punktendarlegen, was aus Sicht der F.D.P. konkret zu tun ist. HerrKollege Struck, jetzt können Sie den Zettel nehmen undmitschreiben, jetzt lohnt es sich.
Erstens. Wir müssen Teilzeitbeschäftigung leichtermachen: angefangen bei den 630-Mark-Jobs – hier ist einFehler passiert, das werden Ihnen alle Beteiligten und Be-toffenen immer wieder sagen – bis hin zu flexiblen Ar-beitszeiten und Beschäftigungsverhältnissen. Es ist nichteinzusehen, warum jemand nicht morgens die Zeitungaustragen, tagsüber seinem Hauptjob nachgehen undabends – wenn er denn will – als Übungsleiter im Sport-verein Jugendlichen den Spaß am Turnen oder am Fußballvermitteln kann. Das muss die freie Entscheidung jedesEinzelnen sein und bleiben. Hier soll die Politik ihre Be-hinderungsmaßnahmen einstellen.
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Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, dass die Men-schen zu ihren Arbeitsplätzen vernünftig hinkommen:schnell, sicher und preisgünstig, mit öffentlichen Ver-kehrsmitteln, aber eben auch mit dem Auto. Das heißt:Wir müssen neue Straßen bauen, damit die Menschennicht länger Tausende von Stunden sinnlos im Stau stehenund Milliarden Mark nutzlos verschwendet werden. DieAutofahrer haben noch nie so viel an Steuern pro LiterSprit bezahlt und noch nie wurde davon so wenig für denAusbau der Verkehrswege ausgegeben.Ich weiß von Ihnen, Herr Bundeskanzler, von dem Mi-nisterpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen undvon seinem Verkehrsminister, dass Sie das genauso sehen.Aber Sie dürfen die Konsequenz nicht ziehen, weil IhrKoalitionspartner das als Betonpolitik diskreditiert. Des-wegen verplempern Abertausende von Menschen so vielZeit im Stau. Deswegen wird die Umwelt so belastet.
Deswegen wollen manche Menschen auch keinen weite-ren Weg zu ihrem Arbeitsplatz gehen, weil sie dabei zuviel Zeit verlieren.Drittens. Wir müssen den Irrsinn ständig steigenderBenzinpreise, die durch die Ökosteuer immer weiter indie Höhe getrieben werden, stoppen.
Meine Damen und Herren, das hat auch mit diesemThema zu tun.Wenn junge Menschen, Auszubildende, Lehrlinge, Stu-denten, wenn Menschen mit einem kleineren Einkom-men, die in der Fläche wohnen, weite Wege mit dem Autozurücklegen müssen, dann ist das für sie ein massivesMobilitätshemmnis, dann suchen sie Arbeitsplätze, dieetwas weiter entfernt sind, eben nicht mehr, nehmen sienicht mehr an, weil es zu teuer wird, weil es für sie nichtlohnt.Deswegen: Stellen Sie doch diesen Unsinn mit ständigsteigenden Ökosteuern ein. Das hindert die Mobilität, unddas beschädigt das Interesse an mehr Beschäftigung.
Wir brauchen intelligente neue Verkehrssysteme wieden Transrapid, den Cargolifter, die Telematik, wir brau-chen den Wettbewerb auf der Schiene.
Warum suchen wir hier nicht ein Modell, das genauso wiein der Telekommunikation durch das Brechen des Mono-pols beim Telefon zur Jobmaschine geworden ist? Warummachen wir nicht auch den Verkehr auf den Schienen zueiner Jobmaschine – eine Gesellschaft, die das Schienen-netz betreibt, aber konkurrierende Unternehmen, dieTransportleistungen für Personen und Güter anbieten?
Da entstehen Jobs und da entsteht Qualität. Da sinken diePreise. Ich glaube, das wäre ein vernünftiger Beitrag.Viertens. Wir brauchen Erleichterung von Unterneh-mensgründungen.Wer mit Gründern von jungen Unter-nehmen spricht, bekommt von ihnen immer das gleicheKlagelied zu hören, und zwar ganz unabhängig davon, wosie parteipolitisch stehen. Wir müssen sie von den büro-kratischen Staatslasten befreien, Vorschriften reduzierenund Lohnnebenkosten senken. Auch das steht übrigens imSchröder-Blair-Papier. Der erste Schritt wäre: Weg mitdem Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit!
Auch Firmen wie Microsoft in den USAoder Pixelparkin Berlin haben unter nach deutschen Normen irregulärenBedingungen angefangen. Nach unseren Bedingungenhätten sie gar nicht anfangen können. Die Internetgenera-tion mit Gründermentalität sollten wir durch Deregulie-rung und Entbürokratisierung zur Selbstständigkeit er-muntern, statt sie mit merkwürdigen Regelungen wie denScheinselbstständigkeitsbestimmungen zu hemmen.Fünftens. Leistung muss sich stärker als nach dem bis-her geltenden Besteuerungssystem lohnen. Darüber wirdheute und nächste Woche allemal hier gesprochen.Der Blick in die private Haushaltskasse ist deswegenfür viele Beschäftigte so ärgerlich, weil sie bei steigendenEinkommen trotzdem immer weniger übrig behalten. Dameine ich nun, dass die Intonierung, die Sie, Herr Bundes-kanzler, vorgenommen haben, nicht in Ordnung war, alsSie den Eindruck erweckten, dass es, wenn wir voneinan-der abweichende Vorstellungen haben – etwa bei derFrage, wie wir Kapitalgesellschaften und Personengesell-schaften besteuern –, etwas mit Blockadehaltung auf un-serer Seite zu tun habe.Wenn beim Thema Steuerpolitik ein Name für das Wort„Blockadepolitik“ steht, sehr geehrter Herr Bundeskanz-ler, dann ist es der Ihres Freundes und TroikamitgliedesOskar Lafontaine.
Der hat nun wirklich in einer Weise blockiert, dass dieserBegriff gerechtfertigt ist.Wir sagen, dass das Konzept, wie es jetzt vorliegt undnächste Woche gelesen werden wird, den Eigentümer, denUnternehmer weiterhin zu stark diskreditiert. Sie ver-nachlässigen mit dieser Bestimmung die Mittelstandskul-tur der Personengesellschaften. Sie verrechnen bürokra-tisch die Gewerbesteuer, statt sie abzuschaffen. Das ist al-les Komplikation statt Vereinfachung. Die Spreizung derSteuersätze ist zu groß, die Dauer der Realisierung zulang.Deswegen: Wenn wir im mittelständischen BereichBewegung schaffen wollen, müsste hierüber Einverneh-men im Bundesrat erzielt werden können.Sechstens. Wir müssen die Berufsausbildung von Ju-gendlichen fördern, indem wir Bürokratielasten von denBetrieben nehmen. Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhinauf das Programm der Bundesregierung abgehoben undunsere Kritik zurückgewiesen. Sie war nicht dagegen ge-richtet, dass man in staatlichen oder halbstaatlichen Aus-
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bildungseinrichtungen für solche jungen Menschen, die inBetrieben noch keinen Job finden, Ersatzlösungen schafft.Sie war darauf gerichtet, dass Sie den Eindruck erweckthaben, als könnten das Ersatzlösungen sein. Das sind al-les zeitlich befristete Interimslösungen. Anschließend ste-hen dieselben jungen Leute wieder vor den Arbeitsäm-tern.Was wir machen müssen, ist, den kleinen und mittlerenBetrieben die Luft zu geben, dass sie diese jungen Men-schen einstellen und beschäftigen,
und das etwa durch den Punkt, den ich gerade angespro-chen habe, durch eine bessere Steuerpolitik.Ich möchte ein Bemerkung zu dem machen, was HerrMerz und Herr Struck zum Thema Gesundheitspolitikgesagt haben.In dem Bereich des Gesundheitswesens arbeiten ungefährzweieinhalb Millionen Menschen. Diese Zahl könntedeutlich gesteigert werden. Gesundheit und Fitness be-kommen aus Sicht der Menschen rund um den Globuseine immer größere Priorität. Die Bundesregierung machtaber das genaue Gegenteil von dem, was fällig wäre:Durch ein immer dichteres Netz von Reglementierungenund insbesondere durch das unselige System der so ge-nannten Budgetierung lähmen Sie die Entwicklung imGesundheitswesen. Sie treffen nicht nur die in Gesund-heitsberufen Tätigen – Ärzte, Zahnärzte – und diejenigen,die in den pflegenden Berufen tätig sind, die sich bei die-ser staatlichen Zuteilung von Einkommen entwürdigendbehandelt fühlen, Sie beeinträchtigen auch die Möglich-keiten und Rechte der Patienten. In den vielen Jahren, dieich dem Parlament angehöre, habe ich die unterschied-lichsten Gesundheitsminister und -ministerinnen kennengelernt. Aber eine Gesundheitsministerin wie FrauFischer, die es schafft, restlos alle gegen sich aufzubrin-gen, habe ich in diesem Parlament noch nicht erlebt. Das,was betrieben wird, ist Konfusion schier. Deswegen sollteman das Reformkonzept, von dem bisher die Rede ist, ein-stampfen und ein vernünftiges Konzept vorlegen, das die-sen Namen verdient.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, beziehtsich auf die Bildungspolitik. Hier hat die Bundesregie-rung große Ankündigungen gemacht. Einige Schritte sindgetan worden. Ich glaube aber, wir kommen heute zu demErgebnis – übrigens im Blick auf Bund und Länder –, dassunser Bildungssystem in Bund und Ländern mit graduel-len Unterschieden, aber doch prinzipiell, dem internatio-nalen Wettbewerb derzeit nicht standhalten kann. UnserSchulsystem und unser Hochschulsystem bekommen beiallen nationalen und internationalen Vergleichsstudienbemerkenswert schlechte Noten. Das ist gefährlich. Des-wegen werden unsere Absolventen, die in zu langer Zeitzu schlecht ausgebildet werden – sie benötigen ein Jahrmehr bis zum Abitur als in allen anderen Ländern, sie stu-dieren zwei Jahre länger und haben trotzdem schlechtereAbschlüsse –, auf dem immer internationaler werdendenArbeitsmarkt in immer größere Schwierigkeiten kom-men.Es ist sicher richtig, wenn im Blick auf die zu erwar-tenden deutlichen Mehreinnahmen des Bundes aufgrundder Privatisierung und der Rechtevergabe der wesentlicheSchwerpunkt bei der Schuldentilgung liegt. Aber, meineDamen und Herren, mein fester Eindruck ist: Es bräuchteeine gemeinschaftliche Anstrengung von Bund und Län-dern, eine Kraftanstrengung, um Deutschland zurück andie Spitze von Bildung, Wissenschaft und Forschung zubringen, sonst verlieren wir unsere Wettbewerbsfähigkeit.
Meine Damen und Herren, ich spreche heute zum letz-ten Mal als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Da-her möchte ich mich von Ihnen verabschieden und Ihnenfür gute und böse Worte danken. Ich war gerne hier. Nungehe ich nach Düsseldorf in den Landtag und die Landes-regierung.
– Die uneingeschränkte Freude über diese Absicht machtmir den Abschied ein bisschen leichter. – Dass ich des-wegen – und weil mich der Kollege Struck gebeten hat,ihn dort nicht allein zu lassen –
von dieser Stelle aus für den doppelten Einzug in Parla-ment und Regierung des grössten Bundeslandes um dieStimmen der Wähler dieses Landes bitte, werden Sie mirnach 28 Jahren Parlamentstätigkeit hoffentlich durchge-hen lassen. Deswegen: Auf Wiedersehen, liebe Kollegin-nen und Kollegen! Auf Wiedersehen im Bundesrat, meineDamen und Herren von der Bundesregierung!
Nun erteile ich derKollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMerz und vor allen Dingen Sie, Herr Möllemann, mansollte das Fell des Bären erst verteilen, wenn er erlegt ist.Ich bin sehr gespannt darauf, wie der Muttertag, also der14. Mai, ausgehen wird. Ich glaube, dass er nicht in IhremSinne ausgehen wird.Wenn man Sie über das eigentliche Thema der Debattereden hört, dann drängt sich mir der Eindruck auf: Sie är-gern sich, dass wir unser Land endlich aus dem Schla-massel herausholen, den Sie in den 16 Jahren Ihrer Re-gierungszeit angerichtet haben.
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Jürgen W. Möllemann9499
Sie können augenscheinlich kaum ertragen, dass wir er-folgreich die Probleme lösen, an deren Lösung Sie jahre-lang immer wieder gescheitert sind. Das muss man hierfesthalten.Festhalten muss man auch: Die Wirtschaftsdaten sindhervorragend. Der deutsche Außenhandel verzeichnetzweistellige Zuwachsraten. Die fünf führenden deutschenWirtschaftsinstitute schreiben in ihrem Frühjahrsgutach-ten:Seit Herbst hat die konjunkturelle Erholung auch denArbeitsmarkt erfasst. Die Zahl der Erwerbstätigenhat sich seither deutlich erhöht und die Arbeitslosig-keit ist beträchtlich zurückgegangen.Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmenSie doch endlich zur Kenntnis: Erstmals seit 1996 liegt dieZahl der Arbeitslosen im April dieses Jahres untervier Millionen. Das sind knapp eine halbe Million Men-schen weniger als im letzten April Ihrer Regierungszeit1998.
Das bedeutet eine halbe Million weniger Menschen mitder Sorge um ihre berufliche Zukunft, eine halbe Millionweniger Männer und Frauen mit der zweifelnden Frage,wo denn wohl ihr Platz in der Gesellschaft sein solle. Dasbedeutet auch hunderttausende weniger Ehe- und Lebens-partner und Kinder, die unter der Belastung der Arbeitslo-sigkeit leiden müssen. So sieht die Wirklichkeit aus, undzwar nach nur 19 Monaten, nachdem SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen die Regierung gebildet haben. Nachmeiner Meinung sind diese Daten kein Grund zum Jam-mern. Für uns ist diese Entwicklung eine Herausforde-rung, den eingeschlagenen Kurs konsequent und Schrittfür Schritt fortzusetzen.
Natürlich kann man angesichts der aktuellen Arbeits-losenzahlen keine Entwarnung geben. Das werde ich auchnicht tun. Auch wir betrachten die Entwicklung des Ar-beitsmarktes gerade in den fünf neuen Ländern mitSorge. Für uns heißt das, dass wir unsere Anstrengungenin den ostdeutschen Bundesländern noch viel mehr ver-stärken müssen. Aber es ist einfach falsch, wenn Sie, HerrMerz, behaupten, der wirtschaftliche Aufschwung geheam Osten vorbei. Sie wissen: Auch im Osten werden neueArbeitsplätze geschaffen. Nur, diese Entwicklung wirdnoch immer von den notwendigen Anpassungen im öf-fentlichen Dienst und besonders von der Situation in derBaubranche überlagert, sodass der dortige Arbeitsmarktinsgesamt stagniert.Herr Merz, es ist auch sachlich falsch, wenn Sie hiermit einer Vielzahl von Rechenkunststücken beweisenwollen, der Rückgang der Arbeitslosigkeit sei rein demo-graphisch bedingt.Erstens. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschlandsteigt, und zwar in den letzten Monaten kräftig und ste-tig. Die Bundesanstalt für Arbeit erwartet für dieses Jahreine bundesweite Zunahme der Zahl der Erwerbstätigenum durchschnittlich 160 000. Sie können uns das vor-rechnen, solange Sie wollen; denn fest steht: Das Ent-stehen zusätzlicher Arbeitsplätze hat wirklich nichts,aber auch gar nichts mit der demographischen Entwick-lung in diesem Land zu tun.
Zweitens. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt, obwohlaktuell durch die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik imEndeffekt deutlich weniger Menschen im zweiten Ar-beitsmarkt beschäftigt sind. Das zeigt: Der erste, nichtstaatlich gestützte Arbeitsmarkt, auf den es schließlich an-kommt, boomt. Auch das hat mit der demographischenEntwicklung so viel – oder besser gesagt: so wenig – zutun wie der Abgeordnete Kohl mit der Aufklärung desSpendenskandals.
Drittens. Herr Merz – auch das Argument möchte ichhier anführen –, nehmen Sie zur Kenntnis: Im Frühjahr2000 sind trotz der demographischen Entwicklung kaumweniger Menschen auf dem deutschen Arbeitsmarkt alsvor einem Jahr, unter anderem deshalb, weil endlich auchmehr Frauen erwerbstätig sind oder sein wollen. Auchdeshalb stimmt Ihre Rechnung hinten und vorne nicht.Ich finde es lächerlich, wenn Sie den Menschen weis-machen wollen, die hervorragenden Wirtschafts- und Ar-beitsmarktdaten gebe es nicht wegen, sondern trotz derPolitik der Koalition. Sie, Herr Merz, sollten wirklich beider Wahrheit bleiben, genauso wie Ihr Vorredner,Herr Möllemann. Die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung unterHelmut Kohl hat zwar jahrelang darauf hingewiesen, dieSteuerlast, die Abgabenlast und die Lohnnebenkostenseien zu hoch. Sie wollten die Arbeitslosigkeit senken.Aber was haben Sie tatsächlich erreicht? Sie haben dasglatte Gegenteil von dem erreicht, was Sie wollten: DieAbgabenlast wurde nicht gesenkt; vielmehr ist sie perma-nent gestiegen. Noch im April 1998 haben Sie zum Bei-spiel die Mehrwertsteuer erhöht, um den Rentenbeitragbei 20,3 Prozent zu stabilisieren. Sie haben sie nicht er-höht, um ihn zu senken, wie wir das jetzt aufgrund derMehreinnahmen aus der ökologisch-sozialen Steuerre-form tun. Daran war bei Ihnen überhaupt nicht zu denken.Außerdem haben Sie 1998 eine Rekordarbeitslosigkeitvon 4,3 Millionen und einen Schuldenberg von 1,5 Bil-lionen DM hinterlassen. Das ist Ihre Bilanz.Verschonen Sie uns deshalb mit Ihren Rezepten. Sieheilen nicht und sie sind völlig kontraproduktiv. Wir ha-ben seit dem Regierungsantritt Schritt für Schritt sozialeund ökologische Reformen entschlossen umgesetzt. Un-sere Politik ist maßgeblich für den wirtschaftlichen Auf-schwung und für den Abbau der Arbeitslosigkeit verant-wortlich.
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Kerstin Müller9500
Wir werden diesen Kurs fortsetzen. Sie haben mit Ihrenunsozialen Entscheidungen und mit Ihrer Kampfansagegegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer damalsdas erste Bündnis für Arbeit mutwillig zerstört. Wir dage-gen haben die Voraussetzungen für einen neuen Anlaufgeschaffen. Erste Ergebnisse liegen auf dem Tisch.Als ersten Schritt haben wir das äußerst erfolgrei-che JUMP-Programm aufgelegt, das bis heute für250 000 junge Menschen Perspektiven bei Ausbildungund Beschäftigung geschaffen hat. Das Resultat ist, dassdie Jugendarbeitslosigkeit um rund 10 Prozent zurückge-gangen ist. Das ist erst einmal ein schöner Erfolg desBündnisses für Arbeit.Zweitens. In diesem Frühjahr kommt ein wesentlicherErfolg hinzu: Die diesjährigen Tarifabschlüsse stärkendie wirtschaftliche Entwicklung massiv und sie stellen zu-sätzliche Beschäftigung in den Mittelpunkt. Auch das hatsehr viel mit der Politik dieser Regierung zu tun; dennVoraussetzungen waren zum Beispiel die ersten Schritteder Steuerreform im vergangenen Jahr, die deutliche Ent-lastung von kleinen und mittleren Einkommen und diemassive Entlastung gerade von Familien mit Kindern –600 DM mehr Kindergeld pro Kind und pro Jahr; das be-deutet für Familien mit zwei Kindern und einem Durch-schnittsjahreseinkommen von 60 000DM 3 000 DM mehrin der Haushaltskasse. Hinzu kommt die Senkung derRentenbeiträge von 20,3 Prozent um einen Prozentpunktauf 19,3 Prozent durch die Einnahmen aus der ökolo-gisch-sozialen Steuerreform.Das heißt insgesamt, dass die Menschen nach jahre-langen Nettolohnverlusten unter der alten Regierungheute netto endlich mehr in der Tasche haben. Dafür hatdiese Bundesregierung nicht nur gesorgt, weil es sozialgeboten war, sondern auch, um die Voraussetzungen fürdie beschäftigungsorientierten Tarifabschlüsse in diesemJahr zu schaffen.
Genau das ist einer der entscheidenden Unterschiedezu Ihren Steuervorschlägen, meine Damen und Herrenvon der CDU; denn Sie wollten weder damals noch wol-len Sie heute die Bezieher kleiner Einkommen entlasten,wie wir es gemacht haben, sondern vor allen Dingen dieBesserverdienenden. Das finden die Menschen nicht ge-recht und sie haben verdammt Recht damit.Mit der großen Steuerreform, die wir in der nächstenWoche in diesem Hause verabschieden werden, werdenwir diesen Kurs fortsetzen: schrittweise Erhöhung dessteuerfreien Existenzminimums bis 2005 auf 15 000 DM,Senkung der Steuersätze, oben wie unten, auf 45 Prozentbzw. 15 Prozent. Das entspricht in weiten Teilen auch demSteuerkonzept meiner Fraktion – das sage ich durchausmit Stolz –, das wir in der letzten Legislaturperiode in die-sem Hause vorgelegt haben. Dieses Konzept setzt dieseRegierung jetzt um.
Wir entlasten damit bis zum Ende des Jahres 2005 eineDurchschnittsfamilie um rund 4 000 DM jährlich und wirentlasten auch die Unternehmen, gerade die kleinen undmittelständischen. Dazu möchte ich an dieser Stelle Fol-gendes sagen: Sie reisen durch das Land und erzählen, wirwürden den Mittelstand belasten. – Das ist einfach nichtwahr; das ist schlichtweg vordergründiges Geschrei.
Im Gegensatz zu Ihnen ist der Mittelstand bei uns inguten Händen.
– Moment. – Für die heutige Schieflage sind Sie verant-wortlich. Sie haben dafür gesorgt, dass die Konzerne im-mer weniger Steuerlast getragen haben. Das ging auf dieKnochen der kleinen und mittelständischen Unterneh-men. Wir haben das geändert. Allein mit dem erstenSchritt im vergangenen Jahr haben wir für den Mittelstandeine Entlastung von 6 Milliarden DM herbeigeführt. Wirziehen zusätzlich die eigentlich erst für 2002 geplantenächste Stufe unserer Steuerreform um ein Jahr vor. Zu-sammen mit unserer Unternehmensteuerreform wird dasbis 2005 eine zusätzliche Entlastung für den Mittelstandvon jährlich rund 14 Milliarden DM schaffen. Das ist einErfolg. Diese Entlastung des Mittelstands ist genau dasGegenteil von dem, was Sie jahrelang gemacht haben.
Deshalb kann ich Sie nur auffordern: Wenn Sie schonnicht auf uns hören, dann hören Sie wenigstens auf diewarnenden Worte aus der Wirtschaft! Geben Sie Ihre Boy-kottpläne im Bundesrat auf! Geben Sie den Weg frei; denndie Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung ist so-zial gerecht und sie ist wirtschaftlich erfolgreich. WennSie diese Steuerreform blockieren, sind Sie die Bremsergegen den weiteren Aufschwung, dann machen Sie Poli-tik gegen die Arbeitslosen.
Die zweite, ganz wesentliche Ursache für die hervor-ragende wirtschaftliche Entwicklung ist unsere Politik ei-ner konsequenten Haushaltskonsolidierung. Wir habenmit dem Zukunftsprogramm 2000 endlich Schluss ge-macht mit dem Wirtschaften auf Kosten zukünftigerGenerationen. Das ist eine Politik, die meine Fraktionschon in der vergangenen Legislaturperiode immerwieder gefordert hat. Wie oft hat Ihnen mein KollegeOswald Metzger Ihre unseriöse Finanzpolitik um die Oh-ren gehauen, wie oft hat er Sie aufgefordert, mit Ihren Ta-schenspielertricks oder mit der Goldfingeraktion – ich er-innere mich gut – endlich aufzuhören, leider ohne Erfolg.1,5 Billionen DM Schulden hat Ihre Regierung denMenschen in unserem Land hinterlassen. Das ist eine15 mit elf Nullen. Das ist, glaube ich, eine Summe, diesich kaum einer im Lande vorstellen kann. Das bedeutet82 Milliarden DM Zinsen Jahr für Jahr, das heißt1 000 DM pro Person pro Jahr, vom Kind bis zum Greis.
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Kerstin Müller9501
Das heißt, von jeder Steuermark, die die Menschen zah-len, geben wir allein 25 Pfennig für die Finanzierung derZinsen aus. Da ist noch kein Pfennig von der Schuld ge-tilgt.Ich weiß, Herr Merz, dass Sie das nicht hören wollen,aber die Verantwortlichen in der CDU haben eben offen-sichtlich nicht nur schwarze Koffer über die Grenzen ge-schmuggelt, um schwarzes Geld in schwarzen Parteikas-sen zu deponieren, sie haben auch jedes Jahr immer neueschwarze Löcher in Theo Waigels Haushalt produziert.Deshalb haben wir Ihre Steuerexperimente damals abge-lehnt, weil sie noch größere Haushaltslöcher gerissen hät-ten, weil Sie damals wie heute Steuerpolitik auf Pump ma-chen wollten. Das haben wir beendet und diesen Kurswerden wir auch fortsetzen.
Wir stehen für Generationengerechtigkeit. Wir habenuns immer für eine nachhaltige Politik eingesetzt, geradeauch meine Fraktion, und das eben nicht nur in der Um-weltpolitik, sondern auch in der Haushalts- und Finanz-politik. Deshalb werden wir diesen Haushalt Schritt fürSchritt konsolidieren und die Verschuldung abbauen.Das ist nicht zuletzt – das will ich auch noch einmal sa-gen – eine Frage sozialer Gerechtigkeit; denn horrendeZinszahlungen bedeuten im Grunde systematische Um-verteilung von unten nach oben.Deshalb wundert es mich auch nicht, Herr Möllemann,wenn Sie jetzt vorschlagen – heute haben Sie es nicht ge-macht, aber wir sind uns ja des Öfteren in Nordrhein-Westfalen begegnet –,
das Geld, das wir möglicherweise aus der Versteigerungder neuen Handy-Frequenzen bekommen, sofort wiederzu verfrühstücken. Es wundert mich nicht, wie nachlässigSie mit dieser Frage umgehen, wie unverschämt fahrläs-sig Sie Geld ausgeben, das überhaupt noch nicht da ist.
Auf diese Tour haben Sie schließlich den Schulden-berg, den wir heute haben – 82 Milliarden DM Zinsen proJahr –, mit verursacht; für ihn ist maßgeblich auch dieF.D.P. mitverantwortlich. Und Sie wollen jetzt weiter dasGeld verfrühstücken, statt es zum Sparen zu verwenden.
Ich sage Ihnen für meine Fraktion sehr deutlich: Wirsind der Meinung, zusätzliche Einnahmen sollen undmüssen zur Tilgung der Schulden verwendet werden –diesbezüglich hat der Finanzminister in uns verlässlicheBündnispartner –, denn nur so werden wir Handlungs-spielräume für wichtige Investitionen in Bildung, Ausbil-dung, Forschung und Wissenschaft und für die soziale undökologische Erneuerung zurückgewinnen.
Die fünf führenden deutschen Wirtschaftsinstitute ha-ben diese Politik sehr positiv kommentiert. Sie begrüßengerade an dieser Stelle nachdrücklich den Kurs der rot-grünen Bundesregierung. Sämtliche Fachleute haben ihreErwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung deutlichnach oben korrigiert. Das Bruttoinlandsprodukt wird indiesem und im nächsten Jahr um 2,8 Prozent steigen, dop-pelt so stark wie noch im vergangenen Jahr. Die Arbeits-losigkeit wird weiter abgebaut und sinkt im kommendenJahr auf durchschnittlich 3,5 Millionen. Das sind rund20 Prozent weniger als im letzten Jahr der Kohl-Regie-rung.Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, da brau-chen wir uns wirklich nicht zu verstecken, schon gar nichtvor denen, die das letzte Regierungsschiff so grandiosversenkt haben. Deshalb, meine Damen und Herren,freuen wir uns zunächst einmal über diesen Erfolg, derauch etwas mit unserer Politik zu tun hat.
Ehe Sie sich hier weiter als Schlechtmacher und Mies-macher betätigen,
möchte ich Ihnen einen Kommentar von Roger de Weckaus der „Zeit“ der vorletzten Woche vorhalten. Er kom-mentiert Ihre Politik folgendermaßen:Die Schlechtmacher ... hassen es, wenn wir unsfreuen. Jedes Mittel ist ihnen recht, zum Beispiel derschiefe Vergleich. Lieber reden sie von der Stärke desDollar als vom gewaltigen, emporschnellenden,hoch gefährlichen Defizit in der Zahlungsbilanz derVereinigten Staaten. Viel lieber heben sie die Euro-Schwäche hervor als die europäischen und deutschenErfolge im Export, um die Amerika froh wäre.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Mann hatRecht.
Die relative Schwäche des Euro ist nämlich keine Bedro-hung für die wirtschaftliche Entwicklung, weder in Eu-ropa noch in Deutschland.
Sie stärkt derzeit die Exportkraft des Euro-Raumes. Da-von profitiert gerade die deutsche Wirtschaft ganz beson-ders.Es gibt auch keine Besorgnis erregenden Inflationsra-ten. Und im Vergleich zu anderen europäischen Währun-gen ist der Euro stabil. Wenn man sich die Wirtschaftsda-ten des gesamten Euro-Raumes ansieht, kann man mit einwenig Selbstbewusstsein nur zu dem Schluss kommen:Der Euro ist derzeit unterbewertet. Er wird auch gegen-
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über dem Dollar wieder stärker werden, und zwar dann,wenn weltweit noch deutlicher wird, welche wirtschaftli-che Kraft und auch welches Innovationspotenzial dieeuropäischen Gesellschaften in den kommenden Jahrenentwickeln werden.Die ökologische Erneuerung unserer Gesellschaft istbei dieser Frage von entscheidender Bedeutung. Von ihrerUmsetzung hängt der Schutz unserer Lebensgrundlagenentscheidend ab, aber verbunden damit ist eben auch dieEntwicklung von neuen zukunftsfähigen Branchen undArbeitsplätzen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auchdaran noch einmal erinnern: Bei der Entwicklung mo-derner, erneuerbarer Energien lag Deutschland vor an-derthalb Jahren, vor der Übernahme der Regierung durchuns, noch unter „ferner liefen“. Der letzte Hersteller vonSolaranlagen war gerade in die USA ausgewandert, weiler hier keine Entwicklungspotenziale gesehen hat. Jetztsieht das anders aus. Das 100 000-Dächer-Programm derrot-grünen Regierung ist ein absoluter Renner.
Die rot-grüne Regierung hat durch ihre Maßnahmen –das Markteinführungsprogramm, das es noch zusätzlichgibt, und das Gesetz zur Förderung der erneuerbaren En-ergien, das seit dem 1. April dieses Jahres in Kraftist – nach nur 18Monaten in Deutschland mit die weltweitbesten Voraussetzungen für den Ausbau erneuerbarerEnergien erreicht. Das ist ein wirklicher Beitrag zumKlimaschutz. Dadurch werden auch neue zukunftsfähigeArbeitsplätze in der Bundesrepublik geschaffen.
Schon heute arbeiten in Deutschland fast genauso vieleMenschen im Bereich der erneuerbaren Energien wie inder Atomindustrie. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,weist den Weg in die Zukunft und nicht der von derBayerischen Staatskanzlei angekündigte Veitstanz gegenden Atomausstieg. Auf diese Weise wird kein einziger zu-kunftsfähiger Arbeitsplatz geschaffen werden.
Innovation und Zukunftsfähigkeit sind für Sie, meineDamen und Herren von der CDU, Fremdwörter. Das ha-ben Sie meines Erachtens gerade in den letzten Wochenmit der unsäglichen Diskussion um die Green Card nocheinmal bewiesen. Diese dumpfe „Kinder statt Inder“-Kampagne Ihres Spitzenkandidaten Rüttgers ist das Ge-genteil von zukunftsweisender Modernisierung. Diese isteinfach nur peinlich und verantwortungslos, weil Sie da-mit Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebenden Aus-länderinnen und Ausländer machen. Wir jedenfalls wer-den so etwas nicht mitmachen. Ich glaube, dass auch dieMenschen diese Kampagne am 14. Mai zu „würdigen“wissen.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft boomt, dieArbeitslosigkeit geht kräftig zurück.
Die Aussichten sind ausgezeichnet. Wie titelte der „Stern“in der vergangenen Woche? „Jetzt kommen die fettenJahre“.
Ich glaube aber, dass wir jetzt nicht in Selbstzufrieden-heit versinken dürfen, sondern wir müssen diese Chancefür weitere dringend notwendige soziale und ökologischeReformen nutzen. Gerade eine echte Reform unserer so-zialen Sicherungssysteme, vor allem der gesetzlichenAltersvorsorge, wird für eine nachhaltige Wirtschaftsent-wicklung entscheidend sein. Wir wollen und müssen diegesetzliche Rente dauerhaft sichern. Wir brauchen lang-fristig stabile Beiträge. Nur so werden wir das Vertrauenbesonders der jungen Generation in die gesetzliche Ren-tenversicherung zurückgewinnen. Gerade deshalb, meineDamen und Herren von der Opposition, fordere ich Sieauf, wenn am Sonntag die Wahl in Nordrhein-Westfalengelaufen ist, endlich Ihre parteipolitischen Interessenzurückzustellen. Wir müssen jetzt die Chance des Ren-tengipfels nutzen, bei dem alle Fraktionen an einem Tischsitzen, für eine durchgreifende Strukturreform, die end-lich wieder Generationengerechtigkeit schafft. Das sindwir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Dafür wirdsich meine Fraktion sehr stark einsetzen.
Die rot-grüne Koalition hat eine sehr gute Arbeit ge-leistet. Wir haben begonnen, unsere Gesellschaft sozialund ökologisch zu erneuern. Die Erfolge sind offensicht-lich. Wir werden diesen Kurs konsequent weiterverfol-gen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,Sie können diesen Weg mitgehen oder Sie können sichweiterhin als Miesmacher betätigen. Ich rate Ihnen abereines: Versuchen Sie nicht, uns aufzuhalten! Denn daswürden Ihnen die Menschen zu Recht sehr übel nehmen.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Kollege Möllemann, ich habe imHandbuch nachgeschlagen. Es stimmt wirklich: Sie sindseit 28 Jahren im Bundestag. Auf der einen Seite bewun-dere ich das. Auf der anderen Seite frage ich mich aber, obman nach 28 Jahren ohne inneren Schaden aus dem Bun-destag herauskommt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Kerstin Müller9503
Ich will Ihnen noch sagen: Sollten Sie wirklich aus-scheiden – aus welchen Gründen auch immer –, wünscheich Ihnen persönlich alles Gute, politisch natürlich nicht.Aber ich wünsche Ihnen immerhin Einsichten. Das ist jaauch etwas. Ansonsten warten wir das Ergebnis getrostab.
Ich habe mich sehr gewundert, als Sie gesagt haben, Siewürden sich hier zum 14.Mai nicht äußern. Das haben Sieaußer in Ihrer gesamten Rede überhaupt nicht getan.
Da sich alle anderen zum 14. Mai geäußert haben, willich zur Klarheit eines sagen: Wenn es dem KollegenStruck vor allem darum geht, dass sich im Bundesratnichts verändert, obwohl er doch sonst immer für Verän-derungen ist, dann möchte ich aber, dass sich wenigstenseines verändert: Die Landesregierung von NRW soll end-lich von links und sozial unter Druck geraten. Das klapptam besten, wenn es eine PDS-Fraktion im Landtag gibt.
– Die Chance besteht ja. Sie sollten nicht so lachen. Viel-leicht wundern Sie sich noch. Wer zuletzt lacht, lacht be-kanntlich am besten. – Damit habe ich dieses Thema ab-gearbeitet.Mir ist aufgefallen, wie die Vokabeln bestehen bleiben.Von der alten Bundesregierung kannte ich das Miesma-cher-Vokabular gegen SPD, Grüne und andere hier imHause genauso, wie es jetzt gebraucht wird.Ich wundere mich noch über einen anderen Punkt:Wenn es einen Konjunkturaufschwung gibt, habe ichnoch keine Bundesregierung erlebt, die nicht sagt, dassdiese Konjunktur das Ergebnis ihrer hervorragenden Rah-menpolitik der letzten Monate und Jahre sei. Wenn es eineRezession gibt, habe ich ebenfalls noch keine Bundesre-gierung erlebt, die dann nicht erklärt, dass dies mit objek-tiven ökonomischen Prozessen zu tun habe, dass im Übri-gen die tieferen Ursachen in Asien und in den USA undnicht in Bonn oder Berlin lägen. Wenn man solche Erfolgefür sich in Anspruch nimmt, muss man auch bei der ent-gegengesetzten Entwicklung damit leben, dass die Bürge-rinnen und Bürger davon ausgehen, dass man für dieschlechte Entwicklung genauso verantwortlich ist. Des-halb wäre es schon richtiger, man würde differenzieren.
Nicht nur die CDU/CSU-Fraktion sagt, der Auf-schwung sei nicht hausgemacht. In der „taz“ vom28.April sagt die alternative WirtschaftswissenschaftlerinBeate Willms, dass weder am Aufschwung noch am mög-lichen Abbau der Arbeitslosigkeit Rot-Grün bisher einennennenswerten Anteil hat. Sie begründet diese Meinung.
– Das werde ich Ihnen erklären. Die „taz“ ist mehr eineZeitung der Grünen und weniger eine Zeitung von uns.Zumindest die Grünen sollten auf diese Meinung hören.Es gibt drei Faktoren. Der erste Faktor – den kann mannicht wegdiskutieren –: Wir haben es tatsächlich mit einerdemographischen Verschiebung zu tun. Das heißt, gebur-tenstarke Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt, gehen inRente und geburtenschwache Jahrgänge kommen auf denArbeitsmarkt. Das hat zunächst einmal auf die Statistikpositive Auswirkungen.Der zweite Faktor – es ist wahr, was Sie sagen –: DieKonjunktur ist angekurbelt. Das hängt auch mit derSchwäche des Euro zusammen, die eine positive Seitehat. Das heißt, Exporte werden erleichtert, was derExportwirtschaft hilft. Ich finde es albern, diese Tatsachezu leugnen.Ich sage aber gleichzeitig, dass diese Entwicklungmehrere Negativseiten hat. Die erste Negativseite ist, dassdie Unternehmen, die auf Importe aus dem Dollar-Be-reich angewiesen sind, jetzt sehr viel mehr bezahlen müs-sen. In diesem Bereich sind Arbeitsplätze gefährdet.Zweitens hat es psychologisch eine negative Auswir-kung, weil nämlich das Vertrauen in den Euro abnimmtbei den Bürgerinnen und Bürgern, auch im Auslandaußerhalb der Euro-Zone.Nun sagen Sie ja selber: Der Euro wird auch im Außen-verhältnis wieder an Stärke gewinnen; Kerstin Müller sagtdas auch. Bloß, dann müssen Sie dazusagen: Was wirddenn dann aus der Exportwirtschaft? Das, was Sie jetztpositiv bewertet haben, passiert doch dann negativ. Dannwerden nämlich die Exporte wieder abnehmen.
Aber das Dramatischste – worauf Sie leider überhauptnicht eingegangen sind, Herr Bundeskanzler – ist derOsten. Im Osten hat ja die Arbeitslosigkeit nicht nur nichtabgenommen, sie hat zugenommen. Sie hat auch in die-sem Monat wieder um 8 000 zugenommen. Das heißt, dieganze Wirkung bleibt derzeit auf die alten Bundesländerbeschränkt, es gibt keine Wirkung auf die neuen. Ich seheüberhaupt kein Konzept der Bundesregierung, wie mandort die Wirtschaft ankurbeln will.Wir haben die Investitionspauschale für Kommunenvorgeschlagen, damit die wieder in der Lage sind, eigeneWirtschaftskreisläufe in Gang zu setzen.
Dazu gehört aber auch die Stärkung der Kaufkraft in Ost-deutschland. Deshalb bitte ich Sie noch einmal: Legen Sieeinen Fahrplan zur Angleichung der Löhne und Gehälterauch im öffentlichen Dienst vor, wenigstens in welchenSchritten und in welchen Fristen das erfolgen soll. Das istim zehnten Jahr der deutschen Einheit politisch notwen-dig, das ist moralisch notwendig,
aber es ist auch ökonomisch sinnvoll. Denn ohne Ankur-belung der Kaufkraft werden wir die Wirtschaft in denneuen Bundesländern nicht ankurbeln. Da verstehe ichIhren Bundesinnenminister überhaupt nicht, der es nunauf ein Schiedsverfahren und vielleicht sogar auf Streiksankommen lassen will, anstatt hier so schnell wie möglich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Dr. Gregor Gysi9504
eine Verständigung herbeizuführen für den gesamten öf-fentlichen Dienst und speziell auch für den in den neuenBundesländern.
Lassen Sie mich noch etwas sagen zu der Frage, obdenn das alles genügt. Sie selbst haben betont, entschei-dend sei – und da sind Sie auf die Kaufkraft eingegan-gen –, dass die Einkommen netto im Vergleich zu bruttowieder zugenommen hätten, gerade bei Löhnen undGehältern. Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ob das sostimmt. Wenn aber diese Kaufkraftthese neben der Ange-botsthese im ausgewogenen Verhältnis zueinander stim-mig gemacht werden soll, dann müssen wir schon ein paarDinge ändern.Es ist doch real so, dass durch den Ausfall der Netto-lohnanpassung bei Renten, bei Arbeitslosengeld, bei Ar-beitslosenhilfe und damit indirekt auch bei Sozialhilfe dieKaufkraft geschwächt wurde. Und Sie kriegen es nichtweg. Diese Reformen gingen zulasten der sozialSchwächsten in unserer Gesellschaft. Man kann es dre-hen und wenden, wie man will: Unter der Kohl-Regierunggab es immerhin jedes Jahr die Nettolohnanpassung,wenn auch bei schwachen Nettolohnsteigerungen. Erst-malig unter einer sozialdemokratisch geführten Bundes-regierung fällt sie jetzt zwei Jahre lang aus. Das trifft dievöllig Falschen.Die haben auch nichts davon, dass Sie den Eingangs-steuersatz bei der Einkommensteuer senken; denn diezahlen gar keine Einkommensteuer. Außerdem müssensie die Ökosteuer bezahlen. Das heißt, sie machen nettorichtig Miese. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,die etwas davon haben, dass der Eingangssteuersatz ge-senkt wird, verlieren das fast alles wieder durch die Öko-steuer, die eben im Unterschied zur Meinung von FrauMüller nicht einmal ökologisch ist, aber ganz bestimmtnicht sozial.
Ich will mich damit heute auch gar nicht länger ausei-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habealles bewundert, was Sie gesagt haben, was dagegenspricht, den Spitzensteuersatz zu senken. Das Einzige,was ich nicht verstehe, ist, weshalb Sie es dann machenum 8 Prozent bis zum Jahre 2005. Wir, die Besserver-dienenden, sind doch ausreichend mit begünstigt durchdie Senkung des Eingangssteuersatzes. Wir müssen dochnicht noch einmal oben bei der Steuer nachgelassen be-kommen. Dadurch sind wir nämlich letztlich die Einzi-gen, die netto richtig Plus machen. Es tut mir Leid, aberdas ist, wenn auch abgeschwächt, die Fortsetzung derUmverteilung von unten nach oben.
Man hatte sich erhofft, dass diese Politik ab 1998 gestopptund in ihr Gegenteil verkehrt wird.8 Prozent sind eine ganze Menge. Nun weiß ich natür-lich, dass es viele gibt, die noch viel mehr wollen. Aberdiese 8 Prozent sind schon zu viel. Und wenn Sie sagen,über 70 Prozent der Mittelständler bezahlen überhauptkeinen Spitzensteuersatz, dann hätte es noch wenigerGrund gegeben, den Spitzensteuersatz zu senken. HättenSie uns den doch einfach weiter zahlen lassen, kann ichnur sagen. Leute, die noch mehr verdienen als wir, unduns hätte es nicht hart getroffen, die soziale Schieflagewäre nicht gewesen und der Staat hätte auch mehr Ein-nahmen für kulturellen, sozialen und ökologischen Aus-gleich. Das lässt sich ja noch ändern. Wir hoffen sehr, dasses passiert.Ich will noch etwas sagen: Wenn wir denn Arbeits-plätze schaffen wollen, dann müssen wir tatsächlich dasSpekulationskapital dämmen und es muss viel mehr in-vestiert werden. Da passiert auch durch Ihre Steuerreformletztlich nichts. Schon deshalb nicht, weil Sie bei einbe-haltenen Gewinnen nicht danach unterscheiden, ob sie in-vestiv eingesetzt werden oder ob sie für Spekulations-zwecke genutzt werden.
In beiden Fällen werden sie gleichermaßen begünstigtund damit kann die Wirkung diesbezüglich gar nichteintreten. Wir sind in einem internationalen Spielkasino.Hier ist jede Form von Deregulierung falsch. Da ist schonalles dereguliert. Es wird höchste Zeit, dass wir einmaletwas regulieren, damit endlich wieder aktiv investiertwird.
Dann lassen Sie mich noch zu einer Sache etwas sagen,die ich überhaupt nicht verstanden habe. Im letzten Jahrhat diese Bundesregierung gesagt, Gewerbetreibendeund Handwerker seien dadurch privilegiert, dass sie denVerkaufserlös nicht voll versteuern müssten. Wenn siejetzt verkaufen, müssen sie die volle Steuer bezahlen. Indiesem Jahr sagen Sie, beim Verkauf einer Aktiengesell-schaft – sprich: einer Bank, einer Versicherung, einesKonzerns – wollen Sie beim Verkaufserlös auf jede Steuerverzichten. Es ist doch völlig absurd, das Handwerk unddas Gewerbe mit der Steuer zu treffen und die Großen zuschonen. Es geht auch nicht um Gleichstellung, HerrMerz, sondern wir brauchen endlich einmal eine Situa-tion, in der die Konzerne, Banken und Versicherungenentsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeitihren Beitrag zur Finanzierung des Allgemeinwohls in derBundesrepublik Deutschland leisten und nicht nur dieHandwerker und die Gewerbetreibenden, die Arbeitneh-merinnen und Arbeitsnehmer.
Nun weiß ich: Auch der Bäcker kann sich entscheiden,sich wie eine Aktiengesellschaft behandeln zu lassen. Aberauch damit schicken Sie ihn ins Spielkasino, weil er näm-lich nicht weiß, welche Auswirkungen das nach zwei oderdrei Jahren haben wird, und die Entscheidung soll ja end-gültig sein. Wir wollen aber keine Spieler, sondern wirwollen Handwerker und Gewerbetreibende, die Arbeits-plätze schaffen und die ausbilden. Deshalb brauchen wirSteuersicherheit und nicht solche Vabanquespiele. Dassage ich Ihnen ganz deutlich.
Die Entlastung der Aktiengesellschaften bei den Ver-kaufserlösen ist ein völlig falscher Trend, zumal von den
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Dr. Gregor Gysi9505
Großen gar keine neuen Arbeitsplätze mehr geschaffenwerden. Seit Jahren bauen sie nur noch Arbeitsplätze ab.Stellen Sie sich einmal vor, die Fusion von DeutscherBank und Dresdner Bank hätte stattgefunden, Herr Bun-desfinanzminister! 16 000 Arbeitsplätze sollten abgebautwerden und die Steuer auf den Verkaufserlös wollten Sieihnen schenken. Das heißt, die Allgemeinheit hätte dieArbeitslosigkeit finanziert, aber nicht die betroffenen Un-ternehmen, die dadurch nur Gewinne erzielt hätten.
Übrigens, Kollege Struck ist immer so stolz darauf, dasser vom BDI-Chef Henkel usw. gelobt wird. Ich finde, dassollte Sie nachdenklich machen; das Lob wird zu dick.
Früher waren Sie stolz auf das Lob von Gewerkschaften,heute sind Sie eher stolz auf das Lob vom BDI und vonHenkel. Da hat sich in der deutschen Sozialdemokratieeiniges verschoben.
Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Dabei kom-men wir um einige Fragen nicht umhin. Lassen Sie unsdoch Reformen machen, die den Abbau von Arbeitslosig-keit weniger von Zufällen und von internationalen Marktent-wicklungen abhängig machen. Wir müssen ihn vielmehrstrukturell sichern.Die erste entscheidende Frage ist: Was wird aus derArbeitszeit? Es ist doch so: Immer weniger Menschenproduzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr und er-bringen immer mehr Dienstleistungen. Das könnte zumVorteil für uns alle sein. Stattdessen haben wir die Situa-tion, dass Millionen draußen stehen und tote Zeit haben,während bei den anderen, die in Arbeit sind, der Stress, dieÜberstunden und der Leistungsdruck wachsen. Lassen Sieuns ein vernünftiges Arbeitszeitgesetz machen, wenigs-tens so eines wie in Frankreich, damit wir die Arbeitslo-sigkeit endlich abbauen.
Zweitens bin ich davon überzeugt: Wir brauchen eineneue Struktur bei den Lohnnebenkosten. Wir schlagenseit Jahren eine Reform vor, nach der die Unternehmennicht mehr die zweite Hälfte, die 50 Prozent bezahlen sol-len wie heute, sondern nach ihrer Wertschöpfung eineAbgabe in die gesetzlichen Sicherungssysteme zahlensollen, jedes Vierteljahr, höchst flexibel. Steigt sie, mehr,sinkt sie, weniger. Nie wieder wäre ein Unternehmen mitLohnnebenkosten überfordert, weil es immer von derwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängig wäre. Da-durch könnten die Unternehmen auch leichter einstellen,weil sie wüssten, dass die Lohnnebenkosten keine starreGröße sind, sondern sich entsprechend ihrer wirtschaftli-chen Leistungsfähigkeit entwickeln.Auf der anderen Seite ist klar: Wenn ein Konzern 1 000Leute entlässt und hinterher immer noch die gleiche Wert-schöpfung hat, müsste er nach unserem Vorschlag immernoch die gleiche Abgabe in die Sicherungssysteme zah-len. Na und? Er hat ja auch einen höheren Gewinn, weiler tausendmal Lohn spart. Das überforderte doch denKonzern gar nicht. Das würde dazu führen, dass Entlas-sungen nicht mehr belohnt und Einstellungen nicht mehrbestraft würden. Das wäre eine strukturelle Reform. DieLohnnebenkosten um einen Prozentpunkt zu erhöhenoder zu senken ist keine strukturelle Reform.
Lassen Sie uns auch ernsthaft über den öffentlich ge-förderten Beschäftigungssektor nachdenken. Wenn jetztdie Zahl der Wehrpflichtigen und damit der Zivildienst-leistenden gesenkt wird, bleiben viele Aufgaben unerle-digt. Das zu ändern wird nur über einen solchen Sektorfunktionieren. Das wäre erstens gut für die Gesellschaftund zweitens eine Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit.Außerdem müssen wir – das ist wahr – deutlich in Bil-dung investieren. Das gilt für alle Bundesländer, alsoauch für NRW, über das heute schon so viel gesprochenworden ist. Ich finde, dass die Einsparungen auf diesemGebiet nicht hinnehmbar sind. Sie verletzten die Chan-cengleichheit der Kinder. Wer heute benachteiligt geborenwird, geht dann auch benachteiligt durchs ganze Leben.Solche Kinder müssen doch wenigstens die Chance ha-ben, die Benachteiligung wieder auszugleichen. DieseChance haben sie aber nur bei gleichem Zugang zu Kul-tur und Bildung. Dieser wird ihnen immer stärker ver-wehrt. Die Kinder werden zu früh getrennt, die Kinder-gärten werden mehr als Aufbewahrungsanstalten denn alsVorschulbildungseinrichtung verstanden. Nur in einemBundesland wird das anders geregelt, nämlich in Bayern.Die Praxis dort unterscheidet sich trotzdem nicht von derin anderen Bundesländern. Aber immerhin, in dem ent-sprechenden Gesetz in Bayern wird dies anders geregelt.Damit hängt auch zusammen, was alles man heute fürdie Kinder im Rahmen der Schulausbildung hinzukaufenmuss. Das geht weiter: Ich nenne zum Beispiel die Dis-kussion über Studiengebühren. Das alles sind Diskus-sionen, bei denen es um eine soziale Ausgrenzung geht.Natürlich gehört auch die Frage der Effektivität eines Stu-diums dazu. Wichtig sind auch die Fragen: Was wird inden Bildungseinrichtungen angeboten? Was haben dieAngebote mit der neuen Zeit zu tun? Das alles sind Fra-gen, die uns in diesem Zusammenhang bewegen.Wir tauschen hier zwar Meinungen aus, streiten unsund werfen uns gegenseitig alles Mögliche vor, führenaber keine wirkliche Bildungsreform durch. Vielmehrmüssen wir Experten aus anderen Ländern holen, waseine Menge über die Bildungspolitik – übrigens auch überdie Politik des Zukunftsministers der letzten Regierung;um das einmal ganz deutlich zu sagen – aussagt.Zu dem Spruch „Kinder statt Inder“ ist zu sagen: Einneues Jahrhundert bzw. ein neues Jahrtausend beginnt.Wir sollten einfach akzeptieren, dass es bestimmte Dingegibt, die Ausläufer des Mittelalters sind. Dazu gehörenalle Formen des Rassismus, alle Formen von Ausländer-feindlichkeit, alle Formen der Diskriminierung von Men-schen wegen ihres Geschlechts oder wegen ihrer Staats-bürgerschaft bzw. Nationalität und alle Formen der Dis-kriminierung von Menschen wegen der Art, wie sielieben. Lassen Sie uns das doch bitte nicht ins nächste
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Dr. Gregor Gysi9506
Jahrhundert bzw. ins nächste Jahrtausend mitnehmen!Damit muss jetzt Schluss sein. Das wäre dann ein zivili-satorischer Fortschritt.
Ich plädiere hier für Reformen, zu denen ich sagenkann: Ja, sie stabilisieren den Abbau der Arbeitslosigkeit,sie bewirken ihn nicht mehr zufällig. Wenn wir diese Re-formen durchführten, müssten Sie, Herr Bundeskanzler,nicht mehr zittern, welche Zahlen die Bundesanstalt fürArbeit nennt, und dann können Sie sich plötzlich auf dieRahmenbedingungen verlassen. Für eine solche Steuerre-form, eine solche Abgabepolitik und eine solche Sozial-politik würden wir eintreten.Bisher ist das aber nicht zu erkennen. Deshalb sage ich:Wir müssen an dem geplanten Steuergesetzeswerk nocheine ganze Menge ändern. Es ist ungerecht. Es belastetvor allen Dingen kleine und mittelständische Unterneh-men und entlastet die großen. Die zu entlasten ist derfalsche Weg. Die schaffen keine Arbeitsplätze mehr. Las-sen Sie uns endlich einen anderen Weg gehen!Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt – das war einbisschen verräterisch –: In den neuen Bundesländernklappt die Ausbildung noch nicht so, weil es dort nicht soviele Betriebe wie bei uns gibt, die ausbilden. Dieses „wiebei uns“ sollten Sie nicht noch einmal sagen. Der Ostengehört dazu.
Deshalb ist dieses „wie bei uns“ leicht verräterisch. Daswürde mir im Hinblick auf den Westen nicht mehr passie-ren. Insofern bin ich in den letzten elf Jahren im Kopf imHinblick auf die deutsche Einheit weitergekommen.Ich füge hinzu: Wir brauchen einen Fahrplan für denAufbau Ost sowie für die Angleichung von Löhnen,Gehältern und allen Sozialleistungen einschließlich derRenten. Sonst wird es eine innere deutsche Einheit nichtgeben. Nur eine Gleichstellung, nur Chancengleichheitgarantiert auch die innere Einheit in der BundesrepublikDeutschland.Danke schön.
Das Wort
hat jetzt Bundesfinanzminister Hans Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein paarZahlen und darauf aufbauend falsche Argumentationsli-nien, wie sie sowohl Herr Kollege Merz als auch soebenHerr Kollege Gysi verwendet haben, möchte ich hier kurzkorrigieren.Herr Kollege Merz, der Abstand zwischen Deutschlandund den anderen Ländern wird nicht größer zulastenDeutschlands, sondern ständig kleiner. Dass Deutschlanddie zweitletzte Position beim Wirtschaftswachstum in Eu-ropa hatte und noch hat, das ist wahr, ist aber seit demJahre 1995 der Fall. Seit 1995, also in den letzten drei Jah-ren Ihrer Regierungszeit, war Deutschland immer anzweitletzter Stelle beim Wirtschaftswachstum in der Eu-ropäischen Union.
Seit Ihrer Regierungszeit entwickeln sich die Arbeits-losenzahlen folgendermaßen: Im Jahre 1995 kam es zueinem Abbau von 37 000; diese Zahlen sind ja verfügbar.1996 kam es zu einem Abbau um 277 000, 1997 um287 000 und dann 1998 zu einem Wiederanstieg um135 000. 1999 kam es zu einem Anstieg der Zahlen um107 000 auf der Basis eines – nicht nur aus unserer, son-dern auch aus allgemeiner Sicht – unglücklichen Verlau-fes der Kurve – das wissen wir alle –: Es kam nämlich imersten Teil des Jahres zu einem Anstieg und im zweitenTeil des Jahres zu einem Rückgang der Arbeitslosenzah-len. Das Ergebnis insgesamt war jedoch ein Anstieg.Herr Merz, seit Oktober vergangenen Jahres kommt eszu einem Anstieg der Beschäftigtenzahlen um 155 000.Das sind die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundes-amtes. Die Legende, die Sie die ganze Zeit zu verbreitenversuchen, nämlich dass der Abbau der Arbeitslosigkeitausschließlich etwas mit dem demographischen Wandelzu tun habe, also damit, dass viele Ältere ausscheiden undwenige Junge nachkommen, ist falsch. Das ist nur die eineHälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist,dass der Abbau zum anderen Teil auf einen neuen Anstiegder Beschäftigung zurückzuführen ist.
Genau das ist der Sachverhalt, den Sie die ganze Zeit zuverschleiern versuchen.
Sie haben die ganze Zeit beklagt, dass es keine Zahlengebe. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind nunda. Benutzen Sie sie bitte auch, statt hier falsche Behaup-tungen zu verbreiten!Deutschland marschiert nach vorne. Ich will mir nichtalle Zahlen zu Eigen machen. Es gibt aber weltweit keinebesseren als die des Internationalen Währungsfonds. Da-nach wird bezüglich des Wachstums sowohl im Vergleichder Euro-11-Gruppe als auch der 15 EU-Staaten der Ab-stand zugunsten Deutschlands immer kleiner. Bereits imnächsten Jahr wird Deutschland von allen großen LändernEuropas das höchste Wachstum verzeichnen können,auch ein höheres als das in den Vereinigten Staaten. So diePrognose des Internationalen Währungsfonds, der übri-gens ausdrücklich auf unsere Finanz-, Steuer- und Wirt-schaftspolitik hinweist und sagt: Die sind auf dem richti-gen Weg. Sie können den jetzigen Chef, Herrn Köhler –Sie kennen ihn noch aus gemeinsamer Zeit –, dazu befra-gen. Also, Herr Merz, verbreiten Sie nicht diese Unwahr-heiten!Nun komme ich auf die Steuerpolitik zu sprechen,weil auch dazu immer eine falsche Behauptung aufge-stellt wird. Wir brauchen uns nicht von Ihnen sagen zu las-sen, wir bräuchten Mut. Wir brauchten Mut, um den Weg
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Dr. Gregor Gysi9507
aus der Schuldenfalle zu gehen. Dabei haben Sie uns imvergangenen Herbst nicht unterstützt. Stattdessen habenSie uns Knüppel zwischen die Beine geworfen.
Deswegen stelle ich Ihnen, Herr Merz, angesichts derVerhandlungen, die uns bevorstehen und die wir führenwerden, eine Frage zuallererst: Sind Sie bereit, eine Steu-erpolitik zu machen, die den Weg aus der Schuldenfallenicht beeinträchtigt? Wir werden nämlich keine Steuer-senkung vornehmen, die uns wieder zu einer Erhöhungder Neuverschuldung führt. Da ist für diese Bundes-regierung die Grenze der Kompromissfähigkeit erreicht.Damit wir uns richtig verstehen. Im Jahr 2006 soll derHaushalt ausgeglichen sein. Das wäre das erste Mal seitJahrzehnten. Von diesem Weg weichen wir nicht ab. Ent-lang dieser Leitplanke werden die anderen Politiken ge-macht. Darauf hätte ich von Ihnen sehr gerne eine Ant-wort.
Übrigens: Täten wir etwas anderes, würden wir vonganz Europa gescholten. Denn wer den Euro hat, der musssich auch auf eine konzertierte Wirtschafts- und Finanz-politik in Europa einlassen. Das heißt, wir werden dieWachstumsgewinne für eine schnellere Konsolidierungeinsetzen. Das ist die gemeinsame Verabredung aller15 Finanzminister des Ecofin-Rates.In diesem Zusammenhang möchte ich auf das ThemaKörperschaften und Personengesellschaften bzw. großeUnternehmen und Mittelständler zu sprechen kommen.Es ist schon spannend, dass CDU/CSU und PDS hier indieselbe – übrigens falsche – Richtung argumentieren.Die Wahrheit ist ganz einfach: Aufgrund unserer Steuer-politik, des Steuerentlastungsgesetzes und der Steuerre-form 2000, müssen die Kapitalgesellschaften sogar nocheine Kleinigkeit draufzahlen. Das können sie auch; dassage ich in aller Ruhe.Sie haben ja im vorigen Frühjahr etwas gesagt, was Sieheute nicht mehr wahrhaben wollen, nämlich dass dasSteuerentlastungsgesetz ein Gesetz zur Vertreibung derKonzerne aus unserem Land sei. Das haben Sie hier ge-sagt, Herr Merz.
Richtig ist: Die Energieversorgungsunternehmen habendraufzahlen müssen. Aber ich sage Ihnen: Wer 72 Milli-arden DM auf der hohen Kante liegen hat, der kann auch16,7 Milliarden DM an Steuern zahlen. Damit habe ichkein Problem.
Auch die Versicherungswirtschaft hat mehr zahlen müs-sen. Aber auch sie kann das.
Richtig ist, dass jetzt alle Unternehmen entlastet wer-den. Dies läuft aber für die großen Gesellschaften, dieKörperschaften, im Ergebnis auf plus/minus Null hinaus.Das heißt, die 20 Milliarden DM an Entlastung in derWirtschaft kommen ausschließlich bei den kleinen undmittleren Unternehmen an. Daher ist es völlig falsch, zubehaupten, sie würden schlechter behandelt als die Kör-perschaften.Die Körperschaften zahlen definitiv 38 Prozent,25 Prozent Körperschaftsteuer und im Schnitt 13 ProzentGewerbesteuer, egal ob der Gewinn niedrig oder hoch ist.Und hier setzt in der öffentlichen Debatte die Falschmün-zerei an, mit der immer darauf spekuliert wird, dass dieMenschen vom Steuerrecht nicht so recht Ahnung haben:Die Personengesellschaften nämlich zahlen Einkommen-steuer; das ist ein völlig anderes System. Darin gibt es imunteren Bereich zunächst einmal einen schönen Freibe-trag, den wir ständig heraufsetzen, im Jahr 2005 europa-weit auf das höchste Niveau. Das ist zugunsten der Be-zieher kleinerer Einkommen, also auch der kleinen Un-ternehmen. Ab der ersten Mark oberhalb des Freibetragessind Steuern in Höhe von 15 Prozent zu zahlen; einenderart niedrigen Satz hat es in Deutschland noch nie ge-geben. Und jede Mark ab 98 000 DM wird dann mit45 Prozent versteuert.Was heißt das? Das heißt, dass ein Einzelunterneh-mer – der Bundeskanzler hat die Zahlen vorhin schon ge-nannt –, der einen zu versteuernden Gewinn – Freibeträgewerden hinterher berücksichtigt – von 100 000 DM hat –für ihn gilt der Spitzensteuersatz von 45 Prozent in derTat –, eine Belastung seines Gewinns in Höhe von 27 Pro-zent hat. Ich wiederhole: Die Körperschaft zahlt 38 Pro-zent. Der Punkt, an dem eine Personengesellschaft undein Einzelunternehmer 38 Prozent zu zahlen haben, dasheißt, dass sie dort sind, wo sich die steuerliche Belastungder Körperschaft immer befindet, wird bei einem unver-heirateten Einzelunternehmer bei einem zu versteuerndenGewinn von 200 000 DM und bei einem verheiratetenEinzelunternehmer bei einem zu versteuernden Gewinnvon 400 000 DM erreicht.
Oberhalb dieser Grenze, also dort, wo eine Personen-gesellschaft oder ein Einzelunternehmer mehr zahlenmüssten als eine Körperschaft, nämlich bei Un-verheirateten oberhalb von 200 000 DM Gewinn und beiVerheirateten oberhalb von 400 000 DM Gewinn, liegenin ganz Deutschland noch – der Bundeskanzler hat dieZahl schon genannt – 5 Prozent der Personengesellschaf-ten.
Die Behauptung, die Sie hier aufstellen, dass nämlich Per-sonengesellschaften schlechter als Kapitalgesellschaftenbehandelt würden, ist zu 95 Prozent unwahr, und siekönnte zu 5 Prozent wahr sein. Das ist eine schlechteTrefferquote für einen Finanzpolitiker, Herr Merz.
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Bundesminister Hans Eichel9508
Diese 5 Prozent müssen es aber auch nicht zahlen; siekönnen optieren. Dann unterliegen sie demselben Satz,nämlich 38 Prozent.Es können übrigens auch die Freiberufler optieren undhaben dann auch maximal jene 38 Prozent, wenn sie insolche Gewinnkategorien hineinkommen.Folgendes ist klar: Wenn Sie um den Spitzensteuer-satz noch weiter streiten wollen – bitte schön, das müssenwir machen; irgendwo wird man sich treffen müssen –,dann werden Sie auch sagen müssen, wie Sie es bezahlenwollen.
Deswegen bin ich dafür, dass wir gemeinsam eine Dis-kussion führen, aber dort, wo sie verbindlich wird, HerrKollege Merz, nämlich zwischen Bundestag und Bundes-rat, auch gemeinsam mit den Ländern, auch mit jenenLändern, die CDU-Finanzminister haben. Ich werde keineNamen nennen. Ich sage Ihnen aber, dass CDU-Kollegenschon bei mir gewesen sind, die gesagt haben, dass sie eseigentlich nicht bezahlen können. Dann muss ich mir diegroßsprecherischen Bemerkungen aus München und an-derswo anhören,
die besagen, dass man eine Steuerreform machen wolle,die einen zusätzlichen Einnahmeausfall von 70 Milliar-den DM bewirken würde.Deswegen sage ich Ihnen: Ich bin für jedes Gesprächoffen, aber verbindlich muss es sein. Sie sollten nicht ein-fach nur Ihre Wünsche äußern, sondern sollten auch sa-gen, wie Sie es bezahlen wollen, und ferner sagen, wie dieLänder es bezahlen wollen.
Herr Stoiber hat nicht im Traum daran gedacht, vonseinen vielen Privatisierungserlösen dem Bund auch nureinen Pfennig abzugeben. Er hat nicht einmal daran ge-dacht, das in die Deckungsquotenberechnung aufzuneh-men. Jetzt, wo ich bei meinem überschuldeten Bundes-haushalt endlich ein bisschen Geld in die Kasse kriege,hält der sofort die Hand auf. Nein, meine Damen und Her-ren, so geht das wirklich nicht.
Ich will noch eine letzte Bemerkung über einen Sach-verhalt machen, der die Handwerker freut und über denSie, Herr Rauen, die Handwerker informieren sollten.
Sie wissen wie ich, wie ungerecht es die Handwerker-schaft immer empfunden hat, dass sie höher besteuertwird als die Freiberufler.Das ergibt sich daraus, dass dieHandwerkerschaft Gewerbesteuer zahlen muss und dieFreiberufler das nicht brauchen. Nun hat es viele Leutegegeben, die gesagt haben: Die Freiberufler sollen eben-falls zahlen. Das ist nicht meine Position. Vielmehr habenwir mit dieser Ungerechtigkeit, dass der Handwerkerhöher besteuert wird als der Freiberufler, mit unsererSteuerreform endlich Schluss gemacht. Denn wir beseiti-gen die Gewerbesteuer als Kostenfaktor und damit ist derHandwerker endlich dem Freiberufler gleichgestellt undalle profitieren von der kräftigen Absenkung der Einkom-mensteuer. Von daher ergeben sich die 20 Milliarden DMEntlastung für den Mittelstand. So etwas haben Sie nochnie zuwege gebracht.
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Michael Glos das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Das Thema hat ei-gentlich gelautet: Regierungserklärung des Bundeskanz-lers, „Deutschland im Aufbruch – Moderne Wirtschafts-politik für neue Arbeitsplätze“. Erstens haben wir keineRegierungserklärung erlebt, sondern, wie Sie, Herr Bun-deskanzler, vorhin selbst gesagt haben, eine spontangehaltene Rede.
Das ersetzt in Zukunft eine Erklärung der ganzen Bun-desregierung.Wir haben noch ein paar weitere Highlights erlebt. Mirist dabei der Titel eines Buches von Graham Greene ein-gefallen: „Stunde der Komödianten“. Das war die eigent-liche Überschrift dessen, was heute hier geboten wordenist.
Das, was Herr Eichel gerade geboten hat, war eine sehretatistische Betrachtung.
1987 – damals war Gerhard Stoltenberg Finanzminister;viele hier erinnern sich; Sie, Herr Kollege Wieczorek, ha-ben damals sehr sachkundig mitgewirkt – gab es eineSteuerreform, bei der wir in der Relation sehr viel höhereVolumina der Steuersenkungen bewegt haben, als dasheute der Fall ist. Das Ergebnis war Wachstum. Das Er-gebnis war, dass unser Land im Zeitraum bis 1990 3 Mil-lionen zusätzliche Arbeitsplätze bekommen hat.
Die etatistische Betrachtung, die Sie hier anstellen,zeigt, dass Sie von moderner Wirtschaftspolitik – im
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Bundesminister Hans Eichel9509
Gegensatz zu Ihren Ankündigungen – überhaupt nichtsverstehen. Ich sage Ihnen voraus: Die von Ihnen vorge-legte Steuerreform ist im Grunde ein bürokratischer Wust,der das Steuersystem verkomplizieren und weitere Ar-beitnehmer, insbesondere die qualifizierten, aus demLand treiben wird.
Es gibt bei uns im Land nach wie vor keine Spur vonWachstumsdynamik, im Gegensatz zu den USA, die imersten Quartal 2000 eine Wachstumsquote von – auf dasJahr gerechnet – 5,4 Prozent hatten und die eine Arbeitslo-senquote von unter 4 Prozent haben. Das bedeutet, dieWachstumsbeschleunigung in Deutschland ist nicht selbsterarbeitet worden. Vielmehr werden wir durch Einflüssevon außen sozusagen mitgeschleift: den US-Boom, aufden ich verwiesen habe, die Euro-Schwäche, über die Sieetwas hätten sagen müssen, Herr Bundesfinanzminister –ich komme noch dazu –, oder das Ende der internationalenFinanzkrisen, das uns letztendlich ebenfalls begünstigt.Es grenzt schon an Verhöhnung der Menschen, wennman so kleine Fortschritte – die sich zudem aus der de-mographischen Entwicklung heraus ergeben: Mehr Leutescheiden aus dem Arbeitsleben aus als eintreten – als gro-ßen Erfolg feiert. Herr Lafontaine hat am Beginn der Le-gislaturperiode zu Recht gesagt: Wenn wir bis 2002 nichtauf 3 Millionen Arbeitslose herunterkommen, dann istdiese Bundesregierung gescheitert. Daran werden Sie sichmessen lassen müssen.
Durch den zu erwartenden Einnahmesegen aus derVersteigerung von Funklizenzen und aus der Privatisie-rung von Post und Telekom werden Sie, Herr MinisterEichel, sozusagen zum Hans im Glück. Sie ernten glück-lich, was andere gesät haben
und was von Ihnen bekämpft worden ist. Es waren TheoWaigel und Wolfgang Bötsch an führender Stelle, die da-mals die Postreform und die Privatisierungspolitik durch-gesetzt haben. Zwei SPD-geführte Bundesländer habensich bis zuletzt verweigert: Das eine war das von Ihnen,Herr Bundesfinanzminister, geführte Hessen und das an-dere war das vom Bundeskanzler geführte Niedersachsen.Die beiden haben sich bis zuletzt verweigert.
Sie sollten einmal den Mut haben, das einzugestehen undsich zu entschuldigen, auch bei den Wählerinnen undWählern, die damals bei den Monopolbetrieben gearbeitethaben und von Ihnen genasführt worden sind.
Ich bekenne mich zur Privatisierung, zur Deregulierungund zur Liberalisierung. Wir wissen, dass daran kein Wegvorbeiführt.Man macht eine Politik der PR-Gags. Ein weitererPR-Gag war die Green Card. Das sollte ein Symbol für„Deutschland im Aufbruch“ sein. So wie die Holzmann-Nummer eine Beruhigungspille für die Gewerkschaften,insbesondere für die Baugewerkschaft war, so soll jetzteine Beruhigungspille für die Informationstechnologie-wirtschaft kommen. Dabei ist der Name Green Card völ-lig unzutreffend. In den USA ist damit eine dauerhafteArbeitserlaubnis verbunden, keine Beschränkung auf fünfJahre, wie sie die Bundesregierung plant.Dass eine vorübergehende Anwerbung ausländischerSpezialisten auch ohne größere Schwierigkeiten möglichwäre, zeigt sich in Bayern, wo diese Dinge mit einer leis-tungsfähigeren Verwaltung reibungsloser funktionieren.Wenn Herr Riester seine Arbeitsverwaltungen anweisenwürde, bei der Ausstellung von Bescheinigungen großzü-giger und rascher zu entscheiden, könnte man sehr vielbewirken. Stattdessen ist der Arbeitsminister auf diesemGebiet ein Arbeitsverweigerer. Er tut nämlich nichts.
Die Bundesregierung macht Fehler, um sie anschlie-ßend mit großem Buhei wieder zu beseitigen. Das ist soähnlich, wie wenn man auf das kurze Gedächtnis setzt undzunächst einen Brand legt, dann mit großem Tatütata alsFeuerwehr ankommt und so tut, als hätte man das Feuergelöscht, obwohl es, nachdem die Feuerwehr weggefah-ren ist, weiterglimmt.Ich will das gerne belegen: Mit dem verkündeten Aus-stieg aus der Kernenergie geht Kompetenz in einem wei-teren wichtigen Hochtechnologiesektor verloren. Mitdem Verzicht auf den Bau der Transrapidstrecke Ham-burg–Berlin wird die führende Stellung Deutschlands beider Magnetschwebebahntechnik unterminiert. Mit derPlünderung des Verteidigungshaushaltes – das ist zu raschund zu schnell – gehen wichtige Arbeitsplätze und For-schungskapazitäten in der wehrtechnischen Industrie, dieeine Hochtechnologieindustrie ist, verloren. Mit der ver-hinderten Zulassung beispielsweise von Gen-Mais wirddie grüne Gentechnologie außer Landes getrieben. DieFachkompetenz, die dann letztendlich mit der Green Cardin etlichen Jahren wieder ins Land geholt werden muss,wird jetzt aus diesem Land vertrieben.
Unser Land braucht deswegen keine PR-Gags, sonderneine stetige Politik. Es braucht vor allen Dingen eineumfassende Bildungsreform. Dazu hat KollegeMöllemann vorhin Richtiges gesagt. Wir müssen die Zu-kunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland beiuns im Land sichern. Wir müssen vor allem schauen, dasssich der Studienstandort Deutschland wieder grundlegendverbessert. Unsere Universitäten müssen wieder Anzie-hungspunkt für die besten Köpfe der Welt werden. Wenndiese Menschen bei uns studiert haben und unsere Spra-che beherrschen und unsere Lebensgewohnheiten ken-nen, sind das weiterhin auch die allerbesten Spezialistenfür die deutsche Wirtschaft. Diese Leute müssen wir imLand behalten. So machen das in erster Linie die Verei-nigten Staaten von Amerika.Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nichtin der Fabrikhalle und auch nicht in der Universität, son-dern im Klassenzimmer. Deswegen hat Kollege Rüttgers
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Michael Glos9510
schon Recht, wenn er die Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen aufspießt. Wir brauchen ein Schulsystem, dasLeistung fordert und Leistung fördert, anstatt wie in denSPD-regierten Ländern am leistungsfeindlichen Gesamt-schulsystem festzuhalten.
– Ich weiß nicht, was Frau Laurien darüber gesagt hat,Herr Kollege. Sie scheinen es sehr gut zu wissen, weil Sieso laut rufen. Vielleicht sagen Sie es anschließend. Ichweiß aber zum Beispiel, was man bei Tests bei der Bun-deswehr festgestellt hat: Die Rekruten aus den unionsre-gierten Ländern schneiden in Rechtschreibung und Rech-nen besser ab als die Wehrpflichtigen aus den SPD-re-gierten Ländern.
Da natürlich die Menschen in Bayern nicht von Hause ausgescheiter sind
als die in Nordrhein-Westfalen, muss es doch am Schul-system und an der Erziehung liegen, wenn wir diese Er-gebnisse feststellen.
Die jungen Menschen sind nicht unterschiedlich begabt,sie sind nur unterschiedlich gefordert und gefördert unddas liegt an der SPD-Bildungspolitik.
Es wurde schon mehrfach gesagt, dass BundeskanzlerSchröder 1998 in seiner Eigenschaft als Ministerpräsidentvon Niedersachsen Studiengänge an der Universität Hil-desheim aufgelöst hat. Es muss aber immer wieder gesagtwerden – insbesondere dann, wenn Wahlentscheidungenanstehen –, dass die SPD-Politik gerade in der Bildungimmer sehr kurzfristig und kurzsichtig ist und dass manversucht, die gemachten Sünden mit Werbegags wiederwettzumachen. Statt in Zukunftstechnologien zu investie-ren, hat man zum Beispiel in Niedersachsen das Geld zumKauf eines Stahlwerks genommen, als ob das eine wich-tige Sache für den Staat wäre. Aber dies hat damals demWahlgewinn genutzt. Alles das, was dem Land längerfris-tig nutzt, lässt man außer Acht und kauft sich immer wie-der mit billigen PR-Gags die Stimmen der Leute. Wer einesolche Politik macht, der braucht sich nicht zu wundern,wenn er später Green Cards für Eliten aus dem Auslandbraucht, von denen er glaubt, diese könne er so willkür-lich wie andere Importwaren kaufen.Allerdings – das ist interessant – ist die Bereitschaft derLeute, nach Deutschland zu kommen, sehr gering. Es gibtkeine Invasion aus Indien.
– Herr Poß, passen Sie doch einmal auf.
Wenn Sie auf diese Art anfangen wollen, lasse ich bei Ih-nen zwischendurch das Wort „Schul-“ weg und dann sindwir bei persönlichen Dingen, die wir miteinander austra-gen, aber das will ich nicht. Lieber Herr Poß, ich wolltemit Ihnen über die Währung reden.Die Leute, die da kommen sollen, wollen gar nicht fürEuro, sondern in erster Linie für Dollar arbeiten. Dasmuss doch auch einen Grund haben. Ich war sehr ge-spannt, was der Herr Finanzminister heute zu dieserWährungsschwäche unserer GemeinschaftswährungEuro sagt. Es ist nicht so, dass wir als Euro-Gegner da-stehen wollen.
Im Gegenteil, ich bin für den Euro eingetreten.
Es war mein Parteivorsitzender Theo Waigel, der dieHauptarbeit des Durchsetzens und die Lasten getragenhat. Wir hätten heute mit einer D-Mark, die von einer rot-grünen Regierung getragen worden wäre, noch mehr Ver-werfungen. Aber wir als das wirtschaftlich stärkste Landin Europa müssen dafür sorgen, dass das Wort „Stabilität“wieder buchstabiert wird,
dass wir vor allen Dingen durch unser Wirtschaftswachs-tum wieder der Motor der wirtschaftlichen Entwicklungwerden.
Es gibt den traurigen Negativrekord von 88 Cent ge-genüber dem Dollar. Gestern hat sich der Kurs wieder einbisschen verbessert. Im Vergleich zur Einführung desEuro vor 17 Monaten hat sich in der Spitze eine Abwer-tung von 25 Prozent ergeben. Diese Zahl macht uns natür-lich Sorge. Die Auswirkungen spürt man noch nicht so-fort, aber dies wird spätestens in einem Vierteljahr auf dieImportpreise durchschlagen. Es wird bei uns eine Inflati-onsspirale und dann eine Lohn-Preis-Spirale mit verhee-renden Wirkungen in Gang setzen, wenn es nicht gelingt,diese Talfahrt zu stoppen.Gewonnen hat der Euro lediglich gegenüber der türki-schen Lira. Dies ist die einzige Währung, gegenüberder der Euro in den letzten 17 Monaten, seit HerrLafontaine und Sie Finanzminister sind, gewonnen hat.Die türkische Lira ist anscheinend noch schwächer. Die-ser Umstand empfiehlt die Türkei neben anderen ideolo-gischen Gründen offensichtlich auch für einen raschenEU-Beitritt.Herr Eichel – ich nehme Sie jetzt stellvertretend, weilder Herr Bundeskanzler nicht da ist –, berührt es Sie ei-gentlich gar nicht, wenn die Überschriften in uns nicht un-bedingt nahe stehenden Zeitungen lauten: „Der Euro hat
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seinen guten Ruf verloren“, „Der Euro wird langsam zumSozialfall!“ oder „Der Euro auf dem Weg zu einer Lach-nummer“? Bei einer solchen Debatte wie der heutigengeht man ganz einfach kalt darüber hinweg und kommtstattdessen mit allen möglichen Kinkerlitzchen. GlaubenSie wirklich, dass die anhaltenden Kursverluste die Dänendazu bewegen werden, bei der anschließenden Volksab-stimmung dafür zu votieren, in die Euro-Zone einzutre-ten? Wie wollen Sie die Briten dazu bringen, sich auf denEuro zuzubewegen, was für die europäische Integrationunverzichtbar ist, wenn Sie den Kurs einfach so schleifenlassen?Ich sage es noch einmal: Ich fordere keine künstlichenInterventionen auf dem Devisenmarkt, sondern ich for-dere, dass in Europa eine Politik betrieben wird – aucheine Stabilitäts- und Wachstumspolitik –, die das Ver-trauen der Märkte in die europäische Gemeinschafts-währung zurückgewinnt.
Jetzt frage ich Sie, Herr Bundesfinanzminister, wobeies mir noch lieber wäre, der Herr Bundeskanzler würdedie Frage beantworten: Ich sehe mit großer Sorge die Um-frageergebnisse hinsichtlich des Vertrauens in die europä-ische Gemeinschaftswährung. Sind Sie eigentlich nicht inSorge, dass die Menschen in Deutschland das Vertrauenin den Euro verlieren, noch bevor sie ihn fühlbar greifenkönnen, also noch bevor sie die Scheine und Münzen erst-mals in der Hand haben? Das kümmert Sie offensichtlichüberhaupt nicht. Das kümmert offensichtlich auch denBundeskanzler überhaupt nicht; er hat nämlich heute auchkein Wort dazu gesagt.
Duisenberg hat dazu gesagt: Über kurz oder lang höhlt einWährungsverlust nach außen auch den Binnenwert einerWährung aus. Damit hat der Mann leider Recht. Wir wol-len, dass es in Deutschland weiterhin ehrliches Geld fürehrliche Arbeit gibt. Diese unabdingbare Grundlage fürunser Gemeinwesen wird gefährdet, wenn man die Dingeeinfach treiben lässt und wegschaut.
Ich sage es noch einmal: Der Euro ist die richtigeAntwort auf die Herausforderungen und Probleme des21. Jahrhunderts, aber nur ein stabiler Euro. Wir müssendeutlich machen, dass wir nicht einen billigen Motor zurAnkurbelung des Exports suchen, so wie es in den Redendes Herrn Bundeskanzlers und bei Ihnen angeklungen ist,sondern langfristig wollen, dass der Gegenwert für deut-sche und europäische Arbeit im internationalen Maßstabgerecht vergütet wird.Die Terms of Trade haben sich in den letzten Monatenganz bedeutend verschlechtert. Das bedeutet zwar, dassmöglicherweise zum Beispiel Daimler-Benz oder Sie-mens – oder wer immer hier produziert – mehr Euro fürsein Produkt einnimmt, aber der Arbeitnehmer, der dortarbeitet, bekommt, wenn ich den Dollar als Leitwährungder Welt zugrunde lege und es dann herunterrechne, letzt-endlich 25 Prozent weniger konvertiblen Gegenwert fürseine Arbeit und seine Leistung.
Wenn das anhalten würde, dann bedeutete es letztendlichim Klartext genau dies. Dass es nicht so weit kommt, kön-nen wir nur dadurch verhindern, dass bei uns endlich wie-der Wachstums- und Stabilitätspolitik gemacht wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das bedeu-tet: Wir haben die Verpflichtung zu einer stabilitätsorien-tierten Geldpolitik, zu soliden Staatsfinanzen, zu einerkonsequenten Reformpolitik für mehr Flexibilität am Ar-beitsmarkt, für sichere Renten und für ein leistungsför-derndes Steuersystem, nicht für etatistische Betrachtungs-weisen.Theo Waigel hatte zusammen mit Hans Tietmeyer dasVertrauen der Märkte. Immerhin war ein Waigel-Euronoch 1,18 Dollar wert; ein Eichel-Euro ist vorgestern anden Devisenbörsen für 89 Cent verramscht worden.
Das war die Reaktion der Märkte und das Urteil derMärkte ist unbestechlich. Wenn das die so genannte mo-derne Wirtschaftspolitik ist, von der Sie, Herr Bundes-kanzler, reden, dann gute Nacht.
Dann können wir uns dafür nur ganz herzlich bedanken.Wirtschaftliche Reformen wurden zurückgenommen,der Stabilitätspakt wurde infrage gestellt, Reformen imBereich der Unternehmensbesteuerung, der Rente und derKrankenversicherung wurden entweder zurückgenom-men oder verschleppt. Die notwendige Lockerung desstarren Tarifrechts ist ausgeblieben. In der Gesundheits-politik werden die Menschen immer mehr verunsichert;letztes Beispiel dafür war der Vorschlag einer Koppelungder Arzthonorare an den Heilerfolg. Herr Bundeskanzler,wenn man Ihr Gehalt an den Kurs des Euro koppelnwürde, dann würden Sie noch stärker als die Ärzte plötz-lich merken, wie ernst solche Maßnahmen gemeint seinkönnten.
Fünf Ökosteuer-Stufen und eine Steuererhöhungsde-batte um Mehrwertsteuer und Erbschaftsteuer verunsi-chern die Märkte weiterhin.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Beschwich-tigungen und Gesundbeten helfen nicht. Wir brauchenendlich eine wirkliche Reformpolitik.Wir brauchen auchden Verzicht auf weitere Steuererhöhungen und wir brau-chen vor allem Signale dafür, dass wir uns der internatio-nalen Entwicklung anschließen und sogar versuchen, wie-der der Motor dieser Wachstumsentwicklung in Europa zuwerden, wie das die Bundesrepublik Deutschland in derVergangenheit gewesen ist.
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Michael Glos9512
Herr Kol-
lege Glos, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wenn Sie diesen Weg be-
schreiten, werden wir Sie dabei nachhaltig unterstützen.
Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat Kollege Dr. Norbert Wieczorek von
der SPD-Fraktion das Wort.
Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe Ih-nen, Michael Glos, gut zugehört. Wir kennen uns auf-grund unserer gemeinsamen Mitgliedschaft im Bundestagschon länger. Ich habe Sie so verstanden, dass Sie dafürplädieren, dass die deutschen Arbeiter in Dollar bezahltwerden und dann ihr Brot mit Dollar kaufen. Habe ich dasrichtig verstanden?
Weiter habe ich gehört, dass die Wechselkurs-schwankungen ganz entsetzlich seien und diese Regie-rung für alles verantwortlich ist. Ich erinnere mich daran,als der Dollar vor ein paar Jahren bei 1,38 DM lag, warenwir alle besorgt darüber, weil das die Struktur der Exportekaputtgemacht hat. Nach Ihrem Maßstab einer DM-Schwäche gegenüber dem Dollar waren aber die An-fangsjahre der Regierung Kohl eine einzige Katastrophe.In dieser Zeit stieg der Dollar nämlich auf über 3 DM. MitVerlaub: Ich würde erst einmal nachdenken, lieberMichael, bevor man redet.
Damit bin ich bei dem Punkt, der uns heute eigentlichbeschäftigt, nämlich bei der Lage der Wirtschaft in unse-rer Republik. Ich frage Sie: Welche Ausgangslage hattenwir vor eineinhalb Jahren? Länger sind wir noch nicht ander Regierung. Ich darf daran erinnern, dass wir von demach so stabilitätsorientierten Kollegen Waigel Schulden inHöhe von 1,5 Billionen DM, 1 500 Milliarden DM, über-nommen hatten. Wir hatten zerrüttete Staatsfinanzen miteiner unsicheren Steuerbasis, ein nicht reformiertes Steu-ersystem. Wir hatten Reformstau in fast allen Bereichen,weil die alte Koalition nicht mehr die Kraft hatte, irgend-eine Reform zu machen. Wir hatten vor allen Dingen – dasist entscheidend – einen Verlust an Vertrauen in die Poli-tik und in die soziale und wirtschaftliche Zukunft.Dann haben wir den Neuanfang begonnen. Von man-chen ist gesagt worden, das sei pragmatisch gewesen.Natürlich ist Politik praktisch, aber wir hatten dabei auchGrundsätze. Der eine Grundsatz war ein wirtschaftspoli-tischer, in dem wir gesagt haben, dass Angebot und Nach-frage zusammengehören, was für jeden Ökonomen eineSelbstverständlichkeit sein sollte, und dass Angebots- undNachfragepolitik deswegen aufeinander abgestimmt undmiteinander verzahnt werden müssen. Der zweite ist eingesellschaftlicher Leitsatz. Solidarität – mit Rechten undPflichten – und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen.Ich habe mit Freude in den Schlussfolgerungen von Lis-sabon gelesen, Herr Finanzminister und Herr Bundes-kanzler, dass alle einschließlich Herrn Aznar betont ha-ben: Wir müssen soziale Ausgrenzung beseitigen und wirmüssen alle Menschen in die Gesellschaft integrieren.Das ist ein ganz wichtiger Satz.
Wir stellen uns die Frage: Was ist geschehen? Zunächstdie Steuerreform 1999. Minister Eichel hat gerade etwasdazu gesagt. Die Entlastungen waren bei den Arbeitneh-mern. Bei den Privathaushalten waren es 29,4 MilliardenDM, im Mittelstand waren es im vorigen Jahr übrigensauch schon 6 Milliarden DM. Das war Nachfragepolitikund es war Angebotspolitik zugleich: Nachfrage bei denprivaten Nachfragern – das war die Schwäche unsererKonjunktur in den letzten Jahren der Regierung Kohl –und Angebotspolitik bei den mittelständischen Unterneh-men. Es war das Programm für jugendliche Arbeitslose,JUMP-Programm genannt. Immerhin sind dadurch über26 000 feste Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt ent-standen. Herr Merz, vielleicht denken Sie erst einmal da-rüber nach, bevor man darüber redet und sagt, dass keineneuen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen wordensind. Das haben Sie vorhin gesagt.Die zentrale Frage für mich war aber die Frage nach derHaushaltskonsolidierung. Die hatte Herr Waigel nichthinbekommen. Herr Eichel hat das geschafft. Ich habe dieZahlen genannt. Hierbei muss man eines sehen: Wer hatMinister Eichel geglaubt – ich erinnere mich noch an dieZweifel in diesem Hause im vorigen Jahr –, als er an-gekündigt hat, im Haushalt Kürzungen von 30 MilliardenDM durchzusetzen? Was hat er geschafft? Gut 90 Prozent,rund 28 Milliarden DM. Das ist eine Summe, von der Siebei Ihrer Haushaltspolitik eigentlich nur träumen konnten.
Ich möchte Herrn Merz einen Hinweis geben, weil ervon der Staatsquote gesprochen hat. Die Staatsquote be-trug 1998 – unter Ihrer Regierung – 48,3 Prozent, imÜbergang 1999 48,5 Prozent und sie beträgt 200047,5 Prozent – das ist ein voller Prozentpunkt weniger –,2001 46,5 Prozent, 2002 46 Prozent, 2003 45 Prozent. Ichmöchte gleich die Abgabenquote hinzufügen. Sie beträgt2003 41 Prozent. Bei Ihnen lag sie am Schluss bei42,3 Prozent. So sehen die tatsächlichen Zahlen aus.
Das hat wesentlich zur Vertrauensbildung beigetragen,wie übrigens auch das Bündnis für Arbeit. Der Bundes-kanzler hat das angesprochen. Ich darf daran erinnern,dass Bündnisse fürArbeit in anderen Ländern – Holland,Dänemark, Irland – erfolgreich sind. Es ist aber ein sehrlangfristiger Prozess, der vor allen Dingen darauf gebautist, dass die verschiedenen Akteure – Staat, Gewerk-schaften, Unternehmen – zueinander Vertrauen findenund um ihre Interessen vertrauensvoll miteinander strei-ten konnten. Es war doch Bundeskanzler Kohl – er ist
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nicht mehr anwesend; vorhin hat er auf einer der hinterenBänke gesessen; das ist offensichtlich sein neuer Platz –,der 1996 nach den Wahlen in Baden-Württemberg,Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz den Gewerk-schaften im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, das er an-geregt hatte, den Stuhl in rüdester Art vor die Tür gesetzthat. Deswegen ist es schwierig, wieder Vertrauen herzu-stellen. Aber dass es jetzt gelungen ist, zeigen genau dieTarifabschlüsse dieses Jahres.Lieber Michael Glos, es handelt sich um Zweijahresta-rifabschlüsse. Folglich kann es nicht nach einem Viertel-jahr eine Lohninflation geben. Wer das behauptet, der hatgar nicht begriffen, welche moderne Wirtschaftspolitikdiese Regierung betrieben hat.
Es ist auch wichtig, dass die Tarifverträge nicht par ordredu mufti, also durch Einfluss von oben, zustande gekom-men sind; vielmehr haben die Tarifpartner gemeinsamund freiwillig diese Verträge abgeschlossen. Das halte ichfür einen ganz wichtigen Punkt.Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen, weildas mit zum Bild Deutschlands, der EU und der Eurozoneim Ausland beiträgt. Wenn immer wieder von Abgeord-neten aus den Reihen der Opposition – vorher waren esVertreter der Interessenverbände – behauptet wird, hiersei ja alles verkrustet – das war richtig; unter Kohl war dasso –, dann muss ich feststellen: Gerade im Bereich der Be-ziehungen zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern inder Tarifpolitik lässt sich eine Flexibilisierung seit Anfangder 90er-Jahre beobachten – ich nenne als Beispiele Ar-beitszeitkonten und flexible Arbeitszeitmodelle –, diedazu geführt hat, dass die Produktivität in wichtigen In-dustriebereichen, zum Beispiel in der Automobilindus-trie – deswegen sind wir ja exportstark; deswegen müssenwir einen stärkeren Euro überhaupt nicht fürchten –, zumTeil um 10 Prozent gestiegen ist. Ich möchte nur an Forderinnern: Ford macht wahrscheinlich – das nehmen Siesonst gern als Beispiel für Flexibilisierung – sein WerkDagenham in Großbritannien zu und verlagert die Pro-duktion nach Köln.
– Hier ist es ganz deutlich. An diesem Beispiel kann manerkennen, wie unsere neue Politik gewirkt hat. Deswegenempfehle ich, ein bisschen auf die internationale Reputa-tion zu achten und nicht einfach etwas daherzureden.Noch ein Wort zur F.D.P.: Es wird immer behauptet, esgäbe nur flächendeckende Tarifverträge. Ich bin zufälligSchlichter für den Bereich Rheinland-Pfalz und Saarland.Ich werde als Schlichter sehr wahrscheinlich nie gefordertsein, weil die IG Metall dort nicht streikt. Aber ich kannIhnen eines sagen: Wenn Sie sich die Tarifstatistik anse-hen, dann werden Sie feststellen, dass die Tariflöhne – nurdavon rede ich – zwischen den Regionen um mehr als20 Prozent differieren, ganz zu schweigen von der Lohn-drift, die es bei größeren Unternehmen gibt. Ich empfehle,die Differenziertheit unserer Tariflandschaft und auch dieMöglichkeiten der neuen Tarifverträge zur Kenntnis zunehmen, die auch zwischen den Unternehmen Lohndiffe-renzierungen zulassen, gerade im Hinblick auf die Zu-satzleistungen. Ich erwähne das nur deshalb, weil Sie im-mer noch den Eindruck erwecken, hier habe es keine An-passungen gegeben. Ein großer Irrtum!Das Vertrauen, das jetzt gerade aufgrund der Konsoli-dierung des Haushalts wieder hergestellt worden ist – ichglaube, das war der entscheidende Faktor –, hat natürlichauch etwas bewirkt. Die Erfolge konnte man diese Wochean den Arbeitslosenzahlen und an den anderen Arbeits-marktzahlen ablesen. Man kann die Erfolge auch daran er-kennen, dass die Investitionen kräftig gestiegen sind unddass auch die private Nachfrage steigt. Auch das habenSie, Herr Merz, nicht richtig dargestellt:
– Das mag sein oder er möchte es nicht wahrhaben. – 1997sind laut Angaben der Konjunkturforschungsinstitute dieAusgaben der privaten Haushalte für den Konsum realum 0,7 Prozent gestiegen. 1999 sind sie um 2,1 Prozentgestiegen. Dieses Jahr wird ein Plus von 2,3 Prozent undnächstes Jahr ein Plus von 2,8 Prozent erwartet. Das ist jawohl ein Zeichen dafür, dass Vertrauen zurückgekehrt ist.Die realen Investitionen – das ist der zweite großeFaktor – sind 1997 um 3,7 Prozent gestiegen. 2000 wirdmit einem Plus von 6,7 Prozent gerechnet. Das ist fast eineVerdoppelung. Man muss zur Kenntnis nehmen, wie dieRealität der Republik gerade aufgrund der neuen Ansätzeder Wirtschaftspolitik aussieht.Lassen Sie mich auch sagen, dass wir natürlich nochnicht am Ende des Weges sind. Es muss noch viel getanwerden, gerade auch im Hinblick auf die Beschäftigung.Deshalb gilt es, auch in diesem Jahr Zeichen zu setzen.Nächste Woche wird die Steuerreform auf den Weg ge-bracht. Wir werden Ende Juni bzw. Anfang Juli – wenn ichrichtig informiert bin – die Haushaltseckdaten vorlegen.Das sind ganz wichtige Punkte, und zwar nicht nur für un-sere Bürgerinnen und Bürger, sondern gerade auch für dieinternationalen Finanzmärkte; denn damit können wir be-legen, dass Reformen in Deutschland möglich sind.Erst einmal eine Randbemerkung zur Euro-Diskus-sion: Es geht nicht, dass wir in diesem Land demokrati-sche politische Entscheidungen mit langfristigen Auswir-kungen für jede Frau und jeden Mann nach den Tageser-wartungen bestimmter Wirtschaftszeitungen und – dasgeht erst recht nicht – nach den Tageserwartungen der De-visenhändler treffen. Dass so etwas gefordert wird, kannich wirklich nicht nachvollziehen.Lassen Sie mich noch etwas zum Euro sagen. Ich habezu denen gehört, die ihn von Anfang an begleitet habenund die sich für den Stabilitätspakt gemeinsam mitIhnen – einige von Waigels Vorstellungen waren nichtumsetzbar; das haben wir ihm aber auch klar gesagt – ein-gesetzt haben. Ich bin froh – da möchte ich auf HerrnEichel eingehen –, dass der Ecofin am Montag festgestellthat, dass Einmaleinnahmen nicht in die allgemeine Haus-haltsfinanzierung fließen. Das ist zwar richtig; aber ichsehe gleichzeitig mit Vergnügen und mit Freude, dass die
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Dr. Norbert Wieczoreck9514
Stabilitätsprogramme sehr viel ernster genommen wer-den; denn wir sind dabei, Wachstum und gleichzeitigPreisstabilität zu erreichen. Das ist ganz wichtig.Ich möchte noch eine wirtschaftspolitische Bemerkungmachen. Ich halte den Ansatz für gegeben, für die Euro-Zone eine solide Haushalts- und Fiskalpolitik zu ma-chen. Dies war der eigentliche Grund für den Aufschwungder 90er-Jahre in Amerika. Diese Politik erlaubte der Zen-tralbank eine relativ lockere Geldpolitik. Für die Erfolgein den USA war diese Geldpolitik verantwortlich, nichtdie Arbeitsgesetzgebung. Die war vor zehn Jahren, als dieAmerikaner eine Arbeitslosenquote von 10 Prozent hat-ten, die gleiche wie heute. Es ist vor diesem Hintergrundganz wichtig, dass ein entsprechender Spielraum in derEuro-Zone geöffnet wird. Deswegen muss der einge-schlagene Weg weitergegangen werden.Zurück zum Euro. Ich halte Ihre Äußerungen, lieberMichael Glos, für absolut fahrlässig; ich sage das in allerDeutlichkeit. Im Maastricht-Vertrag haben wir gemein-sam vereinbart – damals wurde Europapolitik noch ge-meinsam gemacht; daran habe ich bei Herrn Stoiber neu-erdings große Zweifel; bei der CDU weiß man nicht, wiesie sich entscheiden wird;
es wäre schlimm, wenn sich diese Tendenz fortsetzt –,dass das einzige Ziel der Europäischen Zentralbank diePreisstabilität ist. Preisstabilität beruht auf Binnenstabi-lität – und die ist ohne Zweifel gegeben und sie wird auchweiterhin gegeben sein. Ich habe etwas darüber gesagt,was gerade die Tarifvertragsparteien in der Bundesrepu-blik – dies gilt nicht nur für Deutschland – in diesem Jahrdazu beigetragen haben.Dass wir Wechselkursschwankungen haben – ich habees in meiner Eingangsbemerkung angesprochen –, ist et-was Selbstverständliches. Man stelle sich einmal vor, wirhätten diese Wechselkursschwankungen wie jetzt beimEuro gegenüber der DM. Früher war die DM Er-satzwährung für das gesamte Euro-Land; heute gibt es inEuropa eine gemeinsame Währung.Ich bitte Sie sehr ernsthaft darum, keine Reden zu hal-ten, in denen man behauptet, die Menschen würden allearm. Im Beispiel eben wurde darauf hingewiesen, jemandbei Daimler bekomme soundso viel Euro und wenn er die-sen Betrag in Dollar bekäme, würde er um 25 Prozent är-mer. Dies ist natürlich Unsinn. Im Gegenteil, er bekommtetwas mehr und sein verfügbares Einkommen ist größer.Er kann sich mehr kaufen; denn seine reale Kaufkraft istgestiegen, weil wir Preisstabilität, also innere Geldwert-stabilität, haben.
– In Florida natürlich nicht. Aber ich habe nicht den Ein-druck, dass Florida das klassische Reiseziel der Arbeiterist; insofern habe ich damit kein Problem. Wer dahin fah-ren kann, dem macht das auch nichts mehr aus.Ich habe eben darauf hingewiesen – an der Haushalts-politik symbolhaft dargestellt –, wie wichtig für die In-landsnachfrage und für den Aufschwung die Wiederher-stellung des Vertrauens war. Wir müssen den ausländi-schen Investoren deutlich machen – ich unterschätzenicht, was im Zusammenhang mit dem Euro passiert –,dass es bei uns zu Reformen kommen wird. Dazu zähltdie Rentenreform, die wir gemeinsam zustande bringenwollen. Keiner kann sagen, ob sie gelingen wird. Dazuzählt auch die Steuerreform, die wir nächste Woche ver-abschieden wollen. Es ist ganz wichtig, dass wir unserenAnteil nach den Regeln der Politik – ich sage es noch ein-mal: nicht nach den Regeln der Tageserwartungen derHändler – leisten. Wir müssen das auch nach außen klar-machen.
– Langsam, langsam. Eure Steuerreform kenne ich noch.Es ist auch wichtig, dass andere Länder ähnlich vorge-hen. Ich sage ganz offen: Die Regierungskrise in Italienhat sich auf den Euro ausgewirkt. Aber Herr Amato warderjenige, der die ersten Reformen in Italien durch-geführt hat. Ich hoffe, dass er – nicht euer FreundBerlusconi; wenn ich das so deutlich zu dieser Seite sagendarf – die Zeit hat, seine Reformmaßnahmen umzusetzenund dass ihm der Ecofin dabei hilft. Wenn es uns gelingt,das nötige Vertrauen herzustellen, dann stellt sich eine Si-tuation ein, in der sich bestehende Defizite korrigieren.Eines wäre nämlich schlimm: wenn wir in eine Situationkämen, in der das Gefüge noch mehr durcheinanderkommt. Die schlimme Gefahr, die auf uns allen lastet, istja vor allen Dingen die eines Crashs in Amerika. Die Ge-fahr ist nicht der Euro-Kurs, sondern ein Crash in Ame-rika.Deswegen ist es wichtig – diesbezüglich möchte ichden Finanzminister ansprechen –, dass in Okinawa beimG7-Gipfel eine bessere Kooperation erreicht wird. Diegegenwärtige, nur auf die US-interne Sicht gerichtete Po-litik der amerikanischen Treasury, konkret: meines altenFreundes Garry Summers, halte ich nicht für vertretbar.Sie ist auf die Dauer schädlich. Wir müssen da zu besse-ren Regelungen kommen. Ich hoffe, dass das gelingt. Ichweiß nicht, ob wir vor dem Gipfel in Okinawa noch eineDebatte zu diesem Thema haben werden; deswegenwollte ich das hier loswerden. Wenn wir nämlich nichtstabilere Wechselkursverhältnisse bekommen, hilft dasweder Japan noch den USAnoch Euro-Land. Daher müs-sen wir zu stabileren Wechselkursverhältnissen beitragen.
Herr Kol-
lege Wieczorek, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zumSchluss. Ich möchte noch einen Schlusssatz sagen, weilich am Anfang zwei Leitsätze vorgetragen habe.
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Dr. Norbert Wieczoreck9515
So pragmatisch und praktisch manches auch ist, so istes für Nichtökonomen doch etwas schwer verständlich.Die Leitlinie unserer Politik, der SPD-Wirtschaftspolitik –die haben wir konkret in diesem Punkt gemacht, und wirwerden sie weiter machen –, ist, dass es einen sozialenKonsens gibt, in dem sich jede Bürgerin, jeder Bürger,jede Frau, jeder Mann, ob Jung oder Alt, wiederfindenkann. Ziel unserer Politik ist, dass jeder in die Gesell-schaft integriert ist und damit auch an der Gesellschaftteilnehmen kann und nicht ausgegrenzt wird, damit wirwieder eine soziale Gesellschaft haben, in der jeder nachseinen Bedürfnissen leben kann und in die er sich selbereinbringen kann, aber auch einbringen soll. Ausgrenzungist zu überwinden, aber das erfordert ein Angebot undauch den Willen, in die Gesellschaft hineinzugehen. Da-rauf ist unsere Politik ausgerichtet.Das ist übrigens auch der eigentliche Kern der so ge-nannten neuen Wirtschaftspolitik, wie sie von GordonBrown, Tony Blair und anderen gemacht wird. Das zurErinnerung an die Opposition.Vielen Dank.
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Rainer Brüderle von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Mir bleibt nur wenig Zeit, deshalb we-nige Bemerkungen.Zunächst fällt auf: Zur wirtschaftlichen Lage, zumKonzept der Wirtschaftspolitik spricht der Bundeskanz-ler, nicht der Bundeswirtschaftsminister, der eigentlichdafür zuständig ist. Wir haben uns gefreut, ihn zeitweiseauf der Regierungsbank begrüßen zu können.
– Herr Staffelt, regen Sie sich nicht auf. Schön, dass Sieabgenommen haben. Sie können ja später noch reden.Zweitens. Herr Bundeskanzler, Sie haben es etwa sodargestellt: Wenn man Kritik an dem übt, was Sie für rich-tig halten, bedeutet dies einen Schaden für Deutschland,für die deutsche Wirtschaft. – Nein, Wettbewerb habenwir in der sozialen Marktwirtschaft, Wettbewerb brau-chen wir auch in der Politik, um miteinander um den rich-tigen Weg zu ringen. Deshalb ist die Kritik an falschenAnsätzen notwendig, damit wir insgesamt erfolgreichsind.
Die Wechselkurse des Euro sind das Ergebnis einertäglichen Abstimmung an den Märkten und nicht auf fins-tere Machenschaften einiger Devisenhändler zurückzu-führen. Sie sind das Ergebnis einer täglichen Abstimmungder Welt über die Reformfähigkeit mit Zukunftseinschät-zung von Euro-Land. Der größte Teil von Euro-Land istDeutschland mit 80 Millionen Einwohnern.Es ist so, dass Amerika diesbezüglich kräftiger dasteht,mit mehr Dynamik. Im letzten Quartal war die Wachs-tumsrate dort fast doppelt so hoch wie in Deutschland.Die Arbeitslosigkeit lag unter 4 Prozent. Davon sind wirweit entfernt. Deshalb muss die Devise in der Tat heißen,nicht kurzfristig durch Deviseninterventionen, sondern –und da würde ich mir wünschen, dass Herr Eichel aktiverwürde – durch koordinierte Wirtschaftspolitik und durchReformen die Erwartungen draußen in der Welt hinsicht-lich der Zukunftsfähigkeit von Euro-Land und Deutsch-land zu verändern.
Ich habe den Eindruck, Sie sind zu sehr mit demShareholder-Value Ihrer Beteiligungen beschäftigt und zuwenig damit, den Außenwert des Euro zu stabilisieren,damit wir nicht von dieser Seite eine importierte Inflationbekommen. Wenn sich die derzeitige Entwicklung fort-setzte – zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland ha-ben kein Vertrauen in den Euro –, würde dies bei uns auchnachhaltige Auswirkungen über die wirtschaftliche Lagehinaus haben.Kernpunkt ist, dass wir in Deutschland einen Verfalldes ordnungspolitischen Denkens haben. In der Steuer-politik gibt es die Mittelstandslücke. Sie sperren die Ge-winne in den Betrieben ein, statt sie in eine produktivereVerwendung hinauszulassen,
weil Sie meinen, wenn das Geld in Unternehmerhandkäme, wäre dies eine schlechte Verwendung. Das sind alteideologische Reflexe, die Sie schnellstmöglich überwin-den sollten. Mir fällt da in Analogie zu Brecht ein: Siesehen zu sehr die Großen im Rampenlicht, und die imDunklen, die Kleinen und Mittleren, die die Arbeitsplätzeschaffen, den Mittelstand, sehen Sie zu wenig. Für denMittelstand müssen die Weichen anders und besser ge-stellt werden.
Ich halte es für richtig, wenn Sie die Veräußerung vonUnternehmensbeteiligungen steuerlich freistellen. AmAnfang haben Sie gesagt, das kostet nichts. Heute redetman von 4 Milliarden DM Kosten, vielleicht sind es auch8 Milliarden DM. Wahrscheinlich wollen Sie die Zahlennicht nennen, damit die Fundi-Grünen nicht unruhig wer-den oder die Traditionssozis Sie innerparteilich nicht be-schimpfen. Sie müssen aber auch fair sein und demHandwerksmeister, der seinen Betrieb aufgibt und von derVeräußerung seines Betriebes leben muss und leben will,aber bisher den halben Steuersatz zu zahlen hat, analogentgegenkommen. So, wie bisher geplant, können Sie esnicht machen.
Herr Wieczorek, Sie tun bei Ihren Ausführungen zumArbeitsmarkt und zum Tarifvertragsrecht gerade so,als ob es den Fall Viessmann nicht gegeben hätte. Dort ha-ben 98 Prozent der Belegschaft einem Konzept zuge-
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Dr. Norbert Wieczoreck9516
stimmt, um ihre Arbeitsplätze in Nordhessen zu erhalten.Im Betrieb andere Regelungen zu vereinbaren stellt docheine Erweiterung des Günstigkeitsprinzips dar. Die Ge-werkschaften haben dagegen geklagt. Wir müssen dieseBlockade aufbrechen. In Berichten der Bundesbank, derOECD und vieler Wirtschaftsforschungsinstitute könnenSie nachlesen, dass einer der zentralen Hemmschuhe fürmehr Arbeit in Deutschland die Starrheit und Inflexibilitätauf unserem Arbeitsmarkt sind. Diese müssen wir aufbre-chen. Dazu brauchen wir breite Korridore und ein ande-res Denken
Es gibt hierzu erste Ansätze: Die IG Chemie hat ent-sprechende Vereinbarungen durchgesetzt. Sie müssendiese aber auch in der Breite umsetzen. Da man hier nichtvorankommt, ist unsere Vorstellung, dass letztlich auchder Gesetzgeber handeln muss. Sonst gibt es einen Stau,der von denjenigen verursacht wird, die drinstehen, undder zulasten derjenigen geht, die draußen stehen, aberauch etwas Hoffnung und Zuversicht haben wollen. So istkeine Solidarität insbesondere mit den Langzeitarbeitslo-sen zu erreichen. Hier muss es Reformen und Verände-rungen geben.
Herr Kol-
lege Brüderle, kommen Sie bitte zum Schluss.
Letzter Satz, Herr Präsident. –
Wenn wir es nicht schaffen, in Deutschland überzeugende
Reformen auf den Weg zu bringen, wird der Euro weiter
schwächelnd dahindümpeln. Viele Fachleute sprechen da-
von, dass die Auffanglinie vielleicht bei einem Kurs von
0,80 Dollar liegt.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ditmar Staffelt
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ein bisschen kann ich michdes Eindrucks nicht erwehren, als hätte die Opposition al-lergrößte Schwierigkeiten, sich auf das Modell „Moder-nisierung und soziale Verantwortung“ einzustellen. Siediskutieren hier in einer Weise, als sei die Regierung in al-ten Denkkategorien verhaftet, als würde sie sich nicht denHerausforderungen der Gegenwart und der Zukunft stel-len. Sie tun so, als fördere die SPD als Regierungsparteinicht sehr bewusst und mit vielerlei wichtigen Initiativengerade die kleinen und mittleren Unternehmen in unseremLande. Sie gehen doch an den Realitäten vorbei, wenn Sieuns das dauerhaft unterstellen und damit Propaganda ma-chen, während die Wahrheit und die Faktenlage völlig an-ders aussehen.
Im Übrigen möchte ich Ihnen sagen, dass ich mitgroßem Interesse am 28. April 2000 in der „FrankfurterAllgemeinen Zeitung“ unter der Überschrift „Deutlichmehr Aufträge im Mittelstand“ gelesen habe, dass dieCreditreform eine Umfrage unter Unternehmern in derBundesrepublik, in Ost und West, gemacht hat und zu fol-gendem Resultat gekommen ist: 38 Prozent beurteilenihre Auftragslage als gut oder sehr gut gegenüber27,2 Prozent noch im vergangenen Jahr. Es ist so, dass27,6 Prozent gegenüber 17,2 Prozent im letzten Jahr da-rauf verweisen, dass sich ihre Umsatzsituation deutlichverbessert hat.Es gibt – ich könnte diese Umfrageergebnisse noch aufeine breitere Grundlage stellen – viele Hinweise darauf,dass außerhalb dieses Parlamentes eine sehr viel optimis-tischere und sehr viel positivere Einschätzung der Politikder Regierung vorhanden ist, als Sie sie den Menschenhier vermitteln wollen. Darüber ärgere ich mich. Sie be-finden sich inzwischen in einem Zustand der politischenBeliebigkeit, nur um Opposition zu machen.
Das beste Beispiel dafür ist doch das Thema Holzmann,das hier noch einmal angesprochen wurde. Ich erinneremich noch sehr gut – das war ja eine der ersten Debattenhier in diesem Hause –: Sie konnten gar nicht eilfertig ge-nug darauf verweisen, dass Frau Roth und Ihr Minister-präsident Koch diejenigen waren, die vor Ort mit den Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen hatten. Siehatten fast ein Problem damit, dass der Kanzler dabei war.Wenig später, als eine Regelung erreicht worden ist, dieviele Arbeitsplätze, aber auch vielen Mittelständlern dieExistenz gerettet hat, haben Sie auf einmal einen Schwenkgemacht, das Gegenteil behauptet und sich distanziert.Wissen Sie: Eine solche Politik hat kurze Beine. Damitwerden Sie für sich keine Mehrheiten in dieser Republikherbeiführen.
Dasselbe Affentheater – sind wir doch einmal ehrlich –haben Sie mit der Green Card veranstaltet: Auf der einenSeite vergießt Herr Rüttgers Krokodilstränen. Auf der an-deren Seite hat er aber Sprüche drauf, bei denen man dasGefühl hat, dass es sich um eine konservative Politik ganztief aus der Mottenkiste handelt. Sie, die Sie immer vonExperimenten und Ideen reden, sind noch nicht einmal be-reit, einen solchen Versuch, ein solches Experimentmitzutragen. Trotzdem reden Sie von Innovation und Er-neuerung. Mit einer solchen Grundeinstellung zum politi-schen Handeln schlagen Sie sich doch selber aus demFelde.
Ich will noch eines sagen: Schauen Sie sich doch ein-mal die Mittelstandspolitik des Bundeswirtschaftsminis-teriums an! In unserem Katalog sind eine Fülle von Maß-nahmen, um insbesondere die Selbstständigkeit in unse-rem Lande zu unterstützen. Teile dieses Katalogs sind die
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Rainer Brüderle9517
Fortsetzung dessen, was Sie gemacht haben – ohne jedeFrage. Zu dieser Kontinuität bekennen wir uns. AndereTeile haben wir neu austariert und haben neue Akzente ge-setzt.Aber es gibt doch keinen Zweifel daran – angefangenbei den Förderinstrumenten der Kreditanstalt für Wieder-aufbau bis hin zu den Maßnahmen der Deutschen Aus-gleichsbank –, dass hier hervorragende Arbeit zur Unter-stützung des Mittelstandes und zur Unterstützung kleinerund mittlerer Unternehmen geleistet wird. Daran zweifeltdoch in Wahrheit niemand, schon gar nicht diejenigen, diedavon betroffen sind, nämlich die kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen. Diese Tatsache können Sie dochnicht wegdiskutieren.
Ich füge noch eines hinzu: Schauen Sie sich an, was wirin diesem Zusammenhang an den Universitäten und in derGesellschaft dafür getan haben, dass das Klima für Selbst-ständigkeit verbessert wird! Tun Sie doch nicht so, alswürden wir hier keine großartige Unterstützung leisten!Sie haben eben über Bildungssysteme gesprochen.Herr Glos, zu dieser Diskussion muss ich Ihnen sagen: Soeinfach ist es ja nun nicht. Ich bin aus der Berliner Politikin den Bundestag gekommen. Das Land Berlin hat – ichvermute, andere Bundesländer auch – mehrfach im Bun-desrat den Antrag gestellt, dass die Professoren endlichaus der Liste der Beamten gestrichen werden. Jede Ände-rung des Bundesbeamtengesetzes ist an Ihnen gescheitert.Sie haben damit mehr Flexibilität im Lehrkörper der Uni-versitäten verhindert.
Erzählen Sie also nicht den Unsinn, als seien alleSchwachpunkte im Bereich der Bildung auf sozial-demokratische Bildungspolitik zurückzuführen!Wir bekennen uns dazu, dass es mehr Wettbewerb zwi-schen den Universitäten in unserem Lande geben muss.Natürlich brauchen wir diesen Wettbewerb. Aber die ent-sprechende Diskussion müssen wir gemeinsam führen.Schuldzuweisungen dieser sehr einfachen Art sind meinerAnsicht nach überhaupt nicht dazu geeignet, um zu Lö-sungen in dieser sehr schwierigen Frage der Innovation inder Bildungspolitik unseres Landes zu kommen.
Ich möchte darauf verweisen, dass ich die Bemühun-gen der Bundesregierung und des Bundeswirtschaftsmi-nisteriums ausdrücklich unterstütze, einen Einstieg in denAbbau von Bürokratie zu finden. Natürlich ist das einwichtiges Thema. Sie müssen aber auch in diesem Punktzugeben: Auf der einen Seite schreit das ganze Land nachEntbürokratisierung; auf der anderen Seite schreien zumTeil dieselben Menschen, dass wir Regelungsbedarf ha-ben. Wir sind in dieser Frage in einer sehr schwierigen Si-tuation. Deshalb muss im Einzelfall entschieden werden.Eine gemeinsame Anstrengung zur Entbürokratisierunglohnt sich aber in jedem Falle und wird Innovation undAnschübe für die Wirtschaft zur Folge haben.Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Punkten sagen,die Sie hier ebenfalls mit einem sehr negativen Akzentangesprochen haben: Wir haben doch nun in vielenRegionen dieser Republik geradezu eine Vielzahl vonNeugründungen von kleinen Unternehmen der Hoch-technologie, ob das die Biotechnologie ist, ob das die In-formations- und Kommunikationstechnologien sind. Daskommt doch nicht von ungefähr. Das ist zwar eine Ent-wicklung, die natürlich auch etwas damit zu tun hat, dasses solche Schübe in den USA gegeben hat, aber es mussdoch gleichwohl eine Gründeratmosphäre in diesem Landgeben. Es muss doch gleichwohl Rahmenbedingungengeben, die es solchen Unternehmen ermöglichen, Fuß zufassen.Und wenn Sie sich dann einmal die Entwicklung desNeuen Marktes anschauen und dann feststellen, dass sichaus Zwei-Mann- bzw. Drei-Mann-Buden, wenn ich das sosagen darf, auf einmal millionen- und milliardenschwereUnternehmen entwickelt haben, dann können Sie dochnicht davon reden, dass diese Bundesregierung nicht inder Lage wäre, Voraussetzungen für innovative kleine undmittelständische Unternehmen in unserem Lande herbei-zuführen.
Das ist doch Murks, was Sie hier erzählen.
– Ich habe jetzt keine Zeit. Bayern haben heute schongenug gesprochen.
Ich will noch einen Hinweis auf die so genannte OldEconomy machen. Bei anderer Gelegenheit – das sollteman vielleicht wenige Tage vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen auch noch einmal sagen – haben Sie hier De-batten darüber geführt, wie es denn nun eigentlich mit derKohlesubvention und Ähnlichem mehr sei. Ich finde, dassman an dieser Stelle auch noch einmal sagen kann: Wirjedenfalls stehen zu den Vereinbarungen, die getroffenworden sind. Da gibt es kein Wenn und kein Aber.
Damit wir nicht nur über diejenigen reden, die jetzt inden ganz modernen wirtschaftlichen Bereichen zu Hausesind: Wir vergessen auch diejenigen nicht, die morgensum 6 Uhr noch am Fließband und anderswo in den Fabri-ken stehen und arbeiten. Auch die sind Teil unseres ge-samtwirtschaftlichen Konzeptes für diese Republik,meine Damen und Herren.
Ich resümiere: Ich bin der Überzeugung, Sie werdensich einiges einfallen lassen müssen. Es reicht nicht, wenn
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Dr. Ditmar Staffelt9518
Sie eine Politik entwickeln, die darauf aus ist, einzelneKörner aus unserem Konzept herauszupicken, und dannglauben, damit würden Sie die positive Einschätzung, diees ja in der Wirtschaft und bei den Verbänden zu diesemThema gibt, aushebeln können. Nein, ich sage Ihnen: Siewerden erst wieder auf die Beine kommen, wenn Sie ei-gene Vorschläge und eigene Philosophien entwickeln undwir dann darüber streiten können. Das würde dem Landeübrigens auch gut tun. In der Verfassung, in der Sie sichim Moment befinden, sind Sie jedenfalls weit außerhalbdes Mainstream. Und ich sage Ihnen eines: Sie werden dasbei den nächsten passenden Gelegenheiten und dann auchbei Wahlen merken.Schönen Dank.
Als nächs-
ter Redner hat nun das Wort der Kollege Karl-Josef
Laumann von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrterHerr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirführen heute eine Debatte über die Wirtschaftspolitik, dievor allen Dingen unter der Überschrift „Politik für mehrBeschäftigung“ steht. Auch der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Bessere Erwerbsaussichten für äl-tere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung“ steht imZusammenhang mit dieser Debatte. Da wir jetzt eineleichte konjunkturelle Verbesserung haben, ist es ja un-streitig, dass wir auch eine leichte Entspannung auf demArbeitsmarkt haben. Es ist unstreitig, dass ein großer Teildieser Entspannung, die wir auch in den nächsten Jahrenzu erwarten haben, auch und vor allem damit zu tun hat,dass jedes Jahr in Deutschland 150 000 bis 200 000 Men-schen mehr aus dem Erwerbsleben ausscheiden als ausder Ausbildung der jungen Generation für den Arbeits-markt nachwachsen.In dieser Situation einer leichten konjunkturellen Ent-wicklung brauchen wir auch politische Konzepte, wie wirdie Beschäftigung vor allen Dingen älterer Arbeitnehmerin diesem Land wieder fördern können.
Wir haben unter unseren Arbeitslosen 900 000 Menschenüber 55 Jahre. Ein großes Unternehmen wie die DeutscheBank hat noch ganze 500 Beschäftigte über 50 Jahre. Wirhatten in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft eineEntwicklung, bei der die ältere Generation aus dem Ar-beitsmarkt herausgebombt worden ist.
– Wer hat denn die Debatte in Deutschland über die Rentemit 60 geführt und damit jede Motivation kaputtgemacht,sich auch noch für die Fortbildung eines 55-Jährigen ein-zusetzen?
Das waren doch Sie mit Ihren Hilfstruppen aus IGMetall,DGB usw.!Wir haben seit anderthalb Jahren einen Bundesarbeits-minister Walter Riester.
Wir haben ein Bundesarbeitsministerium, das dem Aus-schuss für Arbeit und Sozialordnung seit Oktober 1999keinen einzigen politischen Antrag mehr zugeleitet hat.
Das ist die Wahrheit! Der Ausschuss für Arbeit und So-zialordnung kann seit Oktober 1999 keinen politischenAntrag mehr aus dem Arbeitsministerium beraten, außereinem einzigen, der im Bündnis für Arbeit besprochenworden ist: Weiterentwicklung der Altersteilzeit. Das istim Übrigen eine Erfindung von uns. Dabei macht mir imMoment ganz große Sorge, dass die Altersteilzeit immermehr verblockt und dazu benutzt wird, dass die Erwerbs-tätigen ganz aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Das hatmit Altersteilzeit, wie wir sie uns einmal vorgestellt ha-ben, – Beschäftigungspotenziale ausschöpfen, Erfahrun-gen älterer Arbeitnehmer nutzen und Teilhabe Älterer amArbeitsmarkt ermöglichen –, immer weniger, um nicht zusagen: gar nichts mehr zu tun.
Wenn Sie, diese SPD und dieses Arbeitsministerium,die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht nutzen, umjetzt eine breite gesellschaftliche Diskussion anzu-stoßen, wie wir für Problemgruppen Teilhabe amArbeitsmarkt und am Arbeitsleben ermöglichen können,ist das ein Beweis, dass Sie keine sozialpolitische Kon-zeption haben – und im Übrigen auch keine Liebe undZuwendung für die Problemgruppen und die betroffenenMenschen in diesem Bereich. Ansonsten kann ich es mirnicht erklären, dass im Bundesarbeitsministerium einWinterschlaf herrscht, der weit ins Frühjahr hineinreicht.
Die CDU/CSU diskutiert in dieser Frage, immer wie-der auch gestützt auf Anträge im Ausschuss für Arbeit undSozialordnung, ein Bündel von Maßnahmen. Jeder, dersich jahrelang mit Sozialpolitik beschäftigt hat, weißdoch, dass es in diesen Fragen nicht die Lösung gibt, son-dern dass wir ganz viele unterschiedliche Instrumente indie Hand nehmen müssen, um für die betroffenen Men-schen etwas zu tun.Der Vorschlag, den wir in unserem Antrag unterbreitethaben, nämlich ältere Arbeitnehmer stärker fortzubilden,damit sie an der Weiterentwicklung ihrer beruflichenMöglichkeiten arbeiten können, sie freizustellen für Fort-bildung, finanziert über die Bundesanstalt für Arbeit, undihre Arbeitsplätze so lange mit älteren Arbeitslosen zu be-setzen, ist einer dieser konkreten Vorschläge. Ich bin ein-mal gespannt, wie Sie im Ausschuss für Arbeit undSozialordnung mit diesem Antrag umgehen. Wahrschein-lich werden Sie fünf Minuten mit uns darüber diskutierenund dann die Abstimmungsmaschinerie in Gang setzen.
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Dr. Ditmar Staffelt9519
Aber etwas Hoffnung habe ich, weil die sozialpolitischeSprecherin der Grünen am 5. Mai im „Handelsblatt“ er-klärt hat, dass sie genau diesen Vorschlag, den wir ma-chen, für den richtigen hält.
Ich bin einmal gespannt, ob die Grünen das halten.
Ich frage die Bundesregierung: Wie ist Ihre Haltungzum Beschäftigungsförderungsgesetz? Es läuft Ende die-ses Jahres aus. Meine Fraktion hat dem Deutschen Bun-destag in dieser Woche hierzu einen Antrag zugeleitet.Reden Sie nicht erst lange darüber, sondern stimmen Sieihm zu, denn die befristete Beschäftigung hat sich nachallen Statistiken, zumindest nach denen, die ich kenne, be-währt. Sie haben sie bekämpft wie der Teufel das Weih-wasser. Ich kann mich noch daran erinnern, wie es war, alswir diese Initiative, für 24 Monate befristet einstellen zukönnen, eingebracht haben. Da haben Sie von „Heuernund Feuern“ gesprochen. Tatsache ist, dass über 50 Pro-zent der befristeten Arbeitsverhältnisse in unbefristeteumgewandelt werden.Ich kann mich noch an die Diskussion im DeutschenBundestag erinnern, als wir für einen kleinen Bereich desproduzierenden Gewerbes, bei dem es gar nicht andersgeht – Textilindustrie, Reifenindustrie –, die Maschinen-laufzeiten auf den Sonntag ausdehnen wollten. Da habenSie uns hier im Deutschen Bundestag in Ihren politischenReden als „Sonntagsschänder“ bezeichnet. Seien Sie froh,dass wir diese Entscheidungen getroffen haben.Ich frage Sie: Wo bleiben Sie in der sozialpolitischenDiskussion mit einer Antwort auf die Frage, wie wir Men-schen mit Behinderungen stärker in den Arbeitsmarktintegrieren können? Wo bleiben Sie jetzt, da die Kon-junktur ein Stück weit anspringt, mit Antworten?
Herr Kol-
lege Laumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Weiermann?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Laumann, ist Ihnen nicht bewusst, dass beim Umbau der
Montanstrukturen die Unternehmen insbesondere zum
Instrumentarium des Freisetzens von Belegschaften ge-
griffen haben und über Sozialplanleistungen ein Großteil
der Belegschaften abgebaut worden ist? Das heißt im
Klartext, dass auf der einen Seite die Statistiken, also die
hohen Arbeitslosenzahlen in den Arbeitsämtern, im We-
sentlichen dadurch geprägt worden sind, dass ältere Ar-
beitnehmer aufgrund des Umbaus im Montanbereich
ihren Arbeitsplatz verlassen mussten, und dass auf der an-
deren Seite immerhin der Vorteil zu verzeichnen war, dass
diese älteren Kolleginnen und Kollegen, die nicht freiwil-
lig gingen, einen Erhalt der Arbeitsplätze der jüngeren
Kolleginnen und Kollegen vor Ort ermöglichten. Ich bitte
Sie, dies in diesem Zusammenhang zur Kenntnis zu neh-
men.
Herr Kollege,
natürlich nehme ich das zur Kenntnis. Nur, für die Zu-
kunft sind uns solche Lösungsmöglichkeiten, wie wir sie
in der Vergangenheit in der Montanindustrie praktiziert
haben, nämlich die Beschäftigten immer früher in Rente
zu schicken – beim Bergbau ist dies mittlerweile mit
50 Jahren möglich –, verschlossen, weil wir dies der jün-
geren Generation finanziell schlicht und ergreifend nicht
mehr zumuten können.
Deshalb führen wir hier keine Debatte, wie sie in der Ver-
gangenheit üblich war. Wir müssen vielmehr eine Debatte
von morgen führen angesichts dessen, dass wir wissen,
dass das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre angehoben wer-
den muss.
Wir müssen natürlich auch sehen, wie wir ein Angebot
hinbekommen, dass ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeits-
markt verbleiben können und dort eine berufliche Per-
spektiven haben. Über diese Frage müssen wir gemein-
sam eine gesellschaftliche Debatte in Gang setzen.
Ich sage es noch einmal: Ich halte es für einen Skandal,
dass eine Großbank in Deutschland nur noch 500 Arbeit-
nehmer, die über 50 Jahre alt sind, beschäftigt und dass
wir diese Entwicklung nicht stärker zum Thema machen.
Wir von der Union werden uns, weil wir uns an den
Menschen orientieren und weil wir wollen, dass alle Men-
schen eine Teilhabe am Arbeitsmarkt haben, mit den Pro-
blemgruppen, mit denjenigen Menschen, die es auf dem
Arbeitsmarkt besonders schwer haben, beschäftigen und
Ihnen zur Lösung dieser Probleme Vorschläge machen.
Ich habe aber die Bitte: Lehnen Sie nicht jeden Vor-
schlag, den wir vor allen Dingen im Bereich der Sozial-
politik einbringen, deswegen ab, weil auf dem Briefkopf
„CDU/CSU“ steht.
Tun Sie es insbesondere nicht so lange, wie Sie dem Aus-
schuss für Arbeit und Sozialordnung keine einzige politi-
sche Initiative zuleiten.
Schönen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine
Kaspereit von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Zu den eigenartigen Ar-
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Karl-Josef Laumann9520
gumenten des Kollegen Laumann wird sicher meine Kol-legin Schmidt einiges zu sagen haben.
Ich hingegen möchte einige Aspekten in Bezug auf Ost-deutschland ansprechen; denn zu Deutschland im Auf-bruch gehört natürlich auch Ostdeutschland.Es wird immer wieder behauptet – von Herrn Gysiheute eigenartigerweise nicht; denn Herr Gysi konzen-triert sich eher auf den Wahlerfolg in Nordrhein-West-falen –, dass die Reformpolitik der Bundesregierung, ins-besondere die der Haushaltskonsolidierung und der Steu-erpolitik, zulasten der neuen Länder gehe. Ich sehe dasentschieden anders. Mit dem reformpolitischen Befrei-ungsschlag der rot-grünen Bundesregierung wird auchder Weg für eine Beschleunigung des wirtschaftlichenAufbaus in den neuen Bundesländern frei gemacht.Gerade in Ostdeutschland leiden wir immer noch ander bleiernen Lethargie der späten Kohl-Jahre. Mitte der90er-Jahre ist das Wachstum in den neuen Bundesländernregelrecht zusammengebrochen. Es halbierte sich von9,6 Prozent 1994 auf 4,4 Prozent im Jahre 1995. 1998 lagdas Wirtschaftswachstum dann nur noch bei 2 Prozent.Die Folge: Seit 1997 wächst die ostdeutsche Wirtschaftlangsamer als die westdeutsche. Der Aufholprozess istseither zum Stillstand gekommen. Wir alle beklagen dieunbefriedigende Lage auf dem ostdeutschen Arbeits-markt. Diese unbefriedigende Lage ergibt sich vor allemdann, wenn man nur die rein statistischen Daten betrach-tet.Ich rate zu einer differenzierteren Betrachtungsweise.
Im verarbeitenden Gewerbe und insbesondere bei denDienstleistungen gibt es zwischenzeitlich beachtlicheWachstumsraten und vor allen Dingen – dies erscheint mirsehr wichtig – Beschäftigungsanstiege. Dramatisch ist al-lerdings nach wie vor die Situation auf dem Bausektor.Hier leiden wir in den neuen Ländern noch immer unterden Fehlern, die zu Beginn der 90er-Jahre gemacht wur-den. Mit milliardenschweren Subventionen wurde einvöllig überhöhter Bausektor aufgepäppelt, der dann beimAusbleiben des Subventionssegens prompt in die Knieging. Mitte der 90er-Jahre gingen die Bauaufträge und dieBauproduktion kontinuierlich zurück – mit den bekanntendeutlichen Bremsspuren auf dem Arbeitsmarkt. Ich mussder Ehrlichkeit halber hinzufügen: Die Krise ist nicht aus-gestanden.Die Wirtschaftsstruktur der neuen Länder ist noch im-mer von einem zu kleinen Anteil an verarbeitendem Ge-werbe und Dienstleistungsunternehmen geprägt, währenddas Baugewerbe und auch der öffentliche Sektor einen zugroßen Anteil an der ostdeutschen Bruttowertschöpfunghaben. So wird das erfreuliche Wachstum im industriellenBereich von den Pleiten im Baugewerbe und im Handelper saldo überdeckt. Das Ergebnis ist die angespannteLage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir in Ost-deutschland müssen ein besonders starkes Interesse daranhaben, die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staateszurückzugewinnen;
denn die Schuldenfalle, in die uns die Kohl-Regierung ge-führt hat, belastet gerade den wirtschaftlichen Aufbau inOstdeutschland. Wenn immer mehr Steuermittel für diejährlichen Zins- und Tilgungszahlungen der öffentlichenHände aufgebracht werden müssen, dann wird es immerschwerer, die Mittel für die dringend erforderlichen Infra-strukturinvestitionen in den neuen Ländern bereitzustel-len.Führende Wirtschaftsforschungsinstitute haben kürz-lich ausgerechnet, dass selbst im Jahr 2005 noch mit einerInfrastrukturlücke in einer Größenordnung von circa300 Milliarden DM zu rechnen ist. Dabei sind dieInfrastrukturinvestitionen des Bundes noch nicht einmalberücksichtigt. Ich frage mich, wie solche gewaltigenSummen aufgebracht werden können, wenn weiterhinmehr als ein Fünftel der Steuereinnahmen des Bundes inden Schuldendienst gesteckt werden muss. Deshalb sageich: Die Konsolidierungspolitik von Hans Eichel ist ge-rade aus ostdeutscher Sicht richtig und war längst über-fällig.
Wenn die in unserem Entschließungsantrag formuliertenEckpunkte der Rahmen für die Fortsetzung erfolgreicherPolitik sind, wird sich die Umsetzung in besonders posi-tiver Weise auf Ostdeutschland auswirken.Es ist unbestritten: Teilungsbedingte Sonderbedarfebestehen nicht nur im Bereich der Infrastruktur, sondernauch bei Wirtschafts- und Arbeitsmarktfördermaßnah-men. Die Arbeitslosenquoten in den neuen Ländern sindmehr als doppelt so hoch wie die in den alten, wobei sichdie Schere zwischen Ost und West wieder öffnet. Die Aus-bildungsplatzsituation in den neuen Ländern ist erheblichschwieriger als in den alten Ländern; der Bundeskanzlerhat darauf hingewiesen. Manche dieser Sondertatbe-stände erfordern auch Sonderprogramme.
Ich meine aber auch, dass überall dort, wo es schwerwie-gende Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt bzw. Defiziteauf dem Ausbildungsmarkt gibt, gleiche Förderpro-gramme und Fördertatbestände greifen müssen, ganzgleich, ob sie nun in Oberhausen oder in Sangerhausen zurAnwendung kommen.
Meine Damen und Herren, die Ausrüstungslücke derostdeutschen gegenüber der westdeutschen Wirtschaftwird auf 40 Prozent geschätzt, was einem Investitionsvo-lumen von circa 260 Milliarden DM entspräche. Es istvöllig klar, dass diese Lücke mit der herkömmlichen re-gionalen und strukturellen Wirtschaftsförderpolitik nichtzu schließen ist. Es ist im Übrigen auch nicht sinnvoll,
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Sabine Kaspereit9521
wenn der Staat versucht, den Strukturwandel in derWirtschaft leiten und lenken zu wollen. Das geht aller Er-fahrung nach schief, wie ich bereits am Beispiel der ost-deutschen Bauwirtschaft ausgeführt habe. Der notwen-dige wirtschaftliche Strukturwandel einer Gesellschaftist keine staatliche Veranstaltung, zumindest nicht primär.Entscheidend sind hier die Unternehmen gefordert. Des-halb ist es in Zeiten eines beschleunigten Strukturwandelsvöllig richtig, die Investitionsbedingungen der Unterneh-men durch günstigere steuerliche Rahmenbedingungen zuverbessern.
Nirgendwo in Deutschland ist der Investitionsbedarf sohoch wie in den neuen Ländern. Deshalb werden insbe-sondere Unternehmen in Ostdeutschland von EichelsSteuerreform profitieren. Die Hunderttausende von klei-nen und kleinsten Personengesellschaften in Ostdeutsch-land werden von der Senkung der Einkommensteuertarifeoder der pauschalen Anrechnung der Gewerbesteuer aufdie Einkommensteuerschuld stärker profitieren als die inWestdeutschland.Die Unternehmensteuerreform wird, so hoffe ich, dieAttraktivität des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschlandweiter erhöhen. Ich verspreche mir deshalb auch davonneuen Schwung bei den Unternehmensgründungen, diewir in den neuen Ländern so dringend brauchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der systematischeAbbau des Reformstaus, der in der 16-jährigen Ära Kohlin der Bundesrepublik entstanden war, ist nicht nur fürWestdeutschland, für die westdeutsche Wirtschaft undGesellschaft, bitter nötig. Wie Mehltau haben sich diespäten Kohl-Jahre auch auf die Entwicklung in Ost-deutschland gelegt.
Frau Kol-
legin Kaspereit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Hinsken?
Bitte.
Bitte
schön, Herr Hinsken.
Frau Kollegin Kaspereit,
können Sie mir sagen, was die Bundesregierung in den 19
Monaten, seitdem sie in Amt und Würden ist, getan hat,
um Existenzgründungen insbesondere in den neuen Bun-
desländern, aber auch allgemein in der gesamten Bundes-
republik zu erleichtern, und pflichten Sie mir bei, wenn
ich feststelle, dass gerade der Mittelstand, auf den Sie ja
jetzt indirekt ein Loblied singen – bereits Herr Staffelt hat
versucht, das in den höchsten Tönen herauszustellen –,
von der Politik dieser Bundesregierung überhaupt nicht
profitiert? Ich kann Ihnen sagen, dass ich in der Lage bin,
sofort 24 Positionen zu nennen, die alle zur Verschlechte-
rung der Situation des Mittelstandes in der Bundesrepu-
blik Deutschland beigetragen haben.
Herr Hinsken, warum stel-len Sie mir die Frage, wenn Sie selber sie schon ver-meintlich beantworten?
Ich bin der Meinung, dass für den Mittelstand in Ost-deutschland, allein schon aufgrund der psychologischenEffekte der Ankündigung dieser Steuerreform, eineMenge passiert ist – jedenfalls mehr als in Ihrer Zeit.
Sie wissen: Ein wenig Stetigkeit und Verlässlichkeit istsehr wichtig, auch in der Wirtschaft. Als eines der letztenOECD-Länder hat die Bundesrepublik nach dem Amts-antritt der rot-grünen Bundesregierung die Grundlagenfür ein dauerhaftes und dynamisches Wachstum geschaf-fen. Mehr Wachstum in Europa verhilft auch in den neuenLändern zu mehr Beschäftigung und es hilft, den Struk-turwandel zu beschleunigen. Die Erfolge dieser Politiksind allenthalben sichtbar. Die Wirtschaft in Deutschlandund Europa wächst so stark wie seit einem Jahrzehnt nichtmehr. Die Beschäftigungslage verbessert sich stetig; dieZahl der Arbeitslosen nimmt kontinuierlich ab. Dass sichdie Erfolge dieser Politik in den neuen Ländern zunächstweniger spektakulär und mit einiger Zeitverzögerung aus-wirken, ist nach wie vor der besonderen historischen LageOstdeutschlands geschuldet. Niemand konnte und kannerwarten, dass das Erbe von 40 Jahren Kommunismus inDeutschland über Nacht verschwindet, auch nicht nachzehn Jahren.Der Aufbau Ost ist eine Generationenfrage, für die manauch heute noch langen Atem braucht.
Wenn dies den Menschen früher und deutlicher gesagtworden wäre, Herr Hinsken, würden manche unnötigenPolemiken unterbleiben und es wären weniger Hoffnun-gen enttäuscht worden.Die Aufgaben für die neuen Länder sind klar zu um-reißen: Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplät-zen im verarbeitenden Gewerbe und in Dienstleistungs-unternehmen für die Informations- und Wissensgesell-schaft des 21. Jahrhunderts. Die Voraussetzungen dafürsind gut – inzwischen in beiden Teilen Deutschlands.Wir haben eine gut ausgerüstete Infrastruktur für dieAufgaben der Zukunft geschaffen und wir werden dienoch bestehenden Lücken in den neuen Ländern in dennächsten Jahren schließen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Sabine Kaspereit9522
Wir haben – das darf vielleicht in diesem Haus auch ein-mal gesagt werden – exzellent ausgebildete Arbeitneh-mer, im Osten mehr als im Westen. Die Defizite im Aus-bildungsbereich werden, solange dies notwendig ist, auchmit staatlichen Hilfen vermindert.Wir setzen jetzt längst fällige Strukturreformen durch –sei es in den Steuer- und Transfersystemen, sei es auf demArbeitsmarkt oder den sonstigen Faktor- und Gütermärk-ten –, die die Wettbewerbsfähigkeit des StandortesDeutschland verbessern. Diese neue Grundausrichtungdeutscher Politik sichert Deutschlands wirtschaftliche Zu-kunft, auch die Ostdeutschlands.
Es wäre grundlegend falsch, wegen der – im Wesentli-chen teilungsbedingten – Sonderlasten Ostdeutschlandsauf Sonderwege zu setzen, wie das die PDS tut. Ich haltenichts davon, die neuen Länder unter eine noch so gut ge-meinte Käseglocke zu stellen. Das bringt uns nicht weiter.Die neuen Länder sind Teil des einheitlichen europä-ischen Binnenmarktes, in dessen Spielregeln sie einge-bunden sind. Kommunen und Länder sind gefordert, at-traktive Investitionsbedingungen für ansiedlungswilligeUnternehmen zu schaffen. Der Bund kann dabei helfen; erkann es aber nicht an ihrer Stelle tun.
Ich habe den Eindruck, dass dies in den neuen Ländernzwischenzeitlich häufig besser verstanden wird als in denalten Ländern.Ich bin davon überzeugt, dass die Reformen, die dieseBundesregierung begonnen hat, gerade auch in den neuenLändern zu positiven Ergebnissen führen werden, soschmerzlich die Anpassungsprobleme aufgrund des wirt-schaftlichen Strukturwandels zurzeit auch sind. Wir müs-sen den Menschen in den neuen Ländern sagen, dass dieseAnpassungsprobleme lösbar sind, dass dies aber Zeit er-fordert und deshalb Geduld.
Frau Kol-
legin Kaspereit, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Luft?
Bitte.
Frau Luft,
bitte schön.
Danke schön, Frau Kollegin
Kaspereit. – Ich bin ja mit Ihnen völlig einverstanden,
dass man die Hoffnung nie aufgeben darf. Aber mit dem
Prinzip Hoffnung alleine – darin stimmen wir sicherlich
überein – wird es nicht gehen. Es gibt im Moment sogar
die Tendenz, dass die Investoren, die sich für Ostdeutsch-
land interessieren, angesichts der Euro-Schwäche wieder
zögerlich werden. Das ist ein Punkt, den wir ins Auge fas-
sen müssen. Es gibt nach wie vor die Tendenz zur Ab-
wanderung – die hat ja mit der Einführung der D-Mark in
den neuen Bundesländern nicht aufgehört, sondern hält
leider immer noch an –, sodass wir Gefahr laufen, in den
neuen Bundesländern eine Art Altenheim zu werden. Ja,
der Altersdurchschnitt nimmt erheblich zu.
Vieles von dem, was in den neuen Bundesländern nach
1990 geschehen ist, war ja politisch motiviert. Ökonomen
habendanicht vielmitredendürfen. IchmöchteSie fragen:
Sind Siemit mir einerMeinung, dassman auch jetzt vieles
politisch auf denWeg bringenmuss, um es ins Lot zu brin-
gen? Wäre es nicht günstig gewesen, wenn sich die Bun-
desregierung stärker für denBau desGroßraumflugzeuges
in Laage bei Rostock engagiert hätte? Das wäre für diese
arg gebeutelte Region eine echte Hilfe gewesen, mit Aus-
strahlung weit ins Land hinein.Wäre es nicht günstig, –
Frau Kol-
legin Luft, die Fragen sollen kurz und präzise gestellt wer-
den. Keine Argumentation bitte!
– für arbeitsintensive Dienst-
leistungen – auch wir im Osten wollen ja eine Dienstleis-
tungsgesellschaft werden – Steuererleichterungen herbei-
zuführen, wenigstens in der Anfangsphase? Wäre es nicht
günstig, Existenzgründerinnen und Existenzgründer an-
fangs steuerlich besser zu stellen? Das alles sind Fragen,
die politisch noch zu überdenken sind.
Sie haben eine Menge anFragen gestellt, auf die ich – das wissen Sie – im Einzel-nen hier nicht eingehen kann; dazu möchte ich das Ple-num nicht missbrauchen. Aber eines muss man feststel-len: Die Investitionsentscheidung trifft das Unternehmen,und zwar nicht alleine nach politischen Gesichtspunkten.Da spielen eine Menge Dinge eine Rolle: zunächst einmalder Markt und qualifiziertes Personal, am Ende auch einegewisse Förderpolitik. Darüber könnte man lange strei-ten. Wir müssen uns für die neuen Bundesländer engagie-ren – gar keine Frage –, auch politisch. Ich weiß, dass wirdas tun; ich weiß, dass der Bundeskanzler das tut. Auch inden vergangenen Jahren hat es ein derartiges Engagementgegeben.Was den A3XX angeht, so sollten wir darüber im zu-ständigen Ausschuss sprechen. Das heißt, da sind dieWürfel ja schon gefallen. Sie wissen genau, dass es etwasanders ist, als Sie es hier darstellen.Ich möchte zum Schluss meiner Rede kommen. Ichhatte angesprochen, dass wir den Menschen sagen müs-sen, dass die Anpassungsprobleme lösbar sind. Wir wer-den unser Bestes dazu tun, um die Lösungen, die nötigsind und oft auch Zeit erfordern – manchem ist die Zeitwohl schon zu lang –, anzugehen. Wir brauchen Geduld.Wir müssen den Menschen aber vor allen Dingen Mut ma-chen, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu neh-men. Der Staat ist nicht der umfassende Daseinsvorsorger.Je überzeugender uns dies gelingt, umso schneller werdenwir die wirtschaftliche Einheit und damit ein Stück der in-neren Einheit Deutschlands vollenden können.Danke.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Sabine Kaspereit9523
Das Wort
hat nun der Kollege Bernd Protzner von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Sie müssen noch einmal einenbayerischen Redner ertragen.
– Ja, auch einen fränkischen.Nach vier Stunden Debatte haben wir zwei Ergebnisse.Das erste: Wir sind uns darin einig, dass eine Verbesse-rung auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden muss. Daszweite: Wir sind uns nicht einig in der Beurteilung, ob dieEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland schonzufrieden stellend ist.Dass sich der Herr Bundeskanzler heute sehr kräftigauf die eigenen Schultern geklopft hat, halte ich für unge-rechtfertigt. Wenn er und Sie von SPD und Grünen alleindie Arbeitslosenzahlen in den Mittelpunkt stellen, dann istdas eine falsche Betrachtungsweise. Wichtiger ist die Be-schäftigtenzahl, da nicht jeder, der aus der Arbeitslosen-statistik ausscheidet, auch einen Arbeitsplatz erhält. Still-legung von Arbeitskraft ist bei uns in der Bundesrepu-blik Deutschland zu lange Tradition gewesen. Das ist derWeg von gestern.Was wir brauchen, ist Beschäftigungsaufbau, sind neueund zusätzliche Arbeitsplätze. Eine soziale Marktwirt-schaft braucht aktiv Tätige. Denn nur diese erwirtschaftenKaufkraft und zahlen Steuern und Beiträge zur Sozialver-sicherung. Insofern ist eine Senkung der Arbeitslosenzah-len ohne gleichzeitigen Anstieg der Beschäftigtenzahlenkeine dauerhafte Lösung des Arbeitsmarktproblems. Wirhelfen den Menschen doch nicht dadurch, dass sie aus derStatistik herausfallen, sondern nur dadurch, dass sie einenArbeitsplatz finden. Dies gilt sowohl für Junge als auchfür Ältere.
Ich darf hier auf Friedrich Merz zurückkommen: Es istfalsch, nur die Arbeitslosenstatistik zu zitieren, wie esBundesfinanzminister Eichel in seiner Replik versuchthat. Wir hatten zwar im Dezember 150 000 Arbeitsloseweniger, aber gleichzeitig auch 20 000 Arbeitsplätze we-niger als 1998. Ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen be-deutet nicht zugleich eine Zunahme der Beschäftigten-zahlen, sondern kann auch mit dem Rückgang der Be-schäftigtenzahlen einhergehen.
Ich halte es für eine Schande in der BundesrepublikDeutschland, dass wir zwar am Dienstag dieser Woche dieneuesten Arbeitslosenstatistiken bekommen haben, abernicht die neuesten Beschäftigtenstatistiken. Diese liegenerst für Februar vor.
Es muss doch im Zeitalter des Internets möglich sein – dieBundesregierung hat ja angeblich eine große Internet-ofensive gestartet –, die Arbeitslosenstatistiken und dieBeschäftigtenzahlen am gleichen Tag zu präsentieren, da-mit wir objektive Diskussionsgrundlagen haben.
Die Unternehmen bei uns müssen zum Monatsende beiÄmtern und Behörden Millionen von Zahlen abliefern.Da kann es doch nicht schwierig sein, mit einem gutenComputerprogramm diese paar Zahlen zu ermitteln. Hätteman nicht so viele IT-Spezialisten ins Ausland vertrieben,bräuchte man auch keine Inder, um ein solches Software-programm zu schreiben.Eine zweite Bemerkung: Ich darf Sie, Frau Hendricks,bitten, Ihrem Finanzminister weiterzugeben, dass er ausden Berichten des IMF unzulänglich zitiert hat. Er hatgesagt, man könne die Beschäftigtenzahlen hintanstellen;wichtig für die Bundesrepublik Deutschland sei dieWachstumszahl. Die Wachstumszahlen würden vom IMFbestätigt. Dabei verschweigt er, dass auch der IMF in sei-nen Berichten immer darauf hinweist, dass es bei uns inder Bundesrepublik Deutschland keinen engen Zusam-menhang zwischen Konjunkturzuwachs und Beschäftig-tenzahlen gibt.In Großbritannien ergibt 1,6 Prozent Wirtschafts-wachstum eine Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze um1 Prozent. In der Bundesrepublik brauchen wir derzeit einWirtschaftswachstum von 2,7 bis 3 Prozent – manche sa-gen sogar von 5 Prozent –, um eine einprozentige Zu-nahme der Zahl der Arbeitsplätze zu erreichen. Hier lie-gen wir hinter anderen Staaten zurück.
Eine Modernisierung der Wirtschaftspolitik bedeutet,dass wir, lieber Herr Kollege, einen engeren Zusammen-hang zwischen Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzzu-wachs wieder herstellen müssen. Dazu reichen Ihre Maß-nahmen nicht aus; sie sind vielmehr kontraproduktiv.
Wir müssen den Unternehmen ein Umfeld schaffen,damit sie bei einem Umsatzanstieg nicht sagen: Wir ver-suchen erst einmal, mit den vorhandenen Mitarbeiternauszukommen. Die Unternehmer müssen vielmehr sagen:Wir wollen neue Mitarbeiter einstellen, wenn der Umsatzsteigt. Das ist soziale Marktwirtschaft, wie wir sie verste-hen. Wenn wir das nicht erreichen, ist dies nicht im Sinneder sozialen Marktwirtschaft. Das Wachstum des Brutto-sozialprodukts – sagen Sie das Herrn Eichel – erfolgtnicht als Selbstzweck, sondern es müssen dadurch mehrArbeitsplätze entstehen.
Meine Damen und Herren, hierzu nenne ich auch Zah-len: In der Bundesrepublik haben wir derzeit ein Potenzialvon etwa 40 Millionen Erwerbstätigen. Wir haben – HerrPoß, Sie kennen sich mit Zahlen ja immer so gut aus – der-zeit etwa 34 Millionen Arbeitsplätze. Diese große Lückeist durch eine moderne Wirtschaftspolitik zu schließen.
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– Herr Poß, ich komme gleich auf Ihr Geschäftsfeldzurück.Jetzt mache ich eine letzte Bemerkung zu Herrn Eichel:Wir können uns nicht ausruhen, wenn die Auslands-nachfrage und die Auslandskonjunktur gut laufen.
Wenn ich mir die Statistik für die ersten drei Monate die-ses Jahres ansehe, stelle ich fest, dass erstmals wieder dasWachstum bei der Auslandsnachfrage und das Wachstumder Binnenkonjunktur auseinander klaffen. Die Binnen-konjunktur ist in den ersten drei Monaten eingebrochen,und zwar bis tief in die Automobilbranche hinein, jeden-falls was den Absatz in Deutschland betrifft. Das ist fürmich kein Zufall. Die Menschen bei uns wollen etwasleisten, Herr Poß. Die Menschen wollen vom dritten inden vierten Gang schalten; im vierten Gang braucht manjedoch mehr Sprit als im dritten Gang. Aber Sie haben jaden Spritpreis erhöht und andere Belastungen wie dieÖkosteuer geschaffen.Ich finde es schon dreist, was Herr Eichel heute frühgesagt hat: Im letzten Jahr sind Steuern in Höhe von90 Milliarden DM mehr eingenommen worden. Er aberwill nicht einmal unsere Steuervorschläge mit einerRückvergütung an die Bürger in Höhe von 50 bis 55 Mil-liarden DM verwirklichen. Das zeigt, dass er auf Staatstatt auf Freiraum und Eigeninitiative setzt. Das ist derfalsche Weg. Dieser wird nicht zielführend sein. Wir brau-chen mehr Dynamik, mehr Freiraum. Deutschland hateine bessere Politik verdient.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Schmidt von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Protzner, zu Ih-rer Rede muss ich Ihnen sagen: Wahrscheinlich haben Sievergessen, was in der Vergangenheit war. Ich habe heuteniemanden gehört, der gesagt hat: Wir sind mit dem, waspassiert ist, zufrieden und jetzt machen wir Schluss. Viel-mehr haben wir und auch die Mitglieder der Bundesre-gierung gesagt: Mit der Politik der Bundesregierung, denHaushalt zu konsolidieren, damit wir mehr Geld für In-vestitionen, für Steuerentlastungen in einem Umfang von76 Milliarden DM, für Entlastungen der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer und für die Förderung der Familienbekommen, damit sie in diesem Lande wieder konsumie-ren können, sind wir auf dem richtigen Weg.
Hier war davon die Rede, die Reformen dauerten solange. Dazu muss ich Ihnen sagen: Hätten Sie die not-wendigen Reformen wie die Gesundheits-, die Renten-und Arbeitslosenförderungsreform während Ihrer Regie-rungszeit gemacht, könnten wir heute darauf aufbauenund dann müssten Sie nicht über einen Reformstau reden.Wir aber fangen an. Wir werden die sozialen Siche-rungssysteme konsolidieren; ob mit Ihnen oder ohne Sie.
Genauso werden wir eine Steuerreform umsetzen, die denMenschen wieder mehr Geld in die Taschen gibt, die ih-nen netto wieder mehr von dem lässt, was sie brutto ver-dienen.
– Da können Sie so viel schreien, wie Sie wollen. Die jun-gen Familien kommen zu uns und sagen: Danke schön,ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie dasKindergeld erhöht haben.
Wir bedanken uns bei Ihnen dafür, dass Sie es demnächstmöglich machen, dass sich Väter und Mütter den Erzie-hungsurlaub teilen können. Wir bedanken uns dafür, dassSie uns einen Anspruch auf Teilzeitarbeit geben wollen. –Das ist Politik für die Menschen in diesem Land und nichtdas, was Sie hier vorführen.
Nun kommen wir zu einigen Zahlen zur Beschäfti-gung, die Sie genannt haben. Ich bin in Nordrhein-West-falen zur Schule gegangen. Heute habe ich gehört, die inNordrhein-Westfalen seien alle dumm geblieben und diein Bayern seien alle schlau. Ich habe in Nordrhein-West-falen eines gelernt: Ich kann Zahlen lesen. Deshalb kannich auch die Zahlen lesen, die die Bundesanstalt für Arbeitherausgegeben hat.Wir haben seit einem Jahr kontinuierlich sinkende Ar-beitslosenzahlen; aber sie sind nicht, wie Ihre Kollegensagen, allein demographisch bedingt. Vielleicht nenne ichIhnen einmal ein paar Zahlen aus den letzten Jahren undaus diesem Jahr. Wir hatten im Dezember 1999 im Ver-gleich zum Dezember 1998 36 000 Beschäftigte mehr. ImJanuar 2000 gab es, verglichen mit dem Januar 1999,55 000 Beschäftigte mehr. Wir haben jetzt – das zeigen dieaktuellen Zahlen – 73 000 Beschäftigte mehr.Wir haben natürlich einen Rückgang der Zahl der Ar-beitslosen, weil mehr Ältere aus dem Erwerbsleben aus-scheiden. Aber machen Sie doch einmal eines, denken Siedoch einmal daran: Diese 73 000 Beschäftigten mehr be-deuten 73 000 Familien, die wieder eine Perspektive be-kommen haben,
die wissen, dass sie für ihre eigene Existenz wiederarbeiten können. Allein in Nordrhein-Westfalen habenwir 53 000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen, also die
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Dr. Bernd Protzner9525
Beschäftigtenzahlen um 53 000 erhöht. Man sollte bei derBeurteilung dessen, was erreicht wurde, objektiv bleiben.Ich bin damit nicht zufrieden. Ich wäre auch nicht da-mit zufrieden, wenn Ende nächsten Jahres die Zahl der Ar-beitslosen dreieinhalb Millionen betrüge. Ich bin erstdann zufrieden, wenn in diesem Land jede Frau und jederMann die Mittel für die eigene Existenz durch eigene Ar-beit verdienen kann und damit wieder frei ist, über ihroder sein Leben selbst zu entscheiden, wenn sie oder ernicht darauf angewiesen ist, Arbeitslosengeld, Arbeitslo-senhilfe oder Sozialhilfe zu bekommen.
Ich sage Ihnen etwas anderes, Kollege Laumann. Wirhaben in Ostdeutschland die aktive Arbeitsmarktpolitikverstetigt. Wir haben durch das Vorschaltgesetz versucht,die vorhandenen Mittel zu konzentrieren. Wir haben trotzSparprogramm und Haushaltkonsolidierungsprogrammmehr als 6 Milliarden DM zusätzlich in den Haushalt derBundesanstalt für Arbeit gegeben.Wir haben gesagt, wir brauchen dieses Geld, um es aufdie Problemgruppen, die es in diesem Lande gibt, zu kon-zentrieren. Das sind junge Menschen, das sind ältere Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und das sind vor al-len Dingen auch die Frauen gewesen, die nach der Fami-lienarbeit wieder einen Weg zurück in den Arbeitsmarktsuchten.
Da erinnere ich mich an eines: Als wir im letzten Jahrals eine der ersten Maßnahmen das Programm „100 000Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer“ hier aufge-legt haben, hat Ihr damaliger Fraktionsvorsitzender ge-sagt, das sei eine Beschäftigungstherapie für junge Leute,und wir veräppelten die. Was ist daraus geworden?
Frau Kol-
legin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Laumann?
Nein.
Keine
Zwischenfragen.
Mehr als 220 000junge Menschen haben in einem Jahr an diesem Pro-gramm teilgenommen. Es ist uns zum ersten Mal trotznoch steigender Zahlen von Schulabgängerinnen undSchulabgängern gelungen, wirklich eine Entspannung aufdem Lehrstellenmarkt zu erreichen.Nun kann man darüber diskutieren, ob die Wirtschaftihre Verpflichtung so erfüllt, wie sie sie denn wahrnehmensollte. Ich sage, da haben sie noch einiges zu tun. Aber ei-nes ist doch klar: Ich bin als Politikerin in den DeutschenBundestag gewählt worden, und daher muss ich mir im-mer die Frage stellen, was ich tue, wenn die Wirtschaft dasnicht macht. Sehe ich zu, wie immer mehr junge Men-schen nach der Schule überhaupt keine Perspektive er-halten, wie das zu Ihren Zeiten der Fall war,
oder sage ich, als Staat begleiten wir dies? Da, wo dasnoch nicht möglich ist, ist es mir lieber, ein Jugendlicherist in einer überbetrieblichen Ausbildung, als dass erüberhaupt keine Ausbildung erhält und damit auf derStraße liegt und überhaupt keine Chancen mehr hat.
Als ich mir angehört habe, was hier über Bildung ge-sagt wurde, da fiel mir wirklich manchmal der Draht ausder Mütze. Sie hatten einen Zukunftsminister, der Jahr fürJahr die Ausgaben für Bildung und Forschung gekürzt hat.Wir machen eine Politik, die darauf hinausläuft, die Mit-tel dafür zu erhöhen und sie wirklich in neue Berufe zu in-vestieren, um dafür zu sorgen, dass junge Menschen wie-der eine Chance bekommen.Gestern las ich, dass meine Kollegin Böhmer gesagthat, wir brauchten eine Bildungsinitiative, damit hier et-was geschieht. Schon im Dezember 1998 hat die Bundes-bildungsministerin mit dem Bundeskanzler und der ge-samten Bundesregierung ein Programm „Innovation undArbeitsplätze im 21. Jahrhundert“ aufgelegt, das mit derInitiative „Frauen ans Netz“ und der Initiative „Frauen ge-ben Technik neue Impulse“ kombiniert ist.Hier ist eine ganze Menge passiert. Wenn ich Sie redenhöre, glaube ich, dass Sie gar nicht mehr in die Hoch-schulen und Schulen gehen, um zu sehen, was bei den jun-gen Menschen los ist. In den Hochschulen sind heute auf-grund der Initiative der Bundesbildungsministerin Pro-gramme aufgelegt worden, wie Doing, wie Being, wieGoing und anderes mehr. Diese Programme haben wirschon lange in den Schubladen liegen, weil wir seit Jah-ren wissen, dass wir nicht genügend Nachwuchskräfte imBereich der Ingenieurwissenschaften haben. Unter der al-ten Bundesregierung haben wir immer wieder Anträgegestellt, damit wir die Möglichkeit bekommen, in dieSchulen zu gehen, um mehr junge Menschen für diesenBeruf anzuwerben und um uns dabei auf junge Frauenzu konzentrieren, die das Qualifikationspotenzial unddie Qualifikationsreserve von morgen sind. Die sagen:Danke. Unter dieser Bundesregierung ist es jetzt mög-lich. Wir können die Projekte jetzt starten, dass wirmehr Frauen in den Ingenieurwissenschaften ausbildenund mehr Ausbildungsplätze schaffen. Die Bundesbil-dungsministerin hat im Bündnis für Arbeit dafür gesorgt,dass die Zahl der Ausbildungsplätze im Bereich der In-formations- und Kommunikationstechnologien bis zumJahre 2003 auf 60 000 erhöht wird. Das, meine Damenund Herren, ist eine aktive Politik für mehr Arbeitsplätze.
Das ist etwas anderes, als entweder auf Tauchstation zugehen oder immer alles abzulehnen und schlecht zu ma-chen.
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Ulla Schmidt
9526
Frau Kol-
legin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Protzner?
Ich möchte nur nicht,
dass der Kollege Laumann beleidigt ist.
– Also gut.
Bitte
schön, Herr Protzner.
Sie haben die Ini-
tiativen der Bundesregierung angesprochen. Bei den IT-
Berufen gibt es eine ganz interessante Initiative der Bun-
desregierung, vertreten durch das Wirtschaftsministe-
rium. Dieses hat mir jedenfalls Auskunft gegeben. Ein
großer deutscher Verband kam auf die Bundesregierung
zu, um den Ausbildungsberuf des IT-Assistenten zu
schaffen. Hierbei wurde von 10 000 bis 20 000 Ausbil-
dungsplätzen gesprochen. Die Bundesregierung hat dies
dem Verband erfolgreich ausgeredet, wie mir das Bun-
deswirtschaftsministerium mitgeteilt hat. Halten Sie es
für den richtigen Weg, den Verbänden den Vorschlag,
neue Berufe im IT-Bereich zu schaffen, auszureden?
Ich weiß nicht, wel-cher Verband es war und welche Berufe gemeint sind. Wieich diese Bundesregierung kenne, kann ich mir nicht vor-stellen, dass sie auch nur eine Initiative für mehr Ausbil-dungsplätze und Arbeitsplätze verhindern würde.
Den konkreten Fall können wir vielleicht später bespre-chen, auch mit dem Bundeswirtschaftsministerium. Viel-leicht gab es hier einen anderen Haken.Ich kenne Initiativen, die gemacht wurden. Zum Bei-spiel hat die Firma Ford in Köln Stipendien vergeben, da-mit junge Frauen in Ingenieurberufen ausgebildet werden.In meiner Stadt, einer Hochschulstadt, gibt es eine Initia-tive der Wirtschaft, die besagt, wir wollen mehr Studien-plätze in diesem Bereich haben, wir wollen mehr ausbil-den und wir wollen uns als Industrie daran beteiligen, dassmehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Das ist derWeg, den wir in Zukunft beschreiten müssen. Auch die In-dustrie hat hier einiges aufzuholen. Die Bundesregierungaber ist dabei, alle Rahmenbedingungen zu schaffen, da-mit in diesem Bereich keine Behinderungen mehr statt-finden, sondern mehr Ausbildung betrieben wird.
Mir kommt es dabei darauf an, dass die Frauen nicht zukurz kommen. Von dieser Stelle kann ich an alle Frauenund jungen Mädchen nur appellieren: Wenn ihr irgendwoauch nur das Gefühl habt, dass diese Technologien füreuch interessant sind, so macht euch schlau, versucht da-mit umzugehen, versucht, diese Technologien zu beherr-schen! Denn das sind die Zukunftsberufe und die Berufe,wo endlich aufgrund des großen Qualifikationsbedarfswahr gemacht werden kann, dass Frauen ebenso an derobersten Stelle stehen, wie es die Männer über Jahrhun-derte in diesem Land getan haben. Damit treiben wir dieGleichstellung in diesem Land voran.
Deshalb begrüße ich alle Maßnahmen der Bundesre-gierung. Ich begrüße aber auch die Maßnahmen des Lan-des Nordrhein-Westfalen, wo jede Schule an das Internetangeschlossen werden soll. Es muss eine Ausbildung fürLehrerinnen und Lehrer geben, damit wir endlich ausge-bildete Menschen in den Schulen haben, die anderen Leh-rern, aber auch den Mädchen und Jungen beibringen kön-nen, was sie für morgen brauchen. Der Einstieg in dieseInformations- und Kommunikationstechnologien ist fürdie heutige Jugend eine Frage der Chancengleichheit vonmorgen. Wer sie nicht beherrscht, ist genauso schlimmdran, als hätte unsereiner weder rechnen noch lesen nochschreiben gelernt. Das muss jeder im Kopf behalten.
Deshalb hat die Bundesregierung mit dem Programm„Frau und Beruf“ Schritte eingeleitet, dass auch wirklichmehr Frauen Chancen in den neuen Berufen haben.Wir haben mit dem Elternurlaubsgesetz einen erstenSchritt gemacht, denn wir sind der Meinung: Die Fragenach der Beschäftigung von Frauen kann nur dann beant-wortet werden, wenn auch die Männer einen Teil der Fa-milienarbeit übernehmen und diese Arbeit zwischen denEhepartnern gerecht aufgeteilt wird.Die Berufsfähigkeit von jungen Frauen ist nicht nuraus ökonomischen Gründen wichtig, weil die Wirtschaftauf dieses Qualifikationspotenzial angewiesen ist; viel-mehr werden die Qualifikation von Frauen und die Chan-cen der Frauen, im Beruf zu bleiben und nicht ganz ausihm aussteigen zu müssen, für die Familie der Zukunftund für die soziale Sicherheit der Familien eine ganz emi-nente Bedeutung haben; denn wir alle wissen: Eine le-benslange Erwerbsbiografie ist auch für Männer nichtmehr das Normale, wie es in der Vergangenheit der Fallwar. Die Familie der Zukunft wird darauf angewiesensein, dass einmal die Frau und einmal der Mann alleine fürden Unterhalt der ganzen Familie aufkommen muss, weilder andere lebensbegleitend lernen muss oder weil er sichin einem neuen Beruf orientieren muss. Das ist Zukunft;das ist Politik für mehr Beschäftigung! Ich wünsche mir,dass Sie davon in Bayern berichten, weil die dortige För-derung von Frauen noch ein bisschen schlecht ist.
Angesichts dessen, was heute angesprochen wordenist, kann man eines feststellen: Wir brauchen mehr fle-xiblere Arbeitszeitmodelle. Aber wir müssen auch das An-gebot an öffentlicher Kinderbetreuung mehr als bisherausbauen. Deshalb kann ich nur an die Unternehmen ap-pellieren: Heute jammern sie, weil wir den Anspruch
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junger Eltern auf Teilzeitarbeit umsetzen wollen. Die Un-ternehmen haben auch gejammert, als sie feststellten, dasssie es versäumt hatten, genügend Menschen für die Berufein den Informations- und Kommunikationstechnologienauszubilden. Dieses Versäumnis müssen wir gerade auf-arbeiten.Wenn die Unternehmen in diesem Bereich über ausrei-chend qualifiziertes Personal verfügen, dann werden einausreichendes Angebot an Kinderbetreuung und familien-freundliche Arbeitszeiten einer der Standortfaktoren derZukunft sein. Von diesen Faktoren wird abhängen, ob sichdie Wirtschaft entwickeln kann und ob Rahmenbedingun-gen geschaffen werden können, die tatsächlich die Grün-dung von Unternehmen begünstigen. Die Steuerlast die-ser neuen Unternehmen wird sinken, weil wir eine Steu-erreform auf den Weg gebracht haben. Auch dieBeitragslast dieser Unternehmen wird sinken, weil wireine Rentenreform durchgeführt haben, weil die Arbeits-losigkeit abnimmt und deswegen die Kosten für die Ar-beitslosigkeit sinken werden. Diese Unternehmen werdengleichzeitig über gut bis bestens qualifizierte Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer verfügen, weil diese Bun-desregierung gesagt hat: Bei uns soll niemand Geld fürNichtstun bekommen; wir investieren das Geld, über daswir verfügen, lieber in die Ausbildung der Menschen unddamit in deren Zukunft. Ich glaube, hier sind wir inDeutschland auf dem richtigen Weg.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen14/2909 und 14/2988 in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann,
Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über das Ausländerzentralregister und zur Ein-
richtung einerWarndatei
– Drucksache 14/1662 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 14/2745 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckardt Barthel
Wolfgang Zeitlmann
Marieluise Beck
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU hat der Kollege Hartmut Koschyk.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf derCDU/CSU-Fraktion zur Änderung des Gesetzes über dasAusländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warn-datei, den wir jetzt diskutieren, steht in einem ganz engenZusammenhang mit der Regelung der zukünftigen Zu-wanderung nach Deutschland. Der hierfür in derBundesregierung zuständige Bundesinnenminister OttoSchily sagt – wir stimmen ihm zu –: Die Grenzen der Be-lastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten. Wirfragen allerdings: Warum tut diese Bundesregierung dannnichts, um die Zuwanderung nach Deutschland zu be-grenzen?Vergeblich wartet dieses Land auf Maßnahmen oderAktivitäten der Bundesregierung; stattdessen schießt derBundeskanzler bei der CeBIT in Hannover aus der Hüfteund kündigt eine so genannte Green Card für IT-Spezia-listen an. Nach einem langen Hin und Her innerhalb derBundesregierung liegen jetzt Vorschläge vor, die unwei-gerlich zu einer Erhöhung der Zuwanderung auf dem Ver-ordnungswege führen werden. Natürlich stellt sich dieFrage, ob der Bundestag dadurch bewusst umgangenwerden soll.Notwendig wäre ein Gesetz zur Steuerung künftigerZuwanderung nach Deutschland; denn bevor über 20 000IT-Spezialisten nach Deutschland geholt werden, musszunächst die ungeregelte Zuwanderung nach Deutschlandeingedämmt werden. Zu dieser Frage äußert sich der Bun-deskanzler allerdings überhaupt nicht. Dies rief den in-nenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion,den Kollegen Wiefelspütz, auf den Plan, der in der „Welt“von dieser Woche sowohl den Bundeskanzler als auch denSPD-Generalsekretär aufforderte, sich endlich zu diesemThema zu äußern. Der Kollege Cem Özdemir von denGrünen wurde sogar noch deutlicher und sagte:Es wäre sehr wünschenswert, wenn sich der Kanzlerendlich in die Debatte einschalten würde.
Auf der anderen Seite erklärt der Kollege Wiefelspützgegenüber der „Berliner Zeitung“, ein Einwanderungsge-setz sei kein Projekt für diese Legislaturperiode. Im Klar-text: Es besteht nicht die Absicht, die ungeregelte Zuwan-derung nach Deutschland zu begrenzen. Cem Özdemirvon den Grünen wiederum begrüßte,
dass der Bundeskanzler mit der Green-Card-Debatte eineDiskussion über die weitere Zuwanderung nach Deutsch-land und über ein Einwanderungsgesetz in Gang gesetzthabe und er forderte den Bundeskanzler auf,
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Ulla Schmidt
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sich endlich an der Debatte zu beteiligen.Es gibt zwei Möglichkeiten der Erklärung für diesesWirrwarr in der rot-grünen Koalition, was das Thema Zu-wanderung anbelangt. Der Bundeskanzler selbst hat keinKonzept. Teile der Bundestagsfraktionen von Rot undGrün wollen eine Erhöhung der Zuwanderung nachDeutschland. Der zuständige Innenminister Schily spitztin der Zuwanderungsfrage den Mund, ohne aber zu pfei-fen.Die Position von CDU und CSU ist dagegen eindeutig.Das Einfallstor für ungeregelte Zuwanderung nachDeutschland ist und bleibt das Grundrecht auf Asyl.Wenn über Begrenzung und Steuerung der Zuwanderunggesprochen wird, dann muss auch das Grundrecht aufAsyl auf den Prüfstand. Doch schon eine Diskussion da-rüber wird von der Regierungskoalition in Bausch undBogen abgelehnt.Stattdessen werden immer weitere Forderungen erho-ben: Erleichterungen des Familiennachzugs, Erleichte-rungen bei Ermessenseinbürgerungen, Ausweitung vonAltfallregelungen für abgelehnte Asylbewerber, Auswei-tung auf nicht staatliche Verfolgung. All dies weckt Hoff-nung und schafft weiteren Anreiz für Zuwanderung nachDeutschland. Durch die von der rot-grünen Bundesregie-rung verantwortete Politik wird die Zunahme illegalerEinreise nach Deutschland geradezu gefördert. Schleu-serbanden machen sich dies zunutze. Dem gilt es vorzu-beugen.Aus diesem Grund hat die CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderungdes Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zurEinrichtung einer Warndatei einen ersten wichtigenSchritt vorgeschlagen. Wir wollen, dass der Kreis der Nut-zer des Ausländerzentralregisters um die Träger der So-zialhilfe und die für die Leistungen nach dem Asylbewer-berleistungsgesetz zuständigen Behörden erweitert wird,weil sie bestimmte Informationen aus dem Ausländer-zentralregister benötigen, um zum Beispiel gerade denMissbräuchen bei Leistungen für Asylbewerber zu be-gegnen.Die Informationsmöglichkeiten des Auswärtigen Am-tes und der deutschen Auslandsvertretungen müssen ver-bessert werden, um Visaerschleichungen wirksamer ver-hindern zu können. Auch die Polizei benötigt bei allge-meinen Personenkontrollen bessere Informationen ausdem Ausländerzentralregister, um schnell feststellen zukönnen, ob sich Personen illegal in Deutschland aufhal-ten.Lassen Sie mich zu den Sozialämtern kommen. Siemüssen diejenigen Daten erhalten, die sie brauchen, umim Einzelfall die Anspruchsberechtigung eines Antrag-stellers zu überprüfen und gegebenenfalls die miss-bräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen zu verhin-dern.Sozialbetrüger, die bei mehreren Sozialämtern einenAntrag auf Leistungsgewährung stellen, können dadurchschneller ausfindig gemacht werden.Von besonderer Bedeutung ist auch die Information, obfür einen Ausländer eine Verpflichtungserklärung einesDritten hinsichtlich der Sicherstellung des Lebensunter-halts und der Übernahme der Ausreisekosten abgegebenwürde. Oft genug, liebe Kolleginnen und Kollegen,kommt es nämlich vor, dass jemand nahezu professionellim Massenverfahren Einladungen ausspricht, Ver-pflichtungserklärungen abgibt, tatsächlich aber überhauptnicht leistungsfähig ist. Hier können Wiederholungsfällevermieden werden.Für uns besonders wichtig ist die Erweiterung bzw. dieVerbesserung der Zugriffsmöglichkeiten der Polizei-behörden auf das Ausländerzentralregister;
denn die Erfahrungen nach dem Wegfall der Grenzkon-trollen haben gezeigt, dass sich die diesbezüglichen An-forderungen gewandelt haben. Davor können Sie in derrot-grünen Bundesregierung die Augen nicht verschließen.Denn die Anforderungen werden sich noch weiter wan-deln, wenn im Zuge der EU-Osterweiterung Grenzkon-trollen zunehmend auch an den deutschen Ostgrenzenwegfallen.
Deswegen ist der einheitliche Zugriff aller Dienststellendes Bundesgrenzschutzes und der Polizeien der Länderunbedingt notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Zusammen-hang mit Demonstrationen ausländischerGruppierun-gen in Deutschland bringt der Zugriff auf das Ausländer-zentralregister für die Polizeibehörden erhebliche Be-schleunigungseffekte. Es können unmittelbar greifbareErkenntnisse über den ausländerrechtlichen Status einerzu überprüfenden Person für die Bewertung des polizeili-chen Sachverhalts und für die Identitätsfeststellung ins-besondere beim Nichtmitführen von Ausweisunterlagenerlangt werden. Dadurch kann die Dauer der Eingriffs-maßnahme verkürzt werden. Das kommt nicht zuletzt ge-rade auch den von einer solchen Maßnahme betroffenenPersonen zugute.Lassen Sie mich etwas zu den Zahlen der illegalen Zu-wanderung nach Deutschland sagen. Die Zahlen sindimmens: allein 37 789 unerlaubte Einreisen im Jahre1999. Stark angestiegen sind die Feststellungen unerlaubtEingereister im Inland. Im zurückliegenden Jahr griff derBundesgrenzschutz 2 749 Personen auf. Über 11 000 aus-ländische Staatsangehörige wurden 1999 durch Schleusernach Deutschland gebracht. Allein an den deutschenGrenzen wurden im vergangenen Jahr 3 410 Schleuserfestgenommen. Das war eine Steigerung gegenüber demVorjahr um 8 Prozent.Schleuser, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,das ist organisierte Kriminalität.
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Hartmut Koschyk9529
Sie nutzen inzwischen modernste Kommunikationsmit-tel, beschaffen und fälschen Dokumente, besorgen Unter-künfte für Zwischenaufenthalte und betreiben für ihrSchleuserwesen eine Werbung im großen Stil.
– Ja, es gibt auch Länder in Deutschland mit „Schleußer“-Unwesen, Herr Marschewski, da haben Sie völlig Recht.Aber lassen Sie mich zum Kern der Debatte zurück-kommen. Wie die Praxis im Schleuserwesen RichtungDeutschland zeigt, geht der Trend ganz klar hin zu Groß-gruppenschleusungen.Lassen Sie mich angesichts dieser Situation auf einenVorschlag einer grünen Europakollegin verweisen, näm-lich der grünen Europaabgeordneten Ilka Schröder. Esverschlägt einem schon die Sprache, liebe Kolleginnenund Kollegen, wenn diese Kollegin im Europäischen Par-lament – ich darf das hier deutlich machen – in ihrem par-lamentarischen Informationsdienst die finanzielle Unter-stützung von Fluchthelfern aus der EU-Kasse für notwen-dig erklärt. Frau Europakollegin Schröder erklärtewörtlich, viele Verfolgte könnten einzig durch die Hilfevon Schleusern in die Festung Europa kommen. DieTätigkeit von Schleuserbanden bezeichnet sie als huma-nitäre Maßnahme.
Die Gebühren für das Schleuserwesen seien für die Be-troffenen zu hoch, und deshalb müssten sie durch die Eu-ropäische Union subventioniert werden. Ich frage Sie: Inwelcher Welt leben wir eigentlich, dass sich eine deutscheEuropaabgeordnete der Grünen zu einer Komplizin vonSchleppern und Schleusern macht?
Die Zuwanderungsproblematik wird für die Sicherheitunseres Landes immer drängender. Allein der Bundes-grenzschutz hat 1998 über 60 000 Mal die Einreise zumBeispiel wegen unzureichender Grenzübertrittsdoku-mente nicht gestattet. Über 30 000 Zurückschiebungenund fast 40 000 Abschiebungen erfolgten 1998 durch denBundesgrenzschutz. Diese Zahlen machen doch deutlich,dass in bestimmten Fällen eine Überprüfung mit der vonuns heute hier geforderten Gesetzesänderung erheblicherleichtert werden kann,
denn bei all diesen Zahlen darf man nicht übersehen, dassdie Dunkelziffer ja noch wesentlich höher ist.In diesem Zusammenhang ein letztes Wort zur Visa-politik: Das Auswärtige Amt hat seine Visumspraxisgeändert. Visa für Deutschland werden künftig nachneuen gelockerten Regeln erteilt. Ist das wieder ein Al-leingang der rot-grünen Bundesregierung oder wurde sichhier – so müssen wir die Bundesregierung fragen – mit un-seren EU-Partnern abgestimmt? Vielleicht könnte uns dasdie Bundesregierung einmal verdeutlichen.
Tatsache ist, dass diese Anweisung des AuswärtigenAmts sämtliche Bemühungen um die Abwehr illegalerund krimineller Einwanderung unterläuft. Eine verstärkteKontrolle an den Außengrenzen unter gleichzeitigerErleichterung der Visaerteilung ist doch völlig kontrapro-duktiv. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang zumBeispiel das neue Kriterium, ein Visum zu erteilen, wennsich in der Abwägung der tatsächlichen Umstände, die füroder gegen die Erteilung eines Visums sprechen, Pro undKontra die Waage halten. Die Weisung von Außenminis-ter Fischer bedeutet für geschickt agierende Kriminelleeine Einladung, das Schleuserwesen nach Deutschland zuverstärken. Das ist der falsche Weg. Deshalb schlagen wirheute diese Gesetzesänderung vor.Durch eine zentrale Speicherung und Bereitstellungder Daten aller Personen und Organisationen, die im Zu-sammenhang mit den bereits genannten Missbräuchen woauch immer in Erscheinung getreten sind, werden alleStellen, die über Visaanträge zu entscheiden haben, in dieLage versetzt, eine effizientere Prüfung vorzunehmen.Wir wissen, dass Sie unsere Gesetzesänderung vorallem aufgrund von angeblichen Verstößen gegen daten-schutzrechtliche Bestimmungen ablehnen. Auch dagegenließe sich eine Vielzahl von Argumenten anführen, dadurch die von uns heute vorgeschlagene Gesetzesände-rung der datenrechtliche Schutz, der bislang durch denentsprechenden Umgang, das Abfragen und Zur-Verfü-gung-Stellen von Daten des Ausländerzentralregisters ge-währleistet wird, in keiner Weise negativ berührt wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Koschyk, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Deshalb appelliere
ich an die Mehrheitsfraktionen hier im Hause: Versagen
Sie sich nicht dieser dringend notwendigen Gesetzesän-
derung, damit endlich illegale Zuwanderung nach
Deutschland effektiver durch die entsprechenden Einrich-
tungen unseres Landes bekämpft werden kann!
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Eckhardt Barthel.
Meine Damen undHerren! Herr Koschyk, ein Satz vorweg: Angstmache er-setzt keine Politik.
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Hartmut Koschyk9530
Wenn Sie Ihre Darstellungen und das Horrorszenario, dasSie hier aufgezeigt haben, als sachlich empfinden,
dann würde auch gelten, dass jedes Gruselkabinett soharmlos wie ein Freizeitpark ist. Ich kann wirklich nur da-vor warnen, mit solchen Angstszenarien
an ein ernstes Problem – Missbrauch ist in der Tat ein erns-tes Problem, an das wir heran müssen – heranzugehen. Indieser Form halte ich das wirklich für unverantwortlich.
Am Anfang habe ich mich, Herr Koschyk, gefragt, obSie zu Ihrem Antrag reden oder ob Sie wieder die gesamtePalette des Ausländer- und Asylbereiches auf die Tages-ordnung setzen. Sie haben über Zuwanderung, IT-Spezia-listen, Abschaffung von Asylrecht, über Visaproblematik,Altfallregelungen und anderes gesprochen.
Sie haben dann auch noch Widersprüche in der rot-grünenRegierung zu konstruieren versucht.Ich möchte Ihnen einmal an einem Beispiel ein paarDinge zu den Widersprüchen sagen, die bei Ihnen zu ei-nem Thema bestehen, das Sie für mich überraschend hierangesprochen haben. Es betrifft die IT- bzw. Green-Card-Frage. Sie werfen uns vor, dass sich der Bundes-kanzler und seine Leute nicht äußerten. Sie äußern sich,das gebe ich zu, aber der eine sagt hü und der andere hott.Das ist Ihre Position. Ihren Freund Rüttgers und Nord-rhein-Westfalen darf man ja heute beispielsweise einmalerwähnen.
– Das ist zur Sache. Es ist doch ein parlamentarischerBrauch, dass man auf den Vorredner eingeht. – Ihr Kol-lege Rüttgers aus NRW redet von „Kinder statt Inder“ undIhr Schatzmeister spricht davon, dass er zu denen gehört,die Herrn Schröder gedrängt haben, die Green Card ein-zuführen. Das ist die Logik und die Homogenität inner-halb der CDU/CSU!Ich will aber versuchen, zu dem vorliegenden Gesetz-entwurf zu sprechen. Wie wir alle wissen, ist es der zweiteAufguss desselben Inhalts, vielleicht ist der Umfang einbisschen dünner geworden. Ich möchte den KollegenStadler von der F.D.P., der heute leider nicht anwesend ist,wofür er sicher einen guten Grund hat
– richtig –, zitieren. Er hat zu diesem Gesetzentwurf derCDU/CSU gesagt, dass es sich um ein „Antragsrecycling“handelt. Ich finde, das ist ein schöner Begriff. Was maneinmal nicht durchbekommen hat, versucht man ein zwei-tes Mal – möglicherweise bei anderen Mehrheitsverhält-nissen – durchzubekommen. Aber die Mehrheitsverhält-nisse, die Sie brauchen, sind für Sie zurzeit noch schwie-riger zu erreichen – Gott sei Dank.Die F.D.P. hat damals Ihren Gesetzentwurf wohlbe-gründet abgelehnt. Sie hat es auch in den beratenden Aus-schüssen getan. Sie wissen also, was Sie heute erwartet.Da nehme ich nichts vorweg. Die Begründung, die dieF.D.P. für die Ablehnung Ihres Gesetzentwurfes hatte, alssie noch Ihr Koalitionspartner war, ist nicht falsch. Dasmuss ich sagen, auch wenn die Begründung von der F.D.P.kommt.
Sie können auch nicht erwarten, dass die neue Koalitiondiesem Gesetzentwurf plötzlich zustimmt.Natürlich kann man ein Gesetz nach fünfjähriger Lauf-zeit überprüfen. Man kann schauen, ob Veränderungennotwendig sind. Kein vernünftiger Mensch kann ange-sichts des Missbrauchs in diesem Bereich sagen – das istdoch keine Frage –, dass wir nichts zu tun brauchen. Wasmich aber an Ihrer Strategie so ärgert, ist: Sie geben dasZiel Missbrauchsbekämpfung vor. Dann schlagen Sie einInstrument vor, das aber nicht geeignet ist, das Ziel zu er-reichen, und das außerdem noch viele negative Folgewir-kungen haben wird. Daher lehnen wir den Gesetzentwurfab. Sie behaupten dann aber, wir hätten das Ziel Miss-brauchsbekämpfung nicht. Das ist eine Schlussfolgerung,die ich politisch für nicht seriös halte.Was Sie hier vorlegen, entspricht angesichts der nega-tiven Wirkungen weder den Notwendigkeiten der Miss-brauchsbekämpfung noch berücksichtigt es die darausfolgenden Einschränkungen anderer Rechtsgüter. Es gibtschlicht keine Begründung und Rechtfertigung für solchemassiven Eingriffe in die informationelle Selbstbestim-mung der in Deutschland lebenden Ausländer.Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, an demwir uns häufig zu orientieren versuchen, hat der von Ih-nen vorgelegte Gesetzentwurf absolut nichts mehr zu tun.Ich möchte einen Slogan von Ihnen mit einem neuen In-halt versehen. Das Motto Ihres vorgelegten Gesetzent-wurfs ist „Datenflut statt Datenschutz“.
Was ich besonders dramatisch finde, ist, dass sich die-ser Gesetzentwurf auf einen sehr sensiblen Bereich be-zieht, nämlich auf den Bereich der Minderheitenpolitik.Sie wissen, dass viele Menschen nicht deutscher Herkunftin diesem Lande glauben, dass sie von einem großen Teilder Gesellschaft als Bedrohung angesehen werden. DieseEinschätzung ist zwar nur subjektiv, aber sie ist vorhan-den. Wir müssen erreichen, dass dieses Gefühl nichtRaum greift. Wir müssen den Betroffenen deutlich ma-chen, dass wir nicht in diese Richtung tätig werden wol-len. Wenn diese Atmosphäre in der Gesellschaft vorhan-den ist, Herr Koschyk, können selbst die besten integrati-onspolitischen Instrumente nicht mehr greifen. Ich setzeeinmal voraus, dass auch Sie nicht wollen, dass positive
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Eckhardt Barthel
9531
Integrationsinstrumente verpuffen. Wir brauchen die Inte-gration.
Die Ablehnung Ihrer globalen Erfassungs-, Speiche-rungs- und Zugriffsinitiative heißt allerdings nun nicht,dass man sich nicht Einzelpunkte des AZR-Gesetzes an-sieht.
– Das haben wir am Anfang gesagt und sagen es auchjetzt. Natürlich muss man sich diese Punkte einmal anse-hen.
Wir werden es bloß ein bisschen anders machen. Wirwerden nach Kriterien vorgehen. Wir werden erstens fra-gen, wo eine Notwendigkeit besteht.Das Zweite ist die Wirksamkeit der angedachten Ände-rung. Wirkt das überhaupt oder ist es nur plakativ? DasDritte ist: Wir werden nach der Verhältnismäßigkeit dereinzusetzenden Instrumente fragen: Viertens werden wirauch fragen. Was sind mögliche negative Folgewirkun-gen? Das ist ein seriöses Vorgehen, das werden wir tun.Das, was Sie hier gemacht haben, ist allerdings in der Tateine Ablehnung aller datenschutzrechtlichen Vorstellun-gen, die man haben kann.Ein Anschauen des AZR ist zum Beispiel nötig bei derWeiterübermittlung von Daten zur Erfüllung von Ver-pflichtungen aus dem Dubliner Übereinkommen. Dafürmuss eine einwandfreie Rechtsgrundlage gegeben wer-den. Und die Änderungen sind auch zur Umsetzung derEU-Datenschutzrichtlinie nötig, die Sie übrigens in IhremAntrag überhaupt nicht drin haben.Aber es kann doch nicht sein, so wie Sie es vorhaben,dass zum Beispiel sämtliche Personen gespeichert wer-den, zu deren Gunsten eine Verpflichtungserklärung nach§ 84 Abs. 1 Ausländergesetz abgegeben wurde, ohne zuwissen, ob diese ein Visum überhaupt erhalten haben odernicht. Was ist das für eine Prävention? Die geht nun wirk-lich in der Tat zulasten der Betroffenen.Ebenso benötigen wir keine Rechtsgrundlage für dieAbgabe von Daten aus dem AZR an die Staatsangehörig-keitsdatei, weil wir ja noch gar nicht wissen und ent-schieden haben, ob die Staatsangehörigkeitsdatei über-haupt fortgeführt werden soll.Der Hauptgrund für die Ablehnung Ihres Antrages liegtnatürlich in dem Gesetzentwurf für eine Warndatei. Eskann doch wohl nicht sein, dass zum Beispiel Daten vonPersonen gespeichert werden, die als Gastgeber eine Ver-pflichtungserklärung nach § 84 Ausländergesetz abgebenund alle sich daraus ergebenden Verpflichtungen erfüllen,aber dann praktisch verantwortlich dafür gemacht wer-den, dass der einreisewillige Ausländer zum Beispiel ge-fälschte Dokumente vorgelegt hat. Wie Sie wissen, ist ge-rade dieses ganz scharf vom Datenschutzbeauftragten kri-tisiert worden. Er hat Ihnen damals mehrere Punktevorgelegt, die Sie allerdings nicht eingearbeitet haben. Esgehört schon eine ziemliche Chuzpe dazu, dass Sie sagen,datenschutzrechtliche Probleme gebe es in Ihrem Antragnicht. Das ist toll.Meine Damen und Herren, wir lehnen Ihren Gesetz-entwurf ab, weil für eine so weit gehende Erfassung, Spei-cherung und Abrufung von Daten keine Notwendigkeitbesteht und die Folgewirkung Ihres Vorhabens für dasZusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten indiesem Lande überaus schädlich wäre.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen undKollegen! Die Fraktion der Freien Demokraten wird dasvon der CDU/CSU vorgelegte Gesetz ablehnen. Wir ha-ben das in der alten Koalition getan – es ist Ihnen seiner-zeit nicht gelungen, ein solches Gesetz so zubeschließen –, wir werden das selbstverständlich in dieserLegislaturperiode als Oppositionspartei genauso handha-ben, aus zwei einfachen Gründen.Der erste Grund ist: Ihr Gesetz bekämpft nicht wirksamSchleuserkriminalität. Der zweite Grund ist: Ihr Gesetzbelastet aber eindeutig Unternehmen, die auf zunehmendeInternationalität angewiesen sind.
Es ist ein Gesetzentwurf, der an den Interessen einer glo-balisierten Wirtschaft und einer gut funktionierenden Ge-sellschaft maßlos vorbeigeht. Das haben wir Ihnen in deralten Koalition gesagt, das werden wir Ihnen auch in die-ser Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag sa-gen.Jeder hier wird doch der Meinung sein, dass Schleu-serkriminalität und auch Kriminalität, wenn es um So-zialhilfemissbrauch geht, bekämpft werden muss. Ichkenne keinen Kollegen hier im Hause, der eine andereMeinung vertreten würde. Das, was Sie aber vorschlagen,ist erstens drastisch untauglich und zweitens eklatantschädlich für diejenigen, die in Deutschland auf ein StückInternationalität angewiesen sind, wenn sie überhaupt in-ternational wettbewerbsfähig bleiben wollen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Das, was Sie Warndatei nennen, ist im Grunde genom-men nichts anderes als eine Warnung an die Wirtschaft.Sie warnen herzlich wenig die Schleuser. Sie glaubendoch nicht, dass Sie irgendeinen kriminellen Schleuseroder irgendeine kriminelle Schleuserbande dadurch ab-schrecken können, dass sie plötzlich in der Warndateisind. Der Schleuser wird sowieso steckbrieflich gesucht.Auch wenn Sie sein Bild auf jeder Häuserwand plakatie-ren, wird ihn das herzlich wenig interessieren. Das sindLeute, die im organisierten kriminellen Milieu agieren; dahaben Sie völlig Recht. Es interessiert sie herzlich wenig,ob sie auch noch in eine Warndatei aufgenommen werden.Aber diejenigen, die darauf angewiesen sind, dassFachkräfte nach Deutschland kommen, um zum Beispielin der Computertechnologie international wettbewerbs-fähig zu bleiben, werden abgeschreckt, weil ihnen imKlartext gesagt wird: Du bleibst verantwortlich für denSpezialisten, den du eingeladen hast, selbst wenn du langeZeit später mit ihm überhaupt nichts mehr zu tun hast undwenn du sein Handeln nicht mehr beeinflussen kannst.Sie haben einen außergewöhnlich schlechten Vor-schlag gemacht. Er war in der alten Legislaturperiodeschlecht und seine Umsetzung ist deswegen damals vomBundesjustizministerium und vom Bundesdatenschutzbe-auftragten verhindert worden. Sie wird auch hier, soweitich das sehe, von allen Fraktionen, mit Ausnahme derCDU/CSU-Fraktion, verhindert werden und das ist gut so.Sie sind mit diesem Entwurf ziemlich alleine.Ich sage Ihnen auch: Dieser Vorschlag zeigt das glei-che Denken wie bei Ihrer Propaganda „Kinder statt In-der“.
Sie müssen endlich in der modernisierten, globalisiertenWelt ankommen. Sie können mit solchen wirtschafts-feindlichen Gesetzesinitiativen keinen Hund mehr hin-term Ofen hervorlocken.
Ändern Sie diesbezüglich nach der Landtagswahl bitteIhre Politik. Denn ich befürchte, dass Sie sich sonst in die-ser Frage immer mehr von der Wirtschaft entfernen.Wir sind übrigens – das wissen auch die Kolleginnenund Kollegen von der SPD und von den Grünen, also denbeiden Regierungsparteien –, wenn es um die Frage derGreen Card geht, mit den Ausführungen überhaupt nichteinverstanden. Wir halten das für zu bürokratisch. Wir tei-len die Kritik an dem, was bisher vorgelegt worden ist.Wir werden im Parlament insbesondere noch darüber zureden haben, ob eine solche Green Card, wie Sie sie nen-nen, mit der Befristung überhaupt wettbewerbsfähig seinkann. Denken Sie beispielsweise an die Versuche der An-werbung von Computerspezialisten aus Kalifornien. DieKalifornier lachen sich ins Fäustchen, dass wir solche ho-hen bürokratischen Hürden aufbauen und solche Restrik-tionen schaffen. Wir müssen endlich begreifen, dass wirdie Zuwanderung nach Deutschland besser steuern undauch begrenzen müssen, dass wir sie aber auch an den ei-genen nationalen Interessen ausrichten müssen.
Ein nationales Interesse unserer Gesellschaft heißt: DieIntelligenz, die es auf der Welt gibt, muss in Deutschlandarbeiten können, weil sonst die Arbeitsplätze im SiliconValley oder in Bangalore entstehen, aber nicht in Deutsch-land.
Das hat überhaupt nichts mit Ideologie oder Rechts undLinks zu tun. Hier geht es nur um die Frage: modern oderunmodern? Es geht nur noch um die Frage: Begreifen wir,welche Chancen wir international haben, oder begreifenwir das nicht? Ich muss Ihnen offen sagen: Ich bin bei derLogik Ihrer bisherigen Kampagne fest davon überzeugt,dass sie am kommenden Sonntag scheitern wird. Dann ha-ben Sie meiner Meinung nach einen guten Anlass, sichvon dem falschen Gleis Ihrer Innenpolitik fortzubewegenund sich auf das richtige, vernünftige Gleis in dieser Fragezu begeben.
Die Diskussion, die wir in Ihrem Gesetzentwurf nach-lesen können, ist rückwärts gewandt. Deswegen ist dasauch ein rein recycelter Gesetzentwurf. Darin steht über-haupt nichts Neues. Neu ist nur, dass das bisschen Daten-schutz, das früher enthalten war, jetzt auch noch heraus-gestrichen worden ist. Das eignet sich meiner Meinungnach überhaupt nicht für eine moderne Gesellschaft.Ich möchte aber auch den anderen Kolleginnen undKollegen etwas sagen. Denn ich lese nach unserer letztenDebatte über das Zuwanderungsbegrenzungsgesetz,das die F.D.P. hier im Deutschen Bundestag eingebrachthat – in der Debatte hat es von allen Seiten geheißen: dasbrauchen wir alles gar nicht –, zunehmend und freue michdarüber, dass es auch bei Rednerinnen und Rednern derSPD und der Sozialdemokraten
– Entschuldigung, Sie haben völlig Recht, wobei das eineschöne Frage ist: ob alle in der SPD soziale Demokratensind; daran habe ich Zweifel –, der SPD und derCDU/CSU bei diesem Thema entsprechende Bewegun-gen gibt.Das muss auch so sein.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Dr. Guido Westerwelle9533
Mir ist es lieber, wir kommen in dieser Legislaturperi-ode zu einem Ergebnis als irgendwann einmal. Ich sageIhnen voraus: Wir müssen die gesamte Migrationspolitikin Deutschland grundsätzlich neu definieren. Wir müssensie auf neue, feste Füße stellen. Das liegt im Interesse derGesellschaft und der Modernisierung unserer Wirtschaft.Wenn wir das jetzt nicht tun und weitere Jahre abwarten,dann ist, international gesehen, der Zug abgefahren. Dennin der globalisierten Wirtschaft werden jetzt die Claimsabgesteckt und die Chancen verteilt.Deswegen sollten wir gemeinsam zu einem entspre-chenden Ergebnis kommen. Wir als F.D.P. werden jeden-falls weiterhin diesbezüglich Vorschläge machen. Denvorliegenden Gesetzentwurf werden wir ablehnen, weil erebenso wirtschaftsfeindlich wie untauglich im Hinblickauf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität imSchleuserwesen ist.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise
Beck.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist in der Tat so, dass der vorliegende Ge-
setzentwurf, der jetzt in zweiter und dritter Lesung erneut
zur Debatte steht, ein Licht auf die Gedankenwelt, in der
sich die Union bewegt, wirft. Immer dann, wenn es um
Ausländer geht, kommt bei Ihnen der Abwehrreflex. Die
gesamte Debatte über die Migration wird von Ihnen nur
unter dem Gesichtspunkt der Abwehr und der Gefahr ge-
führt. Sie denken nur darüber nach, wie man Dämme
bauen, wie man die Fluten zurücktreiben kann.
Sie merken gar nicht, wie sich inzwischen die äußeren
Verhältnisse mit großer Geschwindigkeit zu verändern
beginnen. Sie sitzen immer noch in Ihrem Bau und versu-
chen die Mauern möglichst noch höher zu ziehen. Sie ha-
ben immer noch nicht gemerkt, dass wir gesellschaftlich
an einem Punkt angekommen sind, an dem wir aus eige-
nem Interesse gut beraten sind, die Mauern nie-
derzureißen, weil unsere Gesellschaft Migration bzw. Zu-
wanderung benötigt und weil es nicht mehr darum geht,
Zuwanderung nur unter dem Gesichtspunkt der Abwehr
zu sehen.
Diesen gesellschaftlichen Wandel scheinen Sie in der
CDU und in der CSU offensichtlich nicht nachvollziehen
zu können. Das ist fast dramatisch, weil in der Tat immer
deutlicher wird, was schon seit langer Zeit in
wissenschaftlichen Nischen der Gesellschaft dokumen-
tiert wird, nämlich dass eine demographische und ökono-
mische Entwicklung beginnt, in der die Gesellschaft im-
mer stärker aus der Balance zu geraten droht. Das Ver-
hältnis zwischen Alt und Jung fängt an, sich in einer rapi-
den Weise zuungunsten der Jungen zu verschieben. Statt
jetzt noch mehr Ängste in der Gesellschaft im Hinblick
auf die anderen, die da kommen und die immer als Be-
drohung dargestellt werden, zu schüren, sind wir gut be-
raten, uns auch geistig darauf vorzubereiten, dass eine Si-
tuation entstehen wird, in der wir darum werben müssen,
dass andere zu uns kommen, weil wir sonst nicht in der
Lage sind, unsere Gesellschaft in einem ausgewogenen
Verhältnis bestehen zu lassen.
Das ist die Debatte, die Sie mit Ihrem Abwehr- und
Angstdiskurs, den Sie immer wieder einbringen, zuschüt-
ten und vermauern. Das ist auch das Gefährliche daran.
Sonst könnte man Sie ja als altbacken zur Seite schieben
und sagen: Das ist eben die Union; wir stellen sie an den
Rand; denn wir können sie für eine moderne Gesellschaft
nicht gebrauchen. Aber natürlich ist es gefährlich, wenn
Sie diese Angstmacherei und diese Abwehrhaltung, die,
so glaube ich, etwas sehr Natürliches ist – es ist in Ge-
sellschaften etwas Altbekanntes, dass es eine Abwehr ge-
gen das Fremde gibt –, immer weiter schüren.
Zu Ihnen von der F.D.P., Herr Kollege Westerwelle,
möchte ich Folgendes sagen: Vielleicht wäre es ja doch an
der Zeit, dass Sie endlich einmal den Titel Ihres in diesem
Zusammenhang genannten Gesetzentwurfes, der „Zu-
wanderungsbegrenzungsgesetz“ lautet, ändern. Denn
genau dieser Titel dokumentiert den Gedankenansatz,
dass es um nichts anderes als darum gehen muss, Zuwan-
derung zu begrenzen. Wir kommen bereits zu einer nächs-
ten Etappe. Es geht um die Gestaltung von Zuwanderung
und nicht allein, wie Sie es sich damals – wohl auch aus
Angst vor gesellschaftlichen Reaktionen – ausgedacht ha-
ben, um Begrenzung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Beck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wester-
welle? – Bitte.
Ich habe nur einekurze Frage. Ich will es so formulieren: Wenn die Regie-rungsfraktionen unserem Gesetzentwurf zustimmen, kön-nen sie sich den Titel aussuchen.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Es geht um die Denkweise, Herr Westerwelle.Aufgrund des Titels „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“sind Sie einfach ertappt worden. Ich finde, das sollten Sieoffen zugeben.
Ich komme noch kurz auf die zweite und dritte Lesungzum AZR zu sprechen. Der Gesetzentwurf stammt ausdem Hause Kanther; das ist hier schon gesagt worden. Erwurde damals von dem Koalitionspartner F.D.P. scharf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Dr. Guido Westerwelle9534
kritisiert. Das Justizministerium war nicht bereit, da mit-zuziehen. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat damalswie heute seine Bedenken geäußert. Auch meine Amts-vorgängerin – das möchte ich sehr deutlich sagen – hatstarke Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf angemel-det, weil gerade dieser Grundsatzverdacht gegen Aus-länder in diesem Land unter ausländerpolitischen Ge-sichtspunkten nicht akzeptiert werden kann.Gesetze werden nicht gemacht, weil sie einmal ent-worfen worden sind. Es geht um das Rechtsstaatsprinzipund die daraus abgeleiteten Voraussetzungen für ein Ge-setzgebungsverfahren. Sie benennen immer bestimmteVoraussetzungen, ohne sie jemals zu belegen.Stets wird der Begriff des Sozialmissbrauchs ange-führt. Er ist für Schlagzeilen wunderbar tauglich; denn erappelliert an die Gefühle der Bevölkerung. Man hat dochimmer schon gewusst, dass sich der Ausländer zu Unrechtder Sozialhilfe bedient. Sie belegen nicht, dass diesem So-zialmissbrauch mit den von Ihnen vorgelegten Vorschlä-gen wirklich begegnet werden könnte. Deswegen ist die-ser Gesetzentwurf untauglich.Wir haben nach wie vor ein sehr gutes und wertvollesGrundrecht, nämlich das auf informationelle Selbstbe-stimmung. Angesichts der unglaublichen Explosion derMöglichkeiten der Datenerfassung haben wir als Parla-ment streng darauf zu achten, dass dieses Grundrechtnicht dadurch, dass neue Datensammlungen eingerichtet,neue Dateien angelegt und Verknüpfungen von Dateienhergestellt werden, verletzt wird. Deswegen halten wirdaran fest, uns mit neuen Gesetzesvorschlägen in diesemBereich so lange außerordentlich zurückhaltend zu ver-halten, wie in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde an-hängig ist. Es ist abzuwarten, was das Bundesverfas-sungsgericht zu den hierzu vorhandenen Gesetzen sagt.Unserer Einschätzung nach ist zumindest die von Ih-nen jetzt vorgeschlagene Einrichtung einer Warndateimit dem Grundsatz, dass Daten nicht auf Vorrat gesam-melt werden dürfen, dass sie anonymisiert sein müssen, inkeinster Weise vereinbar. Es kann nicht angehen, dass wirüber Menschen eine Datei anlegen auf den Verdacht hin,dass sie mit einem anderen unter einer Decke gesteckt ha-ben könnten,
ohne das in irgendeiner Weise zu belegen. Deswegen kanndie Warndatei so, wie Sie sie jetzt vorschlagen, von unsauf keinen Fall akzeptiert werden.Im Grunde genommen geht es um die Grundhaltung,wie wir mit Gästen, mit Menschen, die unser Land besu-chen, umgehen, auch mit Menschen, die zuwandern – ausökonomischen Gründen, aber auch aufgrund dermenschlichen Verbindungen. Mobilität zieht natürlichweitere Mobilität nach sich, das Hin- und Herwandernvon Menschen, das Sich-Besuchen. Wir sind an demPunkt, dass im Ausland immer kritischer wahrgenommenwird, dass die Abwehrhaltung in Deutschland nach wievor unser großes Markenzeichen ist.Deswegen bin ich sehr froh, dass das Auswärtige Amtjetzt im Bereich der Visumserteilung gehandelt hat. Essteht einem modernen, offenen Land nämlich nicht gut zuGesicht, wenn in den Botschaften und Konsulaten fastnicht nachvollziehbare Entscheidungen getroffen werden,wenn Geschäftsleute abgewiesen werden, wenn der Be-such von Menschen in Deutschland verweigert wird,
weil der Verdachtsmoment als schwerwiegender angese-hen wird als die Idee der Mobilität, die eben zu einem mo-dernen Land gehört. Dieser Schritt des Auswärtigen Am-tes ist gut gewesen. Ich weiß, dass er auch im Ausland po-sitiv bewertet wird.Es ist mitnichten so, dass alle Menschen deswegennach Deutschland kommen, weil sie denken, es sei dasweltoffenste Land. Gerade die Green-Card-Debattezeigt, auf welch schmalem Grat wir uns bewegen. DiePostkarten-Debatte ist in Indien und anderen Ländern –wir haben es hier schließlich mit dem Internet zu tun – an-gekommen, und zwar an demselben Tag, an dem sie be-gonnen wurde, an dem die Slogans in die Welt gesetztwurden.Die jungen Akademiker sitzen nicht auf gepacktenKoffern; sie warten mitnichten darauf, dass sie nachDeutschland kommen dürfen. Vielmehr gibt es dort Aus-einandersetzungen und Gespräche, in denen man sichfragt: Wollen wir überhaupt in ein Land gehen, das dieseSignale aussendet, dass wir nämlich gar nicht gewolltsind? Wir haben es oft mit Menschen zu tun, die es garnicht nötig haben, nach Deutschland zu gehen. Das müs-sen wir verstehen, statt uns mit altbackenen Abwehrhal-tungen diesen Modernisierungsentwicklungen entgegen-zustellen.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Kollege Koschyk, das gesellschaftlicheZerrbild, das Sie heute in Sachen Zuwanderung, Asyl-recht, Familiennachzug, Visabestimmungen usw. gemalthaben – ich will das gar nicht alles aufzählen –, macht eseinem wirklich schwer, sich damit sachlich oder über-haupt nur ernsthaft auseinander zu setzen.
– Ich sage Ihnen gleich etwas zu den Zahlen.Sie wissen ganz genau, dass wir immer wieder – schonbei der ersten Lesung Ihres Antrages – Debatten führenüber die Verhältnismäßigkeit von Kriminalitätsbekämp-fung, darüber, mit welchen falschen Fakten Sie hier im-mer wieder hervortreten, mit welchen Fakten Sie versu-chen, Menschen ausländischer Herkunft mit Ihrer Politik
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Marieluise Beck
9535
zu diskreditieren. Das lehnen wir ganz entschieden ab. Sokann man mit diesen Dingen nicht umgehen. Ich will ein-mal ganz davon absehen, dass Sie im Moment diese De-batte instrumentalisieren – wahrscheinlich für den Wahl-kampf oder wie auch immer –, denn die Punkte, die Sieangesprochen haben, haben größtenteils mit Ihrem Anlie-gen wenig zu tun.Ich komme zu den Zahlen, die Sie hier genannt haben;ich habe das übrigens auch schon in der ersten Lesung ge-sagt. In den Jahren 1996 bis 1998 hat es in der Tat lautBKA 14 400 Fälle von Schleuserkriminalität gegeben.Ich sage Ihnen noch einmal: Es hat beispielsweise im sel-ben Zeitraum 15 500 Fälle von Betrug und Untreue im Zu-sammenhang mit Beteiligungen und Kapitalanlagen ge-geben, 18 500 Fälle von Wirtschaftskriminalität im An-lage- und Finanzierungsbereich. Die Zahl allein dieserStraftaten liegt doppelt so hoch wie die Zahl bei derSchleuserkriminalität. Das gilt ebenso für den Sozialhilfe-betrug, den ich in der Tat nicht bagatellisieren will.
Es geht hier um die Frage: Welcher gesellschaftlicheSchaden wird hier eigentlich angerichtet? Welche Prio-rität wird von der CDU/CSU-Fraktion für welche Krimi-nalitätsbekämpfung verlangt?Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen: Das StatistischeJahrbuch weist 5,4 Milliarden DM Schaden im Bereichder Wirtschaftskriminalität aus. Sozialhilfeerschleichungwird laut BKA nicht einmal in der Statistik ausgewiesen.Das soll nicht heißen, dass wir das bagatellisieren wollen.Nehmen Sie das einfach einmal zur Kenntnis; lesen Siedie Statistiken wirklich einmal genau! Es kann einfachnicht sein, dass man – meine Kollegin Beck hat es schongesagt – versucht, mit Angstmacherei eine Politik zu be-treiben, die darauf hinausläuft, Ausländerfeindlichkeitund Rassismus in unserer Gesellschaft zu schüren.Herr Koschyk, Sie haben davon gesprochen, dass diedatenschutzrechtlichen Bestimmungen der entscheidendeGrund gewesen sind, dass im Ausschuss eine Ablehnungdes Antrages für heute empfohlen wurde. Das gilt für dasAusländerzentralregister, das wir damals schon abgelehnthaben, aber auch für Ihre Warndatei; hier sind schon vonmeinen Kollegen diverse Punkte genannt worden, warumwir sie zurückweisen müssen.Ich finde es ignorant und es ist mir juristisch völlig un-klar, wie eine Fraktion wie die Ihre nicht einmal abwartenkann, bis es ein Verfassungsgerichtsurteil gibt. Bürgerinitiativen und Menschenrechtsorganisationen sind vordas Verfassungsgericht gezogen, weil sie das Ausländer-register infrage stellen, mit dem ja schon enorm vieleFakten über Menschen ausländischer Herkunft gesam-melt werden. Mit Ihrer Warndatei soll ja noch eins obendrauf gesetzt werden.Ihr Kollege Marschewski hat vorgestern ein Interviewgegeben, in dem er sich zu illegalen Einreisen und Schleu-serkriminalität geäußert hat. Er hat davon gesprochen,dass dies die innere Sicherheit in Deutschland schwer be-drohe. Außerdem hat er in diesem Interview gesagt, dassdie entsprechenden Zahlen beträchtlich gestiegen sind.Ich frage Sie, Herr Marschewski: Woher nehmen Siediese Behauptungen? Nennen Sie das ehrliche Politik,dass Sie nicht einmal bei den Fakten bleiben? Warum sa-gen Sie zum Beispiel nicht, dass die Zahl illegal Einge-reister um 6 Prozent zurückgegangen ist, dass es sich beider Schleuserkriminalität nicht ausschließlich um Men-schen ausländischer Herkunft handelt, sondern dass etwa10 Prozent deutsche Staatsbürger dabei sind? Warum ana-lysieren Sie, wenn Sie diesen Tatbestand auseinander neh-men, nicht, worum es tatsächlich geht? Und warum setzenSie Illegale immer mit Kriminellen gleich? Selbst dieGenfer Flüchtlingskonvention verbietet es uns, Men-schen, die illegal in unser Land einreisen, als Kriminelleabzustempeln. Ich meine, auch Sie sollten sich daran hal-ten. Denn auch die Regierung Kohl hat damals die Gen-fer Flüchtlingskonvention akzeptiert.Meine Damen und Herren, hören Sie endlich auf, diesePolitik für Ihre Parteibelange zu missbrauchen! Denn diesgeht auf Kosten von Ausländerinnen und Ausländern. Ichmeine, das kann kein Beitrag zur Kriminalitätsbekämp-fung sein. Es ist allenfalls ein Beitrag zur Ausländer-bekämpfung. Das wissen Sie auch ganz genau.Zum Schluss meines Beitrages möchte ich noch einWort an die Regierungsfraktionen, an SPD und Grüne,richten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen leider zum Schluss kommen.
Das ist sowieso mein letzter
Satz. – Ich war ziemlich entsetzt darüber, dass sich die
Bundesregierung zu der Entscheidung im Europaparla-
ment betreffend Eurodac – ich habe es schon im Aus-
schuss gesagt – positiv geäußert hat. Ich wünsche mir,
dass wir nicht nur dieser Warndatei, sondern auch den
Verschärfungen, die auf europäischer Ebene angedacht
sind – sie sind noch nicht durchgesetzt, aber ange-
dacht –, geschlossen entgegentreten. Ich hoffe, dass die
anderen Fraktionen in diesem Hause auch dagegen vor-
gehen werden.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Erwin
Marschewski, Sie haben das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Gesetzentwurfvorgelegt, mit dem sie Schlepper und Schleuser bekämp-fen will. Das sind Leute, die andere Menschen ausbeuten.Das sind Leute, die ausländische Menschen unter falschenVersprechungen nach Deutschland locken, die ihnen ei-nen Transport anbieten, der oftmals ihre Gesundheit be-einträchtigt, sogar ihr Leben gefährdet. Gegen diese Leutewollen wir vorgehen – mehr nicht.
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Ulla Jelpke9536
Das hat, Herr Kollege Westerwelle, überhaupt nichtsmit einer Green-Card zu tun. Es hat auch nichts mit einerZuwanderungssteuerung zu tun. Auch wir sind für einZuwanderungssteuerungsgesetz. Wir werden Ihnen innächster Zeit einen entsprechenden Entwurf unterbreiten.Das ist der Gegenstand der Debatte – nicht das, was Siegesagt haben. Eines ist mir in dieser Debatte deutlich ge-worden: Die Union ist und bleibt offensichtlich der ein-zige Garant der inneren Sicherheit in Deutschland. Dashat diese Debatte klar und eindeutig gezeigt.
Oder glauben Sie, innere Sicherheit werde garantiert vonDr. Hirsch, Frau Leutheusser oder ihrem NachfolgerWesterwelle? Von denen doch nicht!Auch der heute nicht anwesende Bundesinnenministerkann innere Sicherheit nicht garantieren. Herr Staatsse-kretär, gerade in Ihrem Ministerium klaffen doch zwi-schen dem, was versprochen wird, und dem, was heraus-kommt – die Versprechen werden eben nicht gehalten –,Welten. Sie haben uns gesagt, Sie wollten einen Gesetz-entwurf vorlegen, um die Schleuserkriminalität zu be-kämpfen. Ich bin gespannt, wann Sie dies tun werden. Siehaben gesagt, Sie wollten darüber vorurteilsfrei im Aus-schuss diskutieren. Heute ist kein Gesetzentwurf da. DieDiskussion im Ausschuss bestand mehr oder weniger auseinem Abwürgen der Argumente. Nichts ist geschehen.Kein Versprechen wird von Ihnen erfüllt, obwohl wir Tau-sende von Geschleusten im Jahr haben – KollegeKoschyk hat es zu Recht gesagt – und die Zahlen im Stei-gen begriffen sind. Schauen Sie in die heute vom Bun-desinnenminister veröffentlichte polizeiliche Krimi-nalstatistik. Die Dunkelziffer in diesem Bereich ist erheb-lich höher.Im Bereich der Innenpolitik geht Ihre Leistungsfähig-keit gegen Null. Es wird überhaupt nichts gemacht. Dasliegt doch sicherlich daran, dass zwischen Rot und Grünerheblich unterschiedliche Vorstellungen gerade im Be-reich der Innenpolitik, des Ausländer- und des Strafrechtsvorhanden sind. Das werden Sie ja bestätigen. Hätten wirdamals so lange gewartet, bis das Bundesverfassungsge-richt in einer Nebenfrage entschieden hätte, hätten wirweder das Asylrecht noch das Verbrechensbekämpfungs-gesetz in Kraft setzen können.
So lange können wir nicht warten und so lange wollen wirnicht warten.Der Bundesinnenminister – heute nicht anwesend –wird auch von seiner Koalition im Stich gelassen. Was istaus der Aussage von Herrn Schily, die Grenze der Belast-barkeit sei überschritten, geworden? Welche Konsequen-zen haben Sie daraus gezogen? Was ist aus dem Vorschlaggeworden – ich gehe davon aus, dass er ernst gemeintwar –, er wolle das subjektive Asylrecht einschränken? Erhat uns in diesem Punkt an seiner Seite. Welche Konse-quenzen haben Sie daraus gezogen? Was ist – jetzt ganzaktuell – aus seinem Vorschlag, er wolle die Green Cardauf drei Jahre begrenzen, geworden? Sie haben den Bun-desinnenminister bei all seinen Vorstellungen im Regenstehen lassen.Das bedeutet, dass gerade im Bereich der Innenpolitikdiese Bundesregierung unter mangelnder Handlungs-fähigkeit leidet.
Das ist insbesondere im Bereich des Asyl- und des Aus-länderrechts und der Verbrechensbekämpfung der Fall:Kein einziges Gesetz haben Sie in den 18 Monaten IhrerRegierungszeit fertig gebracht. Kein einziges Gesetz!Große Worte, wenig Taten: Das ist die Leistung des Bun-desinnenministers, die so genannte Leistung im Bereichder deutschen Innenpolitik.Herr Kollege Westerwelle, mit dieser Art Laisser-faire,die Sie als Liberaler haben zutage treten lassen, werdenSie weder Schleusertum noch Menschenhandel noch So-zialleistungsbetrug bekämpfen. Wir haben Praktikergehört – Sie müssten das eigentlich wissen, da Sie bei ei-nem Teil der Koalitionsgespräche vor zwei, drei Jahrendabei waren – und sind Punkt für Punkt die Praktiker-vorschläge durchgegangen und haben sie ins Gesetz ge-schrieben.Erstens. Was ist dagegen zu sagen, dass wir nicht nurdie Antragstellung, sondern auch die Visaablehnung so-wie die Gründe der Ablehnung im Gesetz speichern wol-len? Es ist doch absurd, nur über die Antragstellung zu be-richten. Wir wollen die Ablehnung und die Gründe dafürspeichern. Was ist dagegen zu sagen?Zweitens. Wir wollen, dass auch die Polizeibehörden,die die Kontrollen vor Ort ausführen, Zugriff auf das Aus-länderzentralregister haben. Was ist dagegen zu sagen?Drittens. Wenn jemand ein Versprechen gibt, für einenDritten einzustehen, und das Versprechen wird nicht er-füllt: Warum soll das nicht in der Kartei bis zur Erfüllungdes Versprechens vermerkt werden, warum muss derSteuerzahler in diesem Lande für dieses oft falsche Ver-sprechen einstehen? Es gibt nicht nur gute Menschen aufder Welt; das ist nicht nur meine Erkenntnis. Natürlichwollen wir unser Land offen halten, aber wir wollen Ein-satz zeigen gegen Schleuser und Schlepper: Es ist ein Ver-brechen, wie die Geschleusten ausgebeutet werden. Da-gegen vorzugehen ist unsere Politik.
Deswegen bitte ich die Bundesregierung, wirklichernst zu machen und ein Gesetz vorzulegen. Ich frage Sie,Herr Staatssekretär – ich wundere mich, dass Sie gar nichtdas Wort ergreifen –: Wann werden Sie konkret mit einemGesetzentwurf kommen? Ansonsten verantworten Sie,dass das menschenverachtende Geschäft dieser Leuteweiter ausgeweitet wird. Ansonsten haben Sie zu verant-worten, dass Menschen mit unhaltbaren Versprechungennach Deutschland gelockt werden und dort aufs Übelsteausgebeutet und missbraucht werden.Ich fordere Sie auf, endlich etwas gegen diese Zu-stände zu unternehmen. Reden Sie nicht nur! Das giltinsbesondere für Ihren Minister. Handeln Sie endlich,Herr Minister!
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Erwin Marschewski
9537
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle
das Wort.
Herr Kollege, Sie
haben mich zweimal persönlich angesprochen und darauf
möchte ich eingehen. Sie erwecken den Eindruck, dass
das, was Sie hier vortragen, von der Expertenkommission
und von Fachleuten unter der alten Regierung in der letz-
ten Legislaturperiode bestätigt worden sei. Das ist nicht
richtig. Die alte Regierung hat dieses Gesetz nicht im
Deutschen Bundestag eingebracht, und zwar aus Ver-
nunftgründen. Sie möchten jetzt etwas einbringen, was
die alte Regierung nicht eingebracht hat. Das ist aus un-
serer Sicht eine etwas schwierige Angelegenheit. Sie er-
wecken auch den Eindruck, als wollten wir Schleuser-
kriminalität nicht bekämpfen. Schleuserkriminalität be-
kämpfen will vermutlich jeder hier in diesem Hause und
wir ganz besonders.
Ich halte aber die Idee, dass die Aufnahme dieser Kri-
minellen in eine weitere Datei bei der Kriminalitäts-
bekämpfung helfen könnte, für reichlich realitätsfern.
Deswegen ist dies keine Frage von innerer Liberalität ver-
sus Kriminalitätsbekämpfung. Ihr Gesetz dient nicht der
Kriminalitätsbekämpfung. Es dient lediglich der Ab-
schreckung ansonsten Unbescholtener, zum Beispiel un-
bescholtener Unternehmen. Das ist der Grund, warum wir
das Gesetz damals abgelehnt haben, warum es die alte Re-
gierung nicht eingebracht hat und warum wir es heute
nicht einbringen werden.
Im Übrigen kann ich Ihnen nur sagen: Ich kann Ihren
Ausführungen nicht zustimmen. Dass Sie ein blaues
Hemd und eine gelbe Krawatte tragen, versöhnt mich aber
wieder.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung, Herr
Kollege Marschewski, bitte.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Westerwelle. Zunächst
einmal möchte ich sagen: Ich bin Ihnen gegenüber immer
versöhnlich eingestellt, das ist keine Frage. Aber Sie müs-
sen auch einmal Sachargumenten Folge leisten:
Erstens. Wir haben in der letzten Legislaturperiode
eine Expertenanhörung durchgeführt. Die Experten haben
uns gesagt: Verbessert das Ausländerzentralregister und
schafft eine Warndatei, um wirklich etwas zu verhindern.
Ich nenne einen praktischen Fall, den Sie eigentlich ken-
nen müssten, aber offensichtlich nicht kennen: Wenn je-
mand im Ausland beim Konsulat A einen Visumantrag
stellt und dieser Antrag abgelehnt wird, weil jemand be-
trügerisch gehandelt hat, weiß das Konsulat B zunächst
einmal nicht, dass und warum dort eine Ablehnung erfolgt
ist. Das wollen wir ändern, indem wir im AZR und in der
Warndatei zentrale Vermerke einbringen. Ein weiteres
Beispiel: Wenn ein Polizeibeamter vor Ort feststellen will,
ob jemand als Schleuser oder Schlepper tätig ist, soll er
das zentral geregelt im AZR kontrollieren dürfen. Das ist
der Sinn dieser Übung.
Ich habe den Eindruck, dass Sie den Gesetzentwurf
nicht in seinen Einzelheiten kennen, weil Sie daran nicht
mitgearbeitet haben. Letzteres hat der Kollege Stadler ge-
tan. Sie haben heute nur den Redebeitrag übernommen.
Zweitens. Herr Kollege, ich wende mich dagegen, dass
die F.D.P. immer noch im alten hirschschen bzw. leutheus-
serschen Geiste sagt: Uns ist Datenschutz lieber als Tä-
terschutz. Das ist nicht unsere Politik, Herr Kollege
Westerwelle.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Fritz
Rudolf Körper.
F
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Sprache ist verräterisch. Dazu, dass bei-spielsweise der Kollege Koschyk sagt, dass der Erlass desAuswärtigen Amtes irgendwelche Visaregelungenlockern wolle, sage ich ganz einfach: Er kennt diesen Er-lass nicht.
Dass beispielsweise zukünftig keine Ablehnung eineszustimmungspflichtigen Visums ohne Rücksprache mitder Innenbehörde erfolgen darf, ist – so denke ich – ausder Praxis begründbar. Jemand, der eine Ablehnung eineszustimmungspflichtigen Visums ausspricht, muss zumin-dest bereit sein, diese auch zu begründen. Dies aber halteich nicht für eine Lockerung, sondern das ist in der Sachegeboten.Dies gilt auch für die Einführung einer Begründung beiAblehnung eines Visums zum Familiennachzug. Ich fragemich: Wo ist da eine Lockerung, wenn nun eine entspre-chende Begründung der Entscheidung gegeben werdenmuss? Ich halte dies im Übrigen für selbstverständlichund denke, dass man darüber nicht streiten muss.
Zweiter Punkt. Lieber Herr Koschyk und HerrMarschewski, Ihr Bundesinnenminister hätte froh seinkönnen, glaube ich, wenn es ihm beispielsweise gelungenwäre, in Europa im Zuge des Konfliktes im Kosovo undbei der Überwindung der Flüchtlingsschicksale eine Las-tenteilung herbeizuführen, wie das BundesinnenministerSchily gelungen ist. Ich denke, das ist eine hervorragendeLeistung, und Sie sollten das auch einmal würdigen.
– Das hat beispielsweise damit zu tun, dass an- und auf-gegriffen worden ist, was getan bzw. nicht getan wordenist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Erwin Marschewski
9538
Sprache ist auch dabei, wie Sie mit diesem Thema um-gehen, verräterisch. Ich glaube, es ist selbstverständlich,dass Schleusertum bekämpft werden soll. Aber es istschon ein bisschen merkwürdig, dass Sie es uns nachtei-lig auslegen, wenn die Bundesregierung, der Bundes-grenzschutz gewisse Aufgriffzahlen nachweisen kann.Nein, umgekehrt: Sie hätten den Bundesgrenzschutz ein-mal dafür loben müssen, dass er das Schleusertum wirk-sam bekämpft hat.Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel daran, dass wirnicht akzeptieren können, dass mit menschlichem Schick-sal Geschäfte gemacht werden. Darüber brauchen wir kei-nen Streit zu führen.
Sie sollten auch mit Ihren Sprüchen, die darauf abzie-len, Angst zu schüren, aufhören; denn sie verkennen dieFakten und bringen uns auch nicht weiter.
Der von der CDU/CSU vorgelegte Gesetzentwurf zurÄnderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregisterund zur Einrichtung einer Warndatei weist nach Dafür-halten der Bundesregierung sowohl ungeeignete als auchunverhältnismäßige Instrumente auf. Ich denke, das zeigtsich auch an Folgendem: Lieber Herr Marschewski, Sieversuchen ja denjenigen, die nicht in der Materie stehen,glaubhaft zu machen, was Sie alles unternommen hätten.Sie waren doch überhaupt gar nicht in der Lage, in Ihrereigenen Regierungszeit nur eine der von Ihnen genanntenVeränderungen herbeizuführen,
und zu einem großen Teil mit gutem Grund, weil Sieschon damals keine Mehrheiten dafür hatten. Das müssteSie doch eigentlich nachdenklich stimmen.Natürlich muss man auch sehen, dass die von Ihnenvorgeschlagenen Regelungen aus datenschutzrechtlicherSicht unverhältnismäßig und bedenklich sind. Sie ver-stoßen nach meinem Dafürhalten gegen das verfas-sungsrechtlich garantierte Recht auf informationelleSelbstbestimmung. Die Bundesregierung folgt daher ganzeindeutig dem Votum der Ausschüsse und lehnt diesenGesetzentwurf ab.Entschieden lehnen wir auch insbesondere das vorge-schlagene Gesetz über die Einrichtung einer so genanntenWarndatei ab. Die Einrichtung dieser Datei ist nach un-serem Dafürhalten nicht erforderlich. Es steht außerFrage, dass alles getan werden muss, um im Interesse derBekämpfung der illegalen Einreise Visaerschleichungenzu verhindern. Dazu ist es auch wichtig, dass Visa ertei-lende Stellen Informationen über ver- oder gefälschte Do-kumente oder Erkenntnisse über international organisierteSchleuserorganisationen austauschen. Der Aufbau eineszentralen Registers in der von Ihnen vorgeschlagenenGrößenordnung ist für diese Zwecke nicht notwendig undauch nicht geeignet.Datenschutzrechtlich bedenklich ist insbesondere diegroße Anzahl der Anlässe, die zu einer Datenspeicherungin der von Ihnen vorgeschlagenen Warndatei führen soll.So beabsichtigt die CDU/CSU zum Beispiel auch, Datenüber Personen zu speichern – da sollten Sie vielleicht ein-mal zuhören, Herr Marschewski –,
die Verpflichtungserklärungen nach § 84 Ausländergesetzabgegeben haben, ohne zu wissen, dass die dadurch be-günstigten Personen im Visaverfahren ge- oder ver-fälschte Dokumente vorgelegt oder nach ihrer Einreise ei-nen Asylantrag gestellt haben. Ich kann nicht nachvoll-ziehen, warum ein gutgläubig handelnder Personenkreisfür das Verhalten eines eingeladenen Ausländers verant-wortlich gemacht und mit dem Makel der Aufnahme sei-ner Daten in diese Datei versehen werden soll.Der große Kreis der zugriffsberechtigten Stellen, da-runter Polizeivollzugs- und Verfassungsschutzbehörden,ist ebenfalls datenschutzrechtlich mehr als fragwürdig.Aber auch, meine Damen und Herren, die Vorschlägezur Änderung des AZR-Gesetzes verstoßen gegen das in-formationelle Selbstbestimmungsrecht und können vonder Bundesregierung nicht mitgetragen werden. So siehtder Entwurf zum Beispiel die Schaffung einer Rechts-grundlage für die Übermittlung von Daten aus dem Aus-länderzentralregister an die Staatsangehörigkeitsdateivor, obwohl bis zum heutigen Tag für die Staatsan-gehörigkeitsdatei keine Rechtsgrundlage geschaffenwurde und der Gesetzgeber noch nicht entschieden hat, obdiese Datei überhaupt fortgeführt werden darf.
Die Ablehnung bedeutet aber nicht – das sage ich auchganz deutlich –, dass sich die Bundesregierung gegen jeg-liche Änderung des AZR-Gesetzes ausspricht. So gibt esfür uns zwei Punkte, die wir gerne diskutieren. Dies be-trifft die Zugriffsmöglichkeiten von Polizei und Sozial-behörden.
Allerdings sollten wir uns vor übereilten und pauschalengesetzlichen Änderungen hüten und zunächst einmal aufdie Erfahrungen der Praxis zurückgreifen. Meine Damenund Herren, wenn Sie beispielsweise die Ergebnisse, IhreGespräche aus der so genannten Praxis, wiedergeben, sofindet man einen eindeutigen Dissens. Es ist in der Tat zu-erst die Frage zu stellen, ob eine solche Maßnahme not-wendig ist oder nicht. Wir werden dies in der Praxis ge-nau beobachten und nur in den Fällen, in denen tatsäch-lich festgestellt wird, dass die vorhandenen Instrumentezur Bekämpfung der illegalen Einreise und des Sozialleis-tungsmissbrauchs nicht ausreichen, eventuelle Möglich-keiten der Änderungen in Betracht ziehen.Ich denke, das ist eine gute und eine richtige Vorge-hensweise. Wir sind zum Gespräch und zum Dialog be-reit. Aber Schnellschüsse, die nicht begründbar sind,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper9539
werden wir nicht machen. Im Übrigen ist unsere Ableh-nung bekannt.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfder Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Gesetzesüber das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung ei-ner Warndatei auf Drucksache 14/1662. Der Innenaus-schuss empfiehlt auf Drucksache 14/2745, den Gesetz-entwurf abzulehnen.Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 14/1662 abstimmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratunggegen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU abge-lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 f auf:Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu denÜbereinkommen vom 19. Dezember 1996über den Beitritt des Königreichs Däne-mark, der Republik Finnland und desKönigreichs Schweden zum SchengenerDurchführungsübereinkommen und zudem Übereinkommen vom 18. Mai 1999über die Assoziierung der Republik Islandund des Königreichs Norwegen– Drucksache 14/3247 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Investitionszulagengesetzes1999– Drucksache 14/3273 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussgemäß § 96 GOc) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Klaus Grehn, Dr. Ruth Fuchs, Dr. HeidiKnake-Werner und der Fraktion der PDS ein-gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzeszur Änderung des Dritten Buches Sozialge-
– Drucksache 14/3044 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologied) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva-Maria Bulling-Schröter, Rosel Neuhäuser,Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der PDSRessourcenverbrauch der BundesrepublikDeutschland statistisch besser abbilden– Drucksache 14/2654 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklunge) Beratung des Antrags der AbgeordnetenHeidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr.Christa Luft, weiterer Abgeordneter und derFraktion der PDSÜbergangsregelungen bei der Einführungdes Kapitalgesellschaften- und Co-Richt-linie-Gesetzes– Drucksache 14/3078 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länderf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSZeitweilige Aussetzung der Möglichkeit zurErhöhung der Nutzungsentgelte– Drucksache 14/3121 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3078 soll zu-sätzlich an den Finanzausschuss überwiesen werden. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 d auf. Eshandelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu de-nen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 22 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. August1998 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und den Vereinigten Mexikanischen Staa-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Parl. StaatssekretärFritz Rudolf Körper9540
ten über die Förderung und den gegenseitigenSchutz von Kapitalanlagen– Drucksache 14/2422 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/3129 –Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. FritzDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf Drucksache 14/3129, den Gesetzentwurf unver-ändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist beiEnthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 22 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. November1998 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und Antigua und Barbuda über die Förde-rung und den gegenseitigen Schutz von Kapi-talanlagen– Drucksache 14/2423 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/3130 –Berichterstattung:Abgeordneter Erich G. FritzDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf Drucksache 14/3130, den Gesetzentwurf unver-ändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzentwurfist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 22 c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu dem Antrag der Abgeord-neten Wolfgang Börnsen , DietrichAustermann, Otto Bernhardt, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der CDU/CSUWirtschaftlicher Ausgleich und Übergangsre-gelung für Duty free– Drucksachen 14/1206, 14/2103 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Börnsen
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-che 14/1206 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlus-sempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionenvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Tagesordnungspunkt 22 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu dem Antrag der Abgeord-neten Gunnar Uldall, Kurt-Dieter Grill, WolfgangBörnsen , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUVorlage des Berichts zum Stromeinspeisungs-gesetz– Drucksachen 14/2239, 14/2837 –Berichterstattung:Abgeordneter Kurt-Dieter GrillDer Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-che 14/2239 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einerBeschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmigung zumVollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnah-mebeschlüsse erweitert werden. Erhebt sich dagegen Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnungAntrag auf Genehmigung zum Vollzug gericht-licher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebe-schlüsse– Drucksache 14/3338 –Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,Immunität und Geschäftsordnung. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist an-genommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDHaltung der Bundesregierung zur Erhöhungder Sicherheit im Internet vor dem Hintergrundder Erfahrungen mit dem „I love you“-VirusIch eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ute Vogt.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Angesichts des Themas derAktuellen Stunde haben wir wieder einmal mehr Grund,froh zu sein, dass es eine neue Bundesregierung gibt;
denn wir haben einen Innenminister
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss9541
– wenn Sie ihn lieben, umso schöner –, der auch in Bezugauf die Informationstechnik auf der Höhe der Zeit ist, unddas, obwohl er selbst nicht zu der Generation gehört, vonder man sagen könnte, sie sei mit Computern groß ge-worden. Aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat sichder heutige Innenminister direkt nach seiner Amtsüber-nahme dem Thema der Informationstechnik angenommenund hat das, was im Bundestag lange vorbereitet wurdeund Ihnen auch schon aufgrund der Arbeit der Enquete-Kommission in der letzten Legislaturperiode hätte be-kannt sein können, angepackt und in die Praxis umgesetzt.Wir haben einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, dersich sehen lassen kann. Die heutige Aktuelle Stunde sollauch dazu dienen, diesen Katalog der Öffentlichkeit ausaktuellem Anlass in Erinnerung zu rufen und auf ihnaufmerksam zu machen.Wir haben das Paket mit Sofortmaßnahmen für einsicheres Internet verabschiedet, das den einzelnen Bürge-rinnen und Bürgern, die das Internet benutzen, nicht nurdie Anwendung des Internets erleichtert, sondern auchSchutz vor schädlichen Programmen durch Virenscanner,durch Einstellungen in Webbrowsern und Software-Firewalls ermöglichen wird.Es gibt für Netzvermittler die Möglichkeit, dass beiden Servicebetreibern ein Notfallplan entwickelt und eta-bliert wird. Wir können Maßnahmen ergreifen, die ver-hindern, dass gefälschte Adressen ankommen können.Zum Beispiel ist die Technik für Paketfilter vorhanden;sie müssen lediglich entsprechend eingesetzt werden.Diejenigen, die ihre Seiten selbst ins Netz stellen, könnenihre Dateien täglich auf Viren und Angriffsprogramme hinüberprüfen.Wir halten es für dringend notwendig, dass wir uns indieser Frage gemeinsam an die Öffentlichkeit wenden.Wenn Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind, dann wer-den Sie feststellen, dass gerade im Mittelstand mit demThema „Sicherheit im Netz“ häufig sehr sorglos umge-gangen wird und dass viele schon jetzt mögliche Sicher-heitsanwendungen nicht genutzt werden, sodass es unsereAufgabe auch ist, auf diesem Gebiet Sensibilisierung her-zustellen – etwas, was Sie in Ihrer Regierungszeit ver-säumt haben.An diese Aufgabe müssen wir alle zusammen herange-hen. Es hilft nicht, wenn nur die Bundesregierung und nurdie Abgeordneten der Regierungskoalition dafür werben;vielmehr brauchen wir den Einsatz des gesamten Parla-ments. Wir müssen Öffentlichkeit herstellen, damit auchprivate Anwender um die Gefahren wissen, in die sie sichbegeben, wenn sie sich im Internet bewegen und wenn sieAngriffen wie den zuletzt durchgeführten begegnen wol-len.Wir haben erlebt, dass es vermutlich ein Einzelner ge-schafft hat, innerhalb von nur 72 Stunden einen Schadenvon über 10 Milliarden US-Dollar anzurichten. Von derAktion eines Einzelnen sind etwa 45 Millionen Computerbetroffen; deshalb ist es notwendig, dass wir diesesThema sehr viel ernster nehmen, als Sie es in der Vergan-genheit getan haben. Wie gesagt, wir haben von Anfangan alles dafür getan. Der Maßnahmenkatalog mussteüberhaupt erst entwickelt werden, weil Ihr Innenministerleider das ignoriert hat, was zum Teil auch Sie in der En-quete-Kommission vertreten haben. Ihm fehlte mögli-cherweise der Bezug zu dem Medium; das muss man ver-stehen.Ich bin dafür – ich hoffe, dass auch Sie das zum Aus-druck bringen –, dass wir dieses Thema nicht klein reden.Wir sollten die vorhandenen Anstrengungen, Erfolge undHilfestellungen nicht zerreden; stattdessen sollten auchSie in dieser Debatte die Gelegenheit nutzen, die Bevöl-kerung zu sensibilisieren und aufzuklären. Sie sollten vorallem die Größe haben, die Leistungen der Bundesregie-rung anzuerkennen. Hören Sie auf, an diesem Bereichherumzumäkeln!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Sylvia Bonitz.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ob „Melissa“ imletzten Jahr, die Hackerangriffe auf Internetportale wie„Yahoo“, „Amazon“ und „Ebay“ im Februar oder jetzt dasComputervirus „I love you“ – ihnen allen ist eines ge-mein: Sie stehen für die Verwundbarkeit des Internets alsMasseninformations- und Kommunikationssystem. ImZeitalter von E-Mail, Online-Banking und E-Commerceist die vernetzte Welt anfällig für derartige Attacken. Es istzu erwarten, dass kriminelle Zeitgenossen ausreichendFantasie für immer neue und gefährlichere Viren besitzenwerden, die naturgemäß an nationalen Grenzen nicht Haltmachen.Umso wichtiger sind ein möglichst internationalerRahmen und gemeinsame Standards zur globalen Gefah-renabwehr. Auch die Bundesregierung muss ihren Beitragzur Verbesserung der Sicherheit in den neuen Medien leis-ten. Sie hat ihre Hausaufgaben jedoch bislang nicht ge-macht. Dabei wird das Ausmaß der Schäden durch Cyber-Kriminalität in Form von Hackerangriffen, Wirtschafts-spionage und -sabotage und durch Lücken in derIT-Sicherheit in der System- und Prozesssteuerung vonExperten inzwischen auf dreistellige Milliardenbeträgegeschätzt.Wer den Erfolg des Internets als zukunftsorientiertesMedium sichern will, der steht in der Pflicht, über seineRisiken aufzuklären, Sicherheitslücken, so weit machbar,zu schließen und ein öffentliches Bewusstsein für dieseProblematik zu schaffen. Denn jedem muss klar sein: Einehundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben.Cyber-Kriminelle nutzen als Sprungbrett für ihreAttacken nicht nur Großrechner der Industrie oder Uni-versitätsrechner, sondern auch Tausende von Firmenrech-nern, die inzwischen den Mittelstand ans Internet anbin-den. Selbst ein PC daheim ist ausreichend, um die hochtechnisierte Welt lahm zu legen. Schließlich bietet der Cy-berspace nicht nur die Anleitung zu Bombenbau und Kin-
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Ute Vogt
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derpornos, sondern selbst das Werkzeug, um die Sicher-heitsbarrieren des Internets zu überwinden.Anstatt das vorhandene Expertenwissen zügig an einerStelle zu bündeln, befassen sich unterschiedlichste Ar-beitsgruppen mit diesem sensiblen Thema. AufgedeckteSicherheitslücken gelangen hierdurch nur scheibchen-weise an die Öffentlichkeit. Dabei ist inzwischen bekannt,dass sich Internetattacken im Auftrag von kriminellen Or-ganisationen oder gar feindlichen Staaten gegen die ge-samte zivile Infrastruktur der Republik richten könnten,wie etwa die Energieversorgung, das Gesundheitswesen,das Verkehrswesen oder auch die Polizei.Nichts hat bislang die Bundesregierung veranlasst, die-ses Wissen von sich aus an die Öffentlichkeit zu bringenoder gar die Alarmglocken zu läuten. Stattdessen gibt In-nenminister Schily pausenlos Verbalplacebos in Form vonPressemittteilungen heraus, in denen seine Ideen zur Ver-besserung der Sicherheit im Internet gemeldet werden.Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt ein Cy-berspace.
Die Realität in Deutschland sieht nämlich anders aus.Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein süddeutsches Sys-temhaus stellte fest, dass der eigene Internetrechner alsSprungstelle für Angriffe auf andere Web-Angebote ge-nutzt wurde. Die Firma wandte sich an das BKA und andas Bundesamt für die Sicherheit in der Informations-technik. Doch man fühlte sich dort nicht zuständig. AmEnde wurde das Unternehmen an die lokalen Polizei-dienststellen verwiesen. Was das angesichts veralteterAusstattung der Polizei und nur weniger Internetexpertendort bedeutet, kann sich jeder ausmalen.In den USA schenkt man diesem Thema in der Politikeine weitaus größere Aufmerksamkeit als bei uns. Präsi-dent Clinton beispielsweise hat sich nach den Inter-netattacken vom Februar persönlich mit Experten beratenund zu diesem Gespräch sogar einen der bekanntestenHacker ins Weiße Haus eingeladen. Wir in Deutschlandkönnen uns schon glücklich schätzen, wenn sich GerhardSchröder, der sich in der Öffentlichkeit gern als „Online-Kanzler“ präsentiert, immerhin jetzt beibringen lässt, wiedas Internet überhaupt funktioniert.Randbemerkung: Wusste er das eigentlich schon, be-vor er die Green-Card-Offensive gestartet hat?Herr Schily hält das BKAmit seinen Experten nach ei-genem Bekunden für „bestens geeignet für diese Auf-gabe“. Jedenfalls steht es so in der „Welt“. Dagegen be-zeichnet der Vorsitzende des Bundes der Kriminalbeam-ten, Eike Bleibtreu, den Kampf im Internet als längstverloren. Bleibtreu schätzt, dass es im gesamten Bundes-gebiet noch nicht einmal 50 Internetfahnder gibt. Hinzukommt, dass in einer Spezialbehörde wie dem BSI vonden rund 360 Beschäftigten nicht einmal ein Dutzend fürdas Internet zuständig ist.Ein weiteres Beispiel für die Diskrepanz zwischen An-spruch und Realität: Bereits vor einem Jahr kündigte dasInnenministerium eine spezielle Internetsuchmaschinean, die es der Polizei erleichtern sollte, strafrechtlich rele-vante Inhalte festzustellen, Beweismittel, Absender undAdressaten zu ermitteln. Fakt ist: Bis heute ist in dieserHinsicht nichts realisiert.Auch die gebildete Taskforce „Sicheres Internet“ bleibtweit hinter den Erwartungen zurück. Die von ihr erarbei-teten „15 goldenen Regeln“ werden selbst vom ChaosComputer Club als „Beschwichtigung der Öffentlichkeit“eingestuft.Ich komme zum Schluss und frage die Bundesregie-rung: Was konkret unternehmen Sie, um Lösungen zurVerbesserung der Sicherheitsstandards im internationalenKontext zu erreichen?
Haben Sie für das G8-Treffen in der kommenden Wocheeinen konkreten Maßnahmenkatalog zur Globalisierungder Gefahrenabwehr vorbereitet?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ich
muss Sie an die Redezeit erinnern. Wir haben eine Aktu-
elle Stunde.
Ja, ich komme zum
Schluss.
Haben Sie, Herr Minister Schily, wenn Sie sich für eine
internationale Verschärfung der Strafrechtsbestimmungen
aussprechen, dem Kanzler ein konkretes Aufgabenpaket
geschnürt, das er auf dem G8-Gipfel abarbeiten und erör-
tern soll?
Wir alle sind gefordert, auch und gerade als Politiker
das öffentliche Bewusstsein in Fragen der Informations-
und Infrastruktursicherheit zu fördern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ich
muss Sie nochmals daran erinnern: Wir haben eine Aktu-
elle Stunde.
Das ist mein letzter Satz.
Wenn wir nicht mit vereinten Kräften und gebündeltem
Expertenwissen endlich einen Zahn zulegen, ist es mit den
Anstrengungen zur Erhöhung der Sicherheit im Internet
wie mit den Erfolgen der Regierung Schröder: Sie bleiben
virtuelle Realität.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Grietje
Bettin.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
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Sylvia Bonitz9543
Ich freue mich, dass ich hier heute zum ersten Mal redendarf,
und das zu einem Thema, das gerade in meiner Genera-tion in jeder Wohngemeinschaft, auf jeder Studentenbudeund in fast jedem Jugendzimmer zu einem Stück Alltags-kultur geworden ist. Ich spreche über den Umgang mitdem Internet.
– Das mag sein.Unweigerlich verknüpft mit dem Thema Internet istnatürlich die Frage der Sicherheit und hier insbesonderedie Virenproblematik, über die wir in den letzten Tagenviel gehört und gelesen haben. Die Attacke des „I loveyou“-Virus hat uns deutlich vor Augen gehalten, wie we-nig eigentlich unsere Daten im Netz geschützt sind undwie angreifbar wir in unseren ganz persönlichenIntimbereichen geworden sind.Was ist eigentlich ein Virus? Kleine Programme, diemeist mit bösen Absichten per E-Mail verbreitet werdenund deren Aktivierung in der Regel an bestimmte Ereig-nisse geknüpft oder wie hier bei diesem Virus auf unserLiebesbedürfnis ausgerichtet sind, sind die Schattenseitendieser Alltagskultur. Jeden Monat kommen 150 bis 250neue Viren auf den Markt. Die meisten sind harmlos, aber5 Prozent der Viren sind wirklich so genannte Killerviren.Was machen die Viren? Sie können Festplatten forma-tieren, den Bios-Chip überschreiben oder die Systemleis-tung bremsen. Auch können sie einzelne Anwendungenoder Dateien löschen oder sich mittels eines E-Mail-Pro-gramms selbstständig verbreiten.Die Fragen, die wir uns heute hier stellen, lauten: Waskönnen wir national und auch international gegen dieseGefährdung tun? Wie können wir unsere Daten vor einemVirenangriff schützen? Was können wir den Bürgerinnenund Bürgern empfehlen, um ihre eigenen Daten vor Ein-griffen zu schützen? Das betrifft den gesamten Datenbe-reich.Eine Möglichkeit ist natürlich, den Rechner gar nichterst anzuschalten bzw. das Disketten- oder CD-Rom-Laufwerk auszubauen. Letzteres wird übrigens bereits ingrößeren Netzwerken praktiziert. Einen relativ wirksa-men Schutz bieten auch so genannte Virenscanner, dieständig im Hintergrund laufen. Dabei müssen wir aber inKauf nehmen, dass unsere Rechner etwas langsamer ar-beiten. Gefordert ist aber insbesondere die Initiative allerNutzerinnen und Nutzer. Wir müssen in einem stärkerenMaße kritische Distanz zu allem halten, was aus dem Netzkommt. Jeder sollte sich als sein eigener Datenschützer,seine eigene Datenschützerin begreifen. Wir müssen unsauch daran gewöhnen, alle Mails zu checken und Ver-dächtiges auch ungelesen zu löschen.
In den letzten Tagen wurde viel von der Einrichtungvon so genannten Firewalls gesprochen. Was bringendiese Firewalls? Firewalls sollen ein Netzwerk vor An-griffen von außen schützen. Als Firewall bezeichnet maneinen Rechner bzw. eine Anordnung von Rechnern, diezwischen zwei Netzwerke geschaltet sind. Diese Rechnerwerden speziell unter Sicherheitsaspekten konfiguriertund geben nur erwünschte Verbindungen frei. Hier läuftalles nach der Strategie: Alles, was nicht ausdrücklich er-laubt ist, ist verboten.Ganz besonders wichtig ist auch, das de facto Micro-soft-Monopol endlich aufzubrechen.
Durch die ausschließliche Verwendung eines Computer-programms wurde eine kaum kontrollierbare Abhängig-keit geschaffen. Bisher hat sich Microsoft geweigert, Be-triebsgeheimnisse der oft schwer durchschaubaren Pro-gramme preiszugeben, was sehr häufig auch dieAufklärung behindert hat. Aus dem Bereich der Ökologiewissen wir: Monokulturen können großen Schaden an-richten.
Das gilt leider auch für den Computersektor. Auch hier istKonkurrenz gefragt. Sie sollte gefördert werden, umBuntheit und Programmvielfalt sicherzustellen. Letztend-lich kann nur so verhindert werden, dass ein Virus eine sogroße Masse von Systemen befällt und lahm legt.Ich teile die Auffassung von Minister Schily, der for-dert, dass alle zivil- und strafrechtlichen Möglichkeitengeprüft werden sollten, um die Verursacher der jüngstenAttacke zur Verantwortung zu ziehen. Dies macht aberinternationale Abstimmung erforderlich. Um Straftatenaufklären zu können, ist es außerdem erforderlich, dassdie Ausbildung der Strafverfolger verbessert wird. Ofthängen diese den Hackern in Bezug auf das technischeWissen weit hinterher.Ich habe mit großem Interesse die Anregung der CDU-Opposition aufgenommen, einen eigenen Bundesbeauf-tragten für das Internet zu bestimmen.
Ich frage mich aber, ob es nicht effektiver wäre, dies in dieArbeitsbereiche des Datenschutzbeauftragten zu integrie-ren.
Darüber sollten wir weiter im Gespräch bleiben.Wir sollten den „I love you“-Virus als Alarmsignal,aber auch als Chance begreifen, um schnell und pragma-tisch zu handeln. Hierbei muss uns klar sein, dass mit na-tionaler Politik wenig zu bewegen ist. Es wird nicht das
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Grietje Bettin9544
Patentrezept gegen Virenattacken geben. Wir alle müssenuns insbesondere im Bereich des Internet von der klassi-schen Vorstellung vom Staat als letzter und allmächtigerInstanz lösen. Eher wird man verschiedene Strategien aufverschiedenen Ebenen gleichzeitig verfolgen müssen, umwirklich sinnvollen Datenschutz zu betreiben.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Bettin,
dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich
möchte Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dazu recht herzlich beglückwünschen. Ich hoffe – ich
denke, auch hier spreche ich im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen –, dass Sie Ihre zweite Rede ohne Krücken
halten können.
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Hans-
Joachim Otto.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wohl nie zu-vor in der Kulturgeschichte hat es einen Liebesbrief ge-geben, der weltweit solche Schmerzen und auch ökono-mische Schäden angerichtet hat wie diese „I love you“-Mails, ein Warnschuss, wenn auch mit mehr als 10 Mil-liarden Dollar Schaden ein überaus teurer, aus dem wirdringend und umgehend Konsequenzen ziehen müssen.In diesem Punkt sind wir uns alle einig.Wir müssen erkennen, dass solche kriminellen, ja ge-radezu kriegerischen Attacken von überall auf der Weltausgeführt werden können. Eine Arbeitsgruppe der Bun-desregierung hat zu Recht eine „grundsätzlich neue Situa-tion der Unsicherheit“ analysiert, weil es im Internet „keingeschütztes Staatsgebiet mehr gibt, das an seinen Grenzenerfolgreich zu verteidigen wäre“. Ob allerdings, Frau Kol-legin Vogt, die Bundesregierung angesichts dieser zutref-fenden Analyse ihre Hausaufgaben umfassend und vorallem rechtzeitig gemacht hat, scheint mir nicht so ganzsicher zu sein.
Bezeichnend ist es, dass zu dem Zeitpunkt, als Bun-desinnenminister Schily seine Taskforce zusammenrief,um über Gegenmaßnahmen zu beraten – das war am4. Mai dieses Jahres um 17 Uhr; deswegen kann es nur dieneue Regierung sein, lieber Herr Tauss –,
ein junges Privatunternehmen, nämlich Datango aus Ber-lin, bereits einen „Webride“ gegen diesen Virus zur Ver-fügung stellen konnte. Dieses Beispiel macht deutlich,dass gegen diese Form der Bedrohung ein Schutz alleinvom Staat nicht zu erwarten ist. Es ist vielmehr drängen-der und wichtiger denn je, auf eine Public Private Part-nership zu setzen. In diesem Bereich gilt das Wort zuRecht.Künftig muss das Bundesinnenministerium aber auchkompetente Warnungen von Praktikern ernster nehmen.Ebenso wie der Virus „Melissa“ aus dem März 1999, soist auch der „I love you“-Virus eine Folge – in diesemPunkt bin ich mir mit der Kollegin Bettin einig – derMicrosoft-Monostruktur. Beide Viren betrafen nur Rech-ner mit Microsoft-Betriebssystemen und nutzten die feh-lende Transparenz der MS-Quellcodes gnadenlos aus.Auf diese Gefahr hatten zahlreiche Experten wie auchdie 57. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bun-des und der Länder rechtzeitig hingewiesen, die bereitsMonate vor diesem Angriff mahnten, „nur solche Pro-dukte einzusetzen, welche auch eine Transparenz der Ver-fahrensabläufe gewährleisten“.
Diese ausdrückliche Warnung war ursprünglich vom Bun-desinnenministerium in seinem KBSt-Brief Nr. 2/2000 imNetz veröffentlicht. Dem Vernehmen nach soll aber FrauStaatssekretärin Zypries veranlasst haben, dass diese be-rechtigte Warnung alsbald vom Server genommen wurde.
Wenn Herr Innenminister Schily eine Verschärfung derdeutschen Strafvorschriften gegen solche Hacker fordert,wird dies bei potenziellen Tätern in Manila oder Tasch-kent mit Sicherheit schlotternde Knie hervorrufen. Auchin diesem Punkt bin ich mir mit der Kollegin Bettin einig:Die Eigenart des globalen Netzes macht es unabdingbar,dass Verteidigungsstrategien supranational entwickeltwerden müssen. Der „I love you“-Virus hat im Übrigenauch die dringende Notwendigkeit einer weltweiten Inter-netkonvention und einer verstärkten internationalen Zu-sammenarbeit drastisch vor Augen geführt.Die Erhöhung der Netzsicherheit ist nicht etwa ein exo-tisches Außenseiterthema, sondern wird zu einer Schlüs-selfrage für die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft.Wenn deshalb der „I love you“-Virus zum Startschuss füreine solche weltweite Internetkonvention wird, so hat eruns ungewollt einen Liebesdienst erwiesen. Um im Bildzu bleiben: Genauso wie bei der Aktion „Safer sex“ brau-chen wir eine Aktion „Safer surf“, an der sich nicht nur dieRegierungen und die Wirtschaft zu beteiligen haben, son-dern in wachsendem Maße auch die Nutzer.
Denn es ist wahr: Wir brauchen technische Lösungen,aber wir brauchen auch einen Bewusstseinswandel.Ich werbe dafür – da bin ich mir auch einig mit meinenVorrednern –, dass diese Probleme natürlich auch eine Be-teiligung und eine Vorsicht der Nutzer erfordern. Manmuss diese Briefe oder Mails nicht öffnen. Deswegen eineAktion „Safer surf“ über alle Parteigrenzen hinweg, übernationale Grenzen hinweg. Das ist das Gebot der Stunde.Wir sind bereit, hieran mitzuwirken.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Grietje Bettin9545
– Die Inder auch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat die Kollegin Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Als das Internet noch eineSpielwiese war für ein paar abgedrehte Freaks, auch „Cy-ber Punks“ genannt, kümmerte sich eigentlich kaum je-mand um die Sicherheit der Daten im Netz.
– Kaum jemand, Kollege Tauss. – Ob Datenmaterial au-thentisch und Anwendungen angriffssicher waren, dasinteressierte zumindest hier im Hause – natürlich bis aufden Kollegen Tauss – kaum jemanden. Erst seitdem dasInternet nicht mehr nur als freier Kommunikations-raum genutzt wird, sondern vor allem als elektronischerMarkt, also erst seit es ein großes kommerzielles undwirtschaftliches Interesse gibt, sorgen sich Fachleute na-türlich auch um die Sicherheit im Netz.Es ist kein Zufall, dass die Experten auf diesem Gebietvor allem im Wirtschaftsministerium angesiedelt sind.
Es war auch das Wirtschaftsministerium, das sich schonzu CDU-Zeiten, aber auch danach für die uneinge-schränkte Verschlüsselung von Daten stark gemacht hat.Ich unterstelle: nicht unbedingt aus demokratischem Inte-resse an einer privaten Kommunikation, sondern natürlichaus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der Unterneh-men.
Der sichere Datenfluss im Internet ist schließlich die Vo-raussetzung für die Abwicklung elektronischer Geldge-schäfte und insofern treffen sich natürlich hier berechtigteInteressen der Wirtschaft mit den Interessen der Bürge-rinnen und Bürger.Ähnlich verhält es sich mit Hacker-Angriffen, Server-Attacken und E-Mail-Viren. Derartige Störungen beein-trächtigen sowohl den Geschäftsverkehr als auch dieKommunikation und den Informationsaustausch. Es istdaher meines Erachtens richtig, wenn Maßnahmen ergrif-fen werden, das Netz gegen solche Angriffe resistent zumachen. Es geht dabei aber vor allem um technische Wei-terentwicklungen auf diesem Gebiet. Es täte der deut-schen Wirtschaft – wenn ich mir erlauben darf, das zu sa-gen – recht gut, diese technischen Weiterentwicklungenmit zu verfolgen.
Die Verfolgung der Täter ist eine andere Sache. So-lange es Schwachpunkte und Angriffpunkte bei der Si-cherheit im Internet geben wird, wird immer wieder ir-gendjemand irgendwo auf dieser großen Welt versuchen,diese Sicherheitslücken auch auszunutzen, sie aufzu-decken. Manchmal muss man diesen Menschen nahezudankbar sein, weil sie genau diese Schwachpunkte imNetz aufdecken. Ich darf daran erinnern, dass die einst-mals bösen Buben des hier schon angesprochenen ChaosComputer Club heute unter anderen zu den Beratern derBundesregierung gehören. Auch die Bundesregierungsetzt sich also damit auseinander.Im Moment haben alle Angst vor Virenangriffen perE-Mail. Wer häufig im Internet ist, weiß natürlich, dass esum ein Vielfaches mehr an Virenwarnungen gibt, als estatsächlich Viren im Netz gibt. Der „I love you“-Virus istdabei natürlich eine ziemlich gefährliche und auch abso-lute Ausnahme, die uns in den letzten Tagen sehr erschüt-tert hat. Klar ist auch: Ob falsche oder echte Virenwar-nung, davor muss man sich schützen. Ich hoffe, dass dieExpertinnen und Experten beim BSI gute Ideen für effek-tive Schutzmaßnahmen entwickeln. Diese Aufgabekommt natürlich auch der Industrie zu.Virenangriffe sind ein ernst zu nehmendes Problem.Dennoch möchte ich noch zwei oder drei andere Faktorenansprechen, die das Vertrauen der Menschen in die Inter-nettechnologie meines Erachtens auch – zu Recht – beein-trächtigen, zum Beispiel die Datenrückverfolgung, diejetzt eingesetzt wird, um den Virusverschickern auf dieSchliche zu kommen.Für die Sicherheitsbehörden ist diese Rückverfolgung derDatenspur natürlich hilfreich. Für den normalen Anwen-der kommen Fragen hinsichtlich der Anonymität im Netzauf. Es existiert eine permanente Verunsicherung. Darü-ber hinaus sind die Verschlüsselungsprogramme heute oftetwas für Spezialisten. Es gibt in der Gesellschaft ein ex-trem starkes Gefälle zwischen den Menschen, die anihrem Rechner ohne jedes vernünftige Virenschutzpro-gramm arbeiten, und denjenigen Sicherheitseliten, die im-mer den aktuellsten Schutz aufbieten können. Auch gegendieses Gefälle muss man etwas tun.Ein anderer Aspekt. Ich habe mich in der letzten Zeitsehr intensiv mit dem Internet im Zusammenhang mitMenschen mit eingeschränkter Mobilität oder auch Seni-orinnen und Senioren beschäftigt. Wenn Sie sich dieQualifizierungsangebote auf diesem Gebiet, die so lang-sam in Tritt kommen, ansehen, stellen Sie fest, dass viel-fach vermittelt wird, wie man das Internet einsetzen kann,wie man es nutzen kann, welche Chancen es bietet. Abereine solche Bildung vermittelt zurzeit nichts über die Ri-siken. Darüber wird häufig nicht gesprochen. Ich denke,dass das keine wirkliche Vermittlung von Kompetenz imUmgang mit dem Internet ist, sondern dass es da umgesellschaftliche Gruppen geht, die als potenzielle Kon-sumentinnen und Konsumenten infrage kommen. Ichglaube, dass man hier, wie es schon angesprochen wordenist, auch viel häufiger über die Risiken sprechen muss,statt dass nur über die Chancen und die Möglichkeiten derVerwendung gesprochen wird.Obwohl ich wirklich von den Partizipationsmöglich-keiten begeistert bin, die das Internet mit sich bringt,lehne ich zu diesem Zeitpunkt zum Beispiel Veranstaltun-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Hans-Joachim Otto
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gen wie Wahlen im Internet ab. Denn diese suggeriereneine Datensicherheit, die noch nicht vorhanden ist. Dasgeht in die falsche Richtung. Man sollte über die Da-tenunsicherheit reden. Deswegen geht es meines Erach-tens nicht darum, ein größtmögliches Sicherheitsgefühlzu vermitteln, sondern es geht darum, den Nutzerinnenund Nutzern wirklich Sicherheit im Netz zu bieten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Hubertus Heil.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Marquardt, esist immer mein Schicksal, in solchen Debatten nach Ihnenzu sprechen.
– Das ist ein erfreuliches Schicksal. – Insofern erlaube ichmir auch jetzt, zu sagen, was uns in diesem Punkt unter-scheidet. Natürlich gibt es Risiken; das ist gar keineFrage. Natürlich ist tatsächliche Sicherheit besser als ir-gendein Gefühl von Sicherheit. Nur, wer ständig vor al-lem über Risiken redet, baut gerade bei denjenigen eineHemmschwelle auf, diese Techniken zu nutzen, von de-nen Sie gesprochen haben, beispielsweise auch bei klei-nen und mittelständischen Unternehmen.Lassen Sie mich etwas zu dem Problem sagen. DieZahlen sind genannt. Laut „Tagesspiegel“ – dem wir jetzteinfach einmal vertrauen – wurde durch das „I love you“-Virus und viele andere Viren, die sich anders nennen, einSchaden von bis zu 10 Milliarden US-Dollar angerichtet.Die Frage, die wir heute zu diskutieren haben, ist: Welchetatsächlichen Handlungsmöglichkeiten haben wir als Po-litiker? Da gebe ich Ihnen, Herr Kollege Otto, vollkom-men Recht – das liegt nicht an meinem neoliberalen Out-fit heute, blau-gelb,
sondern das wussten wir auch vorher schon –, dass das nurin Kooperation mit der Wirtschaft geht – wie denn sonst? –,natürlich auch mit der Wissenschaft und mit privater Ini-tiative; Chaos Computer Club ist genannt worden.Ich möchte aber drei Punkte bei den Handlungsmög-lichkeiten in den Vordergrund stellen. Das Wichtigste ist,dass wir uns über Prävention unterhalten. Das ist der tech-nische Kampf, den wir gegen die Viren aufzunehmenhaben. Viren werden nie ganz auszuschließen sein. EineFirewall – das werden wir als Bundestagsabgeordnete beidem System, das wir verwenden, erleben – schafft aller-dings nicht immer besonders viele Handlungsmöglichkei-ten. Die Reden beispielsweise, die wir hier im Parlamenthalten, kann sich jeder draußen im Lande, der die ent-sprechende Software hat, auf seinem Rechner anschauen.Wir können das als Abgeordnete nicht, weil wir uns dieseSoftware nicht auf den Rechner laden können. Das ist dieKehrseite dieser Medaille. Aber da wird die technischeEntwicklung auf dem Markt Lösungen präsentieren, dieuns diesen Kampf erleichtern werden.Erst in zweiter Linie – das ist auch notwendig – ist überStrafverfolgung, über Sanktionen und gegebenenfallsauch über die Verschärfung von Sanktionen zu sprechen.Es geht nicht – es ist gut, dass wir diese Einschätzungheute alle teilen – um so etwas wie einen elektronischenKlingelstreich, sondern es geht tatsächlich um so etwaswie elektronische Briefbomben, die wirtschaftlichenSchaden anrichten, die vor allen Dingen in kleinen undmittelständischen Unternehmen, welche 60 Prozent derArbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze inDeutschland stellen, nachhaltigen Schaden anrichten.Deshalb geht es neben Prävention und neben Strafver-folgung auch um die Frage der Versicherung, also derNachsorge in dem Bereich. Ich bin froh und dankbar, dassdie Versicherungswirtschaft mittlerweile auch hier Ange-bote parat hält. Ich appelliere an dieser Stelle aber auch andie Wirtschaft, gerade für kleine und mittelständische Un-ternehmen faire Konditionen auszuhandeln und die jet-zige Situation nicht in der Form zu nutzen, angesichts desbestehenden Problemes Leute über den Tisch zu ziehen.Ich will das keinem unterstellen; aber ich halte das für ei-nen wichtigen Punkt.
Meine Damen und Herren, über die Pluralität, über dasMarktgeschehen von Betriebssystemen ist an dieser Stelleauch schon gesprochen worden. Ich unterstreiche das Ge-sagte. Es gibt bestimmte Systeme, zum Beispiel Linuxoder Macintosh, die diese Virusprobleme nicht hatten.Aber 90 Prozent der Rechner auf der Welt laufen aufMicrosoft- bzw. auf Windows-Basis. Das ist ganz einfachso. Es ist nicht nur ordnungspolitisch bedenklich, welchesMaß an Konzentration es in diesem Bereich gibt – dieamerikanische Regierung hat das deutlich gemacht, siemuss natürlich gegebenenfalls mit Mitteln des Kartell-rechts diese Dinge regeln –, sondern es ist auch aufgrundder Angreifbarkeit des Systems, was Viren betrifft, be-denklich.Nun können wir eines nicht tun, nämlich als Politikerzu versuchen, Unternehmen zu zwingen, bestimme Be-triebssysteme für ihre Arbeit heranzuziehen und anderenicht. Natürlich gibt es Ansprüche im Hinblick auf Kon-vergenz und Kompatibilität, die man politisch nicht ver-ordnen kann, die sich vielmehr technisch ergeben. Trotz-dem müssen wir auf die bestehende Gefahr hinweisen undin letzter Konsequenz ordnungspolitisch intervenieren,wenn sich ein Marktversagen, das technisch bedrohlichist, in diesem Bereich durch eine Monopolbildung ab-zeichnet.Zum Schluss: Zum Internet gehört die Offenheit,gehört die Möglichkeit, die individuellen Freiheiten wei-ter auszubauen. Wir haben uns in diesem Hause – zumin-dest verbal und zunehmend auch in Regelungsform –darauf verständigt, diesem Ganzen einen sicheren Ord-nungsrahmen zu geben. Die Bundesregierung handelt.Der Bundesinnenminister hat schon letztes Jahr eine ent-sprechende Initiative ergriffen. Frau Kollegin Bonitz, ichgestatte mir den Hinweis darauf: Das Spielchen in
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Angela Marquardt9547
Aktuellen Stunden – „Ihr habt noch nicht“ und unsereAntwort darauf: „Ihr früher aber erst recht nicht“ – magich eigentlich nicht. Aber wenn Sie damit beginnen, mussich es fortführen und sagen: Was haben Sie denn früher indieser Angelegenheit getan? Da gab es nur Absichtser-klärungen. Jetzt müssen wir ein konkretes Problem lösen.Helfen Sie uns lieber, anstatt in die Vergangenheit zuschauen.Wie gesagt, die Bundesregierung handelt. Die SPD-Bundestagsfraktion bzw. die Koalitionspartner unterstüt-zen die Bundesregierung in ihrem Bemühen. Ich denke,nur so gelingt es, dieser Geißel im System Abhilfe zuschaffen. Wir setzen auf Kooperation. Ich bin froh, dasssich in diesem Hause trotz mancher Spielereien zumin-dest in dieser Frage so etwas wie ein Konsens abzeichnet.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Martin Mayer.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Der Computervi-rus „I love you“ hat verheerende Schäden angerichtet.Jetzt geht es zum einen um die Begrenzung dieser Schä-den. Zum anderen aber geht es um die Frage: Wie könnensolche Schäden künftig vermieden werden? Vor allemgeht es um die Frage: Welches Ausmaß an Gefährdung be-steht für die Allgemeinheit? Es geht ja nicht nur darum,dass Einzelpersonen und Unternehmen geschädigt wor-den sind, sondern dass für die gesamte Volkswirtschaftund letztlich für den Staat eine Bedrohung besteht.Seit der Debatte um das Jahr-2000-Computerproblemweiß doch jedes Kind, wie sehr wir in all unseren All-tagsdingen vom Computer und vom Netz abhängen undwelche außergewöhnliche Bedeutung der Sicherheit vonInformations- und Kommunikationsanlagen zukommt.Wenn jetzt Einzeltäter mit einem Computervirus enormeSchäden anrichten können, dann ist zu fragen, um wievielgrößer die Gefährdung ist, wenn sich organisierte Ver-brecherbanden oder gar verbrecherische Regime diesesThemas annehmen.Da muss man schon die Frage stellen: Was tut eigent-lich die Bundesregierung, um dieser umfassenden Bedro-hung zu begegnen?
Wo ist der strategische Ansatz? In ihrem Aktionspro-gramm zur Informationsgesellschaft, das 140 Seiten um-fasst, widmet sie dem Thema Sicherheit knapp vier.
Der Bundesinnenminister hat den Bericht der Arbeits-gruppe KRITIS, die meiner Erinnerung nach noch vomfrüheren Bundesinnenminister Kanther eingerichtet wor-den ist, zum Thema kritische Infrastrukturen entgegenge-nommen. Mehr nicht! Was denkt eigentlich der Bundes-verteidigungsminister in dieser Frage, die sehr viel mitäußerer Sicherheit zu tun hat? Er schweigt.
Hat er noch nicht gehört, dass sich in den USAHeerscha-ren von Wissenschaftlern mit dem Thema Informations-krieg befassen? Und wo ist insgesamt eine angemesseneSicherheitsforschung? Wo ist eine grundlegende struktu-rierte Bedrohungs- und Sicherheitsanalyse mit einer Prio-ritätenliste?
Als es in den 60er- und 70er-Jahren darum ging, dasgroße Risiko, das mit der Nutzung der Kernenergie ver-bunden ist, in den Griff zu bekommen und zu minimieren,wurden in Deutschland drei große Forschungseinrichtun-gen mit Tausenden von Wissenschaftlern gegründet. Wogibt es Vergleichbares angesichts der großen Herausfor-derung in der Informationstechnik? Statt sich dieses The-mas anzunehmen, beschäftigt sich die Bundesforschungs-ministerin mit der Zerschlagung der einzigen Organisa-tion, die in der Lage wäre, sich eines solchen Themasanzunehmen, nämlich der GMD.
Sie sollte mehr darüber nachdenken, wie ein strategischerAnsatz gefunden werden kann, den Gefahren für Compu-ter und Netz, die letztlich den Lebensnerv unserer Gesell-schaft bedrohen, zu begegnen.Und wo bleiben die wirksamen Maßnahmen der Re-gierung, um endlich zu einer Offenlegung der Quellcodesder Software zu kommen? Der „I love you“-Virus hättesich möglicherweise auch bei einer freien Software ver-breitet. Aber die Maßnahmen, dem zu begegnen, wärenwirksamer gewesen.
Es ist ja kein Zufall, dass sich dieser Virus in dem geheimgehaltenen Outlook so verbreitet hat. Wo bleiben die Ak-tivitäten der Bundesregierung, um beispielsweise dem of-fenen Betriebssystem Linux zum Durchbruch zu verhel-fen?
Es gibt noch etwas Unglaubliches. Da beschäftigensich die Staats- und Regierungschefs der EU in Lissabonzwei Tage lang mit dem Weg Europas in die Informati-onsgesellschaft und mit allgemeinen Sicherheitsfragen.Der Herr Bundeskanzler hat darüber am 6. April im Ple-num berichtet.
Aber das Thema „Sicherheit von Computern und Netzen“kommt in der Schlusserklärung der EU und in der Rededes Bundeskanzlers nicht einmal in einem Nebensatz vor.Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren.
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Hubertus Heil9548
Die Bundesregierung wird daher aufgefordert, demThema „Schutz von Computern und Netzen vor Angriffenvon innen und außen“ endlich die notwendige Aufmerk-samkeit zu schenken und umgehend zu handeln: Als Er-stes muss ein verantwortlicher Minister benannt werden,der eine umfassende Zuständigkeit hat, damit diesesThema nicht im Gerangel der Ressorts zerrieben wird.Dann muss die systematische Forschung und die gene-relle Offenlegung der Software folgen. Und schließlichmuss die Sicherheit von Computern und Netzen zu einemeuropäischen Thema ersten Ranges gemacht werden.
Ich gebe dem Kolle-
gen Matthias Berninger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bisher hatte,so finde ich, diese Debatte einen sehr guten Zug; denn wirhatten eine sehr breite Einigkeit darüber, dass es sich so-wohl bei diesem Virus als auch bei anderen Viren, die dieSicherheit im Netz gefährden, um ein Problem handelt,für das wir alle gemeinsam nach Lösungen suchen müs-sen und bei dem wir schlecht in Schuldzuweisungen ver-fallen können. Der Kollege Mayer ist da einen etwas an-deren Weg gegangen. Das bedaure ich ein bisschen, zumaler sich nach der Erledigung seiner Hausaufgaben fragenlassen muss.Ich halte das, was Sie zum Thema Monopolbildungund Quellcodes und über Microsoft gesagt haben, für sehrlöblich. Nun muss man wissen, dass das Thema Microsoftinsbesondere von der Bayerischen Staatskanzlei beson-ders nett behandelt wird. Es gibt nämlich keinen Minis-terpräsidenten, der so am Monopolisten hängt wie Minis-terpräsident Stoiber.
Das ist ein Problem, über das man hier auch einmal offenreden muss.
Wir reden auch von der Neuordnung der Forschungs-landschaft. Sie haben gesagt, dass die GMD zerschlagenwerden soll. Damit betreiben Sie natürlich Panikmache;denn darum geht es gar nicht. Es geht darum, im Bereichder neuen Medien effiziente Forschungsstrukturen zuschaffen. Durch die Zusammenlegung von Fraunhofer-Gesellschaft und GMD erhalten wir die größte For-schungseinrichtung im Bereich der Informationstechno-logie in ganz Europa.
Ich halte das für einen guten Weg. Inhaltlich ist das auchvon Ihrer Fraktion bisher nicht kritisiert worden.Herr Kollege Mayer, damit wir uns wieder vertragen:Sie haben einen wichtigen Punkt angesprochen, nämlichdie Tagung der Staats- und Regierungschefs der EU inLissabon, wo mit dem Thema „E-Europe“ ein wichtigerSchritt nach vorne erreicht worden ist. Die Staats- und Re-gierungschefs haben nämlich erklärt, dass ihnen dies sehrwichtig ist. Dabei war vor allen Dingen von E-Commerceund Zugang die Rede;
die Sicherheit spielte für alle Beteiligten nicht die ent-scheidende Rolle.
Der Kollege Otto hat es angesprochen: Der „I loveyou“-Virus kann eine heilsame Funktion haben, nämlichinsoweit, als man nicht in Euphorie verfällt, sondern dasThema Sicherheit ganz weit nach vorn schiebt und nichtnur krude über Inhalte redet. Wenn bisher über Sicherheitgeredet wurde, wurde vor allem darüber geredet, welcheInhalte im Netz verbreitet werden; es wurde weniger überdiese Form der systematischen Gefährdung gesprochen.
Ich denke, das wird sich ändern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher halten sichsolche Gefährdungen noch in einem einigermaßen erträg-lichen Rahmen. Die Zahl, die für den Schaden genanntwurde, 10 Milliarden DM, hängt natürlich auch damit zu-sammen, dass in den wirtschaftlichen Schaden sehr vieledas Wachstum bremsende Effekte eingerechnet werden.Ich bin froh darüber, dass die Schäden bisher nicht dasAusmaß zum Beispiel von Naturkatastrophen haben, beidenen die Leute ihre Häuser und Ähnliches verlieren. Daskann zumindest ein wenig beruhigen. Insofern sollte mandie Schadenssummen auch relativieren.Nur, wir sind auf dem Weg dorthin, dass die Medienmiteinander verschmelzen. UMTS ist ein wichtiges Stich-wort. Alle reden davon, dass die Bundesrepublik Deutsch-land dadurch bald sehr viel Geld einnehmen kann.
UMTS steht auch dafür, dass die Medien, verschiedeneAnwendungen, etwa Internet und Handy – wahrschein-lich wird sogar bald der Kühlschrank versuchen, mit mirzu sprechen –, miteinander verschmelzen werden. In demMoment, in dem das passiert, werden die Anfälligkeit unddas Risiko erst richtig groß. Das unterstreicht eines: Die
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Dr. Martin Mayer
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Politik hat mehrere Aufgaben. Die Politik hat die Auf-gabe, den Zugang zu sichern.
Hier tut die Bundesregierung sehr viel; auch die Telekomund andere Unternehmen sind bereit, hier etwas zu tun.Ich bin der Meinung, dass man nicht auf einen Monopo-listen setzen darf, sondern auch den anderen eine Chancegeben sollte.Wir entwickeln Programme und Lernsoftware, damitdie Menschen lernen, mit dieser Technologie umzugehen.Dort stecken wir auch sehr viel Geld hinein. Das heißt,beim Thema Zugang sind wir aktiv.Der zweite Punkt ist die Sicherheit. Der Innenministerkann ebenso wenig wie irgendein anderes Kabinettsmit-glied sagen: „Ich kann allein für die Sicherheit sorgen“,sondern das ist ein globales Problem. Die Europäer müs-sen sich gemeinsam hinsetzen
und dürfen nicht den Amerikanern allein die Form der Si-cherheitsphilosophie und der Standardsetzung überlassen.Denn anhand der Frage, welche Wege wir bei der Sicher-heit gehen, entscheidet sich auch, wie das Internet vonmorgen aussehen wird. Ich erwarte hier, dass die Europäermehr machen. In Lissabon ist in dieser Frage zu wenig ge-schehen; das muss man einfach auch einmal sagen.
Das kann man aber nicht einer Regierung vorwerfen.
Ein dritter Punkt betrifft die Vielfalt. Sie alle habeneine Einladung zu einer Tagung bekommen, auf der dannwieder der Monopolist in diesem Fall mit den Beamtengemeinsam über das Thema Neue Medien diskutiert,während die anderen Anbieter in den Hintergrund geraten.Ich wünsche mir, dass gerade die öffentliche Hand mitgutem Beispiel vorangeht. Wir haben andere Möglichkei-ten; wir können auf andere Produkte setzen. Das solltenwir tun. Die Bundesregierung sollte auf europäischerEbene darauf drängen, dass Microsoft aus den gleichenGründen wie in den Vereinigten Staaten kartellrechtlichbehandelt wird. Das ist dringend nötig, wenn man fürVielfalt sorgen will.Bei all diesen Themen können wir, denke ich, im Kon-sens vorankommen; wir wissen, dass da etwas passierenmuss.Zu guter Letzt: Es gibt keine totale Sicherheit im In-ternet. Der Staat kann unheimlich viel tun und er sollteauch etwas tun. Aber diejenigen, die die E-Mails aufma-chen, tragen die Hauptverantwortung. Es hat jemand, ausmeiner Sicht zu Recht, gesagt: Wenn man eine E-Mailaufmacht, die unbekannt ist, dann ist das genauso, alswürde man ein dreckiges Bonbon von der Straße aufhe-ben und weiter lutschen. Nur, das Tückische ist eben, dassoft der Absender nicht unbekannt ist, sondern sich mitdem Absender irgendein bekannter Name verbindet. DieMenschen selber müssen die Verantwortung übernehmen.Hier gilt es, Aufklärung voranzutreiben, aber hier gilt esvor allem, die Unternehmen zu verpflichten, dass sie inihren Programmen entsprechende Warnroutinen ein-bauen. Auch hier, denke ich, muss einiges getan werden.Insgesamt glaube ich wie der Kollege Otto, dass der„I love you“-Virus letzten Endes heilsam sein kann unddas Immunsystem des Internet am Ende durch die Ge-genmaßnahmen gestärkt wird, wenn sie schnell und kon-zertiert auf allen Ebenen ergriffen werden.Vielen Dank.
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun der Kollege Dieter Wiefelspütz.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich begrüße sehr, dass wirheute die Gelegenheit haben, über ein sehr ernsthaftesProblem zu reden. Ich habe mich gerade noch einmal mitunserem Oberexperten, Herrn Tauss, verständigt, ob denndie durch das neuerliche Virus entstandene Schadens-summe von 10 Milliarden DM realistisch ist. Ich denke,darüber sollte man auch gar nicht streiten. Vielmehr mussman erkennen, dass es sich um eine ganz ernsthafte He-rausforderung handelt.Ich hoffe, wir begreifen alle diese Zeichen an derWand. Das Internet ist eine Innovation, deren Stellenwertwir in seiner ganzen Tragweite eigentlich nicht wirklichermessen können. Vergleiche hinken immer; aber es ist si-cherlich so wichtig wie vor 500 Jahren die Einführung derBuchdruckerkunst – eine völlig neue Kulturtechnik, dieuns alle ergreift und menschlich verändert, ein riesigerBeitrag zur Ökonomie, ein Geschäft mit Folgen, die wiralle noch gar nicht richtig abschätzen können.Es gibt große Chancen, aber auch Risiken. Wir redenheute weniger über die Chancen als vielmehr über die Ri-siken. Die sind sehr ernst. Ich denke, wir sollten diesen„I love you“-Virus als letzte Mahnung begreifen, dass wirnicht tatenlos zusehen dürfen, was sich neben den Chan-cen an Risiken entwickelt.Wir werden heute auch den einen oder anderen Beitragzu Computerkriminalität, zu Internetkriminalität hören.Ich will das überhaupt nicht gering schätzen, was hier anStraftaten begangen worden ist, und bin natürlich ent-schieden dafür, dass wir Lücken – insbesondere im inter-nationalen Strafrecht – schließen. Ich glaube, auf nationa-ler Ebene ist das im Wesentlichen alles in Ordnung; da ha-ben wir keinen Nachholbedarf.Aber ich muss Ihnen ganz freimütig sagen: Es interes-siert mich nicht so sehr – ich bitte, das nicht misszuver-stehen –, in Manila oder sonst wo auf der Welt jemandenals Hacker zu entlarven und ihn zu bestrafen, auch nicht
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Matthias Berninger9550
bei einer Schadenssumme von 10 Milliarden DM. Michinteressiert, dass Sicherheit im Netz geschaffen wird,
dass der Verbraucher nachhaltig geschützt ist. Da will ichIhnen deutlich sagen: Die Bundesregierung verdient Un-terstützung dabei, diesen Weg konsequent weiter zu be-schreiten.
Herr Otto, hören Sie mir bitte zu!
Es geht doch letzten Endes darum, dass nicht der Staatdiese Sicherheit zu schaffen hat,
sondern das eine Bringschuld der Wirtschaft ist. Sie mussdas Netz sicher machen.
– Sicherlich, Herr Mayer, nicht ganz alleine. Insofern gibtes die politische Verantwortung. Aber die Bundesregie-rung ist dieser Herausforderung nicht nur gewachsen,sondern kommt ihr auch nach.Trotzdem: Der Akzent liegt auf der Wirtschaft. Dieje-nigen, die mit dem Internet große Geschäfte machen – dassollen sie ja auch tun –, sollen bitte auch die Technik, diesie anwenden und einbringen, sicher machen.
Wer ein Auto in Verkehr bringt, muss es sicher machen.Das richtet sich nicht an die Justizministerin und den In-nenminister, sondern an den Produzenten.
Ich will auch überhaupt niemanden vorführen. Ich möchte,Herr Otto, dass dort Geschäfte gemacht werden. – Ich redegerade mit Ihnen, Herr Otto.
– Ich kommuniziere mit Ihnen und anderen.Es geht darum zu sehen: Wer muss wo Verantwortungwahrnehmen? Ich sage: Es gibt eine Bringschuld derWirtschaft. Das ist keine Frage von neuen oder schärferenGesetzen. Ich bitte darum, dass die Bundesregierung wei-ter den Weg verfolgt, sich mit der Wirtschaft zusammen-zusetzen. Nach Möglichkeit sollte dies freiwillig gesche-hen; wenn es nicht geht, national wie international auchper Gesetz. Aber ich hoffe, es geht im Rahmen von Ver-einbarungen.Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen, das sehrkühn klingen mag – Vergleiche hinken immer; ich bittealso um Nachsicht, wenn sich das nicht gleich auf Anhieberschließt –: Wir haben vor Jahren besonders große Pro-bleme mit dem Autodiebstahl gehabt. Was haben wir ge-macht? Aus der Opposition heraus haben wir unter ande-rem Wegfahrsperren veranlasst
– die Koalition hat das mit aufgegriffen – und die Indu-strie hat das trotz einiger Probleme umgesetzt. So sindtechnologische Entwicklungen ermöglicht worden. Wennich heute mit meinem Auto losfahren will, tippe ich vierZahlen ein und dann – aber auch erst dann – geht es los.Anhand dieses simplen Beispiels müssen wir uns docheinmal überlegen, wie auch im Bereich der Computer-technik, der Internetwirtschaft die Systeme sicher werdenkönnen. Die Wirtschaft muss ein sicheres Betriebssystemanbieten. Es wird niemals 150-prozentige Sicherheit ge-ben. Aber es gibt eine 98-prozentige Sicherheit. Das mussdie Wirtschaft leisten, insbesondere diejenigen – wir wis-sen alle worum es geht –, die einen großen Marktanteil ha-ben. Diese müssen in Zukunft wesentlich stärker auf Si-cherheitsstandards achten. Es geht nicht in erster Linie umFragen von Strafbarkeit, sondern es wird in Zukunft da-rum gehen, dass ganze Teilbereiche unseres gesellschaft-lichen Lebens durch solche Attacken auf Rechner mögli-cherweise lahm gelegt werden können.
Herr Kollege
Wiefelspütz, ich muss Sie an die Zeit erinnern.
Ich komme sofort zum
Ende. – Es geht darum, die Wirtschaft aufzufordern –
durchaus mit einer gewissen Führung der Politik –, die
Sicherheit des internationalen Datennetzes zu gewähr-
leisten. Das ist eine Bringschuld der Wirtschaft. Diese
einzufordern werden wir nicht müde werden. Das sind
leistbare Dinge, übrigens auch im Interesse der Wirtschaft
und durchaus mit der Möglichkeit verbunden, weitere
Technologien zu entwickeln. Das ist eine Riesenchance
im Interesse aller Verbraucher und aller Bürger.
Herzlichen Dank.
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht der Kollege Elmar Müller.
Meine sehrverehrten Damen und Herren! In meinem Alter bekommtman nicht mehr viele Liebesbriefe.
Ich bin auch nicht sicher, was ich gemacht hätte, wenn icheine E-Mail mit dieser Überschrift erhalten hätte.
Wir unterhalten uns heute über Viren im Internet. Wir tunaber gut daran, hier die ganze Bandbreite der Möglich-keiten, die wir durch das Internet erreichen können, zubetrachten. Es geht dort nicht nur um Viren.
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DieterWiefelspütz9551
Wir haben Gelegenheit gehabt, uns über Hackertätig-keiten zu unterhalten. Wir sehen und erleben die Mög-lichkeiten, Systeme, vor allem im Zusammenhang mit derSpionage, auch im sozialen Bereich zu verändern. Manstelle sich vor, was passieren würde, wenn Hacker ein So-zialsystem in der Bundesrepublik Deutschland manipu-lieren würden. Dies wäre möglich und kann nicht ausge-schlossen werden. Man stelle sich vor, was passierenwürde, wenn Verkehrssysteme manipuliert würden, wo-durch der Deutsche nicht mehr die Möglichkeit hätte, aufkontrollierte und geordnete Ampelfunktionen zurückzu-greifen. All diese Dinge müssen betrachtet werden. Kei-ner hat die Möglichkeit, Schuldzuweisungen zu verteilen.Das ist eine Entwicklung, bei der wir in der Tat alle ge-fordert sind, vor allem die Regierung.
Frau Vogt hat vorhin gesagt, von der alten Regierungseien diese Fragen vernachlässigt worden. Ich erlebe je-doch, dass die Ministerien gerade jetzt besonders aktivwerden. Der Wirtschaftsminister lädt am Montag aus die-sem Anlass Verbände und Wissenschaft ein und auch derInnenminister ist in dieser Sache tätig. Wenn das Problemim Oktober 1998 schon erkannt worden wäre, hätte mandie Diskussion damals geführt. Aber es benötigt diesenkonkreten Anlass. Sicherlich kann man nicht behaupten,dass die Probleme durch die Mikroelektronik und die glo-bale Vernetzung geringer geworden wären. Sie weitensich vielmehr im Grunde genommen jeden Tag aus undkeiner ist vor diesen Angriffen gefeit.Die klassischen Verteidigungsmethoden der Auf-klärung und Frühwarnung funktionieren in diesem Sys-tem nicht. Der Vorwurf, den ich der Regierung mache –das ist etwas, was die damals zuständigen Postpolitiker,auf Ihrer Seite der Kollege Bury, 1998 erkannt und sichauch gegenseitig versprochen haben –, besteht darin, dasssie damals gesagt hat: Es muss gelingen, die Verant-wortlichkeiten in diesem Bereich zusammenzuführen,egal, welche Regierung nach dem September 1998 tätigist. Es hat sich aber leider nichts geändert. Es gibt Zu-ständigkeiten im Innen-, Wirtschafts-, Verkehrs- undWissenschaftsministerium. Es ist eine wichtige Aufgabe,die Dinge mehr zusammenzuführen und zu bündeln sowiedie Verantwortlichkeiten nicht durch dezentrale Zustän-digkeiten, sondern durch eine gebündelte Zuständigkeitzu ordnen. Die Gefahren werden, wie wir gesehen haben,immer größer.Die Aufgaben müssen also gebündelt werden.Welcher politischer Handlungsbedarf besteht nun? DerKollege Mayer und meine Kollegin Bonitz haben schoneiniges genannt. Die politischen Rahmenbedingungen müs-sen geschaffen werden. Man mag über Microsoft schimp-fen, wie man will, aber am Ende muss schon als eines derZiele genannt werden, dass wir gewisse Standards erhal-ten. Dazu haben wir auch auf europäischer Ebene durch-aus Möglichkeiten. Die ECI in Nizza ist eine dieserEinrichtungen, in denen staatliche und wirtschaftlicheOrganisationen seit vielen Jahren erfolgreich bei der Stan-dardisierung zusammenarbeiten. Das zeigt, dass Standar-disierung auch in diesem Bereich möglich ist.Der Aufbau so genannter redundanter und robusterTeilstrukturen, die auch bestimme Bereiche des Staates,der staatlichen Vorsorge und der staatlichen Organisationschützen, muss möglich sein. Es muss möglich sein, dassbestimmte Dinge auch im Notfall – es ist nicht ausge-schlossen, dass ein solcher in größerem Umfang eintritt –und anschließend funktionieren und funktionsfähig blei-ben. So muss zum Beispiel die Integration der gesetzli-chen Daten- und Informationssicherheit in den Schutz deröffentlichen Energie- , Rohstoff- und Güterversorgung,des Transports und Verkehrs sowie des Katastrophen-schutzes geregelt sein. Diese Teilbereiche müssen notfallsauch durch Zweitsysteme gesichert werden.Wir brauchen ein internationales Regelungsregime.Das wurde bereits angesprochen. Dies ist notwendig.Dazu zählen sicherlich auch die Treffen der europäischenRegierungschefs. Aber daran sollten alle beteiligt sein,und zwar jeder in seinem Bereich. Am Schluss – das mussauch noch einmal festgehalten werden; Herr KollegeWilhelm, Sie haben es vorhin genannt – ist dann auch je-der Einzelne verantwortlich. Darauf muss man in diesemZusammenhang auch hinweisen.
– Er muss in die Lage versetzt werden. Aber er muss auchseine eigene Verantwortung hinsichtlich der Anreize imInternet erkennen. Er muss sich in seinem eigenen Inte-resse in der Nutzung des Internet üben und notfalls selbstzum Beispiel die Gefahren beim Öffnen einer E-Mail er-kennen und diese abwehren.Ich bedanke mich herzlich.
Ich gebe dem Parla-
mentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für
Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf, das Wort.
S
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den 60er-Jahren hates einmal folgenden Satz gegeben: „Trau keinem über30!“ Manche werden sich an diesen Satz noch erinnern.
– Ja, da hinten erkenne ich einen.Das Internet ist jetzt 30 Jahre alt. Am Anfang war essehr stark Pentagon-orientiert, und dann konzentrierte essich auf die Hardware. Danach kam die Phase der Soft-ware. Dann kamen die Betriebssysteme, und jetzt kom-men wir in eine neue Phase, die sich mit Inhalten, mit„content“, beschäftigt. Das Internet hat sich sehr starkverbreitet. Es ist zu einer der wichtigsten Infrastrukturender digitalen Ökonomie geworden. Natürlich gibt es da-bei auch kritische Infrastrukturen. Es gibt Achillesfersen.Es gibt Bereiche, die empfindlich sind. Es gibt in einersolchen globalen Weltwirtschaft, in einer solchen globa-
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Elmar Müller
9552
len Infrastruktur vor allen Dingen auch den Bedarf – dasist ganz klar zu erkennen –, dass die Regeln gelten, die wiruns in einem rechtsstaatlichen historischen Prozess selbererarbeitet haben.Bis in die 80er-Jahre hinein gab es eine ganze Reihevon Freaks – hier denke ich etwa an John Perry Barlowoder andere –, die die These vertreten haben: Der Cyber-space ist ein neues Hoheitsgebiet; darin hat der Staatnichts zu suchen. Diese These ist natürlich grundfalsch.Das ist völlig klar. Bei der Verbreitung und dem Einsatzdes Internets muss online das Gleiche gelten wie offline.Deswegen sind wir dabei, auf vielen Sektoren entspre-chende Gesetzesanpassungen vorzunehmen, Novellie-rungen zu machen und auch neue Rahmen zu finden.Wenn wir mit dem Netz einen globalen Infrastrukturrah-men haben, braucht man dazu auch einen entsprechendenOrdnungsrahmen.Das ist übrigens der Punkt, bei dem wir – Herr Mayerweiß das sehr genau aus der Arbeit der Enquete-Kommis-sion – erheblich vorangekommen sind. Das muss man klarsagen. Ich kann mich noch gut an die Diskussionen in denletzten Jahren erinnern. Damals hieß der InnenministerKanther. Wir hatten einen heftigen Streit, weil HerrKanther auf gar keinen Fall eine Verschlüsselung erlaubenwollte und gesagt hat: Wenn Verschlüsselung, dann nurmit der Hinterlegung des Schlüssels, denn sonst könnendas auch die Kriminellen nutzen.
Ich meine, es gab da eine sehr interessante Diskussion,eine sehr interessante Front. Ich habe auch damals immergesagt: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass irgendeinKrimineller bei Ihnen, Herr Kanther, einen Schlüssel hin-terlegt.
– Das hat er nicht verstanden. Das waren irgendwie alteAntworten.
Nun, das war die Zeit, als wir noch nicht wussten, dasser sehr viel mit Liechtenstein zu tun hatte. Es war aber of-fensichtlich so, dass die Frage nicht verstanden wurde.Man gab alte Antworten auf neue Herausforderungen, aufneue Probleme, und das dürfen wir nicht tun, wobei die-jenigen, die Fachkundigen, die heute hier geredet haben,das natürlich genau wissen. Deshalb müssen wir neueAntworten finden.Es gibt folgende neue Antworten:Erstens. Wir brauchen konkrete Schritte der Umset-zung auch im Ordnungsrahmen. Ich teile übrigens dieAuffassung von Herrn Wiefelspütz. Es ist zunächst dieWirtschaft gefordert. Übrigens, Herr Wiefelspütz, dieWirtschaft hat ein elementares Interesse daran, denn siemöchte ja, dass das verbreitet wird. Deshalb ist auch imMoment in Redmond, da, wo Microsoft zu Hause ist, dieNervosität eindeutig am größten.
– Ja, zu Recht, denn die wissen ganz genau, worum esgeht. Jetzt werden sie ein neues Angebot machen. Es gibtschon ein neues Windows-Konzept, ME, an dem sie ar-beiten.Daran sieht man aber nur, dass das richtig ist: Die Wirt-schaft ist gefordert, den Konsumenten, den Verbrauchern,denjenigen, die diese Systeme nutzen, auch handhabbareund vernünftige Systeme anzubieten. Das ist eine ganzklare Forderung.
Zweitens. Es ist auch ganz klar, dass natürlich zu die-ser Form von Gesellschaft, die wir Informations- oderWissensgesellschaft nennen, auch ein aufgeklärter Bür-ger, ein informierter, ein medienkompetenter Bürgergehört, der mit diesen Systemen umgehen kann. Das istganz wichtig.Wer glaubt, dass Informationsgesellschaft schon auto-matisch mit informierter Gesellschaft gleichzusetzen ist,der irrt sich. Wir brauchen schon Medienkompetenz; wirbrauchen – übrigens noch darüber hinausgehend – auchso etwas wie eine umfassende Bildung, um mit solchenMedien umgehen zu können, denn wir leiden ja nicht un-ter dem schwierigen Problem des Zugangs zu Informatio-nen. Das war früher einmal ein Problem; heute leiden wirdarunter, dass es einen Überfluss an Informationen gibt,weshalb wir die Informationen einordnen und bewertenmüssen.Drittens. Es ist klar, wir brauchen einen Ordnungsrah-men, der den Staat handlungsfähig macht.Wir haben übrigens in unserer Regierungszeit, unmit-telbar nach deren Beginn, in einem schwierigen Diskus-sionsprozess für Europa eine digitale Signaturrichtliniezustande gebracht, eine wichtige Voraussetzung für denErfolg des Internet. Das war nicht einfach, weil die Süd-länder andere Ordnungsvorstellungen haben als die Skan-dinavier, die sehr angelsächsisch orientiert und auch sehrviel weiter waren. Wir haben einen Kompromiss für einedigitale Signatur in Europa insgesamt gefunden.Wir haben einen sehr schnellen Prozess mit dem Bun-desinnenminister organisiert, um Eckpunkte für Krypto-graphie zu verabschieden. Wenige Monate nach dem Re-gierungsantritt ist das ins Kabinett eingebracht worden.
Damit ist klar geworden, dass wir nicht den Weg der Ame-rikaner – und, wie ich eben geschildert habe, des alten In-nenministers – gehen, sondern wir wollten Spielregeln ha-ben, wir wollten Kryptographie zulassen, und das hat dieBundesregierung unmittelbar danach gemacht.
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Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf9553
– Ja, es gab diese Eckpunkte noch nicht, Herr Otto.
– Nein, nein, das war genau der kontroverse Punkt. HerrOtto, das war der Punkt, den ich eben geschildert habe.Es gab in der alten Koalition so unterschiedliche Auf-fassungen, dass man sich gelähmt und nicht gehandelt hat.Es gab Wirtschaftspolitiker, die unsere Auffassung teilten.Die gab es, aber sie haben sich nicht durchsetzen können.Wir haben uns jetzt durchgesetzt, wir haben jetzt konkreteEntscheidungen getroffen.
– Kohl hat immer gehandelt, höre ich jetzt gerade. WissenSie, ich denke jetzt immer an Frau Merkel. Sie hat ja einschweres Amt übernommen, und mir kommt das so vor,
als wenn Frau Merkel – sie ist jetzt neue Vorsitzende –,die jetzt auch pausenlos Love-Letters aus der CDU be-kommt und von allen angestrahlt wird,
damit gleichzeitig wie durch diesen „I love you“-Virus er-stickt wird. Ich weiß gar nicht, wie sie da herauskommenwill. Das wird eine interessante Frage sein,
wie die neue Vorsitzende damit umgehen will.Es gibt also den dritten Punkt, liebe Kolleginnen undKollegen, und das ist der Ordnungsrahmen, den wir natür-lich auch brauchen.
– Es ist ein „I love you“-Virus in der CDU ausgebrochen,und jeder, der das aufmacht, erstickt dann daran.Wir haben da natürlich auch konkrete Schritte un-ternommen. Wir haben übrigens – Herr Mayer weiß dasnoch – in der Enquete-Kommission auch über die Frageder Internetkompetenz der Strafverfolgungsbehörden ge-redet. Auch hier gibt es in den Ländern – das sage ich ganzklar dazu –, aber auch beim Bund große Anstrengungen,überhaupt einmal die Internetkompetenz herzustellen.Denn wie sollen die Strafverfolgungsbehörden überhauptauf diesem Sektor agieren, wenn sie selber mit dem Me-dium gar nicht arbeiten? Da gibt es große Anstrengungen,auch des Bundesinnenministeriums, etwa in Bezug aufdas BKA. Dort gibt es wichtige Fortschritte. Wenn wir alldas machen und die Richtlinie zur Datensicherheit und dieE-Commerce-Richtlinie entsprechend umsetzen, kom-men wir ganz wesentlich voran.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen letz-ten Punkt ansprechen. Es wird immer gesagt: Das ist einso wichtiges Feld, dafür brauchen wir einen zentralenMinister, einen Internet-Minister.
Wer so etwas fordert, versteht von der Sache nichts. DasInternet ist das dezentralste Medium, das es jemals gege-ben hat. Darauf kann man nicht mit einem zentralenMinister antworten. Wir brauchen in allen Ressorts Fach-kompetenz, Spezialisten. Wir brauchen in allen RessortsKenner und müssen dann die Zusammenarbeit der Res-sorts organisieren. Nach meiner Meinung ist es eine völ-lig falsche Antwort, für ein dezentrales Medium eine neueZentrale schaffen zu wollen.
– Die ist klar geregelt. Deshalb gibt es auch klare Ent-scheidungen.Wir haben jetzt den Bedarf, in einer sich global ent-wickelnden Weltwirtschaft, die auf der Plattform der glo-balen Infrastruktur des Internets arbeiten wird, globaleStandards, globale Konventionen zu schaffen. Ich halte esfür absurd, zu meinen, wir könnten allein etwas tun undanzunehmen, damit sei es dann gerichtet. Nein, wir brau-chen die Partnerschaft der Wirtschaft. Deshalb machenwir Innovationspartnerschaften wie die Initiative D 21.Wir machen das Global Business Dialog Concept mit derWirtschaft zusammen. Wir brauchen Medienkompetenzbei den Bürgern. Wir brauchen eine aufgeklärte Gesell-schaft und einen handlungsfähigen, modernen Staat, derversucht, auf internationaler Ebene zu vernünftigen Kon-ventionen zu kommen. Dann kann man damit fertig wer-den.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Alfred Hartenbach.
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen!
– Norbert, wenn ich dir in einem Brief „I love you“schreiben würde, dann gäbe das einen gesellschaftlichenSkandal.
Ich will heute versuchen, mit konventionellen Mittelnauf virtuelle Fragen zu reagieren. Leider ist es so, verehrteKolleginnen und Kollegen, dass neue Medien die krimi-nelle Energie anreizen und herausfordern. Der „I loveyou“-Virus ist nicht der erste Virus dieser Art. Jeder hat inirgendeiner Art und Weise schon mit Viren in seinemComputer zu tun gehabt. Dies hat ganz offensichtlichauch die Opposition wach werden lassen, wie ich den Dis-kussionen entnehmen konnte. Wir sehen also, dass dieheutige Aktuelle Stunde ihre Berechtigung hat. Wir haben
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf9554
als erste Regierung reagiert und etwas getan, während dieVorgängerregierung bisher nichts getan hat,
denn sonst hätte man sicher bessere Mittel zur Gegenwehrfinden können. Wir sind die Ersten, die etwas unterneh-men.Die bestehenden Gesetze reichen eigentlich schon aus,zumindest was das Inland angeht, um Hacker, die Viren inUmlauf bringen
– das, was ich gleich sagen will, hat übrigens schon Kai-ser Wilhelm gemacht –, kräftig zur Kasse bitten zu kön-nen. Nach § 823 BGB können zivilrechtliche Forderun-gen geltend gemacht werden. Wir haben über die §§ 303,303 a und 303 b StGB die Möglichkeit, strafrechtlich zureagieren.Angesichts der negativen volkswirtschaftlichen Aus-wirkungen müssen wir natürlich auch im Vorfeld etwasunternehmen. Wir haben europaweit eine Arbeitsgruppe,die so genannte Cybercrime-Arbeitsgruppe, die im Ent-wurf einer Konvention vorsieht, die Strafbarkeit des un-befugten Zugangs zu Computersystemen zu verschärfen.Im deutschen Recht haben wir insoweit lediglich den§ 202 a StGB, mit dem das strafbare Sichverschaffen vonDaten geahndet wird. Der Schutzbereich dieser Normwird also möglicherweise auszuweiten sein. Ich denke,dass wir das in Angriff nehmen werden. Eine Erweiterungdes Schutzbereiches des § 303 b StGB, der die so ge-nannte Computersabotage betrifft, auf den Schutz priva-ter Computersysteme müssen wir überlegen.Es gibt eine Richtlinie des Europäischen Parlamentsund des Europäischen Rates über den rechtlichen Schutzvon Zugangskontrolldiensten vom 20. November 1998,mit der die gewerbliche Verbreitung von so genanntenCracking-Werkzeugen verhindert werden soll. Damitwerden nicht nur die Hacker als Endtäter, sondern auchdiejenigen, die aus kommerziellen Gründen derartigenTätern das Werkzeug, also die Programme oder die Hard-ware, liefern, unter die Strafdrohung des Gesetzes ge-stellt. Nun nutzt allerdings die beste Strafvorschrift we-nig, wenn der Täter nicht gefasst werden kann.
Das ist ungefähr genauso wie bei der Graffiti-Bekämp-fung.
– Es ist doch gut; wir wissen doch, wo er ist.Deswegen haben die Innenminister und die Justizmini-ster der G8-Staaten auf der Moskauer Konferenz 1999eine Arbeitsgruppe mit der Entwicklung von Maßnahmenzur besseren Lokalisierung und Identifizierung vonStraftätern im Internet beauftragt. Darauf hat auch unsereBundesregierung maßgeblich hingewirkt. Der Bundes-innenminister wird nachher in seinen Ausführungen nochdeutliche Hinweise auf den Ansatz der Bundesregierungin diesem Bereich geben.Lassen Sie mich zum Abschluss meiner fünfminütigenRede noch ein paar Worte zu denjenigen verlieren, diesich durch das Verursachen von Schäden durch Virenpro-gramme produzieren. Für einen rechtschaffenen Men-schen ist die geistige Haltung derer, die Schäden durch ei-nen Computervirus hervorrufen, schwer nachvollziehbar.So lässt der Name des „I love you“-Virus auf Schizophre-nie der Täter schließen, auf eine Verwirrung, auf die Un-fähigkeit, sich konstruktiv im Leben zu verhalten, und aufdie Negierung einer produktiven und positiven Teilnahmeam Wirtschaftsleben. Diese kriminelle Energie – genaudas ist der Punkt – könnte man auch anders einsetzen,nämlich positiv gestaltend.
– Dass Sie von Liebesbriefen nichts verstehen, habe ichgemerkt, als Sie eben geredet haben. Das möchte ich nuram Rande anmerken.Es ist für mich erschreckend, dass die Menschen, diesolche Computerschäden verursachen, auf alles, was po-sitiv und gut ist, mit Hass reagieren. Wir alle wissen, dasses sich hier um reine, blinde Zerstörungswut handelt. Ichmöchte ein solches Verhalten zwar politisch nicht überbe-werten, aber der Unterschied zu denjenigen, die mitSpringerstiefeln und Naziparolen durch die Gegend zie-hen, ist nicht sehr groß. Es gab einmal eine Zeit, in der inDeutschland Bücher verbrannt wurden. Nach meinerMeinung ist auch der Unterschied zwischen einer Bücher-verbrennung und der Zerstörung von geistigem Eigentumdurch Computerviren nicht sehr groß. Deswegen müssenwir ein solches Verhalten mit aller Macht verurteilen undes mit aller Macht zurückweisen.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Norbert Geis.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Das Internet ist seinerArt nach ein loser, nie ganz kontrollierbarer Verbund vonRechnern und seinemWesen nach auf Offenheit und Frei-heit angelegt. Dasmacht das Internet auch anfällig für sol-cheAttacken und Schädigungen, wie wir sie in den letztenMonaten erlebt haben. Deswegen müssen wir uns Gedan-ken darüber machen, wie wir solche Schädigungen ver-hindern können. Diese Frage – da gebe ich Ihnen Recht –betrifft sicherlich zunächst die Wirtschaft, insbesonderedie Techniker. Hier muss geforscht werden und hier müs-sen Wege gefunden werden, mit denen die Hilflosigkeitund die Schutzlosigkeit des Internets in irgendeiner Weiseverringert werden können. Es gibt ja schon Software, die
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Alfred Hartenbach9555
Schutz bietet, die es ermöglicht, dass solche Angriffe, wiewir sie jetzt erlebt haben, zum großen Teil abgeblocktwerden.Es müssen aber auch auf nationaler und internationalerEbene Regelungen vereinbart werden, mit denen sichdann, wenn die Technik so weit ist, die technischen Mög-lichkeiten des Schutzes umsetzen lassen. Hier sind dieBundesregierung und – zweifellos – auch das Parlamentgefordert. Wir müssen auch auf nationaler Ebene Rege-lungen erlassen und dürfen nicht achtlos beiseite stehen.Schließlich müssen die Computernutzer selber impräventiven Bereich besser als in der Vergangenheit in-formiert werden. Dies sollte wiederum durch die Herstel-ler, durch die Wirtschaft, durch den Staat und auch durchdie Schulen geschehen. Es muss möglich sein, dass sichdiejenigen Teile der Bevölkerung, die mit einem solchenKommunikationsmittel umgehen, besser schützen kön-nen. „I love you“ hätte nicht diesen riesigen Erfolg ge-habt, wenn es keine Nutzer gegeben hätte, die diese In-formation in ihrer Arglosigkeit aufgeschlüsselt hätten.Dieses Verhalten ist nach meiner Auffassung auf einenMangel an Unterrichtung zurückzuführen. Wir müssendafür sorgen, dass entsprechende Unterrichtungen derComputernutzer erfolgen.Ich teile die Bedenken derjenigen, die sagen, dass dasStrafrecht auf diesem Gebiet wenig wirksam ist. Bei unsgibt es allerdings im strafrechtlichen Bereich seit demZweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskrimina-lität aus dem Jahre 1986 entsprechende Regelungen. Vonder alten Regierung der Bundesrepublik Deutschland istsehr wohl und sehr frühzeitig erkannt worden, dass einKriminalitätsfeld entsteht, das entsprechend normiertwerden muss. Bei uns sind die Computerstraftaten durchdie §§ 202 a, 303 a und 303 b StGB tatbestandsmäßig er-fasst.
Auch § 316 e StGB kommt hier als einschlägige Straf-rechtsnorm in Betracht, lieber Herr Hartenbach, wenndurch die Beschädigung von Daten die Funktionsfähig-keit der Polizei oder der Feuerwehr beeinträchtigt wird.Der Versender dieses berühmten Briefes hat sich inDeutschland dadurch strafbar gemacht, dass er Schadenverursacht hat. Der Erfolg ist in Deutschland wie in vie-len anderen Ländern eingetreten. Der Täter kann inDeutschland nach §§ 303 a und 303 b StGB bestraft wer-den. Er müsste mit einem Strafrahmen von bis zu fünf Jah-ren Gefängnis rechnen.Ich meine, wir müssen uns angesichts der großen Be-drohung eines Teils unserer Freiheit – es geht um dieMöglichkeit, über die Kontinente hinweg in Kontakt zutreten und zu kommunizieren – und angesichts des Scha-dens, der durch die Attacken über das Internet verursachtwerden kann, Gedanken darüber machen, ob wir denStrafrahmen nicht höher ansetzen als diejenigen, die diesegesetzliche Regelung 1986 getroffen haben.Ein weiterer Mangel unseres Strafrechts scheint mirdarin zu liegen, dass ein deutscher Täter, der eine solcheTat im Ausland begeht, dann nicht nach deutschem Rechtbestraft werden kann, wenn Tat und Taterfolg keinen Be-zug zum deutschen Inland haben. Diese Taten unterfallennicht dem Weltrechtsprinzip. § 5 StGB gilt also insoweitnicht. Deshalb ist durch eine entsprechende Gesetzesän-derung sicherzustellen, dass ein Deutscher in Deutschlandbestraft wird, auch wenn er seine Tat im Ausland began-gen hat und kein Bezug zu Deutschland besteht.Wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob nichtschon das bloße „Knacken“ von Computersystemen unterUmständen strafbar sein soll. Das sollte auch dann gelten,wenn kein Datenzugriff oder keine Datenzerstörung er-folgt. Dasselbe gilt für das Einbringen eines Virus in einsolches System, auch wenn dadurch kein Schaden ange-richtet wird.Es gibt also auch bei uns Anlass, über Verbesserungennachzudenken. Ich stimme all denen zu, die sagen, dasswir internationale Regelungen treffen müssen. Die Bun-desregierung ist hier zweifellos gefordert. Ich hoffe sehr,dass wir zu solchen Regelungen gelangen.Danke schön.
Das Wort hat der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Vogt hatgütigerweise auf mein fortgeschrittenes Lebensalter hin-gewiesen. Ich kann die Kollegin Vogt beruhigen: Auch imfortgeschrittenen Lebensalter gehe ich mit diesen moder-nen Kommunikations- und Informationsmedien um. Dastue ich, um nicht jegliche Autorität bei meinen Nachkom-men zu verlieren.Ich glaube schon, dass wir die Debatte nicht so führensollten – das sage ich gerade an die Adresse des KollegenDr. Mayer –, dass wir jetzt die großen Perspektiven undChancen, die mit diesen Medien verbunden sind, zerre-den. Das darf nicht geschehen!
Das, was an Informationsvermittlung, an Informati-onsgewinnung und an Steuerungsmöglichkeiten überdiese Medien für die Menschheit möglich geworden ist,eröffnet ungeahnte Dimensionen. Darauf sollten wir im-mer wieder hinweisen. Ich habe allerdings in meiner Ver-antwortung als Innenminister auch immer darauf hinge-wiesen, und zwar von Anfang an, Herr Kollege Dr. Mayer,dass wir nicht euphorisch werden sollten und dass wir denSicherheitsaspekt immer sehr ernst nehmen müssen.Wir haben das als Bundesregierung auch unter Beweisgestellt. Sie wissen, es gab einige apokalyptische Voraus-sagen, was das Jahr-2000-Problem angeht. Die gegen-wärtige Bundesregierung hat das gut bewältigt. Aller-dings muss ich Ihnen sagen: Die Vorbereitungen der altenBundesregierung – ich will das zurückhaltend ausdrück-en – waren etwas dürftig.
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Norbert Geis9556
Ich halte jedoch nichts davon, dass wir nun alle Fragenmiteinander vermischen. Frau Bonitz, bei Ihnen habe ichbeim besten Willen nicht erkennen können, dass Sie ir-gendwie eine Übersicht gewonnen hätten. Wir können na-türlich diese Debatte erweitern und darüber sprechen, waswir gegen die Übermittlung krimineller Inhalte über dasInternet tun. Diesbezüglich gibt es einige Ansätze. Das isteine schwierige Frage, weil man sich dabei in einen ge-wissen Gegensatz zum Schutz der Privatsphäre und derGeschäftsgeheimnisse begibt. Ich erinnere – Herr Mosdorfhat das auch angesprochen – an Kryptographien und Ähn-liches.Aber ich will das nicht vertiefen, zumal Sie da auch beider falschen Adresse waren. Zwar kümmert sich das Bun-deskriminalamt um diese Dinge, aber das dürfen Sie nichtmit der Tätigkeit des Bundesamtes für Sicherheit in derInformationstechnik vermengen.Ich glaube, wir sollten diese Aktuelle Stunde nutzen,um uns über die Frage zu unterhalten, die mit den Sicher-heitsaspekten im engeren Sinne zu tun hat: Welche An-griffsflächen ergeben sich aus einem so tief vernetztenSystem, wie wir es haben?
Das ist die eigentliche Frage, mit der wir uns heute zu be-schäftigen haben. Dabei darf man die Dinge nicht durch-einander bringen.Wir haben unterschiedliche Angriffsflächen. Es gibtden Versuch, den man gemeinhin mit den Hackern in Ver-bindung bringt, sich unbefugt Zugang zu Daten zu ver-schaffen. Das ist die eine Angriffsfläche.Wir haben eine andere Angriffsfläche, die man durch-aus auch mit Computersabotage in Verbindung bringenkann, dass man also eine bestimmte Website überlädt unddamit Denial of Service herbeiführt. Das war das, was unsim Februar beschäftigt hat. Übrigens war das der Anlassfür die Taskforce, die ich eingesetzt habe. Es war richtig,eine solche Taskforce einzusetzen und nicht erst lange zuwarten, ob irgendwelche Ressortabgrenzungen stattfin-den. Sie wissen, wie mühsam es ist, Ressortzuständigkei-ten zu überwinden. Nein, wir haben sofort gehandelt. Wirhaben die dafür notwendigen Maßnahmen ergriffen, dierichtigen Personen zusammengebracht und selbstver-ständlich auch – das sage ich Ihnen, Herr Otto – die Pri-vatwirtschaft einbezogen. Da haben Sie völlig Recht: Daskann der Staat nicht allein, das kann die Privatwirtschaftnicht allein. Das ist ein typischer Fall des Zusammenwir-kens des Staates und der privaten Industrie.Jetzt haben wir es mit einem Angriff zu tun, der si-cherlich Dimensionen hat, die außergewöhnlich sind. Ichteile die Auffassung aller, die hier zum Ausdruck gebrachthaben, dass das Strafrecht bei der Abwehr solcher An-griffe an allerletzter Stelle steht. Strafrechtsdrohungen ha-ben zwar auch präventiven Charakter, aber in diesem Fallwahrscheinlich nur in sehr geringerem Maße. Mich in diePsyche des Philippinos hineinzuversetzen, um festzustel-len, warum er nun mit der Gesellschaft entzweit ist – oderwas da sonst war – das soll mich heute nicht beschäftigen.Trotzdem müssen wir die strafrechtliche Seite angehen.Der Europarat ist damit beschäftigt. Ich will das nicht ver-tiefen.Der entscheidende Punkt ist die technische Prävention,
und zwar die softwaretechnische Prävention; auf siekommt es an.
Ich will das jetzt nicht alles wiederholen.Interessant ist, dass es bemerkenswerte Parallelen zurNatur gibt. Wir sprechen vom Virus. Wir haben von derMonokultur gehört. Herr Otto hat völlig zu Recht darübergesprochen. Ich gebe Herrn Otto vollständig Recht: Es istauch meine Auffassung – Herr Heil hat ebenfalls darübergesprochen –, dass Monokulturen für Viren besonders an-fällig sind. Das ist übrigens in der Natur genauso. DieWälder sind am ehesten dort zugrunde gegangen, wo sieMonokulturen waren. Mischwälder sind weniger anfälligfür Krankheiten. Das gilt übrigens auch für die Zusam-mensetzung der Gesellschaft. Das spricht für unser Staats-bürgerschaftsrecht.
Aber das nur am Rande. Ich denke, wir müssen in der Tatdafür sorgen, dass die Systeme so ausdifferenziert sind,dass die Krankheitsanfälligkeit, die Schadensanfälligkeitzumindest herabgesetzt wird.Nun haben wir es mit einem Sachverhalt zu tun, aufden wir im Moment noch keine Antwort haben. Diesbe-züglich hat aber auch die alte Bundesregierung – wir soll-ten uns da nichts einreden, lieber Kollege Dr. Mayer –nichts zustande gebracht. Es geht darum, dass wir nicht imVorhinein wissen, wie neue Viren beschaffen sind. Das istwie in der Medizin: Es treten immer wieder neue Virenauf. Deshalb kommt es zunächst einmal darauf an, mitdiesem Sachverhalt klarzukommen.
– Lassen Sie das doch! Ich habe Ihnen ja auch zugehört.Beinahe hätte ich Sie jetzt als „Herr Virus“ angesprochen.Das wäre aber nicht gerecht, Herr Dr. Mayer.Es lag auch hier der Sachverhalt vor, dass der Virusnicht bekannt war.
Wir konnten ihn auch mit den Virenschutzprogrammennicht sofort identifizieren. Es gab auch keine Vorwarnzeit –das ist ein Unterschied zu anderen Sachverhalten, bei de-nen es rechtzeitig eine Warnung gab –, weil der Viruszunächst in Deutschland aufgetreten ist.Ich möchte in diesem Zusammenhang der Arbeit mei-ner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der des Bun-desamtes für die Sicherheit in der InformationstechnikAnerkennung zollen. Das ist übrigens eine Einrichtung,
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Bundesminister Otto Schily9557
auf die wir stolz sein können, denn nicht alle Länder ha-ben so etwas.
Ich bin stolz darauf, dass ich deren Mittel gegen beste-hende Haushaltszwänge erhöht habe.Wir haben also sofort, kurz nach dem Auftreten diesesVirus, warnen können. Es hätten sich viele Schäden ver-meiden lassen können, wenn diese Warnungen ernst ge-nommen worden wären. Wir haben den Virus in kurzerZeit identifizieren und analysieren können. Bereits amfolgenden Tage haben wir eine Virusabwehr in die Scan-ner integriert. Das ist, wie ich glaube, eine gute Leistung.
Das letzte Wort in
dieser Aktuellen Stunde hat nunmehr für die SPD-Frak-
tion der Kollege Jörg Tauss.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Ich teile Ihnen jetzt mit, was ich zu sagen habe, lie-ber Kollege Otto. Zunächst einmal freuen wir uns, dasssich nach der Beschäftigung mit dem Jahr-2000-Problemder Deutsche Bundestag erneut mit Fragen der Datensi-cherheit bzw. – fachmännischer ausgedrückt – mit Fragender IT-Sicherheit beschäftigt. Wenn diese Debatte ein po-sitives Signal aussendet, dann auch deshalb, weil die Be-deutung der Themen Datenschutz und Datensicherheit inden Medien – in der Politik ohnehin – und im Bewusst-sein der einzelnen Nutzer angekommen ist.Die Situation war vor zwei, drei Jahren, als wir in derEnquete-Kommission zusammensaßen, völlig anders.Wir haben damals – lesen Sie einmal im Bericht nach, denwir damals in der Enquete-Kommission verabschiedet ha-ben – auf diese Probleme in ihrer gesamten Breite hinge-wiesen. Es haben sich leider nicht allzu viele dafür inter-essiert. Ein Journalist hat mir gesagt, das Thema sei nicht„sexy“ genug. Vielleicht bedurfte es des Virus mit demschönen Namen „I love you“, dass dieses Thema „sexy“geworden ist.Der „I love you“-Virus versetzte das globale Datennetzinnerhalb von 72 Stunden in Angst und Schrecken. Es gabMeldungen über Schäden in Höhe von 10Milliarden DM.Egal, wie hoch die Schäden sein mögen: Computer wur-den lahmgelegt.Was mich bedenklich stimmt – das ist auch in der De-batte zum Ausdruck gekommen –, ist, wie leicht es offen-bar war, die Sicherheitsvorkehrungen zu überlisten. Dasgilt erst recht, wenn man sich vor Augen führt – es ist janach der Motivation des Täters gefragt worden –, dass essich um einen jungen philippinischen Studenten handelt –wie dies der „Spiegel“ gestern berichtete –, dessen Haus-arbeit abgelehnt worden war. Die Hausarbeit war exaktder „I love you“-Letter. Frustration rechtfertigt diese Re-aktion des Studenten selbstverständlich nicht. Lieber Kol-lege Geis, aus Bayern kam fast schon reflexartig – Siekommen zwar nicht aus Bayern –
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Bundesminister Otto Schily9558
– Entschuldigung, aber dann passt mein Text jetzt genau –der Ruf nach schärferen Gesetzen.
– Sie haben ja schon einige Paragraphen genannt, HerrKollege Geis. Auch § 202 a des Strafgesetzbuches könnenwir in diesem Zusammenhang erwähnen. Wir habenschon Systeme, die gegen unberechtigten Zugang gesi-chert sind. Aber ich glaube, wir sollten im rechtlichen Be-reich eine sehr sachliche Debatte miteinander führen.Ich warne nur vor Hysterie. Hysterie war schon immerein schlechter Ratgeber gewesen. Wir sollten zunächst ein-mal evaluieren, was eigentlich passiert ist. Dann werdenwir feststellen, dass der Sicherheit in der Informations-technik eine Schlüsselrolle zukommt. Das ist heuteschon – völlig berechtigt – mehrfach gesagt worden.Eines fällt auf: Behörden und Verwaltungseinrichtun-gen, darunter die Bundesverwaltung, waren das Ziel die-ser Attacke. Der Bundesinnenminister hat zwar daraufhingewiesen, dass die Schäden erfreulicherweise geringwaren. Trotzdem ist die Situation ärgerlich. Es fällt außer-dem auf: Nur die Nutzer einer bestimmten Software – aufdiesen Punkt wurde schon hingewiesen – waren Ziel die-ses Angriffs. Diese Software hat es dem Virus aufgrundmangelnder standardmäßiger Sicherheitseinstellungenabsolut einfach gemacht. Es stellt sich aber das Problem,dass diese Software als Quasistandard für den Nutzerkaum zu umgehen ist. Er bekommt mit dem Kauf seinesComputers dieses Betriebssystem mitgeliefert. Damitsind wir bei dem Problem der Monokultur, um das Wort„Monopolstruktur“ zu vermeiden.Der Virus macht Folgendes deutlich: Man kann undmuss sich – das gilt für jeglichen Nutzer der neuen IuK-Technologien – gegen derartige Angriffe selbst schützen.Wäre das Bewusstsein für das Gefährdungspotenzial beiallen Nutzern vorhanden gewesen und wären die Sicher-heitseinstellungen, die es ja pikanterweise gibt, die aberstandardmäßig zum Teil ausgeschaltet waren, auf derhöchsten Stufe eingeschaltet gewesen, dann hätten dieSchäden nicht eintreten können.Man kann nicht oft genug davor warnen, unbekannteMails mit angehängten Daten einfach ungeprüft zu öffnen.Ich habe diese Mail nicht geöffnet, nicht nur wegen – einKollege hat es schon angesprochen – meines hohen Al-ters, sondern weil man misstrauisch sein muss, wenn imBereich des Bundestages eine Mail mit dem Titel„I love you“ ankommt. Ich zumindest war misstrauisch.Meinem Computer ist also nichts passiert.Ich denke, es würde sich lohnen, wenn wir uns mit demBericht der Enquete-Kommission beschäftigen. DieKommission stellte fest, dass im Bereich der Software dieBetriebssysteme eine Sonderstellung einnehmen. Es istnicht zu verantworten, dass in nahezu allen Bereichen Be-triebssysteme existieren, deren Quelltext nicht veröffent-licht wurde.
Es muss die Forderung an Microsoft sein, seine Politikan dieser Stelle zu ändern. Da sind wir uns, KollegeOtto, einig.
Ihr großer Vorkämpfer in Sachen Datensicherheit, HerrRexrodt, wollte noch zur Bekämpfung von KriminalitätEinbruchstellen schaffen. Ich nenne als Stichwort Tele-kommunikationsüberwachungsverordnung. Wir habendiese Initiative gestoppt und ein Gutachten erstellen las-sen. Ich glaube, wir sind uns jetzt in diesem Punkt einiger,als ich es damals mit dem Kollegen Rexrodt war.Es gibt übrigens auch weitere Probleme. Es gibt dieFragen: Können Geheimdienste eindringen? Können Po-lizeidienststellen eindringen? Wo sie eindringen können,können natürlich auch Hacker und Cracker eindringen,also auch diejenigen, die bösartig sind.Weil das rote Licht schon leuchtet, will ich nur noch sa-gen: Wir müssen uns auch in der Forschung mit dem Be-reich IT-Sicherheit nochmals ganz vehement beschäfti-gen. Herr Marschewski und Herr Zeitlmann haben hiervöllig falsche Signale gegeben mit dem Verbot krypto-graphischer Verfahren. Das hat sich schon durch denRegierungswechsel erledigt.Kollege Mayer, dass Sie uns die Zerschlagung der GMDvorwerfen, ist Unfug. Sie wissen das. Nachher debattierenwir darüber an dieser Stelle auch noch einmal. Nein, das Ge-genteil wird gemacht. Wir haben beim Fraunhofer-Institutbeispielsweise hervorragende Datensicherheitsexperten.
Herr Kollege, auch
das letzte Wort geht irgendwann zu Ende.
Ich bin bereits am Ende, Herr Prä-
sident. Lassen Sie mich den Satz kurz zu Ende führen. –
Die GMD, Herr Mayer, wird nicht zerschlagen. Das
Fraunhofer-Institut beschäftigt sich mit IT-Sicherheit, mit
elektronischer Sicherheit. Wir haben das Kompetenzzen-
trum „Cast“ in Darmstadt. Schauen Sie es sich doch ein-
mal an. Wir machen hier nichts kaputt, sondern ganz im
Gegenteil: Wir bündeln die Kompetenzen und aus dieser
Bündelung der Kompetenzen wird ein Mehr an Datensi-
cherheit in diesem Lande herauskommen. Das ist die Li-
nie, die diese Bundesregierung verfolgt, auch im For-
schungsbereich, und das ist die richtige.
Ich danke Ihnen.
Die Aktuelle Stundeist damit beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
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Jörg Tauss9559
zur Änderung von Vorschriften über die Tätig-keit der Steuerberater
– Drucksache 14/2667 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 14/3284 –Berichterstattung:Abgeordnete Lydia WestrichHansgeorg Hauser
Margareta Wolf
Carl-Ludwig ThieleHeidemarie EhlertEs liegen sieben Änderungsanträge der Fraktion derPDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächstder Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesfi-nanzminister, Dr. Barbara Hendricks.D
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Nach der schillernden internationalenWelt der Hacker und Cracker kommen wir jetzt zumbodenständigen nationalen Berufsrecht der Steuerberater.Vor dem Hintergrund zunehmender Internationalisierungmuss allerdings auch dieses Berufsrecht ab und an neuüberdacht werden.Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderungvon Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater fin-det ein langer und zum Teil kontroverser Diskussions-prozess ein vorläufiges Ende. Im Mittelpunkt diesesDiskussionsprozesses stand die Verteilung der Befugnissezur Steuerberatung, wobei Lohnsteuerhilfevereine undBuchhalter eine Ausweitung ihrer Befugnisse vehementforderten und die Steuerberater dies ebenso vehement ab-lehnten.Gestatten Sie mir, dass ich, bevor ich näher darauf ein-gehe, auf andere, im Ergebnis vielleicht ebenso wichtigeund vielleicht sogar zukunftsweisendere Änderungen imSteuerberatungsrecht hinweise.Das 7. Steuerberatungsänderungsgesetz enthält zahl-reiche materielle Regelungen, mit denen das Ziel verfolgtwird, das Steuerberatungsgesetz und die dazu ergangenenVerordnungen zu modernisieren und zu straffen. Nennenmöchte ich zunächst die Übertragung hoheitlicher Aufga-ben auf die Steuerberaterkammern. Hierzu gehören dieBestellung zum Steuerberater, die Anerkennung von Steu-erberatungsgesellschaften, deren Widerruf und derenRücknahme. Die Übertragung der Aufgaben erfolgt imKonsens mit dem Berufsstand und entspricht vergleich-baren Aufgabenverlagerungen bei Rechtsanwälten undWirtschaftsprüfern.Gleichzeitig wird den Steuerberaterkammern die Be-fugnis gegeben, die Gebühren für die Erfüllung der ihnenübertragenen Aufgaben nach dem Grundsatz der Kosten-deckung jeweils in einer Gebührenordnung festzulegen.Da die Gebührenordnungen jeweils der Genehmigung derzuständigen Aufsichtsbehörde bedürfen, ist sichergestellt,dass die Gebühren sich strikt an ebendiesem Prinzip ori-entieren.Eine weitere wichtige Neuerung stellt die Schaffungder Möglichkeit der Beteiligung einer Steuerberatungsge-sellschaft an einer anderen so genannten mehrstöckigenSteuerberatungsgesellschaft dar. Dies entspricht einerRegelung bei den Wirtschaftsprüfern und wird langfristigvielleicht den Markt stärker verändern als andere, heutemehr in der politischen Diskussion stehende Fragen desBerufsrechts. Mit der Einführung der Möglichkeit sogenannter mehrstöckiger Steuerberatungsgesellschaftenwurde im Übrigen einer Anregung des Berufsstandes ent-sprochen.Präzisiert werden die Regelungen zur Berufsausübung.Erstmals wird ein Überdenkungsverfahren bei Einwen-dungen gegen die Bewertung von Leistungen in der Steu-erberaterprüfung geregelt.Wichtig ist die Anpassung des nationalen Steuerbera-tungsrechts an das europäische Recht. Der Kreis derjeni-gen, die befugtermaßen geschäftsmäßig Hilfe in Steuersa-chen leisten dürfen, wird um Dienstleister in Steuersachenim Anwendungsbereich des Art. 50 des EG-Vertrages, alsogrenzüberschreitende Dienstleistungserbringung, erwei-tert. In Fällen, in denen tatsächlich keine grenzüberschrei-tende Dienstleistung erbracht wird, sondern ein deut-scher Staatsbürger Steuerberatung für Deutsche im deut-schen Steuerrecht mit Zielrichtung auf deutsche Behördenerbringt, ändert sich gegenüber heutigem Recht durchdie Neuregelung nichts. Wer bisher zu derartigen Hilfe-leistungen nicht befugt war, wird dies auch zukünftignicht sein.Im Übrigen können im Interesse des Verbraucher-schutzes zukünftig auch Personen zurückgewiesen wer-den, die erlaubterweise grenzüberschreitende Steuerbera-tung betreiben, jedoch fachlich nicht dazu fähig sind. Indie Abgabenordnung wurde dazu mit Billigung der EU-Kommission ein neuer Zurückweisungstatbestand einge-fügt, der im Interesse der Verbraucher an die fachlicheFähigkeit anknüpft.Die im Steuerberatungsgesetz und in der Verordnungzur Durchführung der Vorschriften für Steuerberater,Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaf-ten enthaltenen DM-Beträge werden ab 2002 im Verhält-nis 2:1 auf Euro umgestellt.Lassen Sie mich nun noch kurz auf die eingangs ange-sprochenen kontroversen Themen eingehen, die Frage derBeratungsbefugnisse von Lohnsteuerhilfevereinen undBuchhaltern bzw. Bilanzbuchhaltern. Das Ergebnis desDiskussionsprozesses sehe ich insgesamt als positiv an.Die Koalitionsfraktionen werden deshalb im Zusammen-hang mit der Abstimmung über das vorliegende Gesetzdem Bundestag einen Entschließungsantrag vorlegen, indem die Bundesregierung gebeten wird, unter anderem zuprüfen, ob und wie das berufliche Tätigkeitsfeld vongeprüften Bilanzbuchhaltern erweitert werden kann,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters9560
allerdings – das möchte ich hier ausdrücklich betonen –unter Berücksichtigung der Belange des Verbraucher-schutzes und eines fairen Wettbewerbs.Natürlich geht es bei der Frage der Beratungsbefug-nisse im Bereich der Steuerberatung um Marktanteile undEinkunftsmöglichkeiten. Wer sich weigert, über eine Li-beralisierung in diesem Bereich ernsthaft nachzudenken,kann sich nur dem Vorwurf aussetzen, in einem Teilbe-reich des Dienstleistungssektors den Status quo zementie-ren zu wollen. Die Bundesregierung kann sich jedochnicht an Partikularinteressen orientieren, sondern mussprüfen, was im Allgemeininteresse liegt.Der Entschließungsantrag macht deutlich, dass auchsensible Bereiche wie das Berufsrecht, hier der Steuerbe-rater, nicht grundsätzlich vor Veränderungen geschütztsind und genauso auf den Prüfstand der Zukunftstaug-lichkeit gehören wie andere gesellschaftliche Bereicheauch. Es muss möglich sein, über Reformen auch in die-sem Bereich ernsthaft weiter nachzudenken. Deshalb be-grüßt die Bundesregierung den vorgelegten Entschlie-ßungsantrag der Koalitionsfraktionen.Nun zu den Lohnsteuerhilfevereinen. Die Neurege-lung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereinesieht unter anderem vor, dass die Beratungsbefugnis desLohnsteuerhilfevereins nicht entfällt, wenn das Mitgliedneben seinen Einkünften aus nicht selbstständiger ArbeitEinnahmen aus anderen Einkunftsarten hat, solange diese Ein-nahmen insgesamt den Betrag von 18 000 bzw. 36 000 DMbei zusammen Veranlagten nicht übersteigen. Ich möchtebetonen, dass es sich bei den Einnahmen um reine Brut-tobeträge handelt, bei denen es grundsätzlich nicht zu Sal-dierungen kommt. Generell hält die Bundesregierung dieNeuregelung für notwendig, weil das bisher geltende Ge-setz insoweit sprachlich unklar gefasst ist. Dies hat zu Un-terschieden in der Rechtsanwendung in den verschiede-nen Bundesländern geführt, was im Interesse aller Be-troffenen nicht hinnehmbar ist. Der heutige Umfang derBeratungsbefugnis wird bei der Neufassung maßvoll er-weitert und deutlich klarer definiert.
– Frau Hasselfeldt, wir haben das doch alles schon bera-ten. Sie verstehen das sicher auch im Schnelldurchgang.Ich glaube, dass sich die gegen die Neuregelung vor-gebrachten Bedenken hinsichtlich der Kompetenz derLohnsteuerhilfevereine in der Praxis als unbegründet er-weisen, was die Finanzverwaltung allerdings genau beob-achten wird. Personen, bei denen komplizierte steuerlicheSachverhalte zu würdigen sind, gehören meines Wissensnicht zu den typischen Mitgliedern eines Lohnsteuerhil-fevereins. Dies dürfte sich auch in Zukunft nicht ändern.Deshalb meine ich, dass alle Betroffenen in der Praxis mitder gefundenen Regelung leben können.Zu den Buchhaltern und Bilanzbuchhaltern. Die Frageeiner Erweiterung der Beratungsbefugnisse für die ge-nannten Personen wird seit langem auf fachlicher und po-litischer Ebene kontrovers diskutiert. Nach Auffassungder Bundesregierung bedarf die Frage einer Befugnis-erweiterung für die genannten Personen einer näherenund intensiveren Prüfung, als sie im Rahmen des lau-fenden Gesetzgebungsverfahrens zu leisten war. Geradeim Interesse der Verbraucher, die Anspruch auf eine fach-kundige Beratung haben, muss gewährleistet sein, dassBerater, auch wenn sie nur in einem relativ kleinen Aus-schnitt des Steuerrechts beraten, nachgewiesenermaßenkompetent sind und der Verbraucher auch bei eventuellerFalschberatung den Schaden nicht zu tragen hat. Ich binzuversichtlich, dass eine befriedigende Lösung vielleichtnoch in dieser Legislaturperiode gefunden werden kann.Insgesamt hat die im Rahmen des 7. Steuerberatungs-änderungsgesetzes geführte Diskussion deutlich gemacht,dass bei allen Unterschieden in der Detailbewertung einbreiter Konsens besteht, dass auch in Zukunft eine sach-kundige steuerliche Beratung unverzichtbar ist und derGesetzgeber national, aber auch international Vorkehrun-gen treffen muss, um diese sicherzustellen.
Frau Staatssekretä-
rin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Seifert?
D
Ja, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie spre-
chen von der Kompetenz der Steuerberaterinnen und
Steuerberater, die diese nachweisen müssen. Können Sie
mir dann bitte erklären, wieso in einem Gesetz, das von
Ihnen vorgelegt wurde, die Möglichkeit eingeräumt, nein
regelrecht der Auftrag gegeben wird, dass der Beruf des
Steuerberaters „infolge eines körperlichen Gebrechens,
wegen Schwäche der geistigen Kräfte oder wegen einer
Sucht“ zu versagen ist. Wohlgemerkt, nachdem alle Prü-
fungen bestanden sind? Ist das nicht eine Diskriminie-
rung, die auf einem Menschenbild beruht, das in keiner
Weise dem, was Ihre Regierung immer wieder betont,
nämlich einen Paradigmenwechsel herzustellen, ent-
spricht? Können Sie mir bitte erklären, warum Sie diesen
Satz nicht einfach ersatzlos streichen?
D
Herr Kollege Seifert, ichglaube, das von Ihnen vorgetragene Bedenken beruht aufeinem falschen Verständnis. Die von Ihnen angegriffeneRegelung besagt, wie Sie soeben zitiert haben, dass dieBestellung zum Steuerberater zu versagen ist, wenn derBewerber „infolge eines körperlichen Gebrechens, wegenSchwäche seiner geistigen Kräfte oder wegen einer Suchtnicht nur vorübergehend unfähig ist, den Beruf des Steu-erberaters ordnungsgemäß auszuüben“.Bei dieser Regelung handelt es sich keinesfalls um einewillkürliche Benachteiligung behinderter Menschen. DasGegenteil ist vielmehr der Fall: Die Vorschrift ist eineSchutzvorschrift gleichermaßen für den betroffenenangehenden Steuerberater und für die Mandanten. DerSteuerberater muss gerade im Interesse seiner Mandantenin der Lage sein, seinen Beruf unabhängig, eigenverant-wortlich, gewissenhaft und verschwiegen auszuüben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks9561
Eine fehlerhafte steuerliche Beratung birgt immer die Ge-fahr von Regressansprüchen des Mandanten in sich.Durch die vorgesehene gesetzliche Regelung soll der ge-nannte Personenkreis vor solchen Ansprüchen geschütztwerden. Das ist der Hintergrund. Es geht überhaupt nichtdarum, behinderte Menschen von einer Berufsausübungauszuschließen. Wie Sie richtig gesagt haben, ist die Zu-lassung zur Prüfung und der Abschluss der Prüfungselbstverständlich möglich. Das ist übrigens neu. Das warfrüher nicht der Fall. Früher gab es nicht einmal die Zu-lassung zur Prüfung. Damit erzielen wir im Vergleich zumbisherigen Rechtszustand für behinderte Menschen eineVerbesserung. Denn sie können als angestellte Steuerbe-rater tätig sein. Somit unterliegen sie nicht persönlich demRegress. Vielmehr müsste letztlich ihr Arbeitgeber, derInhaber des Steuerberaterbüros, die Verantwortung für ei-nen Regress übernehmen.Dies ist eine Verbesserung im Vergleich zum bisheri-gen Rechtszustand. Denn im bisherigen Rechtszustandwar bereits der Ausschluss von der Prüfung möglich. Jetztist ausschließlich – ich weiß, dass Sie das wahrscheinlichnicht beruhigt – die Zulassung als Steuerberater in selbst-ständiger Form nicht möglich. In Zukunft ist also eine Be-rufsausübung möglich, was früher nicht der Fall war.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine weitere Frage?
D
Bitte.
Frau Staatssekretärin, den Fort-
schritt im Vergleich zu dem Verbot, sogar an der Prüfung
teilzunehmen, erkenne ich an. Aber bei allem Verständnis
ist festzustellen: Jeder Mensch in diesem Land hat das
Recht, seine Fähigkeit oder Unfähigkeit zu beweisen. Nur
wenn er behindert ist, kann die Steuerberaterkammer sa-
gen: Nein, wir schützen dich vor dir selbst. Können Sie
das mit dem Gleichheitsgrundsatz und mit dem von Ihnen
selbst formulierten Paradigmenwechsel in Übereinstim-
mung bringen? Wollen Sie nicht auch den Menschen, die
behindert sind, nicht mehr und nicht weniger als allen an-
deren die Chance einräumen, sich selber zu blamieren?
Denn es ist nicht bewiesen, dass sie unfähiger sind als an-
dere. Nur die Steuerberaterkammer unterstellt, dass sie
unfähiger sind.
D
Herr Kollege, die entspre-
chende Behinderung muss natürlich festgestellt worden
sein. Es muss zudem eine dauerhafte und nicht nur eine
vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliegen. Natürlich
ist das auch gerichtlich zu überprüfen. Es ist doch selbst-
verständlich, dass dies Gegenstand von gerichtlichen
Auseinandersetzungen sein kann und die Steuerberater-
kammer nicht einfach so entscheiden kann, ob jemand zu
krank ist und diese Tätigkeit in selbstständiger Form nicht
ausüben darf. Natürlich sind davon nicht Menschen mit
körperlichen Gebrechen betroffen, die im Übrigen in
ihren geistigen Fähigkeiten überhaupt nicht beeinträchtigt
sind.
Aber es ist doch ein Fall denkbar, dass jemand zum
Beispiel ins Koma fällt und den Antrag auf Zulassung
zum Steuerberater schon gestellt hat. Dieser Antrag kann
schlechterdings nicht genehmigt werden. Solche Fälle
sind zwar sicherlich sehr selten, aber denkbar.
Es geht in der Tat darum, den Betroffenen vor allfälli-
gen Regressansprüchen zu schützen. Ich wiederhole: Im
Vergleich zum bisherigen Rechtszustand würde ein sol-
cher Mensch nicht an der Berufsausübung insgesamt ge-
hindert, weil er als angestellter Steuerberater tätig sein
könnte. Das ist ein Fortschritt im Vergleich zur bisherigen
Rechtslage. Ich weiß nicht, ob es dazu im Sinne der Frei-
heit der Berufsausübung schon einmal verfassungsrecht-
liche Streitverfahren gegeben hat und ob es dazu schon
einmal eine höchstrichterliche Entscheidung gegeben hat.
Denn es hat sicherlich auch schon früher die Versagung
der Zulassung zur Prüfung aufgrund der genannten Ge-
sichtspunkte gegeben, die wir jetzt nicht mehr für die Ver-
sagung der Zulassung zur Prüfung, sondern nur noch für
die Versagung der Bestellung zum Steuerberater in selbst-
ständiger Form vorsehen.
Ich kann Ihre Bedenken verstehen, Herr Seifert; aber
ich glaube, dass Sie von einer falschen Voraussetzung
ausgehen. Es geht nämlich ganz gewiss nicht um einen
diskriminierenden Tatbestand, sondern um den Schutz so-
wohl der Betroffenen als auch natürlich der Verbraucher.
Fahren Sie bitte fort,
Frau Kollegin.
D
Ich möchte nur noch kurzan das anknüpfen, was ich eben gesagt habe. Die Globa-lisierung geht natürlich am Dienstleistungssektor nichtvorbei. Sie bringt auch für das Berufsrecht neue Heraus-forderungen mit sich, da es noch weitgehend durch unter-schiedliche nationale Regelungen geprägt ist. Es ist einwichtiges Anliegen der Bundesregierung und, wie ichglaube, aller Fraktionen in diesem Hause, dass durch deninternationalen Anpassungsdruck keine Qualitätsnivellie-rung nach unten auf Kosten der Verbraucher, aber auchder Wirtschaft eintritt.Abschließend möchte ich das Hohe Haus für die Bun-desregierung bitten, dem Entschließungsantrag der Koali-tionsfraktionen zuzustimmen und die Anträge der PDSabzulehnen, die offenbar – das wurde nicht nur geradedurch die Zwischenfragen des Kollegen Seifert deutlich,sondern auch an anderen Stellen – von einem falschenVerständnis des Regelungsinhaltes ausgehen. Diese An-träge sind im Finanzausschuss ausführlich beraten wor-den.Im Übrigen freue ich mich, dass im Finanzausschussauch die CDU/CSU und die F.D.P. diesem Gesetzentwurf
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zugestimmt haben. Ich glaube, dass dies gerade bei be-rufsrechtlichen Weiterentwicklungen von einem hohenWert ist.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Hansgeorg Hauser.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dasheute zu verabschiedende Gesetz zur Änderung von Vor-schriften über die Tätigkeit der Steuerberater ist für denBerufsstand sicherlich sehr wichtig. Es sind eine Reihevon berufsrechtlichen Veränderungen enthalten. Für deneinzelnen Steuerberater aber wird es sicherlich nicht sol-che Auswirkungen haben wie andere Gesetze, die sichzurzeit in der Beratung befinden. Hier denke ich insbe-sondere an die Steuergesetze, aufgrund derer – durch dieÄnderungen einiger Vorschriften, die Sie vornehmen wol-len; ich nenne als Stichwort nur die Option – die Steuer-berater eigentlich eine Zusatzprüfung machen müssten.Es müssten die hellseherischen Fähigkeiten geprüft wer-den; denn ohne diese können sie künftig ihren Beruf nichtmehr ausüben.
Meine Damen und Herren, das Änderungsgesetz ent-hält im Wesentlichen fünf Schwerpunkte: Erstens geht esum die Erweiterung des Kreises derjenigen, die befugter-maßen geschäftsmäßige Hilfe in Steuersachen leisten dür-fen, zweitens um die Ausdehnung der Beratungstätigkeitder Lohnsteuerhilfevereine. Dann gibt es Neuregelungenbezüglich der Werbung. Zudem wurden Rechtsgrundla-gen für die Datenverarbeitung und die Datennutzunggeändert. Schließlich wurde die Übertragung hoheitlicherAufgaben auf die Steuerberaterkammern neu gefasst.Zum ersten Punkt. Ich möchte nur wenig zur Erweite-rung des Kreises der befugt Beratenden sagen; denn dieswurde uns mehr oder weniger durch die europäischeRechtsprechung vorgeschrieben. Ich möchte vielmehr un-sere Position begründen, warum wir Buchführungshel-fern und Bilanzbuchhaltern keine weiteren Befugnissezugestehen wollen. Sowohl vom Verband der Buchfüh-rungshelfer als auch vom Bundesverband der Bilanz-buchhalter wird die Forderung erhoben, den Mitgliedernauch das Recht zur Einrichtung der Buchführung und zurAbgabe von Umsatzsteuer-Voranmel-dungen einzuräu-men. Dass darüber hinausgehende Forderungen existie-ren, war im Vorfeld der Beratungen klar geworden, auchwenn sie jetzt wieder zurückgezogen wurden. Wir sehenaber, dass dies die nächste Scheibe der Salamitaktik dergenannten Verbände gewesen wäre.Unserer Meinung nach bleiben die Einrichtung derBuchhaltung und die Erstellung von Umsatzsteuer-Voran-meldungen eine Vorbehaltsaufgabe der steuerberatendenBerufe. Diese Auffassung wird nicht nur durch die Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt, auchwenn diese schon älteren Datums ist. Sie wird auch vonder gesamten Fachwelt einhellig unterstützt, und zwarnicht nur von den betroffenen Berufen, sondern auch vonden Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Klimatagung,zu der beispielsweise der Bund Deutscher Finanzrichterund auch die Deutsche Steuer-Gewerkschaft gehören.Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Urteilenfestgestellt, dass sowohl die Einrichtung der Buchführungals auch die Erstellung von Abschlüssen dem steuerbera-tenden Beruf vorbehalten bleiben müssen, weil nur dieserPersonenkreis durch seine fachliche Kompetenz undseine persönliche Integrität den Schutz gesetzesunkundi-ger Steuerpflichtiger vor einer Falschberatung, die Auf-rechterhaltung der Steuermoral, die Sicherung des Steuer-aufkommens und den Schutz der einheimischen Wirt-schaft vor den Folgen einer nicht ordnungsgemäßenBeratung gewährleistet. So hat das Verfassungsgerichtsein Urteil begründet. Es wird klar zwischen dem Verbu-chen laufender Vorgänge, der laufenden Lohnabrechnungund der Anfertigung der Lohnsteueranmeldung unter-schieden. Das ist das eine Arbeitsfeld.Das andere ist das Einrichten der Buchführung. Daswürde – auch das sagt das Verfassungsgericht – fachspe-zifische Kenntnisse des Handels- wie auch des Steuer-rechts erfordern. Vor allem ist es wegen der erheblichenAuswirkungen für die Steuerpflichtigen und auf den Fi-nanzhaushalt des Staates mit Verantwortung verbunden.Bei der Aufstellung des Kontenplanswird grundsätz-lich darüber entschieden, über welche Konten die Verbu-chung der laufenden Geschäftsvorfälle erfolgt und – inder Konsequenz daraus – welche Positionen des Jahresab-schlusses damit ermittelt werden. Die Wahl der Kontenentscheidet auch über die Qualität und Aussagekraft derunterjährlichen Erfolgsrechnung als Mittel der Unterneh-mensführung. Das ist ein sehr wichtiges Instrument füreine Unternehmung. Die Auffassung, dass es heutzutagesowieso keinen Entscheidungsspielraum gebe, weil durchdie EDV bereits alles vorgegeben sei, beweist, dass einefachkompetente Festlegung für überflüssig gehalten wird.Nach meiner Auffassung zeigt dies, dass die Tragweiteder Entscheidung nicht richtig eingeschätzt wird. Auchdie EDV-gestützte Buchhaltung kann einem Anwenderdie normative Wertung nicht abnehmen, die vor Einrich-tung der Buchführung anzustellen ist.Ähnlich verhält es sich mit der Erstellung von Um-satzsteuer-Voranmeldungen.Es ist ein absoluter Irrglaube,zu meinen, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen wären nurein Abfallprodukt der Buchhaltung. Die Umsatzsteuer-Voranmeldung ist eine vollwertige Steuererklärung.
Sie ist zu unterscheiden von der jährlichen Steuerer-klärung. Es sind aber bei ihr alle rechtlichen und tatsäch-lichen Erfordernisse einer Steuererklärung gegeben.Das heißt, sie ist richtig, vollständig und termingerechtzu erstellen – und das mit allen Konsequenzen. Dasheißt, gegebenenfalls ergeben sich Säumniszuschläge, eskann zu Steuerverkürzungen kommen und es können
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entsprechende Folgen der Strafbarkeit entstehen. DieserAuffassung hat sich auch der BGH angeschlossen, der erstim letzten Jahr, am 22. April 1999, der Auffassung, dieUmsatzsteuer-Voranmeldung sei lediglich ein Abfallpro-dukt aus der erfassten Buchhaltung, eine klare Absage er-teilt hat. Vielmehr, so der BGH, gehe es bei der Umsatz-steuer-Voranmeldung um eine echte Steuererklärung, de-ren Anfertigung und Abgabe sich nicht darin erschöpfe,dass der Steuerberater seinen Stempel und seine Unter-schrift auf den durch Ausdruck sozusagen ausgefülltenVordruck setze. Vielmehr verlangt die Erstellung der Um-satzsteuer-Voranmeldung fundierte umsatzsteuerlicheKenntnisse, die durch sich häufig ändernde finanzgericht-liche Rechtsprechungen, durch die Steuergesetzgebungsowie die Einflüsse durch das europäische Steuerrechtständig komplizierter werden.Die Forderung, dass die Hilfeleistung bei der Fertigungeiner Umsatzsteuer-Voranmeldung weiterhin den Steuer-beratern vorbehalten bleiben muss, wird auch von derDeutschen Steuer-Gewerkschaft unterstützt. Es liegeim Interesse einer funktionsfähigen Steuerverwaltung,dass die Umsatzsteuer-Voranmeldung von qualifiziertenSteuerberatern erstellt werde und dabei für die Steuerver-waltung keine zusätzliche Mehrarbeit mehr entstehe.Zu glauben, dass Steuervoranmeldungen ja jederzeitdurch die Jahressteuererklärung berichtigt werden könn-ten, ist nur für sehr beschränkte Fälle zutreffend. Tat-sächlich ergibt sich aus der Rechtsnatur jeder einzelnenUmsatzsteuer-Voranmeldung als eigener Steuererklärung,dass bei gravierenden Änderungen jede einzelne Umsatz-steuer-Voranmeldung geändert werden muss.Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass ei-ner der wesentlichen Unterschiede zwischen Bilanzbuch-haltern und Steuerberatern auch darin besteht, dass erstereihre Tätigkeit gewerblich ausüben, also nicht eigenver-antwortlich freiberuflich, wie es im Gesetz definiert ist.So besteht natürlich die Möglichkeit, damit alle mögli-chen anderen Tätigkeiten zu verbinden, beispielsweisedie Vermittlung von entsprechenden Verträgen zur Kapi-talanlage. Zudem gibt es für die Bilanzbuchhalter keineVerpflichtung, eine Berufshaftpflichtversicherung ab-zuschließen oder einen solchen Bestand nachzuweisen.Jedem Steuerberater wird sofort die Zulassung entzogen,wenn er keine Haftpflichtversicherung mehr nachweisenkann. Das ist hier nicht der Fall.Da auch jedwede Kontrolle und Berufsaufsicht fehlt,sind erhebliche Vorbehalte gegen das Ergebnis der Arbeitaus staatlicher Sicht anzumelden. Allerdings muss auchdeutlich gesagt werden, dass Personen, die in der Lagesind, die mit der Buchhaltung verbundenen steuerrechtli-chen Fragen zu erkennen und zu beantworten, auch dieFähigkeiten haben müssten, die Prüfung zum Steuerbera-ter zu bestehen und die Zulassung zu erlangen. Ich meine,bevor ständig neue Forderungen erhoben werden, solltesich dieser Personenkreis auf die vollständige Ausbildungzum Steuerberater konzentrieren. Das ist auch zumutbar.Auch die deutliche Ausweitung der Beratungsbefugnisvon Lohnsteuerhilfevereinen haben wir mit großer Skep-sis gesehen und im Ergebnis abgelehnt. Anders als bishersollte die Steuerberatungsbefugnis bei Lohnsteuerhilfe-vereinen zum Beispiel auch Einnahmen aus Kapitalver-mögen umfassen, die weit über dem Sparerfreibetrag lie-gen.Ich darf auf die Skepsis der Finanzverwaltung hin-weisen, die über die Klimatagung – Sie wissen, die Kli-matagung hat nichts mit dem Wetter zu tun, aber sehrwohl etwas mit der Atmosphäre, nämlich zwischen denBerufsständen auf der einen Seite sowie der Finanzver-waltung und der Rechtsprechung auf der anderen Seite –zum Ausdruck gebracht hat, dass durch die Änderung desSteuerberatungsgesetzes auf keinen Fall mehr Arbeit fürdie Steuerverwaltung entstehen darf. Die Klimatagungweist auf die Schwierigkeit der Erstellung der Steuerer-klärung hin, in der zu prüfen ist, ob und wie die unter-schiedlichen Kapitaleinkünfte in der Steuererklärung zuerfassen sind und ob sie ungeprüft aus den Bankbeschei-nigungen übernommen werden können. Die richtige Ein-ordnung und Zuordnung – beispielsweise bei Vorliegenvon inländischen oder ausländischen Aktiendividenden –setzt profundes Wissen im Körperschaftsteuerrecht voraus.Ebenso verhält es sich bei der Besteuerung aus Fondsan-teilen. Man könnte hier noch eine ganze Reihe von Bei-spielen aufführen.Die Steuerverwaltung sei darauf angewiesen, dass einGroßteil der Steuererklärungen mehr oder weniger unge-prüft übernommen werden könne, weil sonst die Arbeits-flut nicht zu bewältigen sei. Deshalb kam man zu demSchluss, eine Ausweitung sei nicht zu befürworten, weilnach der allgemeinen Erfahrung bei den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern der Lohnsteuerhilfe Spezialkenntnisseaußerhalb des klassischen Lohnsteuerbereiches nichtdurchgängig gegeben seien.Wir sprechen den Lohnsteuerhilfevereinen keinesfallsdie Befähigung zu einer guten Beratung ihrer Mitgliederab – das haben wir in Gesprächen mit den Verbänden auchimmer wieder zum Ausdruck gebracht –, aber wir sind derMeinung, dass dieser Beratungsbereich begrenzt bleibenund eben nicht auf diese Art ausgedehnt werden sollte.Denn durch die Beträge, die im Raum stehen, entsteht au-tomatisch ein größerer Kreis von Betroffenen, die durchdie Lohnsteuerhilfevereine beraten werden können.Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Ausweitung ab undhat deshalb im Finanzausschuss gegen diesen Punkt ge-stimmt. Wir erkennen allerdings, dass durch die Zugrun-delegung des Begriffes „Einnahmen“ die Grenzen trotzallem relativ strikt sind, eben weil Werbungskosten undBetriebsausgaben nicht mit den Einnahmen saldiert wer-den dürfen, es also nur um einen Bruttobetrag geht. Damitist die Ausweitung der Beratungsbefugnisse stärker be-grenzt, als es beispielsweise der Fall wäre, wenn Verlust-verrechnungen zulässig wären. Dann könnte es um höhereSummen gehen. Das ist nicht der Fall. Das haben wir auchgesehen und im Übrigen in der Diskussion abgeklärt.Trotzdem sind wir der Meinung, dass durch die Festle-gung der erhöhten Beträge von 18 000 DM eine Auswei-tung erfolgt, die wir nicht mittragen wollen.Ein weiteres Anliegen des Gesetzentwurfs ist die Über-tragung von hoheitlichen Aufgaben – zum Beispiel Be-stellung zum Steuerberater, Anerkennung von Steuerbera-tungsgesellschaften, Widerruf und Rücknahme – auf die
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Steuerberaterkammern. Hier war ursprünglich vorgese-hen, dass die Aufwendungen für diese Arbeiten durchstaatlich festgelegte Pauschalgebühren abgegolten wer-den. Im Laufe der Beratungen ist auf unseren Antrag hinerreicht worden, dass die Gebühren durch die Kammernselbst festgesetzt werden dürfen. Es ist meines Erachtensnur recht und billig, dass die Steuerberaterkammern wieim Übrigen auch die Rechtsanwaltskammern und – so istes zumindest vorgesehen – auch die Wirtschaftsprüfer-kammern die Höhe der Gebühren selbst bestimmen kön-nen.Selbstverständlich gibt es für die Festsetzung der Ge-bühren entsprechende Grundsätze. So müssen sie denGrundsatz der Kostendeckung berücksichtigen, das heißt,die bestehenden Aufwendungen dürfen durch das Ge-bührenaufkommen nicht dauerhaft überstiegen werden.Es muss der Grundsatz der Äquivalenz gewahrt bleiben,dass Leistung und Gebühr in einem angemessenen Ver-hältnis zueinander stehen. Des Weiteren muss der Grund-satz der speziellen Entgeltlichkeit gelten, der besagt, dassin die Gebührenbemessung keine sachfremden Maßstäbeeingehen dürfen. Ich bin davon überzeugt, dass sich dieKammern ihrer Verantwortung bewusst sind und ihre Auf-gaben – wie auch bisher immer – zuverlässig ausübenwerden.Insgesamt stimmen wir dem Gesetz zu, auch wenn wiruns in der Sache, wie bereits ausgeführt, gegen die Aus-weitung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfever-eine ausgesprochen haben. Den Entschließungsantraglehnen wir allerdings ab, da hier nach unserer Meinungdurch weitere Prüfungen bei den Buchführungshelfernund Bilanzbuchhaltern nur falsche Hoffnungen erwecktwürden, die der Gesetzgeber auf keinen Fall erfüllensollte.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin
Christine Scheel.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetz-
entwurf, den wir heute beschließen wollen, wird das Steu-
erberatungsgesetz und die damit verbundenen Verordnun-
gen modernisieren. Das war auch der Ansatzpunkt, dem
wir uns als Regierungsfraktion gestellt haben. Es haben
sich viele Sachverhalte in der praktischen Entwicklung
verändert, sodass eine Modernisierung jetzt ansteht.
Diese Diskussion ist natürlich auch eine Gelegenheit,
über die Abgrenzung der Tätigkeiten der unterschiedli-
chen Berufsgruppen sowie der Dienstleister, die in diesem
Kontext verankert sind, neu nachzudenken und die damit
verbundenen Anforderungen, die aufgrund der Entwick-
lung des Steuerrechts und der Rechtsprechung insgesamt
gegeben sind, in die Diskussion einzubeziehen.
Herr Hauser hat auch – ich finde, zu Recht – das Bei-
spiel der Umsatzsteuer-Voranmeldung genannt und aus-
geführt, welche Schwierigkeiten darin liegen. Wir haben
im Finanzausschuss eine Anhörung durchgeführt und sehr
intensive Debatten zu diesem Thema mit allen Erwägun-
gen, die hier eine Rolle spielen, geführt.
Es ist vollkommen klar, dass wir uns hier in einem
Spannungsfeld zwischen der Gewährleistung der Ge-
werbe- und Berufsfreiheit einerseits und dem Schutz der
Verbraucher und Verbraucherinnen andererseits bewegen.
Die Koalitionsfraktionen haben – anders als jetzt von
Ihnen, Herr Hauser, für die CDU/CSU-Fraktion darge-
stellt – die Befugnisse der Lohnsteuerhilfevereine zur
Hilfeleistung in Steuersachen erweitern wollen. Das ha-
ben wir mit diesem Gesetzentwurf erreicht, der wohl
heute verabschiedet wird. Hier wird eine sinnvolle Rege-
lung getroffen. Wir haben letztendlich auch einen
Prüfauftrag vergeben, inwieweit die Beratungsbefugnisse
der selbstständigen Bilanzbuchhalter und Bilanzbuchhal-
terinnen erweitert werden können.
Nach einer sehr sorgfältigen Prüfung haben wir die
Grenzen, bis zu denen die Lohnsteuerhilfevereine ihre
Mitglieder beraten können, über die in der ersten Fassung
vorgesehene 12 000- bzw. 4 000-Mark-Grenze hinaus wei-
ter angehoben.
Frau Kollegin
Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne-
ten Dr. Seifert?
Ja,
bitte.
Frau Kollegin Scheel, da auch
Sie von der Kompetenz der Steuerberaterinnen und Steu-
erberater sprechen, möchte ich meine Frage, die ich auch
schon an die Staatssekretärin gerichtet habe, an Sie in ei-
ner etwas abgewandelten Form wiederholen. Immerhin
haben sich die Grünen und die Bündnis-90-Leute bisher
immer für selbst bestimmte Lebensverhältnisse von be-
hinderten Menschen eingesetzt: Können Sie allen Ernstes
zustimmen, dass dieser Diskriminierungstatbestand –
wenn auch in abgeschwächter Form –, jetzt von Ihnen
vorgelegt, neu beschlossen wird? Oder können Sie sich
nicht wenigstens in diesem einen Punkt dazu durchringen,
unserem Änderungsantrag zuzustimmen, diesen Satz er-
satzlos zu streichen, damit wir keine neuen Diskriminie-
rungstatbestände nur aufgrund von Behinderungen her-
stellen?
Wir haben das sehr intensiv geprüft und sind zu dem Er-gebnis gekommen, das jetzt als Gesetzentwurf vorliegt.Ich muss Ihnen sagen: Es war auch aus unserer Sicht nichtmöglich, darüber hinauszugehen. Mehr kann man an die-ser Stelle nicht dazu sagen.Wir wollen den Lohnsteuerhilfevereinen künftig dieMöglichkeit geben, ihren Mitgliedern Hilfe in Steuersachenzu leisten, wenn deren Einnahmen aus anderen Einkunfts-arten als aus nicht selbstständiger Tätigkeit 18 000 DM bzw.36 000 DM nicht überschreiten. Diese Erweiterung ist imHinblick auf die aktuelle Einkommenssituation und auch
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die weiter steigenden Einkommen notwendig. Damit ha-ben wir eine Regelung getroffen, die den Lohnsteuerhil-fevereinen für längere Zeit eine sichere Existenzgrund-lage gibt. Das ist ein sehr guter und wichtiger Schritt, derhier gegangen worden ist.Entgegen der Auffassung der Opposition, Herr Hauser,ist es für uns ganz klar, dass die Tendenz, Leistungen ausden Unternehmen auszulagern, zu einem erhöhten Bera-tungsbedarf auch in den weniger qualifizierten Bereichender Steuerberatung führt, und dass gleichzeitig vieleselbstständige qualifizierte Bilanzbuchhalter und Bilanz-buchhalterinnen diese Dienstleistungen anbieten könnten,sie aber zum Teil nicht ausführen dürfen. Dies muss manbei der Bewertung der Gesamtsituation berücksichtigen.Wir wollen die Befugnisse von Steuerberatern undSteuerberaterinnen sowie von den selbstständigen Bilanz-buchhaltern und Bilanzbuchhalterinnen den heutigenRealitäten entsprechend neu abgrenzen. Das heißt, die en-gen Grenzen müssen so erweitert werden, dass zwischenbeiden Berufsgruppen ein fairer Wettbewerb möglich ist.Sie müssen so exakt sein, dass sie für die Verbrauchertransparent sind und vor allem auch deren Schutz ge-währleisten. Daher haben wir vonseiten der Koalitions-fraktionen diesen Entschließungsantrag vorgelegt, derden Willen zum Nachdenken und darüber hinaus zumHandeln dokumentiert, die Befugnisse der selbstständi-gen Bilanzbuchhalter zu erweitern. Jetzt ist ein ganz kla-rer zeitlicher Rahmen für eine Prüfung, welche Anforde-rungen an Qualifikation, Versicherungsschutz und Berufs-aufsicht gestellt werden müssen, geschaffen. Damit habenwir zumindest ein Signal gegeben.Ein ganz entscheidender Bestandteil des Gesetzent-wurfes ist auch eine praxistaugliche Neuregelung derVorschriften zurWerbung. Gerade den zahlreichen Ab-mahnverfahren wird hier durch eine ganz klare Definitionder Berufsbezeichnungen und der Möglichkeit, mit diesenBezeichnungen zu werben, die rechtliche Grundlage ent-zogen. Fairer Wettbewerb ist heute keine Frage mehr, dieallein aus einem nationalen Blickwinkel betrachtet wer-den kann. Daher ist es so, dass Personen aus dem EU-Aus-land, die dort befugt sind, geschäftsmäßig Hilfe in Steu-ersachen zu leisten, dies auch in der BundesrepublikDeutschland tun.Wegen der unterschiedlichen Qualifikationsanforde-rungen in anderen Staaten der Europäischen Union wurdevon verschiedenen Seiten vorgeworfen, dass die inländi-schen Berater und Beraterinnen diskriminiert werden. Da-her haben wir die Bundesregierung gebeten, die tatsächli-che Entwicklung der grenzüberschreitenden Beratungs-tätigkeiten nicht nur zu beobachten, sondern auch zuanalysieren und uns darüber zu berichten. Gegebenenfallsmuss dann über die Verteilung der Befugnisse unter demAspekt der Gleichstellung unter Gleichbehandlungsge-sichtspunkten der europäischen Situation auch neu ent-schieden werden.Auch die weiteren Neuregelungen – Rechtsgrundlagenfür die EDV-Nutzung, Übertragung hoheitlicher Aufga-ben an die Steuerberaterkammer – modernisieren die Vo-raussetzungen für die Zulassung und die Berufsausübungin den steuerberatenden Berufen und sind angesichts derveränderten Anforderungen an eine funktionierendeDienstleistungsgesellschaft dringend erforderlich.Somit ist es gut, wenn diesem Gesetzentwurf zuge-stimmt wird. Ich freue mich, dass von der Opposition si-gnalisiert wurde, dass sie auch hier im Plenum – im Fi-nanzausschuss hat sie dies ja schon getan – diesem Ge-setzentwurf in der letzten Lesung zustimmen wird.
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht Kollege Gerhard Schüßler.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärinhat den Gesetzentwurf im Transrapidtempo eingebracht.Daran kann man sehen, was ein Transrapid manchmalauch wert sein kann.Wir verabschieden heute wieder einmal ein Gesetz zurÄnderung des Steuerberatungsgesetzes. Vieles ist bereitsgesagt worden. Ich will die nach unserer Auffassungwichtigsten Bestandteile vortragen:Erstens die Anpassung an Art. 50 des EG-Vertrages durchZulassung der niedergelassenen europäischen Rechtsan-wälte zum Beruf des Steuerberaters, zweitens verschie-dene Änderungen im Prüfungs- und Zulassungswesen,auf die im Einzelnen schon hingewiesen wurde, und drit-tens die Übertragung hoheitlicher Aufgaben wie die Be-stellung zum Steuerberater auf die Steuerberaterkammern –ich denke, letzteres ist eine wichtige Entscheidung.Die Umsetzung von EG-Recht zeigt aber auch an die-ser Stelle erneut, dass immer mehr Bereiche unsererRechtsordnung von der Europäischen Union beeinflusstwerden. Heute kommen wir bei der Harmonisierung desRechts der EU-Mitgliedstaaten auch wieder einen Schrittweiter. Künftig werden im europäischen Ausland zuge-lassene Rechtsanwälte zum Beruf des Steuerberaterszugelassen. Der Dienstleistungsfreiheit bei grenzüber-schreitender Hilfeleistung in Steuersachen wird Rech-nung getragen.Wir verteidigen heute aber auch etwas, was es in die-ser Form nur in Deutschland gibt: das umfassend gere-gelte Recht der freien Berufe. Um nicht missverstandenzu werden: Ich bin ein Befürworter dieses bewährten Be-standteils unseres Rechtssystems. Freiberufler wie dieSteuerberater tragen aber auch ein hohes Maß an persön-licher Verantwortung. Ihre berufliche Leistung verlangtbesonderen Sachverstand und hohe berufliche Qualifika-tion. Es ist deswegen mehr als gerechtfertigt, an die Zu-lassung zum Steuerberaterberuf besondere Anforderun-gen zu stellen, die zugegebenermaßen bei weitem nichtvon allen Bewerbern erfüllt werden.Betrachtet man aber die Komplexität des trotz aller ge-genteiligen Bekenntnisse der Koalition immer schwieri-ger und komplizierter werdenden Steuerrechts, könnendie Voraussetzungen für die Zulassung zum steuerbera-tenden Beruf nicht abgeschwächt werden.
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Christine Scheel9566
Das klingt für viele andere Berufsgruppen, die im Steuer-wesen tätig sind, natürlich nicht befriedigend. Das wurdeauch bei dem Expertengespräch im Finanzausschussdeutlich. Trotzdem bleibe ich dabei, dass die Zugangs-voraussetzungen zum Steuerberaterberuf nicht aufge-weicht werden dürfen.
Im Übrigen steht allen im Bereich Steuern Tätigen frei,die Steuerberaterprüfung zu absolvieren.In diesem Zusammenhang kann man über die Zu-lassungsbedingungen zur Steuerberaterprüfung reden.Ohne Frage haben Buchführungshelfer, Bilanzbuchhalterund andere im Steuerwesen Tätige eine qualifizierte Aus-bildung mit einer anspruchsvollen Abschlussprüfung ab-solviert. Mit der Weiterentwicklung des Steuerrechts unddamit auch der Ausbildungsinhalte wird von Zeit zu Zeitzu überprüfen sein, ob sich Prüfungsbestandteile mit derSteuerberaterprüfung überschneiden oder in welchemUmfang Ausbildungszeiten als berufspraktische Zeit gel-ten können.In einigen Bereichen sind im heute vorliegenden Ge-setzentwurf Verbesserungen vorgenommen worden. Da-rauf ist hingewiesen worden. Zudem gibt es in allenangesprochenen Berufsgruppen eine dynamische Ent-wicklung, die es erforderlich macht, von Zeit zu Zeit zuüberprüfen, ob es Erleichterungen beim Zugang zumSteuerberaterberuf geben kann. Grundsätzlich muss esaber klare Grenzen zwischen dem steuerberatenden Berufund anderen Tätigkeiten im Steuerwesen geben. So ist –auch das ist gesagt worden – jede Umsatzsteuer-Voran-meldung eine Steuererklärung, die den steuerberatendenBerufen vorbehalten ist und auch bleiben sollte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine,wir sind bisher mit dem Steuerberatungsgesetz gut gefah-ren. Ich denke dabei insbesondere an die Bürger, die inSteuersachen Hilfe in Anspruch nehmen. Die meistenmüssen das, weil unser Steuerrecht von normalen Steuer-pflichtigen nicht mehr verstanden wird. Sie müssen sichauch darauf verlassen können, sachlich kompetent undumfassend beraten zu werden.Eine Schlussbemerkung zur Kompliziertheit desSteuerrechts. Die Qualität der Beratungsleistung stehtund fällt auch mit der Praktikabilität der Gesetze undsonstigen Vorschriften. Hier stoßen wir mehr und mehr anGrenzen. Dazu trägt die gestern im Finanzausschussverabschiedete Unternehmensteuerreform ein gutes Stückbei, denn sie hat unser ohnehin schon kompliziertes Steu-errecht in für uns unerträglicher Weise verkompliziert.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. stimmt der No-velle des Steuerberatungsgesetzes zu. Ich sage allerdings:Wir werden wegen der weiteren Verkomplizierung desSteuerrechtes der Unternehmensteuerreform nicht zu-stimmen.Danke schön.
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Heidemarie Ehlert.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Das Anliegen der Bundesregierung, dasSteuerberatungsgesetz zu modernisieren und zu straffen,ist zu begrüßen. Leider ist unsere Steuergesetzgebungschon mehr als kompliziert und die übergroße Mehrheitder Bürger muss auf die Hilfeleistungen von steuerbera-tenden Berufsgruppen zurückgreifen. Aber bei allen posi-tiven Veränderungen, denen ich durchaus zustimme, sindunserer Meinung nach einige wichtige Fragen nicht aus-reichend geklärt. Dazu haben wir entsprechende Ände-rungsanträge eingereicht. Leider kann ich nicht alle er-läutern.Völlig unverständlich ist, warum der Regierungsent-wurf nicht auf die berechtigten Forderungen der Bilanz-buchhalter eingegangen ist, ihre Befugnisse nun endlichneu zu regeln. Bereits 1994, als das 6. Änderungsgesetzzum Steuerberatungsgesetz eingebracht wurde, haben Siesich, verehrte Kollegin Westrich, im Namen der SPD-Fraktion dafür engagiert, ob und in welchem Rahmen dieBefugnisse der geprüften Bilanzbuchhalter erweitertwerden können. Ich stimme mit Ihrer damaligen Auffas-sung völlig überein, dass es sich bei einem Teil der erfor-derlichen Tätigkeiten im Steuerberatungsbereich umRoutinetätigkeiten handelt. Die Erstellung der laufendenUmsatzsteuer-Voranmeldung ist, wie Sie bereits 1994feststellten, fast automatisch ein Abfallprodukt der lau-fenden Buchführung. Aber sie durfte nach der geltendenRechtslage gemäß § 5 des Steuerberatungsgesetzes vonBilanzbuchhaltern unter Zwangsgeldandrohung nichtdurchgeführt werden. Ähnlich ist es bei der Einrichtungder Buchführung.Der nun von der SPD vorgelegte Gesetzentwurfberücksichtigt nach dem Motto „Was kümmert mich meinGeschwätz von gestern!“ ihre eigenen Forderungen von1994 nicht. Was soll der Vorschlag, die Arbeitsaufgabender Bilanzbuchhalter bis 2001 noch einmal zu prüfen? Füreine solche Prüfung waren sechs Jahre Zeit, zumal dieSPD-Fraktion bereits 1994 die Stellungnahme des DIHTaufgegriffen hatte, dass die geprüften Bilanzbuchhalterhinreichend qualifiziert seien, die beiden zusätzlichenTätigkeiten sachgerecht auszuführen. Neue Erkenntnissedürften also in den kommenden Monaten nicht gewonnenwerden. Wohl aber werden Hoffnungen enttäuscht undwird ein zusätzlicher Arbeitsaufwand für die mit der Prü-fung beauftragten Behörden künstlich geschaffen. DieLobby der Steuerberater hat wieder einmal erfolgreichihre Pfründe verteidigt.
Ohne Nationalismus predigen zu wollen, wird den hei-mischen Bilanzbuchhaltern mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf das vorenthalten, was EU-Ausländernim gleichen Atemzug gestattet wird, nämlich in Deutsch-land Hilfeleistungen in Steuersachen einschließlich der
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Gerhard Schüßler9567
Einrichtung der Buchführung und der Erstellung von Um-satzsteuer-Voranmeldungen anzubieten. Der Umfang deszulässigen Angebots richtet sich dabei nach dem Umfangder Berechtigungen im Niederlassungsland. Den in Ös-terreich niedergelassenen Bilanzbuchhaltern ist eben daserlaubt, was den deutschen nicht erlaubt wird. Das istmeines Erachtens ein Verstoß gegen den Gleichheits-grundsatz.
Einen weiteren Verstoß gegen den Gleichheitsgrund-satz stellt Art. 1 Nr. 35 c Abs. 3 des Regierungsentwurfsdar, in dem es um die Änderung des § 40 des Steuerbera-tungsgesetzes geht. Er muss ersatzlos gestrichen werden.Dieser Absatz gibt den Steuerberaterkammern das Recht,die Bestellung zum Steuerberater zu versagen, wenn derBewerber... infolge eines körperlichen Gebrechens … nichtnur vorübergehend unfähig ist, den Beruf des Steuer-beraters ordnungsgemäß auszuüben;Dieser Passus widerspricht dem Benachteiligungsverbotdes Art. 3 des Grundgesetzes. Auch Menschen mit kör-perlichen Behinderungen sind durchaus in der Lage, denBeruf des Steuerberaters auszuüben.
Ich möchte noch ein letztes Problem ansprechen. DemPetitionsausschuss liegen eine Reihe von Petitionen vonBürgern aus den alten und den neuen Bundesländern vor,die im Zuge der deutschen Einheit vorläufig zu Steuerbe-ratern bestellt worden sind und denen die endgültige Be-stellung zum Steuerberater versagt wird, obwohl sie dieentsprechenden Prüfungen abgelegt haben. Dafür gibt essehr unterschiedliche Gründe. Teilweise ist nach dem Par-teibuch oder nach entsprechenden Beziehungen entschie-den worden. Die Beweise kann ich Ihnen, Herr Hauser,vorlegen. Sie liegen in meinem Büro. Diese Klientel solltevon uns vertreten werden. Deshalb fordern wir in einemÄnderungsantrag, dass diese Personen noch einmal dieMöglichkeit erhalten, ihren Fall überprüfen zu lassen.Ich bitte sie sehr herzlich, unseren Änderungsanträgenzuzustimmen.
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun die Kollegin Lydia Westrich.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Gerade nach der Debatte vonheute Morgen freue ich mich, dass wir jetzt einen Gesetz-entwurf verabschieden, der von allen Fraktionen – bis aufdie der PDS – getragen wird. Das Steuerberatungsgesetzsteht in guter Tradition, Herr Hauser. Wir haben uns beider Erarbeitung dieses Gesetzes schon öfter zusam-mengerauft. Das bedeutet gleichzeitig, dass es trotz destrockenen Stoffes ein sehr „lebendiges“ Gesetz ist, dasvielfach geändert wurde.Heute verabschieden wir das 7. Steuerberatungsände-rungsgesetz. Das beweist die Dynamik, die in der Ent-wicklung dieses Berufsrechts zu verzeichnen ist. Unserefleißige Steuergesetzgebung der letzten Jahre trägt natür-lich zu den Veränderungsnotwendigkeiten bei. Aber auchdie Entwicklungen im europäischen Raum machen daszeit- und praxisnahe Reagieren notwendig.Die Bundesrepublik ist eines der wenigen Länder inEuropa, das überhaupt ein Gesetz über den steuerberaten-den Beruf hat. Die Angehörigen steuerberatender Berufedürfen durch diese traditionelle Besonderheit natürlichnicht behindert werden. Wir wollen ihre Leistungs- undWettbewerbsfähigkeit weiter stärken.Fast 60 000 Personen kümmern sich in Deutschland alsAngehörige steuerberatender Berufe um die fachgerechteUnterstützung der Steuerpflichtigen bei der Erfüllung ih-rer steuerlichen Pflichten und bei der Gestaltung ihrersteuerlichen Verhältnisse, was uns manchmal nicht ganzso lieb ist. Sie übernehmen damit im Rahmen der Volks-wirtschaft eine bedeutsame Funktion. Außerdem sind sielaut Bundesverfassungsgericht ein Organ der Steuer-rechtspflege.Der Aufgabenbereich hat sich weit über die Hilfeleis-tung in Steuersachen hinaus entwickelt. Steuerberatersind für ihre Auftraggeber im Normalfall nicht nur für ei-nen Einzelfall tätig; in der Regel beraten und vertreten siedie Steuerpflichtigen über längere Zeiträume. Daraus er-gibt sich von selbst, dass sie sich zu allgemeinen Beraternihrer Auftraggeber in wirtschaftlichen Fragen entwickeln,zumal eine sachgerechte Hilfe in Steuersachen oft ohnebetriebswirtschaftliche Beratung gar nicht durchzuführenist.
Dem sensiblen Vertrauensverhältnis zwischen den An-gehörigen der steuerberatenden Berufe und den Steuer-pflichtigen, die eine umfassende und qualifizierte rechtli-che Beratung erwarten dürfen, hat die Politik durch dasSteuerberatungsgesetz bereits 1961 Rechnung getragen.Beim 7. Änderungsgesetz passen wir das nationaleSteuerberatungsgesetz an das europäische Recht an. Wirmodernisieren und straffen die Regelungen und machensie durch Präzisierungen in einigen Bereichen leichterhandhabbar. Ich muss jetzt nicht nochmals alle Maßnah-men dieses Gesetzes erwähnen. Das hat die Frau Staats-sekretärin schon sehr ausführlich getan. Wir habenwichtige Forderungen der Steuerberater aufgenommen,einschließlich der Ermächtigung für eine Gebührenord-nung, und wir sind in weiten Teilen im Konsens mit denBetroffenen.Im Gegensatz zu Herrn Hauser will ich aber auchmeine große Freude ausdrücken, dass es den Koalitions-fraktionen gelungen ist, die Beratungsbefugnisse derLohnsteuerhilfevereine gravierend zu verbessern.
Der Wille der Koalitionsfraktionen, Arbeitnehmern einequalifizierte und günstige Steuerberatung zu erhalten,drückt sich in der Erweiterung der Beratungsbefugnisse
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Heidemarie Ehlert9568
bei Einnahmen aus anderen Einkunftsarten, sprich:Einnahmen aus Kapitalvermögen, auf Beträge von18 000 DM bzw. 36 000 DM bei Verheirateten aus.Damit berücksichtigen wir natürlich auch das verän-derte Verhalten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern, die ihre Zukunftsvorsorge nicht mehr allein überdas Sparbuch abwickeln. Trotzdem sollen sie bei der Ab-gabe des Lohnsteuerjahresausgleiches oder der Einkom-mensteuererklärung auf die „Selbsthilfeeinrichtungen derArbeitnehmer“, also auf Lohnsteuerhilfevereine, im Steu-erberatungsbereich nicht verzichten müssen. Dem dientdie Erhöhung dieser Beiträge.
Erstmals in der Geschichte des Steuerberatungsgeset-zes haben wir die Anhörung mit den Fachleuten auch aufdie Berufsstände der selbstständigen Buchhalter aus-gedehnt. Hier stehen die langjährigen Forderungen derselbstständigen Angehörigen buchführender Berufe imRaum, die ihre Befugnis auf die Einrichtung der Buch-führung, vorbereitende Abschlussarbeiten und das Erstel-len der Umsatzsteuer-Voranmeldungen ausdehnen wol-len. Die Bilanzbuchhalter erhalten dabei auch massiveUnterstützung vom DIHT, der im Rahmen der Dienstleis-tungsfreiheiten des europäischen Wettbewerbs diese Aus-weitung für unabdingbar hält.
Diese Argumente, Herr Hauser, sind nicht ganz von derHand zu weisen. Die Abgrenzungsstrategien der Steuer-beraterkammern in den früheren Jahren, die sich auch ineiner Vielzahl von Prozessen gegen selbstständige Bilanz-buchhalter und Buchhalter ausgedrückt haben, sind mei-ner Ansicht nach den Erfordernissen der heutigen Zeitnicht mehr angemessen. Auch die Ausdehnung vonDienstleistungsmöglichkeiten und die Erwartung derSteuerpflichtigen, bei der Erfüllung ihrer Steuerpflichtenoptimal beraten zu werden, müssen gegeneinander abge-wogen werden.Wir haben im 7. Änderungsgesetz bereits einige wich-tige Forderungen dieser Verbände erfüllt, auch mit IhrerZustimmung: Wir haben eine einheitliche Berufsbezeich-nung eingeführt, wir haben die Werbemöglichkeitenrechtssicher gegen Prozesse gemacht und wir haben dieZugangsbedingungen zur Steuerberaterprüfung wesent-lich erleichtert.In einem Entschließungsantrag fordert der Finanzaus-schuss des Deutschen Bundestages mehrheitlich das Bun-desfinanzministerium zusätzlich auf, bis Ende nächstenJahres zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen und inwelchem Umfang das Tätigkeitsfeld der geprüften Bi-lanzbuchhalter erweitert werden kann.Wir werden auch genau beobachten, wie sich diegrenzüberschreitende Steuerberatung aus anderen Staatender Europäischen Gemeinschaft, vor allem aus Österreichund den Benelux-Staaten entwickeln wird. Wir wollen al-len einen fairen Wettbewerb gewährleisten.
Der Zugang zu einem dem Steuerberater ähnlichen Be-ruf setzt in anderen Staaten der Europäischen Gemein-schaft teilweise eine wesentlich geringere fachliche Qua-lifikation voraus als unsere detaillierte Gesetzgebung. Obdadurch gravierende Wettbewerbsnachteile für die An-gehörigen buchführender Berufe entstehen, wird deshalbin den nächsten eineinhalb Jahren penibel registriert.Nötigenfalls müssen wir dann – ich bin überzeugt, dasmachen wir gemeinsam – die Verteilung der Befugnissezur Steuerberatung neu überdenken.Das für die Koalitionsfraktionen wichtigste Kriteriumwird auch dabei der Verbraucherschutz sein. Die Risi-ken für mögliche Befugniserweiterungen dürfen denSteuerpflichtigen nicht aufgelastet werden. Da vor allemkleinere Unternehmen und Handwerksbetriebe auf dieDienste der selbstständigen Bilanzbuchhalter, Buchhalterund Buchführungshelfer zurückgreifen, stehen wir alsGesetzgeber auch in der Pflicht, die Sicherheit einer ord-nungsgemäßen Beratung in unserer komplizierten Steuer-gesetzgebung, insbesondere auch im Umsatzsteuerrecht,einigermaßen zu gewährleisten. Das bedeutet: obligatori-sche Haftpflichtversicherung, Berufsaufsicht, besser ansSteuerrecht angelehnte Ausbildungsinhalte und anderesmehr. Gerade in diesem Bereich gibt es bei den selbst-ständigen Buchhaltern und Buchführungshelfern noch er-hebliche Defizite.Die Überprüfungszeit, wie sie der Entschließungsan-trag vorsieht, wird auch den Verbänden Zeit geben, even-tuell vorhandene Defizite aufzuarbeiten. Es ist ratsam,diese Zeit zu nutzen, zusammen mit den Steuerberater-kammern, den Finanzbehörden, dem DIHT Kriterien zuentwickeln, die eine Brücke bilden zwischen den An-sprüchen, die eine moderne Dienstleistungsgesellschaftim europäischen Raum stellt, und dem notwendigen Ab-bau von Hemmnissen sowie dem Vertrauensschutz für dieSteuerpflichtigen bei der schwierigen Steuergesetzge-bung im gesamten europäischen Raum.Ich fordere auch die Opposition auf, sich an diesen Ge-sprächen zu beteiligen. Ich bin überzeugt davon, dass wirmit reinen Abschottungsmechanismen wie bisher nichtweiterkommen.
Auch wenn das Steuerberatungsgesetz sicherlich einlebendiges Gesetz bleiben wird, das heißt immer den je-weiligen Verhältnissen angepasst werden muss, haben wirmit diesem 7. Änderungsgesetz die Basis für eine weiteregute Entwicklung der steuerberatenden Berufe im euro-päischen Wettbewerb gelegt.Ich bedanke mich auch für die gute Zusammenarbeitmit dem Finanzministerium, den verschiedenen Verbän-den und der Bundessteuerberaterkammer und hoffe, dasswir überall weiter im Gespräch bleiben – gemeinsam imDienste der Steuerpflichtigen.Vielen Dank.
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Lydia Westrich9569
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen nun
zu den Abstimmungen. Nach den Abstimmungen wird es
eine persönliche Erklärung des Abgeordneten Dr. Seifert
geben.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit
der Steuerberater in der Ausschussfassung. Das sind die
Drucksachen 14/2667 und 14/3284. Dazu liegen sieben
Änderungsanträge der Fraktion der PDS vor, über die wir
zunächst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3311? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än-
derungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ge-
gen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3312? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch die-
ser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3313? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än-
derungsantrag ist mit demselben Stimmenverhältnis ab-
gelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3314? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch die-
ser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3315? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser
Änderungsantrag ist ebenfalls mit demselben Stimmen-
verhältnis abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3316? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch die-
ser Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS mit
den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3317? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch
dieser Änderungsantrag ist mit dem eben festgestellten
Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung in der Ausschussfassung,
Drucksache 14/3284 Nr. 1. Wer stimmt für den Gesetz-
entwurf? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen
worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
der dritten Lesung mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der PDS angenommen worden.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3284 die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Jetzt kommen wir zur persönlichen Erklärung zur Ab-
stimmung des Abgeordneten Dr. Seifert.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
den Tribünen und draußen! Wir haben hier gerade über ein
Steuerberatergesetz abgestimmt. Ich habe mich am Ende
enthalten, weil Sie all unseren Änderungsanträgen Ihre
Zustimmung verweigert haben. Ich will mich auf einen
einzigen Änderungsantrag beziehen. Normalerweise
spreche ich in diesem Hause, wenn es um Behinderten-,
Menschenrechts- oder Bürgerrechtsfragen geht. Hier
wurde ein Gesetz verabschiedet, das in einem Punkte, für
den die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten kämpft,
dass es keine – –
Herr Abgeord-
neter, einen Moment! Ich muss jetzt doch auf die Regeln
achten. Sie können nur zu Ihrem eigenen Abstimmungs-
verhalten Stellung nehmen. Sie können nicht das
Abstimmungsverhalten anderer Abgeordneter kommen-
tieren oder kritisieren. Bei diesem Instrument der Ge-
schäftsordnung, das Sie benutzt haben, besteht dazu nicht
die Möglichkeit.
Vielen Dank, Frau Präsidentin,dass Sie mich darauf hinweisen. – Ich wollte Ihnen nurmitteilen, dass die Behindertenbewegung seit Jahrzehntendarum kämpft, dass solche Diskriminierungstatbeständenicht mehr in Gesetze aufgenommen bzw. getilgt werden.Am 5. Mai – das ist noch keine Woche her –, am euro-paweiten Aktionstag, haben Menschen mit Behinderungeuropaweit und gerade auch hier in Berlin genau darumgekämpft, dass solche Sätze nicht mehr in Gesetze kom-men. Ich fühle mich als Teil dieser Behindertenbewegungund muss Ihnen sagen, dass ich enttäuscht bin, dass wie-derum ein solches Gesetz verabschiedet wurde. Ich bitteSie, in sich zu gehen. Vielleicht bekommen wir wenigs-tens in diesem Punkte so schnell wie möglich eine erneuteÄnderung hin, die solche Diskriminierungen unmöglichmacht.Es kann nicht sein, dass sich jeder Mensch blamierendarf, auch beruflich, so wie er will, aber Menschen mitBehinderungen, die in gleicher Weise freiberuflich wieviele andere tätig werden wollen, vor sich selbst geschütztwerden sollen. Wo gibt es denn so etwas?
Ich bitte Sie, in sich zu gehen.Frau Präsidentin, ich habe vielleicht das Geschäftsord-nungsinstrument nicht ganz so angewandt, wie es richtigwäre. Daher schöpfe ich meine Redezeit nicht aus.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und bitte Siealle in diesem Hause: Lassen Sie uns eine achte Änderung
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zugunsten von Menschen mit Behinderungen und ohnediskriminierende Formulierungen in Angriff nehmen!Danke schön.
Ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Hauser , Norbert Röttgen, Ilse Aigner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Sicherung der außeruniversitären interdiszi-
plinären Grundlagenforschung in der Informa-
tions- und Kommunikationstechnik
– Drucksache 14/3097 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Norbert Hauser.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Die interdisziplinäreGrundlagenforschung ist für die Informations- und Kom-munikationstechnologie von fundamentaler Bedeutung.Sie ist es nämlich, die die Grundlage für die anwen-dungsbezogene Forschung nachfolgender Jahre bildet.Herr Catenhusen, es schien, als hätten Sie die Bedeu-tung der Grundlagenforschung nicht nur erkannt, sondernwollten ihr zusätzlichen Auftrieb verleihen, als Sie uns am29. September des vergangenen Jahres wie aus heiteremHimmel die Pläne der Bundesregierung über die Fusionvon GMD und FhG gütigst zur Kenntnis gaben. In einerPressemitteilung vom selben Tag hieß es vielverspre-chend – ich zitiere –:Zugleich wird in der neuen Organisation mehr Raumfür Vorlaufforschung geschaffen und für die Inan-griffnahme neuer Themen, die erst mittel- und lang-fristig Vermarktbarkeit versprechen.Was ist aus diesen hehren Zielen geworden? DieGrundlagenforschung ist Ihnen im wahrsten Sinne desWortes abhanden gekommen. Sie haben seit SeptemberIhre forschungspolitischen Fusionsziele aufgegeben. Sosollte interdisziplinäre Grundlagenforschung auch nachder Fusion in der FhG fortgeführt werden. Gerade hierinsollte der forschungspolitische Mehrwert der neuen FhGliegen. Sie, Herr Catenhusen, haben das Wort Grundla-genforschung aus den Fusionsplänen gestrichen. So solltedie Fusion mit einer Neugliederung der FhG einhergehen.Vorgesehen war die Aufgliederung der FhG in Fachberei-che, so auch in einen für I und K. Davon ist heute keineRede mehr.Es ist daher kein Wunder, dass Sie mit Ihren Fusions-plänen mittlerweile auf ungeteilte Ablehnung stoßen. Erstvorgestern haben sich die Institutsleiter der GMD ge-schlossen gegen eine Fusion ausgesprochen. Bei den Mit-arbeitern der GMD herrschen Bitternis und Verärgerung.Statt sie an dem Fusionsprozess zu beteiligen, werden ih-nen seitens des BMBF Maulkörbe verpasst. Es macht sichdas Gefühl breit, es gehe nicht mehr um das Wohl derGMD oder der FhG, sondern ausschließlich darum, dieeinmal propagierte Fusion um des vermeintlichen politi-schen Erfolges der Forschungsministerin willendurchzusetzen. Dies ist Arroganz der Macht, die hier zu-tage tritt.
Selbst die FhG, die nach allen Einschätzungen nach derFusion auf der Gewinnerseite stünde, hat starke Vorbe-halte. Die FhG hat deutlich gemacht, dass die Fusion nachFasson der Bundesregierung nicht zum Ziel führen kann.So war einem Papier, das den FhG-Senatsbeschluss vom11. April 2000 vorbereiten sollte, Folgendes zu entneh-men – ich zitiere –:Ein Kernproblem liegt nach wie vor in den bishernicht überbrückbaren Unterschieden der Förderungvon FhG und GMD und damit im unterschiedlichenZwang zur Fokussierung der Forschung auf kurz-und mittelfristige Umsetzbarkeit.Die FHG fordert deshalb von der BundesregierungAntworten – Zitat –:Noch heute fehlt es an erschöpfenden und konsisten-ten Erklärungen des BMBF zu den mit der Fusionverfolgten forschungspolitischen Zielen und den da-mit verbundenen Förderbedingungen für die FhG-und GMD-Institute in der erweiterten FhG.
Unter dem Label „Fusion unter Gleichen“ wurdendie Geschäftsführungen beider Gesellschaften– hören Sie gut zu, Herr Hilsberg –allein gelassen bei der gemeinsamen Richtungsfin-dung unter dem Diktat der so unterschiedlichen wirt-schaftlichen Rahmenbedingungen in FhG undGMD.Was muss Ihnen eigentlich noch ins Stammbuch ge-schrieben werden, damit Sie endlich aufwachen?
Auch von Externen, die von der Fusion nicht be-troffen sind, erhalten Sie schlechte Noten. ProfessorWilfried Bauer von der TU München schrieb an FrauBulmahn:Ich verstehe nicht, wie Sie ohne eingehende Bera-tung durch kompetente Wissenschaftler und Fach-leute aus der Industrie solch eine delikate Angele-genheit im Stile einer Firmenfusion durchziehen zukönnen glaubten.Oder Professor Bernd Neumann von der UniversitätHamburg betonte gegenüber der Forschungsministerin –Zitat –,
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Dr. Ilja Seifert9571
dass Ihre Maßnahme die Grundlagenforschung derGMD und damit in Deutschland substanziellschwächen wird.Noch deutlicher wurde Professor Siegfried Stiehl,ebenfalls Universität Hamburg, der etwas drastisch meint,dass durch die Fusioneine politische Guillotine einen der besten Köpfe derIuK-Grundlagenforschung in der Bundesrepublikvom wissenschaftlichen Körper der nationalen In-formatik trennt.Das sind deutliche Worte, die der Koalition zu denkengeben sollten. Meine Damen und Herren, mit solchen No-ten könnte keiner von Ihnen mehr irgendein Examen be-stehen.
Selbst die Sitzländer der GMD – Berlin, Hessen, Nord-rhein-Westfalen – haben deutlich gemacht, – –
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
– Sie brauchen die Frage ja nicht zu stellen.
Herr Kollege Hauser, ist
Ihnen eigentlich entgangen, dass die entscheidenden Be-
schlüsse der beiden Gremien für die Fusion nahezu ein-
stimmig erfolgt sind und dass von allen Fachleuten, die in
diesen Gremien versammelt sind, keinerlei Kritik an dem
bisherigen Fusionsprozess laut geworden ist?
Herr Hilsberg,hören Sie doch bitte zu! Ich habe Ihnen die Kritik der FhG,die ja eigentlich – ich führte das aus – der Gewinner die-ser ganzen Aktion sein sollte, ausdrücklich und umfas-send zitiert. Hier wurde deutlich, dass zwar eine Fusionunter den Parametern, wie sie ursprünglich einmal ange-dacht waren – Stärkung der Grundlagenforschung in derFhG, diese Stärke der GMD in die FhG mit hinüber neh-men, dadurch die Synergieeffekte aus beiden stärken –,möglich und sinnvoll sei. Aber von diesen Parametern ha-ben Sie sich entfernt.
Ich werde gleich noch einmal dazu kommen, dass die Fu-sion von der Erfüllung dieser Parameter abhängig ge-macht werden muss. Nur wenn das gewährleistet ist, kannes eine Fusion dieser beiden Einrichtungen geben. Undunter dieser Bedingung, Herr Hilsberg, haben zum Bei-spiel der Aufsichtsrat in der GMD und auch der Senat inder FhG zugestimmt, weil man davon ausging, dass diesauch Bedingungen für eine Fusion seien.Meine Damen und Herren, ich wies schon darauf hin,dass auch die Sitzländer – Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen – deutlich gemacht haben, dass in diesem Sinnedie Parameter eine Conditio sine qua non für eine Fusionsind.Ministerialdirigent Helmut Matonett vom Ministeriumfür Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und For-schung des Landes Nordrhein-Westfalen schreibt in ei-nem Brief vom 30. März 2000 an den Landrat des Rhein-Sieg-Kreises:Nur wenn gewährleistet ist, dass diese Eckpunkte,die nach Geist und Inhalt Grundlage für die Zusam-menführung sein sollen, auch tatsächlich umgesetztwerden, wird die Landesregierung einer Fusion vonFhG und GMD zustimmen.Meine Damen und Herren, Hauptproblem im Fusions-prozess ist der entstandene Eindruck, dass die Bundesre-gierung bereit ist, die interdisziplinäre Grundlagenfor-schung im IuK-Bereich auf dem Fusionsaltar zu opfern.
Heute müssen Sie die Antwort darauf geben, wohin derWeg der Informations- und Kommunikationstechnologie inDeutschland führen soll. Entweder auf der einen Seite Grund-lagenforschung, Vorlaufforschung und anwendungs-orientierte Forschung als harmonischer Dreiklang oder aufder anderen Seite, wie es im Bericht der Evaluierungskom-mission für die FhG aus November 1998 heißt, anwendungs-orientierte Vertragsforschung, ausgerichtet an der „Kun-denzufriedenheit“.Eine solche, auf kurzfristige Erfolge abzielende For-schung hat durchaus ihren Sinn. Sie kann aber nur einenTeil der Forschungslandschaft darstellen.
Verbesserungen da, wo wir bereits top sind, Vorrang fürAnwender für das kurzfristig Benötigte, aber eben keineAntworten auf lange Sicht.Das ist Feuerwerksforschung: brillant, leuchtend undbeeindruckend für den Moment, aber eben ohne Ant-worten und dunkel im Blick auf die Zukunft.Wir haben Sie mehrfach auf die gegenläufige Ent-wicklung in den USA hingewiesen, die Sie nicht zurKenntnis nehmen wollten. Die USA beabsichtigen, bis2004 zusätzlich 1,378 Milliarden US-Dollar im Wesentli-chen in die interdisziplinäre Grundlagenforschung zu in-vestieren,
ausgerichtet nicht an kurzfristigen Zielen, sondern anZeiträumen von Dekaden. Nur wenn wir übersehen, wasübermorgen gefragt ist, wenn es uns gelingt, die Anforde-rungen, die unsere Gesellschaft in Zukunft zu bewältigenhat, zu erkennen, um uns dann umgehend auf die Suchenach Antworten zu begeben, eröffnen wir uns die Mög-lichkeiten, die Schwelle zu neuen Märkten als Erste zuüberschreiten. Die USA haben das begriffen und verste-
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Norbert Hauser
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hen die Grundlagenforschung als strategische Forschungfür neue Märkte.Wir verlangen deshalb für die Fusion von FhG undGMD deutliche Zeichen, dass die von Ihnen zugesagte Er-haltung und Förderung der Grundlagenforschung Voraus-setzung und Bedingung für eine Fusion dieser beiden For-schungseinrichtungen sind.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen.
W
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf dem Weg in
die Informations- und Wissensgesellschaft hat die
Vorgängerregierung ein schlüssiges Gesamtkonzept nie
zustande gebracht. Nur wenige technologische Neuerun-
gen im Bereich Internet sind „made in Germany“.
Hinsichtlich Computerausstattung und Internetanbindung
rangierten deutsche Bildungseinrichtungen bei Regie-
rungsübernahme im internationalen Vergleich höchstens
im Mittelfeld. Didaktisch hochwertige Bildungssoftware
war bei Regierungsübernahme nur wenig verfügbar, ganz
zu schweigen von dem Thema Aus- und Weiterbildung im
IT-Bereich, wo offenkundig nicht rechtzeitig auf er-
kennbare neue Anforderungen reagiert wurde, mit der
Folge, dass wir in Deutschland heute hier eine Wachs-
tumsbremse haben.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionspro-
gramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Infor-
mationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ erstmals ein
Gesamtkonzept vorgelegt, in dem wir Ziele formulieren,
Aktionen bündeln und in Kooperation und gegenseitiger
Abstimmung von Wirtschaft und Politik die für den Auf-
bruch in die Informationsgesellschaft notwendigen Wei-
chenstellungen für eine zukunftsgerichtete Forschungs-
und Bildungspolitik vorgenommen haben. Zentrale Maß-
nahmen sind dabei etwa die gemeinsame Initiative im Be-
reich Initiative D 21 mit der Wirtschaft und auch mit den
Ländern zur verstärkten Computerausstattung und Netz-
anbindung aller Bildungseinrichtungen. Es geht etwa um
das neue Förderprogramm „Neue Medien in der Bil-
dung“, bei denen die Entwicklung und Erprobung didak-
tisch hochwertiger Bildungssoftware Schwerpunkt ist,
wofür alleine in den nächsten Jahren 400 Millionen DM
zur Verfügung gestellt werden. Es geht etwa um Pro-
gramme zur Erschließung neuer Anwendungsfelder durch
Nutzung moderner I-und-K-Technologien, zum Beispiel
im Bereich virtuelle Realität, intelligente Internettechno-
logien. Es geht auch um die Sicherung und den Ausbau
der Spitzenposition in der informationstechnischen Tech-
nologieentwicklung, etwa durch unser neues Förderpro-
gramm UMTS plus, und um neue Anstrengungen zur
Fortentwicklung der wissenschaftlichen Infrastruktur,
zum Beispiel die Umstellung des deutschen For-
schungsnetzes hin zu einem Höchstleistungsnetz mit
Übertragungsraten im Gigabytebereich.
Zu einem in sich konsistenten zukunftsorientierten Ge-
samtprogramm gehört auch die Frage, wie wir die Struktur
der außeruniversitären Forschung auf dem Gebiet der Kom-
munikations- und Informationstechniken zukunftsorientiert
weiterentwickeln. In Übereinstimmung mit dem Präsiden-
ten der Fraunhofer-Gesellschaft und dem Direktor der
GMD haben wir deshalb einen Prozess begonnen, der zum
Ziel hat, durch Zusammenführung der Institute der GMD
mit den Informations- und Kommunikationsforschungsin-
stituten der Fraunhofer-Gesellschaft die Stärken beider Ein-
richtungen zu bündeln. Jeder kann in diese neue Struktur
seine besondere Stärke einbringen. Denn – das gilt es fest-
zuhalten – gerade im Bereich der Informations- und Kom-
munikationstechnik kommt es zu einer immer stärkeren
Rückkoppelung zwischen anwendungs- und produkt-
orientierter Forschung und Entwicklung und strategisch
orientierter längerfristiger Grundlagenforschung.
Gerade in diesem Bereich sind die Innovationszyklen ex-
trem kurz und damit verschwimmen die klassischen
Grenzen zwischen Grundlagenforschung, angewandter
Forschung und Vorbereitung auf Produktentwicklungen.
Meine Damen und Herren, ich meine, wer für
Deutschland, wie Sie es heute tun, ausschließlich die
Stärkung der Grundlagenforschung im klassischen Sinne
reklamiert, missversteht die Innovationsdynamik auf die-
sem Gebiet und den Abbau bisher gültiger Grenzen zwi-
schen Grundlagenforschung, angewandter Forschung
und produktorientierter Forschung. Er missversteht auch
grundlegende Studien wie etwa den amerikanischen
PITAC-Report.
Denn dieser Report empfiehlt durchaus verstärkte Akti-
vitäten in strategisch ausgerichteten Forschungsfeldern.
Er verknüpft sie aber immer mit sehr konkreten Anwen-
dungsfeldern. Das ist der strategische Fehler und der
Denkfehler, den Sie, Herr Hauser, und andere machen, in-
dem Sie versuchen, diesen Gesamtkomplex künstlich aus-
einander zu dividieren und künstliche Trennungen im Ge-
füge und in der Struktur der außeruniversitären Forschung
in Deutschland einzufordern.
Herr Staatsse-
kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hauser?
W
Aber
gerne.
Herr KollegeCatenhusen, ist Ihnen entgangen, dass ich soebenvorgetragen habe, dass unser Verständnis von Grundla-genforschung aus dem harmonischen Dreiklang vonGrundlagenforschung, Vorlaufforschung und anwen-dungsorientierter Forschung besteht, und dass damitdurchaus deutlich wird, dass wir diese drei Aspekte nicht
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Norbert Hauser
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auseinander ziehen wollen, sondern dass wir gerade das,was Sie jetzt im Begriff sind zu tun, nämlich sich nur nochauf die anwendungsorientierte Forschung zu stützen, fürfalsch halten?W
WennSie das so sehen, Herr Kollege Hauser, nehme ich daszwar zur Kenntnis, weise Sie aber darauf hin, dass es ei-nen erkennbaren Widerspruch zwischen der strategischenGrundeinschätzung, die Sie in Ihrer Rede haben anklin-gen lassen – ich akzeptiere diese auch; darin besteht of-fenkundig Übereinstimmung zwischen uns; das ist ja auchwichtig –, und den Organisationskonsequenzen, die Sieaufgrund Ihrer Position ziehen, gibt.Denn gerade bei der Fusion von GMD und FhG wer-den nach unserer Überzeugung alle Beteiligten gewinnenkönnen.
– Sie müssen mir schon überlassen, ob ich Ihre Frage mitzwei oder mit 20 Sätzen beantworte, Herr Kollege Hauser.– In diesem Sinne sage ich Ihnen: Jawohl, ich konstatierediesen Widerspruch und denke, dass Sie an dieser Stellefür sich selber klären müssen, was für Sie wichtiger ist:Wollen Sie grundsätzlich den Synergieeffekt, der sich ausdem Prozess einer stärkeren Verknüpfung und Vernetzungvon stärker auf Grundlagenforschung orientierten Institu-ten, die sehr viel mehr marktorientiert sind, sich aber inder Synergie mit den Instituten der GMD stärker auf Fra-gen der strategischen Forschung öffnen können, und vonauf strategische Forschung orientierten Instituten ergibt?Oder wollen Sie in Ihren praktischen Umsetzungsforde-rungen Strukturen konservieren, die das Zusammen-führen und das, wie Sie sagen, stärkere Aufeinanderbe-ziehen eher verhindern oder abblocken?Das ist die strategische Frage, die Ihnen gestellt wirdund auf die wir eine andere Antwort geben. Denn nach un-serer Überzeugung können bei der Fusion von GMD undFhG im Bereich der Informations- und Kommunikations-technik alle Beteiligten gewinnen, und zwar die Instituteder GMD an Marktorientierung und an stärkerer Orien-tierung an Auftragsforschung, wie es den Strukturen derFraunhofer-Gesellschaft entspricht. Auch die Fraunhofer-Gesellschaft – das Umdenken fällt beiden Organisationenoffenkundig nicht ganz leicht – kann von der längerfris-tig orientierten Forschung auf der Basis strategischerGesichtspunkte, wie sie in der bisherigen GMD vorge-herrscht hat, profitieren.Meine Damen und Herren, es ist doch klar, dass wir dieKompetenz der Fraunhofer-Gesellschaft, die sich sehrstark auf die industrielle Auftragsforschung und auf dieAuftragsforschung für öffentliche Projekte konzentrierthat, auch in zukünftig bedeutsamen Technologiefeldernstärken müssen. Die Kommission, die die Fraunhofer-Ge-sellschaft evaluiert hat, hat ausdrücklich empfohlen, dieKompetenz der Fraunhofer-Gesellschaft für die Produktevon morgen und übermorgen durch eine Verstärkung derVorlaufforschung voranzubringen.Ich denke, konkret dies setzen wir um. Deshalb gilt: Indieser gemeinsamen Struktur sollte die vergrößerteFraunhofer-Gesellschaft insgesamt mehr Anreize für Aus-gründungen schaffen, wie sie zum Beispiel in der Gesell-schaft für Mathematik und Datenverarbeitung in den letz-ten Jahren durchaus in beachtlicher Weise realisiert wor-den sind.Dies werden wir erreichen durch einen eigenen Fondsfür die längerfristig angelegte Forschung auf strategi-schen, zukunftsträchtigen Gebieten – dazu könnte manauch „anwendungsorientierte Grundlagenforschung“ sa-gen –, und durch eine Verbesserung des Anreizsystems in-nerhalb der erweiterten Fraunhofer-Gesellschaft für Aus-gründungen und für die Einwerbung von EU-Mitteln.Mein Eindruck ist, dass, wenn wir die Diskussion zugrundsätzlichen Fragen führen, viel mehr Gemeinsam-keit in der Zielsetzung auf beiden Seiten des Hauses be-steht, als es vielleicht in einer hitzigen Debatte wenigeTage vor einer Landtagswahl den Anschein haben kann.Offenkundig fällt uns das aktive Mitwirken an solchenstrukturellen Reformen, das offene Einlassen auf einengemeinsamen Entwicklungsprozess, den wir nicht imDetail vorgeben wollen, nicht immer ganz leicht. Das istauch kein Wunder nach 16 Jahren Reformstau inDeutschland. Wo gibt es die Kultur, strukturelle Refor-men im Wissenschaftsbereich gemeinsam anzugehen?Wo sind in den letzten 16 Jahren Lernprozesse erfolgt, dieStrukturen zukunftsorientiert weiterzuentwickeln?
Wir müssen lernen, damit umzugehen, dass die Reform-bereitschaft in diesem Bereich nicht im ersten Anlauf mitJubel begleitet wird, sondern zum Teil mit Besorgnis, weilman geneigt ist, mit der Überzeugung in den Prozess zugehen: Besser, es bleibt so, wie es ist; ich weiß ja nicht,wie die Zukunft wird.Meine Damen und Herren, wir wissen – das hat dieschwierige Diskussion der letzten Monate gezeigt –, dasses in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbei-tung, einer Großforschungseinrichtung des Bundes, undder Fraunhofer-Gesellschaft unterschiedliche Unterneh-mensphilosophien und -kulturen gibt. Das macht den be-gonnenen Integrationsprozess zu einem spannenden undnicht spannungsfreien Unterfangen.Ich kann verstehen, dass Sie als Abgeordnete es als IhreAufgabe erachten, uns auf die Schwierigkeiten hinzuwei-sen. Es ist auch richtig, dass Abgeordnete, die in diesenRegionen Verantwortung tragen, uns mit den kritischenNachfragen der Beschäftigten konfrontieren. Aber in derersten Aprilhälfte hat es Beschlüsse seitens des Auf-sichtsrats der GMD und des Senats der Fraunhofer-Ge-sellschaft gegeben – darauf hat der Kollege Hilsberg be-reits hingewiesen –, durch die eine gewisse Klärung derPerspektive erreicht wurde:
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Norbert Hauser
9574
Erstens. Die Umsetzung der Fusion wird zum 1. Ja-nuar 2002 erfolgen. Das heißt, wir haben mehr Zeit für einsorgfältiges Austarieren der neuen Struktur gewonnen.Zweitens. Nach diesen Beschlüssen sind die wissen-schaftlichen Mitarbeiter und die Leiter der Institute derGMD und der IuK-Institute der Fraunhofer-Gesellschaftam Zuge. Sie können mit den Vorständen beider Seitenund gemeinsam mit einem erfahrenen Moderator die Sy-nergieeffekte der Zusammenführung definieren sowie dieStruktur und die Schwerpunkte ihrer Arbeit unter demkünftigen gemeinsamen Dach der Fraunhofer-Gesell-schaft ausarbeiten. Wir erhoffen uns davon eine nachhal-tige Profilierung und Stärkung der Forschungs-landschaft auf dem Gebiet der Informations- undKommunikationstechniken.Eines aber will ich hinzufügen: Man sollte nicht denEindruck erwecken, als spiele sich die außeruniversitäreoder gar die wissenschaftliche, strategisch orientierteForschung im Bereich der Informations- und Kommuni-kationstechniken weitgehend in der GMD ab, als gebe esaußer der GMD keine außeruniversitäre Forschungmehr. Wir haben eine Vielzahl weiterer außeruniversitä-rer Forschungseinrichtungen in vielen Bundesländern,die hoch qualifizierte Arbeit auch im Bereich strategischund anwendungsorientierter Grundlagenforschung leis-ten. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur dasHeinrich-Hertz-Institut, das Max-Planck-Institut inSaarbrücken und das Deutsche Zentrum für KünstlicheIntelligenz in Kaiserslautern. Ich könnte diese Liste um20 Institute – um Institute auch in den neuen Bundes-ländern – mit hervorragenden Leistungen erweitern.Auch die GMD muss wissen, dass sie nur ein Teil desSystems ist. Sie haben daher in Ihrem Antrag zu Recht da-rauf hingewiesen, dass wir eine breite Forschungs-landschaft haben, dass wir hier also einen Bausteinfortschrittsorientiert weiterentwickeln. Wir nehmen dieMotivation Ihres Antrags sehr ernst, uns darauf hinzuwei-sen und auch uns zu ermuntern und zu drängen, dass wirden Instituten der GMD und der Fraunhofer-Gesellschaftden notwendigen Spielraum zur Mitgestaltung dieses Fu-sionsprozesses lassen. Diesem Drängen wird durch dieBeschlüsse des Senats der FhG und dem Beschluss desAufsichtsrats der GMD nachgekommen. Allerdings wer-den sie schon in den nächsten Wochen zu beraten haben,wie ernst sie die allgemeine Begrüßung der Zielsetzungder geplanten Strukturreform nehmen.Wir sind zuversichtlich, dass alle Beteiligten diesesJahr für eine konstruktive Ausgestaltung der neuen Struk-turen nutzen. Ich sage deutlich: Natürlich bedeutet diesauch, dass wir die Ergebnisse, durch die die Strukturen imVergleich zum bisherigen Planungsstand weiterent-wickelt wurden, ernst nehmen. Denn wir wollen eine ef-fiziente, eine leistungsfähige Struktur, die uns auch aufdem Gebiet der Informations- und Kommunikationstech-nik stärker macht. Ich denke, dass wir alle Grund haben,hier ein aktives Mitarbeiten an der zukunftsorientiertenWeiterentwicklung der Strukturen zu ermuntern.Dazu wird sicherlich auch die Arbeitsplatzgarantie,die für alle Beschäftigten der GMD gilt, beitragen. Denntrotz aller Besorgnisse und Proteste kann hier von einemsehr sicheren Fundament aus die Strukturreform betriebenwerden. Das muss man den Beschäftigten manchmal auchsehr deutlich sagen: Es geht nicht um ihren Arbeitsplatz;es geht nicht um ihre soziale Existenz, sondern es geht umdie Frage, wie die zukunftsorientierten Erwartungen anein leistungsfähiges Wissenschaftssystem auch von denWissenschaftlern selbst in eine Weiterentwicklung derStrukturen umgesetzt werden. Ich werbe nach wie vordafür, dass auch die Wissenschaftler selbst an diesemstrukturreformerischen Prozess mitwirken.Schönen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, esklang am Anfang alles gut; die Argumentation schien lo-gisch und schlüssig. Dem Anschein nach war die Aktiongut vorbereitet und so löste die Nachricht aus der Bundes-pressekonferenz vom 29. September 1999 unter dem Ti-tel „Fraunhofer-Gesellschaft und GMD streben Fusionan“ erst einmal keine größeren Unmutsbekundungen aus.Warum auch? Frau Ministerin Bulmahn informierte dieÖffentlichkeit darüber, sie habe sich mit den Vorsitzendender Vorstände und der Aufsichtsgremien über die Fusiongeeinigt.Kurz darauf – man beachte im Übrigen auch die Rei-henfolge der Informationen – wurden über die Absichts-erklärung die Mitglieder des Ausschusses für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung informiert.Auch hier wurde der Eindruck erweckt, alles sei sehr mo-dern und zukunftsorientiert. Die größte Forschungsorga-nisation auf dem Gebiet der IuK-Technik Europas werdeentstehen, Raum für Vorlaufforschung werde für die neueFraunhofer-Gesellschaft/GMD geschaffen; von Syner-gien war die Rede und davon, dass man mit einem über-kritischen Potenzial den Wirtschaftsstandort Deutschlandstärken und das Ausland das Fürchten lehren wolle.Jedoch verfehlen schnelle Schüsse oft ihr Ziel, HerrStaatssekretär, und so hat diese Bundesregierung wiedereinmal den schnellen Erfolg vorgezogen – eigentlich ver-wunderlich, denn Nachhaltigkeit sollte ja die Politik die-ser Regierungskoalition bestimmen.
Das Ergebnis einer laufenden Systemevaluation derHermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher For-schungszentren, das der Wissenschaftsrat übrigens imNovember dieses Jahres vorlegen wird, wurde nicht ab-gewartet und nach neuen zukunftsträchtigeren Modelleneiner Zusammenarbeit zwischen GMD und den Institutender Fraunhofer-Gesellschaft wurde erst gar nicht gesucht.Was modern und zukunftsträchtig aussah, entpuppte sichalso schnell als Dinosaurier der Forschungsgeschichte.
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Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen9575
Meine Damen und Herren, heute kommt es in der Wis-senschaft längst nicht mehr darauf an, große verwal-tungsintensive Forschungsorganisationen zu schaffenoder bestehende immer weiter anwachsen zu lassen. Ge-rade in der Forschung sind entgegen den Entwicklungenin der Wirtschaft – das zeigt ja gerade der rasche Wandelin den vielen aus der GMD ausgegründeten jungen IuK-Technik-Unternehmen – kleine, kreative Strukturen ge-fragt. Nicht die Größe einer Forschungsorganisation istder Maßstab, sondern die Leistungsfähigkeit der For-schungsinstitute selbst.Die GMD-Institute zählen mit den von ihnen bearbei-teten Themen zur Weltspitze, so zum Beispiel mit dem„biological computering“. Das eigentliche Problem ist inder unterschiedlichen wirtschaftlichen Organisationvon GMD und Fraunhofer-Gesellschaft zu sehen; daswurde hier ja auch schon gesagt. Kleine Institute bei derGMD sind mit ihren Wissenschaftlerteams visionär tätig;Träger der Forschungsleistungen der Fraunhofer-Gesell-schaft sind Institute, die zwar unselbstständig sind, dieaber als selbstständige Profitcenter agieren. In der GMDfindet zu 70 Prozent anwendungsorientierte Forschung,zu 30 Prozent Grundlagenforschung statt. In diesem Teilist das Zusammengehen nicht kompatibel. Die reine Zu-sammenlegung von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft,ohne Berücksichtigung der gewachsenen Strukturen, birgtunseres Erachtens in Wirklichkeit eine Schwächung derForschungsleistungen der einzelnen Institute in sich undläuft auf die Schwächung der Informations- und Kom-munikationsbranche in Deutschland hinaus.Die Stärke der GMD liegt in ihren Wissenschaftlern,also in der Innovationskraft der Institute. In der heutigenZeit muss man über ganz andere Strategien nachdenken.Kooperationsvereinbarungen und virtuelle Fusionen derInstitute sind bereits heute gangbare Wege. So ist es vor-stellbar, dass die unterschiedlichsten Organisationsstruk-turen zielführend miteinander kooperieren.Die GMD kann auch künftig allein funktionieren.So könnte künftig die GMD einen eigenständigen Beitrag zurErhöhung der Attraktivität des Studienstandortes Deutsch-land in der Doktorenausbildung und der Postdoktoranden-phase leisten. Die GMD könnte durch die Fondsidee als Zu-kunftsmodell getragen werden. Dabei wären zwei Fonds zubilden, der eine für die so genannten neuen Märkte, der an-dere für Projekte der Grundlagenforschung.Der Auftrag an die Vorstände und Aufsichtsgremienvon Fraunhofer-Gesellschaft und GMD sowie an die ein-gesetzten Moderatoren sollte von der Bundesregierungneu überdacht werden, damit bis zum genannten Zeit-punkt – der Zeitraum hat sich ja nun erweitert, wie HerrCatenhusen vorgetragen hat – eine tatsächliche Koopera-tion zwischen GMD und Fraunhofer-Gesellschaft entste-hen kann.Unseres Erachtens ist ein Kooperationsmodell zu ent-wickeln, das an die jeweiligen Stärken der Institute derGMD und der Institute der Fraunhofer-Gesellschaft an-knüpft und zu gemeinsamen Projekten und Strategienführt. Denn nur eine partnerschaftliche Vereinigungschafft die Grundlage für den Erfolg. Das eigentlicheProblem, das der unterschiedlichen wirtschaftlichenOrganisation von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft, istauch so zu lösen. In der GMD sind, wie gesagt, kleine In-stitute mit ihren kleinen Wissenschaftlerteams sehr vi-sionär tätig. Sie betreiben sozusagen Forschung in einemRandgebiet zwischen Grundlagen- und angewandter For-schung. Sie heute zu Eigenmittelerwirtschaftung nachdem FhG-Modell zu bewegen würde viele Forschungs-räume beschränken. Ich behaupte, es würde den Wissen-schaftsstandort Deutschland gefährden.
– Ich weiß, Herr Tauss, Sie können leider nicht mit Kritikleben. Die rot-grüne Bundesregierung hat riesige Schwie-rigkeiten, die Kritik der Opposition zu ertragen.
Aber Sie haben nun einmal Verantwortung übernommen;da müssen Sie sich die besseren Ideen anhören, auch wennsie aus der Opposition kommen.
– Die habe ich Ihnen doch gerade vorgetragen. Fakt ist,dass mit der Fusion, die Sie vorhaben, die Rolle derGrundlagenforschung künftig geschwächt wird. Deswe-gen denke ich, dass der CDU/CSU-Antrag – das sage ichauch namens meiner Fraktion – die richtigen Feststellun-gen getroffen hat.
Frau Kollegin,
die Redezeit ist jetzt doch schon erheblich überschritten.
Ich bedanke mich für den
Hinweis, Frau Präsidentin. – Wir unterstützen natürlich
den Antrag der Union.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hans-Josef Fell.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen von der Union, Ihr Anliegen, die außeruniver-sitäre Forschung im Bereich der Informations- und Kom-munikationstechnologie zu sichern und zu stärken, ist si-cher berechtigt. Wir teilen Ihre Meinung.Nur, dies in einen Antrag zu packen, ist vordergründig undsehr schnell nachzuvollziehen: Sie haben unter den Mit-gliedern der GMD eine Stimmung aufgegriffen und da-raus einen Antrag gemacht, um in Nordrhein-Westfalenrichtig Wahlkampf zu machen. Dies ist der eigentlicheHintergrund dieses Antrages.
Deswegen ist er auch nicht zu unterstützen.
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Cornelia Pieper9576
– Nein, Sie haben nicht die richtigen Inhalte aufgegriffen;denn im Ziel sind wir überhaupt nicht voneinander ent-fernt und wir arbeiten daran, genau diese Grundlagenfor-schung voranzutreiben.Worum geht es? Im letzten Herbst wurde verkündet,die GMD und die FhG würden fusionieren. Die Unter-stützung des Ministeriums lag nahe, da sich die Beteilig-ten weitreichende Synergieeffekte erwarteten. Dennochwar die Aufgabe von Ministerin Bulmahn von Anfang annicht leicht und die Ministerin war nicht zu beneiden.Denn es zeichneten sich schnell zwei große Herausforde-rungen ab.Die erste ist ganz klar: Die Fusion muss erfolgreichsein. Beide Partner müssen gemeinsam mehr Erfolg ha-ben, das heißt, sie müssen in der Summe mehr Erfolg ha-ben als die beiden vorherigen Einzelkämpfer.
Dieser Erfolg ist nicht selbstverständlich. Aus der Wirt-schaft wissen wir, dass mehr als die Hälfte der beabsich-tigten Fusionen nicht stattfindet.Zweitens. Beide Partner haben zum Teil sehr unter-schiedliche Strukturen und Aufgabenfelder.
– Nein, das ist überhaupt kein Abwatschen, HerrKampeter. Ich will das klarstellen. Es ist nur eine Darstel-lung der vorhandenen Probleme, die wir mit Sicherheit lö-sen können;
denn die Grundlagenforschung ist ein Bestandteil derGMD, die der Anwendungsorientierung der FhG momen-tan noch ein Stück weit fremd ist.Ich will einige herausragende Beispiele der GMD zurGrundlagenforschung nennen: Die GMD arbeitet anGeruchscomputern, die es dem Nutzer ermöglichen, In-formationen auch mit dem Geruchsorgan wahrzunehmen.Das ist ein sehr interessantes Forschungsgebiet. Die GMDarbeitet an Robotern, die Fußball spielen. Das ist keinereine Spielerei, wie man vielleicht denken könnte. Nein,es handelt sich vielmehr um einen sehr intelligenten An-satz, autonome Systeme zusammenarbeiten zu lassen.Dies ist heute noch Grundlagenforschung, kann in einigenJahren aber zu geradezu revolutionären Umwälzungenführen, zum Beispiel in der Produktion.Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit an Bionik-Compu-tern. DNA-PCs können die Rechenleistungen von Com-putern eines Tages möglicherweise beträchtlich steigern.Das alles sind herausragende Ergebnisse der GMD-For-schung.Auch außerhalb des direkten Forschungsbereichsnimmt die GMD wichtige Funktionen wahr. So arbeitetsie in internationalen Organisationenmit, die die künf-tigen Standards für Internet und Multimedia definieren.So stellt sie das deutsche Büro des World-Wide-Web-Konsortiums sowie das deutsche Büro und den Vorsitz derInternet-Society.Als Großforschungseinrichtung nimmt sie darüber hi-naus wichtige Aufgaben in der Ausbildung wahr. DieseFunktion kann aber nur dann ausgefüllt werden, wenneine institutionelle Förderung vorhanden ist, die über dashinausgeht, was anwendungsorientierten Einrichtungenzur Verfügung steht. In diesen Punkten sind wir völlig ei-ner Meinung.Die FhG dagegen hat ihre Stärken in der industriena-hen Forschung. Je industrienäher die Forschung ist, de-sto schneller wird die Umsetzung in Produkte und dieSchaffung von Arbeitsplätzen geleistet, und das ist gut so.Dies schafft Spielraum für die Finanzen des Staates. DerStaat sollte sich daher vor allem dort engagieren, wo derMarkt wichtige Funktionen nicht erfüllen kann, wie in derVorlaufforschung.Im anwendungsnahen Bereich hat die Industrie häufigein Interesse, das groß genug ist, um selbst finanziell ak-tiv zu werden. Die Vorlaufforschung hingegen ist häufignoch zu weit vom Markt entfernt, als dass es sich fürUnternehmen lohnen würde, hier selbst aktiv zu werden.Wenn sich die Förderpolitik vermehrt in Richtung Markt-nähe verschieben würde – eine solche Politik haben Sievon der Union viele Jahre lang betrieben –, hieße das, vorallem die Ideen der Vergangenheit umzusetzen. Damitlaufen wir Gefahr, dass den anwendungsorientierten For-schern in einigen Jahren die Ideen ausgehen. Die staatli-chen Akzente, auch in der Informationstechnologie, müs-sen daher wieder stärker in Richtung Vorlaufforschungverlagert werden.
Bündnis 90/Die Grünen würden es daher begrüßen,wenn die Vorlaufforschung durch die Fusion mit der FhGgestärkt und in der GMD auf hohem Niveau erhaltenbliebe.
Dies entspricht im Wesentlichen dem Grundsatz IhresAntrags und wird durch die Fusion auch tatsächlich aus-geführt. Leider ist die Stimmung – so müssen wir fest-stellen – nach der anfänglichen Fusionseuphorie etwasumgeschlagen. Die Fusion wurde sogar zeitweise von ei-nigen Beteiligten in Frage gestellt. Die Aufgabe der Mi-nisterin Bulmahn wurde daher nicht einfacher.Bündnis 90/Die Grünen begrüßen es insbesondere,dass jetzt der zeitliche Druck auf die Fusion etwas ge-mindert wurde; denn erst der 1. Februar 2002 wird nun alsFusionszeitpunkt angestrebt.
Wir begrüßen auch, dass ein Moderator eingeschaltetwurde, um die Kommunikation zwischen den Beteiligenzu verbessern.
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Hans-Josef Fell9577
Ich möchte den Akteuren einiges empfehlen: Die GMDsollte noch einmal allen Mut zusammenfassen und die Fu-sion offensiv angehen. Sie soll ihre Stärken in denVordergrund stellen, und die bislang vorhandenenSchwächen soll sie als Chance sehen, gemeinsam mit derFraunhofer-Gesellschaft auch hier Stärken zu entwickeln.Dort, wo Verkrustungen entstanden sind, sollten diese inder Fusion aufgelöst oder als Ballast abgeworfen werden.Eine Ehe macht nur dann Sinn, wenn beide Partner auf-einander zugehen. Wenn ein Partner vor der Hochzeit mit-teilt, dass sich nur der andere anpassen solle, führt dies au-tomatisch zu Missstimmungen. Kommt es dennoch zurHochzeit, sollte die genannte Einstellung entweder korri-giert werden oder die Ehe wird mit Krisen belastet sein.Möglicherweise kommt es sonst zu weniger Start ups, alsvon den Eltern erhofft wurde, oder es kommt zu Fluktua-tionen.Auf Frau Bulmahn kommt nun die Aufgabe zu, die bei-den Partner mit einer sehr glücklichen Hand zusammen-zuführen. Sollte sich allerdings trotz aller Anstrengungenherausstellen, dass eine Fusion nicht fruchtet, wünscheich der Ministerin den Mut, daraus die Konsequenzen zuziehen und über neue Strukturen nachzudenken.
Die Oppositionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P.möchte ich daran erinnern, dass sie 16 Jahre lang Zeit hat-ten, die Forschungsstruktur in der Informationstech-nologie zu organisieren. Wer heute „Kinder statt Inder“schreit, wie dies ein ehemaliger Zukunftsminister tat,muss sich fragen lassen, wie es dazu kam, dass die Ame-rikaner und Japaner in den letzten Jahren den Ton anga-ben. Sie müssen sich auch fragen lassen, wie es nach Jah-ren des Aussitzens dazu kommt, dass heute Zehntausendevon Informationstechnologiefachleuten fehlen.
Unsere Anstrengungen, die Fusion von GMD und FhGvoranzutreiben, sind aus Sicht von Bündnis 90/Die Grü-nen sehr sinnvoll. Wir sind hoffnungsvoll, dass diese Fu-sion zum Vorteil der Grundlagenforschung ist und ihrerStärkung dient.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Durch die Bundesregierungwurde im Rahmen neuer Schwerpunktsetzungen in Wis-senschaft und Forschung zu Beginn dieser Legislaturperi-ode festgestellt, dass die außeruniversitäre Forschung,speziell in den 16 Forschungszentren der Hermann vonHelmholtz-Gemeinschaft, neu geordnet werden muss.Durch Programmsteuerung und Projektfinanzierung sollerreicht werden, dass Grundlagen- und Anwendungsfor-schung enger zusammenrücken, um in kürzester Zeit tech-nologische Spitzenleistungen zu erzielen.Dieser Umstrukturierungsprozess wurde mit einer Zu-sammenführung der FhG und der GMD eingeleitet.Die Regierung feiert diese Fusion als Erfolg bei derSchaffung der größten IuK-Organisation in Europa. Nurfrage ich: Ist das wirklich das Entscheidende?Bei einer forcierten Verschmelzung beider For-schungseinrichtungen ist eine Schwächung der Grundla-genforschung zu befürchten. Ich möchte dafür noch ein-mal einige Argumente anführen: Die GMD kann dieanwendungsorientierten Erfolgskriterien der FhG – im-merhin gibt es dort eine institutionelle Finanzierung inHöhe von 60 Prozent und eine Finanzierung in Höhe von40 Prozent aus Wirtschaftserlösen – nicht erfüllen. Durcheine Unterordnung der GMD unter die FhG-Kriterienwürden speziell die Grundlagenforschung und die vi-sionäre Forschung weitgehend eingeschränkt. Die GMDals Deutschlands weltweit bekannteste Forschungsinstitu-tion für die klassischen Ingenieurwissenschaften würdevon der Bildfläche verschwinden, ohne dass die FhG ihrProfil sichtbar ändert.Die erhofften Synergieeffekte bleiben aus. Sie be-schränken sich aufgrund unterschiedlicher Aufgaben bei-der Einrichtungen auf den Abbau des Verwaltungsappara-tes der GMD. Teile der hoch qualifizierten Erwerbstätigenwürden im Zuge der Auflösung der GMD in Erfolg ver-sprechendere Einrichtungen und Firmen abwandern undeben nicht von der gemeinsamen Einrichtungen über-nommen werden oder zeitweise eingeschränkte Entgelteerhalten. Wie sich ihre Arbeitsbedingungen entwickeln,steht also in den Sternen. Das können Sie alle in den Brie-fen, die auch Sie erhalten haben, nachlesen.Obwohl zunächst beide Gesellschaften einem solchenFusionsprozess aufgeschlossen gegenüberstanden – darü-ber ist hier heute schon viel gesprochen worden –, kris-tallisierte sich Anfang April dieses Jahres heraus, dassdiese Fusion eine sehr einseitige Angelegenheit ist. Zumjetzigen Zeitpunkt wird die Fusion als gescheitert be-trachtet.Deshalb fordert die PDS die Bundesregierung auf, dieFusion auszusetzen und damit den Forderungen der Ge-schäftsführung, der Institutsleitung und des Wissen-schaftlich-Technischen Rates der GMD nachzukommen,die auch von der Belegschaft unterstützt werden.
Nach sieben Monaten gescheiterter Verhandlungenmuss eine neue Phase des Nachdenkens, des Gesprächesund der Kooperation mit der Fraunhofer-Gesellschaft ein-treten, um gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegendort eine neue Grundlage für eine Fusion zu schaffen,über die später zu entscheiden sein wird. Eine solche Ge-sprächs- und Kooperationsphase betrachten die Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter der GMD als notwendigeVoraussetzung, um eine neues Klima des Vertrauens inden Fusionsprozess und eine fachlich begründete Visionfür die Fusion zu erreichen.
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Hans-Josef Fell9578
Sollte diesen Vorstellungen nicht entsprochen werden,sieht es so aus, als ob an der GMD ein Exempel statuiertwerden soll, um die IuK-Grundlagenforschung zurückzu-drängen und ähnliche Strukturmaßnahmen an anderenGesellschaften der Helmholtz-Gemeinschaft einzuleiten.Eine Einschränkung der Grundlagenforschung ziehtjedoch nicht automatisch den Ausbau der Kapazitäten derGrundlagenforschung in Industriekonzernen nach sich,denn – das wissen wir alle – die private Wirtschaft hat an-dere Ziele. Wenn der Grundlagenforschung der Helm-holtz-Gemeinschaft das Rückgrat gebrochen werdensollte, werden nicht nur den öffentlichen anwendungs-orientierten Forschungsgesellschaften die Ergebnisse die-ser interdisziplinären Grundlagenforschungen in 10 bis20 Jahren fehlen, sondern auch der Industrie.Durch geschickte Rhetorik in den vergangenen Jahrenist es anscheinend gelungen, die Forderungen nach demgesellschaftlichen Nutzen und der Gemeinwohlorientie-rung der Forschung vollkommen aus der Diskussion zuverdrängen. Jahrelang wurde die Forschung schlechtgere-det. Mit dem Hinweis auf die deutsche Technologiefeind-lichkeit und ihre fatalen Auswirkungen ist der gesell-schaftliche Nutzen der Forschung inzwischen erfolgreichauf die Sicherung des Standortes Deutschland einge-schränkt worden.Die PDS hält deshalb den von der Bundesregierungeingeschlagenen Weg für eine Neuordnung und Um-strukturierung der Gesellschaften der Helmholtz-Ge-meinschaft für eine Sackgasse. Wir empfehlen der Bun-desregierung dringend, gemeinsam mit den For-schungseinrichtungen, Parteien, Organisationen undIndustrievertretern einen Neuansatz der Ordnung derForschung und ihrer Einrichtungen zu diskutieren, umden unterschiedlichen Interessen am Ende auch wirk-lich gerecht zu werden.Danke.
Jetzt hat Herr
Kollege Tauss das Wort.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wieschwer es Parteien, die in Sonntagsreden immer wiederbeschwören, dass sie doch dynamisch und flexibel seienund dass man in neuen Strukturen denken müsse, offen-sichtlich fällt, einmal an einem konkreten Punkt in neuenStrukturen zu denken. Es ist erstaunlich.
Dieselben, die in der Wirtschaft jede Fusion bejubeln,tun hier so, als stünde der Untergang der Welt bevor.
Ich erinnere mich noch: Als vor Jahren die Fusion vonBMW und Rover stattfand, hat die CSU wochenlang ge-jubelt, Bayern hat praktisch England übernommen – Fu-sion war das Gute schlechthin.
Heute hören wir nur Bedenkenträger; nur irgendwelcheSchauerargumente werden vorgebracht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nehmendie Bedenken der Beschäftigten ernst – deshalb ein klaresSignal in Richtung Arbeitsplatzsicherheit –, aber wirmissbrauchen die Ängste der Beschäftigten nicht,
um sie im Wahlkampf in dieser Form, wie Sie es tun, zuschüren.
Das ist unverantwortlich, auch gegenüber der For-schungslandschaft in diesem Land, Herr Hauser.Es ist schwierig, wie Sie mit diesem Thema umgehen.Das gilt auch für die Form, wie Herr Kollege Mayer an an-derer Stelle mit diesem Thema umgegangen ist. Bei Kol-lege Mayer wählte ich noch das Wort „Unverschämtheit“,um auszudrücken, wie Sie aus Gründen des Wahlkampfsin NRW diese Verunsicherung schüren.Meine Damen und Herren, das Forschungszentrum In-formationstechnik, die GMD hat es nicht verdient, dassan dieser Stelle von einer Zerschlagung der Grundlagen-forschung geredet wird. Das ist Teil Ihrer Kampagne, aberes ist nicht Teil der Wahrheit. Es ist noch nicht einmal Teilder halben Wahrheit; es ist die blanke Unwahrheit, unddas muss an dieser Stelle gesagt werden.
Kollege Hilsberg hat berechtigterweise darauf hinge-wiesen, dass es einstimmige Beschlüsse der Aufsichtsräteinklusive der Wirtschaft gibt, dass es klare Diskussionengibt.
– Ich bin Gewerkschafter. Ich nehme die Bedenken derBelegschaft außerordentlich ernst.
Ich habe den Betriebsräten angeboten zu kommen, ja so-gar außerhalb von Sitzungswochen mit ihnen Mittag zuessen und Gespräche zu führen. Sie als Vorkämpfer derArbeiterbewegung – das ist ja nun wirklich die klassischeFehlbesetzung, die es in diesem Land überhaupt nur ge-ben kann.
Nein, es stimmt nicht, Herr Hauser, wie Sie hier vor-tragen, dass die FhG der Gewinner der Fusion sein soll.Das hätte natürlich jeder Beteiligte gern, dass er gewinnt.Das ist überhaupt keine Frage. Es geht hier nicht umGewinner und Verlierer.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Maritta Böttcher9579
Wir wollen eine Fusion der Gewinner, wobei keine Markaus dem Bundeshaushalt weniger gezahlt wird. Das mussman einmal klar sagen. Wir wollen eine Fusion der Ge-winner, bei der wir den Beschäftigten eine Arbeitsplatz-garantie geben. Gab es in den letzten Jahren eine Fusionin diesem Lande, wo es so etwas gegeben hat? Ihre Poli-tik war eine Kürzung der Forschungsmittel. Aus unseremAufwuchs der Forschungsmittel werden beide profitieren.
Jetzt ist es so, dass die FhG und die GMD in Ruhe mit-einander reden. Ich denke, wenn der Sonntag vorbei ist,wird es noch einfacher sein, denn dann reden die Wissen-schaftler miteinander. Es redet dann kein Außenstehendermehr hinein, keiner sagt ihnen dann, was gut oder schlechtwäre. Die wissen, was ihr Problem ist. Es wird dann überGrundlagenforschung diskutiert, es wird über Anwen-dung diskutiert, es wird über Vorlauf diskutiert. Es gibt beider Fraunhofer-Gesellschaft Leute, die sich auf diese Fu-sion freuen, weil sie sagen: Durch diese Fusion haben wirdie Chance, auch bei uns mehr Grundlagenforschung zubetreiben, mehr Zeit zu haben und nicht immer nach einerMitteleinwerbung – 38 Prozent oder wie auch immer –schielen zu müssen. Wir wollen gemeinsam etwas errei-chen. Wir wollen im Bereich der Grundlagenforschungdie Wissenschaftslandschaft in der IuK-Technologie ge-meinsam stärken.Jetzt kommt es darauf an, die Beteiligten in Ruhe ar-beiten zu lassen. Jetzt kommt es darauf an, dass sie inRuhe ihr Konzept ausarbeiten können. Jetzt kommt es da-rauf an, dass die gemeinsamen Interessen gebündelt wer-den können. Es kommt nicht mehr darauf an, ob IhreWahlkampfshow in irgendeiner Form Erfolg hat. Sie wirdkeinen Erfolg haben. So leicht können Sie die Leute nichthinter das Licht führen.Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schon ein-mal gesagt, die Rationalisierungsfusion, die Sie be-schwören, ist es nicht. Wir wollen selbstverständlich Sy-nergieeffekte erzielen. Wenn man Strukturen zusammen-legt, gehört es dazu, dass man sich überlegt, in welchenBereichen Stärken gebündelt werden müssen und in wel-chen Bereichen über Synergie geredet wird. Das ist selbst-verständlich. Wir haben großartige Chancen, die Kompe-tenzen zu bündeln. Das haben wir in der AktuellenStunde, in der wir über den Virus gesprochen haben, ge-sehen. Hier hat sich Kollege Mayer lautstark darüber be-klagt, dass wir in Deutschland den Viren aus dem Auslandschutzlos ausgeliefert seien, weil jetzt die Fraunhofer-Ge-sellschaft mit der GMD fusioniert. Ich will noch einmalfeststellen: Bei der Fraunhofer-Gesellschaft wie auch beider GMD gibt es eine hervorragende IT-Sicherheitsfor-schung. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat in Darmstadt dasKompetenzzentrum IT-Sicherheit. Werden diese Kompe-tenzen gebündelt zusammengeführt, Frau KolleginPieper, wird dies dazu führen, dass wir die Stärken, diewir in diesem Bereich haben, ein Stück weit ausweitenkönnen. Sie werden nicht in irgendeiner Form gefährdet.
Noch ein Satz zu Ihrem Antrag. Da es sich um reineWahlkampfrhetorik handelt, muss man nicht unbedingtdarauf eingehen. Es ist aber schon interessant, wie manauf wenigen Seiten noch nicht einmal sagen kann, wasman eigentlich will. Auf Seite 1 steht:Ungeklärt ist ..., ob die interdisziplinäre Grundlagen-forschung, ..., weiter verfolgt wird.Hier stellen Sie sich hin und tun so, als ob es längst ge-klärt wäre. Herr Mayer stellt sich hier hin und sagt, esdroht das Aus, und spricht von einer Zerschlagung. AufSeite 2 Ihres Antrages sieht es ganz anders aus. Weiter sa-gen Sie, dass die Fusion positive Wirkungen erzielenkönnte. „Voraussetzung dafür ist, dass beide Partnergleichberechtigt ihre Forschungsziele... einbringen“. Waswollen Sie nun eigentlich? So viele Widersprüche im ei-genen Text. Das ist genau das, was wir wollen. Aus die-sem Grunde bedarf es eigentlich nicht der ganzen Rheto-rik. Diese positiven Wirkungen sollen erzielt werden.Kollegin Pieper, es wird nichts, aber auch gar nichtsbehindert. Es wird weiterhin Spin-offs geben. Wir kom-men zu kleinen Einheiten. In diesem Bereich wird die An-wendungsbezogenheit eine noch stärkere Rolle spielen.Unternehmensgründer haben durch eine anwendungsbe-zogene Grundlagenforschung bei der FhG die Chance,sich selbstständig zu machen und kleine Betriebe aufzu-bauen. Hier wird nichts in irgendeiner Form gefährdet. ImGegenteil. Wir betreiben eine moderne Forschungspoli-tik. Ich muss nochmals sagen: Es ist wirklich kleinkariert,wie Sie hier mäkeln.Es ist interessant, wie Sie über das Internet reden unddiese Dinge im Jahr 2000 regeln wollen. Jetzt hat sich dieCDU einen Internet-Beauftragten gegeben. Ich wün-sche dem Kollegen viel Erfolg. Inhaltlich halte ich davonnichts. Man muss sich das einmal vorstellen: Im Jahr 2000habt ihr einen Internet-Beauftragten. Herzlich willkom-men im Klub, kann ich nur sagen. Wir sind gespannt da-rauf, was wir inhaltlich zu erwarten haben. Ich hoffe, dassder Internet-Beauftragte etwas mehr vom Thema Internetversteht als das, was wir in der Vergangenheit von Ihnenzur Kenntnis nehmen konnten.Nein, Sie haben nicht über das Thema geredet. Sie re-den nur darüber, wie Sie in irgendeiner Form etwas madigmachen können, aber vom Internet, von IuK-Technolo-gien, von moderner Forschungspolitik haben Sie, so Leides mir tut, keine Ahnung.Deshalb sind Sie auch aus diesem Grund im vorletztenJahr zu Recht abgewählt worden.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Jörg Tauss9580
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
gleich am Anfang meiner Rede etwas klarstellen, was an-
gesichts der Desinformation der Koalition unklar geblie-
ben ist: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht natür-
lich entschieden zur notwendigen Neuorientierung in der
deutschen Forschungslandschaft,
die ja durch die Initiativen des ehemaligen Zukunftsminis-
ters und des zukünftigen Ministerpräsidenten von Nord-
rhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, begründet worden ist.
Deswegen wird heute auch nicht so sehr über das Ziel ge-
stritten.
Es ist richtig, dass angesichts eines sich verändernden
Umfelds eine strategische Neuordnung der GMD und
der FhG notwendig sein kann. Es ist richtig, eine
Mobilisierung von Synergien in beiden Einrichtungen zu
fordern. Es bleibt auch richtig, dass die Fortentwicklung
eines erfolgreichen marktnahen Forschungsmodells, näm-
lich des FhG-Modells, am Beginn des 21. Jahrhunderts
geboten zu sein scheint. Es ist richtig, die grundlagen- bzw.
vorlauforientierten Teile der GMD gleichwohl unter dem
Dach einer fusionierten Gesellschaft fortzuentwickeln.
Herr Kollege
Tauss, es ist nicht Ihre Aufgabe, zu entscheiden, wann sich
der Kollege setzen darf. Ich ermahne Sie freundlich.
Das sind die puber-tären Ausflüchte des Herrn Tauss, an die wir uns hierschon langsam gewöhnt haben, Frau Präsidentin.Wir haben uns gewünscht, dieses Vorhaben im Kon-sens und unter parlamentarischer Begleitung zu einem Er-folg zu führen. Fusionsprozesse sind schließlich keineSpaziergänge. Die Frau Bundesministerin Bulmahn hatallerdings diese Entscheidung ohne parlamentarischeRückkopplung getroffen. Sie ist mit ihr ohne Rücksprachemit den verantwortlichen Parlamentariern an die Öffent-lichkeit getreten. Sie sieht angesichts des heutigen Scher-benhaufens, wohin das geführt hat.
Unsere Fraktion ist erstaunt, mit welchem Mangel anpolitischer Führung, mit welcher grenzenlosen Instinktlo-sigkeit, zumindest aber mit welcher riesengroßen Blauäu-gigkeit die Ministerin und Ihr Ministerium diesen Vor-gang betreuen. An den Ergebnissen müssen wir sie mes-sen. Das angekündigte Vorhaben, die Fusion zum Beginndes nächsten Jahres durchzusetzen, ist gescheitert. Inso-weit ist auch die Ministerin gescheitert. Eine partner-schaftliche Beteiligung der GMD entfällt, da eine Beteili-gung der GMD an der zukünftigen fusionierten Strukturderzeit nicht mehr vorgesehen ist.Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Institu-tionen zweifeln inzwischen öffentlich an der Richtigkeitdes Vorgehens. Daran können auch Aufsichtsratbeschlüssenichts ändern. Die anhaltende Diskussion fördert nicht dasAnsehen der beteiligten Forschungseinrichtungen. Somuss befürchtet werden, dass Experten aufgrund der im-mer unsicherer werdenden Perspektiven die beiden For-schungseinrichtungen bald verlassen werden.Die Union führt eine Aufklärungsinitiative unter demMotto „Mehr Ausbildung statt mehr Einwanderung“durch.
Sie machen deutlich, warum diese Aufklärung notwendigist. Sie fördern durch Ihr Verhalten die Abwanderung vonExperten. Dies geht nicht mit uns.
Wenn das Vorhaben so wichtig ist, wie HerrCatenhusen in seiner verlesenen Rede vorgetragen hat,dann frage ich, warum es so schlampig vorbereitet wor-den ist. Warum haben Sie denn mit den Beteiligten, mitden Vertretern der Forschungseinrichtungen, mit den re-gionalen Repräsentanten und mit den Menschen, die dieFusion wirklich betrifft, den Vorgang nicht besprochen,bevor Sie damit an die Öffentlichkeit getreten sind? Die-ser Prozess ist zwar gewollt, aber nicht gekonnt.Es fehlt bis heute eine strategische Bewertung der be-stehenden fachlichen, finanziellen und organisatorischenVoraussetzungen einer Fusion beider Einrichtungen. Esfehlt eine tragfähige Chancen- und Risikoanalyse des Vor-habens durch Ihr Ministerium. Es fehlt eine Darstellunggemeinsamer fachlicher Ziele, wahrscheinlicher Syner-gien, konkreter Kooperationsfelder sowie anderer strate-gischer Vorteile. Es fehlt eine vorläufige Abschätzung derkurz- und mittelfristigen finanziellen Auswirkungen. Dieswird von beiden Einrichtungen gefordert. Angesichts deskontinuierlich begangenen Bruchs Ihres Wahlverspre-chens, die Investitionen in Forschung und Bildung zu ver-doppeln, scheint mir diese Befürchtung sehr gerechtfer-tigt zu sein.
Der gesamte Prozess, so wie Sie ihn bisher gemanagthaben, scheint mir nach dem Prinzip vonstatten zu gehen:Sie zogen los, wussten aber nicht, wohin. Der Bundesfor-schungsministerin ist es gelungen, aus einer an sich rich-tigen Idee, nämlich dem synergieorientierten Zusammen-schluss zweier bedeutender Forschungseinrichtungen, ei-nen Vorgang zu machen, der inzwischen paradoxerweisevon beiden Einrichtungen als feindliche Übernahmedurch den jeweils anderen interpretiert wird. Das zeigtmir, wie schlecht diese Sache vorbereitet worden ist. Die-ser Vorgang wäre vermeidbar gewesen.Herr Catenhusen, es wäre angesichts des dramatischenVertrauensverlustes, den das Handeln Ihres Hauses so-wohl bei der Fraunhofer-Gesellschaft als auch bei der
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GMD herbeigeführt hat, geboten gewesen, dass Sie auf-grund Ihres schlampigen Vorgehens zumindest in denGrundzügen in diesem Hause ein Maß an Selbstkritiküben, das erkennbar macht, dass Sie wissen, wie schlechtSie in den letzten Monaten gehandelt haben. Uns ist heutenoch einmal deutlich geworden: Es ging Ihnen nicht umdie Sache; vielmehr stand die Presseerklärung am Anfang.Das Konzept sollte nachfolgen. Es liegt bis heute nichtvor.
Bedauerlicherweise wird das Scheitern Ihres Handelnsauf dem Rücken zweier Forschungseinrichtungen ausge-tragen. Die Fusion, die jetzt um ein Jahr verschoben wer-den soll, hängt völlig in der Luft. Diese Verschiebungwird deutlich machen, dass dieser unbefriedigende Zu-stand noch um ein weiteres Jahr verlängert wird. DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion hofft, dass mit dem Mo-derator, den Sie jetzt einsetzen, rasch eine Lösung ge-funden wird.Sagen Sie einmal: Warum fällt Ihnen eigentlich erst einDreivierteljahr nach dem Beschluss darüber ein, dass Sieeinen Moderator brauchen, um die Kommunikationspro-zesse zu steuern?
Wenn das alles so super und so wichtig ist, dann wundereich mich, dass Sie eine wesentliche Veränderung des Fu-sionsprozesses par ordre du mufti im April, Monate nach-dem Sie die Fusion begonnen haben, vornehmen. Wir hof-fen, dass wenigstens das anständig vorbereitet wird. Wirwünschen dem Moderator viel Erfolg, diesen Fusionspro-zess zu einem guten Abschluss zu bringen.
Falls das allerdings bis Mitte September nicht erfolgenwird, müssen wir uns noch einmal darüber unterhalten, obdie Fusion unter den hier beschriebenen Konditionentatsächlich weiterhin sinnvoll ist. Herr Catenhusen, wennSie es im September nicht schaffen, so etwas wie einenKonsens herbeizuführen, der von vielen Seiten – von bei-den beteiligten Einrichtungen, den Mitarbeitern, den Lei-tungsebenen, den Aufsichtsgremien – akzeptiert wird,dann halte ich es für geboten, zu überlegen, ob Sie an die-sem Vorhaben tatsächlich festhalten wollen. Wir erwar-ten, dass Sie jetzt handeln, dass Sie endlich anständig ar-beiten, dass Sie politische Führung zeigen und dass Sieuns Konzeptionen erläutern. Wenn das geschieht, dannwerden wir es an Unterstützung nicht mangeln lassen.
Ich fasse zusammen: Die Union steht zur Neuordnungder deutschen Forschungslandschaft. Sie ist notwendig,um sich veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.Wir unterstützen daher die Fusion auf Grundlage des Eck-wertepapiers. Wir haben unsere Sorgen über Mängel desFusionsprozesses in unserem Antrag dargelegt. Wenn ichmir zum Beispiel die Rede des Kollegen Fell anhöre, dannkomme ich zu dem Ergebnis, dass die SPD die einzigeFraktion in diesem Hause zu sein scheint, die noch vollund ganz hinter diesem Fusionsprozess steht; deswegenwerden wir ihn weiterhin konstruktiv-kritisch begleiten.Jetzt sind Sie am Zug. Tun Sie endlich Ihre Arbeit!
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3097 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Auschusses für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung zu dem Antrag der
Abgeordneten Ursula Burchardt, Jörg Tauss, Klaus
Barthel , weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Matthias Berninger, Kerstin Müller , Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Strategie für eine Nachhaltige Informations-
technik
– Drucksachen 14/2390, 14/2814 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Dr. Martin Mayer
Hans-Josef Fell
Cornelia Pieper
Angela Marquardt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Kollegin Ursula Burchardt.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Debat-ten über die ökonomischen Perspektiven in unserer Repu-blik verfolgt, dann stellt man fest, dass ein Begriff darausüberhaupt nicht mehr wegzudenken ist: Die Informations-und Wissensgesellschaft hat als ökonomisches Leitbildder Industriegesellschaft längst den Rang abgelaufen.Ins breite öffentliche Bewusstsein ist dies allerdings –das ist mein Eindruck – erst in der jüngsten Zeit getreten.Ich habe auch den Eindruck, dass die Green-Card-Initia-tive des Bundeskanzlers für viele so etwas wie ein Weck-ruf gewesen ist, um festzustellen, dass sich einige Dingewirklich dramatisch verändert haben.
Ich kann mich erinnern, dass ich vor ungefähr zwei-einhalb Jahren in der Enquete-Kommission „Schutz desMenschen und der Umwelt“ – wir haben uns dort zur Ver-
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Steffen Kampeter9582
blüffung mancher mit genau diesen Fragen sehr intensivbeschäftigt – davon gesprochen habe, dass die Republikauf dem Weg in die Informations- und Wissensgesell-schaft ist. Daraufhin hat mich der Sprecher der Unions-fraktion völlig verständnislos angeschaut und meinte, das,was die Kollegin von den Sozialdemokraten erzählt, seienFantastereien.Ich habe den Eindruck, dass der aktuelle Stand bei einigenimmer noch nicht bekannt ist, auch wenn ich im Hinblickauf das, was es an Veränderungsnotwendigkeiten gibt,die gerade abgeschlossene Debatte der letzten Dreivier-telstunde im Auge habe.Faktisch ist es doch so, dass in den letzten anderthalbJahrzehnten durch die Entwicklung des World Wide Web,die Entwicklung im Mobilfunk, im Bereich der Chippro-duktion eine technische Revolution ihren Lauf genom-men hat, die in dem, was sie an ungeheurer Dynamik ent-wickelt hat, tatsächlich in dieser Breite nicht vorherzu-sehen gewesen ist. Die Informations-Kommunikations-Branche hat die Automobilindustrie, was die Umsätze be-trifft, bereits jetzt eingeholt. Sie ist von den Beschäftig-tenzahlen her der drittstärkste Sektor in der Bundesrepu-blik, und uns als Sozialdemokraten, als Koalitionsfraktiongeht es darum, diese enormen Potenziale für die wirt-schaftliche Entwicklung und damit für neue Beschäfti-gungspotenziale ganz offensiv zu nutzen. –Sonst beschweren sich meine Kollegen, dass ich keinePause mache. Jetzt habe ich sie gemacht und jetzt klat-schen sie nicht.
– Ja, Sie haben es ja schon im Redemanuskript drinstehen.Mit dem Siegeszug der Informationstechnik sind aberzugleich – das muss man ganz nüchtern zur Kenntnis neh-men – Veränderungen verbunden, die weit über den reinökonomischen Bereich hinausgehen und in ihren sozialenund kulturellen Auswirkungen tatsächlich die Dimensio-nen haben, die damals auch den Übergang von der Agrar-zur Industriegesellschaft gekennzeichnet haben. DieMenschen erleben das täglich ganz praktisch an ihrem Ar-beitsplatz. Kaum ein Arbeitsbereich ist von neuen Tech-nologien nicht betroffen. Das geht weit bis in den priva-ten Lebensbereich und in die Gestaltung sozialer Bezie-hungen hinein.Weil die neuen Technologien unser aller Leben drama-tisch verändern, gilt es, das technisch-ökonomische Leit-bild der Informationsgesellschaft mit einem qualitativenLeitbild, mit einer gesellschaftlichen Gestaltungsper-spektive zu verknüpfen. Das ist die Perspektive der nach-haltig zukunftsverträglichen Entwicklung.
Daher begrüßen wir es außerordentlich, dass die Bun-desregierung die Verknüpfung dieser beiden Leitbildermit ihrem Aktionsprogramm „Innovation und Arbeits-plätze für die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhun-derts“ verfolgt. Ausdrücklich gehört – Sie können es dortnachlesen – die Erschließung von innovativen Anwen-dungsmöglichkeiten für eine ökologische Modernisie-rung und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zuden strategischen Handlungsfeldern des Aktionspro-gramms. Das ist echter Fortschritt. Da zeigt sich Weitsichtund da zeigt sich Gestaltungswille und Gestaltungskraft.
Denn, meine Damen und Herren, wir verstehen Tech-nik nicht als Selbstzweck, sondern als Chance für mehrLebensqualität. Uns geht es darum, den größtmöglichenNutzen für die Menschen und nicht für Börsen und für Bi-lanzen aus neuen Techniken zu ziehen. Das bedeutet,technischen Fortschritt zu gestalten. Denn Technik an sichist für menschliche Bedürfnisse blind. Sie ist in ihren po-sitiven oder negativen Auswirkungen ambivalent. Jeder,der sich mit Technik auskennt, wird Ihnen das bestätigenkönnen.
– Nicht übertreiben!Diese Ambivalenz wird insbesondere deutlich, wennman sich die Umweltwirkungen vor Augen hält. OhneZweifel sind Informationstechnologien auf der einenSeite ein ganz entscheidender Schlüssel für die Entkopp-lung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenver-brauch. Mit ihrer Hilfe lassen sich Produktionsprozesse innahezu allen denkbaren Bereichen effizienter gestaltenund damit Ressourcen und Energie einsparen. Mess-,Steuer- und Regeltechnik trägt dazu bei, Emissionen zuvermeiden, beispielsweise im Gebäudebereich oder in derVerkehrslogistik. Nicht zuletzt spielt Informationstechnikin der Umweltforschung, von Umweltinformationssyste-men bis hin zur Klimaforschung, eine ganz entscheidendeRolle, wenn es um Vorsorgestrategien geht.Auf der anderen Seite – das muss man ganz nüchternsehen – werden durch neue Technologien auch neue Pro-bleme induziert oder vorhandene verschärft. Neue Tech-nologien tragen beispielsweise ganz erheblich zur Ent-grenzung und Beschleunigung von Stoffumsätzen, Güter-produktion und Warenverkehr bei mit der Folge, dasstrotz der hohen Effizienzgewinne in der Produktion unterdem Strich Stoffumsätze steigen und der Ressourcenver-brauch zunimmt. Dies wird insbesondere noch ein ganzgroßes Problem beim Bereich E-Commerce werden. Hierhaben wir es mit zunehmendem Warenverkehr, mit Logis-tikproblemen und zunehmendem Ressourcenverbrauchzu tun. Ich glaube, dass diese Faktoren noch zu entschei-denden Engpässen bei der technischen und ökonomischenEntwicklung führen können. Auch die Hardware selbst istein Problem.Der Rohstoffverbrauch eines einfachen PCs alleine,so hat das Wuppertal-Institut errechnet, entspricht einemÄquivalent von fast 20 Tonnen Rohstoffen während sei-nes gesamten Lebenszyklus, also von der Herstellung
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Ursula Burchardt9583
über die Nutzung bis zu dem Zeitpunkt, wo er zu Abfallgeworden ist. Dazu kommt das Energieproblem. Der ein-mal eingeschaltete PC verbraucht, wenn er im Stand-by-Betrieb vor sich hin schlummert, unglaublich viel Ener-gie. Der Energieverbrauch durch Stand-by-Betrieb ineinem Jahr in der Bundesrepublik entspricht dem Ener-gieverbrauch einer mittleren Großstadt. Dazu kommt derAbfallberg, der schon heute sichtbar wird. Jährlichfallen in Deutschland 2 Millionen Tonnen Elektronik-schrott an. Der größte Teil davon entfällt auf ausgedientePCs. Die Tendenz ist steigend. Ich will jetzt gar nichtmehr auf die Fülle von problematischen Materialien undSchadstoffen eingehen.Wenn man die technischen Potenziale optimal nutzenwill, dann nutzt es überhaupt nichts, vor diesen Negativ-wirkungen die Augen zu verschließen wie das Kaninchen,das auf die Schlange starrt. Technische Potenziale zu nut-zen und Fortschritt zu gestalten heißt, dass man sich da-mit offensiv auseinander setzt. Sonst wird man früheroder später von Problemen überrollt. Das brächte großevolkswirtschaftliche Folgekosten sowohl für den Staatwie auch für die einzelnen Unternehmen mit sich. Des-wegen geht es uns darum, Informationstechnik nachhaltigzu gestalten. Das ist nicht nur eine Frage der Daseinsvor-sorge, sondern schlicht und ergreifend der wirtschaftli-chen Vernunft.
Das ist der Kern unseres Antrages „Strategie für eineNachhaltige Informationstechnik“. Wir greifen damit eineganz wesentliche Empfehlung der Enquete-Kommission„Schutz des Menschen und der Umwelt“ auf. Natürlichkenne ich den Einwand – wir haben das ja auch schon mitIhnen herauf und herunter diskutiert –, dass es keine Mög-lichkeit gebe in dieser Branche, irgendwie gestaltend tätigzu werden. Das ist falsch. Diese Auffassung haben wir inder Enquete-Kommission übrigens einvernehmlich undfraktionsübergreifend widerlegt. Wir haben uns damalsden Bereich der IuK-Branche als ein Beispielfeld ausge-sucht, um einmal durchzudeklinieren, wie eine Nachhal-tigkeitsstrategie für die Bundesrepublik entwickelt wer-den kann.Wir haben gerade festgestellt, dass in dieser Branche,die einer unglaublichen Innovationsdynamik unterliegtund von einer hohen internationalen Verflochtenheit ge-kennzeichnet ist, natürlich Gestaltungspotenziale vor-handen sind. Hierfür sind nur ganz bestimmte Vorausset-zungen zu erfüllen und es müssen bestimmte Dinge an-ders gemacht werden. Mit den klassischen Instrumentendes Ordnungsrechts kommt man dabei nicht weiter, son-dern es sind ein paar moderne Steuerungsinstrumentenötig. Insofern werden auch in der Politik Innovationenangesagt.Man braucht ein neues Verfahren des Politikmanage-ments. Das geht am besten, indem man sich mit den Ak-teuren, mit der Branche, den Verbänden und der Wissen-schaft, zusammensetzt, also alle an einen Tisch holt unddarüber redet, wo die Hauptproblembereiche liegen, woes Handlungsbedarf gibt, welche Ziele die Unternehmenselber formulieren und in einer überschaubaren Zeit er-reichen können, welche Anstöße dazu notwendig sind undwelche Rahmenbedingungen Politik gestalten muss.Außerdem müssen ganz konkrete Aktionsfelder benanntwerden. Beispielhaft dafür stehen folgende Fragen: Wiekann die Recyclingfähigkeit von Geräten und einzelnenKomponenten gesteigert werden? Wie können Schad-stoffe bei den verwendeten Materialien vermieden wer-den? Wie kann der Energieverbrauch über den gesamtenLebenszyklus reduziert werden?Wenn man Lösungen hierfür sucht, wird es automa-tisch dazu kommen, dass neue Dienstleistungskonzepteentwickelt werden, die mehr Service für den Kunden undNutzer mit sich bringen, aber gleichzeitig auch neueBeschäftigungspotenziale eröffnen. Mit dem Instrumentkonditionierter Selbstverpflichtungen und freiwilligenVereinbarungen kann man im Konsens und in Koopera-tion mit der Branche zu einer nachhaltigen Entwicklungauch in diesem Sektor kommen.
Der Fachausdruck für solch eine strategische Planungheißt Roadmapping. Ich weiß, dass die Freunde vomVerein zur Bekämpfung der Anglizismen in der deutschenSprache immer ganz laut aufschreien und fragen, ob mandas nicht übersetzen kann. Im Prinzip kann man das natür-lich. Wir befassen uns aber mit einer Branche, die ganzzentral von englischer Begrifflichkeit lebt. Jeder Kollegeund jede Kollegin hier wird Begriffe wie Downloaden,E-Commerce oder Ähnliches kennen. Wer diese Begriffeschon in die Umgangssprache aufgenommen hat, der wirdauch mit dem Begriff Roadmapping noch leben können.Gelegentlich muss man eben auch als Abgeordneter sei-nen Wortschatz ein bisschen „updaten“. So ist das nuneinmal, wenn man sich mit etwas Neuem beschäftigt.
Im Prinzip ist das Roadmapping-Verfahren nicht soneu; denn es wurde in den USA bereits erfolgreich er-probt. Ich kann Ihnen sagen: Die Branche wartet seit meh-reren Jahren darauf, dass die Bundesregierung an dieserStelle endlich die Initiative ergreift, weil sie weiß, dass indiesem Bereich ihre ökonomischen Chancen liegen.Lassen Sie mich abschließend noch ganz kurz eineRückbetrachtung zu den Ausschussberatungen anstellen.Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang schon einmaleinen kleinen Vorgeschmack darauf geben, was die Kol-legen von der Opposition gleich erzählen. Das wird nichtso originell werden und dem ähneln, was wir eben schongehört haben. Von den Kollegen der CDU/CSU werdenwir hören, was sie immer sagen, wenn es um Ökologieund Gestaltungsnotwendigkeit geht. Da werden wir dieBegriffe Dirigismus und Planungsbürokratie hören. Wirwerden außerdem den Vorwurf hören, dass dieSozialdemokraten immer den Staat eingreifen lassen wol-len.
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Ursula Burchardt9584
– Das sind keine Vorurteile, das sind Erfahrungen, HerrKollege. Wir können ja einmal spekulieren, was wirgleich hören werden. Ich meine das gar nicht persönlich,wenn ich sage, dass es in der CDU weder im Westen nochim Osten oder im Süden etwas Neues gibt. Ich habe denEindruck, dass es bei Ihnen wirklich schon eine Art paw-lowscher Reflex ist, wenn Sozialdemokraten etwas zurÖkologie und Gestaltungsfähigkeit sagen.Der Umgang mit Technik muss rational sein. Entschei-dungen dürfen nicht aus dem Bauch heraus getroffen wer-den und dürfen nicht auf tief sitzenden Vorurteilen beru-hen.
Denn sonst werden die Chancen für den technischen Fort-schritt tatsächlich verspielt. Ich kann Ihnen sagen: Esreicht nicht, immer nur Nein zu sagen. Wenn man sich im-mer dem Fortschritt verweigert, hat man die Zukunftschnell verspielt. Die Herren Rühe und Rüttgers sinddafür ein lebendes Negativbeispiel.
Eine allerletzte Anmerkung zu der Ausschussberatung,was die F.D.P. in den mitberatenden Ausschüssen angeht.Es war etwas verwirrend, um nicht zu sagen, es war keineklare Linie erkennbar. Im Forschungsausschuss haben wirdie Vorwürfe bezüglich Dirigismus, Planungsbürokratiesowie Marktfeindlichkeit und die Forderung gehört, wirmögen „in enger Kooperation mit der Industrie Anwen-dungs-, Vermeidungs- und Beseitigungsstrategien ent-wickeln“. Dazu kann ich nur sagen: Das ist genau so inunserem Antrag enthalten. Man muss uns nicht dazu auf-fordern.Das Interessante ist aber, dass die F.D.P. bei der Bera-tung im Umweltausschuss festgestellt hat, man könneüberhaupt nichts von Dirigismus oder Markteingriffen er-kennen.
Frau Kollegin,
achten Sie bitte auf die Zeit. Wir können die Kollegen im
Übrigen original hören.
Ja. – Dazu kann ich nur
sagen: Mit etwas Mühe geht es also doch. Deswegen kann
ich an Sie – auch in Ihrem eigenen Interesse – nur appel-
lieren: Legen Sie die Scheuklappen ab, geben Sie sich
einen Ruck, hören Sie darauf, was die Branche und die
Bevölkerung will, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Dr. Martin Mayer.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frau Kolle-gin Burchardt hat Pappkameraden und Gespenster aufge-baut, um dann fest darauf einschlagen zu können. Ich willIhnen nur sagen: Der Begriff der Nachhaltigkeit ist keineErfindung der Informationsgesellschaft. Land- und Forst-wirte haben schon vor Jahrhunderten so das Grundprinzipdes Wirtschaftens benannt.
Die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens ist auch heute einwichtiges politisches Ziel. Nachhaltigkeit heißt, die natür-lichen Lebensgrundlagen zu schonen und ihre Regenera-tionsfähigkeit zu erhalten. Als Konservative brauchen wirda ohnehin keinen Nachhilfeunterricht. Bewährtes undKostbares für die Zukunft zu sichern, das gehört zu unse-ren Grundsätzen. Dass das Ziel der Nachhaltigkeit auch inder Informationstechnik von Bedeutung ist und berück-sichtigt werden muss, ist selbstverständlich und bedarf ei-gentlich gar nicht eines eigenen Antrages.Auch die Zusammenarbeit von Wirtschaftsunterneh-men und Regierung sollte selbstverständlich sein. Es istschon bemerkenswert, dass die Bundesregierung hierzunoch einer gesonderten Aufforderung durch einen Antragbedarf.Schließlich möchte ich feststellen, dass ich nichts ge-gen die Methode des Roadmappings habe, die in ver-schiedenen Bereichen der Wirtschaftsplanung angewandtwird. Die Beteiligten müssen selbst wissen, mit welcherMethode sie vorgehen.Wenn es also nur darum ginge, das Ziel der Nachhal-tigkeit durch die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftund Verwaltung unter Zuhilfenahme moderner Planungs-methoden zu fördern und zu unterstützen, könnte mandem Antrag unter der Voraussetzung zustimmen, dass daszu erwartende Ergebnis den Aufwand und die Anstren-gungen lohnt.Der Antrag von Rot-Grün zielt aber auf etwas anderesab. Er fordert als Ziel die Festlegung einer Selbstver-pflichtung der Branche oder ein Branchenprotokoll. DieNichteinhaltung dieser neuen Normen soll mit Sanktio-nen bestraft werden. Im Antrag steht übrigens, FrauBurchardt, kein einziger Satz darüber, dass etwa beste-hende Normen oder das klassische Ordnungsrecht da-durch ersetzt werden sollen, sondern es ist ganz klar er-sichtlich, dass es hier zusätzliche Festlegungen gebensoll. Das ist der Punkt, warum wir meinen, das sei derfalsche Ansatz, und deshalb muss der Antrag abgelehntwerden.
– Man muss den Antrag lesen. Sanktionsbewehrte Maß-nahmen müssen im Vollzug nachprüfbar sein. In derPraxis führt das, wie viele Beispiele beweisen, zu einemriesigen bürokratischen Aufwand. Soll es eigentlich zu-sätzlich zu den zahlreichen, fast unübersehbaren Umwelt-vorschriften eigens für die IuK-Branche noch neue Nor-men und neue Festlegungen geben? Wer prüft die Ein-haltung der Verpflichtungen? Wer verhängt Sanktionen?Wer schlichtet im Streit? Wie ist das mit Exporten und
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Ursula Burchardt9585
Importen in dieser ja sehr internationalen Branche? Daslassen die Antragsteller bewusst offen, weil sonst deutlichwürde, welches Gestrüpp neuer Bürokratie entstünde.Die Geräte der Informations- und Kommunikations-technik, die Chips, die Leitungen, die Disketten, die Bän-der, die Gehäuse, werden wie kaum andere Produkte – dasist schon angesprochen worden – im weltweiten Verbundhergestellt. Für hoch empfindliche Apparate und reinsteChemikalien gibt es auf der Welt teilweise nur wenigeHersteller, die sich nicht in Europa und auch nicht inDeutschland befinden. Wie soll also eine nationale Initia-tive hier die Dinge vollständig verändern? Ich glaubenicht, dass sich die Asiaten oder die Amerikaner durch zu-sätzliche deutsche Vorschriften etwa beeindrucken lassen.Auch europäische Sondervorschriften sind hier nichtdurchsetzbar.Nachhaltiges Wirtschaften heißt: möglichst wenig Ener-gieverbrauch. Das steht ja auch in diesem Antrag. Wennaber der Energieverbrauch, wie im Antrag gefordert, imRahmen von Branchenprotokollen oder Selbstverpflich-tungen festgeschrieben und zusätzlich sanktionsbewehrtwerden soll, wozu haben wir dann die Ökosteuer? Die rot-grünen Antragsteller glauben wohl selbst nicht an die öko-logische Wirkung ihrer Steuer.
Sie entlarven damit ihre eigene Gesetzgebung als Ab-zockerei.
Entwicklungen und Produktion in der IuK-Branchefinden auch in kleinen mittelständischen Unternehmenstatt. Von jungen Menschen mit guten Ideen, die bereitsind, neue Unternehmen zu gründen, leben wir. Von ihnengehen wichtige Impulse aus. Damit wir mit dem weltwei-ten Wachstum mithalten können, sind gerade diese Unter-nehmen besonders wichtig. Diese jungen und kleinen Un-ternehmen, die keine eigene Rechtsabteilung haben, wer-den aber durch zusätzliche Vorschriften, die der Antragfordert, in besonderer Weise betroffen und gehemmt, unddas muss verhindert werden.
In der IuK-Branche herrscht ein heftiger internationa-ler Wettbewerb. Der Schnelle besiegt den Langsamen.Unternehmen der Branche haben es in Deutschland mitseiner hohen Regelungsdichte ohnehin sehr schwer, inter-national mitzuhalten. Sollen sie nun mit neuen Regelwer-ken zusätzlich behindert werden? Ich sage hier ein ganzklares Nein.Insgesamt geht der Antrag von Rot-Grün mit seinerForderung nach neuen Normen und Strafen bei Nichtein-haltung von einem falschen planwirtschaftlichen und sta-tischen Ansatz aus. Die neue vernetzte und informierteWelt geht über diesen kleinkarierten ideologischen Ansatzhinweg. Deshalb muss der Antrag abgelehnt werden.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke,die heutige Debatte zum Thema Nachhaltigkeit und neueTechnologien hat zumindest eines gezeigt, nämlich dassüber die Fraktionsgrenzen hinweg einige Blauäugigkeitenin der Betrachtungsweise heute nicht mehr gang und gäbesind. Lange Zeit hieß es, neue Technologien seien per senachhaltig oder umweltfreundlich, weil sie Material-ströme vermindern, den Energieverbrauch vermindernund womöglich sogar den Verkehr vermindern. Das istalso lange Zeit sehr positiv dargestellt worden.Heute überwiegen, glaube ich, die skeptischen Töne.Der Streit geht darum: Wie kann man das beurteilen, waskann man tun, wie geht man damit um? Das hat übrigensauch Ihre Rede gezeigt, aber – darauf komme ich noch –Ihre Antworten darauf, wie man damit umgeht, warennicht sehr ausführlich. Jedenfalls habe ich nicht sehr vieldazu gehört.
– Ja, wir sind im Moment schwach besetzt. Aber Sie kön-nen ja selber klatschen, wenn Sie meine Rede gut finden.Im Verkehrsbereich gibt es inzwischen Studien, in de-nen untersucht wird, wie sich neue Technologien auswir-ken, ob sie zum Beispiel verkehrsmindernd wirken. Mankann feststellen: Sie wirken sich dann positiv aus, wennman parallel dazu politische Maßnahmen ergreift, etwa,wie Sie es gerade angesprochen haben, ökologisch steu-ernde Maßnahmen, zum Beispiel das Verteuern des Auto-fahrens zusammen mit Telematik. Das führt zu einer Ver-kehrsminderung. Sie sehen, man muss manche Dinge zu-sammenbringen, damit sie wirken, und darf nicht nur daseine denken und das andere weglassen.Ein anderes wichtiges Feld, insgesamt gesehen viel-leicht noch wichtiger, sind die Produkte der Elektronik-industrie. Man braucht nur auf sein eigenes Lebenzurückzublicken, um zu sehen, was sich da in den letztenJahren entwickelt hat. Ich kann für mich sagen: Ich binkein Computerfreak, aber ich habe jetzt schon die vierteGeneration von Computern.
Ich habe schon drei Computergenerationen zu Hause ste-hen. Manche sagen: Auf den Bühnen unserer Generationlagern die Sondermüllanlagen von morgen. Das ist inzwi-schen ein Riesenproblem. Das gilt auch für denTelefonbereich. In meiner Kindheit gab es nur ein einzi-ges schwarzes Telefon. Heute kann ich schon meine eige-nen Telefone nicht mehr zählen. Sie sind farbig und habenzahlreiche Bestandteile. So haben wir in jedem Bereicheine Vielfalt von Geräten.Die Kollegin Burchardt hat ausgeführt, wie zum Bei-spiel der ökologische Rucksack eines einzigen Computersaussieht. Wenn ich das noch ergänzen darf: Die ökologi-sche Belastung durch einen PC besteht aus fast so vielenTonnen wie beim Automobil, und ein PC enthält bis zu700 unterschiedliche, zum Teil hochtoxische Materialien,
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Dr. Martin Mayer
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bei denen zum Teil nicht ganz klar ist, wo sie herkommen,weil sie nicht gekennzeichnet sind oder weil es Mischfor-men sind. Manche sind nicht nur toxisch, sondern auchsehr wertvoll. Aber alles ist miteinander verbunden undwird im Nachhinein zu einem Riesenproblem.Wir haben – es ist gesagt worden – 2 Millionen TonnenSchrott pro Jahr alleine in diesem Bereich. Zurzeit kom-men gerade einmal 6 000 Tonnen zurück. Das ist nur einBruchteil des Problems. Es ist nicht geregelt, wie wir mitdiesem Problem umgehen. Wir wissen nur, dass es dieUmwelt und nachwachsende Generationen belasten wird.Wir müssen etwas tun.
Da möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der CDU/CSU, einmal sagen: Es geht nicht nur da-rum, dass die Industrie etwas dagegen unternimmt, son-dern es geht auch darum, dass die Politik etwas tut. Es istein Skandal, dass wir bis zum heutigen Tag noch keineendgültig beschlossene Elektronikschrottverordnunghaben. Die CDU-regierten Länder blockieren seit Mona-ten eine Elektronikschrottverordnung, die wir dringendbrauchen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen.
Man kann schon sagen: Seit Jahren blockieren Sie einesolche Verordnung. Das heißt, auf der einen Seite blockie-ren Sie ordnungsrechtliche politische Maßnahmen dort,wo Sie etwas zu sagen haben, im Moment im Bundesrat,und auf der anderen Seite mäkeln Sie an einem anderenInstrument herum, von dem ich dachte, dass Sie sagenwürden: Aha, endlich haben sie begriffen, was wir schonlange sagen, dass die Industrie auch selbststeuernde Pro-zesse organisieren muss.
Im Grunde genommen vertreten Sie eine Politik einesNachtwächterstaates. Der Staat soll nichts tun, die Wirt-schaft soll nichts tun, anstoßen soll man auch nichts. Wassoll man denn dann politisch eigentlich tun? Ich verstehedas nicht. Sie mäkeln nur herum.
Jetzt komme ich im Einzelnen zu Ihren Punkten. Siesagen, Roadmapping und das andere, was wir vorge-schlagen hätten, sei sozusagen Ordnungsrecht. Aber lesenSie doch bitte einmal den Antrag genau nach. Was stehtdort? Dort steht: Politik soll die Branche zusammen-führen, also einen Dialog initiieren und moderieren. DieBranche soll in Form einer freiwilligen Selbstverpflich-tung definieren, welche Probleme es aus ökologischerbzw. nachhaltiger Sicht gibt, welche großen Herausforde-rungen bestehen, die wir gemeinsam lösen können, und inwelchen Bereichen wir uns darauf verständigen können,auf übereinstimmende Art und Weise die entsprechendenProdukte herzustellen und sie damit ökologisch-nachhal-tig verantworten zu können. Dann wird die Branche sa-gen: Wir sollten das vertraglich klären. Denn was nützteine Absprache, die hinterher niemanden bindet? Das istdoch ein Witz.
Die Form der freiwilligen Selbstverpflichtung ist,dass man sagt: Wir binden uns und sehen Sanktionen vor.Dies sind übrigens keine staatlichen Sanktionen. Viel-mehr verständigt sich die Branche selber auf Sanktionen.Das kann übrigens ganz einfach geschehen, indem dieBranche sagt: Diese oder jene Firma hat den Vertrag, densie mit uns allen geschlossen hat, gebrochen, da sie ent-gegen unserer Absprache folgende hochtoxische Materia-lien verwendet. – Das könnte sanktioniert werden. Daswäre sehr wirkungsvoll. Dazu müsste man keine Büro-kratie aufbauen. Man könnte eine einmalige Anzeigeschalten und fertig wäre die Angelegenheit.Aber diese Fantasie haben Sie nicht. Ich wundere michnur! Sie sagen, man könne keinen nationalen Alleingangmachen. Ich bitte Sie: Auf europäischer Ebene und inter-national in der Branche wird dieser Versuch schon langeunternommen. Jetzt leisten wir einen Beitrag und sagen:Wir wollen Anstöße geben, die Entwicklung wissen-schaftlich begleiten und staatlicherseits ein wenig dazubeitragen, dass in der Wirtschaft Selbstverantwortung ge-deihen kann. Sie aber sagen wieder Nein. Insgesamt ge-sehen sagen Sie nur Nein, mäkeln Sie nur und machen Siekeine positiven Vorschläge.
Die Politik muss in diesem Bereich Folgendes leisten:Sie muss Vorstellungen entwickeln, wie Nachhaltigkeitgedeutet bzw. definiert werden kann und was in diesemZusammenhang wichtig ist. Zum Beispiel sollten Gerätesparsam beim Energieverbrauch sein. Die verwendetenStoffe sollten möglichst nicht toxisch sein oder, wenn diesdoch der Fall sein sollte, sollte dies kenntlich gemachtsein. Die Geräte müssen demontierbar sein. Sie solltenübrigens auch arbeitnehmerfreundlich sein. – Das sageich hier, weil wir heute hier im Hause eine Gruppe vonGewerkschaftlern haben. – Auch das ist von Bedeutung.Auch für die Menschen, die diese Geräte demontierenmüssen, darf keine Gefährdung bestehen. Wir müssen zu-dem darauf hinweisen, dass neue Technologien im Rah-men des Service im Reparaturbereich dienstleistungs-freundlich sein müssen.All dies sind Vorgaben, von denen ich glaube, dass diePolitik sie setzen sollte. Ansonsten wollen wir mit demvorliegenden Antrag ganz besonders die Eigenverantwor-tung der Industrie stärken und schützen und damit ge-meinsam einen Beitrag dazu leisten, eine nationale Nach-haltigkeitsstrategie durch branchenspezifische Strategienzu unterstützen.Ich danke Ihnen.
Jetzt erteile ichder Kollegin Cornelia Pieper das Wort.
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Winfried Hermann9587
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Hermann, Sie sagten, die
Opposition mäkele an Ihnen herum. Ich bezeichne das
nicht als Mäkeln. Ich bezeichne das – das will ich betonen –
als kritische Oppositionsarbeit.
Damit komme ich zur Sache: Wir behandeln heute im
Deutschen Bundestag einen Antrag, mit dem eine Strate-
gie für eine nachhaltige Informationstechnik entwickelt
werden soll. Frau Burchardt, Sie werden sich wundern:
Ich sage dazu, dass das ein guter Gedanke ist. Denn die
Informations- und Kommunikationstechnik stellt sich uns
als der Wachstumsmotor des beginnenden 21. Jahrhun-
derts dar. Auch Sie wissen natürlich, dass wir es zum Bei-
spiel beim Thema Bildung im Hinblick auf eine nachhal-
tige Entwicklung geschafft haben, einen gemeinsamen
Antrag dieses Hohen Hauses vorzulegen.
Aber darum geht es in diesem Falle nicht. Denn wer
glaubt, mit diesem Antrag, den Sie hier vorlegen, Ansätze
für eine politische Strategie an die Hand zu bekommen,
die eine Vernetzung von sozialen, ökonomischen und
ökologischen Aspekten dieser Entwicklung zum Ziel hat,
wird rasch enttäuscht sein.
– Genau. – Der aufmerksame Leser merkt schnell: Das
Produkt, also Ihr Antrag, hält nicht das, was die aufwen-
dige Verpackung verspricht.
Ich würde gerne – mit Blick auf Herrn Dr. Thomae – der
Verpackung den Zettel beifügen: Zu Risiken und Neben-
wirkungen fragen Sie lieber die F.D.P.
Hier geht es nicht um eine nachhaltige Informations-
technik. Ihnen geht es im Grunde um einen nationalen
Eingriff in eine Wachstumsbranche, der ihre internatio-
nale Wettbewerbsfähigkeit zur Disposition stellt.
Auch in diesem Fall soll ein so genanntes Konsensmo-
dell herhalten, wovon Sie gesprochen haben. Unserer
Auffassung nach sollen in Wirklichkeit dieser jungen
Branche politisch die Korsettstangen eingezogen werden.
Genau das steht auch in dem Antrag und Herr Kollege
Mayer von der CDU/CSU-Fraktion hat es auch gesagt.
So, wie Sie es vorgestellt haben, geht es nicht nur um eine
Selbstverpflichtung der Wirtschaft und auch nicht um ein
reines Roadmapping. Sie liefern gleich die grüne Keule
noch dazu, nämlich durch Sanktionsmechanismen für
den Fall der Nichteinhaltung seitens der Wirtschaft.
Wir alle wissen, wie viele Jobs gerade in der Informati-
onstechnik stecken. Ich glaube, Ihr Antrag gefährdet den
Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb sollten wir ihn
nicht unterstützen und deswegen lehnen wir ihn ab.
Ich finde es köstlich, dass Ihr Vertrauen in die Arbeit
des Bundesumweltministers Jürgen Trittin anscheinend
nicht so toll ist; denn die kleine Anzahl der Kollegen aus
der SPD-Fraktion, die sich in das Rubrum des Antrages
eingetragen haben, zeigt mir, wer die eigentlichen Mütter
und Väter der Botschaft sind.
– Ich weiß, Herr Tauss, auch Sie haben an diesem Antrag
mitgearbeitet,
und unsere konstruktive Kritik trifft Sie wieder schwer.
Ich kann das ja nachvollziehen.
Sie verlieren in dem Antrag kein Wort darüber, dass die
Industrie schon lange auf eine Elektronikschrottverord-
nung wartet, die den Stoffkreislauf von der Rohstoffge-
winnung über das Produkt und den Nutzer bis hin zur
Wiederverwertung verbindlich regelt. Das können Sie
nicht den Ländern vorschlagen. Hier ist vielmehr die Bun-
desregierung zum Handeln aufgefordert.
Meine Fraktion wird dem Antrag in der vorliegenden
Form nicht zustimmen, da es richtiger wäre, Aufgaben für
die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung
aufzuzeigen sowie in enger Zusammenarbeit mit der In-
dustrie Anwendungs-, Vermeidungs- und Beseitigungs-
strategien zu erarbeiten. Ein einseitiger Standortnachteil
für den Informationstechnikbereich in Deutschland ist auf
jeden Fall zu vermeiden. Es geht um den Wirtschafts-
standort Deutschland. Das falsche Signal an diese Bran-
che bringt angesichts der Globalisierung eher große Ge-
fahren für das prognostizierte weitere Wachstum mit sich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu den beidenanderen Oppositionsfraktionen wird die PDS dem Antragzustimmen.
Es ist gut, dass die Themen Informationstechnologieund Nachhaltigkeit zusammen beraten werden, auchwenn man hinsichtlich der Kriterien bzw. der Konkreti-sierung des Begriffs Nachhaltigkeit sicherlich noch dis-kutieren wird. Beides sind Grundlagen der gesellschaftli-chen Entwicklung. Es ist auch klar, dass das Verhältniszwischen ihnen ambivalent ist. Einerseits gibt es zahlrei-che Möglichkeiten, die neuen Informationstechnologienfür eine nachhaltige Entwicklung zu nutzen, andererseitsbergen die neuen Technologien zusätzliche Belastungenfür Mensch und Umwelt. Deshalb gibt es keinen Zweifeldaran, dass es einer möglichst genauen Beobachtung und
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einer gründlichen Folgenabschätzung dieser Entwick-lung bedarf. Darin sind wir uns sicherlich alle einig, wieman dies auch den Reden aus den Reihen der Union undder F.D.P. entnehmen kann.
Umstritten ist das vorgeschlagene Verfahren des Road-mappings. Dieses Verfahren ist im Grunde ein Dialog derBranche, weil diese am besten wissen müsste, was in dennächsten Jahren auf uns zukommt. Es ist insofern auch einAnsatz für die Entwicklung des IuK-Marktes, weil dieservon denjenigen, die ihn beherrschen, auch am besten ein-geschätzt werden kann. Die Unternehmen planen voraus.Was zählt, sind Fakten und Zahlen. Eine Analyse der In-formations- und Kommunikationstechnologien unter demGesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist also bei der Branchein guten Händen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Koppelin?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, da Sie er-
klärt haben, Sie würden den Antrag begrüßen: Können Sie
mir dann erklären, warum von der Bundesregierung zur-
zeit kein Mitglied anwesend ist?
Da ich ja leider noch nicht
Mitglied der Bundesregierung bin, kann ich diese Frage
natürlich schlecht beantworten.
Es ist natürlich schade, aber wir haben heute schon häufi-
ger über das Thema diskutiert und vielleicht hängen sie ja
noch am Bildschirm.
Es versteht sich in meinen Augen auch von selbst, dass
unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
und Umweltverbände diesen Prozess begleiten müssen,
genauso wie die Tatsache, dass sich eine von wirt-
schaftlichen Interessen unabhängige Grundlagenfor-
schung ebenfalls dieses Themas, denke ich, annehmen
muss.
Selbst wenn die Branche, Frau Burchardt, wartet,
bleibt doch die Frage, ob die Unternehmen diejenigen sein
sollten, die allein über die Konsequenzen oder die erfor-
derlichen Maßnahmen entscheiden sollten. Laut Antrag
ist das Ziel ein Konsens in der Branche, eine Selbstver-
pflichtung oder ein Branchenprotokoll, das entstehen
soll. Wir dürfen uns hier im Hause an manchen Stellen
nichts vormachen; wir alle wissen, dass die Unternehmen
Eingriffe in den Markt und ihren Profit nicht freiwillig
und schon gar nicht aus eigenem Antrieb unterstützen.
Das Verfahren darf natürlich in meinen Augen, sosehr
ich ihm zustimme, nicht in billige Absprachen münden,
darf natürlich nicht darin münden, dass Politiker oder
auch unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler oder Verbände die Ergebnisse dieser Analyse
nicht mit beurteilen können. Sie müssen natürlich mit in
die Diskussion über die Schlussfolgerungen einbezogen
werden. Da ist es, Kollege Mayer, natürlich notwendig,
dass Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen, wenn man
sich denn schon selbst verpflichtet, ergriffen werden kön-
nen. Denn wenn Selbstverpflichtungen nicht in konkrete
Maßnahmen münden, dann möchte ich auch das Recht ha-
ben, meinetwegen mit legislativen Maßnahmen einzu-
greifen. Ansonsten hat eine Selbstverpflichtung keinen
Sinn. Deswegen denke ich: Roadmap darf kein Freibrief
für die IuK-Branche sein, sondern muss natürlich Pflicht
sein, auch wenn sie einen Anteil an Selbstverpflichtungen
enthalten darf.
Damit gesellschaftlich kontrolliert werden kann, ob die
Regulierungsvorschläge angemessen sind, brauchen wir
eine breite Diskussion zum Thema „nachhaltige Informa-
tionstechnologien“. Was stellen wir uns darunter vor? Die
Entwicklung auf diesem Gebiet muss nachvollziehbar
sein. Es ist Aufgabe der Wirtschaft, der Medien, der Bil-
dungseinrichtungen, aber natürlich auch der Politik, dies
zu begleiten und offen zu legen. Wir partizipieren alle in
irgendeiner Form an dieser Entwicklung, an den neuen
Kommunikationstechnologien. Ich denke, dass sich nie-
mand aus der Verantwortung stehlen kann, auch nicht die
Politik. Sie sollte mutig genug sein, an dieser Stelle ein-
zugreifen.
Deswegen wird die PDS diesem Antrag zustimmen.
Das Wort hat
jetzt noch einmal der Herr Kollege Jörg Tauss.
Frau Präsidentin! Liebe KolleginPieper, es geht nicht um kritische Oppositionsarbeit – sieist schon weg, schade –, es geht um Mäkelei. Begonnenhat es heute Morgen mit dem Gemäkele an dem erfolgrei-chen Kurs der Bundesregierung und des Kanzlers undjetzt mäkeln Sie am Roadmapping herum. Das zieht sichdurch den ganzen Tag. Eine kritische Opposition, wie wirsie verstehen, zeigt aber Alternativen auf.
– Was soll der Verweis auf die Regierungsbank? Sie ha-ben doch eben davon gesprochen, dass diese Regierungaufgefordert werden müsste. Dazu sage ich: Nein, sie
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muss nicht aufgefordert werden; man ist bei der Arbeit;man macht das schon, wozu Sie sie auffordern wollen.
Wir müssen Ihnen hier noch etwas erklären und nicht de-nen. Die machen nämlich ordentliche Arbeit. Darin unter-scheiden sie sich sehr von Ihnen.
– Seien Sie einmal ein wenig schweigsam; jetzt lese ichIhnen etwas vor, was Ihnen viel Freude macht. Es geht umden Fachverband Informationstechnik im VDMA undZVEI. Die haben – jetzt hören und staunen Sie – bei einerAnhörung unserer Enquete-Kommission in der letztenLegislaturperiode Folgendes gesagt:Wir haben dem Umweltbundesamt Ende 1996 dieAufnahme von Beratungen über mittel- und langfris-tige Umweltziele für die informationstechnische In-dustrie vorgeschlagen.Die Industrie hat es vorgeschlagen, nicht die bösen Sozi-aldemokraten! – Hierzu haben auch Gespräche stattge-funden, heißt es hier weiter im Text. Und dann:Hieran könnte angeknüpft werden, wenn imUmweltbundesamt konkrete Aktionsfelder definiertwerden.Das, meine Damen und Herren, ist unser Ziel; mit derWirtschaft werden wir es machen. Sie könnten Oppositionmachen, indem Sie Alternativen aufzeigen. Aber die ha-ben Sie nicht. Intelligente Firmen und Unternehmen
– jetzt rufen Sie nicht die ganze Zeit dazwischen; die FrauPräsidentin hat schon gemeint, ich solle mich heute kür-zer fassen; Sie können auch eine Zwischenfrage stellen –achten im eigenen Interesse darauf, dass Produktion undProduktionsverfahren die Umwelt nicht belasten. Das istmoderne Politik und nicht dieses rückwärtsgerichtete, al-berne … – Ach, ich will das nicht weiter ausführen, sonstrügt mich noch die Präsidentin.
Gerade die IT-Branche hat Interesse daran. Elektronik-schrott ist ein zentrales Problem. Der KollegeHermann hat zu Recht darauf hingewiesen.Kollege Mayer, entschuldigen Sie bitte: Nachhaltigkeitist nicht Konservativismus. Wenn Konservativismus dassein sollte, was Sie heute vorgetragen haben, dann ist esein Drama. Nachhaltigkeit heißt, optimierte Produkte,optimierte Prozesse und Dienstleistungen und die Rah-menbedingungen dafür zu entwickeln. Das hat etwas mitNachhaltigkeit zu tun
und ist das Gegenteil von Konservativismus.So angenehm und faszinierend der Computer ist – Kol-lege Hermann hat Recht –, er hat, auf die Müllhalde ge-bracht, höchst unangenehme Eigenschaften, da er hochtoxisch ist. Auch hinsichtlich des Energieverbrauchs weißjeder Bescheid: Wenn wir das Problem mit dem Stand-by-Betrieb in den Griff bekommen würden, könnten wir einganzes Kernkraftwerk abschalten.Die Bundesregierung hat – darüber haben wir geradegeredet – gehandelt. Sie hat beispielsweise ein For-schungskonzept für die Produktion von morgen auf denWeg gebracht. Im Rahmen dieses Prozesses gibt es eineganz interessante Aktion, übrigens getragen vom Fraun-hofer-Institut für chemische Technologie, was, Herr Kol-lege Fischer, in unser beider Wahlkreis liegt. Falls Sie dieKurve jetzt nicht kriegen – Sie reden nachher noch –,würde ich vorschlagen, es einmal gemeinsam zu besichti-gen. Dann hören Sie, was die Wissenschaftlerinnen undWissenschaftlern zu unserem Antrag sagen. Sie werdenmöglicherweise staunen.Dieses Programm, von dem ich rede, hat mehrereZiele. Es geht um Lebensdauerplanung – „design to life“ist der englische Fachbegriff –, es geht um Werterhaltung,Mehrgenerationenproduktplanung. Es geht um Technolo-gien und Methoden zur Lebensdauerdokumentation, zurnachhaltigen Instandsetzung. Darüber freut sich übrigensdas Handwerk, das Sie sonst an allen Stellen hochjubeln.Es geht um die marktfähige Umsetzung von erweiterterProduktverantwortung. Das hat etwas mit Roadmappingzu tun – aber nicht nur damit, sondern auch mit Methodenzur Steigerung von Nachfrage nach nachhaltigen Pro-dukten. Das schönste nachhaltige Produkt hilft nämlichnichts, wenn die Verbraucher in den Märkten daran vor-beigehen. Das heißt, wir müssen ein Bewusstsein fürnachhaltige Produkte schaffen, damit sie auch gekauftwerden.
Das ist moderne Umweltpolitik, für die diese Regierungsteht.Diesen Zielen wollen wir uns mit Hilfe des Roadmap-ping nähern. Die IT-Branche könnte eine Vorreiterrollefür nachhaltige Produktion und Produkte spielen. Ein Ro-admapping ist dafür ein hervorragender Ansatz. Er kommtaus den USA, nicht gerade das Musterland des Sozialis-mus, wie wir alle wissen. Die Kapitalisten haben es alsoerfunden. An dieser Stelle – nicht überall, aber hier beimRoadmapping – wollen wir ausnahmsweise einmal vonden Kapitalisten lernen. Wir laden die Union ein, da mit-zumachen.Die Roadmap wird in Abstimmung mit der Branche er-stellt. Über VDMAund ZVEI habe ich bereits geredet. Sokommt man zu gemeinsamen Ergebnissen. Nicht PapaStaat alleine ist gefordert, sondern in der Kooperation vonStaat und Industrie werden umweltverträgliche Produkteauf den Weg zur Nachhaltigkeit gebracht. Eine modernerePolitik kann man sich eigentlich nicht vorstellen.
Deswegen: Mäkeln Sie nicht, machen Sie mit!Wir freuen uns also auf die spannenden Diskussionenmit Ihnen. Ich kann nur nochmals sagen: Kollege Fischer,Sie haben ja nachher noch die Chance, die Kurve zu krie-
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Jörg Tauss9590
gen. Meine herzliche Bitte ist – ich meine es jetzt wirklichernst –, in diese Gespräche Hersteller, Fachverbände,ZVEI, VDMAsowie viele Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler einzubeziehen. Sie haben die Chance mitzu-machen. Setzen Sie sich wenigstens mit an den Tisch,hören Sie es sich an! Den Workshop, den wir machen,werden wir, Kollegin Burchardt, sicher nicht hinter ver-schlossenen Türen abhalten. Die Opposition kann gernemitwirken. Denn wir wollen Sie auf dem Weg zu einermoderneren Politik gerne einbinden. Das würde demLand sicherlich nicht schaden.Machen Sie mit, anstatt sich – wie es heute geschehenist – nörgelnd ins Abseits zu reden. Es macht sonst nochnicht einmal Spaß, sich mit Ihnen auseinander zu setzen,so gerne ich mich mit Ihnen fetze.
Das ist keine konstruktive Opposition, es macht keinenSpaß mit Ihnen. Und das ärgert mich persönlich noch soein bisschen.
Das Wort hatjetzt der schon mehrfach genannte Herr Kollege Fischer.Axel E. Fischer (CDU/CSU): FrauPräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Lieber Herr Kollege Tauss, was Sie uns hier geboten ha-ben, war Demagogie pur.
Vielleicht liegt das auch daran, dass Sie heute bereits zumdritten Mal hier im Einsatz sind. Man hat das Gefühl, dieSPD hat gar keine anderen Leute mehr, die zu diesemThema sprechen können.
Die Sachlichkeit hat darunter zu leiden.Im Übrigen: Wenn man die Regierungsbank anschaut,wird man nicht gerade in dem bestätigt, was Sie sagen,Herr Kollege Tauss. Wenn das wirklich so ein wichtigesThema wäre, wären die alle hier und würden hören, wasdas Parlament zu sagen hat. Das ist eine Missachtung desParlaments und Sie verteidigen das auch noch. Das kanneigentlich nicht sein.
Wir debattieren heute den Antrag der Regierungsfrak-tionen „Strategie für eine Nachhaltige Informationstech-nik“. Das ist ein großer Anspruch, wenn man bedenkt,dass das Leitbild derNachhaltigkeit drei Dimensionen –die Ökonomie, die Ökologie und das Soziale – umfasst.Das bedeutet eine dauerhafte tragfähige Entwicklung, beider ökologische, ökonomische und soziale Belangegleichberechtigt und ausgewogen miteinander verbundensind.
Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass dieRegierungsfraktionen den Versuch gestartet haben, diesevon der Enquete-Kommission formulierten Anforderun-gen umzusetzen. Bereits im ersten Absatz Ihres Antrags –ich will nun zu Ihrem Antrag sprechen, da Sie das selbstnicht hinbekommen haben – umreißen Sie grob das ge-setzte Anspruchsniveau. Sie haben einige der vielen Be-reiche benannt, in denen die Politik Veränderungen derRahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklungder Informationstechnik in Deutschland vornehmenmüsse: Veränderungen im Arbeitsleben, Stichwort: Ver-einbarkeit von Familie und Beruf; Veränderungen derInformationsübermittlung, Stichwort: Informationszu-gang und Wissensvermittlung; Veränderungen der Quali-fikationsanforderungen an Arbeitnehmer, Stichwort: zu-kunftssichere Arbeitsplätze.Leider kommen Sie über das Benennen dieser wichti-gen Felder nicht hinaus. Denn im Weiteren handelt IhrAntrag, liebe Kollegin Burchardt, weniger von Nachhal-tigkeit als vielmehr von der Ökologisierung der Infor-mationstechnik. Es geht nur noch um die Verringerungder Stoff- und Energieflüsse im Bereich der IuK-Technik,die Erhöhung der Ressourcenproduktivität und dieVermeidung von Problemstoffen bei der Herstellung vonIuK-Geräten.Zur Lösung dieser vermeintlich drängenden Problemeschlagen Sie unter Berufung auf die Enquete-Kommis-sion die Erstellung einer Roadmap vor, die die ökologi-schen Herausforderungen auf dem Weg zu einer nachhal-tigen Informationstechnik benennen soll.Die Enquete-Kommission hat in der Tat einvernehm-liche Empfehlungen für eine weitere nachhaltige Ent-wicklung im Bereich der Informationstechnik ausgespro-chen. Ein Teilbereich war die ökologische Zielsetzung derVerbesserung der Schadstofffreiheit und Verringerung desEnergieverbrauchs. Ein Unterkapitel dieses Teilbereichswar die Erstellung einer Roadmap.Dabei hat die Enquete-Kommission den Staat aber al-lenfalls als Finanzier einer solchen Anstrengung der Wirt-schaft erwähnt.
Vom Staat als Beteiligtem an einer „freiwilligen Selbst-verpflichtung“ der Unternehmern und von einer Strafe fürUnternehmen bei Nichteinhaltung einer solchen Ver-pflichtung ist in den Empfehlungen der Enquete-Kom-mission nichts zu finden. Wir haben in Deutschland keinProblem mit zu wenig Staat, sondern wir haben ein Pro-blem mit zu viel Staat. Deshalb hat die Enquete-Kommis-sion bei ihrer Empfehlung einer Roadmap den Staat alsAkteur bzw. als Sanktionator bewusst nicht vorgesehen.
Es ist schon bezeichnend, dass Sie mit Ihrem Antragvon den eigentlichen Zielen einer nachhaltigen Entwick-lung für und in Deutschland ablenken wollen.
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Jörg Tauss9591
Die Nachhaltigkeit für Deutschland umfasst eben nichtnur den ökologischen Bereich – ansonsten könnten wirdiese Debatte im Umweltausschuss führen – und sie istauch nicht durch mehr Staat zu erreichen, denn dannkönnten wir die Marktwirtschaft gleich durch Planwirt-schaft ersetzen.
Nein, meine Damen und Herren, sie umfasst gleichbe-rechtigt auch die ökonomischen und sozialen Belange derMenschen in unserem Gemeinwesen. Die Enquete-Kom-mission hat dem in ihrem Endbericht Rechnung getragen,indem sie mehrere Strategien zur Umsetzung des Leit-bildes der Nachhaltigkeit empfohlen hat. Eine davonwar zum Beispiel die Förderung der Nachhaltig-keitskonzepte durch die Nutzung der IuK-Techniken.Doch davon findet sich in Ihrem Antrag überhaupt nichts.Stattdessen sprechen Sie die Ressourcenintensität undUmweltbelastungen der Halbleiter- und Komponenten-herstellung sowie den Energieverbrauch im Stand-by-Be-trieb – wir haben sogar von Kernkraftwerken gehört, dieabgeschaltet werden könnten – an. Das sind Ihre Themenim Bereich der Nachhaltigkeit.Wenden wir jetzt unseren Blick ab von den Fragen desUmwelt- und Gesundheitsschutzes hin zu den Fragen derökonomischen und sozialen Entwicklung. Bereits vorzwei Jahren, liebe Frau Burchardt, hat die Enquete-Kommission, die Sie zitiert haben, in ihrem Abschlussbe-richt den Fachkräftebedarf für die Softwareentwicklung,die Softwareanwendung und -ausgestaltung als das Na-delöhr der ökonomischen Entwicklung identifiziert. Dashaben Sie damals mit unterschrieben.Sie hat damals empfohlen, auf allen Ausbildungsebe-nen – auf der Ebene der Universitäten, der Fachhoch-schulen und der beruflichen Ausbildung – die bestehen-den Ausbildungskapazitäten zu erweitern und neue zuschaffen. Dieses Problem bewegt die Menschen, und zwarnicht nur die unmittelbar betroffenen Unternehmer undArbeitskräfte, nein, unsere Gesellschaft stellt sich insge-samt die Frage, wie wir mit älteren oder weniger qualifi-zierten Arbeitnehmern in Zukunft umgehen wollen. Siehatten zwei Jahre Zeit zu handeln. Nichts ist passiert.Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich hätte ange-sichts der momentanen Lage in Deutschland von Ihnen er-wartet, dass Sie die Initiative zur Behebung des Mangelsan geeigneten Fachkräften im Bereich der Anwendungder Informationstechnik ergreifen, um zu einer nachhalti-gen Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens beizutra-gen.Wenn ich mir aber vor diesem Hintergrund Ihren An-trag zu einer nachhaltigen Informationstechnik anschaue,stelle ich fest: Das ist so, als wenn eine Gruppe von Feu-erwehrsachverständigen im zwanzigsten Stock einesHochhauses intensiv über die Verfeinerung eines Rauch-melders diskutiert, während unter ihnen zehn Stockwerkein hellen Flammen stehen. Mit der neuen Situation kon-frontiert rufen sie die Feuerwehr aus Indien und Osteu-ropa, denn die eigenen Feuerwehrleute scheinen aus ihrerSicht nicht qualifiziert oder schon zu alt zu sein, um dieneuen Löschgeräte anständig zu bedienen. Genau das istdie momentane Situation.
Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber es entsprichtden Tatsachen.Wir haben 30 000 arbeitslose ansässige Computerfach-leute. Aber statt in den letzten beiden Jahren die Qualifi-kation neuer Fachleute forciert oder den Unternehmenden Einsatz älterer Fachleute schmackhaft gemacht zu ha-ben, setzen Sie auf den Import von Fachleuten und sche-ren sich nicht um die Integration unserer Mitbürger in denArbeitsmarkt. Das muss hier einmal so deutlich gesagtwerden.Es ist ein Armutszeugnis, dass an dieser Stelle über ei-nen Antrag zur nachhaltigen Informationstechnik debat-tiert werden muss, dessen Inhalt sich in keinem Wort anden aktuell drängenden Problemen der Menschen hier inDeutschland orientiert. Ihr Antrag geht jedenfalls an demeigentlichen Ziel einer nachhaltigen und dauerhaft trag-fähigen zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaftinsgesamt meilenweit vorbei. Die Diskussion über Nano-gramm und Pikogramm sowie über vermeintlich großeEntsorgungsprobleme beim Abfall, die Sie hier betreiben,ist jedenfalls derzeit kein geeigneter Beitrag zur Siche-rung der Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens.
In diesem Sinne, meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen von den Regierungsfraktionen: Verstecken Sie sichnicht länger hinter Ihrem ökologischen Umbau, sondernstellen Sie sich endlich den realen Problemen der Men-schen in unserem Lande!
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, For-schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag derFraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Stra-tegie für eine Nachhaltige Informationstechnik, Drucksa-che 14/2814. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/2390 anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen vonSPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-men von CDU/CSU und FDP angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. IrmgardSchwaetzer, weiteren Abgeordneten und derFraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Sicherung einer ange-messenen Vergütung psychotherapeuti-scher Leistungen im Rahmen der gesetzli-chen Krankenversicherung
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Axel E. Fischer
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– Drucksache 14/3086 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Ruth Fuchs, Dr. Ilja Seifert, Monika Balt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSExistenzsichernde Vergütung der psycho-therapeutischen Versorgung gewährleisten– Drucksache 14/2929 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst demKollegen Dr. Dieter Thomae für die FDP-Fraktion dasWort.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! In der letzten Wahlpe-riode haben wir dieses Gesetz weitgehend gemeinsam aufden Weg gebracht und getragen. Die jetzige Bundesregie-rung und die sie tragenden Fraktionen haben dieser Be-rufsgruppe vor den Wahlen sehr viel versprochen – zuviel, denn sie können es nicht halten.
Meine Damen und Herren, es ist erschreckend, wie dieHonorierung in diesem Bereich jetzt aussieht. Die floa-tenden Punktwerte haben dramatische Auswirkungen.Nicht nur in den alten Ländern, sondern besonders auchin den neuen Bundesländern werden die psychologischenPsychotherapeuten an die Grenze ihrer Existenz gebracht.
– Das ist in der Tat skandalös. Das ist die Grundlage derAuseinandersetzung, die wir jetzt führen müssen.Grundlage ist die Budgetierung. Meine Damen undHerren, die Budgetierung treibt alle in den Ruin. Sierationiert insgesamt die Leistungen.
Ob wir das Arzneimittelbudget, das Heilmittelbudget oderdiesen Bereich nehmen: Überall führt die Budgetierungzur Rationierung der Gesundheitsleistungen zum Nachteilder Patienten. Zum Glück merkt man jetzt draußen, wel-che Politik von Ihnen in diesem Bereich organisiert wor-den ist.
Meine Damen und Herren, das Erstaunliche ist, dasswir feststellen müssen: Es gibt keine akzeptablen Stun-denlöhne mehr. Es handelt sich nämlich um Leistungen,die im Gutachterverfahren von den Krankenkassen ge-nehmigt worden sind. Aber man muss wissen, dass dieseLeistungen dringend notwendig sind und nun endlich zueinem akzeptablen Preis organisiert werden müssen.
Da gibt es kein Entkommen.Viele Praxen in den neuen und alten Bundesländernsind dem Ruin schon nahe; sie können keine entspre-chenden Leistungen mehr erbringen. Der Bedarf ist groß.Deshalb plädiere ich dafür, dass wir uns jetzt im Gesetz-gebungsverfahren ernsthaft darum kümmern, eine sau-bere, vernünftige Lösung auf den Weg zu bringen.Ich möchte Ihnen einmal schildern, wie die Situationin der Praxis aussieht. Ich glaube, Zahlen machen die Si-tuation sehr deutlich: Im Jahr 1999 erzielten die Praxen imDurchschnitt einen Umsatz von 70 DM pro Stunde. Wennman aber die Praxiskosten, die man mit etwa 44 DM ver-anschlagen muss, abzieht, dann bleibt noch ein Betragvon 26 DM brutto.
Dann kommt die Altersvorsorge, dann kommt die Kran-kenversicherung, dann kommen die Steuern und dann – sosagen uns die Experten – liegt der Nettostundenlohn bei13 DM. Meine Damen und Herren, wer ist noch bereit, für13 DM pro Stunde zu arbeiten? – Es kann keine vernünf-tige therapeutische Betreuung zu diesem Stundenlohnmehr erfolgen.
Noch dramatischer ist es in Sachsen-Anhalt. Auch hiermöchte ich Ihnen einmal die Zahlen nennen: In Sachsen-Anhalt beträgt der Stundenumsatz 52,20 DM brutto. NachAbzug der Praxiskosten, die 43,70 DM ausmachen, blei-ben brutto noch 8,50 DM übrig.
Ich könnte Ihnen hierzu noch eine Reihe von Beispie-len nennen. Ich könnte Ihnen beispielsweise sagen, wiedie Situation in Berlin ist – sie ist ähnlich dramatisch.Meine Damen und Herren, es ist nicht nur in diesemBereich dramatisch, sondern es ist auch bei den Kran-kengymnasten dramatisch, es ist bei den Logopäden dra-matisch, es ist im Arznei- und Heilmittelbereich drama-tisch. Ich sage Ihnen: Auch im Krankenhausbereich wer-den wir recht bald feststellen, dass es dramatischer wird,weil die Wartezeiten immer größer werden. Hier, meineDamen und Herren, ist die Bundesregierung gefordert.Ich war erstaunt, als ich in der „Bild am Sonntag“ vom23./24. April 2000 las, dass der zuständige Staatssekretärgesagt habe, es gebe in diesem Land keine Budgetierungim Arznei- und Heilmittelbereich mehr.
Er hat behauptet:Um das System zwischen den Ärzten gerechter zugestalten, haben wir einen Individualregress einge-führt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters9593
Ich weiß nicht, wann dieses Gesetz über die Rampe ge-bracht worden ist.
Ich glaube, Ihr Staatssekretär sollte sich einmal um dieGesetzgebung kümmern, die Sie gemacht haben.Mit diesen Äußerungen hat er also nicht nur die „Bildam Sonntag“ belogen, sondern auch die deutschen Pati-enten, denn es gibt keinen Individualregress, sondern esgibt bei der Budgetierung nur eine Gesamthaftung allerÄrzte und das – ich sage es ganz eindeutig, meine Damenund Herren – ist in meinen Augen nicht verfassungsge-recht.
Ich bin nicht bereit, dies weiter zu akzeptieren. Gehen Sievon der Budgetierung weg! Dann, meine Damen und Her-ren, sind Sie auf einem vernünftigen Weg.Ich bin bereit, im Anhörungsverfahren vernünftigeVorschläge aufzunehmen, damit diese Problematik, diesehr dramatisch ist, gelöst werden kann. Sie haben denPsychotherapeuten vor den Wahlen so viel versprochen,aber nichts gehalten. Ich muss sagen, das ist unverant-wortlich.
Für die SPD-Frak-
tion spricht Kollegin Helga Kühn-Mengel.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etwas erstaunthat mich Ihr Beitrag schon, Herr Kollege Thomae.
– Manchmal genügt auch eine kurze Zeit, um jemandenkennen zu lernen, aber diesen Aspekt möchte ich nichtvertiefen.
Sie haben weder zu Ihrem Gesetzentwurf gesprochennoch zu dem außerordentlich heiklen Punkt der Zuzah-lung, die auch von der Verbändelandschaft abgelehntwird.
Das haben Sie durch ein gewisses Timbre in der Stimmekompensiert. Aber ich sage Ihnen schon jetzt – ich nehmeetwas aus meiner Rede vorweg –: Die Situation für diePsychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist ernst.Das müssen Sie mir nicht sagen.
Mit diesem Thema reise ich durch die bundesdeutscheLandschaft, wie auch meine Kollegen. Ich weiß um dieNot. Nur in der Ursachenbeschreibung setze ich etwas an-dere Akzente als Sie.
– Auch das ist nicht richtig. Aber dazu komme ich noch.Sie erinnern sich: Als das Psychotherapeutengesetznach langen Jahren der Auseinandersetzung in Kraft trat,haben wir viele der Schwierigkeiten, über die wir heutesprechen, zumindest in Ansätzen kommen sehen: Eswurde über Zugangsmodalitäten zur KassenärztlichenVereinigung, Zulassungsbedingungen und Methodenviel-falt diskutiert. Ich möchte daran erinnern, dass die SPDdiesem Gesetz die Zustimmung gegeben hat, weil sie imBundesrat ganz entscheidende Dinge nachbessern konnte:bei der Gleichstellung der ärztlichen und psychologischenTherapeuten und Therapeutinnen, bei ihrer Integration indie Kassenärztlichen Vereinigungen mit Bildung einesFachausschusses und bei der Stärkung der Kinder- und Ju-gendtherapeuten. Auch der Wegfall der Zuzahlung warein Punkt, weshalb wir zugestimmt haben. Es ist schonbemerkenswert, meine Damen und Herren von der F.D.P.,dass Sie die Zuzahlung heute wieder herauskramen undwieder verwerten wollen.Wir werden diesen Vorschlag jedenfalls heute ebenso ab-lehnen wie damals.
Wir haben diesem Gesetz damals zugestimmt, weil wirmehr Klarheit und mehr Sicherheit für die Patienten undPatientinnen erreichen und deren gute psychotherapeuti-sche Versorgung sicherstellen wollten. Ich erwähne dasdeshalb, weil wir nicht unbedingt von einer Transparenzim System sprechen können.Es ist richtig, dass es Schwierigkeiten bei der Umset-zung der Integration in die Kassenärztlichen Vereini-gungen gibt. Es war das Ziel der Neugestaltung, dass diePsychotherapeuten Mitglieder der Kassenärztlichen Ver-einigungen werden, dass es eine gemeinsame Bedarfspla-nung gibt, dass sie den Ärzten gleichgestellt sind, dassbeide Gruppen die gleiche Vergütung erhalten, dass sie inden Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung vertretensind. Ich sage noch einmal: Das System hat manche die-ser Forderungen, die wir aufgestellt haben, noch nichtumgesetzt. Wir können nur hoffen, dass vieles davon zuden Anfangsschwierigkeiten gehört.Wir wussten natürlich, dass es nicht so einfach seinwürde, die gleichberechtigte Einbindung umzusetzen. Im-merhin haben wir es mit einem Bereich zu tun, der sehrstandesbewusst und interessenorientiert ist, denn dieÄrzte sind schon lange etabliert. Das gehört zur Ursa-chenbeschreibung. Es gibt nun einmal Schwierigkeiten,wenn neue Partnerinnen und Partner in ein gewachsenesSystem eingebunden werden sollen.Man muss auch sagen, dass es in diesem System här-teste interne Verteilungskämpfe gibt. Das ist unbestrittenund wird von den Ärzten und Ärztinnen in vernünftigenGesprächen immer wieder gesagt. Was die Therapeutin-
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Dr. Dieter Thomae9594
nen und Therapeuten betrifft, so haben wir es auch mit denAuswirkungen solcher Verteilungskämpfe zu tun.Es ist richtig, Herr Kollege Thomae, dass es im Jahre1999 bundesweit einen dramatischen Punktwertabfallbei der Vergütung psychotherapeutischer Leistungen gab,der Teile eines ganzen Berufsstandes existenziell bedroht –das ist richtig –, der Therapeuten in extreme wirtschaftli-che Situationen bringt und – nicht zuletzt – in manchenRegionen die psychotherapeutische Versorgung der Pati-enten und Patientinnen gefährdet. Richtig ist aber auch,dass Mittel, die eigentlich für die Psychotherapie hättenverwendet werden sollen, über die Kassenärztlichen Ver-einigungen in die Vergütung von Arztgruppen geflossensind.
– Das hat das BMG gesagt, das sagen Kommentatoren ausdem Bereich der Krankenkassen.Das finden Sie auch in einem Länderpapier wieder. Daswird zurzeit überall diskutiert. Es ist doch nicht so, alswären wir nicht bestrebt, die Ursachen der schwierigenSituation herauszuarbeiten.Richtig ist nach unserer Meinung aber auch, dass derAntrag der PDS mit der Forderung nach Erhöhung desBudgets zu kurz greift und – ich weise noch einmal da-rauf hin – der Antrag der F.D.P. allzu anbiedernd ist.
– Entschuldigen Sie bitte, Frau Dr. Fuchs. Ich meine michzu erinnern, Ihren Antrag auch als Ersten genannt und ge-sagt zu haben, dass die dort erhobene Forderung nach Er-höhung des Budgets zu kurz greife und – ich wiederholees gerne – der Antrag der F.D.P. anbiedernd sei.
Im letzten Jahr galten Übergangsregelungen, die imÜbrigen noch Ihre Regierung beschlossen hat. Als wir sa-hen, wie problematisch sich die Vergütung psychothera-peutischer Leistungen im Übergang gestaltete, haben wirvon der Koalition eine deutliche Nachbesserung in Höhevon etwa 140 Millionen DM vorgenommen.Wir haben mit der Gesundheitsreform 2000 festge-schrieben, dass aufgrund der besonderen Tätigkeiten inder Psychotherapie eine angemessene Höhe der Vergü-tung pro Zeiteinheit zu gewähren ist. Das ist nicht un-wichtig; denn damit wollten wir zum Ausdruck bringen,dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei ei-nem drohenden oder bereits eingetretenen Punktwertver-fall ihren Leistungsumfang nicht so ohne weiteres aus-weiten können, wie das andere Arztgruppen können. Esist wichtig, dass wir diesen Punkt in § 85 des Solidaritäts-stärkungsgesetzes verankert haben.Entscheidend ist nach unserer Meinung aber auch, dassim Psychotherapeutengesetz eine Auffangregelung vor-gesehen ist, damit ein bestimmtes Vergütungsniveau nichtunterschritten wird,
und dass als Maßstab für die Angemessenheit der Vergü-tung ärztliche Beratungs- und Betreuungsleistungen her-angezogen werden sollen. So ist es in Art. § 11 Abs. 2 fest-geschrieben.Offensichtlich ist der Vergütungspunktwert im zwei-ten Halbjahr 1999 aber auch deshalb so dramatisch ge-sunken, weil das von der Kassenärztlichen Bundesverei-nigung bereitgestellte Honorarvolumen im Vergleich zu1998 zum Teil gesenkt wurde. Mittel für die Psychothera-pie sind nicht geflossen. Sie sind – ich wiederhole es – inandere Bereiche gelangt. Dabei handelt es sich nach einerSchätzung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bun-desweit um eine Summe von etwa 300 Millionen DM.Wir können doch nicht einfach sagen: „Wir bessern dasBudget nach und geben mehr Geld in den Topf“, wenn alldiese Dinge nicht ordentlich auf den Tisch des Hauses ge-legt werden.Sie haben vorhin nach einem Beispiel gefragt. Die ne-gativen Auswirkungen können am Beispiel Berlins – dashaben Sie vorhin selber erwähnt – dargestellt werden:1996 gab die Kassenärztliche Vereinigung Berlin 72 Mil-lionen DM für psychotherapeutische Leistungen aus. ImJahr 1998 stieg dieser Betrag auf 95 Millionen DM. Daswar eine Steigerung von 32 Prozent. 1999 betrug der An-teil der Mittel für psychotherapeutische Leistungen ausder vertragsärztlichen Versorgung am Gesamtbudget le-diglich 73 Millionen DM. Es fehlten also im letzten Jahrüber 20 Millionen DM im Budget der KassenärztlichenVereinigung Berlin, die im vorigen Jahr den Psychothera-peuten noch zur Verfügung gestanden haben. Das habe icheiner Darstellung der Länder entnommen. Ich weise nurdeshalb darauf hin, damit Sie nicht denken, ich ziehe werweiß was für Zahlen heran; denn die Länder befassen sichdamit. Wir befinden uns im Gespräch mit den Ländern,weil wir wissen, dass wir die Länder als Aufsichtsbe-hörden für eventuellen Änderungen brauchen.Wir haben immer wieder darauf hingewiesen – und esauch in Stellungnahmen betont –, dass die Kassenärztli-chen Vereinigungen und die Krankenkassen gemeinsamLösungen zu vereinbaren haben, die eine Versorgung derVersicherten und ein angemessenes Honorar für die Ärztegewährleisten sollen.
Wir haben immer beide Seiten in die Verpflichtung ge-nommen. Wir sehen die rechtlichen Grundlagen für einensolchen Konsens in den genannten Auffangregelungengegeben: Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes,und § 85 des Solidaritätsstärkungsgesetzes.
Bis zum Ende des letzten Jahres war es dem Bundes-ministerium für Gesundheit nicht gelungen, die Kas-senärztlichen Vereinigungen und die Spitzenverbände der
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Helga Kühn-Mengel9595
Krankenkassen zu einer gemeinsamen Position zu bewe-gen. Dann gab es Ende Januar dieses Jahres aber einenKonsens mit den Aufsichtsbehörden der Länder, dassbei der Vergütung für das Jahr 1999, für das sich die Lageja besonders dramatisch darstellt, der vorgegebene Min-destpunktwert nicht unterschritten werden darf. Dabeimuss natürlich auch die Frage geklärt werden, wer Auf-wendungen in welchem Umfang zu tragen hat. Ich denke,dass damit ein Prozess eingeleitet wurde, der zu einerzwar nicht hochwertigen, aber doch halbwegs akzepta-blen Lösung geführt hat.Im Übrigen ist die Analyse der gesamten Situationaußerordentlich schwierig, weil wir ein geschlossenesDatenbild vonseiten der Kassenärztlichen Vereinigungeneinfach nicht bekommen; es liegt nicht vor. Noch inder letzten Sitzung vor der Osterpause – Herr KollegeLohmann, auch Sie haben das kritisiert – standen uns le-diglich Daten vom ersten, allenfalls vom zweiten Quartal1999 zur Verfügung.
– Sie sagen „Trauerspiel“. Sie haben das ebenso kritisiertwie wir.Vor diesem Hintergrund, bei völlig unklarer Datenlageund bei Spekulationen darüber, wo die für die Psychothe-rapeuten gedachten Mittel eigentlich hingeflossen sind,sehr verehrte Damen und Herren von der PDS und von derF.D.P., erscheint das Nachschießen von frischem Gelddurch die Politik zu diesem Zeitpunkt nicht als das geeig-nete Mittel.Jetzt komme ich zu dem, was die F.D.P. will. Die F.D.P.will in erster Linie diejenigen Regelungen verändern, diesie in der alten Koalition beschlossen hat.
Frau Kollegin, ich
muss darauf hinweisen, dass Sie Ihre Redezeit weit über-
schritten haben. Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich danke Ihnen; aber
ich glaube, ich darf das noch.
Ja, wenn Ihre Frak-
tion das gestattet. Nur, das geht dann zulasten der zweiten
Rednerin; aber das ist Sache Ihrer Fraktion.
Ich danke Ihnen. Ich
beeile mich.
– Ja, die kommt gleich noch. Frau Schaich-Walch hat si-
cherlich noch viel Gutes zu ergänzen.
Die F.D.P. will in ihrem Antrag die Punktwertdifferenz
für 1999 so erhöhen, dass die Psychotherapeuten eine
„angemessene Vergütung“ erhalten. Das hört sich gut an
und suggeriert den Psychotherapeuten schnelle Hilfe. Es
bedeutet aber auch, dass die Kassenärztlichen Vereini-
gungen aus ihren Verpflichtungen entlassen werden; für
die Mehrkosten sollen allein die Krankenkassen aufkom-
men. Das heißt auf gut Deutsch: Die bestehenden Pro-
bleme sollen einseitig zulasten der GKV gelöst werden.
Im Übrigen: Was heißt „angemessene Vergütung“?
Mit welchen Arztgruppen, mit welchem Bezugsjahr usw.
wollen Sie Vergleiche anstellen?
Für das Jahr 2000 schlagen Sie eine Einzelleistungs-
vergütung vor. Das bedeutet, dass psychotherapeutische
Leistungen faktisch außerhalb des ärztlichen Gesamtbud-
gets bezahlt werden. Das können wir natürlich nicht mit-
tragen, weil wir den Rahmen für die Beitragssatzstabilität
gesetzt haben.
Wie ist Ihr Plan zur Gegenfinanzierung? Die von Ih-
nen vorgeschlagene Zuzahlung – dazu habe ich schon et-
was gesagt – ist für uns völlig inakzeptabel; wir haben sie
damals abgelehnt und das tun wir auch heute. Sie wird
auch von den Verbänden, zum Beispiel vom BVVP, ganz
kritisch gesehen. Ihr anderer Vorschlag zur Gegenfinan-
zierung besteht darin, dass Sie die Mittel, die wir für die
Verbraucherberatung eingesetzt haben, streichen wollen.
Sie können von uns nicht erwarten, dass wir ein Gesetz,
das wir gerade auf den Weg gebracht haben, schon wieder
zurücknehmen, indem wir ein wichtiges Element strei-
chen.
Natürlich sehen auch wir die schwierige Situation. Wir
fordern die KVen und die Krankenkassen noch einmal
auf, ihren Verpflichtungen auf den genannten Grundlagen
nachzukommen. Wir fordern vor allem eine ordentliche
Datenbasis. Erst wenn das erreicht ist, können wir auf se-
riöses Material zurückgreifen und überlegen, ob eine No-
vellierung an bestimmten Stellen infrage kommt.
Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun der Kollege Aribert Wolf.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wenn wir über den Gesetz-entwurf der F.D.P. debattieren, dann geht das nicht, ohnedass wir ein Stückchen zurückschauen auf die Entwick-lung der Psychotherapie und der dafür vorgesehenen Fi-nanzgrundlagen. Frau Kühn-Mengel, Sie haben das imTon sehr nett gesagt, aber in der Sache wollen wir diesenGeschichtsklitterungen schon ein bisschen entgegen-treten. Wenn der Gesetzgeber, wie beim Psychothera-peutengesetz, Neuland betritt und nicht über gesicherteErfahrungen verfügt, kann auch einmal etwas schiefgehen; das räumen wir durchaus ein. Aber ein klug be-ratener und einsichtiger Gesetzgeber baut für eine solcheSituation vor und hält sich gleich im Gesetz ein Hin-tertürchen offen nach dem Motto: Versuch – Irrtum –Korrekturmöglichkeit. Und genau das hat die damalsunionsgeführte Bundesregierung, hat der damalige
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Helga Kühn-Mengel9596
Gesundheitsminister Horst Seehofer klugerweise imPsychotherapeutengesetz vorgesehen.Aber ich muss Ihnen beweisen – und ich kann Ihnendas auch beweisen –, dass die rot-grüne Bundesregierungdiese Klugheit in ihrer Gesundheitspolitik leider nicht anden Tag gelegt hat. Frau Fischer, leider ist Ihr Budgetie-rungswahn eine der Hauptursachen dafür, dass wir inDeutschland auch im Bereich der Psychotherapie derartmassive Probleme haben.
Aber nicht nur in der Psychotherapie, auch in anderen me-dizinischen Versorgungsbereichen in unserem Land ha-ben wir immer stärker eine heimliche Mehrklassenmedi-zin zu verzeichnen.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie habenzwar die von uns aus Gründen der Kostenbegrenzung an-gehobenen Zuzahlungen im Bereich der Arzneimitteloffiziell minimal abgesenkt, aber in der bundesdeutschenWirklichkeit werden heute Patienten dank Ihrer Budge-tierungspolitik viel massiver zur Kasse gebeten, als dasmit unseren sozial abgefederten und über Härtefallrege-lungen gemilderten Zuzahlungsregelungen der Fall war.
All das läuft heute in der bundesdeutschen Wirklichkeitwesentlich härter, brutaler, aber heimlich unter dem La-dentisch.Das sind keine erfundenen Geschichten, Frau Fischer.Ich habe es in der eigenen Familie vor kurzem erfahren.Meine Frau war vor einigen Tagen bei einem Gynäkolo-gen. Die erste und routinierte Forderung der Sprech-stundenhilfe war: 50 Mark bar auf den Tisch, sonst gibt eskeine Vorsorgeuntersuchung!
Nach eineinhalb Jahren rot-grüner Gesundheitspolitik istdas die traurige Wirklichkeit in Deutschland. Da könnenSie schreien, so viel Sie wollen, Sie haben für die Men-schen etwas Schlechtes auf den Weg gebracht.
Deswegen, Frau Fischer, sollten Sie sich weniger Ge-danken darüber machen, wie Sie Bundesbürgern mehrGeld aus der Tasche ziehen können, indem Sie Zins- undAktieneinkünfte auch noch sozialversicherungspflichtigmachen wollen. Stattdessen sollten Sie lieber darübernachdenken, wie Sie den bundesdeutschen Normalver-braucher vor diesem heimlichen Abkassieren und vor die-ser heimlichen Mehrklassenmedizin endlich wirksamschützen. Das wäre eine lohnende Aufgabe, mit der Siesich als Gesundheitsministerin wirklich profilieren könn-ten.Aber bleiben wir bei der Psychotherapie. Meine Da-men und Herren, wir kennen ja im Medizinbetrieb viel-fach das Gejammer der Akteure, die Vergütung sei zu ge-ring. Ich bin bestimmt der Letzte, der sagt, dass das, wasan Wehklagen bei uns in der Politik abgeladen wird, im-mer stimmt. Da ist natürlich oft ein Stückchen überzeich-nende reine Interessenvertretung dabei. Aber wenn wiruns die Situation der Psychotherapeuten im Jahre1999 ansehen, dann müssen wir feststellen, dass sie inmindestens der Hälfte der Bundesländer in der Tat völligunerträglich war. Das belegen Gerichtsurteile, Schieds-sprüche, Aussagen der Krankenkassen und folgende Fak-ten, die ich Ihnen kurz nennen darf. Ich habe die Zahlenvom dritten Quartal. Es reicht nämlich völlig aus, wennman einmal bei einer Krankenkasse anruft und sich Über-sichten geben lässt. Das Gesundheitsministerium wäreauch ein Stückchen weiter, wenn es dies tun würde. Ichweiß nicht, warum ich die Zahlen bekomme, Sie im Mi-nisterium aber nicht.Das Bundessozialgericht peilt einen Vergütungspunkt-wert von 10 Pfennig an. Nach den mir vorliegenden Über-sichten schwanken die Auszahlungspunktwerte zwischen2 Pfennig in Berlin, 3,1 Pfennig in Sachsen, 3,9 Pfennigin Mecklenburg-Vorpommern, 6,1 Pfennig in Süd-Würt-temberg, 6,5 Pfennig im Saarland und 7 Pfennig in West-falen-Lippe, Bayern, Hamburg und Nordrhein. Das istwirklich beschämend.Hinzu kommt, dass viele Psychotherapeuten zeitlichgenau festgelegte Leistungen erbringen und diese vorherauch noch von den Krankenkassen genehmigen lassenmüssen. Für die üblichen Mengenausweitungen imMedizinbetrieb steht die Psychotherapie also nur ganz be-grenzt zur Verfügung.
Deswegen sind die Klagen der Psychotherapeuten übereine katastrophale Einkommenssituation, die es ihnenvielfach noch nicht einmal ermöglicht, die Praxiskostenzu decken, richtig.Ich will mich jetzt überhaupt nicht über die Gründeauslassen, die dazu geführt haben, dass dieser dramati-sche Punktwerteverfall eingetreten ist.
Schuldzuweisungen helfen weder den Patienten noch denPsychotherapeuten.Nur so viel: Keiner, auch Sie nicht,
wusste zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Psycho-therapeutengesetzes, ob das Geld, das für die Integrationder Psychotherapie in die gesetzliche Krankenversiche-rung und in das System der Kassenärztlichen Vereinigun-gen vorgesehen war, ausreichen würde.
Deswegen bestand Konsens in der Ärzteschaft, unter denPsychotherapeuten und den Krankenkassen, dass mansich darum bemühen wollte, ein ausreichendes Finanzvo-lumen zu berechnen. Von allen wurden ihre Zahlen anHorst Seehofer gemeldet. Anhand dieser wurde dann dasVolumen berechnet. Und diese Zahlen wurden für die
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Aribert Wolf9597
Ausgestaltung des Psychotherapeutengesetzes übernom-men. Heute sind wir alle, Sie und auch wir, ein Stückchenschlauer, denn wir alle wissen, dass diese Berechnungenvon der Wirklichkeit überholt wurden: So wurden we-sentlich mehr Psychotherapeuten zugelassen, als man da-mals gedacht hat,
und die von den Kassen gemeldeten Zahlen zur Kosten-erstattung im Bereich der Psychotherapie waren offen-sichtlich viel zu niedrig angesetzt.Es ist normal – das weiß jeder, meine Damen und Her-ren –, dass dann, wenn ein Honorarkuchen aufgrund zugeringer Zutaten schon von Haus aus zu klein gebackenwird, sich aber trotzdem auch noch wesentlich mehr Per-sonen von diesem Kuchen ein Stückchen abschneidenwollen, beileibe keine Freude aufkommen kann. Dasleuchtet, wie ich glaube, auch denen von uns ein, die nichttagtäglich in der Küche stehen und Kuchen backen.Aber ein Mann wie Horst Seehofer hatte vorgebaut.Weil er von diesen Unsicherheiten wusste, hat er in Art. 11Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes eine Auffangrege-lung verankert. Darin ist ein klarer Verhandlungsauftragan die Kassen und die Ärzteschaft enthalten, dass dann,wenn der Punktwert der Psychotherapeuten den der ärzt-lichen Betreuung um 10 Prozent unterschreitet, nachver-handelt werden muss.
Versuch – Irrtum – Korrekturmöglichkeit.
– Ich würde da nicht so laut schreien, Herr Schmidbauer.Jetzt, meine Damen und Herren, kommt das, was Rot-Grün in eigener Machtvollkommenheit an Gesetzge-bungspolitik auf den Weg gebracht hat: ein Budgetie-rungswahn ohnegleichen.
Sie haben uns ja nicht erst letztes Jahr mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz,
sondern bereits 1998 massiv Probleme beschert. Mit demso genannten GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz habenSie eine Budgetierung eingeläutet, die die Ausgaben derKassen bereits für 1999 streng begrenzt hat.
Damit durfte keine Krankenkasse in Deutschland, auchwenn sie noch so sehr überzeugt war – das haben ja vieleKassen gesagt –, dass das Finanzierungsvolumen für diePsychotherapeuten zu knapp bemessen ist, mehr Geld zurVerfügung zu stellen. Das war aufgrund Ihrer Gesetzeausgeschlossen.
Es kommt ja noch toller, meine Damen und Herren: InArt. 14 des ersten rot-grünen Budgetierungsgesetzes, desso genannten Solidaritätsstärkungsgesetzes, ist geregelt,dass die Auffangklausel des Psychotherapeutengesetzesausgehebelt wird.
Herr Kollege
Wolf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schmidbauer?
Nein, ich möchte erst denGedanken zu Ende führen. Vielleicht kann er sich hinter-her noch einmal melden.Während des Gesetzgebungsverfahrens zum GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz wurde 1998 zunächst einÄnderungsantrag von Rot-Grün eingebracht, der eineÖffnung der Budgetierung gemäß Art. 11, also genau derAuffangregelung von Horst Seehofer, vorsah. Aber da esbei Ihnen wie üblich chaotisch zugegangen ist,
haben Sie diesen Antrag im Rahmen des allgemeinen Ge-wurstels wieder zurückgezogen und gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. beschlossen, dass es bei derstrengen Budgetierung bleibt. Und jetzt kommen in denBundesländern die Probleme hoch.
Die Frau Fischer lässt dann vom Bundesgesundheits-ministerium erst einmal ganz forsch an alle BeteiligtenBriefe schicken mit dem Inhalt, dass Rot-Grün im Bun-destag eine klare gesetzliche Ausgabenbegrenzung für dieKrankenkassen vorgenommen hat und es keine Ausnah-men von der Budgetierung, auch nicht für die Psychothe-rapie, gibt. So lautete der Inhalt der Briefe. Dann kamenwutentbrannte Reaktionen aus den Ländern. Alle Betei-ligten schimpften über die Gesetze und diesen Blödsinnvon Rot-Grün: Bundesländer, die von der SPD regiertwerden, unionsgeführte Bundesländer, KassenärztlicheVereinigungen, Kassen, Psychotherapeuten und am Endeauch die Schiedsämter. Und langsam dämmert es derSpitze des Gesundheitsministeriums, dass Rot-Grün hierMurks beschlossen hat.
Aber die politische Spitze hat nicht den Mut, Gesetzezu ändern, Frau Fischer, denn dann würden die Dinge jaöffentlich bekannt werden. Nein, ein findiger Beamterkommt auf die Idee und sagt: Wir vollziehen einfach denMurks nicht, den wir mit der Verabschiedung von Art. 14GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz beschlossen haben. Ge-sagt, getan. Dann hört man aus dem Gesundheitsministe-rium ganz kleinlaut: Beanstanden wir halt die Gesetzes-verstöße der Kassen nicht. Sie dürfen ruhig mehr zahlen,als im Solidaritätsstärkungsgesetz festgelegt ist. Was wäredenn los – so wörtlich –, wenn das Bundesgesundheits-ministerium einen harten Standpunkt bezieht? Was würdedann passieren?
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Aribert Wolf9598
Man muss sich dies auf der Zunge zergehen lassen: DerDeutsche Bundestag beschließt auf Grundlage eines Vor-schlages von Frau Fischer ein Gesetz. Dann aber ent-scheidet die Ministerin in eigener Selbstherrlichkeit: Auspolitischen Gründen vollziehe ich dieses Gesetz nicht. –Das ist die traurige Wirklichkeit bei den Psychotherapeu-ten.
Frau Fischer, damit wir uns nicht falsch verstehen: Wirwollen nicht, dass Sie dieses Murksgesetz vollziehen. Wirleben aber doch nicht in einer Bananenrepublik. Wenn Sie –Gott sei Dank – endlich einsehen, dass Rot-Grün mit die-ser totalen Budgetierung gesetzgeberischen Mist gebauthat, dann haben Sie wenigstens den verfassungspolitischgeforderten Mut, Ihre Murksgesetze zu ändern, statt nurderen Vollzug auszusetzen. Daher werden wir das Ge-setzesvorhaben der F.D.P. unterstützen, soweit es dieVergütungssituation für 1999 betrifft.Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich kann Sienur auffordern, hier ebenfalls mitzuziehen. Denn das Par-lament muss entscheiden, was in Deutschland rechtlichgilt, und nicht eine Ministerin, die willkürlich festlegt, obsie ein vom Deutschen Bundestag beschlossenes Gesetzvollzieht oder nicht. Aus dieser Patsche sollten Sie IhrerMinisterin – wenigstens mit Verspätung – heraushelfen.Problematischer ist im F.D.P.-Vorschlag allerdings –auch diesen Punkt will ich ansprechen –, was dort an Re-gelungen für das Jahr 2000 vorgesehen ist. Zunächst ein-mal will ich die Punkte nennen, in denen wir mit derF.D.P. übereinstimmen. Die verkorkste Situation von1999 in Kombination mit der rot-grünen Budgetierung fürdas Jahr 2000 darf nicht dazu führen, dass heuer andereFacharztgruppen massiv geschröpft werden, um für diePsychotherapeuten überhaupt eine angemessene Vergü-tung sicherzustellen. Genau das droht, wenn wir die rot-grünen Gesetze unverändert lassen.Sie von der F.D.P. haben einen Vorschlag gemacht, derdie Budgetierung durchbricht. Aber es ist ja so, dass derVergütungsanteil der Psychotherapeuten von den Kas-sen nicht mehr aus einem gesonderten Honorartopf be-zahlt wird. Er wird vielmehr in die von den Kassen in ei-ner Summe entrichtete Gesamtvergütung für alle Fach-ärzte eingerechnet. Rot-Grün hat die Gesamtvergütungfür die Fachärzte der Höhe nach streng begrenzt. Dasheißt: Alle Verbesserungen in Sachen Honorar für diePsychotherapeuten gehen zu Lasten anderer Fachärzte.Dies ist ein Teufelskreis: Nimm dem einen, gib dem an-deren; so geht es der Reihe nach um.Als Kinder haben wir bei uns zu Hause früher „Reisenach Jerusalem“ gespielt.
Solange die Musik spielt bzw. die Verhandlungen mit denKrankenkassen laufen, dürfen alle um einen aus Stühlengebildeten Kreis herumlaufen. Wenn die Musik aufhörtbzw. die Verhandlungen mit den Krankenkassen zu Endesind, dann müssen sich alle hinsetzen. Aber leider ist dannein Stuhl zu wenig da. Das heißt, einer fliegt heraus undist der Dumme. Da die Stühle bzw. die Finanzmittel ins-gesamt begrenzt sind, muss am Ende eine Arztgruppe fürdie Verbesserungen der anderen Gruppe bezahlen. Das istdie rot-grüne Reise nach Jerusalem bzw. die rot-grüneBudgetierung.
Die F.D.P. sieht dieses Problem; Sie aber wollen esnicht sehen. Ich weiß, dass Sie dem Budgetierungswahnanhängen. Trotzdem halten wir den Lösungsweg derF.D.P. aus folgenden Gründen für unbefriedigend. LiebeKollegen von der F.D.P., wenn wir die Psychotherapeutenvon diesem rot-grünen Irrsinnsspiel befreien und die Leis-tungen außerhalb des Budgets gesondert vergüten, alleanderen aber in diesem System bleiben sollen, dann sindwir von CDU und CSU der Meinung, dass wir nicht nureine Arztgruppe bevorzugen und diese vor dem rot-grü-nen Budgetierungssumpf retten sollten. Es sollte vielmehrgleiches Recht für alle gelten.
Wir möchten hier im Interesse aller gesetzlich Kranken-versicherten in diesem Land ein Ende der falschen rot-grünen Budgetierungspolitik für Psychotherapeuten, fürAugenärzte, für Gynäkologen und für alle anderen Fach-und Hausärzte.Im Bereich der Psychotherapie ist eines überdeutlichgeworden: Die Budgetierung ist kein geeignetes Steue-rungsinstrument für eine medizinische Versorgung, diesich an den Bedürfnissen der Patienten orientiert.
Frau Fischer, wenn Sie Ihr Angebot zu Konsensge-sprächen über die Gesundheitspolitik wirklich ernst mei-nen und diese nicht nur aus wahltaktischen Gründen kurzvor der Nordrhein-Westfalen-Wahl platzieren, dannverabschieden Sie sich – wie im Bereich der Psychothe-rapie – auch in anderen Bereichen von dem Budgetie-rungswahn. Dies sollte nicht nur auf dem Wege gesche-hen, dass Sie Gesetze nicht vollziehen, sondern Sie soll-ten wirklich bereit sein, aus den Fehlern der letzten Jahrezu lernen und etwas anderes auf die Füße zu stellen. Siewissen selber: Unsere Vorstellungen liegen auf demTisch.
– Natürlich liegen sie auf dem Tisch. Ich kann sie Ihnenzuschicken, wenn Sie sie nicht haben. Ich bin sogar vonHerrn Schulte-Sasse aus Ihrem Ministerium angerufenund gefragt worden, ob er diese Vorstellungen nicht malhaben könne.Nur mit einem klaren Bekenntnis zu mehr Eigenver-antwortung, zu mehr Transparenz für die Patienten, zumehr Wettbewerb und Gestaltungsspielräumen für dieSelbstverwaltung und zu mehr differenzierten Wahlmög-lichkeiten für dieVersicherten könnenwir die Probleme inunserem Gesundheitswesen zukunftsgerichtet angehen,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
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im Bereich der Psychotherapie genauso wie in allen an-deren Versorgungsbereichen.Also laden Sie uns nicht nur zu Konsensgesprächenein, Frau Fischer, sondern legen Sie endlich ein Konzeptvor! Bewegen Sie sich in Sachen Gesundheitspolitik einStückchen in eine vernünftige Richtung! Dann könnenwir für die Menschen in Deutschland etwas erreichen. Wirals CDU/CSU sind bereit, sachgerecht zu diskutieren.Aber zuerst müssen Sie dazu ein Konzept auf den Tischlegen. Sie können nicht nur aus wahltaktischen Spielchenheraus einfach etwas in den Raum stellen, was mit nullSubstanz unterlegt ist.Ich bedanke mich, meine Damen und Herren.
Zu einer Kurzin-
tervention gebe ich das Wort dem Kollegen Horst
Schmidbauer.
Herr Kollege
Wolf, Sie haben den genialen Vorschlag, den Herr See-
hofer in Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes
formuliert hat, angesprochen. Wir finden den Vorschlag
auch gut. Wir konnten ihm deswegen seinerzeit gut zu-
stimmen, weil das Einfügen eines völlig neuen Ver-
sorgungsbereichs in der Dimension Psychotherapie in das
Gesundheitswesen natürlich ein schwieriges Unterfangen
ist. Ich bin Ihrer Rede deshalb interessiert gefolgt, weil ich
denke, dass Sie daraus nicht die Schlussfolgerungen
abgeleitet haben, die Herr Seehofer damit verbunden hat.
In Art. 11 Abs. 2 heißt es ja: Wenn der für die Vergütung
psychotherapeutischer Leistungen geltende Punktwert
den für allgemeine Beratungstätigkeiten geltendenden
durchschnittlichen Punktwert der beteiligten Kranken-
kassen um mehr als 10 Prozent unterschreitet, sind die
entsprechenden Stützungsmaßnahmen vorzunehmen.
Jetzt hat diese Regierung nichts anderes gemacht, als
in dieser Situation darauf hinzuwirken, was logisch ist,
dass diejenigen, die die Aufsicht haben – das sind die Län-
der, wenn nicht andere Beteiligte da sind –, letztendlich
im Schiedsverfahren vor dem Schiedsgericht klären las-
sen,
was 90 Prozent sind. In den Ländern, in denen das ge-
schehen ist, sind in der Zwischenzeit einigermaßen ver-
tretbare Vergütungsstrukturen für die Psychotherapie ent-
standen. Ich weiß also nicht, wo Ihr Problem ist.
Die Situation der Psychotherapeuten im Jahr 1999 war
doch nicht in dem Gesetz begründet. Ich kann daher nicht
nachvollziehen, wenn Sie ableiten, dass letztendlich die
Psychotherapie in 1999 schlecht gestellt war. Und für
2000 können wir das schon überhaupt nicht nachvollzie-
hen.
Sie haben sehr eingehend dargelegt, dass wir bei der
Psychotherapie eine zeitabhängige Tätigkeit haben. Was
Herr Seehofer bei dem Gesetz nicht vorausgesehen hat,
haben wir korrigiert, indem wir gesagt haben: Es ist völ-
lig klar, die Grenzen dürfen bei der Psychotherapie nicht
überzogen werden. Wir müssen eine zeitabhängige
Größenordnung für die Vergütung einführen. – Wir erle-
ben auch, dass diese zeitabhängige Vergütung zurzeit in
der Selbstverwaltung ausgehandelt wird. Jetzt kommt es
sehr darauf an zu prüfen, ob die Rechnung, die die Selbst-
verwaltung zugrunde gelegt hat, greift. Wenn sie richtig
angewendet wird – das ist unsere Auffassung –, werden
wir dazu kommen, dass in der Psychotherapie eine ord-
nungsgemäße Vergütung auch für das Jahr 2000 und die
folgenden Jahre eingeführt wird.
Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wo Ihre
Probleme liegen. Dass die Vergütung der Psychothera-
peuten im Rahmen der Gesamtvergütung zu verteilen ist,
haben Sie gewollt. Sie haben doch ausdrücklich ein Inte-
grationsmodell gefordert. Danach findet Psychotherapie
in der Gemeinschaft mit ärztlichen Psychotherapeuten
und anderen Ärzten statt und deswegen ist die Vergütung
natürlich auch im Gesamtrahmen des ärztlichen Budgets
zu regeln. Das ist ein ganz normaler Vorgang, das haben
Sie politisch selbst gewollt.
Ich bedanke mich,
dass Sie sich auf die Sekunde an die Zeit für die Kurzin-
tervention gehalten haben.
Aber daran sieht man mal wieder, wie lang eine Kurzin-
tervention sein kann.
Zur Erwiderung hat der Kollege Aribert Wolf das Wort.
Herr Schmidbauer,zunächst einmal: Nicht ich habe ein Problem, sondern diePsychotherapeuten und ihre Patienten haben ein Problem.Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Es ist in unserem Gesundheitswesen so, dass dort, woVergütungsprobleme auftauchen, in der Regel der Patientder Leidtragende ist, weil er dann nämlich in die eigeneTasche greifen muss oder weil er Versorgung vorenthaltenbekommt. Das ist etwas, was Sie überhaupt nicht zurKenntnis nehmen wollen und womit wir in unseren Wahl-kreisen immer wieder konfrontiert werden, wenn dieMenschen zu uns kommen und fragen: Ist das tatsächlichbundesdeutsche Wirklichkeit, was ich gerade wieder beimArzt erlebt habe?Zur Ihren Argumenten. Natürlich gibt es Schiedsver-fahren, aber genau da beginnt das Problem, HerrSchmidbauer. Wenn Sie sich damit einmal intensiver be-fassen, sehen Sie, dass bei den Schiedsverfahren die Re-gel ist, dass die Stützungsmaßnahmen zu einem erhebli-
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chen Teil, mindestens hälftig, von den Kassen finanziertwerden.Nun haben Sie Ihre tollen Budgetierungsgesetze ge-macht. Und in Art. 14 des Solidaritätsstärkungsgesetzeswurde festgelegt, dass die Auffangregelung faktisch auf-gehoben wird. Jetzt gibt es aber mutige Länder – rot re-gierte wie unionsregierte, das will ich gar nicht leugnen –,die sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass wir auf-grund eines völlig verkorksten Gesetzes, das von Rot-Grün auf Berliner Ebene beschlossen wurde, den Psycho-therapeuten nicht helfen können, dass wir sie im Regenstehen lassen müssen. – Ich habe Ihnen die Zahlen ge-nannt; der Auszahlungspunktwert liegt in Berlin bei 2 stattbei 10 Pfennig. – Jetzt kommen die Länder und sagen:Liebes Bundesgesundheitsministerium, wir beanstandennicht und wehe, ihr beanstandet, dann haben wir eingroßes Remmidemmi draußen.Genau das ist der Punkt. Das alles hat auch HerrSchulte-Sasse ausgeführt. Wenn Sie jetzt diese Schieds-verfahren nicht beanstanden und die Verstöße gegenArt. 14 des Solidaritätsstärkungsgesetzes nicht geltendmachen, obwohl Sie früher einmal einen entsprechendenÄnderungsantrag vorgesehen haben, haben wir genau denFall eines Versäumnisses des Gesetzgebers. Die Budge-tierung zeigt, wie fatal diese Regelungen sind.Im Hinblick auf das Jahr 2000 machen Sie es sich auchsehr leicht. Sie hätten zuhören sollen, Herr Schmidbauer,als ich mit Blick auf die Verteilungskämpfe von derReise nach Jerusalem gesprochen habe. Es ist eben immereine Arztgruppe betroffen. Wenn ich alles aus einem Topfnehme und die Psychotherapeuten unterstützen will, dannnehme ich das Geld den Gynäkologen, den Fachinternis-ten oder den Rheumaspezialisten weg, die es aber genausonötig brauchen. Hier geben Sie nur den schwarzen Peterweiter. Damit helfen Sie zwar den Psychotherapeuten,schaden aber den anderen.Das wollen wir nicht tun. Deswegen sagen wir: Bud-getierung ist der falsche Weg. Das sollten Sie endlich zurKenntnis nehmen, statt sich an einem Wahn festzubeißen,in den Sie sich einmal hineingesteigert haben. Ich bitte da-rum, dass Sie hier ein bisschen die Lebenswirklichkeit inDeutschland berücksichtigen.
Wir fahren in derAussprache fort. Das Wort für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katrin DagmarGöring-Eckardt.
Kollegen! Herr Wolf, Sie haben Recht, die Psychothe-rapeutinnen und die Psychotherapeuten haben ein Pro-blem. Aber das, was Sie hier abgeliefert haben, ist wedersachgerecht,
noch kann man davon reden, dass das nicht wahltaktischsei. Was Sie hier abliefern, hat mit der wirklich schwieri-gen Situation nichts zu tun, sondern es hat damit zu tun,dass Sie versuchen wollen, diese Debatte für Ihren Wahl-kampf in NRW zu nutzen.
– Ich glaube nicht, dass in Nordrhein-Westfalen nur dieNordrhein-Westfalen Wahlkampf machen. Bei uns ist dasjedenfalls anders; da machen alle mit.
Ich gehe davon aus, dass das bei Ihnen nicht viel andersist.Wenn Sie hier von einem Ende der Budgetierung füralle reden, dann haben Sie die andere Seite vergessen,Herr Wolf. Sie haben nämlich nicht gesagt, dass das aufder anderen Seite heißt: mehr Beiträge für alle Versicher-ten. Damit schieben Sie den schwarzen Peter, von demauch Sie hier gesprochen haben, nämlich nicht innerhalbder Ärzteschaft hin und her, sondern Sie schieben ihnganz klar in Richtung der Versicherten und Patienten. Ichkann Ihnen für diese Regierung ganz deutlich sagen: Daswerden wir nicht mitmachen. Das sage ich übrigens auchin Richtung F.D.P.
Was Sie als F.D.P. hier abgeliefert haben, ist, ebensowie das, was uns von der PDS als Antrag vorgelegt wor-den ist, aus zwei Gründen schlichtweg ungeeignet,
die Situation der Psychotherapeutinnen und Psychothera-peuten tatsächlich zu verbessern. Erstens. Dadurch wer-den die Unsicherheiten und Unklarheiten für die psycho-therapeutische Vergütung, die sich aus den Übergangsre-gelungen für 1999 ergeben haben, nicht beseitigt, sondernvergrößert. Zweitens. Für die Zukunft wird wieder eineSonderregelung für Psychotherapeuten geschaffen unddamit die Steuerungskompetenz der Selbstverwaltung imGesundheitswesen geschwächt. Ich glaube, das könnenwir alle nicht wollen.Noch ungeeigneter finde ich allerdings das, was diePDS vorgeschlagen hat. Denn es heißt in ihrem Antragnur, man habe ein Problem und die Regierung möge sicheinmal darüber Gedanken machen. So einfach können wires uns im Parlament nicht machen.Doch zunächst noch einmal zur Vergangenheit: Wasgenau sind denn die Ursachen für die Probleme bei derVergütung psychotherapeutischer Leistungen, die ausdem Jahre 1999 resultieren?
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Auch die anerkannten nicht ärztlichen Psychotherapeutensind mit der Verabschiedung des Psychotherapeutenge-setzes Teil des vertragsärztlichen Versorgungssystems ge-worden – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sichbringt. Das war so gewollt. Denn in der modernen Medi-zin ist die Behandlung psychischer Probleme gleichbe-rechtigter Teil der Versorgung. Deshalb war eine In-tegration in die Selbstverwaltung geboten.Die im Psychotherapeutengesetz von CDU/CSU undF.D.P. eingeführte Übergangsregelung für die Vergütungpsychotherapeutischer Leistungen im Jahre 1999 war je-doch offenbar problematisch, obwohl wir – darüber habenSie heute leider nicht gesprochen – mit dem Solidaritäts-stärkungsgesetz eine deutliche Nachbesserung in Höhevon 140 Millionen DM ermöglicht haben – so viel übri-gens zum Thema Budgetierungswahn. In diesem Gesetzist eine so genannte Auffangregelung für den Fall vorge-sehen, dass der aus dem vorgegebenen Budget errechnetePunktwert für eine angemessene Vergütung nicht aus-reicht.Im zweiten Halbjahr 1999 kam es dann dennoch zu ei-nem drastischen Absinken des Vergütungspunktwertes,weil das von den Kassenärztlichen Vereinigungen bereit-gestellte Honorarvolumen im Vergleich zu 1998 zum Teilabgesenkt wurde. Die Datenlage ist zwar nach wie vor un-vollständig; das können Sie nicht leugnen, wenn Sie diereale Situation berücksichtigen. Aber man muss davonausgehen – da kann ich Frau Kühn-Mengel nur zustim-men –, dass Mittel, die eigentlich für die Psychotherapiehätten verwendet werden sollen, in die Vergütung andererArztgruppen geflossen sind. Das werden auch Sie nichtleugnen können. Wenn man sich die Zahlen genau an-schaut, dürfte das ziemlich klar sein.Gegen Ende letzten Jahres hat die Bundesregierung mitallen Beteiligten – auch darauf ist schon hingewiesenworden – wegen dieser Probleme intensive Gespräche ge-führt. Dabei gab es Ende Januar dieses Jahres einen Kon-sens mit den Aufsichtsbehörden der Länder. Ich finde esrichtig, dass die Aufsichtsbehörden dort, wo es weiterhinProbleme gibt, ihre aufsichtsrechtlichen Möglichkeitennutzen und davon Gebrauch machen. Herr Schmidbauerhat gerade darauf hingewiesen.Nun zum zweiten Teil des Vorschlages der F.D.P., dersich mit der Zukunft beschäftigt. Mit Beginn dieses Jah-res haben wir, wie schon erwähnt, eine neue Situation. DieVergütung psychotherapeutischer Leistungen ist integra-ler Bestandteil der Gesamtvergütung für die ver-tragsärztliche Versorgung. Die Psychotherapeuten wer-den damit wie eine Arztgruppe in die Institutionen derärztlichen Selbstverwaltung und deren Steuerungsverant-wortung eingebunden. Zu diesem Integrationsmodellgehört auch die Honorierung psychotherapeutischer Leis-tungen aus der von den Krankenkassen an die Kas-senärztlichen Vereinigungen für die gesamte vertragsärzt-liche Versorgung gezahlten Gesamtvergütung. Das hatübrigens damals auch die F.D.P. so gewollt. Mit der Ge-sundheitsreform 2000 hat Rot-Grün außerdem bereits ge-setzlich festgeschrieben, dass aufgrund der besonderenTätigkeit in der Psychotherapie eine angemessene Vergü-tung pro Zeiteinheit zu gewähren ist.Was die F.D.P. nun will, ist, dass psychotherapeutischeLeistungen in Zukunft faktisch außerhalb der ärztlichenGesamtvergütung honoriert werden sollen. Dazu kann ichnur sagen: Das halte ich nicht für den richtigen Weg. Klarist, dass dann die Kassenärztlichen Vereinigungen an ei-ner Mitwirkung an den ausgabenrelevanten Steuerungs-aufgaben und an einer wirksamen Bedarfsplanung keinInteresse mehr haben werden und die Lasten allein bei denKassen liegen. Gerade das wollen wir nicht – weder indiesem noch in irgendeinem anderen Fall. Dies hat übri-gens nichts damit zu tun, dass man sofort handeln könnte.Frau Kühn-Mengel hat, so glaube ich, hier detailliertaufgeführt, welche Maßnahmen geeignet sind, welche wirbereits ergriffen haben und wie wir – so hoffen wir jeden-falls – gemeinsam zu einer Lösung kommen.Deshalb zum Schluss nur noch eines: Es mag Sie, liebeKollegen von der F.D.P., kolossal ärgern, dass wir mitdem Solidaritätsstärkungsgesetz die Zuzahlungen fürPsychotherapien wieder abgeschafft haben. Ich nehmean, dass Sie deshalb die Idee einer Gegenfinanzierungwieder aufwerfen. Ob die dadurch zur Verfügung stehen-den Mittel zur Gegenfinanzierung reichen würden, willich hier nicht bewerten. Eines ist jedoch klar: Ihr Vor-schlag würde die Versicherten, die psychisch krank sind,im Vergleich zu denen, die somatisch bedingte Erkran-kungen haben, wieder benachteiligen.Ich dachte, dass wir uns von diesem Denken bereitsverabschiedet hätten. Wir jedenfalls wollen nicht wiederdorthin zurück. Wir wollen keine neue Zuzahlungsepocheeinläuten, sondern wir wollen eine vernünftige und sach-gerechte Lösung finden. Dies gilt auch für die Zeit nachden Wahlkämpfen.
Vielen Dank.
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Es stimmt: 1999 waren wir uns einig, dassdas Psychotherapeutengesetz die Voraussetzungen für diepsychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung deut-lich verbessern sollte. Wichtige Schritte dabei waren diestaatliche Anerkennung zweier neuer akademischer Heil-berufe, ihre Approbation sowie der Schutz der Berufsbe-zeichnung.Dabei ging es nicht allein um ein neu zu schaffendesBerufs- und Sozialrecht. Es ging immer auch um die Stär-kung sprechender und zuwendungsorientierter Behand-lungsverfahren im Rahmen der gesamten gesundheitli-chen Versorgung. Das kennzeichnet den Stellenwert der
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Katrin Dagmar Göring-Eckardt9602
heutigen Debatte um eine existenzsichernde Finanzierungpsychotherapeutischer Leistungen.Wer auf diesem Gebiet eine bedarfsgerechte und qua-litativ gesicherte Versorgung haben will, muss die Psy-chotherapeuten auch angemessen vergüten. Das ist abernicht der Fall.
Bereits im dritten Quartal 1999 wurde deutlich, dass diegesetzlichen Regelungen für das entsprechende Honorar-volumen nicht ausreichten. Die Aufstockung durch dasGKV-Solidaritätsstärkungsgesetz änderte daran nichts.Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste vom BMG einklares Signal an die Vertragsparteien der Selbstverwal-tung dahin gehend erwartet werden, dass dieses Problemunter finanzieller Beteiligung beider Seiten gelöst werdenmuss, das heißt auch durch Budgeterhöhungen seitens derKassen. Doch dieses Signal gab es nicht.Stattdessen verstrickte sich das Ministerium in einenlang andauernden Streit mit der Kassenärztlichen Bun-desvereinigung und den Kassen, und zwar darüber, wernun die zusätzlichen Mittel aufzubringen habe. Das ge-schah vor dem Hintergrund unterschiedlich interpretier-barer gesetzlicher Formulierungen und nicht komplett er-fasster Ausgaben im Erstattungsverfahren durch die Kas-sen.Liebe Kollegin Helga Kühn-Mengel, Sie sagen, unserAntrag greife zu kurz. Ich frage Sie ganz ehrlich: Wer,wenn nicht die Bundesregierung, hat die Pflicht, für Klar-heit zu sorgen, wenn ein Gesetz nicht eindeutig formuliertist oder nicht sachgerecht umgesetzt wird?
Liebe Kollegin Göring-Eckardt, ich finde Ihre Polemikgegen die PDS langsam primitiv. Wo, wenn nicht in die-sem Haus, muss ein Gesetz korrigiert werden?
In diesem Fall hätten Sie wohl nur eingestehen müssen,dass die Budgetierungspolitik, wie es zu diesemZeitpunkt auch schon für das Gesundheitsstrukturre-formgesetz 2000 vorgesehen war, nicht funktionierenkann. Während die Zeit verstrich, ging es für viele Psy-chotherapeuten längst um Sein oder Nichtsein. Auch beihohem persönlichen Einsatz – vielleicht sollte ich bessersagen: trotz persönlichem hohem Einsatz – geriet eine zu-nehmende Zahl von Psychotherapeuten in eine Situation,in der es nicht mehr möglich war, kostendeckend zu ar-beiten, geschweige denn, sich überhaupt ein eigenes Ein-kommen zu erwirtschaften.In den neuen Bundesländern nahm diese Entwicklungdramatische Formen an. Ich sage Ihnen klipp und klar:Dort gibt es keinen Bereich, in dem Überversorgung vor-handen wäre. Dort haben wir nach wie vor Unterversor-gung und es wird zunehmend mehr Geld notwendig sein,um eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen.
Ich möchte auch daran erinnern, dass allein im Petitions-ausschuss über 3 000 Petitionen eingegangen sind. Ichdenke, dies zeigt die Not der Psychotherapeuten. Ich bitte,hier zu berücksichtigen, dass es nicht nur um die Not derPsychotherapeuten geht, sondern auch um die Gefähr-dung der Behandlung der Patienten.
Erst nach einem Jahr völliger Ungewissheit aufseitender Leistungserbringer kam es schließlich durch Schieds-amtentscheidungen zu einer vorübergehenden Entspan-nung. Das BMG hat dafür – nach unserer Meinung zuspät – die Voraussetzung geschaffen, indem es erklärte,dass vertragliche Vereinbarungen oder Schiedsamtsent-scheidungen auch dann aufsichtsrechtlich nicht infragegestellt würden, wenn sie mit der Rechtsauffassung desBMG nicht übereinstimmten. Es ist schon einmal gesagtworden: Hier wird ein eigenes Gesetz nicht dafür in An-spruch genommen, Fehlentwicklungen zu verändern.Ich denke, das ist eine verklausulierte Form der Zu-stimmung zu der jetzt vorgenommenen Budgetierung. Ichsage Ihnen ganz ehrlich und offen: Es ist das verschämteEingeständnis einer völlig verfehlten Politik.
Die Probleme, werden, obwohl Sie sie im Momentüberwunden haben, in der Zukunft wieder auf dem Tischliegen. Denn Sie gehen nach wie vor davon aus, dass dieHonorierung nach dem Prinzip der Budgetierung erfolgenmuss.Es gibt schon jetzt Widerstände; es gibt schon jetzt For-derungen, dass die Psychotherapeuten außerhalb desFacharztbudgets zu honorieren sind.Ich sage Ihnen: Es bleibt dabei. Es wird Streit geben.Es ist Ungewissheit da.
Ich denke, die Bundesregierung bleibt aufgefordert, hiereine verlässliche Grundlage für die Finanzierung von psy-chotherapeutischer Versorgung zu schaffen. Nichts ande-res und nichts weniger war der Inhalt unseres Antrages.
Zu dem Antrag der F.D.P.-Fraktion äußere ich michdann im Ausschuss, weil Sie unsere Auffassung zumThema Selbstbeteiligung kennen und weil Sie wissen,dass wir auf keinen Fall dafür sind, dass man Geld, das Pa-tienten und Selbsthilfegruppen durch ein Gesetz bekom-men, streicht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und ich hoffe, wirkommen im Interesse der Patienten und der Psychothera-peuten zu einer gemeinsamen Entscheidung.
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Dr. Ruth Fuchs9603
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun die Kollegin Gudrun Schaich-Walch.
Lieber verehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
natürlich klar: Wir haben ein Problem. Aber wir werden
dieses Problem nicht lösen können, solange wir nicht in
der Lage sind, das Geschehen wirklich exakt zu beurtei-
len. Ansonsten laufen wir letztendlich Gefahr, zu Lösun-
gen zu kommen, die unter Umständen ebenso unzuläng-
lich sind, wie es die damalige Budgetfestsetzung in dem
entsprechenden Gesetz, das innerhalb der Regierungszeit
der CDU/CSU und der F.D.P verabschiedet worden ist,
offensichtlich gewesen ist.
Wir haben in diesem Bereich allerdings auch nichts
versprochen, was wir letztendlich nicht gehalten haben.
Wir haben das Budget für diesen Bereich im Jahre 1998
erhöht. Wir haben in den letzten Jahren in diesem Bereich
einen Anstieg zu verzeichnen. Im Gegensatz zu dem, was
Herr Wolf hier vorgetragen hat, gibt es in diesem Bun-
desland keine einzige KV, die einen Punktwert von weni-
ger als 2 Pfennig festgelegt hat. Das ist ganz einfach nicht
wahr. Im Osten besteht eine schwierige Situation, in den
West-KVen allerdings nicht. Ich gehe auch davon aus,
dass der § 11 im Gesetz letztendlich konsequent umge-
setzt werden wird. Wenn dies nicht der Fall sein sollte,
muss man, denke ich, sehen, dass wir das Gesetz in die-
sem Bereich korrigieren werden.
Was uns aber letztendlich fehlt, ist die Tatsache, dass in
diesem gesamten Bereich keine Bedarfsplanung besteht,
dass wir – Ostdeutschland ausgenommen – sehr schwer
feststellen können, wo Überversorgung und wo Unterver-
sorgung besteht. Wir müssen uns diese Dinge erst vor-
stellen können, damit wir dann auch klar sagen, was es be-
deutet.
– „Wie lange soll es denn dauern?“ Sie kannten die Da-
tenlage doch auch nicht. – Nein, eines kann nicht sein,
nämlich dass wir, wenn Überversorgung besteht,
diese Überversorgung finanzieren und nicht abbauen, in-
dem wir die Beiträge der Versicherten erhöhen.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Das ist keine Perspektive, mit der wir arbeiten. Wenn
die Selbstverwaltung – in diesem Fall die KV – die Um-
verteilung des ärztlichen Honorars nicht so vornimmt, wie
es im Gesetz geschrieben steht, kann ich auch nicht sagen,
dass die Reaktion der Politik dann diejenige sein muss,
mehr Geld in das System zu investieren. Das kann auch
nicht sein.
Sie sollten hier heute auch eines zur Kenntnis nehmen:
Wir hatten noch nie einen so großen Umfang von Ausga-
ben im Bereich des Gesundheitswesen und eine solch her-
vorragende Zuwachsrate wie in diesem Jahr.
Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie letztendlich
mehr Geld ausgeben wollen, als Beiträge in diesem Sys-
tem aufgebracht werden. Wenn Sie mir sagen können, wie
es gehen soll, die Beiträge stabil zu halten und den Ärz-
tinnen und Ärzten mehr Geld zu geben, muss ich Ihnen al-
lerdings sagen, dass Sie dann eine Bombenlösung haben.
Aber wie Ihre Lösung, zu der Sie hier nichts sagen,
aussieht, kann ich Ihnen sagen: 10 DM Zuzahlung bei je-
dem Arztbesuch und neben hohen Versicherungsbeiträgen
eine weitere Abschöpfung durch Zuzahlung der Versi-
cherten. Dies kann nicht funktionieren. Wir müssen klar
machen, wie die Versorgungssituation aussieht, was und
wie viel Geld wir dafür brauchen. Dies werden wir bis
zum Herbst geschafft haben.
Dann wird es auch – wenn es so sein sollte – die not-
wendigen gesetzlichen Regelungen geben.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Aribert Wolf das Wort.
Frau Schaich-Walch, Siekennen das Sprichwort: Wer schreit, hat Unrecht.
– Das freut Sie natürlich nicht.Wenn Sie es immer noch nicht erreicht hat, obwohl esschon vielfach in der Presse veröffentlicht war, bin ichgerne bereit, Ihnen unser Konzept zur Gesundheitspolitikzu schicken, in dem deutlich steht, wie wir uns die Zu-kunft der gesetzlichen Krankenversicherung vorstellen:mehr Eigenverantwortung.
– Das heißt nicht: mehr Zuzahlung!Sie können das alles in Ruhe nachlesen, was wir ma-chen wollen, damit wir zum einen mehr Geld ins Systembringen und zum anderen die Bürger nicht mehr abkas-sieren. Wir wollen dem Einzelnen eine Wahlmöglichkeitgeben, damit er sich sein Versicherungspaket zusammen-stellen kann, und trotzdem einen solidarisch finanziertenKernbereich gewährleisten.Wenn Sie bereit sind, dieses Papier zur Kenntnis zunehmen, dann werden Sie auch bereit sein, zur Kenntnis
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zu nehmen: Wenn ich von 2 Pfennig spreche, dann beruhtdas natürlich nicht auf meinen eigenen Erkenntnissen.Lassen Sie sich von der AOK Berlin oder von den Ersatz-kassen in Berlin die Zahlen des dritten Quartals schicken!Ich habe von rechnerischen Punktwerten und von Aus-zahlungspunktwerten gesprochen. Sie werden feststellen,dass sich für Berlin, bevor das Schiedsamt entschiedenhat, für das dritte Quartal ein rechnerischer Punktwert fürdie Psychotherapeuten von 2 Pfennig im Primärkassen-bereich und von 5,3 Pfennig im Ersatzkassenbereich er-gab.Anhand dessen können Sie sehen, dass das, was Siehier im Deutschen Bundestag behauptet haben – es gebekeinen KV-Bereich, in dem 2 Pfennig erreicht wurden –,unwahr ist. Ich hoffe, Sie nehmen das dann auch zurückund akzeptieren, dass diejenigen, die unmittelbar im Ge-sundheitswesen beteiligt sind, doch wohl eher die richti-gen Zahlen haben als wir hier im Parlament. Es schadetnichts, wenn man sich bei den unmittelbaren Fachleutenein wenig informiert, bevor man solche Behauptungenaufstellt.
Zu einer Erwiderung
die Kollegin Schaich-Walch.
Herr Wolf, ich stelle
Ihnen die Zahlen, die ich hier vorliegen habe, gerne zur
Verfügung. Allerdings ist die Spalte für Berlin noch leer,
weil die Zahlen da noch nicht vorgelegen haben.
Ich kann einmal anfangen: 8 Pfennig pro Punktwert für
Hamburg; 7,5 Pfennig für Rhein-Hessen.
– In Berlin gibt es eine Überversorgung, die grandios ist.
Wenn Sie jedem, der in dieses System kommt, ein leis-
tungsgerechtes Gehalt garantieren wollen – was bei kei-
nem anderen Arbeitnehmer in dieser Republik der Fall
ist –, dann wünsche ich Ihnen dabei viel Vergnügen. Aber
diesen Weg gehen Sie allein.
Jetzt etwas zu Ihrem wunderbaren Zukunftsprogramm,
Ihrer Intervention für mehr Eigenverantwortung. „Ei-
genverantwortung“ heißt bei der F.D.P., für deren Antrag
Sie anscheinend mit gesprochen haben, eine Selbstbetei-
ligung von 10 DM. Was in Ihrem Papier „Eigenverant-
wortung“ heißt, ist nicht beschrieben. Vielmehr sprechen
Sie von „Versicherungspaketen“, ohne es bis heute ge-
leistet zu haben – wie Sie das seit Jahren unterlassen ha-
ben –, zu konkretisieren, was ein „Versicherungspaket“
denn beinhaltet. Welche Indikationen sollen denn aus dem
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung
ausgeschlossen werden? Welche Indikation soll denn der-
jenige, der seinen Beitrag in der gesetzlichen Kranken-
versicherung zahlt, noch in der PKV zusatzversichern?
Um diese inhaltliche Ausgestaltung haben Sie sich bis
jetzt gedrückt. So lange ist Ihr Paket nichts anderes als
eine Mogelpackung.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3086 und 14/2929 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Andere Vorschläge liegen nicht vor. Das Haus ist damit
einverstanden. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Klaus
Barthel , weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Matthias Berninger, Ekin Deligöz, Hans-Josef
Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lebensbegleitendes Lernen für alle – Weiterbil-
dung ausbauen und stärken
– Drucksache 14/3127 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Auch
damit ist das Haus einverstanden.
Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Ich gebe
zunächst für die Fraktion der SPD das Wort dem Kollegen
Ernst Küchler.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Antrag zur Weiterbil-dungspolitik nimmt die SPD-Bundestagsfraktion einThema wieder auf, das bereits in der letzten Legislaturpe-riode Gegenstand einer von unserer Fraktion initiiertenDebatte im Deutschen Bundestag war und das auch in derKoalitionsvereinbarung seinen Niederschlag gefundenhat.Die Weiterbildung, so heißt es dort, soll als vierte Säuledes Bildungssystems verankert und ausgebaut werden.
Die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens mache eineenge Verzahnung zwischen Berufsleben und Weiterbil-dung erforderlich.Nun ist der Hinweis auf die Notwendigkeit, der Wei-terbildung einen deutlich höheren Stellenwert in der Bil-dungspolitik einzuräumen, nicht besonders originell, ver-folgt man die einschlägigen Äußerungen aller politischenParteien, der Wirtschaft, der Gewerkschaften und anderergesellschaftlicher Gruppen in den letzten Jahren. Es
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Aribert Wolf9605
vergeht kein bildungspolitischer Kongress, kaum eineDebatte über die gesellschaftlichen und ökonomischenEntwicklungen in unserem Land, ohne dass auf den Be-deutungszuwachs der Weiterbildung und des lebenslan-gen Lernens hingewiesen wird.Es macht mitunter skeptisch, wie inflationär dieser Be-griff verwandt wird. Allerdings stehen die weiterbil-dungspolitischen Verlautbarungen und Beschlüsse allerEbenen – von Bund, Ländern, Kommunen, Verbändenund Bildungspolitikern – in keinem angemessenen Ver-hältnis zum entsprechenden Engagement der öffentlichenHand, etwa der Länder und Kommunen. Im Gegenteil,während der Weiterbildungssektor expandiert, stagnierendie öffentlichen Anstrengungen, den Weiterbildungsbe-reich aufzuwerten und entsprechend auszustatten.
Während die Nachfrage nach Weiterbildungs- undQualifizierungsmaßnahmen ständig steigt – in den letzten20 Jahren immerhin von 25 Prozent auf über 42 Prozentder Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren –, gehen dieAusgaben der öffentlichen Hände für die Weiterbildungzurück. Der Weiterbildungsbereich ist inzwischen – ge-messen an der Inanspruchnahme – zum größten Bil-dungssektor geworden, und zwar auch was das Finanzvo-lumen angeht. Das Berichtssystem Weiterbildung weistAufwendungen in einem Volumen von über 80 Milliar-den DM für den Weiterbildungsbereich aus.Die in unserem Antrag noch einmal zusammengefass-ten Defizite im Weiterbildungsbereich, die übrigens be-reits im Bericht des Bildungsministeriums unter Bil-dungsminister Jürgen Möllemann 1989 detailliert aufge-listet wurden, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen,wurden bislang in der Bildungspolitik nicht hinreichendberücksichtigt.Einschlägige Programme und Projekte zum Abbau die-ser Defizite blieben weitgehend im Versuchsstadiumstecken. Bildungspolitiker und Bildungsexperten sindsich überraschend einig, dass der Weiterbildungsmarktzwar boomt, insbesondere im Bereich der beruflichenWeiterbildung, es jedoch an der für die Nutzer und dieWeiterbildungseinrichtungen notwendigen Transparenzmangelt, dass es einer flächendeckenden und qualifizier-ten Weiterbildungsberatung bedarf, dass ein System derQualitätssicherung und der Zertifizierung dringend erfor-derlich ist, dass es an einer auch unter ökonomischen Ge-sichtspunkten vorgenommenen Optimierung des Einsat-zes der Ressourcen mangelt, dass die Professionalisierungdes Weiterbildungspersonals und der Weiterbildungsein-richtungen erhebliche Defizite aufweist, dass die Weiter-bildungsforschung nicht dem Stand und der Bedeutungdes Weiterbildungssektors entspricht und – das ist dasWichtigste – dass die allgemeine Zugänglichkeit nicht ge-währleistet und die Chancengleichheit, die wir für dasBildungssystem selbstverständlich reklamieren, im Wei-terbildungsbereich nicht gegeben ist.
Das Berichtssystem Weiterbildung weist aus, dass be-züglich der Weiterbildungsbeteiligung das Gefälle je nachAlter, Berufsstatus, Vorbildung und Geschlecht erheblichist. Aus sehr verschiedenen Gründen sind nach wie vorgroße Teile der Bevölkerung von der Weiterbildung fak-tisch ausgeschlossen.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es geht nun nichtdarum, diesen Bildungsbereich ordnungspolitisch demklassischen Bildungssystem und den herkömmlichenStrukturen anderer Säulen des Bildungssystems einfachanzupassen. Vielmehr muss aus unserer Sicht auf Bun-desebene durch eine intelligente Förderpolitik und eineHarmonisierung der Weiterbildungspolitik von Bund undLändern eine Weiterbildungsinfrastruktur geschaffen,ausgebaut und gestützt werden, die Nutzer, Einrichtungenund Träger in die Lage versetzt, flächendeckend qualifi-zierte Angebote und Lernmöglichkeiten zu entwickelnund vorzuhalten, die Chancen zur Teilnahme und die Wei-terbildungsmotivation zu verbessern bzw. zu stärken,Weiterbildungsnetzwerke vor allem im regionalen Zu-sammenhang entstehen zu lassen und somit den Weiter-bildungsbereich zu einem leistungs- und anpassungsfähi-gen Sektor unseres Bildungssystems zu entwickeln.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm„Lebensbegleitendes Lernen für alle“ erste wichtige Ak-zente gesetzt und Entwicklungsstränge aufgezeigt, die mitweiteren Programmen und Projekten in den kommendenJahren systematisch weiterzuentwickeln sind. Die Förde-rung einschlägiger Projekte weist hier den richtigen Wegund zeigt, dass die Bundesregierung die Initiative zurStärkung des Weiterbildungsbereiches ergriffen hat.Wir sind uns durchaus der Schwierigkeiten bewusst,die sich aus der Kompetenzverteilung zwischen Bundund Ländern sowie aus der spezifischen Rolle der Tarif-parteien in diesem Bereich und der Bundesanstalt für Ar-beit ergeben. Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Weiter-bildung im Bündnis für Arbeit, im Forum Bildung und inder Konzertierten Aktion ein Thema ist, denn dort sind dieVerantwortlichen vertreten. Dort werden die Zusammen-hänge von schulischer Bildung, beruflicher Ausbildungund Weiterbildung, von allgemeiner und beruflicher Bil-dung angemessen zu diskutieren sein.
Unser Antrag zielt nicht auf eine bundeseinheitlichestaatliche Reglementierung ab, sondern auf eine Weiter-bildungspolitik, die über Anreize und abgestimmte Akti-vitäten etwa in Form von Vereinbarungen, Förderpro-grammen und Projekten versucht, das System der Weiter-bildung und Qualifizierung aufzuwerten und zu optimieren.Auch bei der Novellierung einschlägiger Gesetze – ichnenne hier nur das SGB III, das Meister-BAföG und dasBetriebsverfassungsgesetz – wird der Weiterbildung einangemessener Stellenwert beigemessen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir andieser Stelle auch einen kritischen Hinweis auf zwei in derWeiterbildungsdiskussion häufig verwandte Begriffe, dieBegriffe des „lebenslangen Lernens“ und der „Eigenver-antwortung“. Inzwischen gehört es zum Allgemeingut,
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dass sich Menschen in unserer Informations- und Wis-sensgesellschaft notwendigerweise ein Leben lang wei-terbilden und qualifizieren müssen, wollen sie nicht denAnschluss an die gesellschaftlichen und beruflichen Ent-wicklungen verlieren.Angesichts der raschen Veränderungen im Beruf, in derGesellschaft, in der Medienlandschaft sowie in den Lern-und Kommunikationsstrukturen müssen wir dem Prinzipdes lebenslangen Lernens zwar zum Durchbruch verhel-fen, ihm jedoch den mitunter bedrohlichen Charakter neh-men. Es ist nämlich eine Chance und nicht nur einePflicht, sich weiterzubilden.
Wir müssen vielmehr auf Motivation, auf Neugier und aufdas Lernen als einen reizvollen und Erfolg versprechen-den Prozess setzen. Gerade die neuen Medien, die dieLernprozesse und damit auch die Bildungseinrichtungengrundlegend verändern, eröffnen die Chance für kreati-ves, schnelles, flexibles und zeitgemäßes Lernen an denunterschiedlichsten Orten zu den unterschiedlichsten Zei-ten und mit vielfältigen Methoden: zu Hause, im Betrieb,in Weiterbildungseinrichtungen, individuell und in Lern-gruppen.
Online und offline, in den unterschiedlichsten Lernar-rangements kann gelernt, können Informationen verarbei-tet und neue Qualifikationen erworben werden. Selbst ge-steuertes und informelles Lernen werden sich in die klas-sischen Lernstrukturen einpassen.Dabei kommt der „Eigenverantwortung“ – um aufden zweiten Begriff zu sprechen zu kommen – des Ein-zelnen eine größer werdende Bedeutung zu. Das kannnicht bedeuten, dass die Eigenverantwortung – auch wasdie Finanzierung der Weiterbildung angeht – die öffentli-che Verantwortung für den Weiterbildungsbereich, dieWeiterbildungsangebote und die Weiterbildungseinrich-tungen ablöst. Vielmehr müssen Eigenverantwortung undöffentliche Verantwortung angemessen korrespondieren.
Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache,dass sich die öffentliche Hand teilweise aus der Finanzie-rung von Weiterbildungseinrichtungen und -angebotenzurückzieht und den an WeiterbildungsveranstaltungenTeilnehmenden weitgehend die Finanzierung überlässt.Dies ist in einer Zeit, in der wir die Verantwortung jedesBürgers für seine Weiterbildung anmahnen und die Teil-nahme an Qualifizierung und Weiterbildungsangeboteneinfordern, ein falsches Signal.Wir fordern daher die Entwicklung von Modellen zurWeiterbildungsfinanzierung, die als Anreizsysteme füreine breite Weiterbildungsbeteiligung dienen. Die entspre-chenden Stichworte hierzu sind Gutscheinsysteme, Bil-dungskonten und Freistellungsregelungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-schließend noch einmal kurz auf einige in unserem Antragformulierte Forderungen zu sprechen kommen: DieSchaffung und die Förderung regionaler Kooperationsver-bünde sowie die Vernetzung der Weiterbildungseinrich-tungen und -anbieter, wie sie im Netzwerkprojekt derBundesregierung angedacht sind, finden unsere Zustim-mung. Diese Netzwerke werden zur Optimierung der An-gebote, der Teilnahme und Teilhabe, der Qualitätssiche-rung und der Beratung beitragen. Dabei darf es nicht beikurzatmigen und vereinzelten Netzwerkversuchen blei-ben. Vielmehr müssen solche Vorhaben dauerhaft,flächendeckend und strukturbildend sein.
Die Bundesanstalt für Arbeit und das Bundesinstitutfür Berufsbildung, die eine wesentliche Rolle bei der Ent-wicklung des Weiterbildungssystems spielen, müssen die-sem Bildungssektor eine größere Aufmerksamkeit wid-men, damit insbesondere die berufliche Weiterbildungund Qualifizierung verlässlich weiterentwickelt werden.Versuche zur Optimierung der Weiterbildungsange-bote, wie sie zum Beispiel in anderen Ländern bereitsmit Erfolg praktiziert werden – ich nenne hier nur dieStichworte Jobrotation, Stiftung „Weiterbildungs-Test“,Weiterbildungsaudit und verschiedene Formen der indivi-duellen Weiterbildungsförderung und -finanzierung –,können dazu beitragen, für Nutzer, Betriebe und Wei-terbildungseinrichtungen Angebote noch attraktiver zumachen. Qualitätssicherungssysteme sollen erprobt undspäter flächendeckend eingesetzt werden. Der Weiterbil-dungsforschung muss eine deutlich höhere Bedeutung zu-kommen.
Grundlage für alle Akteure ist ein verlässliches undbrauchbares Informationssystem. Dieses fördert nicht nurdie Transparenz, sondern auch den Qualitätswettbewerbunter den Weiterbildungsanbietern.Die Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD-Bundes-tagsfraktion zur Weiterbildungsstatistik hat verdeutlicht,wie diffus und unvermittelt die unterschiedlichen Weiter-bildungsstatistiken und Berichtssysteme derzeit noch ne-beneinander stehen, übrigens auch ein Defizit, das bereitsim Berichtssystem 1989 beschrieben worden ist, aller-dings ohne Konsequenz.
Auch für eine solide Weiterbildungspolitik ist eine dif-ferenzierte, verlässliche und interpretationsfähige Daten-basis unerlässlich. Wir fordern deshalb auch eine Ergän-zung des Berufsbildungsberichts um ein ausführlichesKapitel zur beruflichen Weiterbildung.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn die Redenund Beschlüsse auf Parteitagen und Bildungskongressennicht nur Sonntagsreden und Antragsmakulatur bleibensollen, muss Weiterbildungspolitik einen festen Platz imBewusstsein nicht nur der Bildungspolitiker erhalten.Weiterbildungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, dieBildungspolitikerinnen und -politiker, Sozial- und Wirt-schaftspolitikerinnen und -politiker gleichermaßen an-geht.
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Unterstützen Sie unseren Antrag und tragen Sie dazubei, dass er nicht in der Akte „Wiedervorlage in der nächs-ten Legislaturperiode“ verschwindet.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner
spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kollege Werner
Lensing.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Die amtiefsten greifenden sozialen und ökonomischen Verände-rungen unserer Gesellschaft sind bekanntlich eine fort-schreitende Globalisierung von Produktion und Märkten,zahlreiche durchgreifende Veränderungen von Form undInhalt der Arbeit, dazu die grenzüberschreitende Mobili-tät, offene Beschäftigungsverhältnisse und schließlich einhäufiger Berufswechsel. Die dadurch notwendig gewor-dene Anpassung beruflicher Kompetenz weist der Gestal-tung eines kontinuierlichen lebensbegleitenden Lernensin der Tat eine zentrale Rolle zu.
Je schneller sich der soziale, technische und wirtschaftli-che Wandel vollzieht, je tiefer greifend sich die Anforde-rungen in der Arbeits- und Lebenswelt ändern, destozwingender wird für die betroffenen Menschen der Auf-bau zeitgemäßer Wertvorstellungen, innovativer Fähig-keiten und neuer Überlebensstrategien.Dies scheint nun endlich – ich denke, Herr Tauss, Siestimmen mir gleich auch noch zu – auch die rot-grüne Re-gierungskoalition begriffen zu haben, nachdem bisher seitdem Regierungswechsel zumindest in der Weiterbil-dungspolitik viel zu wenig geschehen ist.
Vergleicht man den vorliegenden Antrag auf Drucksa-che 14/3127 mit roten oder grünen Papieren der Vergan-genheit, so muss man heute neidlos anerkennen, wennauch mit Verwunderung: Selbst die rot-grünen Initiatorenscheinen in der Tat weiterbildungsfähig zu sein.
Waren doch deren vergangenen Entwürfe durchgängiggeprägt von den veralteten Vorstellungen der 70er-Jahre –das haben Sie, Herr Küchler, eben angesprochen –, somuss man heute neidlos anerkennen: Man hat gelernt,dass man mit Formen des institutionalisierten Lernens un-ter staatlicher allgegenwärtiger Aufsicht nichts bewirkenkann.Zur allgemeinen Verblüffung erkennt nun auch Rot-Grün nach viel zu langem Zaudern: Mit Mitteln desStaatsdirigismus und der Planwirtschaft sind die realenEntwicklungen einer hoch komplexen und global ver-netzten Industriegesellschaft nicht in den Griff zu bekom-men. Dass Sie das gelernt haben, ist wunderbar.So entdeckt man auch im neuen Antrag eine ganz neueSprache – für mich völlig überraschend. Hier wird zumBeispiel – man höre und staune – eine alte CDU/CSU-Forderung zu einem neuen Leitbild erhoben.
Man traut seinen Augen kaum, wenn man liest, dass –Zitat –die Eigenverantwortung der am LernprozessBeteiligten als grundlegendes Prinzip zur Gestaltungder Lernprozesse neu bestimmtwird.
– Er ist ja von uns abgeschrieben worden. Von daher ver-stehe ich das auch sehr gut.Und selbst folgender – für Rot-Grün außerordentlichbemerkenswerter Satz ist zu finden – ich zitiere wiedermit Vergnügen –:
Die Stärkung der Fähigkeit zu eigenverantwortlichemLernen ist eine der wesentlichen Aufgaben zukünf-tiger Bildungspolitik und Bildungspraxis.
Bei solch geballter Weisheit kann ich nur sagen: Herzli-chen Glückwunsch, meine Damen und Herren von derRegierungskoalition.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider – und diesmuss ebenfalls in aller Deutlichkeit gesagt werden – blitztdiese neue Erkenntnisfähigkeit nur vereinzelt auf undwird keineswegs in der nötigen Konsequenz durchgehal-ten. Denn ein dringender Paradigmenwechsel, der allerOrten angesichts einer immer enger werdenden Verzah-nung von beruflicher Tätigkeit und lebenslangem Lernenzu Recht gefordert wird und der zudem von der Instituti-onsbeschreibung zur Funktionsdarstellung führt, kurzum:ein solch längst überfälliger Paradigmenwechsel wirdvon der Koalition nicht erkannt, geschweige denn inihrem Antrag berücksichtigt. So viel Konsequenz hättemich im Übrigen auch erstaunt.Doch eines muss klar sein, meine sehr verehrten Da-men und Herren: Die Mobilisierung bisher bildungsbe-nachteiligter Gruppen, so wichtig diese ist, und die Ver-wirklichung „lernender Regionen“ reichen eben nicht aus.
Die zahlreichen, eher bieder anmutenden Vorschlägedes Antrages bleiben bedauerlicherweise an der Ober-fläche und werden den tatsächlichen Veränderungen nicht
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Ernst Küchler9608
gerecht. Weil wir bei der CDU/CSU all das, was wir be-haupten, auch beweisen,
möchte ich fünf Einwände formulieren.Einwand eins. Der von Rot-Grün gern beschworene in-tegrative Ansatz – von Ihnen auch erwähnt, Herr Küchler –einer wie auch immer gearteten Synthese von allgemei-ner, beruflicher und politischer Weiterbildung hat sichschon längst als eine politideologische Luftnummer er-wiesen.
Reden Sie, meine Kolleginnen und Kollegen aus der Re-gierungskoalition, einmal mit den Menschen der neuenBundesländer über diese vermeintliche integrative Wei-terbildung. Die Menschen werden Sie fragen: Habt ihrdenn gar nichts gelernt? Es ist ja schließlich Weiterbil-dung gefragt.Einwand zwei. Ihr vermeintlich so moderner Vor-schlag, ein Netzwerk „Lernende Region“ aufzubauen,entspricht, wie die Erfahrungen in Nordrhein-Westfalenbis Sonntag ganz eindeutig beweisen, bedauerlicherweisereinem Wunschdenken.Einwand drei. Ihr Angebot, geeignete Finanzierungs-instrumente zur Deckung vor allem individueller Wei-terbildungskosten zu schaffen, klingt großzügig. Berück-sichtigt man jedoch, dass zwei Drittel der Kosten von denBetrieben übernommen werden, 15 Prozent die Bundes-anstalt für Arbeit bezahlt und der übrig bleibende eigenfi-nanzierte Anteil von lediglich 15 Prozent zudem noch vonder Steuer abgesetzt werden kann, erkennt man die wahreGrößenordnung Ihres scheinbar so reichhaltigen Angebo-tes.Einwand vier. Weil Sie alle so sprachlos zuhören, trageich es gerne vor. Das von Ihnen vorgeschlagen Akkredi-tierungssystem ist ein uralter Hut der 70er-Jahre undkaum realisierbar, vor allem, wenn man bedenkt, dass dieweitaus meisten Weiterbildungsmaßnahmen auf betriebli-cher Ebene stattfinden.Einwand fünf: Ihre Absicht, die Bund-Länder-Koope-ration im Bereich der Weiterbildung auszubauen, er-scheint in der Tat löblich. Aber Sie führen mit keiner Silbeaus, auf welche Weise und auf welcher Basis die engeZusammenarbeit zwischen dem Bund, allein zuständigfür die berufliche Bildung, und den Ländern, allein zu-ständig für die allgemeine Bildung, im Detail funktionie-ren soll.Eine Weiterbildungspolitik, die den hochgradig ver-netzten und sich weiterhin differenzierenden Lebensbe-dürfnissen entsprechen soll, sollte sich von vier Prinzipienleiten lassen, nämlich von der Eigenverantwortung, derSelbstorganisation, der marktwirtschaftlich geprägten de-zentralen Steuerung und natürlich auch von der Subsi-diarität.
Ich verspreche Ihnen, dass wir uns trotz unserer Be-denken konstruktiv, wie man das von uns zu Recht erwar-ten kann,
an der Arbeit im Ausschuss beteiligen werden.Die CDU/CSU stellt hierbei vier wesentliche Forde-rungen: Erstens. Wir brauchen mehr selbst organisiertesLernen, und zwar auf der Basis flexibler Angebote be-ruflicher Bildungsinstitutionen.Zweitens. Wir benötigen mehr praxisbezogenes Ler-nen. Dies macht die Entwicklung neuer arbeitsintegrier-ter Formen der Weiterbildung im betrieblichen Ablauf er-forderlich.Drittens. Wir wünschen mehr IuK-gestütztes Lernen.Dazu ist wiederum unter anderem eine stärkere Nutzungder immensen Möglichkeiten der modernen Multimedia-techniken erforderlich.Viertens. Schließlich und endlich sind verstärkte An-strengungen bei der Überwindung der drohenden gesell-schaftlichen Bildungskluft gefordert. Dazu benötigen wirneben anderem auch eine zuverlässige Diagnose der indi-viduellen Weiterbildungsbedürfnisse.
Herr Kol-
lege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Wenn ich Ihnen einen
Gefallen damit tun kann, komme ich natürlich zum
Schluss. Aber das mag ich gar nicht glauben, Herr Präsi-
dent.
Sie tun
uns allen einen Gefallen, wenn Sie zum Schluss kommen.
Es geht doch um dieBildung, Herr Präsident.Der Schlusssatz als Krönung meiner Rede, meine Da-men und Herren und vor allen Dingen Herr Präsident, lau-tet: Bildung ist in jeder Beziehung das eigentlich Humane,das den Menschen auszeichnet und ihn zu einem geord-neten, selbstbestimmten und Zufriedenheit stiftenden Zu-sammenleben befähigt. Weiterbildung ist zu wichtig, umauf dem Altar der politischen Auseinandersetzung geop-fert zu werden.Ich danke Ihnen für alles, was Sie mir an Gutem ange-tan haben.
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Werner Lensing9609
Die vor-
gegebene Redezeit darf auch unterschritten werden, zu-
mal zu einer späten Stunde.
Ich gebe das Wort nun dem Kollegen Matthias
Berninger vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mandem Vorredner aufmerksam zugehört hat, dann hat manden Eindruck gewonnen, dass der Regierungswechselgeradezu ein katastrophaler Einschnitt für die Weiterbil-dungsinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland ge-wesen sei.Nun, Herr Kollege Lensing, wenn man sich das an-schaut, was der so genannte Zukunftsminister qualitativund quantitativ in der letzten Legislaturperiode zustandegebracht hat, dann muss man einfach feststellen: Er magzwar einige Dinge für wichtig gehalten haben, aber Wei-terbildung gehörte sicherlich nicht dazu. Um sie hat ersich nicht gekümmert.
Insoweit halte ich die Behauptung für ziemlich weit her-geholt, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag vonihm abgeschrieben hätten. Wenn sie das getan hätten,wäre der Stillstand in diesem Bereich fortgesetzt worden.Das hätte sich auch in dem Antrag ausgedrückt.
Ich sehe einmal davon ab, dass im Weiterbildungsbe-reich relativ wenig passiert ist, und wage den Ausblick aufdas, was in den nächsten 20 Jahren vor uns liegt. ZweiZahlen sind sehr eindrucksvoll und sollten auch in einersolchen Debatte unbedingt genannt werden, weil sich mitihnen das Ausmaß der Veränderungen, vor denen dasBildungssystem steht, verdeutlichen lässt. Heute sind12 Millionen Menschen unter 30 Jahre. In 20 Jahren wer-den es noch 8 Millionen Menschen sein. Zu diesem Zeit-punkt wird jeder zweite Arbeitnehmer in Deutschland äl-ter als 40 Jahre sein. Alle Prognosen besagen, dass sich dieWirtschaft in diesem Zeitraum ganz massiv und radikalwandeln wird. Das heißt, immer ältere Menschen müsseneinen immer schneller voranschreitenden Wandel in ir-gendeiner Form erstens verkraften, und zweitens dürfensie sich nicht von ihm überrollen lassen. Wenn man sichdies vergegenwärtigt, dann weiß man, wie bedeutsam dasThema Weiterbildung in den nächsten Jahren sein wird.Auch deswegen freue ich mich, dass die Bundesregierungin dem Bereich durch wesentliche Maßnahmen Akzentesetzen möchte.
Das Tempo, das die rot-grüne Koalition derzeit an-schlägt, reicht nicht aus, um die vor uns stehenden He-rausforderungen tatsächlich schon meistern zu können.Innerhalb der Koalitionsfraktionen ist keiner selbstgefäl-lig; aber wir denken, dass wir auf einem guten Weg sind.Ein weiterer wichtiger Punkt: Technische Entwicklun-gen werden die Bildung völlig verändern. Die Bundesre-gierung hat ein Programm angekündigt – das ist wirklichein sehr wichtiger Schritt –, in dem es um die Entwicklungvon Lernsoftware geht. Es geht darum – darüber habenwir heute schon an anderer Stelle debattiert, als wir überdie Gefahren von Viren im Internet diskutiert haben –,diese Entwicklung für den Bildungsbereich nutzbar zumachen.
Das passt genau zu dem, was auch der Kollege Lensinggesagt hat – wir sind uns darin einig –: Lernen ist ein Vor-gang, der von den Individuen abhängt; die Individuenmüssen möglichst selbstbestimmt etwas leisten.
Das ist durch die neuen Medien noch besser möglich, weilman, zumindest teilweise, ortsunabhängig lernen kann.Wir sind in Deutschland aber technologisch und in derFrage, wie man solche Lerninhalte vermittelt, nicht ge-rade an der Spitze. Wir müssen Anstrengungen unterneh-men.Zumindest in den vier Jahren, in denen ich während Ih-rer Regierungszeit im Bundestag war – in anderen Län-dern war diese Entwicklung in vollem Gange –, hat manim Bildungsministerium eher gähnend dagesessen. Dasmag damit zusammenhängen, dass Herr Rüttgers keinenComputer in seinem Büro hatte. Jedenfalls muss man mithohem Tempo etwas verändern.400 Millionen DM, die dafür eingesetzt werden sollen,sind kein Pappenstiel, wenn man sich die Beträge an-schaut, die wir ansonsten in dem Antrag zu den Weiter-bildungsprogrammen, die die Bundesregierung aufgelegthat, erwähnt haben. Die Summe ist im Vergleich zu Vor-herigem deutlich größer, weil wir riesige Lückenschließen und gegenüber anderen Ländern aufholen wol-len.
Man sollte darüber reden, dass lebenslanges Lernennatürlich nicht das Gleiche wie eine lebenslange Haft-strafe ist; stattdessen sollte man den Menschen etwas an-deres vermitteln. Für meine Begriffe ist lebenslanges Ler-nen eine positive Entwicklung: Es geht darum, dass mannicht mehr mit 15, 16 oder 17 Jahren oder nach dem Stu-dium einen Beruf ergreift und ihn sein ganzes Leben langausübt; vielmehr wird man in Zukunft die Chance haben,mehrere Berufe erlernen und sein Leben auf dem Gebietder Erwerbstätigkeit ändern zu können. Es ist wichtig,deutlich zu machen, dass eine Gesellschaft, die lebens-lang lernt, den Menschen letzten Endes mehr Freiheitengibt als eine Gesellschaft, die den Menschen irgendwanneinmal zu einer Ausbildung verhilft und sie nur dazuler-nen lässt, wenn es beispielsweise neue Maschinen gibt;ansonsten bleibt man in derselben Firma am selben Ar-beitsplatz.
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Ich sehe eine solche Gesellschaft eher positiv, wenn-gleich sie für die Menschen mit Unsicherheiten verbun-den ist. Nur, auch das ist eine Entwicklung, die nicht soweit entfernt ist. Über 24 Millionen Menschen nehmen inDeutschland jährlich an Weiterbildungsangeboten teil.Das heißt, Weiterbildung findet schon statt, egal, ob wirdas hier diskutieren oder nicht.Ich glaube aber, dass sich die Qualität der Weiterbil-dung sehr radikal verändern wird. Meine Einschätzungist, dass meine Generation ein zweites Mal wird an dieHochschulen zurückgehen müssen. Wer in den 80er- oderin den 90er-Jahren einen Hochschulabschluss gemachthat, der wird wahrscheinlich im Laufe seines Berufsle-bens noch einmal den Weg zur Hochschule finden müs-sen. Man wird, ganz anders als die Generationen davor,sehr viel dazulernen müssen. Das bedeutet, dass Hoch-schulen ihren Umgang mit dieser Art von Studenten völ-lig verändern müssen. Die Hochschulen müssen lernen,dass sie nicht mehr nur Orte der Erstausbildung sind; viel-mehr werden die Themen „Weiterbildung“ und „Ausbil-dung von berufstätigen Menschen“ auch dort immerwichtiger.Ich sehe die Gefahr – Sie haben sie ebenfalls ange-sprochen – der Zuständigkeiten von Bund und Län-dern.Mit genau diesen Zuständigkeitszuordnungen wirdaus meiner Sicht zu häufig Untätigkeit begründet, nachdem Motto: Eigentlich dürfen die anderen nichts tun, weilman selbst zuständig ist. Ein anderer Versuch, Untätigkeitzu begründen, besteht darin, den anderen entsprechendeZuständigkeiten zu übertragen.Die Hochschulen selbst müssen lernen: Es wird immerweniger junge Menschen geben, die an die Hochschulenkommen, weil ihre Zahl in Deutschland abnimmt. Wenndie Hochschulen weiterhin wie bisher bestehen wollen,dann müssen sie aus meiner Sicht Anstrengungen unter-nehmen, auch Erwachsenen gute Angebote zu machen.Zum Abschluss möchte ich sagen, dass es dabei zweisehr unangenehme Botschaften gibt. Die eine unange-nehme Botschaft beim lebenslangen Lernen ist, dass es –das ist schon heute so – nicht völlig kostenlos zu haben ist.Die zweite unangenehme Botschaft besteht darin, dass dieSituation wohl nicht eintreten wird, dass die Betriebe dieberuflichen Fortbildungen komplett bezahlen werden.Ebenso wenig wird es so sein, dass der Staat die Kostender beruflichen Weiterbildungsangebote vollständig über-nehmen wird.Vor diesem Hintergrund halte ich die in unserem An-trag formulierte Forderung, dass die Bundesregierungkonzeptionell darüber nachdenken muss, wie man Men-schen in die Lage versetzen kann, Weiterbildungsange-bote anzunehmen, und zwar unabhängig davon, ob siemehr oder weniger wohlhabend sind, für sehr wichtig.Bündnis 90/Die Grünen sind daher der Meinung, dassman ähnlich wie Bausparen oder ähnlich wie Altersvor-sorge auch die Bildungsvorsorgeleistungen begünstigenmuss. Wenn Bildung so wichtig ist wie ein Dach über demKopf, dann ist Bildungssparen aus meiner Sicht einebenso wichtiges Thema wie das Thema Bausparen. Hiermüssen Veränderungen auch im Denken her.All das, was ich an Entwicklungen beschrieben habeund worüber wir uns auch einig waren, muss dazu führen,dass man auch in anderen Politikbereichen sein Denkendeutlich verändert.Der Präsident bedeutet mir, dass ich seine Anregung,die Redezeit zu unterschreiten, nicht befolgt habe. Dafürbitte ich um Entschuldigung, höre jetzt aber auch auf.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsi-dent. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schönen Dank,dass Sie sich so freuen, dass ich heute schon zum drittenMal vor Ihnen stehe.
In der Tat, es ist so, und ich freue mich auch über den Ein-stieg in die Diskussion zum Thema „LebensbegleitendesLernen“.Ich glaube, uns allen ist klar, dass zukünftig in der Wei-terbildung in der modernen Wissens- und Informations-gesellschaft ganz andere Anforderungen, ja Herausforde-rungen bestehen als bisher. Dabei stehen nicht mehr sosehr individuelle beziehungsweise ökonomische Lernbe-dürfnisse im Vordergrund, sondern eine dauerhafte engeVerzahnung zwischen allgemeiner und beruflicher Bil-dung, Beruf und Weiterbildung als gesamtgesellschaftli-che Aufgabe.Der polnische Erziehungswissenschaftler Suchodolskihat in seiner Veröffentlichung „Lifelong Education at theCrossroads“ aus dem Jahre 1979 geschrieben, dass le-benslanges Lernen zur Schicksalsfrage für das Überlebender Menschheit wird. Der Club of Rome hat die Hin-wendung zur Erforschung, Entwicklung und Förderungmenschlicher Lernprozesse sowie die Verbesserung vonLernmethoden und Lernhilfen als den entscheidendenAnsatz zur menschlichen Zukunftssicherung bezeichnet.Bereits 1973 hatte eine entsprechende Kommission,die von der UNESCO eingesetzt worden war, festgestellt,dass traditionell Schulen und Bildungseinrichtungenweltweit nicht in der Lage seien, die noch etwa zu 50 Pro-zent brachliegenden Begabungspotenziale zu mobilisie-ren. Im UNESCO-Bericht wurde deutlich gemacht, dass inder modernen Lerngesellschaft bestehende Bildungseinrich-tungen ihre Bildungsmonopolstellung verlieren werden.Sie sind aber immer noch die wichtigste Komponente ineinem Lernnetzwerk. Dieses Lernnetzwerk ist das Ge-flecht, das den Rahmen für lebenslanges Lernen zusam-menhalten wird.
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Matthias Berninger9611
Wollen wir dieses Geflecht erfolgreich knüpfen, meineDamen und Herren von der Regierungskoalition, müssendem grundlegende Bildungsreformen in Deutschland vo-rausgehen. Das ist an dieser Stelle noch einmal meineBotschaft an Sie, dort, wo Sie Verantwortung in den Län-dern haben, diese Bildungsreformen auch durchzuführen.Das betrifft erstens die Verbesserung des Niveaus derallgemein bildenden Schulen. Die Profilbildung allerSchulformen einschließlich jener der Hauptschule mussgestärkt werden. Wir haben immerhin fast ein ViertelAusbildungsabbrecher in Deutschland und das hat meinesErachtens auch damit zu tun, dass wir bestimmte Schul-formen, wie die Hauptschule, vernachlässigen.
Zweitens muss die Qualitätssicherung der Schul- undBerufsbildung im Vordergrund stehen. Auch das gehört zuden dringend notwendigen Bildungsreformen und ist einewichtige Voraussetzung, um die Weiterbildung in Gang zubringen. Wir brauchen eine stärkere Hinwendung zumselbstständigen projektorientierten Lernen,
wir brauchen eine Allgemeinbildung, die auf traditionelleKulturtechniken setzt, aber auch auf Medienkompetenz,Teamfähigkeit und eine allumfassende Allgemeinbildung,die auch Mathematik, Naturwissenschaften und Technikin den Vordergrund stellt.
Nicht zuletzt sei erwähnt, dass es Riesendefizite bei derAusstattung und der Unterrichtsversorgung an den Schu-len in Deutschland gibt.Ich will Ihnen anhand einer Studie, die in Schwedengemacht wurde, verdeutlichen, dass dort circa 20 Prozentder Topmanager aus der Wirtschaft durch ihre eigenenKinder das Surfen im Internet gelernt haben. Was heißtdas für die Weiterbildung? Diese Studie macht deutlich,dass zukünftig das situative, natürliche Lernen aller Men-schen in ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen ge-stärkt werden muss. Das Ad-hoc-Lernen wird mehr dennje bei der Erwachsenenbildung zur Kompetenzentwick-lung und zur Bewältigung von neuen Lebenssituationenbeitragen, wie sie die Informationsgesellschaft von heuteauf morgen mit sich gebracht hat.Zu den Reformen gehört aber auch die Vernetzung vonSchule und Wirtschaft. Da nenne ich nur beispielhaft dasModell Baden-Württemberg, das Projekt „SurrealeSchule“, bei dem berufsbezogene Projekte bereits in dieallgemein bildenden Schulen getragen werden.
Der Sinn der dualen Ausbildung besteht in der rechtzei-tigen Verknüpfung von allgemein bildenden Schulen mitder Wirtschaft bis in den Weiterbildungsbereich hinein.Die nächste wichtige Reform umfasst meines Erach-tens die Vernetzung von Aus- und Weiterbildung. Es gehtum Lernen im Beruf und nicht als Beruf, wie Bundesprä-sident Herzog es schon einmal sagte. Damit meine ich,dass kürzere Ausbildungszeiten im ersten Lebensab-schnitt und permanentes Lernen in allen Lebenssituatio-nen in einer sich rasant entwickelnden, global orientiertenWelt notwendig geworden sind.
Last, but not least ist die europäische Vernetzung vonAus- und Weiterbildung angesichts eines EU-Binnen-marktes unerlässlich. Dafür hat der Lissabonner GipfelGrundlagen gelegt. Sie kennen beispielsweise den Euro-Pass in der Berufsausbildung. Aber auch die Länder müs-sen ihre Hausaufgaben machen. Das ist meine Botschaftin diesem Zusammenhang.Ein Gesamtkonzept für lebenslanges Lernen ist unver-zichtbar, wenn wir das Auseinanderdriften zwischen einerimmer komplexer werdenden globalen Welt und den ent-sprechend entwickelten Kompetenzen der Menschen ver-hindern wollen.Die Chancen der Menschen zu verbessern und sie sieerkennen zu lassen heißt zum einen, in ihre Köpfe zu in-vestieren, zum anderen aber auch – das betone ich und dastimme ich Herrn Berninger zu –, sie mehr als bisher zueigenverantwortlichem selbstständigen Lernen zu erzie-hen. Ihr Aktionsprogramm „Netzwerke Lebensbegleiten-des Lernen“ ist da der richtige Anstoß, aber eben keineganzheitliche Lösung. Hierfür muss die Politik die längstüberfälligen Bildungsreformen auf den Weg bringen. An-sonsten wird Ihr Konzept zum lebensbegleitenden Lernenreine Rhetorik bleiben. Ich freue mich auf die Diskussio-nen im Ausschuss.Vielen Dank.
Als
nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Maritta
Böttcher von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich diesen An-trag gelesen habe, habe ich mir überlegt, was er eigentlichan Neuem enthält. Ich bin zu dem Schluss gekommen,dass er nichts enthält, was die Regierung und das zustän-dige Ministerium veranlassen könnten, auf dem Gebietder Weiterbildung etwas anders zu machen, als sie esohnehin bereits tun. Wollte man in den Koalitionsparteiendie Zustimmung zur Weiterbildungspolitik der Bundesre-gierung zum Ausdruck bringen, so erscheint mir ein An-trag, liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür als die unge-eignetste Form. Da hätte vielleicht ein Glückwunsch-schreiben ausgereicht.
Die absehbare Wirkungslosigkeit dieses Antrages, ob-gleich er ja von der Mehrheit dieses Hauses getragen wird,lässt sich an allen seinen Teilen festmachen:Die unumstritten wachsende Bedeutung der Weiterbil-dung wird so begründet, wie es die Regierung der neuenMitte am liebsten sieht, nämlich im Unterschied zu
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Cornelia Pieper9612
mancher Sonntagsrede aus der verengten Sichtweise derStandortdebatte heraus.Die aufgelisteten und allseits bekannten Defizite imBereich der Weiterbildung unterliegen damit ebenfalls ei-ner verengten Sicht. Für den Abbau selbst dieser ausge-wählten Defizite gibt es keinen konkreten Vorschlag, son-dern lediglich eine allgemeine Beschreibung des Wün-schenswerten.Der Hauptteil unter Abschnitt 2 liest sich wie eine Pres-seerklärung des BMBF – ich sage das jetzt einmal so – zurErläuterung von Projekten, die das Ministerium in Aus-sicht stellt.An der Stelle, wo die Einbringer des Antrags die Bun-desregierung schließlich doch noch auffordern, etwas zutun, läuft das im Grunde auf eine Forderung hinaus, die zunichts verpflichtet, nämlich dieses oder jenes zu prüfen.Dabei halte ich es, Herr Catenhusen, außerdem für sehrbedenklich, wenn die Bundesregierung diese Sachver-halte tatsächlich noch nicht geprüft haben sollte.Die Antragsteller hoffen, durch punktuelle Anstöße dasWeiterbildungssystem in die richtigen Bahnen zu lenken.Ich halte das, gelinde gesagt, für eine wirklichkeitsfremdeIllusion. Wir müssen den gesamten Weiterbildungsbe-reich systematisch strukturieren. Um dies zu erreichen,muss der Bund endlich seine Kompetenz auf diesem Ge-biet voll ausschöpfen. Er täte das nach unserer Meinungam konsequentesten durch die Vorlage eines entsprechen-den Rahmengesetzes.
Ein solchermaßen gesteckter Rahmen hätte die Funktion,den Zugang aller zu einem lebenslangen Lernen sowohlrechtlich als auch materiell auf gleichem Niveau zu si-chern, die demokratische Mitwirkung der Lernenden fürdie inhaltliche und strukturelle Ausgestaltung der Weiter-bildung im gesamten Bundesgebiet gleichermaßen zu ge-währleisten, die Weiterbildung mit der ebenfalls bundes-rechtlich geregelten beruflichen und universitärenAusbildung sowie mit den zahlreichen Formen derArbeitsförderung sinnvoll zu verzahnen und schließlicheinheitliche Mindeststandards hinsichtlich Qualität, Trans-parenz und Zertifizierung in der Weiterbildung festzule-gen.Mit der Forderung eines solchen Rahmengesetzes gehtes uns nicht darum, der im Antrag betonten „Eigenverant-wortung und Selbststeuerung der Lernenden“ den alles re-gulierenden Staat gegenüber zu stellen. Aber Eigenver-antwortung in der Weiterbildung darf nicht, wie es derAntrag nahe legt, vorrangig auf die Eigenfinanzierung zurdauerhaften Erhaltung und Verbesserung der Verwer-tungsbedingungen des Kapitals reduziert werden.
Eigenverantwortung muss sich auf die Entfaltung allerFähigkeiten und Potenzen des Einzelnen beziehen und da-rüber hinaus dessen umfassende demokratische Mitwir-kung bei der Bestimmung von Bedingungen, Inhalten undZielen der Weiterbildung beinhalten.Von einem solchen Ansatz aus müssen die Akzente ineiner rahmengesetzlichen Regelung auch anders gesetztwerden, als das im vorliegenden Antrag der Fall ist. Sonotwendig es ist, das Weiterbildungssystem hinsichtlichTräger, Koordination, Qualität, Transparenz, Zertifizie-rung usw. zu optimieren: Noch dringlicher sind eindeutigeRegelungen, die es jedem und jeder auch tatsächlich er-möglichen, dieses System kontinuierlich zu nutzen. Auf-schlussreich ist doch zum Beispiel, dass mangels entspre-chender gesetzlicher Regelungen in einigen Ländern vieleBeschäftigte nach wie vor keinen Anspruch auf bezahltenBildungsurlaub haben und dass von denen, die ihn haben,nur etwa 3 Prozent davon Gebrauch machen.Die PDS kann und wird vieles unterstützen, was vonverschiedenen Seiten, einschließlich der Bundesregie-rung, zur Erhöhung der Effizienz der Weiterbildungsinsti-tutionen vorgeschlagen wird. Ihren Schwerpunkt sieht siejedoch darin, sich auf Seiten der Lernenden für solche Be-dingungen einzusetzen, die es allen ermöglichen, die Wei-terbildungsangebote entsprechend anzunehmen.
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine letzte Bemerkung,
Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, über
eines sollte frühzeitig Klarheit herrschen: Angesichts der
Dimension eines lebenslangen Lernens ist die Realisie-
rung dieser Aufgabe gewiss mit beträchtlichen Kosten
verbunden. Sie ist jedoch sowohl für den Einzelnen wie
für die Gesellschaft von existenzieller Bedeutung.
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.
W
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Die heutige kon-struktive Debatte über den Antrag der Koalitionsfraktio-nen versteht die Bundesregierung als Ermutigung und alsAuftakt für eine intensive parlamentarische Begleitungdes Weges hin zur schrittweisen Verwirklichung des Prin-zips vom lebensbegleitenden Lernen.
Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist in den Ländern,bei den Sozialpartnern, bei den Trägern und Verbänden inder konzertierten Aktion Weiterbildung, im Bündnis fürArbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit und auchin der Bund-Länder-Kommission erfreulich groß. Es isterstaunlich, dass die alte Bundesregierung im letzen Jahr-zehnt diese Chancen nicht genutzt hat.Wir befinden uns in einer Situation, in der die Bereit-schaft zum lebenslangen Lernen erfreulicherweise wächst;denn unter den 19- bis 64-Jährigen nutzt heute schon
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Maritta Böttcher9613
jeder Zweite die Möglichkeit, sich weiterzubilden. DieTeilnahme an allgemeiner beruflicher Weiterbildung –da sind wir uns ja alle einig – ist dabei gleich wichtig. Al-lein für die berufliche Weiterbildung wenden Teilneh-merinnen und Teilnehmern jährlich 2 Milliarden Stundenfür Kurse und Lehrgänge auf. Tag für Tag bilden sichdurchschnittlich etwa 1 Million Menschen im erwerbs-fähigen Alter in der einen oder anderen Form beruflichweiter. Dabei ist informelles Lernen am Arbeitsplatz undselbst organisiertes Lernen, auch in verschiedenen sozia-len Zusammenhängen und Projekten, statistisch bishernur unzureichend erfasst.Ohne Übertreibung lässt sich also feststellen, dass wirbereits auf dem Wege zu einer lernenden Gesellschaftsind, wie sie jetzt von der UNESCO, der OECD und auchder EU als Leitbild vorgeschlagen wird. Warum also heutediese Debatte? Warum legen wir so viel Wert darauf, dasslebensbegleitendes Lernen für alle Menschen selbstver-ständlich werden muss? Was sind die neuen Herausforde-rungen, auf die wir neue Antworten finden müssen? Aufdiese Fragen will ich Ihnen nur zwei Antworten geben.Erstens. Wir müssen davon ausgehen, dass bei einerNichtbeteiligung an kontinuierlichem „Lernen ein Lebenlang“ für den einzelnen Menschen und für seine Familiedie Gefahr der Ausgrenzung aus allen gesellschaftlichenBereichen wächst.Zweitens. Der Strukturwandel unserer Gesellschaftund Wirtschaft kann nur mithilfe einer alle Gruppeneinschließenden Entwicklung lebensbegleitenden Ler-nens bewältigt und sozialverträglich gestaltet werden.
Hiervon, Kolleginnen und Kollegen, hängen sowohldie Innovationsfähigkeit als auch der soziale Zusammen-halt unserer Gesellschaft immer stärker ab. Zwischen die-sen beiden Polen der Stärkung und Entfaltung individuel-ler Möglichkeiten und auch der Zunahme und Verän-derung gesellschaftlicher Anforderungen muss dasBildungssystem sich weiterentwickeln.Notwendig ist daher die Mobilisierung aller, vor allembildungsferner und benachteiligter Gruppen, und auch dieschrittweise Verwirklichung des Konzeptes „LernendeRegionen“. Dies sind die beiden strategischen Ansatz-punkte einer Bildungspolitik der Bundesregierung, dieLernen ein Leben lang ermöglichen und fördern will.Lebensbegleitendes Lernen für alle kann natürlich nurrealisiert werden, wenn alle Bildungsbereiche mit allge-meinen, politischen, kulturellen und beruflichen Inhaltenin ein integratives Konzept einbezogen werden. KollegeLensing, ich glaube, das Gegeneinandersetzen allgemei-ner, beruflicher und politischer Weiterbildung ist einfalscher Ansatz. Für die gesellschaftliche Weiterentwick-lung der Menschen brauchen wir Angebote auf allen Fel-dern. Wenn sie stärker miteinander vernetzt und aufei-nander bezogen werden, umso besser.
Auch ist eine stärkere Kooperation zwischen Bil-dungsanbietern und Bildungsnachfragern insbesondere inden Regionen notwendig. Wir müssen alle Anstrengungenunternehmen, um unser Bildungssystem offen zu halten,weitere Chancen zu ermöglichen, Durchlässigkeit zu ge-währleisten, Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruf-licher Bildung zu verstärken und nicht zuletzt auch dasSystem der individuellen Förderung erwachsenengerechtweiterzuentwickeln.
Herr
Staatssekretär, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Lensing?
W
Ja.
Bitte
schön, Herr Lensing.
Herr Staatssekretär,
ich beziehe mich auf Ihre Äußerung im Hinblick auf den
integrativen Ansatz. Ich habe erhebliche Bedenken, die
drei Säulen der allgemeinen, der beruflichen und der po-
litischen Weiterbildung, die Sie angesprochen haben, zu
integrieren, vor dem Hintergrund der schmerzhaften Er-
fahrungen in der früheren DDR, wo dieses Modell erprobt
worden ist. Daher erklärt sich auch meine Bemerkung von
vorhin.
Dass es erhebliche Bedenken gibt, merken wir schon an
der Unruhe auf der – von mir aus gesehen – rechten Seite.
Ich weiß es auch aus entsprechenden Bemerkungen aus
den Bildungskreisen der ehemaligen DDR.
W
Ge-schätzter Kollege Lensing, mir ist nicht ganz verständlich,wieso Sie einen Zusammenhang sehen zwischen denAngeboten politischer Weiterbildung in der Bundesrepu-blik, in dem freien Deutschland, sowie den Prinzipien undder Praxis so genannter politischer Indoktrination in derehemaligen DDR. Ich kann Ihnen bei diesem Gedanken –ehrlich gesagt – nicht folgen.
– Ja.Wir sind in dieser Entwicklung zwei erste konkreteSchritte gegangen. Am 1. April dieses Jahres konnte erst-mals in der über 30-jährigen Geschichte der gemeinsamenBildungsplanung der Bund-Länder-Kommission einModellversuchsprogramm zum lebenslangen Lernenauf den Weg gebracht werden. Dieses Programm mit14 Modellversuchen, für das in den nächsten fünf Jahren
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Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen9614
25 Millionen DM aufgewendet werden, die je zur Hälftevon Bund und Ländern getragen werden, basiert auf einergemeinsam in der BLK entwickelten Programmbeschrei-bung. Die Länder sind bereit, mit uns auf einerprogrammatischen Grundlage die Rahmenbedingungendafür zu erproben, wie auf der einen Seite Eigenverant-wortung und Selbststeuerung der Lernenden und auf deranderen Seite die Vernetzung hin zu einem eher nachfra-ger- und nutzerorientierten Bildungssystem geschaffenwerden können.Das sind auch die Ziele, die wir als Bundesregierungmit unserem geplanten Aktionsprogramm „Lebensbe-gleitendes Lernen für alle“ verfolgen. Frau MinisterinBulmahn hat dazu auf der Plenarsitzung der von uns wie-derbelebten konzertierten Aktion „Weiterbildung“ ent-sprechende Schritte angekündigt.Den Kern unseres Aktionsprogramms bildet das Pro-gramm „Netzwerke lebensbegleitenden Lernens“,dessen strategische Bedeutung für den Aufbau lernenderRegionen offensichtlich ist. Wir freuen uns, dass die Län-der dieses anerkannt und unsere Absicht zur Förderungvon Netzwerken ebenso wie die konzertierte Aktion„Weiterbildung“ begrüßt haben.
Wir beabsichtigen, Projekte zur Vernetzung auf derGrundlage einer mit den Ländern noch abzuschließendenVereinbarung noch vor der Sommerpause auszuschrei-ben. Die Europäische Union, die auch weitere beschäfti-gungspolitisch begründete Programme zur Kompetenz-entwicklung und zur Benachteiligtenförderung kofi-nanzieren wird, wird dieses Netzwerkprogramm vor-aussichtlich mit rund 10 Millionen DM pro Jahr unter-stützen. Das heißt, wir können in den nächsten fünfJahren im Rahmen dieses Programms rund 150 Milli-onen DM zielgerichtet für die Entwicklung lernender Re-gionen in Deutschland einsetzen.
Zu den Förderschwerpunkten zählen insbesondere diebreitere Anwendung von für die Nutzer transparentenQualitätssicherungsverfahren; die Zertifizierung vonQualifikationen, möglichst unter Einschluss von Kompe-tenzen, die in informellen und selbst organisierten Lern-prozessen erworben wurden; die Verbesserung der Bera-tung und die Motivierung insbesondere bildungsfernerund benachteiligter Gruppen; die Förderung neuer Lehr-und Lernkulturen und eines insgesamt lernförderlichenUmfeldes.
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Lenke?
W
Ja,
bitte.
Bitte
schön, Frau Lenke.
Herr Staatssekretär, das sind ja
Ziele, die eigentlich zu unterstützen sind. Was sagen Sie
aber dazu, dass das Land Niedersachsen zum Beispiel Er-
wachsenenbildungsmittel in den Haushalten in den letz-
ten Jahren ständig gekürzt hat und auch im Bildungsbe-
reich der Schulen und Hochschulen ständig weniger Mit-
tel zur Verfügung stehen?
– In der Erwachsenenbildung in Niedersachsen sind seit
1990 ständig die Mittel gekürzt worden. Ich möchte gerne
von Ihnen wissen, ob das nicht Ihre guten Ideen konter-
kariert.
W
Ich
höre erstens Widerspruch vonseiten sozialdemokratischer
Abgeordneter aus Niedersachsen. Das sollten Sie als
Niedersachsen erst einmal untereinander diskutieren. Als
Parlamentarier aus Nordrhein-Westfalen kann ich in un-
serem Lande keinerlei Diskussion in dieser Richtung fest-
stellen. Ich denke, es gilt für alle Bundesländer die Be-
merkung, die Herr Küchler vorhin gemacht hat, dass es
nämlich in der Frage der Förderung der Weiterbildung in
dem einen oder anderen Land Diskussionen gibt, die hin-
sichtlich einer Prioritätensetzung für die Weiterbildung
nicht immer im vollen Glanze wünschbarer politischer
Gestaltung stehen. Aber dieser Diskussion soll sich jedes
Bundesland selbst aussetzen.
Die beiden angesprochenen Maßnahmen sollen den
Start zu einer Ausweitung der Aktivitäten des Bundes bil-
den. Wir freuen uns sehr, dass wir im Ausschuss auch wei-
tere Prüfaufträge des Koalitionsantrages beraten können.
Dann sollten wir gemeinsam in die Debatte über einige
wichtige Fragen eintreten, etwa die Fragen: Was können
wir bezüglich der Weiterbildungsforschung tun? Was
müssen wir in der Weiterbildungswerbung mit den Län-
dern und Kommunen zusammen tun? Wie sieht es mit der
Qualitätssicherung und der Verzahnung beruflicher und
außerberuflicher Weiterbildung aus?
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir im Be-
reich der betrieblichen Weiterbildung, die Kollege
Lensing zu Recht angesprochen hat, mit den Tarifpart-
nern im Bündnis für Arbeit bereits Vereinbarungen
über Ziele und Maßnahmen zur Qualifizierung und Wei-
terentwicklung der beruflichen Weiterbildung getroffen
haben. Das kann auch der Union helfen, ihre Position wei-
ter zu bestimmen. Ich habe mit Zufriedenheit zur Kennt-
nis genommen, dass Versuche zur Beschreibung der Leis-
tungen der früheren Bundesregierung auf diesem Gebiet
nicht unternommen worden sind.
Schönen Dank.
Als letz-tem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich dem
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Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen9615
Kollegen Heinz Wiese von der CDU/CSU-Fraktion dasWort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Land wiedie Bundesrepublik Deutschland, das nur über wenige er-tragreiche Rohstoffe verfügt, kann sich im weltweitenWettbewerb nur dann behaupten, wenn es den Investitio-nen in sein Humankapital eine herausragende Bedeutungbeimisst. Bildung ist – darüber sind wir uns sicherlich ei-nig – das Megathema der kommenden Jahre.Wenn es heute um einen ganz konkreten Antrag derRegierungsfraktionen zum Thema lebensbegleitendesLernen und zum Ausbau der Weiterbildung geht, stelle ichetwas Erfreuliches fest, nämlich dass sehr viele Positio-nen mit denen in unserem Antrag, den wir bereits 1999zum Thema Ausbildung und Qualifizierung für jungeMenschen eingebracht haben, identisch sind. Das möchteich hier anerkennen und deutlich machen. Denn ichglaube, das Thema ist in höchstem Maße konsensfähig,wenn wir uns der neuen Herausforderung des lebensbe-gleitenden Lernens stellen, um im neuen Jahrtausend neueWege zu gehen.
Damals habe ich in der Debatte sehr deutlich auf dieneuen Herausforderungen hingewiesen. Das ist zum Bei-spiel der technologisch bedingte Strukturwandel in Ge-sellschaft und Wirtschaft, die bereits stattfindende digitaleRevolution im Informations- und Kommunikationszeital-ter. Jetzt ist es unsere Aufgabe, die daraus resultierendenneuen Herausforderungen anzunehmen. Insoweit wird esim zuständigen Ausschuss in vielen Punkten eine, soglaube ich, interessante und spannende Beratung geben.Zunächst möchte ich ein paar Anmerkungen machen,die man nicht so sehr semantisch sehen sollte. Es handeltsich eher um systematische Aspekte. Zu dem Arbeits-thema Weiterbildung bzw. lebensbegleitendes Lernenfür alle muss ich sagen: Es sollte nicht der Eindruck ent-stehen, dass die Weiterbildung der Bildungssektor ist, aufdem ausschließlich lebensbegleitendes Lernen stattfindet.Ich als Pädagoge sehe das ein wenig anders. Unsere For-derung hat schon immer gelautet: Alle Bildungs- und Aus-bildungseinrichtungen, alle Bildungs- und Ausbildungs-systeme müssen eine Kultur des lebensbegleitenden Ler-nens entwickeln.
Gerade heute in der Wissensgesellschaft geht es nicht da-rum, immer mehr zu lernen. Es geht vielmehr um dieKompetenz, das Richtige zu lernen. Das ist ein gewaltigerUnterschied. Ich glaube, dass gerade in diesem Bereichdie Weiterbildung und das lebensbegleitende Lernen ei-nen neuen Stellenwert erhalten.
Unsere Kinder und Jugendlichen müssen also bereits inder Schule an das Lernen in irgendeiner seiner vielen For-men herangeführt und dazu motiviert werden.
Wenn wir es nicht schaffen, in der Schule zu vermitteln,zu lernen, wie man lernt,
dann werden wir diese Menschen in späteren Jahren mitnoch so vielen Weiterbildungsprogrammen und -einrich-tungen nicht mehr motivieren können.
Ich gehe davon aus, dass in der Bildungspolitik dreineue Zielsetzungen zu sehen sind. Für mich gibt es überdas hinaus, worüber wir bisher diskutiert haben, drei Ziel-setzungen, die in die jetzigen Diskussionen mit eingeflos-sen sind: zum Ersten den verantwortungsbewussten Um-gang mit den neuen Medien – was man mit den neuenMedien anstellen kann, das haben wir in den letzten Ta-gen trefflich erlebt –, zum Zweiten eine ausgeprägteFremdsprachenkompetenz und zum Dritten die Befähi-gung zum lebensbegleitenden Lernen.Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, dassbereits die Grundschule diese Bereiche berücksichtigenmuss. Neben den klassischen Grundfertigkeiten Lesen,Schreiben und Rechnen müssen bereits dort die Methodeneiner modernen Wissensaneignung eine zentrale Bedeu-tung erlangen. Ich gehe davon aus, dass damit auch dieFähigkeit zur Eigenverantwortung, die soeben auch vomHerrn Staatssekretär angesprochen wurde, und zur Selbst-organisation des Lernens von Anfang an in den Mittel-punkt gerückt werden muss.Wir haben doch festzustellen, dass sich gerade vieleKinder aus lern- und bildungsfernen Schichten, wieauch Sie, Herr Staatssekretär, das formuliert haben, vordem Lernen – das zeigen empirische Forschungen – gera-dezu scheuen. Dies tun sie auch als Erwachsene, weil ih-nen die Schule das Lernen als wichtigste Quelle der Er-neuerung in allen Lebensbereichen und als Quelle der Le-bensbereicherung nicht oder nur unzureichend vermittelthat. Was dort nicht geleistet wurde, kann man unter Um-ständen in vielen Fällen später nicht mehr gutmachen.Ein weiterer Aspekt in diesem Kontext ist: Wir solltenuns sehr differenziert mit der Forderung nach lebensbe-gleitendem Lernen für alle auseinander setzen. Denn wirsollten allen Talenten bzw. allen Begeisterungsmöglich-keiten der Einzelnen gerecht werden. Wir sollten auchnicht Gruppen ausmachen, die dafür vielleicht nicht mo-tivierbar sind. Sie haben in Ihrem Antrag Frauen, Mütter,Väter und Benachteiligte ohne Bildungsabschlüsse er-wähnt. Diese haben es sehr schwer, sich in dieser Rich-tung zu aktivieren. Ich gehe aber davon aus, dass wir denalten Grundsatz beherzigen sollten, die Menschen in ihrenindividuell ausgeprägten Begabungen, Fähigkeiten undTalenten so zu nehmen, wie sie sind. Dabei dürfen wirnicht irgendwelchen Vorurteilen aus der Vergangenheitaufsitzen.Es kann heute beispielsweise nicht mehr behauptetwerden, Frauen würden sich in diesen Bereichen nichtaktiv betätigen. Wir wissen, dass Weiterbildung für die
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms9616
Frauen heute ebenso ein Thema ist wie für die Älteren.Wir müssen dabei zunächst einmal den Weg für die Kin-der ebnen. Gerade die jungen Menschen sollten gezieltgefördert, aber auch angemessen gefordert werden. Dasist eine alte Grundthese unserer Bildungspolitik.
In diesen Bereichen kann es natürlich nicht nur um dieJugend gehen. Bei dem heute in allen Bereichen und be-sonders auf dem Arbeitsmarkt festzustellenden Verdrän-gungswettbewerb wird es auch künftig unter der älterenGeneration – das ist bereits von Diskussionsrednern an-gesprochen worden – immer mehr Menschen geben, dieals so genannte Modernisierungsverlierer gelten, weil siediesem oft gnadenlosen Verdrängungswettbewerb nichtstandhalten konnten.Wenn wir heute in Deutschland fast eine Million Ar-beitslose über 55 Jahre haben, ist das eine riesengroße ge-sellschaftspolitische Herausforderung.
Wir müssen daher dem Bereich der Qualifizierung ältererArbeitnehmer einen neuen Stellenwert einräumen. UnserMotto, das wir sowohl in unserem Antrag als auch heuteMorgen in der Debatte verdeutlicht haben, lautet: Liebermit 50 weiterqualifizieren als mit 60 in Rente!
Herr Kol-
lege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.
Abschließend
einige Anmerkungen zu dem, was wir im Ausschuss dis-
kutieren sollten. Wir sollten uns im Ausschuss mit der In-
novation der beruflichen Bildung, den Maßnahmen zum
Zusammenspiel des dualen Systems und der Weiterbil-
dung befassen sowie zum Ausbau des dualen Systems be-
kennen. Wir sollten auch die Frage stellen, inwieweit Zer-
tifizierung und Differenzierung von Abschlüssen künftig
neu umgesetzt werden können.
Ich darf dabei im Zusammenhang mit der beruflichen
Bildung an das DIHT-Satellitenmodell erinnern. Ich
glaube, auf dieser Basis kann man weiter diskutieren. Ich
gehe davon aus, dass wir Sie von der SPD dafür begeis-
tern können, obwohl wir das schon einige Male im Aus-
schuss ohne Erfolg versucht haben.
Herr Kol-
lege Wiese, Sie haben die Redezeit weit überzogen. Ich
bitte Sie, jetzt wirklich den letzten Satz zu sprechen.
Ich komme zum
Schluss, Herr Präsident.
Ich gehe davon aus, dass wir uns miteinander ohne
große Auseinandersetzungen auf den Weg in die bereits
vorher erwähnte lernende Gesellschaft begeben sollten,
den wir kritisch begleiten.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3127 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich höre keinen Wiederspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ,
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Hauptstadtkulturförderung
– Drucksache 14/3182 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich darauf
hinweisen, dass die Reden zu den beiden noch ausstehen-
den Tagesordnungspunkten nach einer Vereinbarung zu
Protokoll gegeben werden. Ich setze voraus, dass Sie da-
mit einverstanden sind.
Ich bitte, bei der Aussprache die vorgegebenen Rede-
zeiten einzuhalten. Es scheint hier ein Wettbewerb zu be-
stehen, wer die Zeit am meisten überziehen kann. Das
bringt nichts.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner
hat der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Her-ren, die CDU/CSU-Fraktion will mit dem Antrag zurHauptstadtförderung die parlamentarische Befassung miteinem Thema herbeiführen, die längst überfällig unddurch die intensive öffentliche, auch publizistische Dis-kussion der letzten Wochen natürlich nicht zu ersetzen ist.Es geht bei diesem Thema weder finanziell noch kon-zeptionell um eine Marginalie der Kulturförderung desBundes, sondern um einen zentralen Bestandteil. Nichtnur für die Hauptstadt hat dieses Thema vitale Bedeutung,sondern auch für den Bund. Im Kern geht es, unterBerücksichtigung der föderalistischen Strukturen diesesStaates, um das Selbstverständnis des KulturstaatesDeutschland. Wir reden, wenn wir uns nichts vormachenund die eigentlichen Dimensionen dieses Themas in denBlick nehmen, beim Thema Hauptstadtförderung zu-gleich über das Thema Kulturföderalismus und da-rüber, was wir uns darunter eigentlich vorstellen.
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Heinz Wiese
9617
Von dem neuen Berliner Kultursenator ChristophStölzl, dem ich auch von dieser Stelle alles Gute für dieÜbernahme seines Amtes und allen im gemeinsamen In-teresse angestrebten Erfolg wünsche,
stammt aus einem Interview der letzten Tage der wunder-schöne Satz: „Die Kulturhoheit der Länder ist im LandeBerlin nur eine sehr unzureichende Beschreibung derLage.“Lieber Herr Stölzl, dieser Satz wäre auch dann nochrichtig, wenn Sie den ausdrücklichen Bezug auf Berlin ge-strichen hätten. Denn die Kulturhoheit der Länder ist nureine unzureichende Beschreibung unserer Lage, so wie –um es vollständig zu sagen – schon der Begriff „Kultur-hoheit“ eine unzutreffende Beschreibung des Verhältnis-ses des Staates zur Förderung von Kunst und Kultur dar-stellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht ganz offen-sichtlich nicht nur um Geld, eher geht es auch um eineMenge Geld. Das Volumen der Bundesförderung wirdseit Jahren notorisch unterschätzt und mit dem eher klein-lichen Streit um einige Millionen DM mehr oder wenigerverniedlicht. Insgesamt stellt der Bund, wenn man dieverschiedenen Förderinstrumente zusammen nimmt, wasin diesem Zusammenhang natürlich erfolgen muss, mitfast 500 Millionen DM und damit mit knapp einer halbenMilliarde DM fast die Hälfte aller in Deutschland verfüg-baren Kulturfördermittel des Bundes für die Hauptstadtzur Verfügung. Ich sage dies auch deswegen, weil damitdie gelegentliche öffentliche Quengelei aus der BerlinerLokalszene – wie ich finde: hinreichend – widerlegt istund wir uns auf das konzentrieren sollten, was den Streitwirklich lohnt.Der Bund hat Berlin in der Vergangenheit weder alleinnoch im Stich gelassen. Er wird dies auch in Zukunft nichttun. Darüber gab und gibt es zwischen Regierung und Op-position Konsens. Dies war vor dem Regierungswechselso und ist nach dem Regierungswechsel so geblieben. Ichfinde, das ist überhaupt die wichtigste und unverzichtbareGesprächsbasis innerhalb des Bundestages für die Ver-handlungen, die gegenwärtig zwischen der Bundesregie-rung und dem Berliner Senat stattfinden.Nach meinem Verständnis gibt es in diesem Zusam-menhang drei grundsätzliche Fragen: Erstens. Warumüberhaupt gibt es Hauptstadtkulturförderung? Zweitens.Wofür im Konkreten gibt es sie? Drittens. Wie viel wirddafür aufgebracht?Die Beantwortung der ersten Frage ist, jedenfalls nachunserem Verständnis, nach dem gemeinsamen Verständ-nis aller Kulturpolitiker der Fraktionen in diesem Haus,die einfachste. Wegen der begrenzten Redezeit und derErmahnung des Präsidenten, uns an dem Wettbewerb umderen Überschreitung möglichst nicht zu beteiligen,schenke ich mir die Begründung. Wir alle sind davonüberzeugt, dass der Kulturstaat Deutschland auch und ge-rade in der Hauptstadt erkennbar sein muss.Bei der Beantwortung der Frage, wofür diese Haupt-stadtförderung stattfindet, müssen wir in aller Ruhe, aberauch sorgfältig darüber nachdenken, welche Adressatendenn geeignet sind und richtiger- und notwendigerweiseeine solche Kulturförderung bekommen sollten.Bei der Beantwortung der Frage nach dem „Wie viel?“,also nach der richtigen Dotierung, werden wir uns sofortmindestens darauf verständigen können, dass, gemessenan den begründeten Ansprüchen, immer zu wenig zur Ver-fügung steht.
Weil dies aber so ist, will ich auch hinzufügen, dass esdurchaus begründete Zweifel daran gibt, ob in der Ver-gangenheit alle Bundesmittel immer genau da angekom-men sind, wo sie Kunst und Kultur in der Hauptstadt för-dern sollten.Haushaltsrechtlich wie kulturpolitisch reicht es nichtaus, den Nachweis zu führen, dass die Fördermittel desBundes in Berlin restlos ausgegeben worden sind. Einbisschen mehr würden wir nicht nur gerne wissen, son-dern vor allen Dingen sichergestellt haben. Wir brauchenTransparenz und Plausibilität, nicht nur im Verhältnis desBundes zu Berlin, sondern auch im Verhältnis zu den an-deren Ländern und zu den kulturpolitisch engagiertenKommunen, die wir in Deutschland Gott sei Dank haben.Für die Union ist eine überzeugende Hauptstadtkultur-förderung wie übrigens auch eine Fortführung der Förde-rung für die Bundesstadt Bonn unverzichtbar. Indem ichdas eine wie das andere anspreche, mache ich zugleichdeutlich: Für uns kommt eine Reduzierung der Kulturför-derung des Bundes auf Hauptstadtförderung selbstver-ständlich nicht in Betracht. Wir sind uns darüber einig,dass die Kriterien einer solchen Förderung sein müssen:die künstlerische und kulturpolitische Bedeutung und dienationale und internationale Relevanz. Glücklicherweisegibt es nicht nur in Berlin Kultureinrichtungen von natio-naler und internationaler Bedeutung. Und nebenbei: Nichtjede Berliner Kulturinstitution hat nationale und interna-tionale Bedeutung.
Das Selbstbewusstsein der Berliner Intendanten hat zwei-fellos Weltniveau, der Leistungsstand der von ihnen ge-führten Opernhäuser und Theater nicht immer. Die Eitel-keit der Betroffenen kann aber nicht Förderkriterium sein.Die letzte Runde der öffentlichen Diskussion, die sichja auch in vielen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschrif-ten, die sich erfreulicherweise an dieser Diskussion betei-ligen, niedergeschlagen hat, hat bei mir gelegentlich denEindruck erzeugt, als sei Berlin die Übernahme jeder Ein-richtung durch den Bund recht, wenn der Bund nur derenKosten übernimmt, während umgekehrt der Bund solcheBerliner Kultureinrichtungen für besonders geeignet fürdie Bundesförderung hält, bei denen viel Glanz und we-nig Ärger zu erwarten ist. Ich will ganz deutlich sagen:Beides genügt den Ansprüchen an ein überzeugendes
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Dr. Norbert Lammert9618
Förderkonzept nicht. Eine Spur anspruchsvoller darf esschon sein.Wir, die CDU/CSU, sind aufgeschlossen für die beab-sichtigte Änderung der Fördersystematik. Es gibt in derTat gute Gründe für die institutionelle Förderung anstelleder bisherigen Töpfchenwirtschaft. Dagegen ist die bishervorliegende Liste dringend diskussionsbedürftig.Ich halte es beispielsweise für ausgeschlossen, dass beiden Berliner Festspielen mit der Nachfolge eines unge-wöhnlich verdienstvollen Intendanten, der hoffentlich ei-nen ähnlich überzeugenden Nachfolger findet, alles sobleibt wie bisher und man im Übrigen tut, als habe sichdie Geschäftsgrundlage nicht wirklich fundamental ver-ändert.Ich halte es für dringend diskussionsbedürftig, ob eswirklich plausibel ist, dass der Bund in die Förderung desJüdischen Museums – das als Berliner Stadtmuseum ge-plant war – institutionell einsteigt, während er für die„Topographie des Terrors“ eine ähnliche Verantwortungablehnt. Wenn überhaupt, wäre die umgekehrte Entschei-dung allemal eher plausibel.
Aus unserer Sicht ist der Zusammenhang zu wahren bzw.herzustellen zwischen der Dokumentation des jüdischenLebens in Deutschland und in Berlin, der „Topographiedes Terrors“ als der „nationalen Endlösung der Ju-denfrage“ und dem Holocaust-Museum, also dem Mahn-mal für die ermordeten Juden Europas, wobei diese dreiEinrichtungen im Übrigen, wie es ein guter Zufall fügt,auch städtebaulich auf einer Achse liegen.Was das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt bzw. dieBerliner Philharmoniker angeht, so ist es nicht plausi-bel, dass sich der Bund massiv direkt und indirekt in dieFörderung der Berliner Orchesterszene einschalten will,aber jegliche Verantwortung für Musiktheater wieSprechtheater kategorisch ablehnt. Da ist das Interesse amGlanz und dem Vermeiden von Risiken offenkundig aus-geprägter als die Konsistenz eines nur schwer erkennba-ren Konzeptes.Aus unserer Sicht, meine Damen und Herren, liegenvier Säulen einer Hauptstadtkulturförderung nahe, überdie wir in den nächsten Wochen weiter sprechen wollen:erstens – das versteht sich fast von selbst – nationale Ge-denkstätten und zweitens die Stiftung Preußischer Kultur-besitz. Letztere ist als Institution Gott sei Dank unstreitig,wenngleich ich ein Nachdenken darüber nicht nur für er-laubt, sondern für überfällig halte, ob nicht eine Neuord-nung der Bund-Länder-Beteiligung bei der StiftungPreußischer Kulturbesitz auch eine überzeugendere Do-kumentation unseres Verständnisses von nationalem Erbeund der Pflege und Förderung von Kunst und Kultur inDeutschland unter den Bedingungen des Kulturfördera-lismus sein könnte.
– Ein großes Thema, Herr Tauss, das uns sicher gemein-sam beschäftigen wird.Wir müssen als dritte Säule solche Solitärinstitutionenfördern, die es in Berlin, aber anderswo nicht gibt und diesich schon deswegen zur Förderung anbieten. Schließlichbrauchen wir ganz gewiss einen Hauptstadtkulturfonds,der neben Institutionen herausragende Projekte fördernkann und der anders aussehen muss, als das beim bisheri-gen Hauptstadtkulturfonds der Fall war.Meine Damen und Herren, wir begleiten die Verhand-lungen zwischen Bundesregierung und Berliner Senat mitkritischer Sympathie. Wir werden allerdings darauf ach-ten, dass am Ende ein Ergebnis erzielt wird, das nicht nurden Haushaltserfordernissen des Jahres 2001, sondernauch den genannten Ansprüchen an eine Haupt-stadtkulturförderung, die diesen Namen wirklich ver-dient, gerecht wird.
Für die
Bundesregierung hat Staatsminister Dr. Michael
Naumann das Wort.
D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Esist keineswegs gespenstisch, sondern wirklich der Sachegeschuldet, dass ich jedes Mal, wenn HerrLammert spricht, das Gefühl habe, dass er Recht hat. Wirmögen uns über einige Dinge streiten, aber er hat Recht.Wird das aber auch von Ihren Parteifreunden in dieserStadt gehört? Wir werden es gleich vernehmen. Aller-dings ist es kein Parteifreund, der das Wort ergreifen wird,sondern ein unabhängiger, kulturpolitisch engagierterKopf.Gestern durften Christoph Stölzl, der neue BerlinerKultursenator, und ich dem Kulturausschuss des Deut-schen Bundestages unsere verschiedenen Ansichten überdie zukünftige Kulturförderung der Hauptstadt Berlindurch den Bund vortragen. Das Ziel der Veranstaltung –so durfte ich der Vorausberichterstattung entnehmen – seies, Harmonie und Einvernehmen, also jene Form desGlücks zwischen Bund und Land herzustellen, die nichtunbedingt das Merkmal der bisherigen öffentlichen kul-turpolitischen Diskussion war.Trotz der angestrengten therapeutischen Bemühungender Vorsitzenden des Kulturausschusses, die allerdingsam Ende der Sitzung unter gewisse Redaktionsschluss-terminzwänge zu geraten schien – man kennt das aus denWoody-Allen-Filmen, bei denen der Therapeut immer öf-ter auf die Uhr schaut, während der Patient auf der Couchgerne weiterreden möchte –,
ließ sich der harmonische Dauerton, der ihr vorgeschwebthaben mag, beim genauen Hinhören nicht vernehmen.
Was Wunder? Die Fragmente der Berliner Kultur-haushaltspolitik fügen sich nicht automatisch zu einem
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Dr. Norbert Lammert9619
hübschen Bild zusammen, nur weil man eine Pressekon-ferenz anberaumt hat. Die Verhältnisse sind anders. Siesind – so der von mir sehr geschätzte Kollege Stölzl ausbayerisch-liberaler Perspektive – preußischen Ursprungs.Doch wer Preußens Geschichte und die Geschichte seinesHerrscherhauses kennt und schätzt, wird neben allerleiaufgeklärtem Absolutismus, großer ethischer, architekto-nischer, rechtsphilosophischer und ästhetischer Anstren-gungen im politischen Raum und ihrer hegelianischenÜberhöhungen in der Idee des sich selbst als Vollendungder Geschichte wissenden Staates einige ausgeprägteSpuren von Wahnsinn entdecken. Auch diese Spuren sindnicht völlig getilgt.In Christoph Stölzls Darlegungen war viel von preußi-schem Erbe und davon die Rede, dass dieses reiche, aberauch teure kulturelle Vermächtnis der Stadt Berlin von na-tionaler Bedeutung sei. Wer will das bestreiten, HerrLammert? Doch selbst dann, wenn wir dem Rat der Aus-schussvorsitzenden folgend auf eine juristische Definitiondessen stoßen sollten, was nationale Bedeutung in derKultur heißen mag – wir sind also wieder bei Hegel, derübrigens nicht weit von hier seine Vorlesungen hielt undvon dem die wenigsten wissen, dass er dabei sehr vielSchnupftabak genoss, der mit etwa 20 Prozent Cannabisversetzt war –, wüssten wir nicht, was diese nationale Be-deutung den deutschen Steuerzahler in den nächsten Jah-ren kosten darf, geschweige denn in 50 Jahren.
– Das ist ein Schwabe.Ein in und um Berlin herum, aber sonst nicht bekann-ter Lokalpolitiker hat kürzlich wieder dargelegt, dass ersich ungern von „Bundesschlaumeiern“ in die unterfinan-zierte Kulturpolitik seiner Stadt hineinreden lasse, zumaldann nicht, wenn der Bund – so sagt er – lediglich100 Millionen DM per annum zur Verfügung stelle. Ichfinde, das ist ganz schön viel Geld.
Einige Berliner Abgeordnete mögen das auch so sehen.Aber – Herr Lammert hat das gerade richtig erklärt – dieFakten sind ganz anders: Der Bund überweist in diesemJahr 474 Millionen DM in die Haushalte von BerlinerKulturinstitutionen.
Mit den Worten des erstaunten Herrn Lammert währendder Kulturausschusssitzung ausgedrückt heißt das: eineschlappe halbe Milliarde Mark. Das sind übrigens126 Millionen DM mehr als im Jahr 1998.
In der Zunahme der Berliner Kulturförderung manifes-tiert sich auch die kulturpolitische Verantwortung dieserRegierung gegenüber der Hauptstadt. Es wäre angesichtsseiner darbenden kulturellen Institutionen nur schön zubeobachten, wenn – bei allen Vorbehalten, die Sie, HerrLammert, gemacht haben – ein ähnliches zunehmendes fi-nanzielles Verantwortungsgefühl des Berliner Senats zuspüren wäre.Tatsächlich hat Berlin ein großes Erbe aus preußischerZeit angetreten, dessen Pflege nicht allein dem Land auf-erlegt werden kann. Der Bund hat dem längst Rechnunggetragen. Er finanziert den größten Komplex in der kultu-rellen Landschaft dieser Stadt, die Stiftung PreußischerKulturbesitz, zu 75 Prozent. Wir helfen Berlin bei der Er-füllung seiner Verpflichtungen auch dadurch, dass wir unsbereit erklärt haben, die in Brüssel zu akquirierendenEFRE-Mittel in Höhe von 25 Millionen DM als genuinenAnteil Berlins an der Stiftung Preußischer Kulturbesitzanzuerkennen. Das ist etwas, das – da bin ich bei allerhaushaltspolitischen Vorsicht ganz sicher – der Vorgängervon Hans Eichel nicht gemacht hätte.
– Genau, aber gehen wir noch einen Schritt weiter zurück:Da haben wir beide Recht.Auch bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärtenist der Bund der größte Geldgeber. Dem muss freilichauch die Bereitschaft Berlins entsprechen, seinen eigenenVerpflichtungen in gemeinsam getragenen Institutionenverlässlich nachzukommen.Es gibt in Berlin aber über diejenigen Preußens hinausnoch weitere Erbschaften, vor allem diejenigen, die unsdie DDR hinterlassen hat. Vor zehn Jahren sind hier zweiHauptstädte verschmolzen. Einen Masterplan über diezukünftige finanzielle Ausstattung, eine Art kulturpoliti-sche Architektur, in der haushaltspolitische Stabilität, pro-grammatische Abstimmungen oder gar institutionelleVerschmelzungen zum planerischen Vorteil aller Beteilig-ten vorgelegt worden wären, hat es nicht gegeben. Dengab und gibt es nicht.Die Vorgängerin von Christoph Stölzl, Frau ChristaThoben, warf einen kurzen Blick in die Kulturverwaltung –oder besser: in die Abgründe der Kulturverwaltung – die-ser Hauptstadt und wandte sich mit Grausen ab. ChristophStölzl hat die Rolle des Sisyphus übernommen. Und dochsollen wir uns vorstellen, dass er ein glücklicher Menschsei. Im nächsten Haushaltsjahr fehlen ihm 29 MillionenDM. Das steht fest.Dass in der Zwischenzeit die Verhandlungen des Bun-des mit der Stadt Berlin ein wenig ins Stocken geratensind, wird er uns nicht anlasten wollen. Der Stein, den ernach oben wuchten sollte, ist nach Frau Thobens Abgang –und nicht durch unser Verschulden – wieder in die Tal-sohle der Berliner Haushaltspolitik zurückgerollt. Packenwir es also noch einmal an.
Meinen Vorschlag, eine noch genau zu verabredendeZahl von Berliner Institutionen vollständig in Bundes-finanzierung zu übernehmen, möchte ich so verstandenwissen: Wir sind bereit, die Hauptlast der Finanzierung
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dieser Institutionen zu tragen, eben weil wir ihre überre-gionale Bedeutung anerkennen, so zum Beispiel das Jüdi-sche Museum, das geplant und gebaut wurde, an dessenBetriebskosten man aber einfach nicht gedacht hat – manhat übrigens dieses riesige Haus unter der Bedingung ge-baut, dass 300 Menschen pro Tag kämen, also die Klima-anlage und übrigens auch die sanitären Anlagen verges-sen, was zu Nachbesserungskosten mal eben in Höhe von9 Millionen DM führte –, die Festspiele, den Gropiusbau,das Haus der Kulturen der Welt.Auch das Berliner Philharmonische Orchester, ein be-sonderer Glanzpunkt der Hauptstadtkultur, aber mit ei-nem jährlichen Zuschussbedarf in Höhe von 24 MillionenDM auch ein besonders teurer Glanzpunkt, könnte unterbundesfinanzierter Obhut weiter musizieren. Dem Orche-stervorstand und dem designierten Dirigenten Sir SimonRattle wäre das nur recht. Ebenso wenig wie die Landes-regierung würde sich der Bund anmaßen, den Künstlerndie Noten aufs Pult zu legen. Art. 5 des Grundgesetzes giltunabhängig von Haushalts- und Kulturhoheitsfragen.Um Christoph Stölzl zu zitieren: „Das Orchester musi-ziert ja weiter in Berlin“ – wie auch die Museumsinsel imHerzen dieser Stadt erneuert wird und die Festspiele, umdie es auch geht, die Berliner Festspiele bleiben werden.Der Bund ist bereit, die Hauptstadt bei der Wahrneh-mung ihrer kulturellen repräsentativen Pflichten zu unter-stützen. Aber was in der Kultur repräsentativ ist, bestim-men in letzter Instanz nicht die Haushaltspolitiker, son-dern die Autoren und Künstler, die Komponisten undRegisseure, die Intendanten.
In ihrer Arbeit spiegelt sich nicht nur die Selbstinterpreta-tion unserer Gesellschaft wider, ihre Fantasie, auch ihrTrostbedarf, ihre Innovationskraft, sondern auch die Auf-forderung zur Toleranz. Sie benötigt ein politisches Klimader Zuneigung, nicht ein Klima der verbissen geleistetenSubventionen.Politiker haben in Berlins Theatern, obwohl man dasmanchmal zu glauben scheint, kein Hausverbot, selbstwenn sie wie der Regierende Bürgermeister der Meinungsind, man müsse endlich damit aufhören, „abgetanzte undabgelatschte Künstler durchzufüttern“.
Derlei Sprache aus dem Bauch der Kulturfeindlichkeitrichtet sich selbst.
Berlins größte Schätze sind die Museen, die Univer-sitäten, der freie Geist der Forschung und der Künste. Sie,nicht die Politik als solche, sind das Signum einer Haupt-stadt. Sie bedürfen der kontinuierlichen Pflege aller, diesich für das politische Klima des Landes verantwortlichfühlen. Sich dabei einerseits auf den Bund zu verlassenund andererseits gleichzeitig mit dem Lokalpatriotismusvon Kuhschnappel allerlei parteipolitische Büffelpossenaufzuführen, verträgt sich nicht mit dem Auftrag, Bun-deshauptstadt zu sein.
Kürzlich ist hier in Berlin eine Finanzsenatorin ausge-schieden, die sich der Politik der kontinuierlichen haus-haltspolitischen Schildastreiche widersetzt hatte. Als sieihren ersten Sanierungsplan vorlegte, fuhr ihr ein hierzu-lande, aber sonst nicht weiter bekannter Politiker in dieParade. Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“ – nichtwiderlegt –:Was soll der ganze Unsinn, was sollen wir hier müh-sam konsolidieren? Wenn die Arbeitslosen erst aufden Stufen des Reichstages liegen, wird der Bund unsdie Milliarden schon rüberkippen.So ging das zu in Berlin. Aber so geht es nicht weiter.Wenn rechtzeitig Geld in die maroden Theaterbautenim Ostteil der Stadt investiert worden wäre, dann sähe dieSituation heute anders aus. Ich wiederhole: Ein struktur-erhaltendes Konzept für die Kultur hätte Berlin bereits inden glücklichen Stunden der Wiedervereinigung vor ei-nem Jahrzehnt gut getan. Und das betrifft beide Parteien,die hier regieren.Nun stehen wir vor den bröckelnden Fassaden und derveralteten Bühnentechnik und nur noch Notmaßnahmenkönnen so manches kulturelle Erbstück vor dem endgül-tigen Verfall retten. Das Einzige, was in Berlin immernoch wie geschmiert funktioniert, sind die Drehbühnender Berliner classe politique.Der Antrag der CDU/CSU wird in die Ausschüsseüberwiesen werden. Zum Teil haben wir die dort aufge-führten Forderungen erfüllt, ich habe es eben erläutert.Über anderes kann man sehr gut streiten.Wir sind hier nicht auf der Titanic. Die Berliner Kulturwird nicht untergehen, aber – um im Bilde zu bleiben –wir können auch keine Kollisionen mit Eisbergen gebrau-chen, deren Tücke, wie man weiß, darin besteht, dass siezu sechs Siebteln unter der Wasseroberfläche verborgensind.Christoph Stölzl, so höre ich, nimmt die Akten seinerBehörde mit ins Bett, wo sie ihm den Schlaf rauben. Dasser gleichwohl immer noch der aufgeweckte, offene Kul-turpolitiker bleibt, als der er auch mir bekannt und von mirgeschätzt ist, bleibt meine ehrliche Hoffnung. Ich wün-sche ihm die Autonomie, die ein Kennzeichen des kriti-schen Geistes ist.Parteipolitische Solidarität in der Auseinandersetzungmit den Herren des Berliner Haushalts ist ein Tugend,aber sie greift erst dann, wenn er selbst die Solidarität je-ner erfahren hat, die ihn berufen haben. In der Zwi-schenzeit will ich gerne mit ihm die Sorge tragen und tei-len, dass Berlins Kultur in geistiger und finanzieller Un-abhängigkeit das leisten kann, was ihre Aufgabe ist:Ausgänge zu öffnen aus der öden Welt des Alltags undauch aus der öden Welt der Finanzierungsdebatten in dieWelt der Künste, die immer noch der Ursprung von
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gesellschaftlichem Glück sein kann, wenn man es nur su-chen will.Aber ich möchte mir Christoph Stölzl weiterhin alsglücklichen Menschen vorstellen, wenn auch als Sisy-phus.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Alsnächste Rednerin hat Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
legen! Herr Lammert, Ihr Antrag ist mir und, ich glaube,auch anderen Kolleginnen und Kollegen sehr sympa-thisch. Ich empfinde ihn in gewissem Sinne als eine ArtLobantrag für unsere Koalition und insbesondere fürStaatsminister Naumann.
Ich möchte Ihnen drei Aspekte nennen, wo mir der An-trag besonders nahe ist. Der erste Aspekt ist: Der Antragstellt dar, was Rot-Grün Schritt für Schritt inhaltlich undkonzeptionell längst erarbeitet. Wir haben es eben gehört.Der zweite Aspekt – und das ist sehr wichtig – ist: Kul-tur braucht ein besonders hohes Maß an politischem Kon-sens. Ihr Antrag zeigt, dass in unserem Hause die Bereit-schaft dazu besteht. Das finde ich sehr gut. Ich habe denEindruck, dass Koalition und Opposition auf Bundes-ebene hinsichtlich der Politikkultur, die gerade für dieKulturförderung notwendig ist, deutlich weiter sind als inder Beziehung zwischen Bund und Berlin. Wir haben eseben schon von mehreren Seiten gehört. Ich kann das nurbestätigen. Hier hapert es insbesondere von Berliner Seitemächtig.Der dritte Aspekt ist: Es ist wichtig, dass wir uns aufein gemeinsames Leitbild verständigen. Ich habe IhrenAntrag und all das, was Minister Naumann bisher getanund gesagt hat, so verstanden, dass wir gemeinsam dasZiel haben, Berlin als neu belebte Hauptstadt mit einer be-sonderen kulturellen Ausstrahlung zu erhalten, zu gewin-nen und weiterzuentwickeln. Das ist eine Aufgabe, dieüber das bisherige Denken in der föderalen Kulturhoheitein deutliches Stück hinausgeht. Offenbar sind aber allebereit, diese Besonderheit positiv zu transportieren. Dasist sehr wichtig.Ich möchte noch einen vierten Punkt erwähnen, weil ersonst heute nicht erwähnt wird. Ich finde das, was Sie alsHinweis in Richtung Engagement für Bonn gesagt haben,richtig und wichtig. Ich möchte nicht, dass es in Berlin soist, wie es in Bonn teilweise war. Man denkt immer, derandere Ort ist so unendlich weit weg, sodass man sich da-rüber keine Gedanken mehr machen müsste. Das solltenwir nicht vergessen.Es ist schon gesagt worden, wie reichhaltig das Berli-ner Kulturangebot ist. Ich möchte noch einmal einigeStichpunkte, die gleichzeitig politische Stichpunkte sind,nennen: Der preußische Kulturbesitz, das reiche Erbe derbeiden konkurrierenden Teile Berlins – Hauptstadt derDDR auf der einen Seite und Schaufenster des Westensauf der anderen Seite –, die besonderen Gedenkstätten,mit denen wir die Erinnerung an den Faschismus wachhalten wollen, und die Mahnung an die Verantwortung,die daraus für uns und folgende Generationen folgt, danndie Orte und Gedenkstätten, die diese Stadt als Vorpostendes Stalinismus und des real existierenden Sozialismusgeerbt hat – wir müssen darüber sehr ernst nachdenken,wie sie in der Pflege stabilisiert werden können – und last,not least – zunächst alles sehr widersprüchlich und un-vermittelt nebeneinander stehend – der vielfältige, krea-tive Gärteich, der als Nahtstelle zwischen Ost und Westteils vor der Wende, aber auch nach der Wende recht üp-pig gediehen ist, von dem wir alle kulturell zehren, auchdie klassische Kultur der berühmten Leuchttürme.
Mein Eindruck ist, dass das Land Berlin politisch nochnicht begriffen hat, dass es mit der Hauptstadtwerdungeine Doppelfunktion übernommen hat, dass Berlin ei-nerseits als Stadt, aber in Zukunft gleichzeitig als Haupt-stadt auch der gesamten Nation verpflichtet ist. DieseDoppelfunktion wird bisher von Berliner Seite mit einemverklemmten Misstrauen behandelt, während es sehrwichtig ist, dass sie konstruktiv und partnerschaftlich de-finiert wird. Das ist die Voraussetzung dafür, dass das bis-herige Spiel „Gebt uns Geld und mischt euch nicht ein“endlich durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeitbeendet wird.
Ich glaube, dass von allen Seiten des Bundestages, aberauch vonseiten der Regierung das Angebot zu einem kon-struktiven Dialog besteht. Ich muss aber sagen: Bevor wirdas stabilisieren können, muss man das Land Berlin deut-lich kritisieren. Meiner Meinung nach ist Berlin bisherschlicht nicht hauptstadtfähig, weil es nicht bereit ist, aufdiese Doppelfunktion, die ich versucht habe zu skizzieren –sie soll letztlich zur Symbiose werden, wenn wir das Bei-spiel anderer Hauptstädte und Metropolen nehmen – po-sitiv zuzugehen.Ich muss mich schon wundern, wie stümperhaft undmit welcher Ignoranz die Regierung des Landes Berlinnicht nur zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode, son-dern auch in den letzten fünf Jahren gearbeitet hat. So-lange wie ich Mitglied des Bundestags bin und miterlebe,wie in Berlin Politik gemacht wird, so lange benehmensich der Regierende Bürgermeister und sein damaligerKultursenator politisch wie ein Elefant im Porzellanladen,insbesondere im Kulturbereich – das finde ich skanda-lös –, leider mit Duldung des Koalitionspartners.Ich halte es für ein zentrales Problem, wenn der Regie-rende Bürgermeister der Metropole Berlin die Übernahmevon persönlicher Verantwortung für politisch bedeutsame
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Gedenkstätten verweigert und sich dieses „Heldenmuts“nicht nur an Zehlendorfer Stammtischen rühmt. Es darfnicht sein, dass in dieser Stadt auf diese Art und Weise einwichtiger Teil unserer politischen und kulturellen Ge-schichte und unseres kulturellen Gedenkens an diese Ge-schichte ignoriert werden.Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen.Die längst überfälligen Reformen in den großen Häusern,um die es bei der Debatte über die Übernahme von Bun-desverantwortung geht, sind seit Jahren verschleppt undverweigert worden.Last, not least: Dem Bund gegenüber tritt man – ichmuss sagen: trat man; jetzt hat sich das schrittweise geän-dert; ich hoffe, dass sich das Verhalten noch weiter ändernwird – bisher nach Gutsherrenart auf, und zwar nach demMotto – ich habe es vorhin schon erwähnt –: Rückt mehrGeld heraus, aber mischt euch nicht ein; es geht euchnichts an, was wir hier machen! Ich halte es auch für ei-nen Skandal, dass eine Abrechnung der bisher gewährtenKulturfördermittel nicht vorgelegt werden kann, weil einheilloses Kuddelmuddel herrscht. So darf es wirklichnicht sein.Frau Thoben – Herr Minister Naumann hat vorhinschon darauf hingewiesen – stand sozusagen zwischenBaum und Borke. Sie sollte auf der einen Seite die Koh-len aus dem Feuer holen, aber auf der anderen Seitegleichzeitig gewährleisten, dass sich nichts Grundlegen-des in Berlin ändert. Ich möchte von dieser Stelle ausChrista Thoben meine Hochachtung und meine volleSympathie dafür aussprechen, dass sie nicht bereit war,das gewünschte Durchlavieren und Vertuschen mitzutra-gen, sondern dass sie stattdessen der persönlichen Glaub-würdigkeit den Vorrang gegeben hat. Ich finde, dies warein sehr honoriger Schritt von Christa Thoben.
Ich wünsche Ihnen, Herr Stölzl, dass Sie den Weg unddie Kraft finden werden, um die unabdingbar notwendi-gen und sicherlich auch schmerzhaften Reformschritte –ich weiß nicht, ob ich sagen soll: mit, ohne oder gegen dieRegierung des Landes Berlin, der Sie nun angehören –wenigstens teilweise einzuleiten. Wie das praktisch mög-lich sein soll, weiß ich selber noch nicht. Ich wünscheIhnen vor allem, dass es Ihnen gelingen wird, diemisstrauische Verklemmtheit, die bisher Berlin dem Bundgegenüber immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, ins-besondere auch in der berühmten Sondersitzung, in der esum den Rücktritt von Christa Thoben ging, schrittweiseabzubauen. Die Mitglieder des Bundestages sind sicher-lich bereit, mit Ihnen insoweit zusammenzuarbeiten.
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu unserer Kul-turförderung sagen – ich sehe es ähnlich wie HerrLammert –: Auch ich halte die Grundkonzeption für gut,80 Millionen DM für eine Art – ich verwende dieses Bildebenfalls – Leuchtturmförderung mit klaren Zuständig-keiten und 20 Millionen DM – davon verspreche ich mirsehr viel; ich hoffe, dass ab 2001 auch wirklich 20 Milli-onen DM zur Verfügung stehen werden – für den Haupt-stadtkulturfonds, für innovative und kreative Projekteaufzuwenden. Das ist im Grundsatz eine sehr gute Eintei-lung. Ich wünsche mir allerdings eine nochmalige Dis-kussion über die einzelnen Institutionen.Ich muss gestehen, dass ich selber teilweise hin- undhergerissen bin. Auf der einen Seite finde ich es sehr gut,wenn das Jüdische Museum in die bundespolitischeKompetenz fällt, obwohl ich sehr genau weiß – ich warseinerzeit Baudezernentin in Kreuzberg und habe das Pro-jekt selbst mit auf den Weg gebracht –, dass dieses Mu-seum eigentlich als eine Dependance des Berliner Stadt-museums, also ursprünglich als eine Art Heimatmuseumkreiert war. Ich gestehe: Ich habe selbst dazu beigetragen,dass Berlin dieses Kuckucksei ins Nest gelegt worden ist.Dazu stehe ich auch bis heute. Insofern wünsche ich mir,dass es jetzt durchaus eine Bundesinstitution wird. Auf deranderen Seite geht es mir mit der „Topographie des Ter-rors“ so ähnlich wie Ihnen. Ich glaube, dass das der zen-trale politische Ort ist, der letztlich über Berlin hinausge-hende gesamtdeutsche Verantwortung repräsentiert.Ich halte es für falsch, zwei Konzerthäuser und damitzwei Orchester zu übernehmen. In diesem Punkt muss injedem Fall eine Entscheidung in die eine oder in die an-dere Richtung getroffen werden. Ich will mich im Einzel-nen nicht festlegen; das steht mir auch nicht zu. Ich wün-sche mir schon ein echtes Theater – eigentlich kann es nurdas Deutsche Theater sein – in dem Paket, für das derBund Verantwortung übernimmt.Wahrscheinlich geht es allen so: Die Diskussion bein-haltet ein Stück Spaltung zwischen dem, was man sichwünscht, und dem, was letztlich realisiert werden kann.Last, not least ist es natürlich schon nötig, die Zuständig-keiten so zu definieren, dass zwischen Berlin und demBund auf der Grundlage klarer Vereinbarungen wirklichagiert werden kann.
Frau Kol-
legin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Als Letztes möchte ich nur noch sagen, dass wir an
Berlin sehr klare Anforderungen stellen – ich hoffe, dass
uns das allen gemeinsam so geht –: partnerschaftliches
Zugehen auf den Bund, klare Vereinbarungen über
Zuständigkeiten, Schluss mit der Gießkannenförderung,
klare Reformen und Kosteneinsparungen, klare Mitver-
antwortung bei den Gedenkstätten. So wird von dieser
Seite Schritt für Schritt ein inhaltlich sinnvolles Konzept
über kurz oder lang vereinbart werden können.
Als nächs-tem Redner gebe ich dem Kollegen Dr. Günter Rexrodtvon der F.D.P.-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die Zahl und die Qualität der hiervorhandenen Kulturgüter sowie die Fülle der kulturellenEreignisse in Berlin stellen die Stadt ohne jeden Zweifelin die erste Reihe der Kulturmetropolen in dieser Welt. Dadas so ist, sind die Themen Kulturförderung und Kultur-arbeit in der Tat nicht nur ein regionales Ereignis, sondernauch etwas, womit wir uns zu befassen haben.Bevor ich etwas mehr dazu sage, möchte ich eine Be-merkung zur Qualität der Kulturlandschaft in Berlinmachen. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, diegegenwärtige Schwächephase der Berliner Kultur, dieschon Jahre andauert, in irgendeiner Weise zu kaschieren.Ich schließe mich aber nicht dem gängigen und auch hierimmer wieder durchscheinenden Klischee an, dass dieBerliner ihre Kulturarbeit in den letzten 40 oder 50 Jahrenso schlecht gemacht haben – im Gegenteil.Dass das nicht wahr ist, gilt aus meiner Sicht sogar fürden Ostteil der Stadt. Unter schwierigen und komplizier-ten Umständen sind dort ganz erhebliche und bleibendeKulturleistungen erbracht worden. Was uns überliefertworden ist, ist allerdings eine total verrottete Substanzvieler Einrichtungen, insbesondere der Museen. DieseMängel zu beheben kostet enorm viel Geld. Ich glaube,dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz bei der Zusam-menführung der beiden Teile der Stiftung und auch bei derArbeit an der äußeren Rekonstruktion Hervorragendesgeleistet hat.Ich glaube auch, dass im Westteil der Stadt nach demKriege alles in allem – das hat nichts mit der gegenwärti-gen Schwächephase zu tun – hervorragende Kulturarbeit –im Theater, in der Musik, in der darstellenden Kunst – ge-leistet worden ist. Dasselbe gilt für die Museen in der Off-Szene, die es eigentlich nur in wenigen Städten und an ers-ter Stelle immer in Berlin gegeben hat. Dort ist eine le-bendige Landschaft mit Ausstrahlung entstanden. Dies istim Ostteil und im Westteil natürlich mit viel Geld gesche-hen; das ist auch heute noch so. Insgesamt kann sich dieseStadt und dieses Land Berlin mit seiner Kulturarbeit se-hen lassen.Mit der Wiedervereinigung sind in Berlin enorme Pro-bleme entstanden. Es handelt sich um Probleme in Berei-chen, die die Masse der Menschen unmittelbar angehen:der Arbeitsmarkt, der Sozialbereich, die Infrastruktur derBerliner Haushalte. Ich habe auf diesem Gebiet Erfah-rung; ich selbst war im früheren Westberlin vier Jahre langpolitisch verantwortlich. Der Haushalt war überlastet undes war in vielen Bereichen, auch in der Kultur, nicht mehralles Wünschenswerte finanzierbar.Das hat krisenhafte Entwicklungen mit sich gebracht,auch in der Qualität der Kulturarbeit. Hier ist Kritik amBerliner Senat angebracht und es ist die Frage zu stellen,warum viele Berliner Kultureinrichtungen enorme Perso-nalkörper mit sich herumschleppen, Entlassungen garnicht möglich waren, obwohl keine Arbeit mehr da war.„Betriebsbedingte Kündigungen“ sind hier ein Stichwort,bei dem alles aufschreit. Dabei sind sie in einer ganzenReihe von Einrichtungen, die ich Ihnen auch nennenkönnte, dringend erforderlich.Der Berliner Senat muss sich auch gefallen lassen, dassman ihm die Frage stellt, ob das Geld, das er da ausgibt,sein eigenes und das, das er bekommt – 470Millionen DMvom Bund –, auch wirklich dort angekommen ist, wo esankommen sollte. Da ist vieles in keiner guten Verfassung.Aber, meine Damen und Herren, ich würde es mir zueinfach machen, wenn ich fordern würde, dass der Bundob der tatsächlichen oder mutmaßlichen Schwächen inder Berliner Kultur den Hahn einfach zumacht oder dieFörderung auf Sparflamme stellt. Ich glaube, das wärenicht richtig. Die Neuordnung des Kulturbetriebes mit derWiedervereinigung und die Tatsache, dass Bundesregie-rung, Parlament und Bundesrat hier ansässig sind, bietetungeahnte Möglichkeiten. Wir sollten Berlin nutzen, umden Anspruch Deutschlands als Kulturnation in allerWelt zu vertreten.Wir sollten da im Übrigen nicht zimperlich sein. Dashat überhaupt nichts mit Nationalismus oder gar Chauvi-nismus zu tun und das hat auch gar nichts damit zu tun,dass wir – Herr Naumann und Herr Lammert, Sie habendarüber gesprochen – die Kulturhoheit der Länder infragestellen. Wir sollten froh sein, dass wir eine solcheKulturmetropole in einem Land haben, in dem es Gottsei Dank eine breit gefächerte Kultur in allen Regionengibt. Wir sollten diese Möglichkeiten nutzen.Berlin gibt 760 Millionen DM aus, der Bund zahlt da-von allerdings 300 Millionen DM an die Stiftung, unddann gibt es noch einmal 470 Millionen DM. Das ist einBetrag für einen öffentlich finanzierten Kulturhaushalt,wie wir ihn in keiner anderen Stadt dieser Welt finden. Inkeiner Stadt dieser Welt wird so viel öffentliches Geld zurVerfügung gestellt.Dennoch sage ich: Dieser Betrag darf trotz seiner enor-men Dimension für uns kein Tabu sein. Aber dieser Be-trag kann auch nicht einfach aufgestockt werden, sondernes muss ein Konzept vorgelegt werden und dann müssenwir darüber reden.Ich habe viel Verständnis dafür und unterstütze es, wenngesagt wird, wir müssten einige Einrichtungen unmittelbardem Bund zuordnen. Ich glaube nicht, dass wir das hier imDetail diskutieren können. Die nationalen Gedenkstättensind unstrittig. Es gehören mindestens ein Sprechtheater,eine Oper und auch mindestens ein Orchester dazu.Wenn ich das sage, meine ich nicht, dass Berlin, wasKulturarbeit und Kulturverantwortlichkeit betrifft, aufprovinzielles oder regionales Niveau zurückgeführt wer-den soll. Nein, auch Spitzeneinrichtungen müssen in derVerantwortung vornehmlich Berlins sein. Aber, HerrStölzl, Berlin hat auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dassdie Kulturarbeit in der Breite funktioniert, dass die Off-Szene erhalten bleibt und auch Kiezarbeit stattfindet, dassin der bildenden Kunst etwas nachwächst, junge Leute dasind. Berlin hat ferner dafür zu sorgen, dass die Ausbil-dungseinrichtungen, die es hier in Fülle gibt und die hoheQualität haben, ihr hohes Niveau noch weiter verbessernkönnen.Meine Damen und Herren, als Letztes – der Herr Prä-sident mahnt schon – möchte ich mir noch eines wün-schen: Das ist die Tatsache – wir reden hier über Kultur
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und Kulturförderung –, dass wir ein stärkeres privatesEngagement in der Hauptstadt brauchen. Dafür müssendie Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu bedarfes einer bestimmten Atmosphäre. Das betrifft auch dasStiftungsrecht. Daran arbeiten wir ja, nicht nur Sie. Dashat gar nichts mit Parteipolitik zu tun.Es kommt darauf an, dass das private Engagement ver-stärkt wird. Das steht nicht in Ihrer Tradition, es steht viel-leicht gar nicht so sehr in deutscher Tradition. Es ist den-noch dringend erforderlich.
Nein, die deutsche Tradition ist darauf orientiert, dass sichder Landesherr, der Fürst, der regional Verantwortliche,für die Kultur verantwortlich fühlte.Das ist in staatliche Verantwortlichkeit eingemündet. Datun uns Formen amerikanischer bzw. angelsächsischerKulturarbeit und -verantwortlichkeit sehr wohl. Das hatnichts mit Kapitalismus und mit Knechtschaft des Kapi-tals zu tun, sondern damit, dass wir die breiten Ressour-cen, die wir haben, für Kultur, Kulturförderung und Kul-turengagement nutzen müssen. Das gilt gerade für Berlin.Diesen letzten Aspekt halte ich für enorm wichtig.Danke für die Aufmerksamkeit.
Für die
PDS-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Heinrich Fink das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist Bedeu-tendes hier gesagt worden. Ich bin ganz besonders dank-bar für die Rede von Herrn Staatsminister Naumann. Ichkann sehr vieles davon unterstreichen und habe auch sehrvieles davon in Berlin erlebt.Ich möchte nur kurz unsere Position zusammenfassen:Einer zielgerichteten Diskussion über die Hauptstadt-kulturförderung des Bundes fehlt meiner Meinung nacheine entscheidende Grundlage, nämlich eine auf demo-kratischem Wege entstandene Grundkonzeption für dieEntwicklung der Berliner Kultur in ihrer ganzen Vielfalt.Erst auf einer solchen Grundlage ließen sich die Institu-tionen, Projekte und die Modalitäten ihrer Förderungdurch den Bund sinnvoll festlegen. Deshalb ist, langfris-tig gesehen, die Forderung nach einem solchen Gesamt-konzept auch die Kernforderung der PDS in dieser De-batte.
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU verzichtet lei-der ebenfalls auf eine solche Grundlage. Angesichts dergegebenen Umstände unterstütze ich aber eine Reihe vonForderungen, die ich als kurzfristigen Handlungsauftragan die Bundesregierung verstehe. Dabei bin ich mir darü-ber im Klaren, dass die Antragsteller von der Bundesre-gierung teilweise andere Auskünfte erwarten als wir, zumBeispiel bezüglich der Planungen für das Schloss. Hier er-warten wir zuallererst ein schlüssiges und detailliertesNutzungskonzept für die gesamte Spree-Insel, bevor manüber Gebäude und konkrete architektonische Planungenredet.
Im Ausschuss für Kultur und Medien besteht über Par-teiengrenzen hinweg Konsens darüber, dass der Bundnach der demokratischen Entscheidung für die HauptstadtBerlin in der Pflicht steht, sich an der Finanzierung derBerliner Kultur von gesamtstaatlicher und hauptstädti-scher Bedeutung angemessen zu beteiligen. Die StadtBerlin allein wäre auch mit der Bewahrung undWeiterentwicklung der vielgestaltigen Kultur überfordert.Die PDS würdigt durchaus das bisherige finanzielle En-gagement des Bundes in der Hauptstadt Berlin, ist aberder Auffassung, dass dieses noch nicht ausreicht und inkeinem begründbaren Verhältnis zur Kulturförderungsteht, die die Stadt Bonn bis heute erhält.Angesichts der gegenwärtigen komplizierten Situationin Berlin muss in neuer Weise überdacht werden, welcheWege der Kooperation zwischen Bund, Land Berlin undden anderen Ländern zu beschreiten sind. Dazu ist einkonzeptioneller Vorlauf notwendig. Die gestrige Beratungdes Ausschusses möchte ich als hoffnungsvollen Beginneines konstruktiven Dialogs in Sachen Kulturförderung inBerlin werten. Welche konkreten Institutionen und Pro-jekte gefördert werden, bedarf der Abstimmung und Be-teiligung aller. Ich möchte hier deutlich machen, dass eseine noch bessere Absprache mit den jeweiligen Stadtbe-zirken geben muss.Ich möchte nun auf die Kriterien hinweisen, die nachbisherigem Stand der Diskussion in der PDS der künfti-gen Förderung zugrunde gelegt werden sollten. Nach un-serer Auffassung sind Kulturaufgaben von gesamt-staatlicher Bedeutung jene, die sich aus der deutschenGeschichte ergeben: aus der Trägerschaft für das ErbePreußens, aus den Folgen der faschistischen Diktatur unddes Weltkriegs, aus der deutschen Spaltung und der Ver-einigung Deutschlands. Die sich daraus ergebenden Ver-pflichtungen sind ja im Einigungsvertrag zwischen derBRD und der DDR und in internationalen Abkommenfestgeschrieben.
Das gilt auch für die Verpflichtung zum Erhalt der kultu-rellen Substanz im Ostteil der Stadt. Ich möchte auchsehr dankbar darauf hinweisen, dass im Ostteil der Stadtbisher kein bedeutendes Theater geschlossen wurde.Demnach hat der Bund besondere Verantwortung fürdie Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit der Museums-insel, für die Stätten des Mahnens und Gedenkens an dieOpfer des Faschismus, für die Gedenkstätten, Archiveund Dokumentationszentren aus der DDR-Zeit sowie fürdie sowjetischen Ehrenmale. In Bezug auf die sowjeti-schen Ehrenmale gehen die Meinungen von Land undBund bis heute auseinander. Der Bund hat aber im Zwei-plus-Vier-Vertrag die Verpflichtung dafür übernommen.
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Dr. Günter Rexrodt9625
Für unbedingt notwendig halten wir deshalb die Fort-setzung der Förderung im Rahmen des sogenanntenHauptstadtkulturfonds.Die Vergabe seiner Mittel sollteauch weiterhin durch ein unabhängiges Fachgremium fürdie Förderung des kulturellen und künstlerischen Dialogsin Berlin für besonders innovative Projekte und Experi-mentelles reserviert sein.Sie stimmen mir doch bestimmt zu, dass die kulturelleVielfalt in Berlin
einmalig ist und daher wegen ihrer ganz besonderen Art,gerade hinsichtlich ihrer Breite und – Herr Rexrodt, Siehaben darauf hingewiesen – hinsichtlich der den meistennicht bekannten Off-Szene, besonders zu fördern ist.Es ist schwierig zu unterscheiden: Was ist Hochkulturund was ist nicht Hochkultur? Ich lehne diesen Begriff so-wieso ab. Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie gutund dass sie schön ist. Dazu gehört in Berlin die breiteSzene, die sich den meisten bisher nicht erschließt, –
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– nämlich die Szene, die in
den Hackeschen Höfen stattfindet und die auch zu fördern
wäre.
Vielen Dank.
Als nächs-
tem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Eckhardt
Barthel von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Einige Beiträge haben michveranlasst, meine Schwerpunktsetzung ein bisschen zuverändern. Es gab bei einigen Beiträgen – das sage ichjetzt als Berliner Abgeordneter – für meine Begriffe einbisschen viel Kritik. Außerdem wurde nur ein Teil derBerliner Wirklichkeit betrachtet.Herr Staatsminister, ich habe heute eine Überschrift inder „Berliner Morgenpost“ gelesen, die etwa lautete: Die-ses Thema geht mir langsam auf die Nerven. – Ich fand estoll, wie Sie in Ihrer Rede ihre Gefühlswelt beschriebenhaben. Die Überschrift ist angesichts dessen, was Sie ge-sagt haben, zu verstehen. Ich will aber nicht behaupten,dass etwas Falsches in Ihrer Rede enthalten war. Ichmöchte nur ergänzend hinzufügen – das scheint mir not-wendig zu sein –, dass es noch eine andere Berliner Szenegibt, und zwar die Szene, die wegen oder trotz der Kul-turpolitik in Berlin vorhanden ist.In diesem Zusammenhang sollte man einmal zwei Bei-spiele erwähnen: Die Berliner Theater boomen. Wenn einTheater weniger als 90 Prozent ausgelastet ist, dann sprichtman inzwischen schon von einer geringen Auslastung. DieMuseen haben nicht zuletzt durch den Tourismus, auchdurch den Kulturtourismus, einen Millionenzuwachs an Be-suchern. Das ist ein gutes Zeichen. Mir liegt daran – ichwerde mich noch sehr kritisch mit der Berliner Kulturpoli-tik beschäftigen –, dass man auch die andere Seite der Kul-tur in Berlin betrachtet.
Herr Lammert, was ist eigentlich falsch an Ihrem An-trag?
Die zweite Frage ist: Wozu brauchen wir ihn? Sie be-schreiben in diesem Antrag das, was der Staatsministertut.
Jetzt ist die Frage für mich: Wie interpretiere ich Ihren An-trag? Ich interpretiere ihn so, dass ich sage: Ich sehe darineine Unterstützung für unsere Kulturpolitik.
Das brauchen wir. Ich finde das sehr gut.
Es ist schön, wenn Sie das unterstützen, vor allen Dingenweil sich diese Kulturpolitik ja auch dadurch auszeichnet –im Unterschied zu der vorhergehenden –, dass mehr En-gagement und auch mehr Mittel für die Hauptstadtkulturdamit verbunden sind. Insofern freue ich mich.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Anfangnoch einmal etwas sagen zu den Begriffen in der Diskus-sion um die Hauptstadtkultur, bei denen ich Sorge habe.Ich las neulich in einer Zeitung – um es deutlich zu sagen:keine Berliner Zeitung –, dass es darum gehe, die Kultur-hauptstadt zu fördern. Manchmal sind Begriffe ja sehr ge-fährlich. Ich hoffe, der Journalist wird sich da noch korri-gieren. Das Schöne an der Bundesrepublik ist, dass esnicht eine Kulturhauptstadt gibt, sondern dass wir Kultur-hauptstädte, Kulturmetropolen haben:
München, Frankfurt, Hamburg, Dresden, Leipzig – ichwill es nicht weiter aufzählen. Das ist das Gute. Mir liegtdaran gerade bei der Diskussion über die Hauptstadtkul-turförderung deutlich zu machen, dass sich daran nichtsändern wird und sich daran auch nichts ändern darf.Aber wir benötigen eine Hauptstadt Berlin mit einergroßen kulturellen Ausstrahlung. Das berührt auch Fragender Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Hauptstadt,
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Dr. Heinrich Fink9626
auch Fragen der Identität. Wenn sich Identität über Kulturdefiniert, dann bin ich sehr zufrieden mit dieser Identität.
Diese Aufgabe kann Berlin nicht allein leisten, das ist –das ist zum Glück heute auch mehrfach gesagt worden –eine nationale Aufgabe.Viele – das will ich auch noch als Ergänzung sagen –sind sich der finanziellen Situation der Stadt nicht voll be-wusst. Das ist kein Vorwurf, sondern nur eine Erläuterung.Das berührt nicht nur die Kulturpolitik, aber die eben auch.Zwei bis dato hochsubventionierte Kulturmetropolen –man muss von zwei sprechen, nämlich Ost- und Westber-lin –, deren kulturelle Vielfalt und Qualität es zu erhalten,ja zu erweitern gilt, befinden sich jetzt – ich sage: Gott seiDank – unter einem Dach, aber eben auch unter einem vielzu engen Dach, was die Finanzierung betrifft. Deshalb istHilfe nötig, und diese Hilfe gibt es auch.Ich bin froh über den Beitrag, den die Bundesregierungleistet. 474 Millionen DM stellt sie in diesem Jahr derBerliner Kultur zur Verfügung. Gestatten Sie mir eineFußnote: Ich wäre ein schlechter Berliner Abgeordneter,wenn ich mir nicht auch eine andere Zahl vorstellenkönnte.
Allerdings bin ich mir natürlich auch bewusst, dass dieNotwendigkeit und die Wirksamkeit der Hauptstadtkul-turförderung außerhalb Berlins vermittelt werden muss.Herr Lammert, Sie werden das in NRW machen müssen,Frau Griefahn in Niedersachsen und andere wo auch im-mer. Das gilt übrigens nicht nur für die Hauptstadtkultur-förderung, das gilt natürlich auch für andere Politik-bereiche.Unter diesem Gesichtspunkt und auch unter dem Ge-sichtspunkt der Unterstützungsbereitschaft verstehe ichdie vielen kritischen Blicke vieler Kolleginnen und Kol-legen und auch von Staatsminister Naumann auf die –jetzt gestatten Sie mir einmal, Ross und Reiter zu nennenund nicht immer nur von Berlin zu sprechen – christde-mokratische Kulturpolitik in Berlin – eine Kultur-politik, von der ein ehemaliger christdemokratischer Kul-tursenator in Berlin sagte, dass sie in der Krise sei. Ich be-haupte, das stimmt. Die Situation ist so, wie HerrHassemer sie beschreibt. Nicht die Kultur ist in Berlin inder Krise, sondern die Kulturpolitik ist in der Krise.
Ich erwähne diese kritische Anmerkung – Sie merken,dass ich versuche, Brücken zu bauen – durchaus auch alsvertrauensbildende Maßnahme für die Stadt, um die Be-reitschaft für die Kulturförderung in diesem Hohen Hausezu erhöhen.Der Rücktritt von Frau Thoben war keine Flucht vorVerantwortung, sondern ich glaube, er war die Konse-quenz aus der desolaten Lage, in die die größte Regie-rungspartei in Berlin die Kulturpolitik getrieben hat. DerHerr Staatsminister hat vorhin schon das Wort des Regie-renden Bürgermeisters von abgetanzten und abgelatsch-ten Künstlern zitiert.
Wenn man seine Kulturkompetenz derart präsentiert, darfman sich natürlich nicht wundern, wenn andere fragen:Was habt ihr eigentlich mit Kultur am Hut, wenn der Re-gierende Bürgermeister das sagt?
Ich gestatte mir, hier auch ein Zitat von FraktionschefLandowsky zu bringen, der – das finde ich besonders be-merkenswert – unter Beifall seiner Fraktion im BerlinerAbgeordnetenhaus sagte, dass „jeder Bundespolitiker, derfrüher nichts zu sagen hatte, weil es keine Kulturpolitikund -kompetenzen gegeben hat, sich nun als Oberkultur-guru hier in Berlin aufspielt“. Das sind keine Vertrauen er-weckenden Maßnahmen. Solche Aussagen schaden derStadt.
Auch zu den „Bundesschlaumeier“-Vorwürfen gegen
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn das im Inte-resse der Stadt geschehen soll, dann weiß ich nicht, wo dieLeute das Interesse der Stadt sehen.Die „Süddeutsche Zeitung“ hat dieses Verhalten mei-nes Erachtens gut dargestellt. Sie hat es „in Kulturfragenaggressives Desinteresse nach Gutsherrenart“ genannt.Besser kann man das, glaube ich, nicht ausdrücken.Berlin hat es nicht nötig, als demütiger Bittsteller auf-zutreten. Ich glaube auch – das ist bestätigt worden –, dasses ein Recht darauf hat, dass die Hauptstadtkultur geför-dert wird. Aber man sollte vielleicht lieber nicht in dieHand beißen, aus der man Gelder haben möchte. Dasdient bestimmt weder der Stadt noch der Kultur der Stadt.Herr Stölzl, ich will Ihnen an dieser Stelle noch einmalalles Gute für Ihre schwere Arbeit wünschen. Aber Siewerden noch eine Menge Bewusstseinsarbeit bei denenleisten müssen, die Sie inthronisiert haben. Das wird eineschwierige Aufgabe werden.
Ich hoffe auch, dass wir – ich glaube, wir sind da beiuns schon ziemlich weit – wegkommen von der Konfron-tation und hinkommen zum Dialog. Er wird nicht ohneKonflikte sein; das geht nicht anders. Es ist ja nicht so,dass ein Haushalt voll und der andere leer ist, sondern wirhaben bei beiden Probleme. Aber ich glaube, dass es mitStaatsminister Naumann und Senator Stölzl zum Dialogkommt, weil Herr Naumann um die Verantwortung desBundes für die Hauptstadtkultur weiß und entsprechendhandelt. Herr Stölzl weiß sicher auch – nun zitiere ich ein-mal, Herr Lammert, aus Ihrem Antrag –, dass die „Betei-ligung des Bundes an der Finanzierung der Berliner Kul-tur/-szene ... die überfällige Lösung struktureller Pro-bleme nicht ersetzen“ kann. Ich glaube, der neue
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Eckhardt Barthel
9627
Kultursenator weiß das. So wird es auch einfacher, dasumzusetzen.Ich bin froh über das Konzept, das der Staatsministerfür die Hauptstadtkulturförderung auf den Tisch gelegthat.
Ich finde es richtig, dass anstatt pauschaler Überweisun-gen oder Beteiligungen einige Kulturinstitute voll über-nommen werden, und zwar aus mehreren Gründen. Ers-tens wird es dadurch eine klarere Verantwortungszu-ordnung – das finde ich immer wichtig – und zweitenseine größere Transparenz, geben, etwa hinsichtlich derFrage: Wo fließen die Mittel hin? Schon aus diesen beidenGründen finde ich das sehr gut. Wie ich gehört habe, wirddas Land Berlin bei diesen Institutionen durchaus Mit-spracherechte haben. Das finde ich in Ordnung.Was ich an dem vorliegenden Konzept ebenfalls sehrin Ordnung finde, ist der Hauptstadtkulturfonds, denn da-hinter steckt der Gedanke – ich hoffe, es läuft so, wie esgeplant ist –, dass es neben der Förderung der großenInstitutionen auch freie, innovative Kulturprojekte ge-ben wird, die gefördert werden. Das halte ich für wichtig.Wir brauchen nicht nur diese Leuchttürme – ich kann die-ses Wort eigentlich nicht ertragen –, sondern wir brauchenauch Innovatives, das Chancen bietet.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Lassen Sie mich
mit Folgendem abschließen: Berlin braucht die Unterstüt-
zung des Bundes. Aber die Bundesrepublik Deutschland
braucht auch eine Hauptstadt mit großer kultureller
Ausstrahlung. Da darüber Konsens zu bestehen scheint
und die Kultur des Bundes jetzt in guten Händen ist, bin
ich optimistisch, obwohl ich weiß, wie schwer die Auf-
gabe ist.
Ich bedanke mich.
Als
nächster Redner hat der Kollege Steffen Kampeter von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine parlamen-tarische Debatte über die Hauptstadtkultur und dieRolle des Bundes ist notwendig und überfällig. DieCDU/CSU hat sie angestoßen. Vielleicht wird es uns auchgelingen, die parlamentarische Geschäftsführung dem-nächst davon zu überzeugen, dass Kulturdebatten keineMitternachtsveranstaltungen, sondern von tagespoliti-schem Interesse sind und dass sie in diesem Hause aucheinmal bei Sonnenschein stattfinden sollten. Eine nächsteMöglichkeit würde sich im Übrigen im Rahmen der kom-menden Haushaltsdebatte bieten. Der Kulturetat hat jabisher in diesen Debatten eine untergeordnete Rolle ge-spielt. Ich rege an, zwischen den Fraktionen eine ent-sprechende konsensuale Vereinbarung zu finden, damitwir als „Kulturmenschen“ nicht immer ins Hintertreffengeraten.
Mit der durch den Umzug von Legislative und Exeku-tive gewachsenen Verantwortung des Bundes für dieHauptstadtkultur musste endlich die Exekutierung derHauptstadtkulturförderung beendet werden. Es war ja einärgerlicher Vorgang, dass in den parlamentarischen Gre-mien das, was Beamte vorher schon längst verabschiedethatten, nur noch nachträglich abgesegnet worden ist. Vordiesem Hintergrund macht die ParlamentarisierungSinn. Wir wollten dieses Verfahren nicht fortsetzen. AlsFraktion bekennen wir uns zu der Verantwortung desBundes für die kulturelle Rolle Berlins als Bundeshaupt-stadt und halten dies nicht für lediglich schmückendesBeiwerk des Sitzlandes.Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig hat vorhin die Be-hauptung aufgestellt, unser Antrag sei als Lob für denKulturstaatsminister zu verstehen. Dieser Einschätzungmöchte ich widersprechen. Für das Lob für den Kultur-staatsminister ist in der Regel Michael Naumann selbstzuständig. Er lässt sich in dieser Tätigkeit von keinemüberbieten, schon gar nicht von der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion.
Die Diskussion über die Hauptstadtkultur sollte aller-dings auch den Kulturföderalismus fest im Blick behal-ten. Die Länder werden das Engagement des Bundesumso mehr akzeptieren, je mehr von ihm kulturelle Viel-falt gefordert und gefördert wird. Deswegen wäre es gut,wenn, statt in der Bundeskulturpolitik auf mehr Zentra-lität zu setzen, von dieser Debatte das Signal ausginge,dass der Bund zu seiner kulturellen Verantwortung auchin anderen Bereichen steht. Es wäre beispielsweise gut,wenn der leibhaftige Staatsminister seinen Kleinkrieg ge-genüber den Bayreuther Festspielen beenden und diesesnationale Musikereignis mit Weltrang außer Streit stellenwürde. Es wäre gut, wenn er die kleinlichen Kürzungs-maßnahmen im Hinblick auf das Deutsche Museum inMünchen und andernorts zurücknähme. Es wäre ebenfallsein gutes Signal, wenn der Versuch beendet würde, dieFörderung der Vertriebenenkultur zu beerdigen.
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Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt nachdrück-lich die Überlegungen des Bundes, Teile der Hauptstadtkul-tur, der Kultur in der Hauptstadt, auch institutionell, dasheißt hundertprozentig, zu fördern. Haushaltswahrheit undHaushaltsklarheit waren in der Vergangenheit nicht umfas-send gewährleistet. Beispielhaft sei nur auf die Versuche derFinanzsenatorin Fugmann-Heesing hingewiesen, Bundes-kulturmittel für andere Zwecke umzuwidmen.Wir erwarten allerdings von Ihnen, Herr Naumann, imRahmen Ihrer haushaltsrechtlichen Absicherung eine ent-sprechende Vorarbeit. Die hundertprozentige dauerhafteFörderung einzelner Einrichtungen muss im Haushaltumfassend dargestellt werden. Das von den Kollegen derRegierungsfraktionen dargestellte Verfahren einer Pau-schalzuweisung reicht nicht mehr aus. Dies erfordern dieHaushaltsgrundsätze.Ich rechne daher mit einem raschen Abschluss der Ver-handlungen mit dem Land Berlin. Denn Mitte dieses Jah-res muss ein Haushaltsentwurf vorliegen. Dann müssenalle Haushaltspositionen fixiert werden, und zwar dieSachmittel, die Investitionen und die Personalkosten. Dasist sehr viel Arbeit.Ich halte es für eine ungewöhnliche Verhandlungsstra-tegie, wenn Sie vor dem Deutschen Bundestag despek-tierliche Bemerkungen über Berliner Verfassungsorganemachen.
Zumindest glaube ich nicht, dass dies für das Verhand-lungsklima zwischen dem Bund und dem Land Berlin för-derlich ist. Es ist eines Mitgliedes der Bundesregierungkeinesfalls würdig, in dieser Art und Weise über andereVerfassungsorgane in der Bundesrepublik herzuziehen.
Alle diejenigen, die hier heute sagen: „Es ist eine guteEntscheidung, dass der Bund Teile der Berliner Haupt-stadtkultur institutionell fördert“, möchte ich warnen. Obdieses Projekt mit weniger Geld vonseiten des Bundesdurchgeführt werden kann, bezweifle ich. Da nutzt es we-nig, wenn hier viel von Hegel gesprochen wird. Da soll-ten Sie mehr mit Eichel sprechen, um zu Ergebnissen zukommen. In der Substanz, so glaube ich, hilft Ihnen hierEichel mehr als Hegel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bedarf klarer Kri-terien, was der Bund im Rahmen der institutionellenHauptstadtkulturförderung übernimmt. Wir als Uni-onsfraktion haben einige Orientierungspunkte geliefert:die Verantwortung für das Erbe Preußens, was nicht nureine nationale Aufgabe ist, sondern auch die bundespoli-tische Finanzierungskompetenz erfordert, die Förderungvon einzigartigen Einrichtungen in Berlin und ein klaresBekenntnis zur nationalen Gedenkstättenarbeit.Was der Kulturstaatsminister hier und an anderer Stellegesagt hat, ist noch nicht ausreichend und genügt keiner-lei seriösen Ansprüchen. Entgegen der Behauptung mei-nes Vorredners ist kein Konzept erkennbar und es muteteher peinlich an, wenn die Übernahme des JüdischenMuseums, bei welchem man vortrefflich diskutierenkann, ob es ein bundespolitisch solitäres Ereignis ist undvon uns individuell gefördert wird, mit Defekten in derKlimaanlage begründet wird. Dies kann kein Unterschei-dungskriterium dafür sein, ob etwas in Bundesobhut über-nommen wird oder nicht.Auch der Versuch, sich mit besonders hochwertigenKultureinrichtungen des Landes Berlin wie zum Beispielden Philharmonikern zu kleiden, um sie mit einem mög-lichst niedrigen Zuschussbedarf einzukaufen, kann keinLeitbild für seriöse Verhandlungen zwischen dem Bundund Berlin sein. Es mag keinen überraschen, dass wirZweifel an den Vorschlägen haben. Die Ausführungen derKollegin Eichstädt-Bohlig wichen ebenso in wesentlichenPunkten von dem ab, was Sie, Herr Naumann, hier vorge-schlagen haben.Ich will abschließend klarstellen, dass sich der Bundnicht nationaler Aufgaben entledigen darf, weil sie ihmunangenehm, zu teuer oder gar ideologisch missliebig ge-worden sind. Ich sehe insbesondere für den Bereich dernationalen Gedenkstätten einiges an Diskussionsbe-darf. Hier möchten Sie, Herr Naumann, einiges überneh-men, manches ist Ihnen sehr unlieb. Ich denke hier bei-spielsweise an die „Topographie des Terrors“. HeinrichWefing beschreibt ihren Zustand in der „Frankfurter All-gemeinen Zeitung“ sehr zutreffend:Da gibt es ein Haus ohne Ausstellung: das JüdischeMuseum. Und eine Ausstellung ohne Haus: die „To-pographie des Terrors“. Schließlich, gleichsam alsdoppelte Null-Lösung, weder Haus noch Ausstel-lung: den „Ort der Information“ am Holocaust-Mahnmal.Das ist ein Problem, das im Rahmen dieser Diskussionüber die nationale Verantwortung für die Gedenkstätten-arbeit ebenso gelöst werden muss wie die Frage der Ver-antwortung für das preußische Erbe. Hier muss um dieZukunft und die finanzielle Ausstattung der StiftungPreußischer Kulturbesitz vonseiten des Bundes noch ein-mal gestritten werden. Es wäre schön, wenn sich Geld undGeist durch diese Diskussion ein Stück weit wieder ver-söhnten. Ihnen, Herr Senator Stölzl, wünsche ich bei die-ser Aufgabe viel Erfolg.Herzlichen Dank.
Ab-schließend hat der Senator für Wissenschaft, Forschung
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Steffen Kampeter9629
und Kultur des Landes Berlin, Herr Christoph Stölzl, dasWort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Einem Geschichts-
freund, der es noch nicht zum Parteifreund gebracht hat,
mag es gestattet sein, heute Abend einen etwas längeren
Zeitraum für die Bilanz des Verhältnisses zwischen dem
Bund und Berlin zu wählen. Ich sage ausdrücklich: Ber-
lin sagt ohne Wenn und Aber Dank für Hilfe, Engagement,
Solidarität und – ich scheue das Wort nicht – Liebe für
seine aus vielen Erbschaften stammende Kultur, die ihm
durch den Bund und das Bundesparlament seit 1949 ge-
geben worden ist.
Ich sage Dank für eine Förderung – diejenigen, die da-
bei gewesen sind, wissen das ebenso wie Wolfgang
Schäuble –, die in weiten Teilen ohne Gängelband, in Dis-
kretion, mit Augenmaß und manchmal mit notwendiger
Freimütigkeit erfolgte. Darum ist das, was Frau Leonhard
gestern angefangen hat, nämlich einerseits ihr strategi-
scher Genius und andererseits die gewissermaßen kame-
radschaftliche Offenheit von Staatsminister Naumann, die
Fortsetzung einer alten und guten Tradition.
Das ist die eine Seite.
Aber es gibt auch die andere Seite: Eine Beurteilung
mit Augenmaß und Fairness wird trotz aller Kritik im De-
tail zugestehen müssen: Berlin hat in diesen Jahrzehnten
das Beste daraus gemacht, eine Stadt, die in einer schwe-
ren sozialen Krise immer noch 1 Milliarde DM bzw.
760 Millionen DM – je nachdem, ob man die religiöse
Kultur einbezieht – ausgibt, obwohl sie wahrlich, wie man
so sagt, andere Sorgen haben könnte. Einer solchen Stadt
kann man nicht generell vorwerfen, dass sie mit der Kul-
tur schlecht umginge.
Nicht für sich allein, sondern für die Deutschen und für
ihr Verhältnis zu der Welt hat Berlin das – übrigens in Ost
und West – geleistet. Das ist hier schon gesagt worden.
Die Kultur, die nicht „der DDR war“, sondern in der DDR
und oftmals trotz der DDR entstanden ist, hat auch für das
Verhältnis der Deutschen zur Welt viel Gutes getan. Da-
rum, und nur darum, dürfen wir heute dringlich darum bit-
ten, dass das historisch gewachsene und deshalb notge-
drungen seit 1990 ganz unvollkommene Vertragswerk zur
Förderung der Kultur in der Hauptstadt endlich vollendet
wird.
Berlin hat im Jahre 1990 im Vertrauen auf Art. 35 des
Einigungsvertrages stellvertretend für die Nation fast die
gesamte Kultursubstanz – verzeihen Sie mir dieses häss-
liche Wort – übernommen. Dass dies unter den sozialen
Prämissen dieser großen und armen Stadt nicht zu leisten
war, ist offenkundig. Darum, finde ich, muss in Fairness
neu verhandelt werden. Diese Verhandlungen müssen zu
einem Ergebnis, zu einem Vertragswerk, zu Organisati-
onsformen und zu Kontrollformen führen. Ich sage es
ganz deutlich: Sie müssen dazu führen, dass wir uns als
Föderalisten reinen Herzens gemeinsam an den Kultur-
leistungen in Berlin erfreuen dürfen, auch dann, wenn die
Lasten endlich gerecht verteilt sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, spätestens
seit dem Moment, in dem das Parlament an hochsymboli-
scher Stelle in Berlin seinen Sitz genommen hat, wird die
unverzichtbare kulturelle Vielstimmigkeit von allen
Deutschen wahrgenommen. Niemand wird sagen können,
dass ihr föderaler Eigensinn, ihr eingewurzelter Stolz auf
regionale Kulturleistungen dadurch Schaden leidet. Wenn
man Berlins Kulturen liebt, wünscht man sich deshalb
noch lange keine Kulturhauptstadt. Was sich aber in Ber-
lin spiegelt, das geht doch alle Deutschen an: das Erbe des
aufgeklärten Kosmopolitismus des 18., 19. und auch des
frühen 20. Jahrhunderts, die unauslöschlichen Erinnerun-
gen an Diktaturen, Kriege und an die Spaltung der Welt,
aber auch an den Kampf um die Freiheit und die großen
Opfer, die Menschen dafür gebracht haben.
Die kulturellen Institutionen Berlins kann man auch
als Erinnerungszeichen einer gemeinsamen, dramati-
schen Geschichte lesen, die uns alle angeht und die wir
deswegen auch alle gemeinsam nach einem Schlüssel, der
ausgehandelt werden muss, finanzieren sollten.
Berlin ist aber trotzdem – keine Sorge – nicht nur Ge-
schichte, sondern vor allem Zukunft. Die Deutschen
brauchen eine Hauptstadt, die sichtbar Erfolg hat. Berlin
leuchtet, Berlin zieht an, Berlin lockt Menschen, gerade
die jungen, aus der ganzen Welt an und Berlin ist Markt-
und Kampfplatz der Ideen und Träume.
Heinrich Mann hat sich Berlin einst als eine Men-
schenwerkstatt gewünscht, ein Labor, in dem sich politi-
sche Vernunft und Künste zum Nutzen einer neuen deut-
schen Demokratie mischen sollten. Berlin wünscht sich,
dass dieses Hohe Haus die Bundesregierung nachdrück-
lich ermuntern möge, nicht Anmut und nicht Mühe zu
sparen, um gemeinsam mit uns die anstehenden Probleme
zu lösen, die – Sie haben die Summen gehört; im Verhält-
nis zu diesen Summen geht es um Randprobleme – wahr-
lich zu lösen sind. Mit gutem Willen müssen sie schnell
vom Tisch gebracht werden. Lassen Sie uns dann ge-
meinsam das Gespräch mit der Welt in der Sprache der
Kultur, die alle Menschen verstehen, die guten Willens
sind, suchen.
Herzlichen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/3182 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Darüber hinaus solldie Vorlage an den Ausschuss für Angelegenheiten derneuen Länder, den Ausschuss für Tourismus und Verkehrund den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sie sinddamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms9630
Ich darf Sie bitten, noch einen Moment hier zu bleiben.Obwohl die Reden für die beiden nächsten Tagesord-nungspunkte zu Protokoll gegeben worden sind, habenwir noch einige Formalitäten zu erledigen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichtsdes Auswärtigen Ausschusses zu demAntrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.Die Rolle der Interparlamentarischen Union
im Zeitalter der Globalisierung
– Drucksachen 14/1567, 14/2951 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter SchlotenDr. Rita SüssmuthRita GrießhaberUlrich IrmerWolfgang Gehrcke-ReymannInterfraktionell ist vereinbart worden, dass die Rede-beiträge zu Protokoll gegeben werden.1 Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung, Drucksache 14/2951. Der Ausschuss empfiehlt,den Antrag auf Drucksache 14/1567 anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmigangenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. HeinrichFink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSBundesstiftung „Entschädigung für NS-Un-recht“ gründen und Entschädigung von NS-Opfern der Zwangssterilisation und der Eu-thanasie in die Wege leiten– Drucksache 14/2298 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAuch hier ist interfraktionell beschlossen worden, dieReden zu Protokoll zu geben.2 Besteht dagegen Wider-spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/2298 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungbeschlossen.Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf morgen, Freitag, den 12. Mai des Jahres 2000,9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.