Protokoll:
14102

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 102

  • date_rangeDatum: 11. Mai 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:40 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordneten Erika Simm und Jochen Borchert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9483 A Wahl der Abgeordneten Edeltraut Töpfer zur Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9483 B Wahl des Abgeordneten Bartholomäus Kalb als Mitglied in den Verwaltungsrat der Deut- schen Ausgleichsbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9483 B Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 9483 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 9483 C Tagesordnungspunkt 3: Eidesleistung des Wehrbeauftragten . . 9484 B Präsident Wolfgang Thierse . . . . . . . . . . . . . 9484 C Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . 9484 C Tagesordnungspunkt 4: a) Abgabe einer Regierungserklärung: Deutschland im Aufbruch – Moderne Wirtschaftspolitik für neue Arbeits- plätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9484 C b) Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Bessere Erwerbsaussich- ten für ältere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung (Drucksache 14/2909) ..... . . . . . . . . . . 9484 C c) Antrag der Abgeordneten Gunnar Uldall, Birgit Schnieber-Jastram, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Beschäftigung als Ziel der Wirtschaftspolitik herausstellen (Drucksache 14/2988) . . . . . . . . . . . . . 9484 D Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . 9484 D Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9489 A Dr. Peter Struck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9493 D Jürgen W. Möllemann F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 9496 C Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9499 D Dr. Gregor Gysi PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9503 D Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . . 9507 B Michael Glos CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9509 C Dr. Norbert Wieczorek SPD . . . . . . . . . . . . . 9513 A Rainer Brüderle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9516 A Dr. Ditmar Staffelt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9517 B Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . . . . . . . 9519 A Wolfgang Weiermann SPD . . . . . . . . . . . . 9520 B Sabine Kaspereit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9520 D Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9522 B Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9523 B Dr. Bernd Protzner CDU/CSU . . . . . . . . . . . 9524 A Ulla Schmidt (Aachen) SPD . . . . . . . . . . . . . 9525 B Dr. Bernd Protzner CDU/CSU . . . . . . . . . 9527 A Tagesordnungspunkt 5: Zweite und dritte Beratung des von den Ab- geordneten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Plenarprotokoll 14/102 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 102. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 I n h a l t : Gesetzes überdas Ausländerzentralregis- ter und zur Einrichtung einerWarndatei (Drucksachen 14/1662;14/2745) . . . . . . . . 9528 B Hartmut Koschyk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9528 C Eckhardt Barthel (Berlin) SPD . . . . . . . . . . . 9530 D Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . 9532 C Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9534 A Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . 9534 D Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9535 D Erwin Marschewski CDU/CSU . . . . . . . . . . 9536 D Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . 9538 A Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/ CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9538 B Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 9538 C Tagesordnungspunkt 21: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Übereinkommen vom 19. Dezember 1996 über den Bei- tritt des Königreichs Dänemark, der Republik Finnland und des König- reichs Schweden zum Schengener Durchführungsübereinkommen und zu dem Übereinkommen vom 18. Mai 1999 über die Assoziierung der Re- publik Island und des Königreichs Norwegen (Drucksache 14/3247) . . . . . . . . . . . . . 9540 A b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investiti- onszulagengesetzes 1999 (Drucksache 14/3273) . . . . . . . . . . . . . 9540 B c) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Dr. Klaus Grehn, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (Viertes SGB III-Än- derungsgesetz) (Drucksache 14/3044) . . . . . . . . . . . . . 9540 B d) Antrag der Abgeordneten Eva-Maria Bulling-Schröter, Rosel Neuhäuser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Ressourcenverbrauch der Bun- desrepublik Deutschland statistisch besser abbilden (Drucksache 14/2654) . . . . . . . . . . . . . 9540 C e) Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion PDS: Übergangsregelungen bei der Ein- führung des Kapitalgesellschaften- und Co-Richtlinie-Gesetz (Drucksache 14/3078) . . . . . . . . . . . . . 9540 C f) Antrag der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion PDS: Zeit- weilige Aussetzung der Möglichkeit zur Erhöhung der Nutzungsentgelte (Drucksache 14/3121) . . . . . . . . . . . . . 9540 D Tagesordnungspunkt 22: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. August 1998 zwi- schen der Bundesrepublik Deutsch- land und den Vereinigten Mexikani- schen Staaten überdie Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapital- anlagen (Drucksachen 14/2422;14/3129) . . . . 9541 A b) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. November 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbu- da über die Förderung und den gegen- seitigen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksachen 14/2423; 14/3130) . . . . 9541 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- ten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dietrich Austermann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Wirtschaftlicher Ausgleich und Übergangsregelung für Duty-free (Drucksachen 14/1206, 14/2103) . . . . 9541 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- ten Gunnar Uldall, Kurt-Dieter Grill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Vorlage des Berichts zum Stromeinspeisungsgesetz (Drucksachen 14/2239, 14/2837) . . . . 9541 B Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- ordnung: Antrag auf Genehmigung zum Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000II Vollzug gerichtlicher Durchsuchung- und Beschlagnahmebeschlüsse (Drucksache 14/3338) . . . . . . . . . . . . . . . . 9541 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zur Erhöhung der Sicher- heit im Internet vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem „I LOVE YOU“-Virus Ute Vogt (Pforzheim) SPD . . . . . . . . . . . . . . 9541 D Sylvia Bonitz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9542 C Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9543 D Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. . . . . . 9545 A Angela Marquardt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9546 A Hubertus Heil SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9547 A Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/CSU . 9548 A Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9549 A Dieter Wiefelspütz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9550 C Elmar Müller (Kirchheim) CDU/CSU . . . . . 9551 D Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 9552 D Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9554 D Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9555 D Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 9556 C Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9558 C Tagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vor- schriften über die Tätigkeit der Steuer- berater (Drucksachen 14/2667; 14 3282) . . . . . . . 9559 D Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9560 A Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9561 C Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/ CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9563 A Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9565 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9565 D Gerhard Schüßler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 9566 C Heidemarie Ehlert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9567 C Lydia Westrich SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9568 B Dr. Ilja Seifert PDS (Erklärung nach § 31 GO) 9570 C Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Norbert Hauser (Bonn), Norbert Röttgen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Si- cherung der außeruniversitären inter- disziplinären Grundlagenforschung in der Informations- und Kommunikati- onstechnik (Drucksache 14/3097) . . . . . . . . . . . . . . . . 9571 A Norbert Hauser (Bonn) CDU/CSU . . . . . . . . 9571 A Stephan Hilsberg SPD . . . . . . . . . . . . . . . 9572 A Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9573 A Norbert Hauser (Bonn) CDU/CSU . . . . . 9573 D Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9575 C Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9576 D Maritta Böttcher PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9578 B Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9579 B Steffen Kampeter CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9581 A Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Burchardt, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion SPD sowie der Abgeordneten Hans- Josef Fell, Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik (Drucksachen 14/2390, 14/2814) . . . . . . . 9582 C Ursula Burchardt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9582 D Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/CSU 9585 B Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9586 C Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9588 A Angela Marquardt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9588 D Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 9589 A Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9589 D Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) CDU/CSU . 9591 A Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, weiteren Abgeordneten und der Frakti- on F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung einer ange- messenen Vergütung psychothera- peutischer Leistungen im Rahmen dergesetzlichen Krankenversicherung (Drucksache 14/3086) . . . . . . . . . . . . . 9592 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 III b) Antrag der Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion PDS: Exis- tenzsichernde Vergütung der psycho- therapeutischen Versorgung gewähr- leisten (Drucksache 14/2929) ... . . . . . . . . . . . 9593 A Dr. Dieter Thomae F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 9593 A Helga Kühn-Mengel SPD . . . . . . . . . . . . . . . 9594 B Aribert Wolf CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9596 D Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . . . . . 9600 A Aribert Wolf CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9600 D Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9601 B Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9602 D Gudrun Schaich-Walch SPD . . . . . . . . . . . . . 9604 A Aribert Wolf CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9604 D Gudrun Schaich-Walch SPD . . . . . . . . . . . . . 9605 A Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Ernst Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Lebensbegleitendes Lernen für alle – Weiterbildung ausbauen und stärken (Drucksache 14/3127) . . . . . . . . . . . . . . . . 9605 C Ernst Küchler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9605 D Werner Lensing CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9608 A Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9610 A Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9611 C Maritta Böttcher PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9612 D Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9613 D Werner Lensing CDU/CSU . . . . . . . . . . . 9614 C Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9615 C Heinz Wiese (Ehingen) CDU/CSU . . . . . . . . 9616 A Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann (Bremen), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Hauptstadtkulturförderung (Drucksache 14/3182) . . . . . . . . . . . . . . . . 9617 C Dr. Norbert Lammert CDU/CSU . . . . . . . . . 9617 D Dr. Michael Naumann, Staatsminister BK . . . 9619 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9622 A Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 9624 A Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9625 B Eckhardt Barthel (Berlin) SPD . . . . . . . . . . . 9626 B Steffen Kampeter CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9628 B Dr. Christian Stölzl, Senator (Berlin) . . . . . . . 9630 A Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und F.D.P.: Die Rolle der Interparlamentarischen Union (IPU) im Zeitalter der Globalisierung (Drucksachen 14/1567, 14/2951) . . . . . . . 9631 A Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Eva-Maria Bulling-Schröter, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion PDS: Bundes- stiftung „Entschädigung für NS-Un- recht“ gründen und Entschädigung von NS-Opfern der Zwangssterilisation und der Euthanasie in die Wege leiten (Drucksache 14/2298) . . . . . . . . . . . . . . . . 9631 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9631 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9633 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Be- schlussempfehlung: Die Rolle der Interparlamentarischen Union (IPU) im Zeitalter der Globalisierung (Tagesord- nungspunkt 12) Dieter Schloten SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9633 C Dr. Rita Süssmuth CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9635 C Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9636 B Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9636 D Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9637 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bundesstiftung „ Entschädigung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000IV für NS-Unrecht“ gründen und Entschädi- gung von NS-Opfern der Zwangssterilisation und der Euthanasie in die Wege leiten (Tages- ordnungspunkt 13) Bernd Reuter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9638 A Martin Hohmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9638 D Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9639 D Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9640 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9641 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 V Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 9631 (C)(A) 1 Anlage 2 2 Anlage 3 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 9633 (C) (D) Altmaier, Peter CDU/CSU 11.05.2000 Dr. Blank, CDU/CSU 11.05.2000 Joseph-Theodor Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 11.05.2000 Peter H. Dreßler, Rudolf SPD 11.05.2000 Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 11.05.2000 DIE GRÜNEN Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 11.05.2000 DIE GRÜNEN Flach, Ulrike F.D.P. 11.05.2000 Gebhardt, Fred PDS 11.05.2000 Dr. Hornhues, CDU/CSU 11.05.2000 Karl-Heinz Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 11.05.2000 Imhof, Barbara SPD 11.05.2000 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 11.05.2000 Klinkert, Ulrich CDU/CSU 11.05.2000 Moosbauer, Christoph SPD 11.05.2000 Müller (Berlin), PDS 11.05.2000 Manfred Neuhäuser, Rosel PDS 11.05.2000 Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 11.05.2000 DIE GRÜNEN Ohl, Eckhard SPD 11.05.2000 Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 11.05.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 11.05.2000 Hans Peter Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 11.05.2000 Wiesehügel, Klaus SPD 11.05.2000 Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 11.05.2000 Margareta DIE GRÜNEN Zierer, Benno CDU/CSU 11.05.2000* Dr. Zöpel, Christoph SPD 11.05.2000 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (A) (B) Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung: Die Rolle der Interparlamentarischen Union (IPU) im Zeitalter der Globalisierung (Tagesordnungs- punkt 12) Dieter Schloten (SPD):Ich möchte die Gelegenheit nutzen, bei einem Antrag zur Rolle der IPU im Zeitalter der Globalisierung, der in den Gremien des Deutschen Bundestages unstrittig ist, über die soeben in der jordani- schen Hauptstadt Amman beendete 103. Interparlamenta- rische Konferenz zu berichten. Sie hat die Bedeutung der IPU als der einzigen weltweiten, 139 Parlamente umfas- senden Organisation nachhaltig unterstrichen. Wenn mehr als 700 Parlamentarier, 600 weitere Delegierte und Sach- verständige sowie Vertreter zahlreicher internationaler Organisationen zusammentreffen, hat dies Auswirkungen auf die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gestaltungsmöglichkeit in einer immer schneller zusam- menwachsenden Welt. Zugleich ist die IPU ein Forum in- ternationaler Kontakte. So hat die deutsche Delegation in Amman intensive Gespräche geführt mit Delegationen aus: Äthiopien, Indien, Israel, Jordanien, Libyen, Ma- rokko, Mexiko, Palästina, Tunesien und Uruguay. Die 103. Interparlamentarische Konferenz hat sich mit drei wichtigen Themenbereichen befasst, deren Ergeb- nisse nunmehr weltweit von den Parlamenten den Regie- rungen zugeleitet werden. Die Regierungen sind auf- gefordert, die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen. Natürlich ist die Erfüllung einer interparlamentarischen Verpflichtung nicht in allen Ländern gleichgewichtig ge- währleistet. Gleichwohl wird und muss die Botschaft ei- ner im Konsenswege oder mit großer Mehrheit angenom- menen Resolution aufgegriffen und umgesetzt werden. Als Beispiel möchte ich die Frage der palästinensischen Flüchtlinge nennen. Über dieses Thema, auf das ich spä- ter näher eingehen werde, haben wir in Amman tagelang kontrovers diskutiert. Gewiss wird es Gegenstand heftiger Debatten in den Parlamenten der arabischen Staaten und in der Knesset sein. Die Konferenz in Amman befasste sich mit zwei or- dentlichen Tagesordnungspunkten und einem Zusatzta- gesordnungspunkt. „Frieden, Stabilität und umfassende Entwicklung in der Welt zu erreichen mit dem Ziel, engere politische, wirtschaftliche und kulturelle Bindungen zwischen den Völkern“ zu schaffen, hieß der erste Tagesordnungspunkt. Er war weitgehend unumstritten. Schwieriger gestalteten sich die Diskussionen um den zweiten Tagesordnungspunkt: „Dialog zwischen Zivilisa- tionen und Kulturen“. Es war bereits vor einem Jahr in Brüssel gemeinsam von der deutschen und der iranischen Delegation für die Konferenz in Amman vorgeschlagen worden. Hierbei hatte die deutsche Delegation unter Fe- derführung der Kollegin Monika Griefahn gemeinsam mit Frau Professor Süssmuth ausgezeichnete Vorarbeit geleistet, sodass der deutsche Entwurf zur Grundlage für die Diskussion im Redaktionsausschuss wurde. Leider konnte Frau Professor Süssmuth wegen einer Erkrankung nicht an der Konferenz in Amman teilnehmen. Frau Griefahn hat in Kooperation mit unseren britischen Kol- leginnen und Kollegen, die ihren Entwurf zugunsten des deutschen zurückgestellt haben, durch geschicktes Ver- handeln die wesentlichen Ziele unseres Entwurfes erfolg- reich durchsetzen können, nämlich kulturelle Vielfalt, kulturelle Bereicherung und eine weltweite Zivilgesell- schaft. Die einstimmige Beschlussfassung in Ausschuss und Versammlung hat schließlich – trotz vorheriger Ein- wände einiger Staaten – sogar dazu geführt, dass die Kon- ferenz den Vorrang der Achtung der Menschenrechte vor kulturellen Traditionen und Dogmen anerkannt hat. In einem Zusatztagesordnungspunkt befasste sich die Konferenz mit der „Rolle von Parlamenten, das Recht der durch Krieg und Besatzung betroffenen Flüchtlinge und Vertriebenen sowie ihre Repatriierung zu unterstüt- zen sowie die internationale Zusammenarbeit bei Ent- wicklung und Anwendung von Strategien zu vertiefen, die darauf ausgerichtet sind, kriminelle Aktivitäten des Menschenhandels zu bekämpfen“. Dieser Tagesord- nungspunkt war aufgrund der Situation der Flüchtlinge im Nahen Osten, insbesondere in Jordanien selbst, das 1,4 Millionen palästinensische Flüchtlinge beherbergt, der umstrittenste Punkt. Dennoch war die Zusammenarbeit zwischen den Delegierten gekennzeichnet durch Ver- ständnis, gegenseitige Rücksichtnahme und insbesondere Offenheit gegenüber den Argumenten anderer. Ein Kom- promiss musste gefunden werden. In diesem Tagesord- nungspunkt wurde nämlich nicht nur die Berücksichti- gung des Flüchtlingsproblems im Nahen Osten, sondern in allen Teilen der Welt gefordert, zum Beispiel auf dem Balkan, im Kaukasus und in Teilen Afrikas. Für die Zu- stimmung sollte jedoch die gesamte arabische Welt ge- wonnen werden. Nachdem es den arabischen Kollegen gelungen war, im politischen Ausschuss eine etwas ra- dikale Lösungsformulierung durchzusetzen, lautet der Kompromissvorschlag, den ich gemeinsam mit dem Parlamentspräsidenten Jordaniens, der zugleich Konfe- renzpräsident war, gefunden habe, folgendermaßen: Die 103. Interparlamentarische Konferenz bekun- det – ohne die Flüchtlingsprobleme in anderen Tei- len der Welt aus dem Auge zu verlieren – ihre nach- drückliche Unterstützung für alle Bemühungen um einen gerechten, dauerhaften und umfassenden Frie- den im Nahen Osten, einschließlich des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr im Ein- klang mit der VN Resolution 194, dem in der Kon- ferenz in Madrid festgelegten Grundsatz Land für Frieden, und die Durchführung der Resolutionen des Sicherheitsrates 242, 338 und 425 und des Vertrages von Oslo. In dieser Kompromissformulierung, die nach einigem Zögern zunächst von dem palästinensischen Delegations- leiter und dann auch von sämtlichen arabischen Delega- tionen unterstützt wurde, sehe ich einen Erfolg, sowohl für die Lage der Flüchtlinge als auch für die Ernsthaftig- keit, bei schwierigen Problemstellungen in der IPU eine positive Zusammenarbeit sicherzustellen. Der Wermuts- tropfen war, dass sich die israelische Delegation in diesem Punkte nicht in der Lage sah, einen Schritt nach vorne zu tun. Obwohl ich die israelischen Delegierten ständig über den Gang der Verhandlungen informiert habe, behaupte- ten sie in der Konferenz, sie seien nicht involviert gewe- sen und lehnten von vornherein jeden Kompromiss ab. Andererseits war diese Entwicklung wichtig für die guten deutsch-arabischen Beziehungen. Ich möchte an dieser Stelle ein Wort des Dankes an unseren Botschafter in Am- man, Herrn Dr. Martin Schneller, richten, der die deutsche Delegation während der gesamten Zeit unterstützt hat, so- wie an die anwesenden Mitarbeiter des Auswärtigen Am- tes und des Bundestages für die große Unterstützung, die sie der Delegation und insbesondere mir als ihrem Leiter gewährt haben. Erwähnen möchte ich auch die Breite des Spektrums wichtiger Konferenzbereiche, bei denen die IPU entspre- chend ihrer Zielsetzung nach friedlicher Zusammenarbeit in immer stärkerem Maße tätig wird. Lassen Sie mich bei- spielhaft folgende Problemfelder anführen, die kontinu- ierlich und mit großem Sachverstand und hohem Engage- ment bearbeitet werden: Der Ausschuss für die Menschenrechte von Parlamen- tariern befasst sich mit der Verletzung der Menschen- rechte demokratisch gewählter Kolleginnen und Kolle- gen, deren Schicksal uns nicht gleichgültig sein darf. Un- sere Aufgabe ist es, sowohl bei Besuchen in den betroffenen Ländern als auch als Gastgeber von Parla- mentsdelegationen aus diesen Ländern alles zu tun, um ih- nen die Ausübung ihres Mandats auf den Grundlagen des Rechtsstaates zu ermöglichen. Als Beispiele möchte ich erstens den Präsidentschaftskandidaten der RPG bei den letzten Präsidentschaftswahlen in Guinea, Herrn Alpha Condé, nennen. Er befindet sich seit Oktober letzten Jah- res ohne stichhaltige Begründung im Gefängnis. Ich würde mich freuen, wenn es wegen der guten Kontakte zwischen Deutschland und Frankreich auf Regierungs- ebene gelänge, den französischen Präsidenten dazu zu be- wegen, seinen Einfluss beim Präsidenten Guineas geltend zu machen, um Herrn Condé wieder zur Freiheit zu ver- helfen. Zweitens möchte ich das Beispiel Burma bzw. Myan- mar anführen, wo nach wie vor zwischen 20 und 30 frei gewählte Abgeordnete seit Jahren im Gefängnis sitzen. Mit der Unterstützung von lateinamerikanischen Delega- tionen ist es mir gelungen, am letzten Tag der Konferenz das Thema „Menschenrechtsverletzungen an Parlamenta- riern“ zum Konferenzthema für die nächste IPU Konfe- renz in Jakarta im Oktober dieses Jahres zu machen. Erwähnen möchte ich auch die Gruppe, die sich mit der Gleichstellung der Geschlechter befasst. Sie bemüht sich intensiv und erfolgreich darum, die Rolle der Frau und der Parlamentarierinnen weiter voranzubringen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass der Deutsche Bundestag diesen Auftrag vorbildlich er- füllt. Die achtköpfige Delegation des Deutschen Bundes- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 20009634 (C) (D) (A) (B) tages bei der Konferenz in Amman bestand aus fünf Frauen und drei Männern. Der Ausschuss für Nahostfragen ist ein weiteres wich- tiges Gremium, und ich freue mich, dass unsere Kollegin Frau Dr. Angelika Köster-Loßack als neues Mitglied in diesen ständigen Ausschuss gewählt wurde. Abschließend möchte ich noch zwei Punkte erwähnen. Sie beinhalten das Verhältnis zwischen der IPU und den Vereinten Nationen sowie die wachsende Bedeutung der Gruppe der Zwölf Plus in der IPU. Zum Ersten. In einer Studie des Generalsekretärs zur Reform der IPU ist der Vorschlag unterbreitet worden, die Zusammenarbeit mit den VN zu verstärken und der IPU die Rolle einer parlamentarischen Dimension der VN zu verleihen. Die bevorstehende Millenniumskonferenz aller Parlamentspräsidenten der Welt in New York vom 30. Au- gust bis 1. September 2000 sowie der jährliche Zusam- mentritt von Parlamentariern aus aller Welt während der Generalversammlung weisen in diese für die IPU so wich- tige Richtung. Wir alle sollten ein hohes Interesse daran haben, den Vereinten Nationen eine parlamentarische Di- mension zur Seite zu stellen, deren Kontrollfähigkeiten neben den VN auch andere internationale Organisationen umfassen. Seattle und Washington, das heißt die Tagun- gen von WTO und IMF, haben deutlich die Notwendig- keit gezeigt, die parlamentarische Dimension auch hier einzubringen. Konkrete Vorschläge werden zurzeit von deutscher Seite sowie von anderen Delegationen erarbei- tet. Wir wollen versuchen, diese Entwürfe in Jakarta zu einem gemeinsamen Vorschlag zu bündeln. Zum Zweiten. Die Bedeutung der vor 25 Jahren durch unseren damaligen Kollegen Dr. Klaus von Dohnanyi, Georg Kliesing und Dr. Uwe Holtz gegründeten geopoli- tischen Gruppe der Zwölf Plus – das sind die Mitglieder des Europarates ohne ehemalige GUS-Staaten sowie Aus- tralien, Kanada, Neuseeland und USA–, deren Vorsitzen- der ich seit 1998 bin, nimmt ständig an Gewicht zu. Diese Gruppe, etwa einer Fraktion vergleichbar, ist der Motor der Demokratisierung in der IPU. Insgesamt gehören die- ser Gruppe nunmehr 43 Mitgliedsländer sowie drei Beob- achter-Delegationen aus dem Europäischen Parlament, der Parlamentarischen Versammlung des Europarates so- wie der Knesset an. Wir unterhalten intensive Beziehun- gen zu den übrigen sechs geopolitischen Gruppen in der IPU. Mit der Gruppe Lateinamerikas haben wir in Amman vereinbart, gemeinsam eine Arbeitsgruppe zur Reform der IPU einzurichten. Auf der Millenniumskonferenz in New York soll die inhaltliche Abstimmung abschließend erfolgen. Ich freue mich in diesem Zusammenhang darüber, dass der Bun- destagspräsident an der Millenniumskonferenz teilneh- men wird. Seine Anwesenheit wird dazu beitragen, die parlamentarische Dimension der VN auf einen weiteren erfolgreichen Weg zu bringen. Die 103. IPU Konferenz in Amman hat gezeigt, dass parlamentarische Diplomatie nicht gegen, sondern in Er- gänzung zur Außenpolitik der Regierungen einen Beitrag zu Frieden und Demokratie in unserer Welt leisten kann, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen. Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Die IPU hat sich im 20. Jahrhundert von einer kleinen Vereinigung zu einer weltweiten Parlamentarierversammlung ent- wickelt mit Parlamentariern und Parlamentarierin- nen aus 138 Mitgliedstaaten. Sie ist ein parlamentari- sches Forum, das wie kein anderes Demokratie, Rechts- staatlichkeit und Frieden fördert. Dort begegnen sich unterschiedliche politische Systeme und Kulturen, arme und reiche Kontinente. Dort kommen Krieg und Frieden, Flüchtlings- und Armutsprobleme, Weltwirtschaftsord- nung, gerechte Teilhabe an Entwicklung zur Sprache. Auf Initiative der deutschen Delegation, es war damals Dr. Klaus von Dohnanyi, wurde in der IPU die Gruppe der 12 mit Mitgliedern des Europarats gebildet. Die Präsi- dentschaft von Hans Stercken (1985–1988) und sein Wir- ken für die IPU sind unvergessen. Die Parlamentarier der Bundesrepublik Deutschland haben stets einen sehr akti- ven Part in der IPU gespielt, Themenvorschläge für das Plenum sowie Resolutionen eingebracht. Parlamentarier unterschiedlicher politischer Systeme, mit geringerer und voller Demokratieentwicklung disku- tieren zu Themen wie dem Krieg auf dem Balkan, eine neue gerechtere Weltwirtschafts- und Handelsordnung, friedliche Lösung von Konflikten, Dialog der Kulturen. Es ist ein parlamentarisches Forum, das den Austausch gemeinsamer und höchst gegensätzlicher Positionen an- strebt. Ich kenne keine Institution, die in vergleichbarer Weise für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gewaltlose, fried- liche Konfliktlösungen eintritt. Delegationen der Mit- gliedstaaten zeigen, dass freie Rede, mit Pro und Contra in der Debatte, Einübung und Einhaltung parlamentari- scher Regeln im Plenum und in den Ausschüssen sowie im Umgang miteinander Chancen für die Demokratie sind, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kön- nen. Es treffen sich Parlamentarier aus allen Kontinenten, aus unterschiedlichen Kulturen, mit sehr unterschiedli- chen Entwicklungsbedingungen und Entwicklungsni- veaus, Länder und Kulturen, die Partnerschaft und Gleichbehandlung wollen, die um Anerkennung werben und Klage führen über Diskriminierung, Benachteiligung und Ausgrenzung. Regionen mit anhaltenden militäri- schen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, Flücht- lings- und Armutsproblemen begegnen Parlamentariern aus friedlichen Regionen, armen und reichen. Parlamentarische Aufgaben sind wechselseitiges Ver- stehen und Verständigung, Erörterung der Probleme in Rede und Gegenrede, Achtung der jeweils anderen Kul- turen, auch Verständigung darüber, welche Werte und Normen gelten bzw. gelten sollen. Wollen wir den „Kampf der Kulturen“ vermeiden, soll an die Stelle der Konfrontation ein kooperatives Miteinander treten, dann ist es unabdingbar, kulturelle Gemeinsamkeiten und Un- terschiede in persönlicher Begegnung zu erörtern und auf diese Weise wechselseitige Kenntnis, Achtung und Ver- trauen aufzubauen. Kontroversen haben klärende und annähernde Funktion. Auf der Brüsseler IPU-Tagung 1999 wurde mit großer Heftigkeit die Intervention der NATO im Kosovo disku- tiert, um die massive Verletzung von Menschenrechten Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 9635 (C) (D) (A) (B) und den brutalen Einsatz von Gewalt zu beenden. Die IPU ist ein parlamentarisches Forum, das Gelegenheit gibt, politische Entscheidungen zu erklären, sie zu begründen, sich der Kritik argumentativ zu stellen. Dabei ging es in dieser Auseinandersetzung nicht nur um die gegenwärtige und zukünftige Rolle der UNO, sondern auch um die Frage, ob Menschenrechtsfragen nur in bestimmten Tei- len der Welt oder überall in der Welt gleiche Unterstüt- zung erfahren und welche Rolle dabei die UNO in Zu- kunft haben wird. Begegnung und Austausch finden nicht nur im Plenum und in den Ausschüssen, sondern auch in vielen informel- len Kontakten statt. Die werden von den Delegationen auch gesucht, und zwar aus allen Teilen der Welt: aus der lateinamerikanischen, afrikanischen, asiatischen und ara- bischen Welt. Lassen Sie mich abschließend zu einem für die IPU wichtigen Anliegen kommen, nämlich die Zusammenar- beit zwischen IPU und UNO. Die IPU fordert die An- wendung demokratischer Prinzipien auch auf die interna- tionalen Beziehungen sowie weltweit operierende Orga- nisationen wie zum Beispiel die UNO. Ziel ist es, die IPU zur parlamentarischen Dimension der Vereinten Nationen zu machen. Im Sommer dieses Jahres werden die Präsidenten der IPU-Mitgliedsparla- mente bei den Vereinten Nationen zu einer Konferenz zu- sammenkommen, ein wichtiges Zeichen für die parla- mentarische Dimension dieser Organisation. Damit die in der IPU geleistete Arbeit in ihrer politi- schen Wirksamkeit erhöht wird, fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, die von der IPU ver- abschiedeten Resolutionen nicht nur in der Bundesrepu- blik Deutschland, sondern auch in internationalen Gre- mien und Institutionen zu implementieren, in denen Deutschland Mitglied ist. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte weltweit zum Erfolg zu bringen, das ist eine begeisternde und lohnende Aufgabe. Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die 103. Interparlamentarische Konferenz in Amman fällte wichtige Entscheidungen zu drei Themen- schwerpunkten. „Frieden, Stabilität und umfassende Ent- wicklung in der Welt zu erreichen mit dem Ziel, engere politische, wirtschaftliche und kulturelle Bindungen zwi- schen den Völkern zu schaffen“, war ein zielorientiertes Thema. Auf der Ebene weitgehender Abstraktion von konkreten Situationen gab es zu diesem Punkt keine größeren Auseinandersetzungen. Diese entstanden beim zweiten Tagesordnungspunkt über den Dialog zwischen Zivilisationen und Kulturen, den gemeinsam von Deutschland und dem Iran einge- reichten Vorschlag. Es gelang jedoch, bei der Schlussab- stimmung die universelle Gültigkeit der Menschenrechte und ihre Achtung vor jeglicher Relativierung durch kultu- relle Traditionen festzuschreiben. Die Auseinandersetzungen fanden einen schmerzli- chen Höhepunkt bei der Diskussion zum Thema „Rolle von Parlamenten, das Recht der durch Krieg und Besat- zung betroffenen Flüchtlinge und Vertriebenen sowie ihre Repatriierung zu unterstützen sowie die internationale Zusammenarbeit bei Entwicklung und Anwendung von Strategien zu vertiefen, die darauf ausgerichtet sind, kri- minelle Aktivitäten des Menschenhandels zu bekämp- fen.“ Dieser Zusatztagesordnungspunkt wurde zum Objekt der Auseinandersetzung zwischen den am nahöstlichen Friedensprozess beteiligten Vertretern. Ein durch das Re- daktionskomitee verhandelter Kompromissvorschlag, der auch die Zustimmung der israelischen Delegation gefun- den hatte, wurde auf der nächsten Ebene der Beschluss- fassung wieder verworfen. In dieser neuen Fassung war, auf Betreiben insbesondere der palästinensischen Beob- achterdelegation, jeglicher Hinweis auf Flüchtlingssitua- tionen in der Welt gestrichen worden. Dem Einsatz des Kollegen Dieter Schloten ist es zu verdanken, dass in der abschließenden Plenarsitzung ein Kompromissvorschlag verabschiedet werden konnte. Leider hat die israelische Delegation diesen Vorschlag nicht mehr mittragen kön- nen. Wir werden versuchen, dass solche Konfliktsituatio- nen in Zukunft bei den Vorbereitungsverhandlungen ge- klärt werden können. Eine sehr produktive und konsensorientierte Debatte fand unter den Parlamentarierinnen in eigenständigen Sit- zungen statt. Die IPU, insbesondere ihre Frauenpolitike- rinnen, hat sich seit der Verabschiedung der Aktionsplatt- form von Beijing im Jahre 1995 unablässig darum bemüht, diese Forderungen den Parlamenten in aller Welt nahe zu bringen. Zu diesem Zweck wurde eine Dokumentation erstellt, die eine generelle Bestandsaufnahme der Entwicklung weiblicher politischer Partizipation in aller Welt zusam- mengefasst. Untersucht wurde auf der Basis der bei den VN eingegangenen Regierungsberichten die Repräsen- tanz von Frauen in nationalen Parlamenten, politischen Parteien, Regierungen und der IPU selbst. Angesichts der fünf Jahre nach der Weltfrauenkonfe- renz noch immer mächtigen Widerstände gegen die Um- setzung der Forderungen von Beijing wünsche ich der von der IPU geplanten Sitzung bei den Vereinten Nationen in New York den für Frauen in aller Welt so notwendigen Er- folg bei der Überzeugungsarbeit. Ulrich Irmer (F.D.P.): Fragt man den statistischen Durchschnittsbürger, welche Stichworte ihm zum Thema der Globalisierung einfallen, so wird er wahrscheinlich antworten: Internet, Welthandel, Unternehmenszusam- menschlüsse, Auslandsinvestitionen, Standortvorteile und Arbeitsplätze. Der ungehinderte Austausch von Wa- ren, Dienstleistungen und Informationen ist jedoch nur eine Seite der Globalisierung. Ebenso wichtig ist die welt- weite Durchsetzung demokratischer Werte. In den zehn Jahren nach dem Zerfall des Sowjetimpe- riums ist die Globalisierung der Demokratie so weit fort- geschritten, dass nur noch einige wenige bornierte Des- poten vom Schlage des Kim Jong Il oder des Fidel Castro ernsthaft meinen, sie könnten die politische Weltkugel Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 20009636 (C) (D) (A) (B) aufhalten. Aber selbst diese Dinosaurier nehmen für sich in Anspruch, Demokraten zu sein. Demokratie und Men- schenrechte sind heute zur Ordre public der Weltinnenpo- litik geworden. Demokratie ist eine ansteckende Gesund- heit, deren wohltuende Erreger inzwischen ganze Konti- nente dauerhaft infiziert haben. Wer hätte etwa vor nur zehn Jahren zu hoffen gewagt, dass ganz Lateinamerika – von der genannten Ausnahme einmal abgesehen – zu Be- ginn des 21. Jahrhunderts demokratisch regiert werden würde? Noch vor wenigen Jahren wurde unter Politikwissen- schaftlern darüber diskutiert, ob es nicht neokoloniales Gehabe sei, den Entwicklungsländern eurozentrische De- mokratievorstellungen überstülpen zu wollen. Heute ha- ben sich faire und freie Wahlen, Gewaltenteilung und de- mokratische Kontrolle als gesellschaftliche Ordnungs- prinzipien fast überall durchgesetzt. Die Einhaltung demokratischer Spielregeln ist zu einer weltweit aner- kannten Voraussetzung für Entwicklungszusammenarbeit geworden. Pompöse Parlamentsgebäude, deren Oppositi- onsbänke verwaist sind und elektronische Abstimmungs- anlagen ohne Nein-Taste, wie unlängst noch auf Reisen in die so genannte Dritte Welt zu bewundern, sind heute kaum noch zu finden. Dass dies so ist, ist vor allem ein Verdienst einer der äl- testen multilateralen Organisationen, der Interparlamen- tarischen Union, die 1889, lange vor Erfindung des Inter- nets, des Fernsehens, des Radios, ja sogar vor Einführung des Telefons, ihren Kampf für die Globalisierung der De- mokratie begonnen hat. Auch wenn nicht immer alle Mit- gliedsparlamente einer strengen demokratischen Über- prüfung standgehalten haben, hat sich doch der mit der IPU verbreitete Demokratiebazillus als sehr reprodukti- onsfreundlich und widerstandsfähig erwiesen. Heute kämpfen fast 140 Mitgliedsländer zusammen mit anderen multilateralen Organisationen für eine vollständige und unwiderrufliche weltweite Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten. So hat die IPU seit 1966 in über 700 Fällen zugunsten von inhaftierten Volksvertretern in- terveniert. Heute leistet die IPU umfassende Demokrati- sierungshilfe in vielen Entwicklungsländern. 112 Jahre nach ihrer Gründung und zu Beginn des neuen Jahrtausends ist die Vision einer demokratischen Welt so greifbar wie nie zuvor. Doch selbst in einer Welt, in der sich Menschenrechte, Demokratie und Marktwirt- schaft durchgesetzt haben, kurz: in einer liberalen Welt, wird die IPU weiterhin wichtige Aufgaben zu erfüllen ha- ben. Die Tätigkeit der Parlamentarischen Versammlungen des Europarates, der NATO oder der OSZE zeigen, dass in einer immer näher zusammenrückenden Welt ein er- heblicher Koordinierungsbedarf zwischen demokrati- schen Volksvertretungen besteht. Vieles, was zu Zeiten der Nationalstaaten der ausschließlichen Regelungskom- petenz nationaler Parlamente vorbehalten war, bedarf im Zeitalter der Globalisierung multilateraler Abstimmung. Hier liegt eine der großen Herausforderungen der IPU als parlamentarisches Gegenstück zu den Vereinten Natio- nen. Petra Bläss (PDS): Die 103. Konferenz der Interpar- lamentarischen Union vergangene Woche in Amman hat gezeigt, wie wichtig der institutionalisierte internationale Dialog der Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus aller Welt ist. Der Globalisierungsprozess stellt gerade hier eine wichtige Herausforderung dar. Denn der Hori- zont nationaler Parlamente reicht längst nicht mehr aus, den vor uns stehenden Problemen gerecht zu werden. Es waren zutiefst existenzielle Fragen, die im Mittel- punkt der Debatte standen: das Erreichen von Frieden, Stabilität und einer umfassenden Entwicklung in der Welt und der Aufbau engerer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zwischen den Völkern sowie die Förderung des Dialogs zwischen Zivilisation und Kultu- ren. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier plädier- ten unter anderem für eine Stärkung der multilateralen Konfliktbewältigung von Organisationen wie UNO und OSZE und regten die Bildung weiterer regionaler und lo- kaler Zusammenschlüsse zur Konfliktprävention und zur Friedenssicherung an. Unsere Delegation hat der Debatte um den Dialog und den Austausch zwischen Zivilisatio- nen und Kulturen entscheidende Impulse gegeben. Nein, es gibt keine Alternative zum Dialog zwischen den Zivilisationen. Nur der Dialog führt zum friedlichen Zusammenleben der Völker und zur kulturellen Bereiche- rung der Menschen. Noch immer ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die universell akzeptierten Menschen- rechte Grundlage jeder dialogfähigen Zivilisation und Kultur sein müssen. Die Toleranz gegenüber kulturellen Unterschieden und die Bereitschaft zum Dialog zwischen Kulturen und Zivilisationen dürfen keinen Vorwand für die Verletzung der Menschenrechte liefern. Da ich unmittelbar im Anschluss an die IPU-Konferenz an der Parlamentspräsidentenkonferenz der parlamentari- schen Versammlungen in Europa teilnahm, möchte ich an dieser Stelle auf eine Parallele der Debatten in Amman und Strasbourg aufmerksam machen, zumal sie unsere Arbeit in den nationalen Parlamenten betrifft: Die internationalen Zusammenhänge und Gremien, zu denen die IPU gehört, haben durch ihr stetes Engagement für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung geleistet. Nun gilt es aber, Wege zu finden, diesen großen Erfah- rungsschatz und seinen reichen Fundus völkerrechtlicher Bestimmungen durch eine verstärkte Rückkopplung zu den nationalen Parlamenten noch besser nutzbar zu ma- chen. Noch laufen zu viele internationale Initiativen ins Leere, werden zu viele in den nationalen Parlamenten nicht ausreichend wahrgenommen. Hinzu kommt, dass Konventionen unratifiziert bleiben, zum Teil auch wegen der Schwerfälligkeit der Entscheidungsverfahren in den Mitgliedstaaten. Der Ratifizierungsstand von Konventio- nen sollte daher Gegenstand regelmäßiger parlamentari- scher Prüfung und Beratung sein. Wir brauchen einen ge- regelten Informationsfluss zwischen den internationalen Zusammenhängen bzw. Organisationen und den nationa- len Parlamenten. Die Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten aus 45 Staaten Europas waren sich einig, dass das Engagement für internationale Fragen und auswärtige Politik in den nationalen Parlamenten mehr gefördert und anerkannt werden muss. Es besteht eine Diskrepanz zwischen der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 9637 (C) (D) (A) (B) Internationalisierung der Probleme einerseits und dem Festhalten an einer Art nationaler Kirchturmpolitik ande- rerseits. Zu einer modernen Politik gehört es schließlich auch, dass einmal erarbeitete internationale Grundsätze sowohl für die nationalen Parlamente als auch für Institu- tionen Geltung erlangen müssen, damit die Universalität der Menschenrechte weltweit gewährleistet wird. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrages: Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ gründen und Entschädigung von NS-Opfern der Zwangssteri- lisation und der Euthanasie in die Wege leiten (Tagesordnungspunkt 13) Bernd Reuter (SPD): 55 Jahre nach Ende des Zwei- ten Weltkrieges, ich erinnere an den 8. Mai, stehen auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages wiederholt Themen, die sich mit den furchtbaren Folgen dieses Krie- ges und eines verbrecherischen Regimes beschäftigen. Die Bundesrepublik Deutschland hat in umfangreicher Weise Entschädigung an die Opfer geleistet. Bis Januar 1999 wurden rund 104 Milliarden Mark an Entschädi- gungen auf der Grundlage von gesetzlichen und außerge- setzlichen Regelungen an Opfer auf der ganzen Welt ge- zahlt, dazu kommen nicht bezifferbare sonstige Leistun- gen in Milliardenhöhe nach Regelungen wie dem Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialis- mus in der Sozialversicherung u. Ä. Es wird eingeschätzt, dass in Zukunft für diese Regelungen ein weiterer Fi- nanzbedarf von 20 Milliarden Mark aufzubringen sein wird. Jährlich werden heute 1,5 Milliarden Mark geleis- tet. Wir müssen aber trotz dieses großen finanziellen Auf- wandes feststellen, dass es eine wirkliche Wiedergutma- chung für massenhafte Vernichtung von Leben, für schwerste gesundheitliche Schäden, für Demütigung und tiefste Verletzung der Menschenwürde nicht geben kann. Deshalb erkläre ich hier für die SPD-Fraktion: Die Re- habilitierung und die Verbesserung der Entschädigung für Opfer nationalsozialistischen Unrechts bleibt fortdau- ernde Verpflichtung. So auch nachzulesen in der Koaliti- onsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grü- nen. Und zu diesem Grundsatz stehen wir. Getragen von allen Fraktionen hat der Bundestag am 14. April 2000 das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädi- gung von NS-Zwangsarbeit und weiterem NS-Unrecht behandelt. Diese Bundesstiftung ist ein ganz wichtiger Schritt zur Verbesserung der Entschädigungsleistungen und eine weitere enorme finanzielle Anstrengung des Bundes in Höhe von 5 Milliarden Mark. Ich möchte an dieser Stelle alle deutschen Unternehmen, die sich bisher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft verwei- gern, aufrufen, sich ihrer moralischen Verantwortung be- wusst zu werden und sich finanziell zu beteiligen. Eine abwartende Haltung der Unternehmen ist nicht zu tolerie- ren. Im Rahmen der Bundesstiftung werden vorrangig ehe- malige, noch lebende Zwangsarbeiter entschädigt, vor al- lem in den osteuropäischen Ländern, die bisher keinerlei Wiedergutmachung erfahren haben. Darüber hinaus lässt das Gesetz im Rahmen der finanziellen Ausstattung zu, dass durch die Partnerorganisationen Leistungen für sons- tige Personenschäden gewährt werden können, im Rah- men der finanziellen Mittel. Unter diesem Aspekt ist es besonders misslich, dass bei der Mittelverplanung die für diese Fälle zuständige Partnerorganisation, der so ge- nannte „Rest der Welt“, unterdurchschnittlich ausgestattet wurde. Insofern gilt es die Erfahrungen mit der Bundesstiftung abzuwarten. Wir wissen heute noch nicht, zumindest nicht so genau wie bei den anderen Partnerorganisationen, wie viele Anträge an diese noch zu findende Partnerorganisa- tion eingereicht werden. Wir werden im Herbst über diese Erfahrung verfügen und dann müssen wir neu beraten, auch über die im PDS- Antrag genannten „vergessenen Opfer“. Die aber, und das möchte ich ausdrücklich betonen, keine „vergessenen Op- fer“ sind. Die im Antrag angesprochenen Gruppen hatten und haben die Möglichkeit nach dem Bundesentschädi- gungsgesetz oder dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz und dazu erlassenen Härterichtlinien eine Entschädigung zu beantragen und in vielen Fällen auch erhalten. Euthanasie-Geschädigte und Zwangssterilisierte sind in diese Regelungen voll einbezogen worden. Wir werden auch zu reden haben über weitere Opfergruppen, die nach den vorbenannten Regelungen Anträge stellen konnten, das sind zum Beispiel psychiatrisch Verfolgte, Wehr- dienstverweigerer, Wehrkraftzersetzer, Homosexuelle, Asoziale, alles Gruppen, die der Verfolgung durch das NS-Regime unterlagen. Wir müssen uns dabei bemühen, nicht neue Lücken zu- zulassen und Ungerechtigkeiten vermeiden. In den ver- gangenen Jahren ist viel geleistet worden, aber es muss auf den Prüfstand, ob es der Schwere des Schicksals an- gemessen war und ist oder ob es Härten zu vermeiden gibt. Ich muss nochmals sagen, dass es eine wirkliche Wie- dergutmachung nicht geben kann. Und für sehr viele Op- fer kommt jegliche Entschädigung zu spät. Ich versichere Ihnen aber, dass keiner „vergessen“ wird. Die Bundesrepublik hat, anders als die ehemalige DDR, ihre Verantwortung für begangenes NS-Unrecht wahrgenommen und wird es weiter so handhaben. Aller- dings sehe ich nicht so einen großen Nachholbedarf wie den, der im PDS-Antrag gefordert wird. Aus diesen und den vorgenannten Gründen lehnen wir den Antrag ab. Martin Hohmann (CDU/CSU):Die Fraktion der PDS stellt den Antrag, eine Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ zu gründen und die Entschädigung von NS- Opfern der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ in die Wege zu leiten. Es erübrigt sich klarzustellen, dass es keinen Dissens in der Verurteilung dieser schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt. Es erübrigt sich festzustellen, dass den Opfern und Angehörigen und Nachkommen der Opfer unser Mitgefühl gilt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 20009638 (C) (D) (A) (B) Einerseits will die PDS wieselflink sein, andererseits kommt sie zu spät. Natürlich hat auch die PDS die rot- grüne Koalitionsvereinbarung gelesen. Dort steht in der Tat, dass neben der Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ eine weitere Bundesstiftung „Entschä- digung für NS-Unrecht“ für die „vergessenen Opfer“ ein- gerichtet werden soll. Da nun die Verhandlungen und Ar- beiten für die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in ein abschließendes Stadium gekommen sind, will die PDS mit der Einbringung des vorliegenden An- trages demonstrativ zeigen: „Wir sind auf der Höhe der Zeit. Wir sind die Ersten, die das neue Thema auf die Ta- gesordnung bringen.“ So viel zur vergeblichen Schnellig- keit der PDS. Warum kommt die PDS gleichzeitig zu spät? Unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, musste nicht durch eine PDS-Initiative auf die Nöte dieser Op- fergruppen hingewiesen werden. Zu der Zeit unserer Re- gierungsverantwortung wurden für die Zwangssterilisier- ten die Sterilisationsentscheide der entsprechenden NS- Sondergerichte aufgehoben. Auch erhalten sie nach Prüfung ihrer Einkommens- und Vermögenslage Entschä- digungszahlungen. Es sind nicht unerhebliche Zahlungen an die Opfer geleistet worden. 5 000 DM an Zwangssteri- lisierte als einmalige Leistung und eine monatliche Bei- hilfe von zurzeit 120 DM. Härteleistungen nach dem All- gemeinen Kriegsfolgengesetz sind bei wirtschaftlicher Notlage zusätzlich möglich. An die „Euthanasie“-Ge- schädigten, also die Nachkommen von „Euthanasie“-Op- fern, können nach den Richtlinien zum Allgemeinen Kriegsfolgengesetz einmalige Beihilfen in Höhe von 5 000 DM bei entsprechenden Einkommensvoraussetzun- gen gezahlt werden. Keineswegs kann also behauptet werden, unser Gemeinwesen habe diese Opfergruppen vergessen. Das erkennt die PDS in der Antragsbegrün- dung sogar selbst an. Sie schreibt nämlich wörtlich, dass die erbrachten Leistungen „Hilfe“ waren. Was ist denn nun der wahre Grund für diese parlamen- tarische Initiative der PDS? Man wird den Eindruck nicht los, die PDS wolle mit ihren Forderungen nach Erhöhung der finanziellen Leistungen an diese Menschen sich in erster Linie selbst darstellen. Darstellen als Anwalt des Humanen, als Freund und Fürsprecher der Menschen, be- sonders von solchen, die Opfer wurden. Wie aber steht es tatsächlich um den humanen Ansatz der PDS? Ziemlich umfangreich geht die PDS in ihrem Antrag auf die Opfer der so genannten Euthanasie ein; in der na- tionalsozialistischen Terminologie Aktion T 4 genannt. Diese sah die Vernichtung von so genanntem lebensun- werten Leben vor. Diesen Ausdruck haben die National- sozialisten einer kleinen, im Jahre 1920 erschienenen Schrift entnommen. Die Autoren waren der Jurist Carl Binding und der Mediziner Alfred Hoche. Der genaue Ti- tel lautet: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, die Unterzeile: Ihr Maß und ihre Form. In sehr nüchterner Art sprechen die Autoren Menschen mit schweren angeborenen Schädigungen die Fähigkeit ab, ein vollwertiges Leben führen zu können. Ihr Vorschlag: Diese Menschen durch einen „guten“ Tod (eu thanatos, aus dem Griechischen) von ihrem Leiden und ihrem Le- ben zu erlösen. Zugleich sollte damit die Gesellschaft die Kosten und die Mühen der Pflege einsparen. Welch eine Hybris, welch ein Verstoß gegen das göttliche Gebot: Du sollst nicht töten. Die Angehörigen und die Kirchen wa- ren es, deren Protest diese Mordaktion stoppte. Wenn nun die PDS die Aktion T 4 als verbrecherisch darstellt, müsste sie konsequenterweise die Abtreibung nach eugenischer Indikation bekämpfen. Davon hat man nie etwas gehört. Im Gegenteil, die PDS hat sich immer für eine völlige Freigabe der Abtreibung ausgesprochen. Und so werde ich einfach den Verdacht nicht los, die PDS nutze diesen Vorgang auch um ihr Weltbild zu stützen und zu propagieren. Hinter den Untaten des NS-Regimes lässt sich die hochbelastete Vergangenheit des Kommunismus trefflich verstecken, dessen Erbe und Ausläufer die PDS zweifellos ist. Dazu diente und dient die „antifaschisti- sche Propaganda“. Und es drängt sich der Gedanke auf, dass es für die Glaubwürdigkeit des antitotalitären Konsenses in unserer Gesellschaft gut gewesen wäre, die SED beziehungsweise PDS nach dem Mauerfall zu verbieten. Die juristischen Voraussetzungen waren jedenfalls gegeben. So aber wer- den sich die demokratischen Parteien in diesem Haus noch so manches Mal mit PDS-Anträgen beschäftigen müssen, die aus einer Gemengelage von vordergründig humanem Anlass und beigepackter Propaganda bestehen. Der Vergleich mit dem „I-love-you“-Virus, das dieser Tage schadensträchtig um die Welt ging, hinkt nur wegen der Begrenztheit seiner Wirkdauer. Meine Damen und Herren, wir von der CDU/CSU- Fraktion sind gegen die PDS-Viren immun. Wir lehnen den PDS-Antrag ab. Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen): Die Regie- rungsfraktionen haben – mittlerweile mit Unterstützung aller Fraktionen dieses Hauses – einen Gesetzentwurf für die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ auf den Weg gebracht. Wir sind darüber sehr froh, denn damit wird unser wichtigstes Versprechen aus der Koalitions- vereinbarung an die Opferverbände umgesetzt. Soweit es sich um im Inland und Ausland lebende NS-Opfer, na- mentlich die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge, Opfer von Menschenversuchen oder Insas- sen der NS-Arbeitserziehungslager, handelt, werden mit dieser Stiftung endlich auch Opfer umfasst, die als „ver- gessene“ oder bislang ausgegrenzte Opfer zu bezeichnen sind. Aber im Inland leben weitere Opfer, die entweder keine oder in den meisten Fällen keine zureichende Ent- schädigung erhalten haben, die sich mit geringfügigen Einmalzahlungen zufrieden geben mussten. Diese Opfer fallen zumeist nicht unter die Regelungen dieser Stiftung. In einzelnen Bereichen hat man ja in Deutschland in den letzten Jahren für bestimmte Betroffenengruppen nachgebessert. Ich nenne hier beispielhaft die Renten in Höhe von monatlich 500 DM, die jüdische Opfer mittler- weile im Rahmen des so genannten Artikel-2-Fonds er- halten können, wenn sie zuvor keine ausreichende Ent- schädigung erhalten haben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 9639 (C) (D) (A) (B) Für andere Opfergruppen gibt es diese Grundrente aber bislang nicht oder allenfalls auf Landesebene In den letz- ten Wahlperioden haben Bündnis 90/Die Grünen und SPD deshalb darauf gedrängt, eine befriedigende bundesweite Lösung zu finden. Und deshalb ist dieses Projekt, eine zweite Bundesstiftung für die „vergessenen Opfer“ vor- zubereiten, auch in die Koalitionsvereinbarung aufge- nommen worden. Wir brauchen hier also keine Nachhilfe der PDS. Wir müssen nun schauen, welche Betroffenen tatsäch- lich unter das Stiftungsgesetz „Erinnerung, Verantwor- tung, Zukunft“ fallen werden und welche nicht. Das wis- sen wir erst nach Verabschiedung des Gesetzes im Bun- destag. Die Regierungsfraktionen haben sich deshalb darauf verständigt, über das zweite Projekt für die „ver- gessenen Opfer“ erst im Herbst in Detailgespräche einzu- treten. Die PDS fordert zudem die Anerkennung der Zwangs- sterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten als rassisch Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes und verbesserte Leistungen für diese. Ich muss zuerst da- rauf verweisen, dass der Begriff, den die PDS für die „Euthanasie“-Geschädigten wählt, sehr problematisch ist. Er schließt nämlich die aus, die das Tötungsprogramm selbst überlebt haben, und konzentriert sich allein auf die Angehörigen. Ansonsten greift die PDS wiederum allein die Forderung auf, die Bündnis 90/Die Grünen schon von jeher vertreten haben, zuletzt sogar mit einem eigenen Ge- setzentwurf zum NS-Aufhebungsgesetz, der das Ziel hatte, die Zwangssterilisierten als NS-Verfolgte anzuer- kennen. Die eigentlich komplizierte Frage ist aber die der Rechtsfolgen. Hier ist interessant, dass die PDS zwar die genannten Betroffenen als rassisch Verfolgte anerkennen will, für sie aber nicht wieder die Antragsfrist nach dem BEG öffnen will. Die Betroffenen sollen nach dem Willen der PDS auch nicht die regulären BEG-Leistungen, etwa für einen Berufsschaden, bekommen, sondern stattdessen eine einmalige Pauschalabfindung. Wenn die Fristen für das BEG aber nicht geöffnet werden, könnten die Betrof- fenen für den Gesundheitsschaden allein die Härteleis- tungen nach dem BEG erhalten. Diese wären aber nicht höher als die Härteleistungen, die die Zwangssterilisierten heute schon aufgrund des allgemeinen Kriegsfolgenge- setzes (AKG) bekommen. Damit wäre also nichts gewon- nen. Wenn man aber umgekehrt die Fristen zum BEG für die Zwangssterilisierten öffnen würde, müsste man das BEG auch für andere Betroffenengruppen öffnen, um keine neuen Ungerechtigkeiten zu schaffen. Das will aber die Mehrzahl der deutschen Verfolgtenverbände nicht und favorisiert – wie wir – eine unbürokratische Bundesstiftung. Und wenn die PDS den Zwangssterili- sierten und „Euthanasie“-Geschädigten eine Zusatzzah- lung von einmalig 10 000 DM zahlen will, wird sie den Militärjustizopfern, Homosexuellen und so genannten Asozialen, die vielleicht auch einen Berufsschaden erlit- ten haben, erklären müssen, warum sie nicht auch eine solche Leistung erhalten sollen. Mit einem Wort: Das Konzept der PDS ist undurchdacht und in sich wider- sprüchlich. Auch können wir nicht dem Anliegen der PDS zustimmen, „ausländische NS-Opfer (...) in gleicher Weise zu entschädigen wie jene, die deutsche Staatsbür- ger sind“. Dies hieße, das Regelwerk, das mit den Global- abkommen im Westen und Osten – und nun ergänzend mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ – be- schlossen wurde, in eine außerordentlich komplizierte Si- tuation zu bringen. Wir tun deshalb gut daran, unter Gesichtspunkten der Gleichbehandlung aller Opfer Verbesserungen für die „vergessenen Opfer“ im Rahmen unserer Debatte für eine zweite Bundesstiftung aufzugreifen. Wir haben auch nichts dagegen, in einem ersten Schritt schon Verbesse- rungen bei den jetzigen Härteregelungen vorzunehmen, wie dies von den Betroffenenverbänden gewünscht ist. Erstaunlicherweise tauchen diese im Forderungskatalog des PDS-Antrages aber nicht auf. Ich nenne beispielhaft eine Reform bei der Anrechnung des Familieneinkom- mens. Im Übrigen regen wir an, nachdem die Urteile der NS-Erbgesundheitsgerichte gegen die Zwangssterilisier- ten mittlerweile als NS-Unrecht gesetzlich aufgehoben wurden, durch eine Entschließung des Deutschen Bun- destages zu dokumentieren, dass wir als Parlament die „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten als Verfolgte anerkennen und ihnen damit auch ihre Würde wiedergeben wollen. Rechtsfolgen im Sinne einer Öff- nung des BEG sind damit nicht zwingend verbunden. Dr. Max Stadler (F.D.P): Mit dem heute in erster Le- sung zu behandelnden Antrag wird die Regierungskoali- tion zu Recht daran erinnert, dass sie in der Koalitions- vereinbarung eine Entschädigungsregelung für die so ge- nannten vergessenen NS-Opfer versprochen hat. Eine Koalitionsvereinbarung geht in ihrer Wirkung weit über das hinaus, was von Parteien beispielsweise in Wahlprogrammen angekündigt wird. Eine Koalitionsver- einbarung ist das Programm, das die Koalitionspartner mit bindender Wirkung vertraglich verabreden. Damit verpflichten sich die Koalitionspartner nicht nur im Ver- hältnis zueinander, sondern sie wecken in der Öffentlich- keit und insbesondere bei den Betroffenen die sichere Er- wartung, das Vereinbarte werde auch realisiert. Diese Hoffnung ist jedoch von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen bisher nicht erfüllt worden. Von einer Lösung der Problematik der so genannten vergessenen Opfer war in den letzten 18 Monaten keine Rede mehr. Damit zeigt sich wieder einmal, dass es offenkundig leichter ist, aus der Oppositionsrolle heraus Anträge zu stellen, als in ei- ner Regierung gegebene Versprechen einzuhalten. Denn sowohl von der SPD als auch den Grünen sind in der Ver- gangenheit wiederholt Anträge auf Errichtung von Stif- tungen zur Entschädigung von NS-Unrecht gestellt wor- den. Die Regierungsfraktionen werden aufgrund des vorlie- genden Antrags Auskunft darüber geben müssen, warum sie nun für die „vergessenen Opfer“ nichts tun. Dabei hat die F.D.P.-Fraktion durchaus Verständnis für eine Argu- mentation, die auf die vorrangige Lösung der Zwangsar- beiterproblematik verweist. Das Gesetz zur Errichtung ei- ner Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zu- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 20009640 (C) (D) (A) (B) kunft“ ist ja soeben von allen Fraktionen gemeinsam im Bundestag eingebracht worden. Das gemeinsame gesetz- geberische Bemühen muss sich jetzt darauf konzentrie- ren, dieses Stiftungsgesetz noch vor der Sommerpause zu verabschieden, damit eine humanitäre Geste in Form von finanziellen Zuwendungen an die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen geleistet werden kann. Die Zwangsarbeiter-„Entschädigung“ stellt ohne Zweifel für die öffentliche Hand einen finanziellen Kraft- akt dar. Es ist verständlich, wenn nicht zeitgleich weitere finanzielle Leistungen für andere Opfergruppen beschlos- sen werden können. Dies hätte allerdings SPD und Grü- nen schon bei Abschluss ihrer Koalitionsvereinbarung klar sein müssen. Entscheidend dafür, dass das Thema von der Regie- rungskoalition hinten angestellt wird, ist aber offenkundig ein Dissens zwischen den Regierungsfraktionen. Daher wird die F.D.P. in den Ausschussberatungen genau nach- fragen, ob denn von der neuen Regierungskoalition nun doch wieder die stets vom Bundesfinanzministerium ver- tretene Auffassung übernommen wird, wonach gar keine Notwendigkeit für neue Entschädigungsregelungen be- stehe. Zu vermuten ist, dass diese traditionelle Haltung des Bundesfinanzministeriums weiterhin bei der SPD Sympathie genießt, von den Grünen jedoch abgelehnt wird. Wenn sich dieser Dissens herausstellen sollte, wäre es allerdings nicht verwunderlich, dass sich die Koaliti- onsvereinbarung in diesem Punkt als unerfüllbares Ver- sprechen erweist. Dr. Ilja Seifert (PDS): Erst vor wenigen Wochen hat der Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen, die Bun- desstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ zu gründen. 55 Jahre mussten vergehen, um die Entschädi- gung der vom Naziregime und seinen Helfern ausgebeu- teten Arbeitssklaven endlich zu regeln. Aber der Skandal dauert fort; denn noch immer versuchen deutsche Unter- nehmen, sich vor einer Beteiligung an der Entschädigung der Zwangsarbeiter vorbeizudrücken. Und noch immer gibt es die so genannten „vergesse- nen“ Opfer, die überwiegend keine oder sehr geringe Ent- schädigungsleistungen erhielten. Homosexuelle, Zwangssterilisierte und „Euthanasie“- Geschädigte, Sinti und Roma, so genannte Asoziale und andere gehören ebenso dazu wie solche, die in den Zeiten des Kalten Krieges von Leistungen des Bundesentschädi- gungsgesetzes gezielt ausgeschlossen wurden. In ihrer Koalitionsvereinbarung hatten SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen vorgesehen, eine entsprechende Bun- desstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ zu gründen und die Entschädigung auf den Weg zu bringen. Da die Regierungsfraktionen bisher keinen Gesetzentwurf vor- gelegt haben, um die Koalitionsvereinbarung in diesem Punkt zu realisieren, hat die PDS Ende 1999 den heute zu behandelnden Antrag eingebracht. Nachdem bald zwei Jahre seit den letzten Bundestags- wahlen vergangen sind und jeden Monat Überlebende des Naziterrors sterben, ist es nicht länger hinnehmbar, dass Opfern eine umfassende moralische und finanzielle Ent- schädigung versagt bleibt. Dabei geht es nicht nur um diese Opfer, sondern auch um die Glaubwürdigkeit so vie- ler Bekenntnisse aus allen Bundestagsparteien, dass Rechtsextremismus und Neonazismus in der Gesellschaft der Bundesrepublik nicht toleriert werden dürfen. Erinnern und nicht vergessen heißt eben auch, den Überlebenden des Naziterrors mit Würde zu begegnen und sie – wie leider in vielen Fällen üblich – nicht in Äm- tern fragwürdigen Bedürftigkeitsprüfungen zu unterwer- fen, um ihnen dann in „Notsituationen“ eine bescheidene finanzielle Hilfe zu gewähren. Exemplarisch für die so genannten „vergessenen“ Op- fer stehen die NS-Opfer der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“. Frühzeitig, gleich nach ihrem Machtantritt, erließ die Nazi-Führung das „Gesetz zur Verhütung erb- kranken Nachwuchses“, dessen juristische Begründung auf der nationalsozialistischen Rassendoktrin und -politik beruhte. Es war eines der ersten Massenvernichtungsge- setze der Nazis und Grundlage für die nachfolgenden Mordaktionen zur Vernichtung so genannten „unwerten Lebens“. Unter missbräuchlicher Nutzung des Begriffs Euthana- sie wurden mehr als 200 000 kranke und behinderte Men- schen ermordet – zumeist in systematischen Tötungsak- tionen, für die ab 1939 die „Aktion T 4“ stand. Noch heute wird deutlich, dass Hadamar, Bernburg, Sonnenstein, Grafeneck und Hartheim viele weitere Ortsnamen hinzu- zufügen wären, an denen ebenfalls unentschuldbare „Eu- thanasie“-Verbrechen begangen wurden. Gerade nach den jüngsten Diskussionen in Jena und Stadtroda sage ich un- missverständlich, dass „Euthanasie“-Verbrechen ohne Wenn und Aber als solche benannt werden müssen und nicht verharmlost werden dürfen. Zur rassistisch begründeten Verfolgung gehörten auch die verbrecherischen Zwangssterilisationen, die ab 1933 an etwa 400 000Menschen begangen wurden. In der Bun- desrepublik leben heute noch etwa 20 000 Opfer der NS- Zwangssterilisationen sowie circa 7 000 bis 8 000 „Eut- hanasie“-Geschädigte. Trotz der Härteleistungen und Aufhebung nationalso- zialistischer Unrechtsurteile bleibt festzuhalten: Eine an- gemessene finanzielle Entschädigung und eine klare An- erkennung der Opfer als Verfolgte stehen nach wie vor aus. Die PDS fordert in ihrem Antrag ausdrücklich, die Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ für alle so genannten „vergessenen“ Opfer unverzüglich zu grün- den und im Rahmen dieser Stiftung „für eine angemes- sene Entschädigung aller bisher nicht oder nur unzurei- chend berücksichtigten NS-Opfer Sorge zu tragen“. Beispielhaft, aber durchaus auf andere Opfergruppen anwendbar, sind im Antrag der PDS speziell für „Eu- thanasie“-Geschädigte und Zwangssterilisierte Wege der Entschädigung aufgezeigt worden. Dabei geht es um zwei Kernfragen: Erstens. Die be- troffenen Opfer werden als Verfolgte anerkannt, denen ein Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 9641 (C) (D) (A) (B) juristischer und moralischer Anspruch auf Entschädigung zusteht. Zweitens. Als Wiedergutmachung erhalten die Opfer eine einmalige Entschädigung von 10 000 DM innerhalb von 12 Monaten nach Verabschiedung des Gesetzes, un- abhängig von bisher gezahlten Beihilfen oder eventuellen früheren Verzichtserklärungen, unabhängig von den Ein- kommens- undVermögensverhältnissen derOpfer undmit geringstmöglichemAntrags- und Verwaltungsaufwand. Wieso können diese relativ einfachen Regelungen für eine sehr begrenzte Anzahl von Opfern des NS-Regimes nicht endlich in entsprechende gesetzliche Regelungen umgesetzt werden? Was hindert die Bundesregierung da- ran, endlich zu ihrem Wort zu stehen? Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 20009642 (C)(A) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410200000
Die Sitzung ist eröff-
net.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
der Kollegin Erika Simm, die am 16. April ihren 60. Ge-
burtstag feierte, und dem Kollegen Jochen Borchert, der
am 25. April ebenfalls seinen 60. Geburtstag beging,
nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses aus-
sprechen.


(Beifall)

Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der Kollege

Wolfgang Bosbach sein Amt als Schriftführer niederge-
legt hat. Ich danke dem Kollegen für seine langjährige
Unterstützung. Als Nachfolgerin wird die Kollegin
Edeltraut Töpfer vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die
Kollegin Töpfer als Schriftführerin gewählt.

Der ehemalige Abgeordnete Gerhard Schulz scheidet
zum 1. Juli 2000 aus dem Verwaltungsrat der Deutschen
Ausgleichsbank aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt
als Nachfolger für den Rest der Amtszeit des
Verwaltungsrats den Kollegen Bartholomäus Kalb vor.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Damit ist der Kollege Kalb als Mitglied in den
Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank entsandt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Pläne der Bundesregierung, die Erbschaftsteuer zu er-
höhen (siehe 101. Sitzung)


2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung
der Bundesregierung zur Erhöhung der Sicherheit im In-
ternet vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem „I
love you“-Virus

3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich
Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.: Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche
Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zü-
gig abbauen – Drucksache 14/3298 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zu Veröffentlichungen, wonach Bun-
desfinanzminister Eichel eine Erhöhung der Mehrwert-
steuer im nächsten Jahr plant

Außerdem mache ich auf nachträgliche bzw. geänderte
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktli-
ste aufmerksam:

Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen wer-
den.

Gesetzentwurf der Bundesregierung über die
Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit
dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen

(Anti-D-Hilfegesetz, AntiDHG) – Drucksache

14/2958 –
überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Bei den in der 99. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Vorlagen soll jeweils der
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ge-
strichen werden.

Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Bun-
deserziehungsgeldgesetzes
– Drucksache 14/3118 –
überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

9483


(C)



(D)



(A)



(B)


102. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Klaus Haupt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.: Erziehungszeit statt Erziehungsur-
laub – Drucksache 14/3192 –

überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Der in der 100. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO zur Mitbera-
tung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Abgeordneten Bernd Reuter,
Dieter Wiefelspütz, Dr. Peter Struck und der Frak-
tion der SPD, der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Friedrich Merz, Michael Glos und der
Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der Abgeordneten Dr. Max Stadler,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der F.D.P.
sowie der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Gregor
Gysi und der Fraktion der PDS zur Errichtung ei-
ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ – Drucksache 14/3206 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Sind Sie auch damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Eidesleistung des Wehrbeauftragten

Der Deutsche Bundestag hat in seiner 100. Sitzung am
14. April 2000 Herrn Dr.Willfried Penner zum Wehrbe-
auftragten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes über
den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages leistet
dieser vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundgeset-
zes vorgesehenen Eid.

Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleistung
zu mir zu kommen.


(Die Anwesenden erheben sich)

Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie nun, den vorge-

schriebenen Eid zu sprechen.

Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages: Ich schwöre, dass ich meine Kraft
dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen
mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und
die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine

Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen
jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410200100
Herr Wehrbeauftrag-
ter, Sie haben den im Gesetz vorgeschriebenen Eid ge-
leistet. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen im Namen des
ganzen Hauses alles Gute für Ihre Arbeit im Interesse der
Bundeswehr.

Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages: Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause – Dr. Peter Struck [SPD] überreicht dem Wehrbeauftragten einen Blumenstrauß)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410200200
Ich rufe nun die Ta-
gesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:

4 a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Deutschland im Aufbruch – Moderne Wirt-
schaftspolitik für neue Arbeitsplätze

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Bessere Erwerbsaussichten für ältere Ar-
beitnehmer durch bessere Qualifizierung
– Drucksache 14/2909 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Gunnar Uldall, Birgit Schnieber-Jastram,
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Beschäftigung als Ziel der Wirtschaftspoli-
tik herausstellen
– Drucksache 14/2988 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
drei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1410200300
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zweifel sind
nicht mehr erlaubt: Es gibt in Deutschland einen kräftigen
Wirtschaftsaufschwung, und zwar einen Aufschwung, der




Präsident Wolfgang Thierse
9484


(C)



(D)



(A)



(B)


alle Branchen erfasst hat, den Export gleichermaßen wie
den Binnenmarkt. Das weisen die Wachstumszahlen aus,
die wir zu erwarten haben. Alle Institute rechnen mit ei-
nem wirtschaftlichen Wachstum für dieses Jahr in Höhe
von 2,8 Prozent sowie mit einem ebenso hohen im nächs-
ten Jahr. Die Europäische Kommission und der Interna-
tionale Währungsfonds halten sogar ein darüber hinaus-
reichendes Wachstum für möglich. Fazit: Wir haben in
diesem Land die Chance, die erste Dekade des neuen Jahr-
hunderts zu einer Dekade der wirtschaftlichen Vernunft
und des sozialen Ausgleichs zu machen. Wir werden diese
Chance nutzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber es sind nicht nur kühle Zahlen über wirtschaftli-
ches Wachstum, die beeindrucken – übrigens nicht nur in
Deutschland, sondern auch international. Wir können
vielmehr mit großer Freude feststellen, dass das Wachs-
tum, dass der Aufschwung inzwischen auch den Arbeits-
markt erreicht hat. Das weisen die Zahlen ebenso klar aus.
Die Arbeitslosenzahlen sind im April dieses Jahres ge-
genüber dem April des Vorjahres um exakt 156 000
zurückgegangen. Wir sind unter der 4-Millionen-Grenze.
Wir haben alle Chancen – so die wirtschaftswissenschaft-
lichen Institute, so andere Institutionen, die sich mit die-
sen Fragen befassen –, am Ende dieser Legislaturperiode
weniger als 3,5 Millionen Arbeitslose zu haben. Ich halte
das für den zentralen Erfolg der deutschen Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Opposition, die gelegentlich daran erinnert, dass
das mit der Politik in diesem Land nichts zu tun habe, sei
übrigens gesagt


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


– das ist sehr interessant –, dass während der ganzen 90er-
Jahre, dass während der ganzen Zeit, in der Sie regierten,
die Zahl der Arbeitslosen deutlich über 4 Millionen lag
und während nicht unerheblicher Teile der 90er-Jahre so-
gar an die 5-Millionen-Grenze herankam.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig!)

Jetzt sind wir bei unter 4 Millionen. Wir werden diesen
Weg konsequent und entschlossen weitergehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für mich besonders erfreulich ist der Rückgang der
Jugendarbeitslosigkeit. Wir hatten 1999 im Vergleich zu
1998 über das Jahr hinweg einen Rückgang der Jugend-
arbeitslosigkeit um mehr als 9 Prozent. Wir haben für
April dieses Jahres, verglichen mit dem Monat März, ei-
nen Rückgang der Arbeitslosenquote bei Jugendlichen
um 1,8 Prozent. Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit,
verglichen mit dem Rückgang der allgemeinen Arbeitslo-
sigkeit, um mehr als das Doppelte verringern können. Das
ist ein zentraler Erfolg der Politik unserer Regierung, der
Politik der rot-grünen Koalition.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich erinnere mich noch ganz gut an die Debatte über
das Sofortprogramm der Bundesregierung hier in diesem
Hohen Hause, in der uns quasi vorgeworfen worden ist,
dass wir auch mit staatlichen Maßnahmen dafür sorgen
wollen und werden, dass die Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland zurückgeht. Was für ein Vorwurf meine Da-
men und Herren! Wir haben es geschafft, den Jugendli-
chen endlich wieder eine Perspektive zu geben. Das ist
nicht nur Arbeitsmarktpolitik, das ist Gesellschaftspolitik
par excellence.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen; denn
wir wissen, dass in vielen wichtigen Bereichen, vor allen
Dingen im Osten unseres Landes, noch zu wenig betrieb-
liche Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Dies ist
übrigens nicht deshalb so, weil die meisten Unternehmen
dort in puncto Ausbildung Drückeberger wären, sondern
vor allen Dingen deshalb, weil es dort weniger Betriebe
gibt. Im Vergleich zum westdeutschen Durchschnitt gibt
es etwa im Mittelstand deutlich weniger Betriebe als bei
uns. Hierin liegt einer der zentralen Gründe, warum wir
bei der Bereitstellung von betrieblichen Ausbildungs-
plätzen im Osten des Landes noch mehr Probleme haben
als im Westen des Landes; denn im Westen haben wir in
gemeinsamer Anstrengung des Bündnisses für Arbeit in
weiten Bereichen bereits eine ausgeglichene Situation
zwischen dem Angebot an Ausbildungsplätzen und der
Nachfrage nach solchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen deshalb insbesondere im Osten unseres
Landes, in den neuen Bundesländern, mit den bisher rea-
lisierten Programmen weitermachen, um den Jugendli-
chen auch dort so weit wie möglich eine Perspektive im
eigenen Land, in der eigenen Region zu geben. Das ist
Kern unserer Anstrengungen, und wir werden nicht nach-
lassen, auf diesem Weg fortzufahren.

Meine Damen und Herren, das, was ich eben über wirt-
schaftliches Wachstum und den Arbeitsmarkt gesagt habe,
vollzieht sich in einer fast inflationsfreien Situation.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Warten wir es ab!)


Übrigens: All diejenigen, die seinerzeit befürchtet haben,
die dramatisch gestiegenen Rohölpreise und die
Schwäche des Außenwerts – ich betone: des Außen-
werts – des Euro würden zu massiven Inflationsschüben
im Inneren der Bundesrepublik führen, haben sich
getäuscht.


(Beifall bei der SPD)

Im April dieses Jahres war eine Inflationsrate von 1,5
Prozent – ich unterstreiche: 1,5 Prozent – zu verzeichnen,
während sie im März noch bei exakt 1,9 Prozent lag. Sie
sehen also: Die Befürchtungen, die übrigens gelegentlich
insbesondere von denen ausgesprochen worden sind, die




Bundeskanzler Gerhard Schröder

9485


(C)



(D)



(A)



(B)


die Frage des Euro noch als eine Frage von Leben und Tod
in Europa bezeichnet haben, sind irreal.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will dazu gleich ein paar Bemerkungen machen.

Die positiven Wachstumsraten und die Tatsache, dass wir
über Inflation im Euroland Gott sei Dank nicht zu reden
brauchen, macht die Kraft der europäischen Volkswirt-
schaften, jener Volkswirtschaften, die den Euro-Raum bil-
den, deutlich. Diese Kraft der Volkswirtschaften und die
Wachstumserwartungen, die wir nicht nur in Deutschland,
sondern die wir im Euroland insgesamt haben, machen die
Stärke der europäischen Währung aus. Deshalb ist es
keine Gesundbeterei, wenn man darauf hinweist, sondern
ökonomische Einsicht, und sie ist richtig. Es ist auch ver-
nünftig, darauf hinzuweisen und keine Angstmacherei mit
diesem Tatbestand zu betreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Übrigen – auch das gehört zu den ja doch verfüg-
baren Einsichtsmöglichkeiten – habe ich mir einmal die
Exportquote von Bayern geben lassen.


(Heiterkeit bei der SPD)

Das ist eine ganz interessante Zahl, weil man von einem
dort amtierenden Ministerpräsidenten ja gelegentlich
Sprüche hört, die so klingen, als hätten seine Partei und
sein früherer Parteivorsitzender mit der Einführung des
Euro nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun.


(Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Nennen Sie doch mal die Exportquote von Nordrhein-Westfalen!)


Das hat er ja auch nicht, oder? – Ich habe es immer anders
verstanden.

Die Exportquote in Bayern beträgt ungefähr 37 Pro-
zent.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist doch gut, oder?)


Es fehlt euch noch ein bisschen, um auf 38 Prozent zu
kommen. Sie ist übrigens fast exakt so hoch wie die in den
meisten anderen Bundesländern und fast genauso hoch
wie die von Niedersachsen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Das hat natürlich mit dem Auto zu tun; das ist ja keine
Frage.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Mit BMW!)

– Nein, nicht BMWmeine ich jetzt, sondern Volkswagen,
Herr Glos.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Auf diese Idee bin ich nicht gekommen!)


Rund 30 Prozent aller deutschen Industriearbeitsplätze
hängen vom Export ab. Aber es ist die Auffassung all der-
jenigen, die wirklich Wirtschaft praktizieren, dass wir uns
trotz der Schwäche des Euro, und zwar ausschließlich in
der Parität zum Dollar, deswegen keine großen Sorgen

machen müssen, weil die Stärke der Währung unbezwei-
felbar da ist. Ferner brauchen wir angesichts der Siche-
rung der Arbeitsplätze im Export nicht unbedingt zu wei-
nen, wenn es der deutschen Exportwirtschaft zulasten an-
derer besser geht. Denn wir hatten schon einmal andere
Zeiten: Als die DM-Dollar-Parität bei 1,35 DM und dar-
unter lag, hatten wir Grund, über den Außenwert zu wei-
nen, weil wir enorme Schwierigkeiten beim Export hat-
ten. Mir kommt es darauf an, allen Menschen in diesem
Land zu sagen: Die Stärke einer Währung bemisst sich
nach der Kraft der dahinter stehenden Volkswirtschaften.
Der Außenwert dieser Währung wird sich dieser Kraft an-
gleichen. Davon bin ich fest überzeugt. Bis dahin lasst uns
ein bisschen Freude daran haben, dass es unserer Export-
wirtschaft so gut geht, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich stelle mir gelegentlich vor, welche Reden in diesem
Haus gehalten würden, wenn die Machtverhältnisse um-
gekehrt wären. Mit Zahlen, die nur ein Zehntel der jetzi-
gen betragen würden, würden Sie einen Tanz um das gol-
dene Kalb aufführen; davon bin ich fest überzeugt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Als die Wachstumserwartungen für 1998 und 1999
nicht so glanzvoll waren, wie wir sie gerne gehabt hätten,
hat die Opposition gesagt, dass das natürlich an der Re-
gierung liegt. Jetzt habe ich eine Stellungnahme – ich
glaube, von Frau Merkel – gelesen, in der steht, jetzt, wo
die Wachstumsraten nach oben gehen, liegt es natürlich
nicht an der Regierung. Das überrascht mich.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Trotz der Regierung!)


Frau Merkel, das ist Politik nach dem Motto: Wenn in
Deutschland die Sonne lacht, hat es die CDU gemacht.
Gibt es winters Eis und Schnee, war es die böse SPD.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: Die Stunde der Komödianten!)


So kann man es doch nicht machen.
Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass wir eine

Situation in Deutschland haben, die im Vergleich zu dem,
was wir im letzten Jahrzehnt der früheren Regierung er-
lebt haben, glanzvoll ist, hat etwas mit den Ansätzen zu
tun, die wir gemacht haben und die zum Teil bereits in das
Gesetzblatt Eingang gefunden haben. Das hat zum Bei-
spiel mit der Steuerreform zu tun, die der Bundesfinanz-
minister auf den Weg gebracht hat und die zu großen Tei-
len bereits durchgesetzt ist und weiter durchgesetzt wer-
den wird. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass wir uns
nicht auf einen fruchtlosen Streit eingelassen haben, wel-
ches der richtige Weg in der Wirtschafts- und Finanzpoli-
tik sei: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Diese Si-
tuation gäbe es, wenn wir nicht beides gemacht hätten, in
Deutschland nicht.




Bundeskanzler Gerhard Schröder
9486


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben mit den ersten Maßnahmen, mit dem Steu-
erentlastungsgesetz, angesichts damaliger konjunktureller
Schwäche auf dem Binnenmarkt massiv für zugeführte
Kaufkraft bei den durchschnittlich Verdienenden in die-
sem Land gesorgt. Es hat nicht nur soziale Gründe, dass
wir Entlastungen in großem Umfang gemacht haben.
Nein, es entsprang auch der ökonomischen Einsicht, dass
es sinnvoll ist, die Nachfrage zu mobilisieren, da kon-
junkturelle Erwartungen auf dem Binnenmarkt noch nicht
so realisiert werden konnten, wie wir es uns wünschten.
Deshalb ging es uns immer um wirtschaftliche Vernunft
und sozialen Ausgleich, wenn wir dafür gesorgt haben,
dass die breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung in
diesem Land von dem, was sie brutto verdienen, netto
mehr übrig haben. Das ist der Kern unserer Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das war auch der Grund, warum wir das Kindergeld
kräftig erhöht haben, während Sie nur herumgeredet ha-
ben. Wir haben das Kindergeld in mehreren Schritten um
50 DM pro Kind erhöht. Es sind die größten Sprünge, die
beim Kindergeld in der Geschichte der Bundesrepublik
gemacht worden sind. Das war wirtschaftlich vernünftig
und sozial gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das wird jetzt weitergehen. Wir befassen uns nun mit
der Angebotsseite. Die Beschlüsse des Finanzausschusses
sind gefasst. In der nächsten Woche wird, soweit ich es
mitbekommen habe, die Mehrheit im Deutschen Bundes-
tag dafür sorgen, dass das eichelsche Unternehmenssteu-
erkonzept Gesetz werden wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist auch nötig, dass es Gesetz wird; denn damit
nehmen wir die von uns beabsichtigte Stärkung der An-
gebotsseite vor. Das soll den Unternehmen in Deutsch-
land bessere Möglichkeiten geben. Sie sehen ja, dass das
greift. Wenn ich „bessere Möglichkeiten für Unterneh-
men“ sage, meine ich schlicht, dass wir jene Gewinne, die
in Deutschland gemacht werden und die bei uns in
Arbeitsplätze investiert werden, steuerlich besser stellen
wollen als jene Gewinne, die nach Luxemburg oder
Liechtenstein transferiert werden. Ich weiß gar nicht, was
daran falsch sein soll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist der Kern des eichelschen Konzepts. Das wird
durchgesetzt.

Wir werden mit dem Pfusch jährlicher Steuergesetze
aufhören, weil diese zu völliger Unkalkulierbarkeit bei
den Investoren, aber auch bei den Verbrauchern geführt
haben. Das ist der Grund, warum Hans Eichel eine Kon-
zeption vorgelegt hat, die bis zum Jahr 2005 tragen wird.
Wir brauchen die Kalkulierbarkeit für Investoren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kern dessen, worum es uns geht, ist, eine im interna-
tionalen und auch im europäischen Wettbewerb ver-
gleichbare Unternehmensbesteuerung zu schaffen. Diese
wird durchgesetzt. Wir, das heißt, die staatliche Ebene,
werden uns mit einem Körperschaftsteuersatz von
25 Prozent begnügen. Wir räumen den Personengesell-
schaften – soweit sie es wollen – eine Optionsmöglichkeit
ein, ohne Körperschaften werden zu müssen.

All denjenigen, die fragen: Was macht Ihr denn bei der
Einkommensteuer?, möchte ich ein paar nüchterne Zah-
len entgegenhalten, mit denen sich zum Beispiel bewei-
sen lässt, dass durch eine weitere Senkung des Spitzen-
steuersatzes, die immer wieder gefordert wird, alle mög-
lichen Gruppen entlastet werden, aber jedenfalls nicht die
hart arbeitenden Mittelständler in diesem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Nach den Zahlen, die mir vorliegen, haben 78 Prozent de-
rer, die über gewerbliche Einkommen verfügen, also die
klassischen Mittelständler, ein zu versteuerndes Einkom-
men – ich betone: ein zu versteuerndes Einkommen; Sie
müssen natürlich die Freibeträge einrechnen; ansonsten
ist es arg wenig – von unter 100 000 DM. Diesen Men-
schen, also 78 Prozent derer, auf die Sie sich immer beru-
fen, helfen Sie doch nicht mit der Reduzierung des Spit-
zensteuersatzes. Die Einkommen dieser Menschen sind
doch gar nicht so hoch, dass sie auch nur in die Nähe des
Spitzensteuersatzes kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf den Weg, den Hans Eichel beschritten hat – Ein-
gangssteuersatz senken, bei der Progression etwas tun und
bei der Gewerbesteueranrechnung in doppelter Weise
hilfreich sein –, sind die meisten Mittelständler angewie-
sen. Sie machen dagegen Politik für vielleicht 5 Prozent
des Mittelstandes, aber nicht für mehr. Darüber müssen
Sie sich im Klaren sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Politik, die wir machen, für die der Bundesfinanzmi-
nister steht und für die er sich übrigens große Zustimmung
bei den Deutschen erworben hat, und zwar völlig zu
Recht, wird unbeirrt Schritt für Schritt fortgesetzt werden.

Ich kann an die Adresse der Mehrheit im Bundesrat, an
die unionsgeführten Länder, nur warnend sagen: Derje-
nige, der alle nasenlang ankündigt: „Wenn Ihr nicht deut-
lich mit dem Spitzensteuersatz runtergeht, dann werden
wir die eichelsche Steuerreform blockieren“, der blockiert
den Aufschwung, der blockiert den Abbau der Arbeitslo-
sigkeit und der blockiert die Chancen für die jungen Leute
in unserem Land. Das werden wir Ihnen jeden Tag deut-
lich machen. Dann werden wir sehen, was passiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Hetzer! Hetzer!)





Bundeskanzler Gerhard Schröder

9487


(C)



(D)



(A)



(B)


Das dritte Element, mit dem wir die Rahmenbedingun-
gen verbessert haben, ist das Bündnis für Arbeit. Ich
habe die Häme, besonders Ihre, Herr Brüderle, noch im
Ohr, mit der Sie sich über dieses Bündnis geäußert haben.
Sie hatten wohl die Hoffnung, dass das Bündnis platzen
würde. Aber solche Hoffnungen sind Hoffnungen gegen
die Menschen in unserem Land. Das müssen Sie sich klar-
machen. Sie mögen parteipolitisch motiviert sein. Aber
sie haben mit den Interessen der Menschen in diesem
Land nicht das Geringste zu tun.


(Beifall bei der SPD)

Als wir dann, weil wir vernünftige Gesprächspartner

gefunden hatten, eine Tarifrunde in den wichtigsten Bran-
chen dieses Landes, die den Aufschwung und den Abbau
der Arbeitslosigkeit unterstützt, zustande gebracht haben,
hätten Sie wenigstens einmal sagen können: Das haben
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unter der Stab-
führung der Bundesregierung gut gemacht. Aber diese
Größe hatten Sie nicht.


(Beifall bei der SPD)

Sie sollten sie sich erwerben, wenn Sie wieder etwas zu
sagen haben wollen.

Im Bündnis für Arbeit haben wir nicht nur einen Aus-
bildungskonsens hergestellt;


(Michael Glos [CDU/CSU]: Schöne Tarifautonomie!)


vielmehr haben wir durch Diskussionen dafür gesorgt,
dass von den gesellschaftlichen Kräften – es geht um Be-
reiche, in denen die Bundesregierung eben nicht autonom
handeln kann – jener Kurs, für den diese Bundesregierung
und diese Koalitionsmehrheit stehen, offensiv unterstützt
worden ist. Das ist eine Leistung, die man nicht klein
schreiben sollte; denn sie ist in diesem Land leider nicht
selbstverständlich; sie musste erarbeitet werden.

Wir werden im Bündnis für Arbeit in den nächsten Mo-
naten an den Punkten Ausbildung und – vor allen Din-
gen – Weiterbildung weiterarbeiten. Hinzu kommt eine –
Gott sei Dank – wachsende Volkswirtschaft. Die Arbeit
daran wird diesmal hoffentlich mit Unterstützung des
ganzen Hauses getan. Aber die Frage, die wir noch nicht
beantwortet haben, lautet: Welche gesellschaftlichen
Gruppen profitieren von dieser wachsenden Volkswirt-
schaft? Wir müssen im Bündnis für Arbeit und später dann
auch hier nicht nur darüber reden, sondern auch Rahmen-
bedingungen dafür schaffen, dass breite Schichten der ar-
beitenden Bevölkerung am Wachsen des Kapitalstocks
unserer Volkswirtschaft gerecht beteiligt werden. Das ist
unsere große Aufgabe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, damit ist der wirtschafts- und finanzpoliti-
sche Dreiklang unserer Politik deutlich geworden. Das
erste Element besteht in einer wachstums- und beschäfti-
gungsorientierten Steuerpolitik und in einer ebensolchen
Abgabenpolitik. Ich möchte einmal daran erinnern, dass
beispielsweise die Beiträge zur Rentenversicherung nach
jahrelangem Anstieg gesunken sind, seit wir regieren. Das
ist für die Betriebe, zumal für die lohnintensiven, außer-

ordentlich viel wert. Das sollte man einmal zur Kenntnis
nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Runtersubventioniert!)


Man sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass der Ver-
such der Konsensbildung über das Bündnis für Arbeit –
das zweite Element dieser Politik – richtig und wichtig ist.
Dasselbe gilt für das dritte Element dieser Politik – ich
nehme an, der Bundesfinanzminister wird sich in der De-
batte noch dazu äußern –, nämlich die Konsolidierung
des Haushalts.Dies gilt angesichts der Tatsache, dass Sie
uns 1,5 Billionen DM Schulden hinterlassen haben, für
die wir jedes Jahr 82 Milliarden DM Zinsen zahlen müs-
sen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Politik ist übrigens nicht nur im nationalen Maß-
stab außerordentlich wichtig; vielmehr trägt die eichel-
sche Konsolidierungspolitik dazu bei, dass die Europä-
ische Zentralbank, die ja in eigener Verantwortung han-
delt, ein für uns so wichtiges, weil wachstumsfreund-
liches Zinsniveau aufrechterhalten kann. Ich gehe davon
aus, dass das auch in Zukunft gelingt. Aber die unabding-
bare Voraussetzung dafür, dass das gelingt, ist die Konso-
lidierungspolitik des Bundesfinanzministers. Deswegen
unterstreiche ich auch hier: All denjenigen, die bereits
jetzt darüber reden, dass man vielleicht zu erzielende Ein-
nahmen – woraus auch immer – zur weiteren Absenkung
des Spitzensteuersatzes nutzen könnte, sage ich: Größe-
ren Unsinn kann man wirtschaftspolitisch nun wirklich
nicht anrichten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Diese Einnahmen gehören – ich erinnere an die Größe-
nordnung unserer Schulden – in die Schuldentilgung.
Wenn das geschehen ist, kann man darüber reden – das
wäre eine vernünftige Diskussion –, ob diejenigen
Zinsaufwendungen, die dann nicht mehr nötig sind, für
zukunftsgerichtete Investitionen verfügbar gemacht wer-
den können. Nur so herum geht es. Wir können nicht be-
reits verteilen, was wir noch gar nicht in der Tasche ha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich mache deutlich: Der Weg, den wir gegangen sind,
ein Weg wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerech-
tigkeit, führt zu sichtbaren Erfolgen, was das wirtschaftli-
che Wachstum angeht, er führt zu sichtbaren Erfolgen,
was den Arbeitsmarkt angeht. Deswegen werden wir die-
sen Weg weitergehen, meine Damen und Herren, fest und
entschlossen. Sie können und Sie sollten ihn kritisch be-
gleiten, aber auf keinen Fall sollten Sie ihn blockieren,
wenn Sie wirklich an Deutschlands Interessen und nicht
nur an Parteipolitik denken.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Bundeskanzler Gerhard Schröder
9488


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410200400
Ich erteile nun dem
Kollegen Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.


Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1410200500
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! In der Tagesordnung für die heutige
Sitzung des Deutschen Bundestages steht „Abgabe einer
Erklärung der Bundesregierung“. Streckenweise habe ich
gedacht, es sei eher eine Kasperade, die hier abgehalten
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Lachen bei der SPD)


Der Titel dieser Regierungserklärung, meine Damen
und Herren, lautet: „Deutschland im Aufbruch – Moderne
Wirtschaftspolitik für neue Arbeitsplätze“. Dieser Titel al-
lein täuscht über die wahre Lage der Volkswirtschaft
und des Arbeitsmarktes der Bundesrepublik Deutsch-
land hinweg. Deutschland ist nicht im Aufbruch, es gibt
auch keine moderne Wirtschaftspolitik und, Herr Bundes-
kanzler, wir sind von neuen Arbeitsplätzen in Deutschland
nun wirklich weit entfernt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie berufen sich immer wieder und auch heute Morgen

auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit. Herr Bundes-
kanzler, der Rückgang der Arbeitslosigkeit in der Bun-
desrepublik Deutschland – Sie wissen das – ist im We-
sentlichen statistisch begründet. Er ist im Wesentlichen
eingetreten und er wird sich fortsetzen, selbst wenn Sie
sich mit Ihrer ganzen Regierung entschließen sollten, bis
zum Ende dieser Legislaturperiode in die Toscana zu rei-
sen,


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das wäre das Beste!)


allein aus Gründen, die im Bevölkerungsaufbau, in der so
genannten demographischen Entwicklung der Bevölke-
rung der Bundesrepublik Deutschland liegen.


(Widerspruch bei der SPD)

Es scheiden nämlich sehr viel mehr ältere Beschäftigte
aus dem Arbeitsmarkt aus, als jüngere Beschäftigte in den
Arbeitsmarkt nachwachsen. Ihre ganze Hoffnung, Herr
Bundeskanzler, richtet sich darauf, dass ältere Arbeitslose
zu Rentnern werden, und nicht darauf, dass jüngere Ar-
beitslose zu Beschäftigten werden. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben ganz offensichtlich aus erkennbaren Gründen

darauf verzichtet, einen europäischen Vergleich über die
Entwicklung auf den Arbeitsmärkten anzustellen. Herr
Bundeskanzler, die Entwicklung des Arbeitsmarktes in der
Bundesrepublik Deutschland ist im Jahre 1999 praktisch
zum Stillstand gekommen. Es hat in Deutschland keine
neuen Beschäftigten, keine zusätzlichen Arbeitsplätze ge-
geben. Wir haben bei den Beschäftigten gerade einmal ein
Wachstum von 0,2 Prozent gehabt. Das sind im Jahres-
durchschnitt etwa 30 000 zusätzliche Beschäftigte. Hätten
wir den europäischen Durchschnitt – nur den europäischen

Durchschnitt! – im Zuwachs von Beschäftigung erreicht, –
nicht bei der Statistik der Arbeitslosigkeit – der bei knapp
2 Prozent lag, dann hätte es in der Bundesrepublik
Deutschland rund 500 000 Beschäftigte mehr geben müs-
sen. Davon ist dieses Land weiter entfernt denn je zuvor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben nicht nur auf den europäischen Vergleich

verzichtet, sondern Sie haben mit ziemlich leichter Hand
auch die Lage in den neuen Bundesländern als ein
Randthema darzustellen versucht. In Wahrheit ist die
Lage in den neuen Bundesländern besonders trostlos,
Herr Bundeskanzler. Die Arbeitslosigkeit dort ist im Ver-
gleich mit dem Vorjahr um über 50 000 gestiegen.

Es hat einen Abbau von Arbeitsplätzen, einen Rück-
gang der Beschäftigtenzahl um 50 000 gegeben. Die
wissenschaftlichen Forschungsinstitute sagen für das
Jahr 2000, also für das laufende Jahr, einen weiteren
Rückgang der Beschäftigtenzahl in den neuen Bundes-
ländern um noch einmal 75 000 voraus. Die Menschen in
den neuen Bundesländern müssen schon den Titel dieser
Regierungserklärung als blanken Zynismus empfinden,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Bundeskanzler, Sie haben auf einen weiteren eu-

ropäischen Vergleich bewusst und aus guten Gründen ver-
zichtet. Sie haben die Wachstumsraten in Deutschland
angesprochen. Es ist wahr: Das wirtschaftliche Wachstum
in der Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Jahr
und vermutlich auch im nächsten Jahr kräftig steigen.
Aber im Gegensatz zu früheren Jahren ist die Bundesre-
publik Deutschland nicht die Lokomotive in der Europä-
ischen Union, sondern sie ist im europäischen Vergleich
das Schlusslicht.


(Bundesminister Hans Eichel: Es ist unglaublich!)


Es reicht eben nicht aus zu sagen, wie gut die Lage in
Deutschland ist, sondern es kommt immer darauf an, wie
gut sie im Vergleich zu den europäischen und außereu-
ropäischen Wettbewerbern ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich sage Ihnen hier ganz konkret: Wir haben dieses wirt-
schaftliche Wachstum in Deutschland doch nicht wegen
dieser Bundesregierung und wegen ihrer Politik, sondern
wir haben es trotz dieser Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das Highlight der Rede!)


Die Bundesrepublik Deutschland fällt beim wirtschaft-
lichen Wachstum im internationalen Vergleich weiter
zurück. Während die europäischen Länder im Durch-
schnitt ein wirtschaftliches Wachstum von zum Teil deut-
lich über 3 Prozent erreichen, bleibt die Bundesrepublik
Deutschland in diesem Jahr mit 2,7 Prozent erneut deut-
lich unter dem europäischen Durchschnitt. Herr Bun-
deskanzler, Deutschland und auch ganz Europa fallen






(C)



(D)



(A)



(B)


gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika bezüg-
lich des wirtschaftlichen Wachstums auch im laufen-
den Jahr 2000 wiederum zurück. Es kommt also nicht auf
die absoluten Zahlen an, sondern im Wettbewerb kommt
es auf die relativen Zahlen im Vergleich zu anderen Indus-
trienationen an. Es kommt darauf an, ob Deutschland mit-
hält oder ob Deutschland zurückfällt.

Im Wachstum wie bei der Beschäftigung fällt Deutsch-
land gegenüber dem europäischen Durchschnitt und
gegenüber der amerikanischen Volkswirtschaft weiter
zurück. Darin, Herr Bundeskanzler, liegt ein wesentlicher
Grund für die Außenwertschwäche des Euro. Amerika
wächst, Europa wächst nicht genug mit und Deutschland
ist mit Italien Schlusslicht in der Europäischen Union.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun will ich ausdrücklich unterstreichen und Ihnen in

dem zustimmen, was Sie zur gegenwärtigen Lage des
Euro gesagt haben. Der Euro ist nach innen hin weitge-
hend stabil. Erste erkennbare Inflationspotenziale sind
von der Europäischen Zentralbank mit einer, wie ich
meine, klugen Zinspolitik unter Kontrolle gebracht wor-
den. Die eigentliche Sorge, die wir haben müssen, betrifft
den Außenwert des Euro. Dass Sie nun in Ihrer Rede, in
Ihrer so genannten Regierungserklärung, Herr Bundes-
kanzler,


(Widerspruch bei der SPD)

an die Adresse des früheren Bundesfinanzministers Kritik
richten, veranlasst mich doch, darauf hinzuweisen und zu
fragen: Wer hat denn bei der Einführung des Euro von
einer kränkelnden Frühgeburt gesprochen. Wir oder Sie,
Herr Bundeskanzler?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wer hat denn die Voraussetzungen für die Einführung des
Euro kritisiert? Der Euro ist ein Erfolg, aber ob er im Ver-
hältnis zum amerikanischen Dollar und zur amerikani-
schen Volkswirtschaft auch ein Erfolg bleibt, ob Europa
mithält oder weiter zurückfällt, das hängt entscheidend
von der Wirtschaftspolitik innerhalb der Europäischen
Union ab und das wiederum hängt entscheidend von
der Wirtschaftspolitik innerhalb der Bundesrepublik
Deutschland als dem Land, das ein Drittel der Wirt-
schaftskraft des Euro-Gebietes stellt, ab.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Woran liegt es, dass das wirtschaftliche Wachstum in
der Bundesrepublik Deutschland nicht mit dem durch-
schnittlichen europäischen Wachstum und auch nicht mit
dem Wachstum vieler anderer europäischer Länder mit-
hält? – Ich weiß nicht, ob ich mit meiner Rede die Unter-
haltungen auf der Regierungsbank störe.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


Herr Bundeskanzler, wir haben Ihnen zugehört, als Sie
Ihre Regierungserklärung abgegeben haben. Dass von der
linken Seite des Hauses gestört wird, bin ich gewohnt und
stört mich persönlich nicht. Aber dass auf der Regie-
rungsbank die Mitglieder der Bundesregierung so tun, als

ob die Debatte im Plenum nicht stattfindet, und dass Sie
sich ständig miteinander unterhalten, ist nicht in Ordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Oh!)


Herr Bundeskanzler, Sie können noch so darüber lachen:
Wir haben Ihnen beim Vortragen Ihrer Argumente zu-
gehört. Ich finde, es gehört zum Stil des Parlamentes, dass
auch die Mitglieder der Bundesregierung auf der Regie-
rungsbank zuhören, wenn ein Redner der Opposition
spricht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zurufe von der SPD)


Woran liegt es, dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland eine solche Wachstumsschwäche haben?
Das Wachstum in Deutschland wird überwiegend vom
Export getragen. Im Inland gibt es eine deutliche Schwäche
bei der Nachfrage. Diese Nachfrageschwäche im Inland,
Herr Bundeskanzler, hat im Wesentlichen damit zu tun,
dass in der Verantwortung dieser Bundesregierung im
Laufe des Jahres 1999 die Steuer- und Abgabenbelastung
auf einen neuen Höchststand gestiegen ist. Alle Behaup-
tungen, die Sie in den letzten Tagen und Wochen aufge-
stellt haben, nämlich dass Sie im Jahre 1999 die Abgaben-
und Steuerbelastung in Deutschland gesenkt haben, sind
nachweislich falsch. Die Abgabenbelastung in der Bun-
desrepublik Deutschland hat im Jahre 1999 einen histori-
schen Höchststand erreicht. Sie haben Steuereinnahmen
erzielt, die einen Höchststand der Steuerquote bewirken.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Glaube keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast!)


Im Vergleich zum Jahr 1998 haben Bund, Länder und
Gemeinden durch Ihre Steuerpolitik über 90 Milliar-
den DM mehr Steuern erhoben. Wenn Sie in diesem Zu-
sammenhang die Behauptung aufstellen, dass die Sozial-
versicherungsbeiträge, insbesondere der Rentenversiche-
rungsbeitrag, gesunken seien, dann sagen Sie doch bitte
auch dazu, dass der Rentenversicherungsbeitrag nur des-
halb gesunken ist, weil Sie ihn mithilfe der Ökosteuer he-
runtersubventioniert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es hat sich in Wahrheit nichts an der Steuer- und Abga-
benbelastung geändert. Sie ist weiter gestiegen und nicht
gesunken.

Seit Sie an der Regierung sind, Herr Bundeskanzler,
verlieren Sie praktisch kein Wort darüber, wie Ihre Vor-
stellung hinsichtlich der langfristigen Entwicklung der
Staatsquote ist. Die Staatsquote bringt zum Ausdruck,
was der Staat durch Steuern und Abgaben von der er-
brachten Wirtschaftsleistung dieses Landes für sich bean-
sprucht. Die Staatsquote ist im Jahre 1999 nicht gesunken,
sondern sie ist wieder auf knapp 49 Prozent gestiegen,
und dies zu einem Zeitpunkt, wo der Herr Bundeswirt-
schaftsminister in einer Broschüre – sie darf sich nicht
mehr „Jahreswirtschaftsbericht“ nennen, weil er dafür
nicht mehr zuständig ist; sie nennt sich jetzt „Wirtschafts-
bericht ´ 99“ – zum Ausdruck bringt, dass nach seiner Auf-




Friedrich Merz
9490


(C)



(D)



(A)



(B)


fassung die Staatsquote „auf 40 Prozent zurückgeführt
werden“ muss.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Da hat er Recht!)

Wie wollen Sie es eigentlich bei steigender Steuer- und

Abgabenbelastung erreichen, die Staatsquote in der Bun-
desrepublik Deutschland auf 40 Prozent abzusenken?
Wenn Sie diese Politik der weiteren Steuer- und Ab-
gabenerhöhungen fortsetzen, wird die Staatsquote nicht
sinken, Herr Bundeswirtschaftsminister, sondern sie
wird – entgegen dem, was Sie richtigerweise in Ihrem
Wirtschaftsbericht zum Ausdruck bringen – weiter stei-
gen. Eine Staatsquote von knapp 50 Prozent lässt für eine
Volkswirtschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland
eben nicht genug Freiraum für Investitionen und für mehr
Beschäftigung. So werden Sie Ihr Ziel nicht erreichen,
Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dies sind nicht die Horrorszenarien einer verrückt ge-
wordenen Opposition.


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Die Bezeichnung ist richtig!)


– Das ist wie beim pawlowschen Reflex: Ihnen braucht
man nur Stichworte zu sagen, dann reagieren Sie schon.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Was wahr ist, muss die Wahrheit bleiben!)


Ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit einmal das Sze-
nario wiedergeben, das der so genannte Managerkreis
der Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigen Tagen für den
Fall zu Papier gebracht hat, dass Ihre Steuerpolitik und
Ihre Politik bezüglich der sozialen Sicherungssysteme bis
zum Jahre 2030 fortgesetzt wird. Das ist ein Zeitraum, in
dem der Herr Bundesaußenminister nicht denkt, wie er
gerade zu erkennen gibt.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Aber das ist ein Zeitraum, der gerade einmal eine Gene-
ration umfasst. Ich spreche also über diejenigen, die heute
20 Jahre alt sind und im Jahre 2030 50 Jahre alt sein wer-
den.

Meine Damen und Herren, in diesem Zeitraum, so sagt
der Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung – nicht ir-
gendwelche Turbokapitalisten, sondern diejenigen, die
Sie zur Beratung Ihrer Wirtschaftspolitik in eine der SPD
nahe stehende Stiftung berufen haben –, wird sich der
Rentenversicherungsbeitrag von heute 19,3 Prozent bei
ungebremster Entwicklung auf 28 Prozent erhöhen, der
Pflegeversicherungsbeitrag von 1,7 Prozent auf 3,5 Pro-
zent mehr als verdoppeln, der Krankenversicherungsbei-
trag von heute 13,6 Prozent im Durchschnitt auf 17,5 Pro-
zent erhöhen. Alles in allem führt dies zu einer Steigerung
der Staatsquote von heute knapp 50 Prozent auf im Jahr
2030 sage und schreibe 65 Prozent. Das schrieb Ihnen der
Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigen
Tagen ins Stammbuch unter der Voraussetzung, dass Sie
das fortsetzen, was Sie mit der höchsten Steuer- und Ab-

gabenbelastung, die dieses Land je gekannt hat, im Jahre
1998 begonnen und im Jahre 1999 fortgesetzt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun will ich mich nicht auf die Beschreibung und Kri-

tik der Lage allein beschränken. Die Opposition wird völ-
lig zu Recht – weniger von der Regierung, aber mehr von
der Bevölkerung – gefragt: Was ist denn zu tun? Ich will
mich auf drei Punkte konzentrieren.

Einen Punkt haben Sie selbst bereits angesprochen,
Herr Bundeskanzler, das ist die Steuerreform. Ich weiß
nicht, wie Sie darauf kommen, die Vermutung zu äußern,
dass die Opposition irgendetwas blockiert. Von Blockade
ist bei uns – ich nehme das für alle unionsgeführten
Bundesländer mit in Anspruch – bei niemandem Rede. Im
Gegenteil, ich habe mir in den letzten Tagen sogar schon
öffentlich den Vorwurf machen lassen müssen, ich sei Ih-
nen mit dem, was ich an der einen oder anderen Stelle ge-
sagt habe, zu weit entgegengekommen.


(Lachen bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir nehmen Sie glatt in Schutz!)


Damit das aber klar ist: Herr Bundeskanzler, wir lassen
uns von niemandem in diesem Land, auch nicht von Ih-
nen, drohen und lassen uns von niemandem Warnungen
aussprechen, wenn wir andere politische Überzeugungen
haben und andere politische Antworten auf das geben,
was jetzt in der Steuerpolitik notwendig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wenn bis jetzt in Deutschland jemand blockiert und ab-
gelehnt hat, in der Steuerpolitik zu vernünftigen Ergeb-
nissen zu kommen, dann sind es nicht nur die SPD-ge-
führten Bundesländer vor vier Jahren gewesen, sondern
dann ist es auch diese Bundesregierung gewesen, die bis
zum heutigen Tag das Angebot der Opposition, im Ge-
setzgebungsverfahren des Deutschen Bundestages jetzt
zu Verbesserungen bei Ihrer Steuerpolitik zu kommen, ab-
gelehnt hat. Sie haben jeden Dialog verweigert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Aber ich mache Ihnen noch einmal das Angebot: Sie
haben darauf abgestellt, dass am Donnerstag der nächsten
Woche in zweiter und dritter Lesung entschieden werden
soll. Wir haben bis dahin noch eine Woche Zeit. Wir kön-
nen uns in dieser einen Woche sehr nüchtern und sach-
lich – wir sind zu Kompromissen über Sätze, über Zeit-
pläne und über vieles andere bereit – darauf verständigen,
dass wir einen Grundsatz in der Steuerpolitik für die Zu-
kunft aufrechterhalten, und das ist der Grundsatz der
Gleichmäßigkeit der Besteuerung aller Einkunftsarten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wenn Sie diesen Grundsatz bereit sind zu akzeptieren,
Herr Bundeskanzler, akzeptieren wir auch Kompromisse
mit Ihnen, die Rücksicht auf die öffentlichen Haushalte
nehmen.




Friedrich Merz

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(D)



(A)



(B)


Ich will, weil Sie es angesprochen haben, es ausdrück-
lich an dieser Stelle noch einmal sagen: Auch wir denken
nicht im Traum daran, zur Finanzierung einer Steuerre-
form, die notwendig ist und für die es in den öffentlichen
Haushalten Spielräume gibt – es sind begrenzte Spiel-
räume, aber sie gibt es –, Vorschläge zu machen, Einmal-
einnahmen des Staates zur Finanzierung dauerhafter
Steuersenkungen heranzuziehen. Wir machen diesen Vor-
schlag ausdrücklich nicht. Ich mache mir zu Eigen, was
der frühere Kollege und heutige Finanzminister des Saar-
landes, Peter Jacoby, gestern vorgeschlagen hat: Die
Einmaleinnahmen, die Sie, Herr Bundesfinanzminister,
erzielen werden und wollen – vielleicht geben Sie auch
Auskunft darüber, welche Potenziale Sie da erwarten,
übrigens Potenziale aus Privatisierungen, die Sie in der
Zeit, in der Sie hessischer Ministerpräsident waren, im-
mer abgelehnt haben;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sie haben immer abgelehnt, dass privatisiert wird und
dass in diesem Bereich auch Privatwirtschaft möglich
wird; aber Schwamm drüber, es geht nicht um die Ver-
gangenheit, sondern um die Zukunft – , sollen dem Erblas-
tentilgungsfonds zugeführt werden, damit auch die Schul-
den und die Zinslast der Länder gesenkt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Ich sage Ihnen noch einmal: Das sind schöne Formu-
lierungen, die Sie im Zusammenhang mit den 1,5 Billio-
nen DM Schulden verwendet haben. Aber dabei unter-
schlagen Sie regelmäßig – das gehört natürlich zu Ihrer
politischen Strategie –, dass in diesen 1,5 Billionen DM
Schulden 500 Milliarden DM enthalten sind, die nicht die
Schulden von Helmut Kohl, sondern die Schulden von
Erich Honecker sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber wir machen ganz konkrete Vorschläge.

Es gibt Spielräume für eine Steuerreform, die auf Wirt-
schaftswachstum und Beschäftigung ausgerichtet ist.
Diese Steuerreform muss den Mittelstand genauso entlas-
ten wie die großen Unternehmen in der Bundesrepublik
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Was mir auffällt: Sie reden in der Steuerpolitik und
auch sonst viel von der so genannten „new economy“.
Spüren Sie eigentlich nicht, dass das, was Sie in der Steu-
erpolitik hinsichtlich der Entlastungswirkung vorschla-
gen, ganz überwiegend nicht auf die „new economy“,
sondern auf die „old economy“ abstellt?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie entlasten die großen Konzerngesellschaften, die über-
wiegend zur „old economy“ gehören, und Sie missachten
die wirtschaftlichen Interessen und die Leistungsfähigkeit
gerade derjenigen, die als junge Unternehmen, als Einzel-
kaufleute jetzt tätig werden wollen und die auch Arbeits-
plätze schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein großer Schmarren ist das!)


Wir werden ja in der nächsten Woche noch Gelegenheit
haben, das hier ausführlich miteinander zu debattieren.
Ich hätte mir nur gewünscht, da Sie so ausführlich über
die Steuerpolitik gesprochen haben, Herr Bundeskanzler,
dass Sie hier wenigstens eine Klarstellung vorgenommen
hätten. Es ist in den letzten Wochen, wohl gegen die Pla-
nung der Bundesregierung, mehrfach öffentlich gewor-
den, dass es sehr weit ausgereifte Pläne zur Erhöhung der
Erbschaftsteuer gibt. Warum, Herr Bundeskanzler, ha-
ben Sie Ihre Regierungserklärung nicht genutzt, um klar-
zustellen, dass es mit der Bundesregierung eine Erhöhung
der Erbschaftsteuer nicht gibt? Sie hätten doch die Gele-
genheit dazu gehabt. Ich will Ihnen sagen, warum Sie es
nicht getan haben: Weil es einen Parteitagsbeschluss der
Sozialdemokraten vom Dezember des Jahres 1998 gibt
und Sie die Linken in Ihren eigenen Reihen beruhigen
müssen. Da Sie erkannt haben, dass Vermögensteuern und
Vermögensabgaben nicht mehr erhoben werden können,
haben Sie jetzt Pläne in der Schublade, die Erbschaft-
steuer zu erhöhen.

Ich sage Ihnen: Wer Arbeitsplätze und Ausbildungs-
plätze in Deutschland schaffen will, darf nicht mittelstän-
dische Betriebe mit noch höherer Erbschaftsteuer belas-
ten. Es wäre gut gewesen, wenn Sie das heute Morgen ge-
sagt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Damit wir uns alle nicht täuschen: Selbst eine gut ge-

lungene Steuerreform – ich hoffe, dass es dazu kommt –
wird die Steuer- und Abgabenbelastung in Deutschland
nicht so weit senken, wie es eigentlich notwendig wäre.
Deswegen stehen wir vor grundlegenden Reformen der
sozialen Sicherungssysteme, insbesondere der Renten-
versicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung.
Ich will das jetzt nicht im Detail ausführen. Aber ich will
zwei grundsätzliche Bemerkungen machen.

Erstens. Beide Reformen, die der Rentenversicherung
wie die der gesetzlichen Krankenversicherung, müssen
bis in das Jahr 2030 reichen. Sie werden uns, wenn es um
schwierige politische Entscheidungen geht, nur dann mit
in der Verantwortung finden, wenn Sie den Mut besitzen,
auch jetzt die Probleme mit zu lösen, die es ab dem Jahr
2015 im Hinblick auf die schon einmal beschriebene
demographische Entwicklung in der Bundesrepublik
Deutschland geben wird. Wenn Sie kürzer springen wol-
len, wenn Sie kurzatmigere Politik machen wollen, dann
werden Sie die Unterstützung der Opposition im Deut-
schen Bundestag dafür nicht finden.

Zweitens. Wir erwarten von Ihnen, Herr Bundesar-
beitsminister und Frau Gesundheitsministerin, dass Sie
Vorschläge machen, wie die Rentenreform bis zum Jahr
2030 ausfallen soll, und dass Sie Vorschläge machen, wie
die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung bis
zum Jahr 2030 aussehen soll.

Frau Fischer, Sie haben im letzten Jahr unser Angebot,
gemeinsam diese Entscheidungen zu treffen, das wir im
Zuge des entsprechenden Vermittlungsverfahrens ge-




Friedrich Merz
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(D)



(A)



(B)


macht haben, abgelehnt. Sie hatten zu Beginn des Ver-
mittlungsverfahrens einen bereits ausformulierten Ge-
setzentwurf in der Tasche, der der Zustimmung des Bun-
desrates nicht bedurfte. Damals sind Sie mit dem Kopf
durch die Wand marschiert. Jetzt ist der Karren in den
Dreck gefahren. Wir sind – damit das klar ist – nicht be-
reit, Ihnen dabei zu helfen, ihn wieder herauszuholen,
ohne dass Sie vorher Vorschläge machen, wie das Ge-
sundheitssystem in der Bundesrepublik Deutschland
langfristig aussehen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Meine Damen und Herren, zum letzten Thema: Auch
hierzu haben Sie, Herr Bundeskanzler, praktisch nichts
gesagt. Das entscheidende Problem auf unserem Arbeits-
markt und im Rahmen der Beschäftigungskrise in der
Bundesrepublik Deutschland ist die Lage der so genann-
ten Langzeitarbeitslosen. Rund 40 Prozent der Arbeits-
losen in der Bundesrepublik Deutschland sind länger als
ein Jahr arbeitslos und haben keine abgeschlossene Be-
rufsausbildung.

Welche Angebote machen Sie eigentlich den Langzeit-
arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland für eine
langfristige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt?
Welche Anreize werden für jemanden, der gering qualifi-
ziert ist, geschaffen, sich vielleicht auch für eine etwas
geringfügiger bezahlte Beschäftigung wieder in den Ar-
beitsmarkt zu integrieren?

Die einzige Antwort, die die Bundesregierung bis zum
heutigen Tage darauf gegeben hat, ist die Sozialversiche-
rungspflicht der so genannten geringfügigen Beschäfti-
gungsverhältnisse mit dem Ergebnis, dass 100 000 sozial-
versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr
entstanden sind und 700 000 geringfügige Beschäfti-
gungsverhältnisse ersatzlos weggefallen sind. Das war
Ihre Antwort, die Sie bis jetzt gegeben haben. Aber Sie
brauchen für das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit
bessere Antworten.

Herr Bundesarbeitsminister, ich frage Sie: Wo sind Ihre
Vorschläge? Wir haben angeboten, mit Ihnen zusammen
diesen schwierigen Weg zu beschreiten. Wo sind Ihre An-
gebote zur Verzahnung der Arbeitslosenhilfe und der So-
zialhilfe? Sie selbst haben diesen Vorschlag gemacht. Wir
haben ihn aufgegriffen und haben Ihnen gesagt: Wir sind
bereit, diesen sehr schwierigen Weg – auch auf der Ebene
der Kommunen – mitzugehen. Anderthalb Jahre sind Sie
an der Regierung. Sie haben keinen Vorschlag dazu ge-
macht, die Verzahnung dieser beiden großen und zum Teil
widersprüchlichen sozialen Sicherungssysteme auf den
Weg zu bringen.

Ich habe eine ganz konkrete Frage, die dieses Jahr ent-
schieden werden muss: Herr Bundeskanzler, was ge-
schieht mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz?Wird
es eine Anschlussregelung geben? Das Beschäftigungs-
förderungsgesetz läuft am 31. Dezember 2000 aus. Nach
übereinstimmender Überzeugung aller Beteiligten wurde
mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz und dessen
Möglichkeiten der befristeten Beschäftigung dafür ge-

sorgt, dass gerade in den Problembereichen der Langzeit-
arbeitslosen eine Vielzahl von Menschen wenigstens auf
Zeit wieder eine reguläre Beschäftigung finden konnte.
Warum geben Sie auf die Frage, ob das Beschäftigungs-
förderungsgesetz fortgesetzt werden soll oder nicht, keine
Antwort?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.] – Michael Glos [CDU/CSU]: Gute Frage!)


Die Bundesrepublik Deutschland ist von einer wirklich
modernen Wirtschaftspolitik und der Schaffung von
neuen, dauerhaften Arbeitsplätzen leider weiter entfernt
als fast alle anderen europäischen Mitgliedstaaten. Wir
brauchen in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts
nicht nur wohlfeile Regierungserklärungen, sondern eine
wirkliche Agenda für die Modernisierung einer im Kern
gesunden und leistungsfähigen Volkswirtschaft.

Meine Vermutung ist, dass Sie, Herr Bundeskanzler,
den Zeitpunkt, zu dem Sie eine solche wirkliche Moder-
nisierung unseres Arbeitsmarktes, unseres Steuersystems
und unseres sozialen Sicherungssystems so auf den Weg
bringen können, dass in Deutschland im vergleichbaren
Maßstab dauerhaft neue Arbeitsplätze entstehen, während
Ihrer Regierungstätigkeit schon jetzt verpasst haben.


(Lachen des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Denn so grundlegende Reformen, bei denen viele Besitz-
stände in Frage gestellt werden müssen,


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 16 Jahre! Es ist unfassbar!)


die Mut erfordern und es nötig machen, etwas gegen die
Widerstände in den eigenen Reihen durchzutragen, Herr
Bundeskanzler, haben Sie in Wahrheit bis heute nicht an-
gepackt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In Beliebigkeit und schönen Medienbildern – das gebe

ich zu – sind Sie uns überlegen.

(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt er auf Schäuble!)


Aber zu einer langfristigen Ausrichtung Ihrer Politik, die
über den nächsten Wahltermin hinausreicht, also nicht nur
Legislaturperioden erfasst, und im Sinne der Generatio-
nengerechtigkeit angelegt ist, fehlt Ihnen, Herr Bundes-
kanzler, der Mut.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410200600
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Struck, dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion,
das Wort.


Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1410200700
Herr Präsident! Meine sehr
verehrtenDamen undHerren! Ich hattemir eigentlich vor-
genommen, mir während Ihrer Rede, Herr Kollege Merz,
viele Stichworte aufzuschreiben, um die Alternativen




Friedrich Merz

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(D)



(A)



(B)


kennen zu lernen, die Sie als Opposition anlässlich der
Bewertung der wirtschaftlichen Lage unseres Landes vor-
schlagen. Sie sehen, dass ich ohne jeden Zettel ans Red-
nerpult gekommen bin. Das ist das Ergebnis Ihrer Rede.
Sie haben nämlich keine Alternativen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir diskutieren über die wirtschaftliche Lage in unse-
rem Land. Der Bundeskanzler hat, belegt mit vielen Zah-
len, eine Analyse vorgelegt, die nach meiner Auffassung
die Realität in unserem Lande widerspiegelt. Sie als Füh-
rer der größten Oppositionsfraktion haben diese Analyse
bezweifelt. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Kollege, dass
Ihre Kritik und Ihre Zweifel von fast niemandem in die-
sem Lande geteilt werden. Herr Henkel, der BDI insge-
samt und auch andere bestätigen, dass wir auf dem richti-
gen Wege sind, dass der Aufschwung erfolgt, dass sich
unser Land in einer sehr guten Position befindet. Sie ste-
hen mit Ihrer Kritik völlig allein da.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr
Jagoda, hat davon gesprochen, dass wir sieben goldenen
Jahren entgegenblicken. Ich wäre etwas vorsichtig mit
solchen Formulierungen; die Tendenz aber ist absolut
richtig. Ihre Reaktion darauf war, dass Sie Herrn Jagoda
kritisiert haben, er stünde dem Bundeskanzler zu nahe. Er
steht dem Bundeskanzler nicht nahe, sondern sagt nur das,
was er aufgrund seiner Kenntnisse als Präsident der Bun-
desanstalt für Arbeit prognostiziert. Deshalb liegen Sie
mit Ihrer Bewertung der Arbeitslosenzahlen völlig falsch.

Ich gestehe auch den vielen Zuhörern und Zuschauern
insbesondere in den neuen Ländern gerne zu, dass wir
über die Entwicklung in den neuen Ländern noch nicht so
glücklich sind wie über die in den westlichen, alten Bun-
desländern. Aber ich will diesen Bürgerinnen und Bür-
gern sagen, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben,
der richtige ist: Wir fördern die Schaffung von Ausbil-
dungsplätzen in den neuen Ländern. Wir fördern Inves-
titionen in den neuen Bereichen, im Maschinenbau, in
den neuen Technologien. Wir werden auch dort, wenn
auch etwas langsamer als im Westen, die Erfolge haben,
die wir uns für unser ganzes Land wünschen. Diese Zu-
sage geben wir den Menschen in den neuen Ländern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie gestatten, dass ein dienstälterer Fraktions-
vorsitzender Ihnen einige Ratschläge gibt, wie man sich
im Plenum verhält: Sie haben etwas unsouverän auf die
Tatsache reagiert, dass der Bundeskanzler nicht jede Se-
kunde uneingeschränkt zugehört hat.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das muss auch nicht sein!)


– In der Tat. Wenn der Inhalt es nicht erfordert, kann man
sich auch einmal anderen Dingen zuwenden.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Herr Kollege Merz, Sie haben sich auf einem Terrain
bewegt, das Ihnen aus Ihrer früheren Arbeit vertraut ist,
nämlich auf dem Feld der Steuerpolitik. Auch mir ist die-
ses Thema vertraut. Auch ich habe mich damit beschäf-
tigt, bevor ich diese Funktion übernommen habe. Deshalb
will ich mit Ihnen gern in eine Debatte darüber eintreten,
wenngleich wir heute in einer Woche darüber noch inten-
siver diskutieren werden.

Sie haben zunächst die hohe Abgabenlast in unserem
Lande angeprangert und haben dann gesagt: Das war ja
noch nie so schlimm wie unter eurer Regierung. Das ist
nun nicht ganz korrekt, um es einmal vornehm und
zurückhaltend auszudrücken. Nehmen wir einmal unsere
Steuerreform, deren erste Stufe schon in diesem Jahr in
Kraft getreten ist. Aus der gesamten Palette der damit zu-
sammenhängenden Maßnahmen möchte ich auch den
Zuhörern einige Zahlen nennen:

Als Sie – zu Recht – aus der Regierung abgewählt wor-
den sind, betrug das steuerfreie Existenzminimum
12 500 DM. Wenn wir die letzte Stufe im Jahre 2005 ab-
geschlossen haben werden, wird das steuerfreie Existenz-
minimum 15 000 DM betragen. Dabei handelt es sich um
den Betrag, für den kein Mensch Steuern bezahlen muss.
Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Eingangs-
steuersatz 25,9 Prozent; wenn wir im Jahre 2005 die
letzte Stufe der Steuerreform in Kraft gesetzt haben wer-
den, wird er 15 Prozent betragen, über 10 Prozentpunkte
weniger – ein Erfolg, von dem jeder Steuerzahler profi-
tieren wird, auch wir.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Körper-
schaftsteuersatz 45 Prozent; wenn wir


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wenn Sie abgewählt sind!)


unsere Steuerreform durchgesetzt haben werden, wird er
25 Prozent betragen – eine Erleichterung für die Unter-
nehmen in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Spitzensteu-
ersatz 53 Prozent; im Jahre 2005 wird er 45 Prozent be-
tragen –


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr gut!)

nicht nur ein Erfolg für diejenigen, die oben sind, sondern
für alle Steuerzahler, weil sich das für alle positiv auswir-
ken wird. Die Vorschläge von Eichel und der Bundesre-
gierung sind genau der richtige Weg, auf dem man die
Steuerlast für alle Bürger in unserem Land deutlich mil-
dern kann. Sie haben das noch nie geschafft, solange Sie
regiert haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben auch noch etwas zu dem Thema Vermitt-
lungsverfahren oder zu dem Thema Bund/Länder gesagt.




Dr. Peter Struck
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(C)



(D)



(A)



(B)


Das war übrigens – wenn ich dann doch Ihnen gegenüber
ein bisschen fair sein will –


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Ein bisschen?)


der einzige Punkt, wo Sie etwas Konkretes vorgeschlagen
haben – im Gegensatz zu dem, wie wir es machen. Sie ha-
ben gesagt, die einmaligen Einnahmen, die sich aus der
Versteigerung der Lizenzen ergeben, sollen in den
Erblastentilgungsfonds gehen. Man kann über alles reden.
Wenn man es vorher nur klargestellt hat und Sie sagen:
„Das dürft ihr nicht für dauerhafte Steuersenkungen ver-
wenden“, dann begrüße ich diesen Erkenntnisprozess in
Ihrer Fraktion. Man hat dazu ja auch andere Stimmen
gehört. Diese Klarstellung ist schon einmal sehr gut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig! Da war doch noch was!)


Es ist übrigens ein bisschen leichtfertig, wenn man in
Deutschland anfängt – begonnen hat das in der Opposi-
tion –, darüber zu reden, welches Geld man alles wofür
ausgeben könnte – Geld, das man noch gar nicht hat.
Diese Politik haben Kohl und Waigel lange Jahre ge-
macht. Das wollen wir nicht. Davor steht Hans Eichel.

Herr Kollege Merz, Sie spielen ja auch in Ihrer Partei
eine Rolle; die Parteivorsitzende der CDU ist leider nicht
mehr da. Wie ist denn ein Beschluss des CDU-Parteitages
zu bewerten, der nämlich zu der Frage der Einnahmen aus
der Versteigerung der Lizenzen beschlossen hat: Diese
Einnahmen sind für dauerhafte Infrastrukturmaßnahmen
im Bereich des Verkehrs usw. zu verwenden? Diesen Be-
schluss haben Sie jetzt sozusagen einkassiert;


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Quatsch!)

das begrüße ich. Man kann in der Tat nicht so verfahren,
wie Sie das auf dem Parteitag vorgeschlagen haben.

Wir reden immer von der Staatsverschuldung; das
sind 1 500Milliarden DM beim Bund allein. Ich habe nun
auch bei vielen Veranstaltungen gemerkt: Das ist eine
Größenordnung – 1 500 Milliarden, 1,5 Billionen –, unter
der sich die Menschen so recht nichts vorstellen können.
So viel Geld hat eigentlich noch nie jemand auf einem
Haufen gesehen. Ich will das deshalb anders formulieren:
Die Verschuldung, die Sie uns hinterlassen haben, 82Mil-
liarden DM Zinsen dafür im Bundeshaushalt, bedeutet:
Jede Minute gibt der Bundesfinanzminister 156 000 DM
für Zinsen aus; alle drei Minuten entspricht das dem Ge-
genwert eines Einfamilienhauses. Das müssen wir herun-
terfahren; das müssen wir stoppen; das müssen wir än-
dern. Deshalb geht das Geld in die Verringerung der
Staatsverschuldung und nirgendwo anders hin.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden entscheiden müssen, was wir mit dem
Geld, das wir dann im Hinblick auf den Schuldendienst
einsparen, machen. Ich bin ganz entschieden der Mei-
nung, die auch Hans Eichel geäußert hat, dass wir jetzt
überhaupt nicht darüber reden sollten, wo das dann ver-
wendet werden wird. Wir kennen die Größenordnung ja

auch noch gar nicht. Die Versteigerung der Lizenzen hat
noch nicht stattgefunden. Deshalb rate ich zur Vorsicht.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Linie der Bun-
desregierung in diesem Punkte eindeutig zu.

Sie, Herr Merz, haben auch noch über Rente und über
Gesundheit gesprochen. Nun zum Thema Rente.Wir ha-
ben – das wissen Sie; Ihr Amtsvorgänger, Herr Kollege
Schäuble, war für Ihre Fraktion beteiligt, und
Michael Glos muss ja auch aus Proporzgründen immer
mit dabei sein, wenn so etwas stattfindet –


(Michael Glos [CDU/CSU]: Haben Sie heute einen großzügigen Tag?)


die Einrichtung einer Arbeitsgruppe von Koalition und
Opposition verabredet. Die F.D.P. war auch mit dabei.

Nun hat man mir über die Arbeitsgruppensitzungen,
die unter Leitung des Arbeitsministers Walter Riester
stattgefunden haben, berichtet: Im Grunde war nur Sta-
gnation zu verzeichnen. Sie – nicht wir – haben auf den
kommenden Sonntag, den 14.Mai, gestarrt und daraus die
große politische Linie abgeleitet: Wir dürfen uns über-
haupt nicht auf irgendwelche Kompromisse einlassen, wir
müssen Rentenwahlkampf in Nordrhein-Westfalen ma-
chen.

Nur, das Ergebnis ist: Über Rente redet in Nordrhein-
Westfalen inzwischen niemand, weil die Menschen er-
kannt haben, dass die Maßnahmen, die wir im letzten Jahr
durchgesetzt haben, die richtigen Maßnahmen gewesen
sind, um die Zukunft der kommenden Generationen zu si-
chern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Daraus können Sie überhaupt keinen Speck mehr schnei-
den.

Ich mache Ihnen jetzt ein Angebot, Herr Kollege Merz,
stellvertretend für die größte Regierungsfraktion. Nach
dem kommenden Sonntag, dem 14. Mai, wird sich
manches beruhigen. Sie werden die Wahl verloren haben.
Dann wird die Aufgeregtheit vorbei sein und wir kommen
auch hier in Berlin wieder zur inhaltlichen Arbeit zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege Merz, wir werden dann unter der Leitung
von Walter Riester intensiv darüber reden: Schaffen wir
gemeinsam eine Lösung, die bis zum Jahr 2030 trägt – Er-
werbsunfähigkeitsrente, Berufsunfähigkeitsrente, zusätz-
liche private Vorsorge, soziale Grundsicherung, Minde-
strente, Alterssicherung der Frauen, Witwenrente usw.?
Darüber wollen wir reden. Das Angebot gilt nach wie vor,
weil es für unser Land politisch wichtig wäre, dass man
sich einigt, zumindest die andere große Volkspartei mit
dieser Koalition.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Was ist daran neu?)


– Daran ist gar nichts neu. Nur, ich beklage, dass nichts
passiert ist, und zwar deshalb, weil Sie glaubten, damit
Wahlkampf machen zu können.




Dr. Peter Struck

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(C)



(D)



(A)



(B)



(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Was haben Sie denn für Vorschläge?)


Lassen Sie uns doch nach dem 14. Mai vernünftig da-
rüber reden. Wir halten das Angebot nach wie vor auf-
recht.

Gleichzeitig sage ich aber klipp und klar: Wenn wir uns
in diesen nächsten Wochen nicht einigen können, dann
wird die Koalition ihre Mehrheit im Bundestag dazu be-
nutzen, das Rentenreformrecht so durchzusetzen, wie
wir es für richtig halten. Diese Verantwortung haben wir.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Thema Gesundheitsreform. Es ist wahr: Wir ha-
ben Vorstellungen für eine Neuordnung im Gesundheits-
bereich vorgelegt, diese, wie man weiß, auch im Deut-
schen Bundestag durchgesetzt und sind damit in den Bun-
desrat gegangen. Das, was Andrea Fischer, was wir
vorgelegt haben, ist nur zum Teil verwirklicht worden,
weil Sie – entgegen Ihren Äußerungen – in einem Bereich,
in dem wir Ihre Zustimmung brauchten, blockiert haben.
Das heißt, Sie haben im Bereich der Gesundheitspolitik
Mitverantwortung dort, wo wir Schwierigkeiten haben.
Das ist so und das können Sie auch nicht wegreden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Andrea Fischer hat angeboten, darüber ein Gespräch
zu führen. Das ist ja auch vernünftig. Die Antwort Ihrer
neuen Parteivorsitzenden war: „Machen wir nicht!“


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie sind doch an der Regierung!)


Dann stellen Sie sich hier nicht hin und sagen, Sie würden
nie blockieren. Natürlich wollen Sie blockieren. Das war
doch die Antwort von Frau Merkel in diesem Zusammen-
hang.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich weiß ja nicht: Hat Frau Merkel nun etwas zu sagen
oder haben Sie etwas zu sagen?


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie jedenfalls haben nichts zu sagen!)


Wenn Sie bereit sind, mit uns über die Korrektur der
Maßnahmen, die Sie uns nicht ermöglicht haben, zu re-
den, wird dies geschehen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Machen Sie mal Vorschläge, konkret!)


– Die Ministerin wird auf Sie zukommen. Wir kommen
auf Sie zu. Aber wenn Frau Merkel sagt „Ich rede gar
nicht mit Ihnen!“, dann behaupten Sie nicht, Sie würden
nicht blockieren. Natürlich blockieren Sie.

Zu einem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Es
geht auch am kommenden Sonntag in Nordrhein-West-
falen um die Frage: Wird die Politik der Bundesregierung,
die Politik der Koalition hier in Berlin von dem großen
und mächtigen Bundesland Nordrhein-Westfalen mitge-

tragen oder nicht? Ich appelliere deshalb von hier aus an
die Bürgerinnen und Bürger in diesem Bundesland,


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das wird die sehr beeindrucken!)


nicht nur die landespolitischen Fragen zu berücksichti-
gen. Was meine Partei angeht, habe ich gar keine Sorge.
Jeder weiß, dass viele Bürgerinnen und Bürger in Nord-
rhein-Westfalen Clement für viel geeigneter halten als sei-
nen Gegenkandidaten von der CDU, übrigens zu Recht.


(Beifall bei der SPD)

Ich appelliere auch deshalb, weil wir die Unterstützung

des Landes Nordrhein-Westfalen im Bundesrat bei vielen
Maßnahmen brauchen, wenn es um Steuerpolitik und
viele andere Dinge geht. Berücksichtigen Sie bitte auch
die Erfolge, die wir in der Bundespolitik erreicht haben.
Wir sind auf einem sehr guten Weg. Die Opposition hat
keine Alternative. Deshalb werden wir diesen Weg, so wie
er dargestellt worden ist, unbeirrt fortsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410200800
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Jürgen Möllemann, F.D.P.-Fraktion.


Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID1410200900
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr
Bundeskanzler, wer würde sich nicht mit Ihnen darüber
freuen, dass wir jetzt 156 000 Arbeitslose weniger haben
als vor einem Jahr? Wir sind uns aber ebenso darin einig,
dass dies die Dramatik von 3,986 Millionen Arbeitslosen
und deren Angehörigen, also das Los von mehr als 10Mil-
lionen Mitbürgern, nicht ändert.

Ich habe Zweifel, ob die Zahl, die Sie hier vortra-
gen konnten, den anspruchsvollen Titel „Moderne Wirt-
schaftspolitik für neue Arbeitsplätze“ schon rechtfertigt.
Im Hinblick auf das, was Sie angekündigt haben, hatte ich
größere Erwartungen und bin über das, was jetzt eintritt,
enttäuscht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU])


Die Prognosen, von denen Sie, Herr Bundeskanzler,
sprachen, sagen nämlich auch, dass unser Wachstum nur
2,8 Prozent betragen wird, während sich das der
EU-Mitgliedstaaten im Schnitt auf 3,2 Prozent – wir sind
da hinten dran – und das der Vereinigten Staaten von Ame-
rika auf 4,4 Prozent beläuft. Sie haben vorhin davon ge-
sprochen, Ihr Ziel sei es, dazu beizutragen – und nicht zu
bewirken, denn das können Sie alleine nicht, das kann die
Politik überhaupt nicht –, dass die Arbeitslosenzahl auf
3,5 Millionen gesenkt werden soll. Das klingt schon be-
merkenswert zurückhaltender als die Ankündigung zu
Beginn der Legislaturperiode, als manchmal Prognosen
bis hin zur Halbierung abgegeben wurden.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Kohl!)

Genauso wurde im Bereich der Bildungsausgaben eine
Verdoppelung angekündigt, während jetzt nur graduelle




Dr. Peter Struck
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(B)


Veränderungen auf dem Wege sind. Vielleicht ist das ein
neuer Realismus.

Ich habe bei einigen der Beiträge, die ich gehört habe,
irgendwie das Gefühl gehabt, dass diese gar nicht an un-
ser Gremium gerichtet waren, sondern sich nur auf den
Muttertag, den kommenden Sonntag, bezogen haben. Von
all denen, die hier geredet haben und noch reden werden,
bin ich der Einzige, der in direkter Funktion damit be-
schäftigt ist.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Als Mutter!)

Deswegen nehme ich mir auch das Recht, dazu nichts zu
sagen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Mutter Möllemann!)


– Nein, nicht zum Muttertag, sondern zum Wahltag, Herr
Merz.

Ich möchte gerne zu dem Thema, das auf der Tages-
ordnung steht, sprechen, nämlich wie wir durch eine ver-
nünftige Politik dazu beitragen können, dass schneller als
bislang absehbar mehr Arbeitslose in Arbeit kommen. Wir
wissen doch – und dazu haben wir auch selbst beigetra-
gen –, dass es in Wahrheit nicht nur 3,9 Millionen Ar-
beitslose sind, sondern dass die Zahl der Menschen im er-
werbsfähigen Alter, die keinen bezahlten Job haben, bei
ehrlicher Rechnung unter Hinzunahme all derer, die in
ABM oder im Vorruhestand sind, eher die 5-Millionen-
Grenze überschreitet.


(Zuruf von der SPD: Das hättest du vor drei Jahren sagen sollen!)


– Es hat doch gar keinen Zweck, bei einer Bestandsauf-
nahme so zu tun, als sei nur eine Seite des Hauses am Zu-
standekommen von Problemen beteiligt gewesen. Das
will ich ja gar nicht behaupten.

Ich finde, dass das Thema dieser Aussprache ange-
sichts seiner Dimension mehr als eine parteipolitische
Profilierung in einem Wahlkampf verlangt. Betreiben wir
diese parteipolitische Profilierung in der Frage der Ar-
beitslosigkeit ohnehin nicht schon viel zu lange? Wissen
die Vernünftigen in unseren Parteien in Wahrheit nicht
längst, was eigentlich getan werden müsste, und ist der
Konsens in diesem Hause nicht eigentlich viel größer, als
wir in solchen Debatten einräumen wollen?

Wir wissen doch alle genau, dass Politik und Staat
Arbeitsplätze in Wahrheit nur im öffentlichen Dienst
schaffen können. Gleichzeitig wissen wir, dass genau der
kleiner werden muss, weil die öffentlichen Haushalte ein-
geschränkt und sogar öffentliche Leistungen privatisiert
werden müssen. Wieso hören wir dann nicht einfach auf,
so zu tun, als könne die Politik die Arbeitsplätze schaffen?

Wir können den Weg von alten und neuen Unterneh-
men hin zu neuen Jobs für deutlich mehr Erwerbstätig-
keit frei machen. Wir alle wissen, dass wir die politischen,
staatlichen und halbstaatlichen Hindernisse, dass wir die
staatlichen und halbstaatlichen Privilegien für starke Lob-
bys wegräumen müssen, die alle zusammen schuld daran

sind, dass in Deutschland viel zu wenige neue Arbeits-
plätze entstehen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir alle wissen, dass wir den Weg für viele neue Jobs,

und zwar für sehr gut bezahlte, gut bezahlte und weniger
gut bezahlte Jobs, freiräumen müssen. Das amerikanische
„Ruhrgebiet“ hatte vor 15 Jahren Arbeitslosenquoten in
Höhe von 20 bis 25 Prozent. Heute liegt die Arbeitslosen-
quote in Ohio unter 4 Prozent und damit noch unter dem
US-Durchschnitt. Gut bezahlte Arbeitsplätze im Bereich
der Informationstechnik prägen heute diesen Teil des
amerikanischen mittleren Westens, nicht zuletzt dadurch,
dass dort deutsche Firmen jene Bedingungen vorfanden,
die wir ihnen hier vorenthalten. Damit exportieren wir
Arbeitsplätze, die wir hier dringend brauchen.

Warum das so ist, Herr Bundeskanzler, steht übrigens
im Schröder-Blair-Papier. Ich zitiere:

Die Ansicht, dass der Staat schädliches Marktversa-
gen korrigieren müsse, führte allzu oft zur überpro-
portionalen Ausweitung von Verwaltung und Büro-
kratie im Rahmen sozialdemokratischer Politik.

Weiter heißt es:
Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer
höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohne
Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der ho-
hen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäfti-
gung oder private Ausgaben.

Einfacher gesagt heißt das doch: Unsere Langzeitar-
beitslosigkeit ist zum größeren Teil politisch hausge-
macht. Mich interessiert inzwischen der Streit darüber,
wer das eigentlich mehr oder weniger verschuldet hat,
nicht mehr sehr. Ich will auch nicht mit Ihnen darüber
streiten, ob der Rückgang der Arbeitslosenzahlen mehr
auf Vorruhestand und andere statistische Kunstgriffe als
auf neue Arbeitsplätze zurückzuführen ist.

Ich finde, wir sollten stattdessen das Nötige tun. Wir
sollten die Hindernisse für das Entstehen vieler guter
neuer Jobs beseitigen. Ich möchte Ihnen in acht Punkten
darlegen, was aus Sicht der F.D.P. konkret zu tun ist. Herr
Kollege Struck, jetzt können Sie den Zettel nehmen und
mitschreiben, jetzt lohnt es sich.


(Beifall bei der F.D.P. – Dr. Peter Struck [SPD]: Mal sehen!)


Erstens. Wir müssen Teilzeitbeschäftigung leichter
machen: angefangen bei den 630-Mark-Jobs – hier ist ein
Fehler passiert, das werden Ihnen alle Beteiligten und Be-
toffenen immer wieder sagen – bis hin zu flexiblen Ar-
beitszeiten und Beschäftigungsverhältnissen. Es ist nicht
einzusehen, warum jemand nicht morgens die Zeitung
austragen, tagsüber seinem Hauptjob nachgehen und
abends – wenn er denn will – als Übungsleiter im Sport-
verein Jugendlichen den Spaß am Turnen oder am Fußball
vermitteln kann. Das muss die freie Entscheidung jedes
Einzelnen sein und bleiben. Hier soll die Politik ihre Be-
hinderungsmaßnahmen einstellen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Jürgen W. Möllemann

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(C)



(D)



(A)



(B)


Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, dass die Men-
schen zu ihren Arbeitsplätzen vernünftig hinkommen:
schnell, sicher und preisgünstig, mit öffentlichen Ver-
kehrsmitteln, aber eben auch mit dem Auto. Das heißt:
Wir müssen neue Straßen bauen, damit die Menschen
nicht länger Tausende von Stunden sinnlos im Stau stehen
und Milliarden Mark nutzlos verschwendet werden. Die
Autofahrer haben noch nie so viel an Steuern pro Liter
Sprit bezahlt und noch nie wurde davon so wenig für den
Ausbau der Verkehrswege ausgegeben.

Ich weiß von Ihnen, Herr Bundeskanzler, von dem Mi-
nisterpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen und
von seinem Verkehrsminister, dass Sie das genauso sehen.
Aber Sie dürfen die Konsequenz nicht ziehen, weil Ihr
Koalitionspartner das als Betonpolitik diskreditiert. Des-
wegen verplempern Abertausende von Menschen so viel
Zeit im Stau. Deswegen wird die Umwelt so belastet.


(Beifall bei der F.D.P.)

Deswegen wollen manche Menschen auch keinen weite-
ren Weg zu ihrem Arbeitsplatz gehen, weil sie dabei zu
viel Zeit verlieren.

Drittens. Wir müssen den Irrsinn ständig steigender
Benzinpreise, die durch die Ökosteuer immer weiter in
die Höhe getrieben werden, stoppen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, das hat auch mit diesem
Thema zu tun.
Wenn junge Menschen, Auszubildende, Lehrlinge, Stu-
denten, wenn Menschen mit einem kleineren Einkom-
men, die in der Fläche wohnen, weite Wege mit dem Auto
zurücklegen müssen, dann ist das für sie ein massives
Mobilitätshemmnis, dann suchen sie Arbeitsplätze, die
etwas weiter entfernt sind, eben nicht mehr, nehmen sie
nicht mehr an, weil es zu teuer wird, weil es für sie nicht
lohnt.

Deswegen: Stellen Sie doch diesen Unsinn mit ständig
steigenden Ökosteuern ein. Das hindert die Mobilität, und
das beschädigt das Interesse an mehr Beschäftigung.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir brauchen intelligente neue Verkehrssysteme wie

den Transrapid, den Cargolifter, die Telematik, wir brau-
chen den Wettbewerb auf der Schiene.


(Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Richtig!)

Warum suchen wir hier nicht ein Modell, das genauso wie
in der Telekommunikation durch das Brechen des Mono-
pols beim Telefon zur Jobmaschine geworden ist? Warum
machen wir nicht auch den Verkehr auf den Schienen zu
einer Jobmaschine – eine Gesellschaft, die das Schienen-
netz betreibt, aber konkurrierende Unternehmen, die
Transportleistungen für Personen und Güter anbieten?


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da entstehen Jobs und da entsteht Qualität. Da sinken die
Preise. Ich glaube, das wäre ein vernünftiger Beitrag.

Viertens. Wir brauchen Erleichterung von Unterneh-
mensgründungen.Wer mit Gründern von jungen Unter-
nehmen spricht, bekommt von ihnen immer das gleiche
Klagelied zu hören, und zwar ganz unabhängig davon, wo
sie parteipolitisch stehen. Wir müssen sie von den büro-
kratischen Staatslasten befreien, Vorschriften reduzieren
und Lohnnebenkosten senken. Auch das steht übrigens im
Schröder-Blair-Papier. Der erste Schritt wäre: Weg mit
dem Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit!


(Beifall bei der F.D.P.)

Auch Firmen wie Microsoft in den USAoder Pixelpark

in Berlin haben unter nach deutschen Normen irregulären
Bedingungen angefangen. Nach unseren Bedingungen
hätten sie gar nicht anfangen können. Die Internetgenera-
tion mit Gründermentalität sollten wir durch Deregulie-
rung und Entbürokratisierung zur Selbstständigkeit er-
muntern, statt sie mit merkwürdigen Regelungen wie den
Scheinselbstständigkeitsbestimmungen zu hemmen.

Fünftens. Leistung muss sich stärker als nach dem bis-
her geltenden Besteuerungssystem lohnen. Darüber wird
heute und nächste Woche allemal hier gesprochen.

Der Blick in die private Haushaltskasse ist deswegen
für viele Beschäftigte so ärgerlich, weil sie bei steigenden
Einkommen trotzdem immer weniger übrig behalten. Da
meine ich nun, dass die Intonierung, die Sie, Herr Bundes-
kanzler, vorgenommen haben, nicht in Ordnung war, als
Sie den Eindruck erweckten, dass es, wenn wir voneinan-
der abweichende Vorstellungen haben – etwa bei der
Frage, wie wir Kapitalgesellschaften und Personengesell-
schaften besteuern –, etwas mit Blockadehaltung auf un-
serer Seite zu tun habe.

Wenn beim Thema Steuerpolitik ein Name für das Wort
„Blockadepolitik“ steht, sehr geehrter Herr Bundeskanz-
ler, dann ist es der Ihres Freundes und Troikamitgliedes
Oskar Lafontaine.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der hat nun wirklich in einer Weise blockiert, dass dieser
Begriff gerechtfertigt ist.

Wir sagen, dass das Konzept, wie es jetzt vorliegt und
nächste Woche gelesen werden wird, den Eigentümer, den
Unternehmer weiterhin zu stark diskreditiert. Sie ver-
nachlässigen mit dieser Bestimmung die Mittelstandskul-
tur der Personengesellschaften. Sie verrechnen bürokra-
tisch die Gewerbesteuer, statt sie abzuschaffen. Das ist al-
les Komplikation statt Vereinfachung. Die Spreizung der
Steuersätze ist zu groß, die Dauer der Realisierung zu
lang.

Deswegen: Wenn wir im mittelständischen Bereich
Bewegung schaffen wollen, müsste hierüber Einverneh-
men im Bundesrat erzielt werden können.

Sechstens. Wir müssen die Berufsausbildung von Ju-
gendlichen fördern, indem wir Bürokratielasten von den
Betrieben nehmen. Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhin
auf das Programm der Bundesregierung abgehoben und
unsere Kritik zurückgewiesen. Sie war nicht dagegen ge-
richtet, dass man in staatlichen oder halbstaatlichen Aus-




Jürgen W. Möllemann
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(B)


bildungseinrichtungen für solche jungen Menschen, die in
Betrieben noch keinen Job finden, Ersatzlösungen schafft.
Sie war darauf gerichtet, dass Sie den Eindruck erweckt
haben, als könnten das Ersatzlösungen sein. Das sind al-
les zeitlich befristete Interimslösungen. Anschließend ste-
hen dieselben jungen Leute wieder vor den Arbeitsäm-
tern.

Was wir machen müssen, ist, den kleinen und mittleren
Betrieben die Luft zu geben, dass sie diese jungen Men-
schen einstellen und beschäftigen,


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und das etwa durch den Punkt, den ich gerade angespro-
chen habe, durch eine bessere Steuerpolitik.

Ich möchte ein Bemerkung zu dem machen, was Herr
Merz und Herr Struck zum Thema Gesundheitspolitik
gesagt haben.
In dem Bereich des Gesundheitswesens arbeiten ungefähr
zweieinhalb Millionen Menschen. Diese Zahl könnte
deutlich gesteigert werden. Gesundheit und Fitness be-
kommen aus Sicht der Menschen rund um den Globus
eine immer größere Priorität. Die Bundesregierung macht
aber das genaue Gegenteil von dem, was fällig wäre:
Durch ein immer dichteres Netz von Reglementierungen
und insbesondere durch das unselige System der so ge-
nannten Budgetierung lähmen Sie die Entwicklung im
Gesundheitswesen. Sie treffen nicht nur die in Gesund-
heitsberufen Tätigen – Ärzte, Zahnärzte – und diejenigen,
die in den pflegenden Berufen tätig sind, die sich bei die-
ser staatlichen Zuteilung von Einkommen entwürdigend
behandelt fühlen, Sie beeinträchtigen auch die Möglich-
keiten und Rechte der Patienten. In den vielen Jahren, die
ich dem Parlament angehöre, habe ich die unterschied-
lichsten Gesundheitsminister und -ministerinnen kennen
gelernt. Aber eine Gesundheitsministerin wie Frau
Fischer, die es schafft, restlos alle gegen sich aufzubrin-
gen, habe ich in diesem Parlament noch nicht erlebt. Das,
was betrieben wird, ist Konfusion schier. Deswegen sollte
man das Reformkonzept, von dem bisher die Rede ist, ein-
stampfen und ein vernünftiges Konzept vorlegen, das die-
sen Namen verdient.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, bezieht
sich auf die Bildungspolitik. Hier hat die Bundesregie-
rung große Ankündigungen gemacht. Einige Schritte sind
getan worden. Ich glaube aber, wir kommen heute zu dem
Ergebnis – übrigens im Blick auf Bund und Länder –, dass
unser Bildungssystem in Bund und Ländern mit graduel-
len Unterschieden, aber doch prinzipiell, dem internatio-
nalen Wettbewerb derzeit nicht standhalten kann. Unser
Schulsystem und unser Hochschulsystem bekommen bei
allen nationalen und internationalen Vergleichsstudien
bemerkenswert schlechte Noten. Das ist gefährlich. Des-
wegen werden unsere Absolventen, die in zu langer Zeit
zu schlecht ausgebildet werden – sie benötigen ein Jahr
mehr bis zum Abitur als in allen anderen Ländern, sie stu-
dieren zwei Jahre länger und haben trotzdem schlechtere
Abschlüsse –, auf dem immer internationaler werdenden

Arbeitsmarkt in immer größere Schwierigkeiten kom-
men.

Es ist sicher richtig, wenn im Blick auf die zu erwar-
tenden deutlichen Mehreinnahmen des Bundes aufgrund
der Privatisierung und der Rechtevergabe der wesentliche
Schwerpunkt bei der Schuldentilgung liegt. Aber, meine
Damen und Herren, mein fester Eindruck ist: Es bräuchte
eine gemeinschaftliche Anstrengung von Bund und Län-
dern, eine Kraftanstrengung, um Deutschland zurück an
die Spitze von Bildung, Wissenschaft und Forschung zu
bringen, sonst verlieren wir unsere Wettbewerbsfähigkeit.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, ich spreche heute zum letz-
ten Mal als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Da-
her möchte ich mich von Ihnen verabschieden und Ihnen
für gute und böse Worte danken. Ich war gerne hier. Nun
gehe ich nach Düsseldorf in den Landtag und die Landes-
regierung.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Klaus Lennartz [SPD]: Darüber entscheidet der Wähler!)


– Die uneingeschränkte Freude über diese Absicht macht
mir den Abschied ein bisschen leichter. – Dass ich des-
wegen – und weil mich der Kollege Struck gebeten hat,
ihn dort nicht allein zu lassen –


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Er ist ganz gewiss nicht allein!)


von dieser Stelle aus für den doppelten Einzug in Parla-
ment und Regierung des grössten Bundeslandes um die
Stimmen der Wähler dieses Landes bitte, werden Sie mir
nach 28 Jahren Parlamentstätigkeit hoffentlich durchge-
hen lassen. Deswegen: Auf Wiedersehen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Auf Wiedersehen im Bundesrat, meine
Damen und Herren von der Bundesregierung!


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410201000
Nun erteile ich der
Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Merz und vor allen Dingen Sie, Herr Möllemann, man
sollte das Fell des Bären erst verteilen, wenn er erlegt ist.
Ich bin sehr gespannt darauf, wie der Muttertag, also der
14. Mai, ausgehen wird. Ich glaube, dass er nicht in Ihrem
Sinne ausgehen wird.

Wenn man Sie über das eigentliche Thema der Debatte
reden hört, dann drängt sich mir der Eindruck auf: Sie är-
gern sich, dass wir unser Land endlich aus dem Schla-
massel herausholen, den Sie in den 16 Jahren Ihrer Re-
gierungszeit angerichtet haben.




Jürgen W. Möllemann

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(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie können augenscheinlich kaum ertragen, dass wir er-
folgreich die Probleme lösen, an deren Lösung Sie jahre-
lang immer wieder gescheitert sind. Das muss man hier
festhalten.

Festhalten muss man auch: Die Wirtschaftsdaten sind
hervorragend. Der deutsche Außenhandel verzeichnet
zweistellige Zuwachsraten. Die fünf führenden deutschen
Wirtschaftsinstitute schreiben in ihrem Frühjahrsgutach-
ten:

Seit Herbst hat die konjunkturelle Erholung auch den
Arbeitsmarkt erfasst. Die Zahl der Erwerbstätigen
hat sich seither deutlich erhöht und die Arbeitslosig-
keit ist beträchtlich zurückgegangen.

Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen
Sie doch endlich zur Kenntnis: Erstmals seit 1996 liegt die
Zahl der Arbeitslosen im April dieses Jahres unter
vier Millionen. Das sind knapp eine halbe Million Men-
schen weniger als im letzten April Ihrer Regierungszeit
1998.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das bedeutet eine halbe Million weniger Menschen mit
der Sorge um ihre berufliche Zukunft, eine halbe Million
weniger Männer und Frauen mit der zweifelnden Frage,
wo denn wohl ihr Platz in der Gesellschaft sein solle. Das
bedeutet auch hunderttausende weniger Ehe- und Lebens-
partner und Kinder, die unter der Belastung der Arbeitslo-
sigkeit leiden müssen. So sieht die Wirklichkeit aus, und
zwar nach nur 19 Monaten, nachdem SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen die Regierung gebildet haben. Nach
meiner Meinung sind diese Daten kein Grund zum Jam-
mern. Für uns ist diese Entwicklung eine Herausforde-
rung, den eingeschlagenen Kurs konsequent und Schritt
für Schritt fortzusetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Natürlich kann man angesichts der aktuellen Arbeits-
losenzahlen keine Entwarnung geben. Das werde ich auch
nicht tun. Auch wir betrachten die Entwicklung des Ar-
beitsmarktes gerade in den fünf neuen Ländern mit
Sorge. Für uns heißt das, dass wir unsere Anstrengungen
in den ostdeutschen Bundesländern noch viel mehr ver-
stärken müssen. Aber es ist einfach falsch, wenn Sie, Herr
Merz, behaupten, der wirtschaftliche Aufschwung gehe
am Osten vorbei. Sie wissen: Auch im Osten werden neue
Arbeitsplätze geschaffen. Nur, diese Entwicklung wird
noch immer von den notwendigen Anpassungen im öf-
fentlichen Dienst und besonders von der Situation in der
Baubranche überlagert, sodass der dortige Arbeitsmarkt
insgesamt stagniert.

Herr Merz, es ist auch sachlich falsch, wenn Sie hier
mit einer Vielzahl von Rechenkunststücken beweisen
wollen, der Rückgang der Arbeitslosigkeit sei rein demo-
graphisch bedingt.

Erstens. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland
steigt, und zwar in den letzten Monaten kräftig und ste-
tig. Die Bundesanstalt für Arbeit erwartet für dieses Jahr
eine bundesweite Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen
um durchschnittlich 160 000. Sie können uns das vor-
rechnen, solange Sie wollen; denn fest steht: Das Ent-
stehen zusätzlicher Arbeitsplätze hat wirklich nichts,
aber auch gar nichts mit der demographischen Entwick-
lung in diesem Land zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zweitens. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt, obwohl
aktuell durch die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik im
Endeffekt deutlich weniger Menschen im zweiten Ar-
beitsmarkt beschäftigt sind. Das zeigt: Der erste, nicht
staatlich gestützte Arbeitsmarkt, auf den es schließlich an-
kommt, boomt. Auch das hat mit der demographischen
Entwicklung so viel – oder besser gesagt: so wenig – zu
tun wie der Abgeordnete Kohl mit der Aufklärung des
Spendenskandals.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Drittens. Herr Merz – auch das Argument möchte ich
hier anführen –, nehmen Sie zur Kenntnis: Im Frühjahr
2000 sind trotz der demographischen Entwicklung kaum
weniger Menschen auf dem deutschen Arbeitsmarkt als
vor einem Jahr, unter anderem deshalb, weil endlich auch
mehr Frauen erwerbstätig sind oder sein wollen. Auch
deshalb stimmt Ihre Rechnung hinten und vorne nicht.

Ich finde es lächerlich, wenn Sie den Menschen weis-
machen wollen, die hervorragenden Wirtschafts- und Ar-
beitsmarktdaten gebe es nicht wegen, sondern trotz der
Politik der Koalition. Sie, Herr Merz, sollten wirklich bei
der Wahrheit bleiben, genauso wie Ihr Vorredner,
Herr Möllemann. Die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung unter
Helmut Kohl hat zwar jahrelang darauf hingewiesen, die
Steuerlast, die Abgabenlast und die Lohnnebenkosten
seien zu hoch. Sie wollten die Arbeitslosigkeit senken.
Aber was haben Sie tatsächlich erreicht? Sie haben das
glatte Gegenteil von dem erreicht, was Sie wollten: Die
Abgabenlast wurde nicht gesenkt; vielmehr ist sie perma-
nent gestiegen. Noch im April 1998 haben Sie zum Bei-
spiel die Mehrwertsteuer erhöht, um den Rentenbeitrag
bei 20,3 Prozent zu stabilisieren. Sie haben sie nicht er-
höht, um ihn zu senken, wie wir das jetzt aufgrund der
Mehreinnahmen aus der ökologisch-sozialen Steuerre-
form tun. Daran war bei Ihnen überhaupt nicht zu denken.
Außerdem haben Sie 1998 eine Rekordarbeitslosigkeit
von 4,3 Millionen und einen Schuldenberg von 1,5 Bil-
lionen DM hinterlassen. Das ist Ihre Bilanz.

Verschonen Sie uns deshalb mit Ihren Rezepten. Sie
heilen nicht und sie sind völlig kontraproduktiv. Wir ha-
ben seit dem Regierungsantritt Schritt für Schritt soziale
und ökologische Reformen entschlossen umgesetzt. Un-
sere Politik ist maßgeblich für den wirtschaftlichen Auf-
schwung und für den Abbau der Arbeitslosigkeit verant-
wortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Kerstin Müller
9500


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir werden diesen Kurs fortsetzen. Sie haben mit Ihren
unsozialen Entscheidungen und mit Ihrer Kampfansage
gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer damals
das erste Bündnis für Arbeit mutwillig zerstört. Wir dage-
gen haben die Voraussetzungen für einen neuen Anlauf
geschaffen. Erste Ergebnisse liegen auf dem Tisch.

Als ersten Schritt haben wir das äußerst erfolgrei-
che JUMP-Programm aufgelegt, das bis heute für
250 000 junge Menschen Perspektiven bei Ausbildung
und Beschäftigung geschaffen hat. Das Resultat ist, dass
die Jugendarbeitslosigkeit um rund 10 Prozent zurückge-
gangen ist. Das ist erst einmal ein schöner Erfolg des
Bündnisses für Arbeit.

Zweitens. In diesem Frühjahr kommt ein wesentlicher
Erfolg hinzu: Die diesjährigen Tarifabschlüsse stärken
die wirtschaftliche Entwicklung massiv und sie stellen zu-
sätzliche Beschäftigung in den Mittelpunkt. Auch das hat
sehr viel mit der Politik dieser Regierung zu tun; denn
Voraussetzungen waren zum Beispiel die ersten Schritte
der Steuerreform im vergangenen Jahr, die deutliche Ent-
lastung von kleinen und mittleren Einkommen und die
massive Entlastung gerade von Familien mit Kindern –
600 DM mehr Kindergeld pro Kind und pro Jahr; das be-
deutet für Familien mit zwei Kindern und einem Durch-
schnittsjahreseinkommen von 60 000DM 3 000 DM mehr
in der Haushaltskasse. Hinzu kommt die Senkung der
Rentenbeiträge von 20,3 Prozent um einen Prozentpunkt
auf 19,3 Prozent durch die Einnahmen aus der ökolo-
gisch-sozialen Steuerreform.

Das heißt insgesamt, dass die Menschen nach jahre-
langen Nettolohnverlusten unter der alten Regierung
heute netto endlich mehr in der Tasche haben. Dafür hat
diese Bundesregierung nicht nur gesorgt, weil es sozial
geboten war, sondern auch, um die Voraussetzungen für
die beschäftigungsorientierten Tarifabschlüsse in diesem
Jahr zu schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Genau das ist einer der entscheidenden Unterschiede
zu Ihren Steuervorschlägen, meine Damen und Herren
von der CDU; denn Sie wollten weder damals noch wol-
len Sie heute die Bezieher kleiner Einkommen entlasten,
wie wir es gemacht haben, sondern vor allen Dingen die
Besserverdienenden. Das finden die Menschen nicht ge-
recht und sie haben verdammt Recht damit.

Mit der großen Steuerreform, die wir in der nächsten
Woche in diesem Hause verabschieden werden, werden
wir diesen Kurs fortsetzen: schrittweise Erhöhung des
steuerfreien Existenzminimums bis 2005 auf 15 000 DM,
Senkung der Steuersätze, oben wie unten, auf 45 Prozent
bzw. 15 Prozent. Das entspricht in weiten Teilen auch dem
Steuerkonzept meiner Fraktion – das sage ich durchaus
mit Stolz –, das wir in der letzten Legislaturperiode in die-
sem Hause vorgelegt haben. Dieses Konzept setzt diese
Regierung jetzt um.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir entlasten damit bis zum Ende des Jahres 2005 eine
Durchschnittsfamilie um rund 4 000 DM jährlich und wir
entlasten auch die Unternehmen, gerade die kleinen und
mittelständischen. Dazu möchte ich an dieser Stelle Fol-
gendes sagen: Sie reisen durch das Land und erzählen, wir
würden den Mittelstand belasten. – Das ist einfach nicht
wahr; das ist schlichtweg vordergründiges Geschrei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Gegensatz zu Ihnen ist der Mittelstand bei uns in
guten Händen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist eine kühne Behauptung!)


– Moment. – Für die heutige Schieflage sind Sie verant-
wortlich. Sie haben dafür gesorgt, dass die Konzerne im-
mer weniger Steuerlast getragen haben. Das ging auf die
Knochen der kleinen und mittelständischen Unterneh-
men. Wir haben das geändert. Allein mit dem ersten
Schritt im vergangenen Jahr haben wir für den Mittelstand
eine Entlastung von 6 Milliarden DM herbeigeführt. Wir
ziehen zusätzlich die eigentlich erst für 2002 geplante
nächste Stufe unserer Steuerreform um ein Jahr vor. Zu-
sammen mit unserer Unternehmensteuerreform wird das
bis 2005 eine zusätzliche Entlastung für den Mittelstand
von jährlich rund 14 Milliarden DM schaffen. Das ist ein
Erfolg. Diese Entlastung des Mittelstands ist genau das
Gegenteil von dem, was Sie jahrelang gemacht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deshalb kann ich Sie nur auffordern: Wenn Sie schon
nicht auf uns hören, dann hören Sie wenigstens auf die
warnenden Worte aus der Wirtschaft! Geben Sie Ihre Boy-
kottpläne im Bundesrat auf! Geben Sie den Weg frei; denn
die Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung ist so-
zial gerecht und sie ist wirtschaftlich erfolgreich. Wenn
Sie diese Steuerreform blockieren, sind Sie die Bremser
gegen den weiteren Aufschwung, dann machen Sie Poli-
tik gegen die Arbeitslosen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die zweite, ganz wesentliche Ursache für die hervor-
ragende wirtschaftliche Entwicklung ist unsere Politik ei-
ner konsequenten Haushaltskonsolidierung. Wir haben
mit dem Zukunftsprogramm 2000 endlich Schluss ge-
macht mit dem Wirtschaften auf Kosten zukünftiger
Generationen. Das ist eine Politik, die meine Fraktion
schon in der vergangenen Legislaturperiode immer
wieder gefordert hat. Wie oft hat Ihnen mein Kollege
Oswald Metzger Ihre unseriöse Finanzpolitik um die Oh-
ren gehauen, wie oft hat er Sie aufgefordert, mit Ihren Ta-
schenspielertricks oder mit der Goldfingeraktion – ich er-
innere mich gut – endlich aufzuhören, leider ohne Erfolg.

1,5 Billionen DM Schulden hat Ihre Regierung den
Menschen in unserem Land hinterlassen. Das ist eine
15 mit elf Nullen. Das ist, glaube ich, eine Summe, die
sich kaum einer im Lande vorstellen kann. Das bedeutet
82 Milliarden DM Zinsen Jahr für Jahr, das heißt
1 000 DM pro Person pro Jahr, vom Kind bis zum Greis.




Kerstin Müller

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(C)



(D)



(A)



(B)


Das heißt, von jeder Steuermark, die die Menschen zah-
len, geben wir allein 25 Pfennig für die Finanzierung der
Zinsen aus. Da ist noch kein Pfennig von der Schuld ge-
tilgt.

Ich weiß, Herr Merz, dass Sie das nicht hören wollen,
aber die Verantwortlichen in der CDU haben eben offen-
sichtlich nicht nur schwarze Koffer über die Grenzen ge-
schmuggelt, um schwarzes Geld in schwarzen Parteikas-
sen zu deponieren, sie haben auch jedes Jahr immer neue
schwarze Löcher in Theo Waigels Haushalt produziert.
Deshalb haben wir Ihre Steuerexperimente damals abge-
lehnt, weil sie noch größere Haushaltslöcher gerissen hät-
ten, weil Sie damals wie heute Steuerpolitik auf Pump ma-
chen wollten. Das haben wir beendet und diesen Kurs
werden wir auch fortsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir stehen für Generationengerechtigkeit. Wir haben
uns immer für eine nachhaltige Politik eingesetzt, gerade
auch meine Fraktion, und das eben nicht nur in der Um-
weltpolitik, sondern auch in der Haushalts- und Finanz-
politik. Deshalb werden wir diesen Haushalt Schritt für
Schritt konsolidieren und die Verschuldung abbauen.

Das ist nicht zuletzt – das will ich auch noch einmal sa-
gen – eine Frage sozialer Gerechtigkeit; denn horrende
Zinszahlungen bedeuten im Grunde systematische Um-
verteilung von unten nach oben.

Deshalb wundert es mich auch nicht, Herr Möllemann,
wenn Sie jetzt vorschlagen – heute haben Sie es nicht ge-
macht, aber wir sind uns ja des Öfteren in Nordrhein-
Westfalen begegnet –,


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Nur einmal! Das war genug!)


das Geld, das wir möglicherweise aus der Versteigerung
der neuen Handy-Frequenzen bekommen, sofort wieder
zu verfrühstücken. Es wundert mich nicht, wie nachlässig
Sie mit dieser Frage umgehen, wie unverschämt fahrläs-
sig Sie Geld ausgeben, das überhaupt noch nicht da ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf diese Tour haben Sie schließlich den Schulden-
berg, den wir heute haben – 82 Milliarden DM Zinsen pro
Jahr –, mit verursacht; für ihn ist maßgeblich auch die
F.D.P. mitverantwortlich. Und Sie wollen jetzt weiter das
Geld verfrühstücken, statt es zum Sparen zu verwenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage Ihnen für meine Fraktion sehr deutlich: Wir
sind der Meinung, zusätzliche Einnahmen sollen und
müssen zur Tilgung der Schulden verwendet werden –
diesbezüglich hat der Finanzminister in uns verlässliche
Bündnispartner –, denn nur so werden wir Handlungs-
spielräume für wichtige Investitionen in Bildung, Ausbil-
dung, Forschung und Wissenschaft und für die soziale und
ökologische Erneuerung zurückgewinnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die fünf führenden deutschen Wirtschaftsinstitute ha-
ben diese Politik sehr positiv kommentiert. Sie begrüßen
gerade an dieser Stelle nachdrücklich den Kurs der rot-
grünen Bundesregierung. Sämtliche Fachleute haben ihre
Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung deutlich
nach oben korrigiert. Das Bruttoinlandsprodukt wird in
diesem und im nächsten Jahr um 2,8 Prozent steigen, dop-
pelt so stark wie noch im vergangenen Jahr. Die Arbeits-
losigkeit wird weiter abgebaut und sinkt im kommenden
Jahr auf durchschnittlich 3,5 Millionen. Das sind rund
20 Prozent weniger als im letzten Jahr der Kohl-Regie-
rung.

Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, da brau-
chen wir uns wirklich nicht zu verstecken, schon gar nicht
vor denen, die das letzte Regierungsschiff so grandios
versenkt haben. Deshalb, meine Damen und Herren,
freuen wir uns zunächst einmal über diesen Erfolg, der
auch etwas mit unserer Politik zu tun hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ehe Sie sich hier weiter als Schlechtmacher und Mies-
macher betätigen,


(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Oh, wie furchtbar!)


möchte ich Ihnen einen Kommentar von Roger de Weck
aus der „Zeit“ der vorletzten Woche vorhalten. Er kom-
mentiert Ihre Politik folgendermaßen:

Die Schlechtmacher ... hassen es, wenn wir uns
freuen. Jedes Mittel ist ihnen recht, zum Beispiel der
schiefe Vergleich. Lieber reden sie von der Stärke des
Dollar als vom gewaltigen, emporschnellenden,
hoch gefährlichen Defizit in der Zahlungsbilanz der
Vereinigten Staaten. Viel lieber heben sie die Euro-
Schwäche hervor als die europäischen und deutschen
Erfolge im Export, um die Amerika froh wäre.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Mann hat
Recht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt werden sich die Devisenmärkte nach dieser Rede bewegen!)


Die relative Schwäche des Euro ist nämlich keine Bedro-
hung für die wirtschaftliche Entwicklung, weder in Eu-
ropa noch in Deutschland.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Die rot-grüne Bundesregierung ist eine Bedrohung!)


Sie stärkt derzeit die Exportkraft des Euro-Raumes. Da-
von profitiert gerade die deutsche Wirtschaft ganz beson-
ders.

Es gibt auch keine Besorgnis erregenden Inflationsra-
ten. Und im Vergleich zu anderen europäischen Währun-
gen ist der Euro stabil. Wenn man sich die Wirtschaftsda-
ten des gesamten Euro-Raumes ansieht, kann man mit ein
wenig Selbstbewusstsein nur zu dem Schluss kommen:
Der Euro ist derzeit unterbewertet. Er wird auch gegen-




Kerstin Müller
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(B)


über dem Dollar wieder stärker werden, und zwar dann,
wenn weltweit noch deutlicher wird, welche wirtschaftli-
che Kraft und auch welches Innovationspotenzial die
europäischen Gesellschaften in den kommenden Jahren
entwickeln werden.

Die ökologische Erneuerung unserer Gesellschaft ist
bei dieser Frage von entscheidender Bedeutung. Von ihrer
Umsetzung hängt der Schutz unserer Lebensgrundlagen
entscheidend ab, aber verbunden damit ist eben auch die
Entwicklung von neuen zukunftsfähigen Branchen und
Arbeitsplätzen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch
daran noch einmal erinnern: Bei der Entwicklung mo-
derner, erneuerbarer Energien lag Deutschland vor an-
derthalb Jahren, vor der Übernahme der Regierung durch
uns, noch unter „ferner liefen“. Der letzte Hersteller von
Solaranlagen war gerade in die USA ausgewandert, weil
er hier keine Entwicklungspotenziale gesehen hat. Jetzt
sieht das anders aus. Das 100 000-Dächer-Programm der
rot-grünen Regierung ist ein absoluter Renner.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die rot-grüne Regierung hat durch ihre Maßnahmen –
das Markteinführungsprogramm, das es noch zusätzlich
gibt, und das Gesetz zur Förderung der erneuerbaren En-
ergien, das seit dem 1. April dieses Jahres in Kraft
ist – nach nur 18Monaten in Deutschland mit die weltweit
besten Voraussetzungen für den Ausbau erneuerbarer
Energien erreicht. Das ist ein wirklicher Beitrag zum
Klimaschutz. Dadurch werden auch neue zukunftsfähige
Arbeitsplätze in der Bundesrepublik geschaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schon heute arbeiten in Deutschland fast genauso viele
Menschen im Bereich der erneuerbaren Energien wie in
der Atomindustrie. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
weist den Weg in die Zukunft und nicht der von der
Bayerischen Staatskanzlei angekündigte Veitstanz gegen
den Atomausstieg. Auf diese Weise wird kein einziger zu-
kunftsfähiger Arbeitsplatz geschaffen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist ja ein rhetorisches Veitstänzchen!)


Innovation und Zukunftsfähigkeit sind für Sie, meine
Damen und Herren von der CDU, Fremdwörter. Das ha-
ben Sie meines Erachtens gerade in den letzten Wochen
mit der unsäglichen Diskussion um die Green Card noch
einmal bewiesen. Diese dumpfe „Kinder statt Inder“-
Kampagne Ihres Spitzenkandidaten Rüttgers ist das Ge-
genteil von zukunftsweisender Modernisierung. Diese ist
einfach nur peinlich und verantwortungslos, weil Sie da-
mit Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebenden Aus-
länderinnen und Ausländer machen. Wir jedenfalls wer-
den so etwas nicht mitmachen. Ich glaube, dass auch die
Menschen diese Kampagne am 14. Mai zu „würdigen“
wissen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, die Wirtschaft boomt, die
Arbeitslosigkeit geht kräftig zurück.


(Lachen bei der CDU/CSU – Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Wie gucken Sie eigentlich?)


Die Aussichten sind ausgezeichnet. Wie titelte der „Stern“
in der vergangenen Woche? „Jetzt kommen die fetten
Jahre“.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben doch abgenommen!)


Ich glaube aber, dass wir jetzt nicht in Selbstzufrieden-
heit versinken dürfen, sondern wir müssen diese Chance
für weitere dringend notwendige soziale und ökologische
Reformen nutzen. Gerade eine echte Reform unserer so-
zialen Sicherungssysteme, vor allem der gesetzlichen
Altersvorsorge, wird für eine nachhaltige Wirtschaftsent-
wicklung entscheidend sein. Wir wollen und müssen die
gesetzliche Rente dauerhaft sichern. Wir brauchen lang-
fristig stabile Beiträge. Nur so werden wir das Vertrauen
besonders der jungen Generation in die gesetzliche Ren-
tenversicherung zurückgewinnen. Gerade deshalb, meine
Damen und Herren von der Opposition, fordere ich Sie
auf, wenn am Sonntag die Wahl in Nordrhein-Westfalen
gelaufen ist, endlich Ihre parteipolitischen Interessen
zurückzustellen. Wir müssen jetzt die Chance des Ren-
tengipfels nutzen, bei dem alle Fraktionen an einem Tisch
sitzen, für eine durchgreifende Strukturreform, die end-
lich wieder Generationengerechtigkeit schafft. Das sind
wir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Dafür wird
sich meine Fraktion sehr stark einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die rot-grüne Koalition hat eine sehr gute Arbeit ge-
leistet. Wir haben begonnen, unsere Gesellschaft sozial
und ökologisch zu erneuern. Die Erfolge sind offensicht-
lich. Wir werden diesen Kurs konsequent weiterverfol-
gen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie können diesen Weg mitgehen oder Sie können sich
weiterhin als Miesmacher betätigen. Ich rate Ihnen aber
eines: Versuchen Sie nicht, uns aufzuhalten! Denn das
würden Ihnen die Menschen zu Recht sehr übel nehmen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410201100
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410201200
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Kollege Möllemann, ich habe im
Handbuch nachgeschlagen. Es stimmt wirklich: Sie sind
seit 28 Jahren im Bundestag. Auf der einen Seite bewun-
dere ich das. Auf der anderen Seite frage ich mich aber, ob
man nach 28 Jahren ohne inneren Schaden aus dem Bun-
destag herauskommt.


(Beifall bei der PDS – Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Kerstin Müller

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Ich will Ihnen noch sagen: Sollten Sie wirklich aus-
scheiden – aus welchen Gründen auch immer –, wünsche
ich Ihnen persönlich alles Gute, politisch natürlich nicht.
Aber ich wünsche Ihnen immerhin Einsichten. Das ist ja
auch etwas. Ansonsten warten wir das Ergebnis getrost
ab.


(Beifall bei der PDS)

Ich habe mich sehr gewundert, als Sie gesagt haben, Sie
würden sich hier zum 14.Mai nicht äußern. Das haben Sie
außer in Ihrer gesamten Rede überhaupt nicht getan.


(Heiterkeit bei der PDS)

Da sich alle anderen zum 14. Mai geäußert haben, will

ich zur Klarheit eines sagen: Wenn es dem Kollegen
Struck vor allem darum geht, dass sich im Bundesrat
nichts verändert, obwohl er doch sonst immer für Verän-
derungen ist, dann möchte ich aber, dass sich wenigstens
eines verändert: Die Landesregierung von NRW soll end-
lich von links und sozial unter Druck geraten. Das klappt
am besten, wenn es eine PDS-Fraktion im Landtag gibt.


(Beifall bei der PDS Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Die Chance besteht ja. Sie sollten nicht so lachen. Viel-
leicht wundern Sie sich noch. Wer zuletzt lacht, lacht be-
kanntlich am besten. – Damit habe ich dieses Thema ab-
gearbeitet.

Mir ist aufgefallen, wie die Vokabeln bestehen bleiben.
Von der alten Bundesregierung kannte ich das Miesma-
cher-Vokabular gegen SPD, Grüne und andere hier im
Hause genauso, wie es jetzt gebraucht wird.

Ich wundere mich noch über einen anderen Punkt:
Wenn es einen Konjunkturaufschwung gibt, habe ich
noch keine Bundesregierung erlebt, die nicht sagt, dass
diese Konjunktur das Ergebnis ihrer hervorragenden Rah-
menpolitik der letzten Monate und Jahre sei. Wenn es eine
Rezession gibt, habe ich ebenfalls noch keine Bundesre-
gierung erlebt, die dann nicht erklärt, dass dies mit objek-
tiven ökonomischen Prozessen zu tun habe, dass im Übri-
gen die tieferen Ursachen in Asien und in den USA und
nicht in Bonn oder Berlin lägen. Wenn man solche Erfolge
für sich in Anspruch nimmt, muss man auch bei der ent-
gegengesetzten Entwicklung damit leben, dass die Bürge-
rinnen und Bürger davon ausgehen, dass man für die
schlechte Entwicklung genauso verantwortlich ist. Des-
halb wäre es schon richtiger, man würde differenzieren.


(Beifall bei der PDS)

Nicht nur die CDU/CSU-Fraktion sagt, der Auf-

schwung sei nicht hausgemacht. In der „taz“ vom
28.April sagt die alternative Wirtschaftswissenschaftlerin
Beate Willms, dass weder am Aufschwung noch am mög-
lichen Abbau der Arbeitslosigkeit Rot-Grün bisher einen
nennenswerten Anteil hat. Sie begründet diese Meinung.


(Bundeskanzler Gerhard Schröder: Wer ist Frau Willms?)


– Das werde ich Ihnen erklären. Die „taz“ ist mehr eine
Zeitung der Grünen und weniger eine Zeitung von uns.
Zumindest die Grünen sollten auf diese Meinung hören.

Es gibt drei Faktoren. Der erste Faktor – den kann man
nicht wegdiskutieren –: Wir haben es tatsächlich mit einer
demographischen Verschiebung zu tun. Das heißt, gebur-
tenstarke Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt, gehen in
Rente und geburtenschwache Jahrgänge kommen auf den
Arbeitsmarkt. Das hat zunächst einmal auf die Statistik
positive Auswirkungen.

Der zweite Faktor – es ist wahr, was Sie sagen –: Die
Konjunktur ist angekurbelt. Das hängt auch mit der
Schwäche des Euro zusammen, die eine positive Seite
hat. Das heißt, Exporte werden erleichtert, was der
Exportwirtschaft hilft. Ich finde es albern, diese Tatsache
zu leugnen.

Ich sage aber gleichzeitig, dass diese Entwicklung
mehrere Negativseiten hat. Die erste Negativseite ist, dass
die Unternehmen, die auf Importe aus dem Dollar-Be-
reich angewiesen sind, jetzt sehr viel mehr bezahlen müs-
sen. In diesem Bereich sind Arbeitsplätze gefährdet.

Zweitens hat es psychologisch eine negative Auswir-
kung, weil nämlich das Vertrauen in den Euro abnimmt
bei den Bürgerinnen und Bürgern, auch im Ausland
außerhalb der Euro-Zone.

Nun sagen Sie ja selber: Der Euro wird auch im Außen-
verhältnis wieder an Stärke gewinnen; Kerstin Müller sagt
das auch. Bloß, dann müssen Sie dazusagen: Was wird
denn dann aus der Exportwirtschaft? Das, was Sie jetzt
positiv bewertet haben, passiert doch dann negativ. Dann
werden nämlich die Exporte wieder abnehmen.


( V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Aber das Dramatischste – worauf Sie leider überhaupt
nicht eingegangen sind, Herr Bundeskanzler – ist der
Osten. Im Osten hat ja die Arbeitslosigkeit nicht nur nicht
abgenommen, sie hat zugenommen. Sie hat auch in die-
sem Monat wieder um 8 000 zugenommen. Das heißt, die
ganze Wirkung bleibt derzeit auf die alten Bundesländer
beschränkt, es gibt keine Wirkung auf die neuen. Ich sehe
überhaupt kein Konzept der Bundesregierung, wie man
dort die Wirtschaft ankurbeln will.

Wir haben die Investitionspauschale für Kommunen
vorgeschlagen, damit die wieder in der Lage sind, eigene
Wirtschaftskreisläufe in Gang zu setzen.


(Beifall bei der PDS)

Dazu gehört aber auch die Stärkung der Kaufkraft in Ost-
deutschland. Deshalb bitte ich Sie noch einmal: Legen Sie
einen Fahrplan zur Angleichung der Löhne und Gehälter
auch im öffentlichen Dienst vor, wenigstens in welchen
Schritten und in welchen Fristen das erfolgen soll. Das ist
im zehnten Jahr der deutschen Einheit politisch notwen-
dig, das ist moralisch notwendig,


(Beifall bei der PDS)

aber es ist auch ökonomisch sinnvoll. Denn ohne Ankur-
belung der Kaufkraft werden wir die Wirtschaft in den
neuen Bundesländern nicht ankurbeln. Da verstehe ich
Ihren Bundesinnenminister überhaupt nicht, der es nun
auf ein Schiedsverfahren und vielleicht sogar auf Streiks
ankommen lassen will, anstatt hier so schnell wie möglich




Dr. Gregor Gysi
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eine Verständigung herbeizuführen für den gesamten öf-
fentlichen Dienst und speziell auch für den in den neuen
Bundesländern.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie mich noch etwas sagen zu der Frage, ob

denn das alles genügt. Sie selbst haben betont, entschei-
dend sei – und da sind Sie auf die Kaufkraft eingegan-
gen –, dass die Einkommen netto im Vergleich zu brutto
wieder zugenommen hätten, gerade bei Löhnen und
Gehältern. Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ob das so
stimmt. Wenn aber diese Kaufkraftthese neben der Ange-
botsthese im ausgewogenen Verhältnis zueinander stim-
mig gemacht werden soll, dann müssen wir schon ein paar
Dinge ändern.

Es ist doch real so, dass durch den Ausfall der Netto-
lohnanpassung bei Renten, bei Arbeitslosengeld, bei Ar-
beitslosenhilfe und damit indirekt auch bei Sozialhilfe die
Kaufkraft geschwächt wurde. Und Sie kriegen es nicht
weg. Diese Reformen gingen zulasten der sozial
Schwächsten in unserer Gesellschaft. Man kann es dre-
hen und wenden, wie man will: Unter der Kohl-Regierung
gab es immerhin jedes Jahr die Nettolohnanpassung,
wenn auch bei schwachen Nettolohnsteigerungen. Erst-
malig unter einer sozialdemokratisch geführten Bundes-
regierung fällt sie jetzt zwei Jahre lang aus. Das trifft die
völlig Falschen.

Die haben auch nichts davon, dass Sie den Eingangs-
steuersatz bei der Einkommensteuer senken; denn die
zahlen gar keine Einkommensteuer. Außerdem müssen
sie die Ökosteuer bezahlen. Das heißt, sie machen netto
richtig Miese. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die etwas davon haben, dass der Eingangssteuersatz ge-
senkt wird, verlieren das fast alles wieder durch die Öko-
steuer, die eben im Unterschied zur Meinung von Frau
Müller nicht einmal ökologisch ist, aber ganz bestimmt
nicht sozial.


(Beifall bei der PDS – Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist falsch!)


Ich will mich damit heute auch gar nicht länger ausei-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410201300
Ich habe
alles bewundert, was Sie gesagt haben, was dagegen
spricht, den Spitzensteuersatz zu senken. Das Einzige,
was ich nicht verstehe, ist, weshalb Sie es dann machen
um 8 Prozent bis zum Jahre 2005. Wir, die Besserver-
dienenden, sind doch ausreichend mit begünstigt durch
die Senkung des Eingangssteuersatzes. Wir müssen doch
nicht noch einmal oben bei der Steuer nachgelassen be-
kommen. Dadurch sind wir nämlich letztlich die Einzi-
gen, die netto richtig Plus machen. Es tut mir Leid, aber
das ist, wenn auch abgeschwächt, die Fortsetzung der
Umverteilung von unten nach oben.


(Beifall bei der PDS)

Man hatte sich erhofft, dass diese Politik ab 1998 gestoppt
und in ihr Gegenteil verkehrt wird.

8 Prozent sind eine ganze Menge. Nun weiß ich natür-
lich, dass es viele gibt, die noch viel mehr wollen. Aber
diese 8 Prozent sind schon zu viel. Und wenn Sie sagen,
über 70 Prozent der Mittelständler bezahlen überhaupt

keinen Spitzensteuersatz, dann hätte es noch weniger
Grund gegeben, den Spitzensteuersatz zu senken. Hätten
Sie uns den doch einfach weiter zahlen lassen, kann ich
nur sagen. Leute, die noch mehr verdienen als wir, und
uns hätte es nicht hart getroffen, die soziale Schieflage
wäre nicht gewesen und der Staat hätte auch mehr Ein-
nahmen für kulturellen, sozialen und ökologischen Aus-
gleich. Das lässt sich ja noch ändern. Wir hoffen sehr, dass
es passiert.

Ich will noch etwas sagen: Wenn wir denn Arbeits-
plätze schaffen wollen, dann müssen wir tatsächlich das
Spekulationskapital dämmen und es muss viel mehr in-
vestiert werden. Da passiert auch durch Ihre Steuerreform
letztlich nichts. Schon deshalb nicht, weil Sie bei einbe-
haltenen Gewinnen nicht danach unterscheiden, ob sie in-
vestiv eingesetzt werden oder ob sie für Spekulations-
zwecke genutzt werden.


(Beifall bei der PDS)

In beiden Fällen werden sie gleichermaßen begünstigt
und damit kann die Wirkung diesbezüglich gar nicht
eintreten. Wir sind in einem internationalen Spielkasino.
Hier ist jede Form von Deregulierung falsch. Da ist schon
alles dereguliert. Es wird höchste Zeit, dass wir einmal
etwas regulieren, damit endlich wieder aktiv investiert
wird.


(Beifall bei der PDS)

Dann lassen Sie mich noch zu einer Sache etwas sagen,

die ich überhaupt nicht verstanden habe. Im letzten Jahr
hat diese Bundesregierung gesagt, Gewerbetreibende
und Handwerker seien dadurch privilegiert, dass sie den
Verkaufserlös nicht voll versteuern müssten. Wenn sie
jetzt verkaufen, müssen sie die volle Steuer bezahlen. In
diesem Jahr sagen Sie, beim Verkauf einer Aktiengesell-
schaft – sprich: einer Bank, einer Versicherung, eines
Konzerns – wollen Sie beim Verkaufserlös auf jede Steuer
verzichten. Es ist doch völlig absurd, das Handwerk und
das Gewerbe mit der Steuer zu treffen und die Großen zu
schonen. Es geht auch nicht um Gleichstellung, Herr
Merz, sondern wir brauchen endlich einmal eine Situa-
tion, in der die Konzerne, Banken und Versicherungen
entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
ihren Beitrag zur Finanzierung des Allgemeinwohls in der
Bundesrepublik Deutschland leisten und nicht nur die
Handwerker und die Gewerbetreibenden, die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitsnehmer.


(Beifall bei der PDS)

Nun weiß ich: Auch der Bäcker kann sich entscheiden,

sich wie eine Aktiengesellschaft behandeln zu lassen. Aber
auch damit schicken Sie ihn ins Spielkasino, weil er näm-
lich nicht weiß, welche Auswirkungen das nach zwei oder
drei Jahren haben wird, und die Entscheidung soll ja end-
gültig sein. Wir wollen aber keine Spieler, sondern wir
wollen Handwerker und Gewerbetreibende, die Arbeits-
plätze schaffen und die ausbilden. Deshalb brauchen wir
Steuersicherheit und nicht solche Vabanquespiele. Das
sage ich Ihnen ganz deutlich.


(Beifall bei der PDS)

Die Entlastung der Aktiengesellschaften bei den Ver-

kaufserlösen ist ein völlig falscher Trend, zumal von den




Dr. Gregor Gysi

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(A)



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Großen gar keine neuen Arbeitsplätze mehr geschaffen
werden. Seit Jahren bauen sie nur noch Arbeitsplätze ab.
Stellen Sie sich einmal vor, die Fusion von Deutscher
Bank und Dresdner Bank hätte stattgefunden, Herr Bun-
desfinanzminister! 16 000 Arbeitsplätze sollten abgebaut
werden und die Steuer auf den Verkaufserlös wollten Sie
ihnen schenken. Das heißt, die Allgemeinheit hätte die
Arbeitslosigkeit finanziert, aber nicht die betroffenen Un-
ternehmen, die dadurch nur Gewinne erzielt hätten.


(Beifall bei der PDS)

Übrigens, Kollege Struck ist immer so stolz darauf, dass

er vom BDI-Chef Henkel usw. gelobt wird. Ich finde, das
sollte Sie nachdenklich machen; das Lob wird zu dick.


(Lachen bei der CDU/CSU und F.D.P.)

Früher waren Sie stolz auf das Lob von Gewerkschaften,
heute sind Sie eher stolz auf das Lob vom BDI und von
Henkel. Da hat sich in der deutschen Sozialdemokratie
einiges verschoben.


(Zustimmung bei der PDS – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Auf beide Lobe!)


Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Dabei kom-
men wir um einige Fragen nicht umhin. Lassen Sie uns
doch Reformen machen, die den Abbau von Arbeitslosig-
keit weniger von Zufällen und von internationalen Marktent-
wicklungen abhängig machen. Wir müssen ihn vielmehr
strukturell sichern.

Die erste entscheidende Frage ist: Was wird aus der
Arbeitszeit? Es ist doch so: Immer weniger Menschen
produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr und er-
bringen immer mehr Dienstleistungen. Das könnte zum
Vorteil für uns alle sein. Stattdessen haben wir die Situa-
tion, dass Millionen draußen stehen und tote Zeit haben,
während bei den anderen, die in Arbeit sind, der Stress, die
Überstunden und der Leistungsdruck wachsen. Lassen Sie
uns ein vernünftiges Arbeitszeitgesetz machen, wenigs-
tens so eines wie in Frankreich, damit wir die Arbeitslo-
sigkeit endlich abbauen.


(Beifall bei der PDS)

Zweitens bin ich davon überzeugt: Wir brauchen eine

neue Struktur bei den Lohnnebenkosten. Wir schlagen
seit Jahren eine Reform vor, nach der die Unternehmen
nicht mehr die zweite Hälfte, die 50 Prozent bezahlen sol-
len wie heute, sondern nach ihrer Wertschöpfung eine
Abgabe in die gesetzlichen Sicherungssysteme zahlen
sollen, jedes Vierteljahr, höchst flexibel. Steigt sie, mehr,
sinkt sie, weniger. Nie wieder wäre ein Unternehmen mit
Lohnnebenkosten überfordert, weil es immer von der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängig wäre. Da-
durch könnten die Unternehmen auch leichter einstellen,
weil sie wüssten, dass die Lohnnebenkosten keine starre
Größe sind, sondern sich entsprechend ihrer wirtschaftli-
chen Leistungsfähigkeit entwickeln.

Auf der anderen Seite ist klar: Wenn ein Konzern 1 000
Leute entlässt und hinterher immer noch die gleiche Wert-
schöpfung hat, müsste er nach unserem Vorschlag immer
noch die gleiche Abgabe in die Sicherungssysteme zah-
len. Na und? Er hat ja auch einen höheren Gewinn, weil

er tausendmal Lohn spart. Das überforderte doch den
Konzern gar nicht. Das würde dazu führen, dass Entlas-
sungen nicht mehr belohnt und Einstellungen nicht mehr
bestraft würden. Das wäre eine strukturelle Reform. Die
Lohnnebenkosten um einen Prozentpunkt zu erhöhen
oder zu senken ist keine strukturelle Reform.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie uns auch ernsthaft über den öffentlich ge-

förderten Beschäftigungssektor nachdenken. Wenn jetzt
die Zahl der Wehrpflichtigen und damit der Zivildienst-
leistenden gesenkt wird, bleiben viele Aufgaben unerle-
digt. Das zu ändern wird nur über einen solchen Sektor
funktionieren. Das wäre erstens gut für die Gesellschaft
und zweitens eine Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit.

Außerdem müssen wir – das ist wahr – deutlich in Bil-
dung investieren. Das gilt für alle Bundesländer, also
auch für NRW, über das heute schon so viel gesprochen
worden ist. Ich finde, dass die Einsparungen auf diesem
Gebiet nicht hinnehmbar sind. Sie verletzten die Chan-
cengleichheit der Kinder. Wer heute benachteiligt geboren
wird, geht dann auch benachteiligt durchs ganze Leben.
Solche Kinder müssen doch wenigstens die Chance ha-
ben, die Benachteiligung wieder auszugleichen. Diese
Chance haben sie aber nur bei gleichem Zugang zu Kul-
tur und Bildung. Dieser wird ihnen immer stärker ver-
wehrt. Die Kinder werden zu früh getrennt, die Kinder-
gärten werden mehr als Aufbewahrungsanstalten denn als
Vorschulbildungseinrichtung verstanden. Nur in einem
Bundesland wird das anders geregelt, nämlich in Bayern.
Die Praxis dort unterscheidet sich trotzdem nicht von der
in anderen Bundesländern. Aber immerhin, in dem ent-
sprechenden Gesetz in Bayern wird dies anders geregelt.

Damit hängt auch zusammen, was alles man heute für
die Kinder im Rahmen der Schulausbildung hinzukaufen
muss. Das geht weiter: Ich nenne zum Beispiel die Dis-
kussion über Studiengebühren. Das alles sind Diskus-
sionen, bei denen es um eine soziale Ausgrenzung geht.
Natürlich gehört auch die Frage der Effektivität eines Stu-
diums dazu. Wichtig sind auch die Fragen: Was wird in
den Bildungseinrichtungen angeboten? Was haben die
Angebote mit der neuen Zeit zu tun? Das alles sind Fra-
gen, die uns in diesem Zusammenhang bewegen.

Wir tauschen hier zwar Meinungen aus, streiten uns
und werfen uns gegenseitig alles Mögliche vor, führen
aber keine wirkliche Bildungsreform durch. Vielmehr
müssen wir Experten aus anderen Ländern holen, was
eine Menge über die Bildungspolitik – übrigens auch über
die Politik des Zukunftsministers der letzten Regierung;
um das einmal ganz deutlich zu sagen – aussagt.

Zu dem Spruch „Kinder statt Inder“ ist zu sagen: Ein
neues Jahrhundert bzw. ein neues Jahrtausend beginnt.
Wir sollten einfach akzeptieren, dass es bestimmte Dinge
gibt, die Ausläufer des Mittelalters sind. Dazu gehören
alle Formen des Rassismus, alle Formen von Ausländer-
feindlichkeit, alle Formen der Diskriminierung von Men-
schen wegen ihres Geschlechts oder wegen ihrer Staats-
bürgerschaft bzw. Nationalität und alle Formen der Dis-
kriminierung von Menschen wegen der Art, wie sie
lieben. Lassen Sie uns das doch bitte nicht ins nächste




Dr. Gregor Gysi
9506


(C)



(D)



(A)



(B)


Jahrhundert bzw. ins nächste Jahrtausend mitnehmen!
Damit muss jetzt Schluss sein. Das wäre dann ein zivili-
satorischer Fortschritt.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich plädiere hier für Reformen, zu denen ich sagen
kann: Ja, sie stabilisieren den Abbau der Arbeitslosigkeit,
sie bewirken ihn nicht mehr zufällig. Wenn wir diese Re-
formen durchführten, müssten Sie, Herr Bundeskanzler,
nicht mehr zittern, welche Zahlen die Bundesanstalt für
Arbeit nennt, und dann können Sie sich plötzlich auf die
Rahmenbedingungen verlassen. Für eine solche Steuerre-
form, eine solche Abgabepolitik und eine solche Sozial-
politik würden wir eintreten.

Bisher ist das aber nicht zu erkennen. Deshalb sage ich:
Wir müssen an dem geplanten Steuergesetzeswerk noch
eine ganze Menge ändern. Es ist ungerecht. Es belastet
vor allen Dingen kleine und mittelständische Unterneh-
men und entlastet die großen. Die zu entlasten ist der
falsche Weg. Die schaffen keine Arbeitsplätze mehr. Las-
sen Sie uns endlich einen anderen Weg gehen!

Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt – das war ein
bisschen verräterisch –: In den neuen Bundesländern
klappt die Ausbildung noch nicht so, weil es dort nicht so
viele Betriebe wie bei uns gibt, die ausbilden. Dieses „wie
bei uns“ sollten Sie nicht noch einmal sagen. Der Osten
gehört dazu.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb ist dieses „wie bei uns“ leicht verräterisch. Das
würde mir im Hinblick auf den Westen nicht mehr passie-
ren. Insofern bin ich in den letzten elf Jahren im Kopf im
Hinblick auf die deutsche Einheit weitergekommen.

Ich füge hinzu: Wir brauchen einen Fahrplan für den
Aufbau Ost sowie für die Angleichung von Löhnen,
Gehältern und allen Sozialleistungen einschließlich der
Renten. Sonst wird es eine innere deutsche Einheit nicht
geben. Nur eine Gleichstellung, nur Chancengleichheit
garantiert auch die innere Einheit in der Bundesrepublik
Deutschland.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410201400
Das Wort
hat jetzt Bundesfinanzminister Hans Eichel.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410201500
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein paar
Zahlen und darauf aufbauend falsche Argumentationsli-
nien, wie sie sowohl Herr Kollege Merz als auch soeben
Herr Kollege Gysi verwendet haben, möchte ich hier kurz
korrigieren.

Herr Kollege Merz, der Abstand zwischen Deutschland
und den anderen Ländern wird nicht größer zulasten
Deutschlands, sondern ständig kleiner. Dass Deutschland
die zweitletzte Position beim Wirtschaftswachstum in Eu-

ropa hatte und noch hat, das ist wahr, ist aber seit dem
Jahre 1995 der Fall. Seit 1995, also in den letzten drei Jah-
ren Ihrer Regierungszeit, war Deutschland immer an
zweitletzter Stelle beim Wirtschaftswachstum in der Eu-
ropäischen Union.


(Joachim Poß [SPD]: So ist das!)

Seit Ihrer Regierungszeit entwickeln sich die Arbeits-

losenzahlen folgendermaßen: Im Jahre 1995 kam es zu
einem Abbau von 37 000; diese Zahlen sind ja verfügbar.
1996 kam es zu einem Abbau um 277 000, 1997 um
287 000 und dann 1998 zu einem Wiederanstieg um
135 000. 1999 kam es zu einem Anstieg der Zahlen um
107 000 auf der Basis eines – nicht nur aus unserer, son-
dern auch aus allgemeiner Sicht – unglücklichen Verlau-
fes der Kurve – das wissen wir alle –: Es kam nämlich im
ersten Teil des Jahres zu einem Anstieg und im zweiten
Teil des Jahres zu einem Rückgang der Arbeitslosenzah-
len. Das Ergebnis insgesamt war jedoch ein Anstieg.

Herr Merz, seit Oktober vergangenen Jahres kommt es
zu einem Anstieg der Beschäftigtenzahlen um 155 000.
Das sind die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundes-
amtes. Die Legende, die Sie die ganze Zeit zu verbreiten
versuchen, nämlich dass der Abbau der Arbeitslosigkeit
ausschließlich etwas mit dem demographischen Wandel
zu tun habe, also damit, dass viele Ältere ausscheiden und
wenige Junge nachkommen, ist falsch. Das ist nur die eine
Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist,
dass der Abbau zum anderen Teil auf einen neuen Anstieg
der Beschäftigung zurückzuführen ist.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Genau das ist der Sachverhalt, den Sie die ganze Zeit zu
verschleiern versuchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben die ganze Zeit beklagt, dass es keine Zahlen
gebe. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind nun
da. Benutzen Sie sie bitte auch, statt hier falsche Behaup-
tungen zu verbreiten!

Deutschland marschiert nach vorne. Ich will mir nicht
alle Zahlen zu Eigen machen. Es gibt aber weltweit keine
besseren als die des Internationalen Währungsfonds. Da-
nach wird bezüglich des Wachstums sowohl im Vergleich
der Euro-11-Gruppe als auch der 15 EU-Staaten der Ab-
stand zugunsten Deutschlands immer kleiner. Bereits im
nächsten Jahr wird Deutschland von allen großen Ländern
Europas das höchste Wachstum verzeichnen können,
auch ein höheres als das in den Vereinigten Staaten. So die
Prognose des Internationalen Währungsfonds, der übri-
gens ausdrücklich auf unsere Finanz-, Steuer- und Wirt-
schaftspolitik hinweist und sagt: Die sind auf dem richti-
gen Weg. Sie können den jetzigen Chef, Herrn Köhler –
Sie kennen ihn noch aus gemeinsamer Zeit –, dazu befra-
gen. Also, Herr Merz, verbreiten Sie nicht diese Unwahr-
heiten!

Nun komme ich auf die Steuerpolitik zu sprechen,
weil auch dazu immer eine falsche Behauptung aufge-
stellt wird. Wir brauchen uns nicht von Ihnen sagen zu las-
sen, wir bräuchten Mut. Wir brauchten Mut, um den Weg




Dr. Gregor Gysi

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(D)



(A)



(B)


aus der Schuldenfalle zu gehen. Dabei haben Sie uns im
vergangenen Herbst nicht unterstützt. Stattdessen haben
Sie uns Knüppel zwischen die Beine geworfen.


(Beifall bei der SPD)

Deswegen stelle ich Ihnen, Herr Merz, angesichts der

Verhandlungen, die uns bevorstehen und die wir führen
werden, eine Frage zuallererst: Sind Sie bereit, eine Steu-
erpolitik zu machen, die den Weg aus der Schuldenfalle
nicht beeinträchtigt? Wir werden nämlich keine Steuer-
senkung vornehmen, die uns wieder zu einer Erhöhung
der Neuverschuldung führt. Da ist für diese Bundes-
regierung die Grenze der Kompromissfähigkeit erreicht.
Damit wir uns richtig verstehen. Im Jahr 2006 soll der
Haushalt ausgeglichen sein. Das wäre das erste Mal seit
Jahrzehnten. Von diesem Weg weichen wir nicht ab. Ent-
lang dieser Leitplanke werden die anderen Politiken ge-
macht. Darauf hätte ich von Ihnen sehr gerne eine Ant-
wort.


(Beifall bei der SPD)

Übrigens: Täten wir etwas anderes, würden wir von

ganz Europa gescholten. Denn wer den Euro hat, der muss
sich auch auf eine konzertierte Wirtschafts- und Finanz-
politik in Europa einlassen. Das heißt, wir werden die
Wachstumsgewinne für eine schnellere Konsolidierung
einsetzen. Das ist die gemeinsame Verabredung aller
15 Finanzminister des Ecofin-Rates.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Thema
Körperschaften und Personengesellschaften bzw. große
Unternehmen und Mittelständler zu sprechen kommen.
Es ist schon spannend, dass CDU/CSU und PDS hier in
dieselbe – übrigens falsche – Richtung argumentieren.
Die Wahrheit ist ganz einfach: Aufgrund unserer Steuer-
politik, des Steuerentlastungsgesetzes und der Steuerre-
form 2000, müssen die Kapitalgesellschaften sogar noch
eine Kleinigkeit draufzahlen. Das können sie auch; das
sage ich in aller Ruhe.

Sie haben ja im vorigen Frühjahr etwas gesagt, was Sie
heute nicht mehr wahrhaben wollen, nämlich dass das
Steuerentlastungsgesetz ein Gesetz zur Vertreibung der
Konzerne aus unserem Land sei. Das haben Sie hier ge-
sagt, Herr Merz.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ja, natürlich! Das ist ja auch so!)


Richtig ist: Die Energieversorgungsunternehmen haben
draufzahlen müssen. Aber ich sage Ihnen: Wer 72 Milli-
arden DM auf der hohen Kante liegen hat, der kann auch
16,7 Milliarden DM an Steuern zahlen. Damit habe ich
kein Problem.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch die Versicherungswirtschaft hat mehr zahlen müs-
sen. Aber auch sie kann das.


(Klaus Lennartz [SPD]: Richtig!)

Richtig ist, dass jetzt alle Unternehmen entlastet wer-

den. Dies läuft aber für die großen Gesellschaften, die

Körperschaften, im Ergebnis auf plus/minus Null hinaus.
Das heißt, die 20 Milliarden DM an Entlastung in der
Wirtschaft kommen ausschließlich bei den kleinen und
mittleren Unternehmen an. Daher ist es völlig falsch, zu
behaupten, sie würden schlechter behandelt als die Kör-
perschaften.

Die Körperschaften zahlen definitiv 38 Prozent,
25 Prozent Körperschaftsteuer und im Schnitt 13 Prozent
Gewerbesteuer, egal ob der Gewinn niedrig oder hoch ist.
Und hier setzt in der öffentlichen Debatte die Falschmün-
zerei an, mit der immer darauf spekuliert wird, dass die
Menschen vom Steuerrecht nicht so recht Ahnung haben:
Die Personengesellschaften nämlich zahlen Einkommen-
steuer; das ist ein völlig anderes System. Darin gibt es im
unteren Bereich zunächst einmal einen schönen Freibe-
trag, den wir ständig heraufsetzen, im Jahr 2005 europa-
weit auf das höchste Niveau. Das ist zugunsten der Be-
zieher kleinerer Einkommen, also auch der kleinen Un-
ternehmen. Ab der ersten Mark oberhalb des Freibetrages
sind Steuern in Höhe von 15 Prozent zu zahlen; einen
derart niedrigen Satz hat es in Deutschland noch nie ge-
geben. Und jede Mark ab 98 000 DM wird dann mit
45 Prozent versteuert.

Was heißt das? Das heißt, dass ein Einzelunterneh-
mer – der Bundeskanzler hat die Zahlen vorhin schon ge-
nannt –, der einen zu versteuernden Gewinn – Freibeträge
werden hinterher berücksichtigt – von 100 000 DM hat –
für ihn gilt der Spitzensteuersatz von 45 Prozent in der
Tat –, eine Belastung seines Gewinns in Höhe von 27 Pro-
zent hat. Ich wiederhole: Die Körperschaft zahlt 38 Pro-
zent. Der Punkt, an dem eine Personengesellschaft und
ein Einzelunternehmer 38 Prozent zu zahlen haben, das
heißt, dass sie dort sind, wo sich die steuerliche Belastung
der Körperschaft immer befindet, wird bei einem unver-
heirateten Einzelunternehmer bei einem zu versteuernden
Gewinn von 200 000 DM und bei einem verheirateten
Einzelunternehmer bei einem zu versteuernden Gewinn
von 400 000 DM erreicht.


(Klaus Lennartz [SPD]: So ist es! So sind die Zahlen!)


Oberhalb dieser Grenze, also dort, wo eine Personen-
gesellschaft oder ein Einzelunternehmer mehr zahlen
müssten als eine Körperschaft, nämlich bei Un-
verheirateten oberhalb von 200 000 DM Gewinn und bei
Verheirateten oberhalb von 400 000 DM Gewinn, liegen
in ganz Deutschland noch – der Bundeskanzler hat die
Zahl schon genannt – 5 Prozent der Personengesellschaf-
ten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Gewerbesteuer vergessen Sie dabei!)


Die Behauptung, die Sie hier aufstellen, dass nämlich Per-
sonengesellschaften schlechter als Kapitalgesellschaften
behandelt würden, ist zu 95 Prozent unwahr, und sie
könnte zu 5 Prozent wahr sein. Das ist eine schlechte
Trefferquote für einen Finanzpolitiker, Herr Merz.




Bundesminister Hans Eichel
9508


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(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese 5 Prozent müssen es aber auch nicht zahlen; sie
können optieren. Dann unterliegen sie demselben Satz,
nämlich 38 Prozent.

Es können übrigens auch die Freiberufler optieren und
haben dann auch maximal jene 38 Prozent, wenn sie in
solche Gewinnkategorien hineinkommen.

Folgendes ist klar: Wenn Sie um den Spitzensteuer-
satz noch weiter streiten wollen – bitte schön, das müssen
wir machen; irgendwo wird man sich treffen müssen –,
dann werden Sie auch sagen müssen, wie Sie es bezahlen
wollen.


(Joachim Poß [SPD]: Richtig!)

Deswegen bin ich dafür, dass wir gemeinsam eine Dis-
kussion führen, aber dort, wo sie verbindlich wird, Herr
Kollege Merz, nämlich zwischen Bundestag und Bundes-
rat, auch gemeinsam mit den Ländern, auch mit jenen
Ländern, die CDU-Finanzminister haben. Ich werde keine
Namen nennen. Ich sage Ihnen aber, dass CDU-Kollegen
schon bei mir gewesen sind, die gesagt haben, dass sie es
eigentlich nicht bezahlen können. Dann muss ich mir die
großsprecherischen Bemerkungen aus München und an-
derswo anhören,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter Rauen [CDU/CSU]: Nennen Sie einmal Namen, wer bei Ihnen war!)


die besagen, dass man eine Steuerreform machen wolle,
die einen zusätzlichen Einnahmeausfall von 70 Milliar-
den DM bewirken würde.

Deswegen sage ich Ihnen: Ich bin für jedes Gespräch
offen, aber verbindlich muss es sein. Sie sollten nicht ein-
fach nur Ihre Wünsche äußern, sondern sollten auch sa-
gen, wie Sie es bezahlen wollen, und ferner sagen, wie die
Länder es bezahlen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und sagen, wer bei Ihnen war!)


Herr Stoiber hat nicht im Traum daran gedacht, von
seinen vielen Privatisierungserlösen dem Bund auch nur
einen Pfennig abzugeben. Er hat nicht einmal daran ge-
dacht, das in die Deckungsquotenberechnung aufzuneh-
men. Jetzt, wo ich bei meinem überschuldeten Bundes-
haushalt endlich ein bisschen Geld in die Kasse kriege,
hält der sofort die Hand auf. Nein, meine Damen und Her-
ren, so geht das wirklich nicht.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch eine letzte Bemerkung über einen Sach-
verhalt machen, der die Handwerker freut und über den
Sie, Herr Rauen, die Handwerker informieren sollten.


(Zuruf von der SPD: Das sagt der ihnen nicht!)


Sie wissen wie ich, wie ungerecht es die Handwerker-
schaft immer empfunden hat, dass sie höher besteuert
wird als die Freiberufler.Das ergibt sich daraus, dass die
Handwerkerschaft Gewerbesteuer zahlen muss und die
Freiberufler das nicht brauchen. Nun hat es viele Leute
gegeben, die gesagt haben: Die Freiberufler sollen eben-
falls zahlen. Das ist nicht meine Position. Vielmehr haben
wir mit dieser Ungerechtigkeit, dass der Handwerker
höher besteuert wird als der Freiberufler, mit unserer
Steuerreform endlich Schluss gemacht. Denn wir beseiti-
gen die Gewerbesteuer als Kostenfaktor und damit ist der
Handwerker endlich dem Freiberufler gleichgestellt und
alle profitieren von der kräftigen Absenkung der Einkom-
mensteuer. Von daher ergeben sich die 20 Milliarden DM
Entlastung für den Mittelstand. So etwas haben Sie noch
nie zuwege gebracht.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410201600
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Michael Glos das Wort.


(Klaus Lennartz [SPD]: Lächeln! – Sehen Sie, das klappt doch! – Joachim Poß [SPD]: Herrn Glos tränen jetzt noch die Augen!)



Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1410201700
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema hat ei-
gentlich gelautet: Regierungserklärung des Bundeskanz-
lers, „Deutschland im Aufbruch – Moderne Wirtschafts-
politik für neue Arbeitsplätze“. Erstens haben wir keine
Regierungserklärung erlebt, sondern, wie Sie, Herr Bun-
deskanzler, vorhin selbst gesagt haben, eine spontan
gehaltene Rede.


(Klaus Lennartz [SPD]: Aber gut!)

Das ersetzt in Zukunft eine Erklärung der ganzen Bun-
desregierung.

Wir haben noch ein paar weitere Highlights erlebt. Mir
ist dabei der Titel eines Buches von Graham Greene ein-
gefallen: „Stunde der Komödianten“. Das war die eigent-
liche Überschrift dessen, was heute hier geboten worden
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das, was Herr Eichel gerade geboten hat, war eine sehr

etatistische Betrachtung.

(Bundesminister Hans Eichel: Aber leider eine richtige!)

1987 – damals war Gerhard Stoltenberg Finanzminister;
viele hier erinnern sich; Sie, Herr Kollege Wieczorek, ha-
ben damals sehr sachkundig mitgewirkt – gab es eine
Steuerreform, bei der wir in der Relation sehr viel höhere
Volumina der Steuersenkungen bewegt haben, als das
heute der Fall ist. Das Ergebnis war Wachstum. Das Er-
gebnis war, dass unser Land im Zeitraum bis 1990 3 Mil-
lionen zusätzliche Arbeitsplätze bekommen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die etatistische Betrachtung, die Sie hier anstellen,

zeigt, dass Sie von moderner Wirtschaftspolitik – im




Bundesminister Hans Eichel

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Gegensatz zu Ihren Ankündigungen – überhaupt nichts
verstehen. Ich sage Ihnen voraus: Die von Ihnen vorge-
legte Steuerreform ist im Grunde ein bürokratischer Wust,
der das Steuersystem verkomplizieren und weitere Ar-
beitnehmer, insbesondere die qualifizierten, aus dem
Land treiben wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Leider wahr!)


Es gibt bei uns im Land nach wie vor keine Spur von
Wachstumsdynamik, im Gegensatz zu den USA, die im
ersten Quartal 2000 eine Wachstumsquote von – auf das
Jahr gerechnet – 5,4 Prozent hatten und die eine Arbeitslo-
senquote von unter 4 Prozent haben. Das bedeutet, die
Wachstumsbeschleunigung in Deutschland ist nicht selbst
erarbeitet worden. Vielmehr werden wir durch Einflüsse
von außen sozusagen mitgeschleift: den US-Boom, auf
den ich verwiesen habe, die Euro-Schwäche, über die Sie
etwas hätten sagen müssen, Herr Bundesfinanzminister –
ich komme noch dazu –, oder das Ende der internationalen
Finanzkrisen, das uns letztendlich ebenfalls begünstigt.

Es grenzt schon an Verhöhnung der Menschen, wenn
man so kleine Fortschritte – die sich zudem aus der de-
mographischen Entwicklung heraus ergeben: Mehr Leute
scheiden aus dem Arbeitsleben aus als eintreten – als gro-
ßen Erfolg feiert. Herr Lafontaine hat am Beginn der Le-
gislaturperiode zu Recht gesagt: Wenn wir bis 2002 nicht
auf 3 Millionen Arbeitslose herunterkommen, dann ist
diese Bundesregierung gescheitert. Daran werden Sie sich
messen lassen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Durch den zu erwartenden Einnahmesegen aus der

Versteigerung von Funklizenzen und aus der Privatisie-
rung von Post und Telekom werden Sie, Herr Minister
Eichel, sozusagen zum Hans im Glück. Sie ernten glück-
lich, was andere gesät haben


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


und was von Ihnen bekämpft worden ist. Es waren Theo
Waigel und Wolfgang Bötsch an führender Stelle, die da-
mals die Postreform und die Privatisierungspolitik durch-
gesetzt haben. Zwei SPD-geführte Bundesländer haben
sich bis zuletzt verweigert: Das eine war das von Ihnen,
Herr Bundesfinanzminister, geführte Hessen und das an-
dere war das vom Bundeskanzler geführte Niedersachsen.
Die beiden haben sich bis zuletzt verweigert.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie sollten einmal den Mut haben, das einzugestehen und
sich zu entschuldigen, auch bei den Wählerinnen und
Wählern, die damals bei den Monopolbetrieben gearbeitet
haben und von Ihnen genasführt worden sind.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da lacht er!)

Ich bekenne mich zur Privatisierung, zur Deregulierung
und zur Liberalisierung. Wir wissen, dass daran kein Weg
vorbeiführt.

Man macht eine Politik der PR-Gags. Ein weiterer
PR-Gag war die Green Card. Das sollte ein Symbol für

„Deutschland im Aufbruch“ sein. So wie die Holzmann-
Nummer eine Beruhigungspille für die Gewerkschaften,
insbesondere für die Baugewerkschaft war, so soll jetzt
eine Beruhigungspille für die Informationstechnologie-
wirtschaft kommen. Dabei ist der Name Green Card völ-
lig unzutreffend. In den USA ist damit eine dauerhafte
Arbeitserlaubnis verbunden, keine Beschränkung auf fünf
Jahre, wie sie die Bundesregierung plant.
Dass eine vorübergehende Anwerbung ausländischer
Spezialisten auch ohne größere Schwierigkeiten möglich
wäre, zeigt sich in Bayern, wo diese Dinge mit einer leis-
tungsfähigeren Verwaltung reibungsloser funktionieren.
Wenn Herr Riester seine Arbeitsverwaltungen anweisen
würde, bei der Ausstellung von Bescheinigungen großzü-
giger und rascher zu entscheiden, könnte man sehr viel
bewirken. Stattdessen ist der Arbeitsminister auf diesem
Gebiet ein Arbeitsverweigerer. Er tut nämlich nichts.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Bundesregierung macht Fehler, um sie anschlie-

ßend mit großem Buhei wieder zu beseitigen. Das ist so
ähnlich, wie wenn man auf das kurze Gedächtnis setzt und
zunächst einen Brand legt, dann mit großem Tatütata als
Feuerwehr ankommt und so tut, als hätte man das Feuer
gelöscht, obwohl es, nachdem die Feuerwehr weggefah-
ren ist, weiterglimmt.

Ich will das gerne belegen: Mit dem verkündeten Aus-
stieg aus der Kernenergie geht Kompetenz in einem wei-
teren wichtigen Hochtechnologiesektor verloren. Mit
dem Verzicht auf den Bau der Transrapidstrecke Ham-
burg–Berlin wird die führende Stellung Deutschlands bei
der Magnetschwebebahntechnik unterminiert. Mit der
Plünderung des Verteidigungshaushaltes – das ist zu rasch
und zu schnell – gehen wichtige Arbeitsplätze und For-
schungskapazitäten in der wehrtechnischen Industrie, die
eine Hochtechnologieindustrie ist, verloren. Mit der ver-
hinderten Zulassung beispielsweise von Gen-Mais wird
die grüne Gentechnologie außer Landes getrieben. Die
Fachkompetenz, die dann letztendlich mit der Green Card
in etlichen Jahren wieder ins Land geholt werden muss,
wird jetzt aus diesem Land vertrieben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unser Land braucht deswegen keine PR-Gags, sondern

eine stetige Politik. Es braucht vor allen Dingen eine
umfassende Bildungsreform. Dazu hat Kollege
Möllemann vorhin Richtiges gesagt. Wir müssen die Zu-
kunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland bei
uns im Land sichern. Wir müssen vor allem schauen, dass
sich der Studienstandort Deutschland wieder grundlegend
verbessert. Unsere Universitäten müssen wieder Anzie-
hungspunkt für die besten Köpfe der Welt werden. Wenn
diese Menschen bei uns studiert haben und unsere Spra-
che beherrschen und unsere Lebensgewohnheiten ken-
nen, sind das weiterhin auch die allerbesten Spezialisten
für die deutsche Wirtschaft. Diese Leute müssen wir im
Land behalten. So machen das in erster Linie die Verei-
nigten Staaten von Amerika.

Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nicht
in der Fabrikhalle und auch nicht in der Universität, son-
dern im Klassenzimmer. Deswegen hat Kollege Rüttgers




Michael Glos
9510


(C)



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(A)



(B)


schon Recht, wenn er die Bildungspolitik in Nordrhein-
Westfalen aufspießt. Wir brauchen ein Schulsystem, das
Leistung fordert und Leistung fördert, anstatt wie in den
SPD-regierten Ländern am leistungsfeindlichen Gesamt-
schulsystem festzuhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Reden Sie mal mit Frau Laurien darüber!)


– Ich weiß nicht, was Frau Laurien darüber gesagt hat,
Herr Kollege. Sie scheinen es sehr gut zu wissen, weil Sie
so laut rufen. Vielleicht sagen Sie es anschließend. Ich
weiß aber zum Beispiel, was man bei Tests bei der Bun-
deswehr festgestellt hat: Die Rekruten aus den unionsre-
gierten Ländern schneiden in Rechtschreibung und Rech-
nen besser ab als die Wehrpflichtigen aus den SPD-re-
gierten Ländern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Da natürlich die Menschen in Bayern nicht von Hause aus
gescheiter sind


(Horst Kubatschka [SPD]: Sie sind das beste Beispiel!)


als die in Nordrhein-Westfalen, muss es doch am Schul-
system und an der Erziehung liegen, wenn wir diese Er-
gebnisse feststellen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Machen Sie so weiter, das wird die Menschen in NRW freuen!)


Die jungen Menschen sind nicht unterschiedlich begabt,
sie sind nur unterschiedlich gefordert und gefördert und
das liegt an der SPD-Bildungspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wurde schon mehrfach gesagt, dass Bundeskanzler

Schröder 1998 in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident
von Niedersachsen Studiengänge an der Universität Hil-
desheim aufgelöst hat. Es muss aber immer wieder gesagt
werden – insbesondere dann, wenn Wahlentscheidungen
anstehen –, dass die SPD-Politik gerade in der Bildung
immer sehr kurzfristig und kurzsichtig ist und dass man
versucht, die gemachten Sünden mit Werbegags wieder
wettzumachen. Statt in Zukunftstechnologien zu investie-
ren, hat man zum Beispiel in Niedersachsen das Geld zum
Kauf eines Stahlwerks genommen, als ob das eine wich-
tige Sache für den Staat wäre. Aber dies hat damals dem
Wahlgewinn genutzt. Alles das, was dem Land längerfris-
tig nutzt, lässt man außer Acht und kauft sich immer wie-
der mit billigen PR-Gags die Stimmen der Leute. Wer eine
solche Politik macht, der braucht sich nicht zu wundern,
wenn er später Green Cards für Eliten aus dem Ausland
braucht, von denen er glaubt, diese könne er so willkür-
lich wie andere Importwaren kaufen.

Allerdings – das ist interessant – ist die Bereitschaft der
Leute, nach Deutschland zu kommen, sehr gering. Es gibt
keine Invasion aus Indien.


(Joachim Poß [SPD]: Sie sind ein typisches Zwergschulprodukt!)


– Herr Poß, passen Sie doch einmal auf.


(Joachim Poß [SPD]: Sie haben die Gesamtschule nicht mitgekriegt, aber die Zwergschule war wohl gut für Sie!)


Wenn Sie auf diese Art anfangen wollen, lasse ich bei Ih-
nen zwischendurch das Wort „Schul-“ weg und dann sind
wir bei persönlichen Dingen, die wir miteinander austra-
gen, aber das will ich nicht. Lieber Herr Poß, ich wollte
mit Ihnen über die Währung reden.

Die Leute, die da kommen sollen, wollen gar nicht für
Euro, sondern in erster Linie für Dollar arbeiten. Das
muss doch auch einen Grund haben. Ich war sehr ge-
spannt, was der Herr Finanzminister heute zu dieser
Währungsschwäche unserer Gemeinschaftswährung
Euro sagt. Es ist nicht so, dass wir als Euro-Gegner da-
stehen wollen.


(Joachim Poß [SPD]: Der Bundeskanzler hat dazu hinreichend Stellung genommen!)


Im Gegenteil, ich bin für den Euro eingetreten.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So ist es!)


Es war mein Parteivorsitzender Theo Waigel, der die
Hauptarbeit des Durchsetzens und die Lasten getragen
hat. Wir hätten heute mit einer D-Mark, die von einer rot-
grünen Regierung getragen worden wäre, noch mehr Ver-
werfungen. Aber wir als das wirtschaftlich stärkste Land
in Europa müssen dafür sorgen, dass das Wort „Stabilität“
wieder buchstabiert wird,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist der Punkt!)


dass wir vor allen Dingen durch unser Wirtschaftswachs-
tum wieder der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es gibt den traurigen Negativrekord von 88 Cent ge-
genüber dem Dollar. Gestern hat sich der Kurs wieder ein
bisschen verbessert. Im Vergleich zur Einführung des
Euro vor 17 Monaten hat sich in der Spitze eine Abwer-
tung von 25 Prozent ergeben. Diese Zahl macht uns natür-
lich Sorge. Die Auswirkungen spürt man noch nicht so-
fort, aber dies wird spätestens in einem Vierteljahr auf die
Importpreise durchschlagen. Es wird bei uns eine Inflati-
onsspirale und dann eine Lohn-Preis-Spirale mit verhee-
renden Wirkungen in Gang setzen, wenn es nicht gelingt,
diese Talfahrt zu stoppen.

Gewonnen hat der Euro lediglich gegenüber der türki-
schen Lira. Dies ist die einzige Währung, gegenüber
der der Euro in den letzten 17 Monaten, seit Herr
Lafontaine und Sie Finanzminister sind, gewonnen hat.
Die türkische Lira ist anscheinend noch schwächer. Die-
ser Umstand empfiehlt die Türkei neben anderen ideolo-
gischen Gründen offensichtlich auch für einen raschen
EU-Beitritt.

Herr Eichel – ich nehme Sie jetzt stellvertretend, weil
der Herr Bundeskanzler nicht da ist –, berührt es Sie ei-
gentlich gar nicht, wenn die Überschriften in uns nicht un-
bedingt nahe stehenden Zeitungen lauten: „Der Euro hat




Michael Glos

9511


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(A)



(B)


seinen guten Ruf verloren“, „Der Euro wird langsam zum
Sozialfall!“ oder „Der Euro auf dem Weg zu einer Lach-
nummer“? Bei einer solchen Debatte wie der heutigen
geht man ganz einfach kalt darüber hinweg und kommt
stattdessen mit allen möglichen Kinkerlitzchen. Glauben
Sie wirklich, dass die anhaltenden Kursverluste die Dänen
dazu bewegen werden, bei der anschließenden Volksab-
stimmung dafür zu votieren, in die Euro-Zone einzutre-
ten? Wie wollen Sie die Briten dazu bringen, sich auf den
Euro zuzubewegen, was für die europäische Integration
unverzichtbar ist, wenn Sie den Kurs einfach so schleifen
lassen?

Ich sage es noch einmal: Ich fordere keine künstlichen
Interventionen auf dem Devisenmarkt, sondern ich for-
dere, dass in Europa eine Politik betrieben wird – auch
eine Stabilitäts- und Wachstumspolitik –, die das Ver-
trauen der Märkte in die europäische Gemeinschafts-
währung zurückgewinnt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Jetzt frage ich Sie, Herr Bundesfinanzminister, wobei
es mir noch lieber wäre, der Herr Bundeskanzler würde
die Frage beantworten: Ich sehe mit großer Sorge die Um-
frageergebnisse hinsichtlich des Vertrauens in die europä-
ische Gemeinschaftswährung. Sind Sie eigentlich nicht in
Sorge, dass die Menschen in Deutschland das Vertrauen
in den Euro verlieren, noch bevor sie ihn fühlbar greifen
können, also noch bevor sie die Scheine und Münzen erst-
mals in der Hand haben? Das kümmert Sie offensichtlich
überhaupt nicht. Das kümmert offensichtlich auch den
Bundeskanzler überhaupt nicht; er hat nämlich heute auch
kein Wort dazu gesagt.


(Bundesminister Hans Eichel: Doch, hat er!)

Duisenberg hat dazu gesagt: Über kurz oder lang höhlt ein
Währungsverlust nach außen auch den Binnenwert einer
Währung aus. Damit hat der Mann leider Recht. Wir wol-
len, dass es in Deutschland weiterhin ehrliches Geld für
ehrliche Arbeit gibt. Diese unabdingbare Grundlage für
unser Gemeinwesen wird gefährdet, wenn man die Dinge
einfach treiben lässt und wegschaut.


(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Rainer Brüderle [F.D.P.])


Ich sage es noch einmal: Der Euro ist die richtige
Antwort auf die Herausforderungen und Probleme des
21. Jahrhunderts, aber nur ein stabiler Euro. Wir müssen
deutlich machen, dass wir nicht einen billigen Motor zur
Ankurbelung des Exports suchen, so wie es in den Reden
des Herrn Bundeskanzlers und bei Ihnen angeklungen ist,
sondern langfristig wollen, dass der Gegenwert für deut-
sche und europäische Arbeit im internationalen Maßstab
gerecht vergütet wird.

Die Terms of Trade haben sich in den letzten Monaten
ganz bedeutend verschlechtert. Das bedeutet zwar, dass
möglicherweise zum Beispiel Daimler-Benz oder Sie-
mens – oder wer immer hier produziert – mehr Euro für
sein Produkt einnimmt, aber der Arbeitnehmer, der dort
arbeitet, bekommt, wenn ich den Dollar als Leitwährung
der Welt zugrunde lege und es dann herunterrechne, letzt-

endlich 25 Prozent weniger konvertiblen Gegenwert für
seine Arbeit und seine Leistung.


(Lachen bei der SPD – Bundesminister Hans Eichel: Das ist ja abenteuerlich!)


Wenn das anhalten würde, dann bedeutete es letztendlich
im Klartext genau dies. Dass es nicht so weit kommt, kön-
nen wir nur dadurch verhindern, dass bei uns endlich wie-
der Wachstums- und Stabilitätspolitik gemacht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das bedeu-

tet: Wir haben die Verpflichtung zu einer stabilitätsorien-
tierten Geldpolitik, zu soliden Staatsfinanzen, zu einer
konsequenten Reformpolitik für mehr Flexibilität am Ar-
beitsmarkt, für sichere Renten und für ein leistungsför-
derndes Steuersystem, nicht für etatistische Betrachtungs-
weisen.

Theo Waigel hatte zusammen mit Hans Tietmeyer das
Vertrauen der Märkte. Immerhin war ein Waigel-Euro
noch 1,18 Dollar wert; ein Eichel-Euro ist vorgestern an
den Devisenbörsen für 89 Cent verramscht worden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das war die Reaktion der Märkte und das Urteil der
Märkte ist unbestechlich. Wenn das die so genannte mo-
derne Wirtschaftspolitik ist, von der Sie, Herr Bundes-
kanzler, reden, dann gute Nacht.


(Zuruf von der SPD: Das ist sie nicht!)

Dann können wir uns dafür nur ganz herzlich bedanken.

Wirtschaftliche Reformen wurden zurückgenommen,
der Stabilitätspakt wurde infrage gestellt, Reformen im
Bereich der Unternehmensbesteuerung, der Rente und der
Krankenversicherung wurden entweder zurückgenom-
men oder verschleppt. Die notwendige Lockerung des
starren Tarifrechts ist ausgeblieben. In der Gesundheits-
politik werden die Menschen immer mehr verunsichert;
letztes Beispiel dafür war der Vorschlag einer Koppelung
der Arzthonorare an den Heilerfolg. Herr Bundeskanzler,
wenn man Ihr Gehalt an den Kurs des Euro koppeln
würde, dann würden Sie noch stärker als die Ärzte plötz-
lich merken, wie ernst solche Maßnahmen gemeint sein
könnten.


(Lachen bei der SPD)

Fünf Ökosteuer-Stufen und eine Steuererhöhungsde-

batte um Mehrwertsteuer und Erbschaftsteuer verunsi-
chern die Märkte weiterhin.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Beschwich-
tigungen und Gesundbeten helfen nicht. Wir brauchen
endlich eine wirkliche Reformpolitik.Wir brauchen auch
den Verzicht auf weitere Steuererhöhungen und wir brau-
chen vor allem Signale dafür, dass wir uns der internatio-
nalen Entwicklung anschließen und sogar versuchen, wie-
der der Motor dieser Wachstumsentwicklung in Europa zu
werden, wie das die Bundesrepublik Deutschland in der
Vergangenheit gewesen ist.




Michael Glos
9512


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410201800
Herr Kol-
lege Glos, Ihre Redezeit ist abgelaufen.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1410201900
Wenn Sie diesen Weg be-
schreiten, werden wir Sie dabei nachhaltig unterstützen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410202000
Als
nächster Redner hat Kollege Dr. Norbert Wieczorek von
der SPD-Fraktion das Wort.


Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1410202100
Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe Ih-
nen, Michael Glos, gut zugehört. Wir kennen uns auf-
grund unserer gemeinsamen Mitgliedschaft im Bundestag
schon länger. Ich habe Sie so verstanden, dass Sie dafür
plädieren, dass die deutschen Arbeiter in Dollar bezahlt
werden und dann ihr Brot mit Dollar kaufen. Habe ich das
richtig verstanden?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Weiter habe ich gehört, dass die Wechselkurs-

schwankungen ganz entsetzlich seien und diese Regie-
rung für alles verantwortlich ist. Ich erinnere mich daran,
als der Dollar vor ein paar Jahren bei 1,38 DM lag, waren
wir alle besorgt darüber, weil das die Struktur der Exporte
kaputtgemacht hat. Nach Ihrem Maßstab einer DM-
Schwäche gegenüber dem Dollar waren aber die An-
fangsjahre der Regierung Kohl eine einzige Katastrophe.
In dieser Zeit stieg der Dollar nämlich auf über 3 DM. Mit
Verlaub: Ich würde erst einmal nachdenken, lieber
Michael, bevor man redet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit bin ich bei dem Punkt, der uns heute eigentlich
beschäftigt, nämlich bei der Lage der Wirtschaft in unse-
rer Republik. Ich frage Sie: Welche Ausgangslage hatten
wir vor eineinhalb Jahren? Länger sind wir noch nicht an
der Regierung. Ich darf daran erinnern, dass wir von dem
ach so stabilitätsorientierten Kollegen Waigel Schulden in
Höhe von 1,5 Billionen DM, 1 500 Milliarden DM, über-
nommen hatten. Wir hatten zerrüttete Staatsfinanzen mit
einer unsicheren Steuerbasis, ein nicht reformiertes Steu-
ersystem. Wir hatten Reformstau in fast allen Bereichen,
weil die alte Koalition nicht mehr die Kraft hatte, irgend-
eine Reform zu machen. Wir hatten vor allen Dingen – das
ist entscheidend – einen Verlust an Vertrauen in die Poli-
tik und in die soziale und wirtschaftliche Zukunft.

Dann haben wir den Neuanfang begonnen. Von man-
chen ist gesagt worden, das sei pragmatisch gewesen.
Natürlich ist Politik praktisch, aber wir hatten dabei auch
Grundsätze. Der eine Grundsatz war ein wirtschaftspoli-
tischer, in dem wir gesagt haben, dass Angebot und Nach-
frage zusammengehören, was für jeden Ökonomen eine
Selbstverständlichkeit sein sollte, und dass Angebots- und
Nachfragepolitik deswegen aufeinander abgestimmt und

miteinander verzahnt werden müssen. Der zweite ist ein
gesellschaftlicher Leitsatz. Solidarität – mit Rechten und
Pflichten – und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen.
Ich habe mit Freude in den Schlussfolgerungen von Lis-
sabon gelesen, Herr Finanzminister und Herr Bundes-
kanzler, dass alle einschließlich Herrn Aznar betont ha-
ben: Wir müssen soziale Ausgrenzung beseitigen und wir
müssen alle Menschen in die Gesellschaft integrieren.
Das ist ein ganz wichtiger Satz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir stellen uns die Frage: Was ist geschehen? Zunächst
die Steuerreform 1999. Minister Eichel hat gerade etwas
dazu gesagt. Die Entlastungen waren bei den Arbeitneh-
mern. Bei den Privathaushalten waren es 29,4 Milliarden
DM, im Mittelstand waren es im vorigen Jahr übrigens
auch schon 6 Milliarden DM. Das war Nachfragepolitik
und es war Angebotspolitik zugleich: Nachfrage bei den
privaten Nachfragern – das war die Schwäche unserer
Konjunktur in den letzten Jahren der Regierung Kohl –
und Angebotspolitik bei den mittelständischen Unterneh-
men. Es war das Programm für jugendliche Arbeitslose,
JUMP-Programm genannt. Immerhin sind dadurch über
26 000 feste Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt ent-
standen. Herr Merz, vielleicht denken Sie erst einmal da-
rüber nach, bevor man darüber redet und sagt, dass keine
neuen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen worden
sind. Das haben Sie vorhin gesagt.

Die zentrale Frage für mich war aber die Frage nach der
Haushaltskonsolidierung. Die hatte Herr Waigel nicht
hinbekommen. Herr Eichel hat das geschafft. Ich habe die
Zahlen genannt. Hierbei muss man eines sehen: Wer hat
Minister Eichel geglaubt – ich erinnere mich noch an die
Zweifel in diesem Hause im vorigen Jahr –, als er an-
gekündigt hat, im Haushalt Kürzungen von 30 Milliarden
DM durchzusetzen? Was hat er geschafft? Gut 90 Prozent,
rund 28 Milliarden DM. Das ist eine Summe, von der Sie
bei Ihrer Haushaltspolitik eigentlich nur träumen konnten.


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte Herrn Merz einen Hinweis geben, weil er

von der Staatsquote gesprochen hat. Die Staatsquote be-
trug 1998 – unter Ihrer Regierung – 48,3 Prozent, im
Übergang 1999 48,5 Prozent und sie beträgt 2000
47,5 Prozent – das ist ein voller Prozentpunkt weniger –,
2001 46,5 Prozent, 2002 46 Prozent, 2003 45 Prozent. Ich
möchte gleich die Abgabenquote hinzufügen. Sie beträgt
2003 41 Prozent. Bei Ihnen lag sie am Schluss bei
42,3 Prozent. So sehen die tatsächlichen Zahlen aus.


(Beifall bei der SPD)

Das hat wesentlich zur Vertrauensbildung beigetragen,

wie übrigens auch das Bündnis für Arbeit. Der Bundes-
kanzler hat das angesprochen. Ich darf daran erinnern,
dass Bündnisse fürArbeit in anderen Ländern – Holland,
Dänemark, Irland – erfolgreich sind. Es ist aber ein sehr
langfristiger Prozess, der vor allen Dingen darauf gebaut
ist, dass die verschiedenen Akteure – Staat, Gewerk-
schaften, Unternehmen – zueinander Vertrauen finden
und um ihre Interessen vertrauensvoll miteinander strei-
ten konnten. Es war doch Bundeskanzler Kohl – er ist






(C)



(D)



(A)



(B)


nicht mehr anwesend; vorhin hat er auf einer der hinteren
Bänke gesessen; das ist offensichtlich sein neuer Platz –,
der 1996 nach den Wahlen in Baden-Württemberg,
Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz den Gewerk-
schaften im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, das er an-
geregt hatte, den Stuhl in rüdester Art vor die Tür gesetzt
hat. Deswegen ist es schwierig, wieder Vertrauen herzu-
stellen. Aber dass es jetzt gelungen ist, zeigen genau die
Tarifabschlüsse dieses Jahres.

Lieber Michael Glos, es handelt sich um Zweijahresta-
rifabschlüsse. Folglich kann es nicht nach einem Viertel-
jahr eine Lohninflation geben. Wer das behauptet, der hat
gar nicht begriffen, welche moderne Wirtschaftspolitik
diese Regierung betrieben hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Joachim Poß [SPD]: Aber er lernt ja noch dazu!)


Es ist auch wichtig, dass die Tarifverträge nicht par ordre
du mufti, also durch Einfluss von oben, zustande gekom-
men sind; vielmehr haben die Tarifpartner gemeinsam
und freiwillig diese Verträge abgeschlossen. Das halte ich
für einen ganz wichtigen Punkt.

Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen, weil
das mit zum Bild Deutschlands, der EU und der Eurozone
im Ausland beiträgt. Wenn immer wieder von Abgeord-
neten aus den Reihen der Opposition – vorher waren es
Vertreter der Interessenverbände – behauptet wird, hier
sei ja alles verkrustet – das war richtig; unter Kohl war das
so –, dann muss ich feststellen: Gerade im Bereich der Be-
ziehungen zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern in
der Tarifpolitik lässt sich eine Flexibilisierung seit Anfang
der 90er-Jahre beobachten – ich nenne als Beispiele Ar-
beitszeitkonten und flexible Arbeitszeitmodelle –, die
dazu geführt hat, dass die Produktivität in wichtigen In-
dustriebereichen, zum Beispiel in der Automobilindus-
trie – deswegen sind wir ja exportstark; deswegen müssen
wir einen stärkeren Euro überhaupt nicht fürchten –, zum
Teil um 10 Prozent gestiegen ist. Ich möchte nur an Ford
erinnern: Ford macht wahrscheinlich – das nehmen Sie
sonst gern als Beispiel für Flexibilisierung – sein Werk
Dagenham in Großbritannien zu und verlagert die Pro-
duktion nach Köln.


(Zuruf des Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU])

– Hier ist es ganz deutlich. An diesem Beispiel kann man
erkennen, wie unsere neue Politik gewirkt hat. Deswegen
empfehle ich, ein bisschen auf die internationale Reputa-
tion zu achten und nicht einfach etwas daherzureden.

Noch ein Wort zur F.D.P.: Es wird immer behauptet, es
gäbe nur flächendeckende Tarifverträge. Ich bin zufällig
Schlichter für den Bereich Rheinland-Pfalz und Saarland.
Ich werde als Schlichter sehr wahrscheinlich nie gefordert
sein, weil die IG Metall dort nicht streikt. Aber ich kann
Ihnen eines sagen: Wenn Sie sich die Tarifstatistik anse-
hen, dann werden Sie feststellen, dass die Tariflöhne – nur
davon rede ich – zwischen den Regionen um mehr als
20 Prozent differieren, ganz zu schweigen von der Lohn-
drift, die es bei größeren Unternehmen gibt. Ich empfehle,
die Differenziertheit unserer Tariflandschaft und auch die
Möglichkeiten der neuen Tarifverträge zur Kenntnis zu

nehmen, die auch zwischen den Unternehmen Lohndiffe-
renzierungen zulassen, gerade im Hinblick auf die Zu-
satzleistungen. Ich erwähne das nur deshalb, weil Sie im-
mer noch den Eindruck erwecken, hier habe es keine An-
passungen gegeben. Ein großer Irrtum!

Das Vertrauen, das jetzt gerade aufgrund der Konsoli-
dierung des Haushalts wieder hergestellt worden ist – ich
glaube, das war der entscheidende Faktor –, hat natürlich
auch etwas bewirkt. Die Erfolge konnte man diese Woche
an den Arbeitslosenzahlen und an den anderen Arbeits-
marktzahlen ablesen. Man kann die Erfolge auch daran er-
kennen, dass die Investitionen kräftig gestiegen sind und
dass auch die private Nachfrage steigt. Auch das haben
Sie, Herr Merz, nicht richtig dargestellt:


(Joachim Poß [SPD]: Herr Merz muss ein schlechtes Büro haben: immer die falschen Zahlen!)


– Das mag sein oder er möchte es nicht wahrhaben. – 1997
sind laut Angaben der Konjunkturforschungsinstitute die
Ausgaben der privaten Haushalte für den Konsum real
um 0,7 Prozent gestiegen. 1999 sind sie um 2,1 Prozent
gestiegen. Dieses Jahr wird ein Plus von 2,3 Prozent und
nächstes Jahr ein Plus von 2,8 Prozent erwartet. Das ist ja
wohl ein Zeichen dafür, dass Vertrauen zurückgekehrt ist.

Die realen Investitionen – das ist der zweite große
Faktor – sind 1997 um 3,7 Prozent gestiegen. 2000 wird
mit einem Plus von 6,7 Prozent gerechnet. Das ist fast eine
Verdoppelung. Man muss zur Kenntnis nehmen, wie die
Realität der Republik gerade aufgrund der neuen Ansätze
der Wirtschaftspolitik aussieht.

Lassen Sie mich auch sagen, dass wir natürlich noch
nicht am Ende des Weges sind. Es muss noch viel getan
werden, gerade auch im Hinblick auf die Beschäftigung.
Deshalb gilt es, auch in diesem Jahr Zeichen zu setzen.
Nächste Woche wird die Steuerreform auf den Weg ge-
bracht. Wir werden Ende Juni bzw. Anfang Juli – wenn ich
richtig informiert bin – die Haushaltseckdaten vorlegen.
Das sind ganz wichtige Punkte, und zwar nicht nur für un-
sere Bürgerinnen und Bürger, sondern gerade auch für die
internationalen Finanzmärkte; denn damit können wir be-
legen, dass Reformen in Deutschland möglich sind.

Erst einmal eine Randbemerkung zur Euro-Diskus-
sion: Es geht nicht, dass wir in diesem Land demokrati-
sche politische Entscheidungen mit langfristigen Auswir-
kungen für jede Frau und jeden Mann nach den Tageser-
wartungen bestimmter Wirtschaftszeitungen und – das
geht erst recht nicht – nach den Tageserwartungen der De-
visenhändler treffen. Dass so etwas gefordert wird, kann
ich wirklich nicht nachvollziehen.

Lassen Sie mich noch etwas zum Euro sagen. Ich habe
zu denen gehört, die ihn von Anfang an begleitet haben
und die sich für den Stabilitätspakt gemeinsam mit
Ihnen – einige von Waigels Vorstellungen waren nicht
umsetzbar; das haben wir ihm aber auch klar gesagt – ein-
gesetzt haben. Ich bin froh – da möchte ich auf Herrn
Eichel eingehen –, dass der Ecofin am Montag festgestellt
hat, dass Einmaleinnahmen nicht in die allgemeine Haus-
haltsfinanzierung fließen. Das ist zwar richtig; aber ich
sehe gleichzeitig mit Vergnügen und mit Freude, dass die




Dr. Norbert Wieczoreck
9514


(C)



(D)



(A)



(B)


Stabilitätsprogramme sehr viel ernster genommen wer-
den; denn wir sind dabei, Wachstum und gleichzeitig
Preisstabilität zu erreichen. Das ist ganz wichtig.

Ich möchte noch eine wirtschaftspolitische Bemerkung
machen. Ich halte den Ansatz für gegeben, für die Euro-
Zone eine solide Haushalts- und Fiskalpolitik zu ma-
chen. Dies war der eigentliche Grund für den Aufschwung
der 90er-Jahre in Amerika. Diese Politik erlaubte der Zen-
tralbank eine relativ lockere Geldpolitik. Für die Erfolge
in den USA war diese Geldpolitik verantwortlich, nicht
die Arbeitsgesetzgebung. Die war vor zehn Jahren, als die
Amerikaner eine Arbeitslosenquote von 10 Prozent hat-
ten, die gleiche wie heute. Es ist vor diesem Hintergrund
ganz wichtig, dass ein entsprechender Spielraum in der
Euro-Zone geöffnet wird. Deswegen muss der einge-
schlagene Weg weitergegangen werden.

Zurück zum Euro. Ich halte Ihre Äußerungen, lieber
Michael Glos, für absolut fahrlässig; ich sage das in aller
Deutlichkeit. Im Maastricht-Vertrag haben wir gemein-
sam vereinbart – damals wurde Europapolitik noch ge-
meinsam gemacht; daran habe ich bei Herrn Stoiber neu-
erdings große Zweifel; bei der CDU weiß man nicht, wie
sie sich entscheiden wird;


(Joachim Poß [SPD]: Das wissen die selber noch nicht!)


es wäre schlimm, wenn sich diese Tendenz fortsetzt –,
dass das einzige Ziel der Europäischen Zentralbank die
Preisstabilität ist. Preisstabilität beruht auf Binnenstabi-
lität – und die ist ohne Zweifel gegeben und sie wird auch
weiterhin gegeben sein. Ich habe etwas darüber gesagt,
was gerade die Tarifvertragsparteien in der Bundesrepu-
blik – dies gilt nicht nur für Deutschland – in diesem Jahr
dazu beigetragen haben.

Dass wir Wechselkursschwankungen haben – ich habe
es in meiner Eingangsbemerkung angesprochen –, ist et-
was Selbstverständliches. Man stelle sich einmal vor, wir
hätten diese Wechselkursschwankungen wie jetzt beim
Euro gegenüber der DM. Früher war die DM Er-
satzwährung für das gesamte Euro-Land; heute gibt es in
Europa eine gemeinsame Währung.

Ich bitte Sie sehr ernsthaft darum, keine Reden zu hal-
ten, in denen man behauptet, die Menschen würden alle
arm. Im Beispiel eben wurde darauf hingewiesen, jemand
bei Daimler bekomme soundso viel Euro und wenn er die-
sen Betrag in Dollar bekäme, würde er um 25 Prozent är-
mer. Dies ist natürlich Unsinn. Im Gegenteil, er bekommt
etwas mehr und sein verfügbares Einkommen ist größer.
Er kann sich mehr kaufen; denn seine reale Kaufkraft ist
gestiegen, weil wir Preisstabilität, also innere Geldwert-
stabilität, haben.


(Bundeskanzler Gerhard Schröder: Nur nicht in Florida!)


– In Florida natürlich nicht. Aber ich habe nicht den Ein-
druck, dass Florida das klassische Reiseziel der Arbeiter
ist; insofern habe ich damit kein Problem. Wer dahin fah-
ren kann, dem macht das auch nichts mehr aus.

Ich habe eben darauf hingewiesen – an der Haushalts-
politik symbolhaft dargestellt –, wie wichtig für die In-

landsnachfrage und für den Aufschwung die Wiederher-
stellung des Vertrauens war. Wir müssen den ausländi-
schen Investoren deutlich machen – ich unterschätze
nicht, was im Zusammenhang mit dem Euro passiert –,
dass es bei uns zu Reformen kommen wird. Dazu zählt
die Rentenreform, die wir gemeinsam zustande bringen
wollen. Keiner kann sagen, ob sie gelingen wird. Dazu
zählt auch die Steuerreform, die wir nächste Woche ver-
abschieden wollen. Es ist ganz wichtig, dass wir unseren
Anteil nach den Regeln der Politik – ich sage es noch ein-
mal: nicht nach den Regeln der Tageserwartungen der
Händler – leisten. Wir müssen das auch nach außen klar-
machen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wie es der Herr Eichel gemacht hat, als wir die Steuerreform machen wollten! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Ihr habt doch keine finanzierbare Steuerreform gehabt! Das ist doch der Punkt!)


– Langsam, langsam. Eure Steuerreform kenne ich noch.
Es ist auch wichtig, dass andere Länder ähnlich vorge-

hen. Ich sage ganz offen: Die Regierungskrise in Italien
hat sich auf den Euro ausgewirkt. Aber Herr Amato war
derjenige, der die ersten Reformen in Italien durch-
geführt hat. Ich hoffe, dass er – nicht euer Freund
Berlusconi; wenn ich das so deutlich zu dieser Seite sagen
darf – die Zeit hat, seine Reformmaßnahmen umzusetzen
und dass ihm der Ecofin dabei hilft. Wenn es uns gelingt,
das nötige Vertrauen herzustellen, dann stellt sich eine Si-
tuation ein, in der sich bestehende Defizite korrigieren.
Eines wäre nämlich schlimm: wenn wir in eine Situation
kämen, in der das Gefüge noch mehr durcheinander
kommt. Die schlimme Gefahr, die auf uns allen lastet, ist
ja vor allen Dingen die eines Crashs in Amerika. Die Ge-
fahr ist nicht der Euro-Kurs, sondern ein Crash in Ame-
rika.

Deswegen ist es wichtig – diesbezüglich möchte ich
den Finanzminister ansprechen –, dass in Okinawa beim
G7-Gipfel eine bessere Kooperation erreicht wird. Die
gegenwärtige, nur auf die US-interne Sicht gerichtete Po-
litik der amerikanischen Treasury, konkret: meines alten
Freundes Garry Summers, halte ich nicht für vertretbar.
Sie ist auf die Dauer schädlich. Wir müssen da zu besse-
ren Regelungen kommen. Ich hoffe, dass das gelingt. Ich
weiß nicht, ob wir vor dem Gipfel in Okinawa noch eine
Debatte zu diesem Thema haben werden; deswegen
wollte ich das hier loswerden. Wenn wir nämlich nicht
stabilere Wechselkursverhältnisse bekommen, hilft das
weder Japan noch den USAnoch Euro-Land. Daher müs-
sen wir zu stabileren Wechselkursverhältnissen beitragen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410202200
Herr Kol-
lege Wieczorek, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1410202300
Ich komme zum
Schluss. Ich möchte noch einen Schlusssatz sagen, weil
ich am Anfang zwei Leitsätze vorgetragen habe.




Dr. Norbert Wieczoreck

9515


(C)



(D)



(A)



(B)


So pragmatisch und praktisch manches auch ist, so ist
es für Nichtökonomen doch etwas schwer verständlich.
Die Leitlinie unserer Politik, der SPD-Wirtschaftspolitik –
die haben wir konkret in diesem Punkt gemacht, und wir
werden sie weiter machen –, ist, dass es einen sozialen
Konsens gibt, in dem sich jede Bürgerin, jeder Bürger,
jede Frau, jeder Mann, ob Jung oder Alt, wiederfinden
kann. Ziel unserer Politik ist, dass jeder in die Gesell-
schaft integriert ist und damit auch an der Gesellschaft
teilnehmen kann und nicht ausgegrenzt wird, damit wir
wieder eine soziale Gesellschaft haben, in der jeder nach
seinen Bedürfnissen leben kann und in die er sich selber
einbringen kann, aber auch einbringen soll. Ausgrenzung
ist zu überwinden, aber das erfordert ein Angebot und
auch den Willen, in die Gesellschaft hineinzugehen. Da-
rauf ist unsere Politik ausgerichtet.

Das ist übrigens auch der eigentliche Kern der so ge-
nannten neuen Wirtschaftspolitik, wie sie von Gordon
Brown, Tony Blair und anderen gemacht wird. Das zur
Erinnerung an die Opposition.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410202400
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Rainer Brüderle von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1410202500
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Mir bleibt nur wenig Zeit, deshalb we-
nige Bemerkungen.

Zunächst fällt auf: Zur wirtschaftlichen Lage, zum
Konzept der Wirtschaftspolitik spricht der Bundeskanz-
ler, nicht der Bundeswirtschaftsminister, der eigentlich
dafür zuständig ist. Wir haben uns gefreut, ihn zeitweise
auf der Regierungsbank begrüßen zu können.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Wir haben einen Kanzler, der wirtschaftliche Kompetenz hat!)


– Herr Staffelt, regen Sie sich nicht auf. Schön, dass Sie
abgenommen haben. Sie können ja später noch reden.

Zweitens. Herr Bundeskanzler, Sie haben es etwa so
dargestellt: Wenn man Kritik an dem übt, was Sie für rich-
tig halten, bedeutet dies einen Schaden für Deutschland,
für die deutsche Wirtschaft. – Nein, Wettbewerb haben
wir in der sozialen Marktwirtschaft, Wettbewerb brau-
chen wir auch in der Politik, um miteinander um den rich-
tigen Weg zu ringen. Deshalb ist die Kritik an falschen
Ansätzen notwendig, damit wir insgesamt erfolgreich
sind.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Wechselkurse des Euro sind das Ergebnis einer

täglichen Abstimmung an den Märkten und nicht auf fins-
tere Machenschaften einiger Devisenhändler zurückzu-
führen. Sie sind das Ergebnis einer täglichen Abstimmung
der Welt über die Reformfähigkeit mit Zukunftseinschät-
zung von Euro-Land. Der größte Teil von Euro-Land ist
Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern.

Es ist so, dass Amerika diesbezüglich kräftiger dasteht,
mit mehr Dynamik. Im letzten Quartal war die Wachs-
tumsrate dort fast doppelt so hoch wie in Deutschland.
Die Arbeitslosigkeit lag unter 4 Prozent. Davon sind wir
weit entfernt. Deshalb muss die Devise in der Tat heißen,
nicht kurzfristig durch Deviseninterventionen, sondern –
und da würde ich mir wünschen, dass Herr Eichel aktiver
würde – durch koordinierte Wirtschaftspolitik und durch
Reformen die Erwartungen draußen in der Welt hinsicht-
lich der Zukunftsfähigkeit von Euro-Land und Deutsch-
land zu verändern.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich habe den Eindruck, Sie sind zu sehr mit dem

Shareholder-Value Ihrer Beteiligungen beschäftigt und zu
wenig damit, den Außenwert des Euro zu stabilisieren,
damit wir nicht von dieser Seite eine importierte Inflation
bekommen. Wenn sich die derzeitige Entwicklung fort-
setzte – zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland ha-
ben kein Vertrauen in den Euro –, würde dies bei uns auch
nachhaltige Auswirkungen über die wirtschaftliche Lage
hinaus haben.

Kernpunkt ist, dass wir in Deutschland einen Verfall
des ordnungspolitischen Denkens haben. In der Steuer-
politik gibt es die Mittelstandslücke. Sie sperren die Ge-
winne in den Betrieben ein, statt sie in eine produktivere
Verwendung hinauszulassen,


(Beifall bei der F.D.P.)

weil Sie meinen, wenn das Geld in Unternehmerhand
käme, wäre dies eine schlechte Verwendung. Das sind alte
ideologische Reflexe, die Sie schnellstmöglich überwin-
den sollten. Mir fällt da in Analogie zu Brecht ein: Sie
sehen zu sehr die Großen im Rampenlicht, und die im
Dunklen, die Kleinen und Mittleren, die die Arbeitsplätze
schaffen, den Mittelstand, sehen Sie zu wenig. Für den
Mittelstand müssen die Weichen anders und besser ge-
stellt werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich halte es für richtig, wenn Sie die Veräußerung von

Unternehmensbeteiligungen steuerlich freistellen. Am
Anfang haben Sie gesagt, das kostet nichts. Heute redet
man von 4 Milliarden DM Kosten, vielleicht sind es auch
8 Milliarden DM. Wahrscheinlich wollen Sie die Zahlen
nicht nennen, damit die Fundi-Grünen nicht unruhig wer-
den oder die Traditionssozis Sie innerparteilich nicht be-
schimpfen. Sie müssen aber auch fair sein und dem
Handwerksmeister, der seinen Betrieb aufgibt und von der
Veräußerung seines Betriebes leben muss und leben will,
aber bisher den halben Steuersatz zu zahlen hat, analog
entgegenkommen. So, wie bisher geplant, können Sie es
nicht machen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Wieczorek, Sie tun bei Ihren Ausführungen zum
Arbeitsmarkt und zum Tarifvertragsrecht gerade so,
als ob es den Fall Viessmann nicht gegeben hätte. Dort ha-
ben 98 Prozent der Belegschaft einem Konzept zuge-




Dr. Norbert Wieczoreck
9516


(C)



(D)



(A)



(B)


stimmt, um ihre Arbeitsplätze in Nordhessen zu erhalten.
Im Betrieb andere Regelungen zu vereinbaren stellt doch
eine Erweiterung des Günstigkeitsprinzips dar. Die Ge-
werkschaften haben dagegen geklagt. Wir müssen diese
Blockade aufbrechen. In Berichten der Bundesbank, der
OECD und vieler Wirtschaftsforschungsinstitute können
Sie nachlesen, dass einer der zentralen Hemmschuhe für
mehr Arbeit in Deutschland die Starrheit und Inflexibilität
auf unserem Arbeitsmarkt sind. Diese müssen wir aufbre-
chen. Dazu brauchen wir breite Korridore und ein ande-
res Denken


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Lesen Sie einmal Tarifverträge! Das ist ja unglaublich! Keine Ahnung!)


Es gibt hierzu erste Ansätze: Die IG Chemie hat ent-
sprechende Vereinbarungen durchgesetzt. Sie müssen
diese aber auch in der Breite umsetzen. Da man hier nicht
vorankommt, ist unsere Vorstellung, dass letztlich auch
der Gesetzgeber handeln muss. Sonst gibt es einen Stau,
der von denjenigen verursacht wird, die drinstehen, und
der zulasten derjenigen geht, die draußen stehen, aber
auch etwas Hoffnung und Zuversicht haben wollen. So ist
keine Solidarität insbesondere mit den Langzeitarbeitslo-
sen zu erreichen. Hier muss es Reformen und Verände-
rungen geben.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410202600
Herr Kol-
lege Brüderle, kommen Sie bitte zum Schluss.


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1410202700
Letzter Satz, Herr Präsident. –
Wenn wir es nicht schaffen, in Deutschland überzeugende
Reformen auf den Weg zu bringen, wird der Euro weiter
schwächelnd dahindümpeln. Viele Fachleute sprechen da-
von, dass die Auffanglinie vielleicht bei einem Kurs von
0,80 Dollar liegt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410202800
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ditmar Staffelt
von der SPD-Fraktion.


Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1410202900
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ein bisschen kann ich mich
des Eindrucks nicht erwehren, als hätte die Opposition al-
lergrößte Schwierigkeiten, sich auf das Modell „Moder-
nisierung und soziale Verantwortung“ einzustellen. Sie
diskutieren hier in einer Weise, als sei die Regierung in al-
ten Denkkategorien verhaftet, als würde sie sich nicht den
Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft stel-
len. Sie tun so, als fördere die SPD als Regierungspartei
nicht sehr bewusst und mit vielerlei wichtigen Initiativen
gerade die kleinen und mittleren Unternehmen in unserem
Lande. Sie gehen doch an den Realitäten vorbei, wenn Sie
uns das dauerhaft unterstellen und damit Propaganda ma-
chen, während die Wahrheit und die Faktenlage völlig an-
ders aussehen.


(Beifall bei der SPD)

Im Übrigen möchte ich Ihnen sagen, dass ich mit

großem Interesse am 28. April 2000 in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ unter der Überschrift „Deutlich
mehr Aufträge im Mittelstand“ gelesen habe, dass die
Creditreform eine Umfrage unter Unternehmern in der
Bundesrepublik, in Ost und West, gemacht hat und zu fol-
gendem Resultat gekommen ist: 38 Prozent beurteilen
ihre Auftragslage als gut oder sehr gut gegenüber
27,2 Prozent noch im vergangenen Jahr. Es ist so, dass
27,6 Prozent gegenüber 17,2 Prozent im letzten Jahr da-
rauf verweisen, dass sich ihre Umsatzsituation deutlich
verbessert hat.

Es gibt – ich könnte diese Umfrageergebnisse noch auf
eine breitere Grundlage stellen – viele Hinweise darauf,
dass außerhalb dieses Parlamentes eine sehr viel optimis-
tischere und sehr viel positivere Einschätzung der Politik
der Regierung vorhanden ist, als Sie sie den Menschen
hier vermitteln wollen. Darüber ärgere ich mich. Sie be-
finden sich inzwischen in einem Zustand der politischen
Beliebigkeit, nur um Opposition zu machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das beste Beispiel dafür ist doch das Thema Holzmann,
das hier noch einmal angesprochen wurde. Ich erinnere
mich noch sehr gut – das war ja eine der ersten Debatten
hier in diesem Hause –: Sie konnten gar nicht eilfertig ge-
nug darauf verweisen, dass Frau Roth und Ihr Minister-
präsident Koch diejenigen waren, die vor Ort mit den Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen hatten. Sie
hatten fast ein Problem damit, dass der Kanzler dabei war.
Wenig später, als eine Regelung erreicht worden ist, die
viele Arbeitsplätze, aber auch vielen Mittelständlern die
Existenz gerettet hat, haben Sie auf einmal einen Schwenk
gemacht, das Gegenteil behauptet und sich distanziert.
Wissen Sie: Eine solche Politik hat kurze Beine. Damit
werden Sie für sich keine Mehrheiten in dieser Republik
herbeiführen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dasselbe Affentheater – sind wir doch einmal ehrlich –
haben Sie mit der Green Card veranstaltet: Auf der einen
Seite vergießt Herr Rüttgers Krokodilstränen. Auf der an-
deren Seite hat er aber Sprüche drauf, bei denen man das
Gefühl hat, dass es sich um eine konservative Politik ganz
tief aus der Mottenkiste handelt. Sie, die Sie immer von
Experimenten und Ideen reden, sind noch nicht einmal be-
reit, einen solchen Versuch, ein solches Experiment
mitzutragen. Trotzdem reden Sie von Innovation und Er-
neuerung. Mit einer solchen Grundeinstellung zum politi-
schen Handeln schlagen Sie sich doch selber aus dem
Felde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will noch eines sagen: Schauen Sie sich doch ein-
mal die Mittelstandspolitik des Bundeswirtschaftsminis-
teriums an! In unserem Katalog sind eine Fülle von Maß-
nahmen, um insbesondere die Selbstständigkeit in unse-
rem Lande zu unterstützen. Teile dieses Katalogs sind die




Rainer Brüderle

9517


(C)



(D)



(A)



(B)


Fortsetzung dessen, was Sie gemacht haben – ohne jede
Frage. Zu dieser Kontinuität bekennen wir uns. Andere
Teile haben wir neu austariert und haben neue Akzente ge-
setzt.

Aber es gibt doch keinen Zweifel daran – angefangen
bei den Förderinstrumenten der Kreditanstalt für Wieder-
aufbau bis hin zu den Maßnahmen der Deutschen Aus-
gleichsbank –, dass hier hervorragende Arbeit zur Unter-
stützung des Mittelstandes und zur Unterstützung kleiner
und mittlerer Unternehmen geleistet wird. Daran zweifelt
doch in Wahrheit niemand, schon gar nicht diejenigen, die
davon betroffen sind, nämlich die kleinen und mittelstän-
dischen Unternehmen. Diese Tatsache können Sie doch
nicht wegdiskutieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich füge noch eines hinzu: Schauen Sie sich an, was wir
in diesem Zusammenhang an den Universitäten und in der
Gesellschaft dafür getan haben, dass das Klima für Selbst-
ständigkeit verbessert wird! Tun Sie doch nicht so, als
würden wir hier keine großartige Unterstützung leisten!

Sie haben eben über Bildungssysteme gesprochen.
Herr Glos, zu dieser Diskussion muss ich Ihnen sagen: So
einfach ist es ja nun nicht. Ich bin aus der Berliner Politik
in den Bundestag gekommen. Das Land Berlin hat – ich
vermute, andere Bundesländer auch – mehrfach im Bun-
desrat den Antrag gestellt, dass die Professoren endlich
aus der Liste der Beamten gestrichen werden. Jede Ände-
rung des Bundesbeamtengesetzes ist an Ihnen gescheitert.
Sie haben damit mehr Flexibilität im Lehrkörper der Uni-
versitäten verhindert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erzählen Sie also nicht den Unsinn, als seien alle
Schwachpunkte im Bereich der Bildung auf sozial-
demokratische Bildungspolitik zurückzuführen!

Wir bekennen uns dazu, dass es mehr Wettbewerb zwi-
schen den Universitäten in unserem Lande geben muss.
Natürlich brauchen wir diesen Wettbewerb. Aber die ent-
sprechende Diskussion müssen wir gemeinsam führen.
Schuldzuweisungen dieser sehr einfachen Art sind meiner
Ansicht nach überhaupt nicht dazu geeignet, um zu Lö-
sungen in dieser sehr schwierigen Frage der Innovation in
der Bildungspolitik unseres Landes zu kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte darauf verweisen, dass ich die Bemühun-
gen der Bundesregierung und des Bundeswirtschaftsmi-
nisteriums ausdrücklich unterstütze, einen Einstieg in den
Abbau von Bürokratie zu finden. Natürlich ist das ein
wichtiges Thema. Sie müssen aber auch in diesem Punkt
zugeben: Auf der einen Seite schreit das ganze Land nach
Entbürokratisierung; auf der anderen Seite schreien zum
Teil dieselben Menschen, dass wir Regelungsbedarf ha-
ben. Wir sind in dieser Frage in einer sehr schwierigen Si-
tuation. Deshalb muss im Einzelfall entschieden werden.
Eine gemeinsame Anstrengung zur Entbürokratisierung

lohnt sich aber in jedem Falle und wird Innovation und
Anschübe für die Wirtschaft zur Folge haben.

Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Punkten sagen,
die Sie hier ebenfalls mit einem sehr negativen Akzent
angesprochen haben: Wir haben doch nun in vielen
Regionen dieser Republik geradezu eine Vielzahl von
Neugründungen von kleinen Unternehmen der Hoch-
technologie, ob das die Biotechnologie ist, ob das die In-
formations- und Kommunikationstechnologien sind. Das
kommt doch nicht von ungefähr. Das ist zwar eine Ent-
wicklung, die natürlich auch etwas damit zu tun hat, dass
es solche Schübe in den USA gegeben hat, aber es muss
doch gleichwohl eine Gründeratmosphäre in diesem Land
geben. Es muss doch gleichwohl Rahmenbedingungen
geben, die es solchen Unternehmen ermöglichen, Fuß zu
fassen.

Und wenn Sie sich dann einmal die Entwicklung des
Neuen Marktes anschauen und dann feststellen, dass sich
aus Zwei-Mann- bzw. Drei-Mann-Buden, wenn ich das so
sagen darf, auf einmal millionen- und milliardenschwere
Unternehmen entwickelt haben, dann können Sie doch
nicht davon reden, dass diese Bundesregierung nicht in
der Lage wäre, Voraussetzungen für innovative kleine und
mittelständische Unternehmen in unserem Lande herbei-
zuführen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist doch Murks, was Sie hier erzählen.

(Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Ich habe jetzt keine Zeit. Bayern haben heute schon
genug gesprochen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die kann man hier gar nicht oft genug hören!)


Ich will noch einen Hinweis auf die so genannte Old
Economy machen. Bei anderer Gelegenheit – das sollte
man vielleicht wenige Tage vor der Wahl in Nordrhein-
Westfalen auch noch einmal sagen – haben Sie hier De-
batten darüber geführt, wie es denn nun eigentlich mit der
Kohlesubvention und Ähnlichem mehr sei. Ich finde, dass
man an dieser Stelle auch noch einmal sagen kann: Wir
jedenfalls stehen zu den Vereinbarungen, die getroffen
worden sind. Da gibt es kein Wenn und kein Aber.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit wir nicht nur über diejenigen reden, die jetzt in
den ganz modernen wirtschaftlichen Bereichen zu Hause
sind: Wir vergessen auch diejenigen nicht, die morgens
um 6 Uhr noch am Fließband und anderswo in den Fabri-
ken stehen und arbeiten. Auch die sind Teil unseres ge-
samtwirtschaftlichen Konzeptes für diese Republik,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich resümiere: Ich bin der Überzeugung, Sie werden
sich einiges einfallen lassen müssen. Es reicht nicht, wenn




Dr. Ditmar Staffelt
9518


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie eine Politik entwickeln, die darauf aus ist, einzelne
Körner aus unserem Konzept herauszupicken, und dann
glauben, damit würden Sie die positive Einschätzung, die
es ja in der Wirtschaft und bei den Verbänden zu diesem
Thema gibt, aushebeln können. Nein, ich sage Ihnen: Sie
werden erst wieder auf die Beine kommen, wenn Sie ei-
gene Vorschläge und eigene Philosophien entwickeln und
wir dann darüber streiten können. Das würde dem Lande
übrigens auch gut tun. In der Verfassung, in der Sie sich
im Moment befinden, sind Sie jedenfalls weit außerhalb
des Mainstream. Und ich sage Ihnen eines: Sie werden das
bei den nächsten passenden Gelegenheiten und dann auch
bei Wahlen merken.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410203000
Als nächs-
ter Redner hat nun das Wort der Kollege Karl-Josef
Laumann von der CDU/CSU-Fraktion.


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1410203100
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
führen heute eine Debatte über die Wirtschaftspolitik, die
vor allen Dingen unter der Überschrift „Politik für mehr
Beschäftigung“ steht. Auch der Antrag der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion „Bessere Erwerbsaussichten für äl-
tere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung“ steht im
Zusammenhang mit dieser Debatte. Da wir jetzt eine
leichte konjunkturelle Verbesserung haben, ist es ja un-
streitig, dass wir auch eine leichte Entspannung auf dem
Arbeitsmarkt haben. Es ist unstreitig, dass ein großer Teil
dieser Entspannung, die wir auch in den nächsten Jahren
zu erwarten haben, auch und vor allem damit zu tun hat,
dass jedes Jahr in Deutschland 150 000 bis 200 000 Men-
schen mehr aus dem Erwerbsleben ausscheiden als aus
der Ausbildung der jungen Generation für den Arbeits-
markt nachwachsen.

In dieser Situation einer leichten konjunkturellen Ent-
wicklung brauchen wir auch politische Konzepte, wie wir
die Beschäftigung vor allen Dingen älterer Arbeitnehmer
in diesem Land wieder fördern können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben unter unseren Arbeitslosen 900 000 Menschen
über 55 Jahre. Ein großes Unternehmen wie die Deutsche
Bank hat noch ganze 500 Beschäftigte über 50 Jahre. Wir
hatten in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft eine
Entwicklung, bei der die ältere Generation aus dem Ar-
beitsmarkt herausgebombt worden ist.


(Leyla Onur [SPD]: Wer war denn das?)

– Wer hat denn die Debatte in Deutschland über die Rente
mit 60 geführt und damit jede Motivation kaputtgemacht,
sich auch noch für die Fortbildung eines 55-Jährigen ein-
zusetzen?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das waren doch Sie mit Ihren Hilfstruppen aus IGMetall,
DGB usw.!

Wir haben seit anderthalb Jahren einen Bundesarbeits-
minister Walter Riester.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist der eigentlich?)


Wir haben ein Bundesarbeitsministerium, das dem Aus-
schuss für Arbeit und Sozialordnung seit Oktober 1999
keinen einzigen politischen Antrag mehr zugeleitet hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist die Wahrheit! Der Ausschuss für Arbeit und So-
zialordnung kann seit Oktober 1999 keinen politischen
Antrag mehr aus dem Arbeitsministerium beraten, außer
einem einzigen, der im Bündnis für Arbeit besprochen
worden ist: Weiterentwicklung der Altersteilzeit. Das ist
im Übrigen eine Erfindung von uns. Dabei macht mir im
Moment ganz große Sorge, dass die Altersteilzeit immer
mehr verblockt und dazu benutzt wird, dass die Erwerbs-
tätigen ganz aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Das hat
mit Altersteilzeit, wie wir sie uns einmal vorgestellt ha-
ben, – Beschäftigungspotenziale ausschöpfen, Erfahrun-
gen älterer Arbeitnehmer nutzen und Teilhabe Älterer am
Arbeitsmarkt ermöglichen –, immer weniger, um nicht zu
sagen: gar nichts mehr zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Leider Gottes!)


Wenn Sie, diese SPD und dieses Arbeitsministerium,
die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht nutzen, um
jetzt eine breite gesellschaftliche Diskussion anzu-
stoßen, wie wir für Problemgruppen Teilhabe am
Arbeitsmarkt und am Arbeitsleben ermöglichen können,
ist das ein Beweis, dass Sie keine sozialpolitische Kon-
zeption haben – und im Übrigen auch keine Liebe und
Zuwendung für die Problemgruppen und die betroffenen
Menschen in diesem Bereich. Ansonsten kann ich es mir
nicht erklären, dass im Bundesarbeitsministerium ein
Winterschlaf herrscht, der weit ins Frühjahr hineinreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die CDU/CSU diskutiert in dieser Frage, immer wie-

der auch gestützt auf Anträge im Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung, ein Bündel von Maßnahmen. Jeder, der
sich jahrelang mit Sozialpolitik beschäftigt hat, weiß
doch, dass es in diesen Fragen nicht die Lösung gibt, son-
dern dass wir ganz viele unterschiedliche Instrumente in
die Hand nehmen müssen, um für die betroffenen Men-
schen etwas zu tun.

Der Vorschlag, den wir in unserem Antrag unterbreitet
haben, nämlich ältere Arbeitnehmer stärker fortzubilden,
damit sie an der Weiterentwicklung ihrer beruflichen
Möglichkeiten arbeiten können, sie freizustellen für Fort-
bildung, finanziert über die Bundesanstalt für Arbeit, und
ihre Arbeitsplätze so lange mit älteren Arbeitslosen zu be-
setzen, ist einer dieser konkreten Vorschläge. Ich bin ein-
mal gespannt, wie Sie im Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung mit diesem Antrag umgehen. Wahrschein-
lich werden Sie fünf Minuten mit uns darüber diskutieren
und dann die Abstimmungsmaschinerie in Gang setzen.




Dr. Ditmar Staffelt

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(C)



(D)



(A)



(B)


Aber etwas Hoffnung habe ich, weil die sozialpolitische
Sprecherin der Grünen am 5. Mai im „Handelsblatt“ er-
klärt hat, dass sie genau diesen Vorschlag, den wir ma-
chen, für den richtigen hält.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bin einmal gespannt, ob die Grünen das halten.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Ich frage die Bundesregierung: Wie ist Ihre Haltung

zum Beschäftigungsförderungsgesetz? Es läuft Ende die-
ses Jahres aus. Meine Fraktion hat dem Deutschen Bun-
destag in dieser Woche hierzu einen Antrag zugeleitet.
Reden Sie nicht erst lange darüber, sondern stimmen Sie
ihm zu, denn die befristete Beschäftigung hat sich nach
allen Statistiken, zumindest nach denen, die ich kenne, be-
währt. Sie haben sie bekämpft wie der Teufel das Weih-
wasser. Ich kann mich noch daran erinnern, wie es war, als
wir diese Initiative, für 24 Monate befristet einstellen zu
können, eingebracht haben. Da haben Sie von „Heuern
und Feuern“ gesprochen. Tatsache ist, dass über 50 Pro-
zent der befristeten Arbeitsverhältnisse in unbefristete
umgewandelt werden.

Ich kann mich noch an die Diskussion im Deutschen
Bundestag erinnern, als wir für einen kleinen Bereich des
produzierenden Gewerbes, bei dem es gar nicht anders
geht – Textilindustrie, Reifenindustrie –, die Maschinen-
laufzeiten auf den Sonntag ausdehnen wollten. Da haben
Sie uns hier im Deutschen Bundestag in Ihren politischen
Reden als „Sonntagsschänder“ bezeichnet. Seien Sie froh,
dass wir diese Entscheidungen getroffen haben.

Ich frage Sie: Wo bleiben Sie in der sozialpolitischen
Diskussion mit einer Antwort auf die Frage, wie wir Men-
schen mit Behinderungen stärker in den Arbeitsmarkt
integrieren können? Wo bleiben Sie jetzt, da die Kon-
junktur ein Stück weit anspringt, mit Antworten?


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410203200
Herr Kol-
lege Laumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Weiermann?


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1410203300
Ja, bitte.


Wolfgang Weiermann (SPD):
Rede ID: ID1410203400
Herr Kollege
Laumann, ist Ihnen nicht bewusst, dass beim Umbau der
Montanstrukturen die Unternehmen insbesondere zum
Instrumentarium des Freisetzens von Belegschaften ge-
griffen haben und über Sozialplanleistungen ein Großteil
der Belegschaften abgebaut worden ist? Das heißt im
Klartext, dass auf der einen Seite die Statistiken, also die
hohen Arbeitslosenzahlen in den Arbeitsämtern, im We-
sentlichen dadurch geprägt worden sind, dass ältere Ar-
beitnehmer aufgrund des Umbaus im Montanbereich
ihren Arbeitsplatz verlassen mussten, und dass auf der an-
deren Seite immerhin der Vorteil zu verzeichnen war, dass
diese älteren Kolleginnen und Kollegen, die nicht freiwil-
lig gingen, einen Erhalt der Arbeitsplätze der jüngeren
Kolleginnen und Kollegen vor Ort ermöglichten. Ich bitte

Sie, dies in diesem Zusammenhang zur Kenntnis zu neh-
men.


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1410203500
Herr Kollege,
natürlich nehme ich das zur Kenntnis. Nur, für die Zu-
kunft sind uns solche Lösungsmöglichkeiten, wie wir sie
in der Vergangenheit in der Montanindustrie praktiziert
haben, nämlich die Beschäftigten immer früher in Rente
zu schicken – beim Bergbau ist dies mittlerweile mit
50 Jahren möglich –, verschlossen, weil wir dies der jün-
geren Generation finanziell schlicht und ergreifend nicht
mehr zumuten können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Deshalb führen wir hier keine Debatte, wie sie in der Ver-
gangenheit üblich war. Wir müssen vielmehr eine Debatte
von morgen führen angesichts dessen, dass wir wissen,
dass das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre angehoben wer-
den muss.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen natürlich auch sehen, wie wir ein Angebot
hinbekommen, dass ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeits-
markt verbleiben können und dort eine berufliche Per-
spektiven haben. Über diese Frage müssen wir gemein-
sam eine gesellschaftliche Debatte in Gang setzen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wir haben schon gehandelt, Herr Laumann!)


Ich sage es noch einmal: Ich halte es für einen Skandal,
dass eine Großbank in Deutschland nur noch 500 Arbeit-
nehmer, die über 50 Jahre alt sind, beschäftigt und dass
wir diese Entwicklung nicht stärker zum Thema machen.

Wir von der Union werden uns, weil wir uns an den
Menschen orientieren und weil wir wollen, dass alle Men-
schen eine Teilhabe am Arbeitsmarkt haben, mit den Pro-
blemgruppen, mit denjenigen Menschen, die es auf dem
Arbeitsmarkt besonders schwer haben, beschäftigen und
Ihnen zur Lösung dieser Probleme Vorschläge machen.

Ich habe aber die Bitte: Lehnen Sie nicht jeden Vor-
schlag, den wir vor allen Dingen im Bereich der Sozial-
politik einbringen, deswegen ab, weil auf dem Briefkopf
„CDU/CSU“ steht.


(Susanne Kastner [SPD]: Das haben Sie früher auch immer gemacht!)


Tun Sie es insbesondere nicht so lange, wie Sie dem Aus-
schuss für Arbeit und Sozialordnung keine einzige politi-
sche Initiative zuleiten.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410203600
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine
Kaspereit von der SPD-Fraktion.


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1410203700
Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Zu den eigenartigen Ar-




Karl-Josef Laumann
9520


(C)



(D)



(A)



(B)


gumenten des Kollegen Laumann wird sicher meine Kol-
legin Schmidt einiges zu sagen haben.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ich bin gespannt zu hören, was daran eigenartig war!)


Ich hingegen möchte einige Aspekten in Bezug auf Ost-
deutschland ansprechen; denn zu Deutschland im Auf-
bruch gehört natürlich auch Ostdeutschland.

Es wird immer wieder behauptet – von Herrn Gysi
heute eigenartigerweise nicht; denn Herr Gysi konzen-
triert sich eher auf den Wahlerfolg in Nordrhein-West-
falen –, dass die Reformpolitik der Bundesregierung, ins-
besondere die der Haushaltskonsolidierung und der Steu-
erpolitik, zulasten der neuen Länder gehe. Ich sehe das
entschieden anders. Mit dem reformpolitischen Befrei-
ungsschlag der rot-grünen Bundesregierung wird auch
der Weg für eine Beschleunigung des wirtschaftlichen
Aufbaus in den neuen Bundesländern frei gemacht.

Gerade in Ostdeutschland leiden wir immer noch an
der bleiernen Lethargie der späten Kohl-Jahre. Mitte der
90er-Jahre ist das Wachstum in den neuen Bundesländern
regelrecht zusammengebrochen. Es halbierte sich von
9,6 Prozent 1994 auf 4,4 Prozent im Jahre 1995. 1998 lag
das Wirtschaftswachstum dann nur noch bei 2 Prozent.

Die Folge: Seit 1997 wächst die ostdeutsche Wirtschaft
langsamer als die westdeutsche. Der Aufholprozess ist
seither zum Stillstand gekommen. Wir alle beklagen die
unbefriedigende Lage auf dem ostdeutschen Arbeits-
markt. Diese unbefriedigende Lage ergibt sich vor allem
dann, wenn man nur die rein statistischen Daten betrach-
tet.

Ich rate zu einer differenzierteren Betrachtungsweise.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im verarbeitenden Gewerbe und insbesondere bei den
Dienstleistungen gibt es zwischenzeitlich beachtliche
Wachstumsraten und vor allen Dingen – dies erscheint mir
sehr wichtig – Beschäftigungsanstiege. Dramatisch ist al-
lerdings nach wie vor die Situation auf dem Bausektor.
Hier leiden wir in den neuen Ländern noch immer unter
den Fehlern, die zu Beginn der 90er-Jahre gemacht wur-
den. Mit milliardenschweren Subventionen wurde ein
völlig überhöhter Bausektor aufgepäppelt, der dann beim
Ausbleiben des Subventionssegens prompt in die Knie
ging. Mitte der 90er-Jahre gingen die Bauaufträge und die
Bauproduktion kontinuierlich zurück – mit den bekannten
deutlichen Bremsspuren auf dem Arbeitsmarkt. Ich muss
der Ehrlichkeit halber hinzufügen: Die Krise ist nicht aus-
gestanden.

Die Wirtschaftsstruktur der neuen Länder ist noch im-
mer von einem zu kleinen Anteil an verarbeitendem Ge-
werbe und Dienstleistungsunternehmen geprägt, während
das Baugewerbe und auch der öffentliche Sektor einen zu
großen Anteil an der ostdeutschen Bruttowertschöpfung
haben. So wird das erfreuliche Wachstum im industriellen
Bereich von den Pleiten im Baugewerbe und im Handel
per saldo überdeckt. Das Ergebnis ist die angespannte
Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir in Ost-
deutschland müssen ein besonders starkes Interesse daran
haben, die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates
zurückzugewinnen;


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn die Schuldenfalle, in die uns die Kohl-Regierung ge-
führt hat, belastet gerade den wirtschaftlichen Aufbau in
Ostdeutschland. Wenn immer mehr Steuermittel für die
jährlichen Zins- und Tilgungszahlungen der öffentlichen
Hände aufgebracht werden müssen, dann wird es immer
schwerer, die Mittel für die dringend erforderlichen Infra-
strukturinvestitionen in den neuen Ländern bereitzustel-
len.

Führende Wirtschaftsforschungsinstitute haben kürz-
lich ausgerechnet, dass selbst im Jahr 2005 noch mit einer
Infrastrukturlücke in einer Größenordnung von circa
300 Milliarden DM zu rechnen ist. Dabei sind die
Infrastrukturinvestitionen des Bundes noch nicht einmal
berücksichtigt. Ich frage mich, wie solche gewaltigen
Summen aufgebracht werden können, wenn weiterhin
mehr als ein Fünftel der Steuereinnahmen des Bundes in
den Schuldendienst gesteckt werden muss. Deshalb sage
ich: Die Konsolidierungspolitik von Hans Eichel ist ge-
rade aus ostdeutscher Sicht richtig und war längst über-
fällig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn die in unserem Entschließungsantrag formulierten
Eckpunkte der Rahmen für die Fortsetzung erfolgreicher
Politik sind, wird sich die Umsetzung in besonders posi-
tiver Weise auf Ostdeutschland auswirken.

Es ist unbestritten: Teilungsbedingte Sonderbedarfe
bestehen nicht nur im Bereich der Infrastruktur, sondern
auch bei Wirtschafts- und Arbeitsmarktfördermaßnah-
men. Die Arbeitslosenquoten in den neuen Ländern sind
mehr als doppelt so hoch wie die in den alten, wobei sich
die Schere zwischen Ost und West wieder öffnet. Die Aus-
bildungsplatzsituation in den neuen Ländern ist erheblich
schwieriger als in den alten Ländern; der Bundeskanzler
hat darauf hingewiesen. Manche dieser Sondertatbe-
stände erfordern auch Sonderprogramme.


(Beifall bei der SPD)

Ich meine aber auch, dass überall dort, wo es schwerwie-
gende Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt bzw. Defizite
auf dem Ausbildungsmarkt gibt, gleiche Förderpro-
gramme und Fördertatbestände greifen müssen, ganz
gleich, ob sie nun in Oberhausen oder in Sangerhausen zur
Anwendung kommen.


(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die Ausrüstungslücke der

ostdeutschen gegenüber der westdeutschen Wirtschaft
wird auf 40 Prozent geschätzt, was einem Investitionsvo-
lumen von circa 260 Milliarden DM entspräche. Es ist
völlig klar, dass diese Lücke mit der herkömmlichen re-
gionalen und strukturellen Wirtschaftsförderpolitik nicht
zu schließen ist. Es ist im Übrigen auch nicht sinnvoll,




Sabine Kaspereit

9521


(C)



(D)



(A)



(B)


wenn der Staat versucht, den Strukturwandel in der
Wirtschaft leiten und lenken zu wollen. Das geht aller Er-
fahrung nach schief, wie ich bereits am Beispiel der ost-
deutschen Bauwirtschaft ausgeführt habe. Der notwen-
dige wirtschaftliche Strukturwandel einer Gesellschaft
ist keine staatliche Veranstaltung, zumindest nicht primär.
Entscheidend sind hier die Unternehmen gefordert. Des-
halb ist es in Zeiten eines beschleunigten Strukturwandels
völlig richtig, die Investitionsbedingungen der Unterneh-
men durch günstigere steuerliche Rahmenbedingungen zu
verbessern.


(Beifall bei der SPD)

Nirgendwo in Deutschland ist der Investitionsbedarf so

hoch wie in den neuen Ländern. Deshalb werden insbe-
sondere Unternehmen in Ostdeutschland von Eichels
Steuerreform profitieren. Die Hunderttausende von klei-
nen und kleinsten Personengesellschaften in Ostdeutsch-
land werden von der Senkung der Einkommensteuertarife
oder der pauschalen Anrechnung der Gewerbesteuer auf
die Einkommensteuerschuld stärker profitieren als die in
Westdeutschland.

Die Unternehmensteuerreform wird, so hoffe ich, die
Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland
weiter erhöhen. Ich verspreche mir deshalb auch davon
neuen Schwung bei den Unternehmensgründungen, die
wir in den neuen Ländern so dringend brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der systematische
Abbau des Reformstaus, der in der 16-jährigen Ära Kohl
in der Bundesrepublik entstanden war, ist nicht nur für
Westdeutschland, für die westdeutsche Wirtschaft und
Gesellschaft, bitter nötig. Wie Mehltau haben sich die
späten Kohl-Jahre auch auf die Entwicklung in Ost-
deutschland gelegt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410203800
Frau Kol-
legin Kaspereit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Hinsken?


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1410203900
Bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410204000
Bitte
schön, Herr Hinsken.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Seien Sie aber vorsichtig, Herr Hinsken!)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1410204100
Frau Kollegin Kaspereit,
können Sie mir sagen, was die Bundesregierung in den 19
Monaten, seitdem sie in Amt und Würden ist, getan hat,
um Existenzgründungen insbesondere in den neuen Bun-
desländern, aber auch allgemein in der gesamten Bundes-
republik zu erleichtern, und pflichten Sie mir bei, wenn
ich feststelle, dass gerade der Mittelstand, auf den Sie ja
jetzt indirekt ein Loblied singen – bereits Herr Staffelt hat
versucht, das in den höchsten Tönen herauszustellen –,
von der Politik dieser Bundesregierung überhaupt nicht

profitiert? Ich kann Ihnen sagen, dass ich in der Lage bin,
sofort 24 Positionen zu nennen, die alle zur Verschlechte-
rung der Situation des Mittelstandes in der Bundesrepu-
blik Deutschland beigetragen haben.


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1410204200
Herr Hinsken, warum stel-
len Sie mir die Frage, wenn Sie selber sie schon ver-
meintlich beantworten?


(Zuruf von der CDU/CSU: Das war als Lernprozess gedacht!)


Ich bin der Meinung, dass für den Mittelstand in Ost-
deutschland, allein schon aufgrund der psychologischen
Effekte der Ankündigung dieser Steuerreform, eine
Menge passiert ist – jedenfalls mehr als in Ihrer Zeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Von Ankündigungen kann niemand leben! – Gegenruf der Abg. Susanne Kastner [SPD]: 400 Millionen DM für Programme der Deutschen Ausgleichsbank! Haben Sie das nicht mitgekriegt!)


Sie wissen: Ein wenig Stetigkeit und Verlässlichkeit ist
sehr wichtig, auch in der Wirtschaft. Als eines der letzten
OECD-Länder hat die Bundesrepublik nach dem Amts-
antritt der rot-grünen Bundesregierung die Grundlagen
für ein dauerhaftes und dynamisches Wachstum geschaf-
fen. Mehr Wachstum in Europa verhilft auch in den neuen
Ländern zu mehr Beschäftigung und es hilft, den Struk-
turwandel zu beschleunigen. Die Erfolge dieser Politik
sind allenthalben sichtbar. Die Wirtschaft in Deutschland
und Europa wächst so stark wie seit einem Jahrzehnt nicht
mehr. Die Beschäftigungslage verbessert sich stetig; die
Zahl der Arbeitslosen nimmt kontinuierlich ab. Dass sich
die Erfolge dieser Politik in den neuen Ländern zunächst
weniger spektakulär und mit einiger Zeitverzögerung aus-
wirken, ist nach wie vor der besonderen historischen Lage
Ostdeutschlands geschuldet. Niemand konnte und kann
erwarten, dass das Erbe von 40 Jahren Kommunismus in
Deutschland über Nacht verschwindet, auch nicht nach
zehn Jahren.

Der Aufbau Ost ist eine Generationenfrage, für die man
auch heute noch langen Atem braucht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn dies den Menschen früher und deutlicher gesagt
worden wäre, Herr Hinsken, würden manche unnötigen
Polemiken unterbleiben und es wären weniger Hoffnun-
gen enttäuscht worden.

Die Aufgaben für die neuen Länder sind klar zu um-
reißen: Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplät-
zen im verarbeitenden Gewerbe und in Dienstleistungs-
unternehmen für die Informations- und Wissensgesell-
schaft des 21. Jahrhunderts. Die Voraussetzungen dafür
sind gut – inzwischen in beiden Teilen Deutschlands.

Wir haben eine gut ausgerüstete Infrastruktur für die
Aufgaben der Zukunft geschaffen und wir werden die
noch bestehenden Lücken in den neuen Ländern in den
nächsten Jahren schließen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Sabine Kaspereit
9522


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben – das darf vielleicht in diesem Haus auch ein-
mal gesagt werden – exzellent ausgebildete Arbeitneh-
mer, im Osten mehr als im Westen. Die Defizite im Aus-
bildungsbereich werden, solange dies notwendig ist, auch
mit staatlichen Hilfen vermindert.

Wir setzen jetzt längst fällige Strukturreformen durch –
sei es in den Steuer- und Transfersystemen, sei es auf dem
Arbeitsmarkt oder den sonstigen Faktor- und Gütermärk-
ten –, die die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes
Deutschland verbessern. Diese neue Grundausrichtung
deutscher Politik sichert Deutschlands wirtschaftliche Zu-
kunft, auch die Ostdeutschlands.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es wäre grundlegend falsch, wegen der – im Wesentli-

chen teilungsbedingten – Sonderlasten Ostdeutschlands
auf Sonderwege zu setzen, wie das die PDS tut. Ich halte
nichts davon, die neuen Länder unter eine noch so gut ge-
meinte Käseglocke zu stellen. Das bringt uns nicht weiter.
Die neuen Länder sind Teil des einheitlichen europä-
ischen Binnenmarktes, in dessen Spielregeln sie einge-
bunden sind. Kommunen und Länder sind gefordert, at-
traktive Investitionsbedingungen für ansiedlungswillige
Unternehmen zu schaffen. Der Bund kann dabei helfen; er
kann es aber nicht an ihrer Stelle tun.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe den Eindruck, dass dies in den neuen Ländern
zwischenzeitlich häufig besser verstanden wird als in den
alten Ländern.

Ich bin davon überzeugt, dass die Reformen, die diese
Bundesregierung begonnen hat, gerade auch in den neuen
Ländern zu positiven Ergebnissen führen werden, so
schmerzlich die Anpassungsprobleme aufgrund des wirt-
schaftlichen Strukturwandels zurzeit auch sind. Wir müs-
sen den Menschen in den neuen Ländern sagen, dass diese
Anpassungsprobleme lösbar sind, dass dies aber Zeit er-
fordert und deshalb Geduld.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410204300
Frau Kol-
legin Kaspereit, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Luft?


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1410204400
Bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410204500
Frau Luft,
bitte schön.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1410204600
Danke schön, Frau Kollegin
Kaspereit. – Ich bin ja mit Ihnen völlig einverstanden,
dass man die Hoffnung nie aufgeben darf. Aber mit dem
Prinzip Hoffnung alleine – darin stimmen wir sicherlich
überein – wird es nicht gehen. Es gibt im Moment sogar
die Tendenz, dass die Investoren, die sich für Ostdeutsch-
land interessieren, angesichts der Euro-Schwäche wieder
zögerlich werden. Das ist ein Punkt, den wir ins Auge fas-
sen müssen. Es gibt nach wie vor die Tendenz zur Ab-
wanderung – die hat ja mit der Einführung der D-Mark in
den neuen Bundesländern nicht aufgehört, sondern hält
leider immer noch an –, sodass wir Gefahr laufen, in den

neuen Bundesländern eine Art Altenheim zu werden. Ja,
der Altersdurchschnitt nimmt erheblich zu.

Vieles von dem, was in den neuen Bundesländern nach
1990 geschehen ist, war ja politisch motiviert. Ökonomen
habendanicht vielmitredendürfen. IchmöchteSie fragen:
Sind Siemit mir einerMeinung, dassman auch jetzt vieles
politisch auf denWeg bringenmuss, um es ins Lot zu brin-
gen? Wäre es nicht günstig gewesen, wenn sich die Bun-
desregierung stärker für denBau desGroßraumflugzeuges
in Laage bei Rostock engagiert hätte? Das wäre für diese
arg gebeutelte Region eine echte Hilfe gewesen, mit Aus-
strahlung weit ins Land hinein.Wäre es nicht günstig, –


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410204700
Frau Kol-
legin Luft, die Fragen sollen kurz und präzise gestellt wer-
den. Keine Argumentation bitte!


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1410204800
– für arbeitsintensive Dienst-
leistungen – auch wir im Osten wollen ja eine Dienstleis-
tungsgesellschaft werden – Steuererleichterungen herbei-
zuführen, wenigstens in der Anfangsphase? Wäre es nicht
günstig, Existenzgründerinnen und Existenzgründer an-
fangs steuerlich besser zu stellen? Das alles sind Fragen,
die politisch noch zu überdenken sind.


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1410204900
Sie haben eine Menge an
Fragen gestellt, auf die ich – das wissen Sie – im Einzel-
nen hier nicht eingehen kann; dazu möchte ich das Ple-
num nicht missbrauchen. Aber eines muss man feststel-
len: Die Investitionsentscheidung trifft das Unternehmen,
und zwar nicht alleine nach politischen Gesichtspunkten.
Da spielen eine Menge Dinge eine Rolle: zunächst einmal
der Markt und qualifiziertes Personal, am Ende auch eine
gewisse Förderpolitik. Darüber könnte man lange strei-
ten. Wir müssen uns für die neuen Bundesländer engagie-
ren – gar keine Frage –, auch politisch. Ich weiß, dass wir
das tun; ich weiß, dass der Bundeskanzler das tut. Auch in
den vergangenen Jahren hat es ein derartiges Engagement
gegeben.

Was den A3XX angeht, so sollten wir darüber im zu-
ständigen Ausschuss sprechen. Das heißt, da sind die
Würfel ja schon gefallen. Sie wissen genau, dass es etwas
anders ist, als Sie es hier darstellen.

Ich möchte zum Schluss meiner Rede kommen. Ich
hatte angesprochen, dass wir den Menschen sagen müs-
sen, dass die Anpassungsprobleme lösbar sind. Wir wer-
den unser Bestes dazu tun, um die Lösungen, die nötig
sind und oft auch Zeit erfordern – manchem ist die Zeit
wohl schon zu lang –, anzugehen. Wir brauchen Geduld.
Wir müssen den Menschen aber vor allen Dingen Mut ma-
chen, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu neh-
men. Der Staat ist nicht der umfassende Daseinsvorsorger.
Je überzeugender uns dies gelingt, umso schneller werden
wir die wirtschaftliche Einheit und damit ein Stück der in-
neren Einheit Deutschlands vollenden können.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Sabine Kaspereit

9523


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410205000
Das Wort
hat nun der Kollege Bernd Protzner von der CDU/CSU-
Fraktion.


(Zuruf von der SPD: Noch einer von der CSU!)



Dr. Bernd Protzner (CSU):
Rede ID: ID1410205100
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Sie müssen noch einmal einen
bayerischen Redner ertragen.


(Susanne Kastner [SPD]: Einen fränkischen!)

– Ja, auch einen fränkischen.

Nach vier Stunden Debatte haben wir zwei Ergebnisse.
Das erste: Wir sind uns darin einig, dass eine Verbesse-
rung auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden muss. Das
zweite: Wir sind uns nicht einig in der Beurteilung, ob die
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland schon
zufrieden stellend ist.

Dass sich der Herr Bundeskanzler heute sehr kräftig
auf die eigenen Schultern geklopft hat, halte ich für unge-
rechtfertigt. Wenn er und Sie von SPD und Grünen allein
die Arbeitslosenzahlen in den Mittelpunkt stellen, dann ist
das eine falsche Betrachtungsweise. Wichtiger ist die Be-
schäftigtenzahl, da nicht jeder, der aus der Arbeitslosen-
statistik ausscheidet, auch einen Arbeitsplatz erhält. Still-
legung von Arbeitskraft ist bei uns in der Bundesrepu-
blik Deutschland zu lange Tradition gewesen. Das ist der
Weg von gestern.

Was wir brauchen, ist Beschäftigungsaufbau, sind neue
und zusätzliche Arbeitsplätze. Eine soziale Marktwirt-
schaft braucht aktiv Tätige. Denn nur diese erwirtschaften
Kaufkraft und zahlen Steuern und Beiträge zur Sozialver-
sicherung. Insofern ist eine Senkung der Arbeitslosenzah-
len ohne gleichzeitigen Anstieg der Beschäftigtenzahlen
keine dauerhafte Lösung des Arbeitsmarktproblems. Wir
helfen den Menschen doch nicht dadurch, dass sie aus der
Statistik herausfallen, sondern nur dadurch, dass sie einen
Arbeitsplatz finden. Dies gilt sowohl für Junge als auch
für Ältere.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich darf hier auf Friedrich Merz zurückkommen: Es ist

falsch, nur die Arbeitslosenstatistik zu zitieren, wie es
Bundesfinanzminister Eichel in seiner Replik versucht
hat. Wir hatten zwar im Dezember 150 000 Arbeitslose
weniger, aber gleichzeitig auch 20 000 Arbeitsplätze we-
niger als 1998. Ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen be-
deutet nicht zugleich eine Zunahme der Beschäftigten-
zahlen, sondern kann auch mit dem Rückgang der Be-
schäftigtenzahlen einhergehen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Ich halte es für eine Schande in der Bundesrepublik

Deutschland, dass wir zwar am Dienstag dieser Woche die
neuesten Arbeitslosenstatistiken bekommen haben, aber
nicht die neuesten Beschäftigtenstatistiken. Diese liegen
erst für Februar vor.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es muss doch im Zeitalter des Internets möglich sein – die
Bundesregierung hat ja angeblich eine große Internet-
ofensive gestartet –, die Arbeitslosenstatistiken und die
Beschäftigtenzahlen am gleichen Tag zu präsentieren, da-
mit wir objektive Diskussionsgrundlagen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Unternehmen bei uns müssen zum Monatsende bei
Ämtern und Behörden Millionen von Zahlen abliefern.
Da kann es doch nicht schwierig sein, mit einem guten
Computerprogramm diese paar Zahlen zu ermitteln. Hätte
man nicht so viele IT-Spezialisten ins Ausland vertrieben,
bräuchte man auch keine Inder, um ein solches Software-
programm zu schreiben.

Eine zweite Bemerkung: Ich darf Sie, Frau Hendricks,
bitten, Ihrem Finanzminister weiterzugeben, dass er aus
den Berichten des IMF unzulänglich zitiert hat. Er hat
gesagt, man könne die Beschäftigtenzahlen hintanstellen;
wichtig für die Bundesrepublik Deutschland sei die
Wachstumszahl. Die Wachstumszahlen würden vom IMF
bestätigt. Dabei verschweigt er, dass auch der IMF in sei-
nen Berichten immer darauf hinweist, dass es bei uns in
der Bundesrepublik Deutschland keinen engen Zusam-
menhang zwischen Konjunkturzuwachs und Beschäftig-
tenzahlen gibt.

In Großbritannien ergibt 1,6 Prozent Wirtschafts-
wachstum eine Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze um
1 Prozent. In der Bundesrepublik brauchen wir derzeit ein
Wirtschaftswachstum von 2,7 bis 3 Prozent – manche sa-
gen sogar von 5 Prozent –, um eine einprozentige Zu-
nahme der Zahl der Arbeitsplätze zu erreichen. Hier lie-
gen wir hinter anderen Staaten zurück.


(Konrad Gilges [SPD]: Weil Sie 16 Jahre nichts getan haben, deshalb!)


Eine Modernisierung der Wirtschaftspolitik bedeutet,
dass wir, lieber Herr Kollege, einen engeren Zusammen-
hang zwischen Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzzu-
wachs wieder herstellen müssen. Dazu reichen Ihre Maß-
nahmen nicht aus; sie sind vielmehr kontraproduktiv.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen den Unternehmen ein Umfeld schaffen,

damit sie bei einem Umsatzanstieg nicht sagen: Wir ver-
suchen erst einmal, mit den vorhandenen Mitarbeitern
auszukommen. Die Unternehmer müssen vielmehr sagen:
Wir wollen neue Mitarbeiter einstellen, wenn der Umsatz
steigt. Das ist soziale Marktwirtschaft, wie wir sie verste-
hen. Wenn wir das nicht erreichen, ist dies nicht im Sinne
der sozialen Marktwirtschaft. Das Wachstum des Brutto-
sozialprodukts – sagen Sie das Herrn Eichel – erfolgt
nicht als Selbstzweck, sondern es müssen dadurch mehr
Arbeitsplätze entstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, hierzu nenne ich auch Zah-

len: In der Bundesrepublik haben wir derzeit ein Potenzial
von etwa 40 Millionen Erwerbstätigen. Wir haben – Herr
Poß, Sie kennen sich mit Zahlen ja immer so gut aus – der-
zeit etwa 34 Millionen Arbeitsplätze. Diese große Lücke
ist durch eine moderne Wirtschaftspolitik zu schließen.






(C)



(D)



(A)



(B)



(Joachim Poß [SPD]: Darauf haben wir auch schon während ihrer Regierungszeit hingewiesen)


– Herr Poß, ich komme gleich auf Ihr Geschäftsfeld
zurück.

Jetzt mache ich eine letzte Bemerkung zu Herrn Eichel:
Wir können uns nicht ausruhen, wenn die Auslands-
nachfrage und die Auslandskonjunktur gut laufen.


(Joachim Poß [SPD]: Wir sind Lückenbüßer!)

Wenn ich mir die Statistik für die ersten drei Monate die-
ses Jahres ansehe, stelle ich fest, dass erstmals wieder das
Wachstum bei der Auslandsnachfrage und das Wachstum
der Binnenkonjunktur auseinander klaffen. Die Binnen-
konjunktur ist in den ersten drei Monaten eingebrochen,
und zwar bis tief in die Automobilbranche hinein, jeden-
falls was den Absatz in Deutschland betrifft. Das ist für
mich kein Zufall. Die Menschen bei uns wollen etwas
leisten, Herr Poß. Die Menschen wollen vom dritten in
den vierten Gang schalten; im vierten Gang braucht man
jedoch mehr Sprit als im dritten Gang. Aber Sie haben ja
den Spritpreis erhöht und andere Belastungen wie die
Ökosteuer geschaffen.

Ich finde es schon dreist, was Herr Eichel heute früh
gesagt hat: Im letzten Jahr sind Steuern in Höhe von
90 Milliarden DM mehr eingenommen worden. Er aber
will nicht einmal unsere Steuervorschläge mit einer
Rückvergütung an die Bürger in Höhe von 50 bis 55 Mil-
liarden DM verwirklichen. Das zeigt, dass er auf Staat
statt auf Freiraum und Eigeninitiative setzt. Das ist der
falsche Weg. Dieser wird nicht zielführend sein. Wir brau-
chen mehr Dynamik, mehr Freiraum. Deutschland hat
eine bessere Politik verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410205200
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Schmidt von der
SPD-Fraktion das Wort.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410205300
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Protzner, zu Ih-
rer Rede muss ich Ihnen sagen: Wahrscheinlich haben Sie
vergessen, was in der Vergangenheit war. Ich habe heute
niemanden gehört, der gesagt hat: Wir sind mit dem, was
passiert ist, zufrieden und jetzt machen wir Schluss. Viel-
mehr haben wir und auch die Mitglieder der Bundesre-
gierung gesagt: Mit der Politik der Bundesregierung, den
Haushalt zu konsolidieren, damit wir mehr Geld für In-
vestitionen, für Steuerentlastungen in einem Umfang von
76 Milliarden DM, für Entlastungen der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer und für die Förderung der Familien
bekommen, damit sie in diesem Lande wieder konsumie-
ren können, sind wir auf dem richtigen Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hier war davon die Rede, die Reformen dauerten so
lange. Dazu muss ich Ihnen sagen: Hätten Sie die not-
wendigen Reformen wie die Gesundheits-, die Renten-

und Arbeitslosenförderungsreform während Ihrer Regie-
rungszeit gemacht, könnten wir heute darauf aufbauen
und dann müssten Sie nicht über einen Reformstau reden.
Wir aber fangen an. Wir werden die sozialen Siche-
rungssysteme konsolidieren; ob mit Ihnen oder ohne Sie.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genauso werden wir eine Steuerreform umsetzen, die den
Menschen wieder mehr Geld in die Taschen gibt, die ih-
nen netto wieder mehr von dem lässt, was sie brutto ver-
dienen.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Ökosteuer!)


– Da können Sie so viel schreien, wie Sie wollen. Die jun-
gen Familien kommen zu uns und sagen: Danke schön,
ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie das
Kindergeld erhöht haben.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das geben sie alles an der Tankstelle wieder ab!)


Wir bedanken uns bei Ihnen dafür, dass Sie es demnächst
möglich machen, dass sich Väter und Mütter den Erzie-
hungsurlaub teilen können. Wir bedanken uns dafür, dass
Sie uns einen Anspruch auf Teilzeitarbeit geben wollen. –
Das ist Politik für die Menschen in diesem Land und nicht
das, was Sie hier vorführen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ist die Ökosteuererhöhung auch eine Politik für die Menschen in diesem Land?)


Nun kommen wir zu einigen Zahlen zur Beschäfti-
gung, die Sie genannt haben. Ich bin in Nordrhein-West-
falen zur Schule gegangen. Heute habe ich gehört, die in
Nordrhein-Westfalen seien alle dumm geblieben und die
in Bayern seien alle schlau. Ich habe in Nordrhein-West-
falen eines gelernt: Ich kann Zahlen lesen. Deshalb kann
ich auch die Zahlen lesen, die die Bundesanstalt für Arbeit
herausgegeben hat.

Wir haben seit einem Jahr kontinuierlich sinkende Ar-
beitslosenzahlen; aber sie sind nicht, wie Ihre Kollegen
sagen, allein demographisch bedingt. Vielleicht nenne ich
Ihnen einmal ein paar Zahlen aus den letzten Jahren und
aus diesem Jahr. Wir hatten im Dezember 1999 im Ver-
gleich zum Dezember 1998 36 000 Beschäftigte mehr. Im
Januar 2000 gab es, verglichen mit dem Januar 1999,
55 000 Beschäftigte mehr. Wir haben jetzt – das zeigen die
aktuellen Zahlen – 73 000 Beschäftigte mehr.

Wir haben natürlich einen Rückgang der Zahl der Ar-
beitslosen, weil mehr Ältere aus dem Erwerbsleben aus-
scheiden. Aber machen Sie doch einmal eines, denken Sie
doch einmal daran: Diese 73 000 Beschäftigten mehr be-
deuten 73 000 Familien, die wieder eine Perspektive be-
kommen haben,


(Beifall bei der SPD)

die wissen, dass sie für ihre eigene Existenz wieder
arbeiten können. Allein in Nordrhein-Westfalen haben
wir 53 000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen, also die




Dr. Bernd Protzner

9525


(C)



(D)



(A)



(B)


Beschäftigtenzahlen um 53 000 erhöht. Man sollte bei der
Beurteilung dessen, was erreicht wurde, objektiv bleiben.

Ich bin damit nicht zufrieden. Ich wäre auch nicht da-
mit zufrieden, wenn Ende nächsten Jahres die Zahl der Ar-
beitslosen dreieinhalb Millionen betrüge. Ich bin erst
dann zufrieden, wenn in diesem Land jede Frau und jeder
Mann die Mittel für die eigene Existenz durch eigene Ar-
beit verdienen kann und damit wieder frei ist, über ihr
oder sein Leben selbst zu entscheiden, wenn sie oder er
nicht darauf angewiesen ist, Arbeitslosengeld, Arbeitslo-
senhilfe oder Sozialhilfe zu bekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen etwas anderes, Kollege Laumann. Wir
haben in Ostdeutschland die aktive Arbeitsmarktpolitik
verstetigt. Wir haben durch das Vorschaltgesetz versucht,
die vorhandenen Mittel zu konzentrieren. Wir haben trotz
Sparprogramm und Haushaltkonsolidierungsprogramm
mehr als 6 Milliarden DM zusätzlich in den Haushalt der
Bundesanstalt für Arbeit gegeben.

Wir haben gesagt, wir brauchen dieses Geld, um es auf
die Problemgruppen, die es in diesem Lande gibt, zu kon-
zentrieren. Das sind junge Menschen, das sind ältere Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und das sind vor al-
len Dingen auch die Frauen gewesen, die nach der Fami-
lienarbeit wieder einen Weg zurück in den Arbeitsmarkt
suchten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da erinnere ich mich an eines: Als wir im letzten Jahr
als eine der ersten Maßnahmen das Programm „100 000
Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer“ hier aufge-
legt haben, hat Ihr damaliger Fraktionsvorsitzender ge-
sagt, das sei eine Beschäftigungstherapie für junge Leute,
und wir veräppelten die. Was ist daraus geworden?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410205400
Frau Kol-
legin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Laumann?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410205500
Nein.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410205600
Keine
Zwischenfragen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410205700
Mehr als 220 000
junge Menschen haben in einem Jahr an diesem Pro-
gramm teilgenommen. Es ist uns zum ersten Mal trotz
noch steigender Zahlen von Schulabgängerinnen und
Schulabgängern gelungen, wirklich eine Entspannung auf
dem Lehrstellenmarkt zu erreichen.

Nun kann man darüber diskutieren, ob die Wirtschaft
ihre Verpflichtung so erfüllt, wie sie sie denn wahrnehmen
sollte. Ich sage, da haben sie noch einiges zu tun. Aber ei-
nes ist doch klar: Ich bin als Politikerin in den Deutschen
Bundestag gewählt worden, und daher muss ich mir im-
mer die Frage stellen, was ich tue, wenn die Wirtschaft das

nicht macht. Sehe ich zu, wie immer mehr junge Men-
schen nach der Schule überhaupt keine Perspektive er-
halten, wie das zu Ihren Zeiten der Fall war,


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!)


oder sage ich, als Staat begleiten wir dies? Da, wo das
noch nicht möglich ist, ist es mir lieber, ein Jugendlicher
ist in einer überbetrieblichen Ausbildung, als dass er
überhaupt keine Ausbildung erhält und damit auf der
Straße liegt und überhaupt keine Chancen mehr hat.


(Beifall bei der SPD)

Als ich mir angehört habe, was hier über Bildung ge-

sagt wurde, da fiel mir wirklich manchmal der Draht aus
der Mütze. Sie hatten einen Zukunftsminister, der Jahr für
Jahr die Ausgaben für Bildung und Forschung gekürzt hat.
Wir machen eine Politik, die darauf hinausläuft, die Mit-
tel dafür zu erhöhen und sie wirklich in neue Berufe zu in-
vestieren, um dafür zu sorgen, dass junge Menschen wie-
der eine Chance bekommen.

Gestern las ich, dass meine Kollegin Böhmer gesagt
hat, wir brauchten eine Bildungsinitiative, damit hier et-
was geschieht. Schon im Dezember 1998 hat die Bundes-
bildungsministerin mit dem Bundeskanzler und der ge-
samten Bundesregierung ein Programm „Innovation und
Arbeitsplätze im 21. Jahrhundert“ aufgelegt, das mit der
Initiative „Frauen ans Netz“ und der Initiative „Frauen ge-
ben Technik neue Impulse“ kombiniert ist.

Hier ist eine ganze Menge passiert. Wenn ich Sie reden
höre, glaube ich, dass Sie gar nicht mehr in die Hoch-
schulen und Schulen gehen, um zu sehen, was bei den jun-
gen Menschen los ist. In den Hochschulen sind heute auf-
grund der Initiative der Bundesbildungsministerin Pro-
gramme aufgelegt worden, wie Doing, wie Being, wie
Going und anderes mehr. Diese Programme haben wir
schon lange in den Schubladen liegen, weil wir seit Jah-
ren wissen, dass wir nicht genügend Nachwuchskräfte im
Bereich der Ingenieurwissenschaften haben. Unter der al-
ten Bundesregierung haben wir immer wieder Anträge
gestellt, damit wir die Möglichkeit bekommen, in die
Schulen zu gehen, um mehr junge Menschen für diesen
Beruf anzuwerben und um uns dabei auf junge Frauen
zu konzentrieren, die das Qualifikationspotenzial und
die Qualifikationsreserve von morgen sind. Die sagen:
Danke. Unter dieser Bundesregierung ist es jetzt mög-
lich. Wir können die Projekte jetzt starten, dass wir
mehr Frauen in den Ingenieurwissenschaften ausbilden
und mehr Ausbildungsplätze schaffen. Die Bundesbil-
dungsministerin hat im Bündnis für Arbeit dafür gesorgt,
dass die Zahl der Ausbildungsplätze im Bereich der In-
formations- und Kommunikationstechnologien bis zum
Jahre 2003 auf 60 000 erhöht wird. Das, meine Damen
und Herren, ist eine aktive Politik für mehr Arbeitsplätze.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist etwas anderes, als entweder auf Tauchstation zu
gehen oder immer alles abzulehnen und schlecht zu ma-
chen.




Ulla Schmidt (Aachen)

9526


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410205800
Frau Kol-
legin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Protzner?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410205900
Ich möchte nur nicht,
dass der Kollege Laumann beleidigt ist.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Nein!)

– Also gut.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410206000
Bitte
schön, Herr Protzner.


Dr. Bernd Protzner (CSU):
Rede ID: ID1410206100
Sie haben die Ini-
tiativen der Bundesregierung angesprochen. Bei den IT-
Berufen gibt es eine ganz interessante Initiative der Bun-
desregierung, vertreten durch das Wirtschaftsministe-
rium. Dieses hat mir jedenfalls Auskunft gegeben. Ein
großer deutscher Verband kam auf die Bundesregierung
zu, um den Ausbildungsberuf des IT-Assistenten zu
schaffen. Hierbei wurde von 10 000 bis 20 000 Ausbil-
dungsplätzen gesprochen. Die Bundesregierung hat dies
dem Verband erfolgreich ausgeredet, wie mir das Bun-
deswirtschaftsministerium mitgeteilt hat. Halten Sie es
für den richtigen Weg, den Verbänden den Vorschlag,
neue Berufe im IT-Bereich zu schaffen, auszureden?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410206200
Ich weiß nicht, wel-
cher Verband es war und welche Berufe gemeint sind. Wie
ich diese Bundesregierung kenne, kann ich mir nicht vor-
stellen, dass sie auch nur eine Initiative für mehr Ausbil-
dungsplätze und Arbeitsplätze verhindern würde.


(Beifall bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Bei dieser Bundesregierung kann ich mir alles vorstellen!)


Den konkreten Fall können wir vielleicht später bespre-
chen, auch mit dem Bundeswirtschaftsministerium. Viel-
leicht gab es hier einen anderen Haken.

Ich kenne Initiativen, die gemacht wurden. Zum Bei-
spiel hat die Firma Ford in Köln Stipendien vergeben, da-
mit junge Frauen in Ingenieurberufen ausgebildet werden.
In meiner Stadt, einer Hochschulstadt, gibt es eine Initia-
tive der Wirtschaft, die besagt, wir wollen mehr Studien-
plätze in diesem Bereich haben, wir wollen mehr ausbil-
den und wir wollen uns als Industrie daran beteiligen, dass
mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Das ist der
Weg, den wir in Zukunft beschreiten müssen. Auch die In-
dustrie hat hier einiges aufzuholen. Die Bundesregierung
aber ist dabei, alle Rahmenbedingungen zu schaffen, da-
mit in diesem Bereich keine Behinderungen mehr statt-
finden, sondern mehr Ausbildung betrieben wird.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Mir kommt es dabei darauf an, dass die Frauen nicht zu

kurz kommen. Von dieser Stelle kann ich an alle Frauen
und jungen Mädchen nur appellieren: Wenn ihr irgendwo
auch nur das Gefühl habt, dass diese Technologien für
euch interessant sind, so macht euch schlau, versucht da-
mit umzugehen, versucht, diese Technologien zu beherr-

schen! Denn das sind die Zukunftsberufe und die Berufe,
wo endlich aufgrund des großen Qualifikationsbedarfs
wahr gemacht werden kann, dass Frauen ebenso an der
obersten Stelle stehen, wie es die Männer über Jahrhun-
derte in diesem Land getan haben. Damit treiben wir die
Gleichstellung in diesem Land voran.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb begrüße ich alle Maßnahmen der Bundesre-
gierung. Ich begrüße aber auch die Maßnahmen des Lan-
des Nordrhein-Westfalen, wo jede Schule an das Internet
angeschlossen werden soll. Es muss eine Ausbildung für
Lehrerinnen und Lehrer geben, damit wir endlich ausge-
bildete Menschen in den Schulen haben, die anderen Leh-
rern, aber auch den Mädchen und Jungen beibringen kön-
nen, was sie für morgen brauchen. Der Einstieg in diese
Informations- und Kommunikationstechnologien ist für
die heutige Jugend eine Frage der Chancengleichheit von
morgen. Wer sie nicht beherrscht, ist genauso schlimm
dran, als hätte unsereiner weder rechnen noch lesen noch
schreiben gelernt. Das muss jeder im Kopf behalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb hat die Bundesregierung mit dem Programm
„Frau und Beruf“ Schritte eingeleitet, dass auch wirklich
mehr Frauen Chancen in den neuen Berufen haben.

Wir haben mit dem Elternurlaubsgesetz einen ersten
Schritt gemacht, denn wir sind der Meinung: Die Frage
nach der Beschäftigung von Frauen kann nur dann beant-
wortet werden, wenn auch die Männer einen Teil der Fa-
milienarbeit übernehmen und diese Arbeit zwischen den
Ehepartnern gerecht aufgeteilt wird.

Die Berufsfähigkeit von jungen Frauen ist nicht nur
aus ökonomischen Gründen wichtig, weil die Wirtschaft
auf dieses Qualifikationspotenzial angewiesen ist; viel-
mehr werden die Qualifikation von Frauen und die Chan-
cen der Frauen, im Beruf zu bleiben und nicht ganz aus
ihm aussteigen zu müssen, für die Familie der Zukunft
und für die soziale Sicherheit der Familien eine ganz emi-
nente Bedeutung haben; denn wir alle wissen: Eine le-
benslange Erwerbsbiografie ist auch für Männer nicht
mehr das Normale, wie es in der Vergangenheit der Fall
war. Die Familie der Zukunft wird darauf angewiesen
sein, dass einmal die Frau und einmal der Mann alleine für
den Unterhalt der ganzen Familie aufkommen muss, weil
der andere lebensbegleitend lernen muss oder weil er sich
in einem neuen Beruf orientieren muss. Das ist Zukunft;
das ist Politik für mehr Beschäftigung! Ich wünsche mir,
dass Sie davon in Bayern berichten, weil die dortige För-
derung von Frauen noch ein bisschen schlecht ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts dessen, was heute angesprochen worden
ist, kann man eines feststellen: Wir brauchen mehr fle-
xiblere Arbeitszeitmodelle. Aber wir müssen auch das An-
gebot an öffentlicher Kinderbetreuung mehr als bisher
ausbauen. Deshalb kann ich nur an die Unternehmen ap-
pellieren: Heute jammern sie, weil wir den Anspruch






(C)



(D)



(A)



(B)


junger Eltern auf Teilzeitarbeit umsetzen wollen. Die Un-
ternehmen haben auch gejammert, als sie feststellten, dass
sie es versäumt hatten, genügend Menschen für die Berufe
in den Informations- und Kommunikationstechnologien
auszubilden. Dieses Versäumnis müssen wir gerade auf-
arbeiten.

Wenn die Unternehmen in diesem Bereich über ausrei-
chend qualifiziertes Personal verfügen, dann werden ein
ausreichendes Angebot an Kinderbetreuung und familien-
freundliche Arbeitszeiten einer der Standortfaktoren der
Zukunft sein. Von diesen Faktoren wird abhängen, ob sich
die Wirtschaft entwickeln kann und ob Rahmenbedingun-
gen geschaffen werden können, die tatsächlich die Grün-
dung von Unternehmen begünstigen. Die Steuerlast die-
ser neuen Unternehmen wird sinken, weil wir eine Steu-
erreform auf den Weg gebracht haben. Auch die
Beitragslast dieser Unternehmen wird sinken, weil wir
eine Rentenreform durchgeführt haben, weil die Arbeits-
losigkeit abnimmt und deswegen die Kosten für die Ar-
beitslosigkeit sinken werden. Diese Unternehmen werden
gleichzeitig über gut bis bestens qualifizierte Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer verfügen, weil diese Bun-
desregierung gesagt hat: Bei uns soll niemand Geld für
Nichtstun bekommen; wir investieren das Geld, über das
wir verfügen, lieber in die Ausbildung der Menschen und
damit in deren Zukunft. Ich glaube, hier sind wir in
Deutschland auf dem richtigen Weg.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410206300
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen14/2909 und 14/2988 in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann,
Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über das Ausländerzentralregister und zur Ein-
richtung einerWarndatei
– Drucksache 14/1662 –

(Erste Beratung 66. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses

(4. Ausschuss)

– Drucksache 14/2745 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckardt Barthel (Berlin)

Wolfgang Zeitlmann
Marieluise Beck (Bremen)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU hat der Kollege Hartmut Koschyk.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1410206400
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der
CDU/CSU-Fraktion zur Änderung des Gesetzes über das
Ausländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warn-
datei, den wir jetzt diskutieren, steht in einem ganz engen
Zusammenhang mit der Regelung der zukünftigen Zu-
wanderung nach Deutschland. Der hierfür in der
Bundesregierung zuständige Bundesinnenminister Otto
Schily sagt – wir stimmen ihm zu –: Die Grenzen der Be-
lastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten. Wir
fragen allerdings: Warum tut diese Bundesregierung dann
nichts, um die Zuwanderung nach Deutschland zu be-
grenzen?

Vergeblich wartet dieses Land auf Maßnahmen oder
Aktivitäten der Bundesregierung; stattdessen schießt der
Bundeskanzler bei der CeBIT in Hannover aus der Hüfte
und kündigt eine so genannte Green Card für IT-Spezia-
listen an. Nach einem langen Hin und Her innerhalb der
Bundesregierung liegen jetzt Vorschläge vor, die unwei-
gerlich zu einer Erhöhung der Zuwanderung auf dem Ver-
ordnungswege führen werden. Natürlich stellt sich die
Frage, ob der Bundestag dadurch bewusst umgangen
werden soll.

Notwendig wäre ein Gesetz zur Steuerung künftiger
Zuwanderung nach Deutschland; denn bevor über 20 000
IT-Spezialisten nach Deutschland geholt werden, muss
zunächst die ungeregelte Zuwanderung nach Deutschland
eingedämmt werden. Zu dieser Frage äußert sich der Bun-
deskanzler allerdings überhaupt nicht. Dies rief den in-
nenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion,
den Kollegen Wiefelspütz, auf den Plan, der in der „Welt“
von dieser Woche sowohl den Bundeskanzler als auch den
SPD-Generalsekretär aufforderte, sich endlich zu diesem
Thema zu äußern. Der Kollege Cem Özdemir von den
Grünen wurde sogar noch deutlicher und sagte:

Es wäre sehr wünschenswert, wenn sich der Kanzler
endlich in die Debatte einschalten würde.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Wo ist er denn?)


Auf der anderen Seite erklärt der Kollege Wiefelspütz
gegenüber der „Berliner Zeitung“, ein Einwanderungsge-
setz sei kein Projekt für diese Legislaturperiode. Im Klar-
text: Es besteht nicht die Absicht, die ungeregelte Zuwan-
derung nach Deutschland zu begrenzen. Cem Özdemir
von den Grünen wiederum begrüßte,


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wo ist Cem?)

dass der Bundeskanzler mit der Green-Card-Debatte eine
Diskussion über die weitere Zuwanderung nach Deutsch-
land und über ein Einwanderungsgesetz in Gang gesetzt
habe und er forderte den Bundeskanzler auf,


(Albert Deß [CDU/CSU]: Wo ist der Bundeskanzler?)





Ulla Schmidt (Aachen)

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(C)



(D)



(A)



(B)


sich endlich an der Debatte zu beteiligen.
Es gibt zwei Möglichkeiten der Erklärung für dieses

Wirrwarr in der rot-grünen Koalition, was das Thema Zu-
wanderung anbelangt. Der Bundeskanzler selbst hat kein
Konzept. Teile der Bundestagsfraktionen von Rot und
Grün wollen eine Erhöhung der Zuwanderung nach
Deutschland. Der zuständige Innenminister Schily spitzt
in der Zuwanderungsfrage den Mund, ohne aber zu pfei-
fen.

Die Position von CDU und CSU ist dagegen eindeutig.
Das Einfallstor für ungeregelte Zuwanderung nach
Deutschland ist und bleibt das Grundrecht auf Asyl.
Wenn über Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung
gesprochen wird, dann muss auch das Grundrecht auf
Asyl auf den Prüfstand. Doch schon eine Diskussion da-
rüber wird von der Regierungskoalition in Bausch und
Bogen abgelehnt.

Stattdessen werden immer weitere Forderungen erho-
ben: Erleichterungen des Familiennachzugs, Erleichte-
rungen bei Ermessenseinbürgerungen, Ausweitung von
Altfallregelungen für abgelehnte Asylbewerber, Auswei-
tung auf nicht staatliche Verfolgung. All dies weckt Hoff-
nung und schafft weiteren Anreiz für Zuwanderung nach
Deutschland. Durch die von der rot-grünen Bundesregie-
rung verantwortete Politik wird die Zunahme illegaler
Einreise nach Deutschland geradezu gefördert. Schleu-
serbanden machen sich dies zunutze. Dem gilt es vorzu-
beugen.

Aus diesem Grund hat die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung
des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zur
Einrichtung einer Warndatei einen ersten wichtigen
Schritt vorgeschlagen. Wir wollen, dass der Kreis der Nut-
zer des Ausländerzentralregisters um die Träger der So-
zialhilfe und die für die Leistungen nach dem Asylbewer-
berleistungsgesetz zuständigen Behörden erweitert wird,
weil sie bestimmte Informationen aus dem Ausländer-
zentralregister benötigen, um zum Beispiel gerade den
Missbräuchen bei Leistungen für Asylbewerber zu be-
gegnen.

Die Informationsmöglichkeiten des Auswärtigen Am-
tes und der deutschen Auslandsvertretungen müssen ver-
bessert werden, um Visaerschleichungen wirksamer ver-
hindern zu können. Auch die Polizei benötigt bei allge-
meinen Personenkontrollen bessere Informationen aus
dem Ausländerzentralregister, um schnell feststellen zu
können, ob sich Personen illegal in Deutschland aufhal-
ten.

Lassen Sie mich zu den Sozialämtern kommen. Sie
müssen diejenigen Daten erhalten, die sie brauchen, um
im Einzelfall die Anspruchsberechtigung eines Antrag-
stellers zu überprüfen und gegebenenfalls die miss-
bräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen zu verhin-
dern.Sozialbetrüger, die bei mehreren Sozialämtern einen
Antrag auf Leistungsgewährung stellen, können dadurch
schneller ausfindig gemacht werden.

Von besonderer Bedeutung ist auch die Information, ob
für einen Ausländer eine Verpflichtungserklärung eines

Dritten hinsichtlich der Sicherstellung des Lebensunter-
halts und der Übernahme der Ausreisekosten abgegeben
würde. Oft genug, liebe Kolleginnen und Kollegen,
kommt es nämlich vor, dass jemand nahezu professionell
im Massenverfahren Einladungen ausspricht, Ver-
pflichtungserklärungen abgibt, tatsächlich aber überhaupt
nicht leistungsfähig ist. Hier können Wiederholungsfälle
vermieden werden.

Für uns besonders wichtig ist die Erweiterung bzw. die
Verbesserung der Zugriffsmöglichkeiten der Polizei-
behörden auf das Ausländerzentralregister;


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr vonnöten!)


denn die Erfahrungen nach dem Wegfall der Grenzkon-
trollen haben gezeigt, dass sich die diesbezüglichen An-
forderungen gewandelt haben. Davor können Sie in der
rot-grünen Bundesregierung die Augen nicht verschließen.
Denn die Anforderungen werden sich noch weiter wan-
deln, wenn im Zuge der EU-Osterweiterung Grenzkon-
trollen zunehmend auch an den deutschen Ostgrenzen
wegfallen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Deswegen ist der einheitliche Zugriff aller Dienststellen
des Bundesgrenzschutzes und der Polizeien der Länder
unbedingt notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Zusammen-

hang mit Demonstrationen ausländischerGruppierun-
gen in Deutschland bringt der Zugriff auf das Ausländer-
zentralregister für die Polizeibehörden erhebliche Be-
schleunigungseffekte. Es können unmittelbar greifbare
Erkenntnisse über den ausländerrechtlichen Status einer
zu überprüfenden Person für die Bewertung des polizeili-
chen Sachverhalts und für die Identitätsfeststellung ins-
besondere beim Nichtmitführen von Ausweisunterlagen
erlangt werden. Dadurch kann die Dauer der Eingriffs-
maßnahme verkürzt werden. Das kommt nicht zuletzt ge-
rade auch den von einer solchen Maßnahme betroffenen
Personen zugute.

Lassen Sie mich etwas zu den Zahlen der illegalen Zu-
wanderung nach Deutschland sagen. Die Zahlen sind
immens: allein 37 789 unerlaubte Einreisen im Jahre
1999. Stark angestiegen sind die Feststellungen unerlaubt
Eingereister im Inland. Im zurückliegenden Jahr griff der
Bundesgrenzschutz 2 749 Personen auf. Über 11 000 aus-
ländische Staatsangehörige wurden 1999 durch Schleuser
nach Deutschland gebracht. Allein an den deutschen
Grenzen wurden im vergangenen Jahr 3 410 Schleuser
festgenommen. Das war eine Steigerung gegenüber dem
Vorjahr um 8 Prozent.

Schleuser, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
das ist organisierte Kriminalität.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)





Hartmut Koschyk

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(D)



(A)



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Sie nutzen inzwischen modernste Kommunikationsmit-
tel, beschaffen und fälschen Dokumente, besorgen Unter-
künfte für Zwischenaufenthalte und betreiben für ihr
Schleuserwesen eine Werbung im großen Stil.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: In Nordrhein-Westfalen gibt es ein „Schleußer“-Unwesen!)


– Ja, es gibt auch Länder in Deutschland mit „Schleußer“-
Unwesen, Herr Marschewski, da haben Sie völlig Recht.

Aber lassen Sie mich zum Kern der Debatte zurück-
kommen. Wie die Praxis im Schleuserwesen Richtung
Deutschland zeigt, geht der Trend ganz klar hin zu Groß-
gruppenschleusungen.

Lassen Sie mich angesichts dieser Situation auf einen
Vorschlag einer grünen Europakollegin verweisen, näm-
lich der grünen Europaabgeordneten Ilka Schröder. Es
verschlägt einem schon die Sprache, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wenn diese Kollegin im Europäischen Par-
lament – ich darf das hier deutlich machen – in ihrem par-
lamentarischen Informationsdienst die finanzielle Unter-
stützung von Fluchthelfern aus der EU-Kasse für notwen-
dig erklärt. Frau Europakollegin Schröder erklärte
wörtlich, viele Verfolgte könnten einzig durch die Hilfe
von Schleusern in die Festung Europa kommen. Die
Tätigkeit von Schleuserbanden bezeichnet sie als huma-
nitäre Maßnahme.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Die Gebühren für das Schleuserwesen seien für die Be-
troffenen zu hoch, und deshalb müssten sie durch die Eu-
ropäische Union subventioniert werden. Ich frage Sie: In
welcher Welt leben wir eigentlich, dass sich eine deutsche
Europaabgeordnete der Grünen zu einer Komplizin von
Schleppern und Schleusern macht?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Unverschämt!)


Die Zuwanderungsproblematik wird für die Sicherheit
unseres Landes immer drängender. Allein der Bundes-
grenzschutz hat 1998 über 60 000 Mal die Einreise zum
Beispiel wegen unzureichender Grenzübertrittsdoku-
mente nicht gestattet. Über 30 000 Zurückschiebungen
und fast 40 000 Abschiebungen erfolgten 1998 durch den
Bundesgrenzschutz. Diese Zahlen machen doch deutlich,
dass in bestimmten Fällen eine Überprüfung mit der von
uns heute hier geforderten Gesetzesänderung erheblich
erleichtert werden kann,


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


denn bei all diesen Zahlen darf man nicht übersehen, dass
die Dunkelziffer ja noch wesentlich höher ist.

In diesem Zusammenhang ein letztes Wort zur Visa-
politik: Das Auswärtige Amt hat seine Visumspraxis
geändert. Visa für Deutschland werden künftig nach
neuen gelockerten Regeln erteilt. Ist das wieder ein Al-
leingang der rot-grünen Bundesregierung oder wurde sich
hier – so müssen wir die Bundesregierung fragen – mit un-

seren EU-Partnern abgestimmt? Vielleicht könnte uns das
die Bundesregierung einmal verdeutlichen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das erklärt gleich der Staatssekretär! Der sagt dann, was er aufgeschrieben bekommen hat!)


Tatsache ist, dass diese Anweisung des Auswärtigen
Amts sämtliche Bemühungen um die Abwehr illegaler
und krimineller Einwanderung unterläuft. Eine verstärkte
Kontrolle an den Außengrenzen unter gleichzeitiger
Erleichterung der Visaerteilung ist doch völlig kontrapro-
duktiv. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang zum
Beispiel das neue Kriterium, ein Visum zu erteilen, wenn
sich in der Abwägung der tatsächlichen Umstände, die für
oder gegen die Erteilung eines Visums sprechen, Pro und
Kontra die Waage halten. Die Weisung von Außenminis-
ter Fischer bedeutet für geschickt agierende Kriminelle
eine Einladung, das Schleuserwesen nach Deutschland zu
verstärken. Das ist der falsche Weg. Deshalb schlagen wir
heute diese Gesetzesänderung vor.

Durch eine zentrale Speicherung und Bereitstellung
der Daten aller Personen und Organisationen, die im Zu-
sammenhang mit den bereits genannten Missbräuchen wo
auch immer in Erscheinung getreten sind, werden alle
Stellen, die über Visaanträge zu entscheiden haben, in die
Lage versetzt, eine effizientere Prüfung vorzunehmen.

Wir wissen, dass Sie unsere Gesetzesänderung vor
allem aufgrund von angeblichen Verstößen gegen daten-
schutzrechtliche Bestimmungen ablehnen. Auch dagegen
ließe sich eine Vielzahl von Argumenten anführen, da
durch die von uns heute vorgeschlagene Gesetzesände-
rung der datenrechtliche Schutz, der bislang durch den
entsprechenden Umgang, das Abfragen und Zur-Verfü-
gung-Stellen von Daten des Ausländerzentralregisters ge-
währleistet wird, in keiner Weise negativ berührt wird.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410206500
Herr Kollege
Koschyk, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1410206600
Deshalb appelliere
ich an die Mehrheitsfraktionen hier im Hause: Versagen
Sie sich nicht dieser dringend notwendigen Gesetzesän-
derung, damit endlich illegale Zuwanderung nach
Deutschland effektiver durch die entsprechenden Einrich-
tungen unseres Landes bekämpft werden kann!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410206700
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Eckhardt Barthel.


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1410206800
Meine Damen und
Herren! Herr Koschyk, ein Satz vorweg: Angstmache er-
setzt keine Politik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)





Hartmut Koschyk
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(D)



(A)



(B)


Wenn Sie Ihre Darstellungen und das Horrorszenario, das
Sie hier aufgezeigt haben, als sachlich empfinden,


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das war eine sehr sachliche Rede!)


dann würde auch gelten, dass jedes Gruselkabinett so
harmlos wie ein Freizeitpark ist. Ich kann wirklich nur da-
vor warnen, mit solchen Angstszenarien


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das sind alles Fakten!)


an ein ernstes Problem – Missbrauch ist in der Tat ein erns-
tes Problem, an das wir heran müssen – heranzugehen. In
dieser Form halte ich das wirklich für unverantwortlich.


(Beifall bei der SPD)

Am Anfang habe ich mich, Herr Koschyk, gefragt, ob

Sie zu Ihrem Antrag reden oder ob Sie wieder die gesamte
Palette des Ausländer- und Asylbereiches auf die Tages-
ordnung setzen. Sie haben über Zuwanderung, IT-Spezia-
listen, Abschaffung von Asylrecht, über Visaproblematik,
Altfallregelungen und anderes gesprochen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Alles Probleme, die die Bürger interessieren!)


Sie haben dann auch noch Widersprüche in der rot-grünen
Regierung zu konstruieren versucht.

Ich möchte Ihnen einmal an einem Beispiel ein paar
Dinge zu den Widersprüchen sagen, die bei Ihnen zu ei-
nem Thema bestehen, das Sie für mich überraschend hier
angesprochen haben. Es betrifft die IT- bzw. Green-
Card-Frage. Sie werfen uns vor, dass sich der Bundes-
kanzler und seine Leute nicht äußerten. Sie äußern sich,
das gebe ich zu, aber der eine sagt hü und der andere hott.
Das ist Ihre Position. Ihren Freund Rüttgers und Nord-
rhein-Westfalen darf man ja heute beispielsweise einmal
erwähnen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Kommen Sie einmal zur Sache, Herr Kollege!)


– Das ist zur Sache. Es ist doch ein parlamentarischer
Brauch, dass man auf den Vorredner eingeht. – Ihr Kol-
lege Rüttgers aus NRW redet von „Kinder statt Inder“ und
Ihr Schatzmeister spricht davon, dass er zu denen gehört,
die Herrn Schröder gedrängt haben, die Green Card ein-
zuführen. Das ist die Logik und die Homogenität inner-
halb der CDU/CSU!

Ich will aber versuchen, zu dem vorliegenden Gesetz-
entwurf zu sprechen. Wie wir alle wissen, ist es der zweite
Aufguss desselben Inhalts, vielleicht ist der Umfang ein
bisschen dünner geworden. Ich möchte den Kollegen
Stadler von der F.D.P., der heute leider nicht anwesend ist,
wofür er sicher einen guten Grund hat


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Er ist im Untersuchungsausschuss!)


– richtig –, zitieren. Er hat zu diesem Gesetzentwurf der
CDU/CSU gesagt, dass es sich um ein „Antragsrecycling“
handelt. Ich finde, das ist ein schöner Begriff. Was man
einmal nicht durchbekommen hat, versucht man ein zwei-

tes Mal – möglicherweise bei anderen Mehrheitsverhält-
nissen – durchzubekommen. Aber die Mehrheitsverhält-
nisse, die Sie brauchen, sind für Sie zurzeit noch schwie-
riger zu erreichen – Gott sei Dank.

Die F.D.P. hat damals Ihren Gesetzentwurf wohlbe-
gründet abgelehnt. Sie hat es auch in den beratenden Aus-
schüssen getan. Sie wissen also, was Sie heute erwartet.
Da nehme ich nichts vorweg. Die Begründung, die die
F.D.P. für die Ablehnung Ihres Gesetzentwurfes hatte, als
sie noch Ihr Koalitionspartner war, ist nicht falsch. Das
muss ich sagen, auch wenn die Begründung von der F.D.P.
kommt.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Na! Na!)

Sie können auch nicht erwarten, dass die neue Koalition
diesem Gesetzentwurf plötzlich zustimmt.

Natürlich kann man ein Gesetz nach fünfjähriger Lauf-
zeit überprüfen. Man kann schauen, ob Veränderungen
notwendig sind. Kein vernünftiger Mensch kann ange-
sichts des Missbrauchs in diesem Bereich sagen – das ist
doch keine Frage –, dass wir nichts zu tun brauchen. Was
mich aber an Ihrer Strategie so ärgert, ist: Sie geben das
Ziel Missbrauchsbekämpfung vor. Dann schlagen Sie ein
Instrument vor, das aber nicht geeignet ist, das Ziel zu er-
reichen, und das außerdem noch viele negative Folgewir-
kungen haben wird. Daher lehnen wir den Gesetzentwurf
ab. Sie behaupten dann aber, wir hätten das Ziel Miss-
brauchsbekämpfung nicht. Das ist eine Schlussfolgerung,
die ich politisch für nicht seriös halte.

Was Sie hier vorlegen, entspricht angesichts der nega-
tiven Wirkungen weder den Notwendigkeiten der Miss-
brauchsbekämpfung noch berücksichtigt es die daraus
folgenden Einschränkungen anderer Rechtsgüter. Es gibt
schlicht keine Begründung und Rechtfertigung für solche
massiven Eingriffe in die informationelle Selbstbestim-
mung der in Deutschland lebenden Ausländer.

Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, an dem
wir uns häufig zu orientieren versuchen, hat der von Ih-
nen vorgelegte Gesetzentwurf absolut nichts mehr zu tun.
Ich möchte einen Slogan von Ihnen mit einem neuen In-
halt versehen. Das Motto Ihres vorgelegten Gesetzent-
wurfs ist „Datenflut statt Datenschutz“.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr sachlich!)


Was ich besonders dramatisch finde, ist, dass sich die-
ser Gesetzentwurf auf einen sehr sensiblen Bereich be-
zieht, nämlich auf den Bereich der Minderheitenpolitik.
Sie wissen, dass viele Menschen nicht deutscher Herkunft
in diesem Lande glauben, dass sie von einem großen Teil
der Gesellschaft als Bedrohung angesehen werden. Diese
Einschätzung ist zwar nur subjektiv, aber sie ist vorhan-
den. Wir müssen erreichen, dass dieses Gefühl nicht
Raum greift. Wir müssen den Betroffenen deutlich ma-
chen, dass wir nicht in diese Richtung tätig werden wol-
len. Wenn diese Atmosphäre in der Gesellschaft vorhan-
den ist, Herr Koschyk, können selbst die besten integrati-
onspolitischen Instrumente nicht mehr greifen. Ich setze
einmal voraus, dass auch Sie nicht wollen, dass positive




Eckhardt Barthel (Berlin)


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(D)



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(B)


Integrationsinstrumente verpuffen. Wir brauchen die Inte-
gration.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Ablehnung Ihrer globalen Erfassungs-, Speiche-
rungs- und Zugriffsinitiative heißt allerdings nun nicht,
dass man sich nicht Einzelpunkte des AZR-Gesetzes an-
sieht.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

– Das haben wir am Anfang gesagt und sagen es auch
jetzt. Natürlich muss man sich diese Punkte einmal anse-
hen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Aha!)


Wir werden es bloß ein bisschen anders machen. Wir
werden nach Kriterien vorgehen. Wir werden erstens fra-
gen, wo eine Notwendigkeit besteht.
Das Zweite ist die Wirksamkeit der angedachten Ände-
rung. Wirkt das überhaupt oder ist es nur plakativ? Das
Dritte ist: Wir werden nach der Verhältnismäßigkeit der
einzusetzenden Instrumente fragen: Viertens werden wir
auch fragen. Was sind mögliche negative Folgewirkun-
gen? Das ist ein seriöses Vorgehen, das werden wir tun.
Das, was Sie hier gemacht haben, ist allerdings in der Tat
eine Ablehnung aller datenschutzrechtlichen Vorstellun-
gen, die man haben kann.

Ein Anschauen des AZR ist zum Beispiel nötig bei der
Weiterübermittlung von Daten zur Erfüllung von Ver-
pflichtungen aus dem Dubliner Übereinkommen. Dafür
muss eine einwandfreie Rechtsgrundlage gegeben wer-
den. Und die Änderungen sind auch zur Umsetzung der
EU-Datenschutzrichtlinie nötig, die Sie übrigens in Ihrem
Antrag überhaupt nicht drin haben.

Aber es kann doch nicht sein, so wie Sie es vorhaben,
dass zum Beispiel sämtliche Personen gespeichert wer-
den, zu deren Gunsten eine Verpflichtungserklärung nach
§ 84 Abs. 1 Ausländergesetz abgegeben wurde, ohne zu
wissen, ob diese ein Visum überhaupt erhalten haben oder
nicht. Was ist das für eine Prävention? Die geht nun wirk-
lich in der Tat zulasten der Betroffenen.

Ebenso benötigen wir keine Rechtsgrundlage für die
Abgabe von Daten aus dem AZR an die Staatsangehörig-
keitsdatei, weil wir ja noch gar nicht wissen und ent-
schieden haben, ob die Staatsangehörigkeitsdatei über-
haupt fortgeführt werden soll.

Der Hauptgrund für die Ablehnung Ihres Antrages liegt
natürlich in dem Gesetzentwurf für eine Warndatei. Es
kann doch wohl nicht sein, dass zum Beispiel Daten von
Personen gespeichert werden, die als Gastgeber eine Ver-
pflichtungserklärung nach § 84 Ausländergesetz abgeben
und alle sich daraus ergebenden Verpflichtungen erfüllen,
aber dann praktisch verantwortlich dafür gemacht wer-
den, dass der einreisewillige Ausländer zum Beispiel ge-
fälschte Dokumente vorgelegt hat. Wie Sie wissen, ist ge-
rade dieses ganz scharf vom Datenschutzbeauftragten kri-
tisiert worden. Er hat Ihnen damals mehrere Punkte
vorgelegt, die Sie allerdings nicht eingearbeitet haben. Es

gehört schon eine ziemliche Chuzpe dazu, dass Sie sagen,
datenschutzrechtliche Probleme gebe es in Ihrem Antrag
nicht. Das ist toll.

Meine Damen und Herren, wir lehnen Ihren Gesetz-
entwurf ab, weil für eine so weit gehende Erfassung, Spei-
cherung und Abrufung von Daten keine Notwendigkeit
besteht und die Folgewirkung Ihres Vorhabens für das
Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten in
diesem Lande überaus schädlich wäre.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]: Reden Sie mal mit den SPD-Landräten und Bürgermeistern! Die sind anderer Meinung!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410206900
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1410207000
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und
Kollegen! Die Fraktion der Freien Demokraten wird das
von der CDU/CSU vorgelegte Gesetz ablehnen. Wir ha-
ben das in der alten Koalition getan – es ist Ihnen seiner-
zeit nicht gelungen, ein solches Gesetz so zu
beschließen –, wir werden das selbstverständlich in dieser
Legislaturperiode als Oppositionspartei genauso handha-
ben, aus zwei einfachen Gründen.

Der erste Grund ist: Ihr Gesetz bekämpft nicht wirksam
Schleuserkriminalität. Der zweite Grund ist: Ihr Gesetz
belastet aber eindeutig Unternehmen, die auf zunehmende
Internationalität angewiesen sind.


(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist ein Gesetzentwurf, der an den Interessen einer glo-
balisierten Wirtschaft und einer gut funktionierenden Ge-
sellschaft maßlos vorbeigeht. Das haben wir Ihnen in der
alten Koalition gesagt, das werden wir Ihnen auch in die-
ser Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag sa-
gen.

Jeder hier wird doch der Meinung sein, dass Schleu-
serkriminalität und auch Kriminalität, wenn es um So-
zialhilfemissbrauch geht, bekämpft werden muss. Ich
kenne keinen Kollegen hier im Hause, der eine andere
Meinung vertreten würde. Das, was Sie aber vorschlagen,
ist erstens drastisch untauglich und zweitens eklatant
schädlich für diejenigen, die in Deutschland auf ein Stück
Internationalität angewiesen sind, wenn sie überhaupt in-
ternational wettbewerbsfähig bleiben wollen.


(Beifall bei der F.D.P. – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das geht doch an der Sache vorbei! – Albert Deß [CDU/CSU]: Bei 4 Millionen Arbeitslosen! Einer Ihrer großen Fehler in diesem Gesetzentwurf steht im § 2 des Gesetzes über die Warndatei, die Sie vorschlagen. Dort können wir den Anlass der Speicherung nachlesen. Das bedeutet im Klartext, dass in diese Eckhardt Barthel 9532 Warndatei auch völlig unbescholtene Unternehmen künftig aufgenommen werden müssten, nur weil derjenige, der zum Beispiel aus dem Ausland als Spezialist eingeladen wurde, später vielleicht wegen veränderter politischer Umstände im Heimatland hier einen Asylantrag stellt. Das ist ein Abschreckungsinstrument für die gesamte international agierende Wirtschaft, was Sie hier vorschlagen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)





(C)


(D)


(A)


(B)


Das, was Sie Warndatei nennen, ist im Grunde genom-
men nichts anderes als eine Warnung an die Wirtschaft.
Sie warnen herzlich wenig die Schleuser. Sie glauben
doch nicht, dass Sie irgendeinen kriminellen Schleuser
oder irgendeine kriminelle Schleuserbande dadurch ab-
schrecken können, dass sie plötzlich in der Warndatei
sind. Der Schleuser wird sowieso steckbrieflich gesucht.
Auch wenn Sie sein Bild auf jeder Häuserwand plakatie-
ren, wird ihn das herzlich wenig interessieren. Das sind
Leute, die im organisierten kriminellen Milieu agieren; da
haben Sie völlig Recht. Es interessiert sie herzlich wenig,
ob sie auch noch in eine Warndatei aufgenommen werden.

Aber diejenigen, die darauf angewiesen sind, dass
Fachkräfte nach Deutschland kommen, um zum Beispiel
in der Computertechnologie international wettbewerbs-
fähig zu bleiben, werden abgeschreckt, weil ihnen im
Klartext gesagt wird: Du bleibst verantwortlich für den
Spezialisten, den du eingeladen hast, selbst wenn du lange
Zeit später mit ihm überhaupt nichts mehr zu tun hast und
wenn du sein Handeln nicht mehr beeinflussen kannst.

Sie haben einen außergewöhnlich schlechten Vor-
schlag gemacht. Er war in der alten Legislaturperiode
schlecht und seine Umsetzung ist deswegen damals vom
Bundesjustizministerium und vom Bundesdatenschutzbe-
auftragten verhindert worden. Sie wird auch hier, soweit
ich das sehe, von allen Fraktionen, mit Ausnahme der
CDU/CSU-Fraktion, verhindert werden und das ist gut so.
Sie sind mit diesem Entwurf ziemlich alleine.

Ich sage Ihnen auch: Dieser Vorschlag zeigt das glei-
che Denken wie bei Ihrer Propaganda „Kinder statt In-
der“.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch! Das hat doch mit dem Gesetzentwurf überhaupt nichts zu tun! Den haben Sie überhaupt nicht gelesen!)


Sie müssen endlich in der modernisierten, globalisierten
Welt ankommen. Sie können mit solchen wirtschafts-
feindlichen Gesetzesinitiativen keinen Hund mehr hin-
term Ofen hervorlocken.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ändern Sie diesbezüglich nach der Landtagswahl bitte
Ihre Politik. Denn ich befürchte, dass Sie sich sonst in die-
ser Frage immer mehr von der Wirtschaft entfernen.

Wir sind übrigens – das wissen auch die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD und von den Grünen, also den
beiden Regierungsparteien –, wenn es um die Frage der

Green Card geht, mit den Ausführungen überhaupt nicht
einverstanden. Wir halten das für zu bürokratisch. Wir tei-
len die Kritik an dem, was bisher vorgelegt worden ist.
Wir werden im Parlament insbesondere noch darüber zu
reden haben, ob eine solche Green Card, wie Sie sie nen-
nen, mit der Befristung überhaupt wettbewerbsfähig sein
kann. Denken Sie beispielsweise an die Versuche der An-
werbung von Computerspezialisten aus Kalifornien. Die
Kalifornier lachen sich ins Fäustchen, dass wir solche ho-
hen bürokratischen Hürden aufbauen und solche Restrik-
tionen schaffen. Wir müssen endlich begreifen, dass wir
die Zuwanderung nach Deutschland besser steuern und
auch begrenzen müssen, dass wir sie aber auch an den ei-
genen nationalen Interessen ausrichten müssen.


(Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

Ein nationales Interesse unserer Gesellschaft heißt: Die
Intelligenz, die es auf der Welt gibt, muss in Deutschland
arbeiten können, weil sonst die Arbeitsplätze im Silicon
Valley oder in Bangalore entstehen, aber nicht in Deutsch-
land.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das hat überhaupt nichts mit Ideologie oder Rechts und

Links zu tun. Hier geht es nur um die Frage: modern oder
unmodern? Es geht nur noch um die Frage: Begreifen wir,
welche Chancen wir international haben, oder begreifen
wir das nicht? Ich muss Ihnen offen sagen: Ich bin bei der
Logik Ihrer bisherigen Kampagne fest davon überzeugt,
dass sie am kommenden Sonntag scheitern wird. Dann ha-
ben Sie meiner Meinung nach einen guten Anlass, sich
von dem falschen Gleis Ihrer Innenpolitik fortzubewegen
und sich auf das richtige, vernünftige Gleis in dieser Frage
zu begeben.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD – Zuruf von der SPD: Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Die Diskussion, die wir in Ihrem Gesetzentwurf nach-
lesen können, ist rückwärts gewandt. Deswegen ist das
auch ein rein recycelter Gesetzentwurf. Darin steht über-
haupt nichts Neues. Neu ist nur, dass das bisschen Daten-
schutz, das früher enthalten war, jetzt auch noch heraus-
gestrichen worden ist. Das eignet sich meiner Meinung
nach überhaupt nicht für eine moderne Gesellschaft.

Ich möchte aber auch den anderen Kolleginnen und
Kollegen etwas sagen. Denn ich lese nach unserer letzten
Debatte über das Zuwanderungsbegrenzungsgesetz,
das die F.D.P. hier im Deutschen Bundestag eingebracht
hat – in der Debatte hat es von allen Seiten geheißen: das
brauchen wir alles gar nicht –, zunehmend und freue mich
darüber, dass es auch bei Rednerinnen und Rednern der
SPD und der Sozialdemokraten


(Zuruf von der SPD: Das sind meistens Sozialdemokraten!)


– Entschuldigung, Sie haben völlig Recht, wobei das eine
schöne Frage ist: ob alle in der SPD soziale Demokraten
sind; daran habe ich Zweifel –, der SPD und der
CDU/CSU bei diesem Thema entsprechende Bewegun-
gen gibt.Das muss auch so sein.




Dr. Guido Westerwelle

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(C)



(D)



(A)



(B)


Mir ist es lieber, wir kommen in dieser Legislaturperi-
ode zu einem Ergebnis als irgendwann einmal. Ich sage
Ihnen voraus: Wir müssen die gesamte Migrationspolitik
in Deutschland grundsätzlich neu definieren. Wir müssen
sie auf neue, feste Füße stellen. Das liegt im Interesse der
Gesellschaft und der Modernisierung unserer Wirtschaft.
Wenn wir das jetzt nicht tun und weitere Jahre abwarten,
dann ist, international gesehen, der Zug abgefahren. Denn
in der globalisierten Wirtschaft werden jetzt die Claims
abgesteckt und die Chancen verteilt.

Deswegen sollten wir gemeinsam zu einem entspre-
chenden Ergebnis kommen. Wir als F.D.P. werden jeden-
falls weiterhin diesbezüglich Vorschläge machen. Den
vorliegenden Gesetzentwurf werden wir ablehnen, weil er
ebenso wirtschaftsfeindlich wie untauglich im Hinblick
auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität im
Schleuserwesen ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410207100
Das Wort für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise
Beck.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist in der Tat so, dass der vorliegende Ge-
setzentwurf, der jetzt in zweiter und dritter Lesung erneut
zur Debatte steht, ein Licht auf die Gedankenwelt, in der
sich die Union bewegt, wirft. Immer dann, wenn es um
Ausländer geht, kommt bei Ihnen der Abwehrreflex. Die
gesamte Debatte über die Migration wird von Ihnen nur
unter dem Gesichtspunkt der Abwehr und der Gefahr ge-
führt. Sie denken nur darüber nach, wie man Dämme
bauen, wie man die Fluten zurücktreiben kann.

Sie merken gar nicht, wie sich inzwischen die äußeren
Verhältnisse mit großer Geschwindigkeit zu verändern
beginnen. Sie sitzen immer noch in Ihrem Bau und versu-
chen die Mauern möglichst noch höher zu ziehen. Sie ha-
ben immer noch nicht gemerkt, dass wir gesellschaftlich
an einem Punkt angekommen sind, an dem wir aus eige-
nem Interesse gut beraten sind, die Mauern nie-
derzureißen, weil unsere Gesellschaft Migration bzw. Zu-
wanderung benötigt und weil es nicht mehr darum geht,
Zuwanderung nur unter dem Gesichtspunkt der Abwehr
zu sehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Diesen gesellschaftlichen Wandel scheinen Sie in der
CDU und in der CSU offensichtlich nicht nachvollziehen
zu können. Das ist fast dramatisch, weil in der Tat immer
deutlicher wird, was schon seit langer Zeit in
wissenschaftlichen Nischen der Gesellschaft dokumen-
tiert wird, nämlich dass eine demographische und ökono-
mische Entwicklung beginnt, in der die Gesellschaft im-

mer stärker aus der Balance zu geraten droht. Das Ver-
hältnis zwischen Alt und Jung fängt an, sich in einer rapi-
den Weise zuungunsten der Jungen zu verschieben. Statt
jetzt noch mehr Ängste in der Gesellschaft im Hinblick
auf die anderen, die da kommen und die immer als Be-
drohung dargestellt werden, zu schüren, sind wir gut be-
raten, uns auch geistig darauf vorzubereiten, dass eine Si-
tuation entstehen wird, in der wir darum werben müssen,
dass andere zu uns kommen, weil wir sonst nicht in der
Lage sind, unsere Gesellschaft in einem ausgewogenen
Verhältnis bestehen zu lassen.

Das ist die Debatte, die Sie mit Ihrem Abwehr- und
Angstdiskurs, den Sie immer wieder einbringen, zuschüt-
ten und vermauern. Das ist auch das Gefährliche daran.
Sonst könnte man Sie ja als altbacken zur Seite schieben
und sagen: Das ist eben die Union; wir stellen sie an den
Rand; denn wir können sie für eine moderne Gesellschaft
nicht gebrauchen. Aber natürlich ist es gefährlich, wenn
Sie diese Angstmacherei und diese Abwehrhaltung, die,
so glaube ich, etwas sehr Natürliches ist – es ist in Ge-
sellschaften etwas Altbekanntes, dass es eine Abwehr ge-
gen das Fremde gibt –, immer weiter schüren.

Zu Ihnen von der F.D.P., Herr Kollege Westerwelle,
möchte ich Folgendes sagen: Vielleicht wäre es ja doch an
der Zeit, dass Sie endlich einmal den Titel Ihres in diesem
Zusammenhang genannten Gesetzentwurfes, der „Zu-
wanderungsbegrenzungsgesetz“ lautet, ändern. Denn
genau dieser Titel dokumentiert den Gedankenansatz,
dass es um nichts anderes als darum gehen muss, Zuwan-
derung zu begrenzen. Wir kommen bereits zu einer nächs-
ten Etappe. Es geht um die Gestaltung von Zuwanderung
und nicht allein, wie Sie es sich damals – wohl auch aus
Angst vor gesellschaftlichen Reaktionen – ausgedacht ha-
ben, um Begrenzung.


(Beifall der Abg. Monika Ganseforth [SPD])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410207200
Frau Kollegin Beck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wester-
welle? – Bitte.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1410207300
Ich habe nur eine
kurze Frage. Ich will es so formulieren: Wenn die Regie-
rungsfraktionen unserem Gesetzentwurf zustimmen, kön-
nen sie sich den Titel aussuchen.


(Beifall bei der F.D.P. – Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper: Das war keine Frage!)


Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Es geht um die Denkweise, Herr Westerwelle.
Aufgrund des Titels „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“
sind Sie einfach ertappt worden. Ich finde, das sollten Sie
offen zugeben.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das war nicht überzeugend!)


Ich komme noch kurz auf die zweite und dritte Lesung
zum AZR zu sprechen. Der Gesetzentwurf stammt aus
dem Hause Kanther; das ist hier schon gesagt worden. Er
wurde damals von dem Koalitionspartner F.D.P. scharf




Dr. Guido Westerwelle
9534


(C)



(D)



(A)



(B)


kritisiert. Das Justizministerium war nicht bereit, da mit-
zuziehen. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat damals
wie heute seine Bedenken geäußert. Auch meine Amts-
vorgängerin – das möchte ich sehr deutlich sagen – hat
starke Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf angemel-
det, weil gerade dieser Grundsatzverdacht gegen Aus-
länder in diesem Land unter ausländerpolitischen Ge-
sichtspunkten nicht akzeptiert werden kann.

Gesetze werden nicht gemacht, weil sie einmal ent-
worfen worden sind. Es geht um das Rechtsstaatsprinzip
und die daraus abgeleiteten Voraussetzungen für ein Ge-
setzgebungsverfahren. Sie benennen immer bestimmte
Voraussetzungen, ohne sie jemals zu belegen.

Stets wird der Begriff des Sozialmissbrauchs ange-
führt. Er ist für Schlagzeilen wunderbar tauglich; denn er
appelliert an die Gefühle der Bevölkerung. Man hat doch
immer schon gewusst, dass sich der Ausländer zu Unrecht
der Sozialhilfe bedient. Sie belegen nicht, dass diesem So-
zialmissbrauch mit den von Ihnen vorgelegten Vorschlä-
gen wirklich begegnet werden könnte. Deswegen ist die-
ser Gesetzentwurf untauglich.

Wir haben nach wie vor ein sehr gutes und wertvolles
Grundrecht, nämlich das auf informationelle Selbstbe-
stimmung. Angesichts der unglaublichen Explosion der
Möglichkeiten der Datenerfassung haben wir als Parla-
ment streng darauf zu achten, dass dieses Grundrecht
nicht dadurch, dass neue Datensammlungen eingerichtet,
neue Dateien angelegt und Verknüpfungen von Dateien
hergestellt werden, verletzt wird. Deswegen halten wir
daran fest, uns mit neuen Gesetzesvorschlägen in diesem
Bereich so lange außerordentlich zurückhaltend zu ver-
halten, wie in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde an-
hängig ist. Es ist abzuwarten, was das Bundesverfas-
sungsgericht zu den hierzu vorhandenen Gesetzen sagt.

Unserer Einschätzung nach ist zumindest die von Ih-
nen jetzt vorgeschlagene Einrichtung einer Warndatei
mit dem Grundsatz, dass Daten nicht auf Vorrat gesam-
melt werden dürfen, dass sie anonymisiert sein müssen, in
keinster Weise vereinbar. Es kann nicht angehen, dass wir
über Menschen eine Datei anlegen auf den Verdacht hin,
dass sie mit einem anderen unter einer Decke gesteckt ha-
ben könnten,


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das wollen wir auch nicht! Nicht unter einer Decke!)


ohne das in irgendeiner Weise zu belegen. Deswegen kann
die Warndatei so, wie Sie sie jetzt vorschlagen, von uns
auf keinen Fall akzeptiert werden.

Im Grunde genommen geht es um die Grundhaltung,
wie wir mit Gästen, mit Menschen, die unser Land besu-
chen, umgehen, auch mit Menschen, die zuwandern – aus
ökonomischen Gründen, aber auch aufgrund der
menschlichen Verbindungen. Mobilität zieht natürlich
weitere Mobilität nach sich, das Hin- und Herwandern
von Menschen, das Sich-Besuchen. Wir sind an dem
Punkt, dass im Ausland immer kritischer wahrgenommen
wird, dass die Abwehrhaltung in Deutschland nach wie
vor unser großes Markenzeichen ist.

Deswegen bin ich sehr froh, dass das Auswärtige Amt
jetzt im Bereich der Visumserteilung gehandelt hat. Es
steht einem modernen, offenen Land nämlich nicht gut zu
Gesicht, wenn in den Botschaften und Konsulaten fast
nicht nachvollziehbare Entscheidungen getroffen werden,
wenn Geschäftsleute abgewiesen werden, wenn der Be-
such von Menschen in Deutschland verweigert wird,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


weil der Verdachtsmoment als schwerwiegender angese-
hen wird als die Idee der Mobilität, die eben zu einem mo-
dernen Land gehört. Dieser Schritt des Auswärtigen Am-
tes ist gut gewesen. Ich weiß, dass er auch im Ausland po-
sitiv bewertet wird.

Es ist mitnichten so, dass alle Menschen deswegen
nach Deutschland kommen, weil sie denken, es sei das
weltoffenste Land. Gerade die Green-Card-Debatte
zeigt, auf welch schmalem Grat wir uns bewegen. Die
Postkarten-Debatte ist in Indien und anderen Ländern –
wir haben es hier schließlich mit dem Internet zu tun – an-
gekommen, und zwar an demselben Tag, an dem sie be-
gonnen wurde, an dem die Slogans in die Welt gesetzt
wurden.

Die jungen Akademiker sitzen nicht auf gepackten
Koffern; sie warten mitnichten darauf, dass sie nach
Deutschland kommen dürfen. Vielmehr gibt es dort Aus-
einandersetzungen und Gespräche, in denen man sich
fragt: Wollen wir überhaupt in ein Land gehen, das diese
Signale aussendet, dass wir nämlich gar nicht gewollt
sind? Wir haben es oft mit Menschen zu tun, die es gar
nicht nötig haben, nach Deutschland zu gehen. Das müs-
sen wir verstehen, statt uns mit altbackenen Abwehrhal-
tungen diesen Modernisierungsentwicklungen entgegen-
zustellen.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410207400
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410207500
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Kollege Koschyk, das gesellschaftliche
Zerrbild, das Sie heute in Sachen Zuwanderung, Asyl-
recht, Familiennachzug, Visabestimmungen usw. gemalt
haben – ich will das gar nicht alles aufzählen –, macht es
einem wirklich schwer, sich damit sachlich oder über-
haupt nur ernsthaft auseinander zu setzen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Was sagen Sie zu den Zahlen, Frau Kollegin?)


– Ich sage Ihnen gleich etwas zu den Zahlen.
Sie wissen ganz genau, dass wir immer wieder – schon

bei der ersten Lesung Ihres Antrages – Debatten führen
über die Verhältnismäßigkeit von Kriminalitätsbekämp-
fung, darüber, mit welchen falschen Fakten Sie hier im-
mer wieder hervortreten, mit welchen Fakten Sie versu-
chen, Menschen ausländischer Herkunft mit Ihrer Politik




Marieluise Beck (Bremen)


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(C)



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(B)


zu diskreditieren. Das lehnen wir ganz entschieden ab. So
kann man mit diesen Dingen nicht umgehen. Ich will ein-
mal ganz davon absehen, dass Sie im Moment diese De-
batte instrumentalisieren – wahrscheinlich für den Wahl-
kampf oder wie auch immer –, denn die Punkte, die Sie
angesprochen haben, haben größtenteils mit Ihrem Anlie-
gen wenig zu tun.

Ich komme zu den Zahlen, die Sie hier genannt haben;
ich habe das übrigens auch schon in der ersten Lesung ge-
sagt. In den Jahren 1996 bis 1998 hat es in der Tat laut
BKA 14 400 Fälle von Schleuserkriminalität gegeben.
Ich sage Ihnen noch einmal: Es hat beispielsweise im sel-
ben Zeitraum 15 500 Fälle von Betrug und Untreue im Zu-
sammenhang mit Beteiligungen und Kapitalanlagen ge-
geben, 18 500 Fälle von Wirtschaftskriminalität im An-
lage- und Finanzierungsbereich. Die Zahl allein dieser
Straftaten liegt doppelt so hoch wie die Zahl bei der
Schleuserkriminalität. Das gilt ebenso für den Sozialhilfe-
betrug, den ich in der Tat nicht bagatellisieren will.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das eine hat aber mit dem anderen nichts zu tun!)


Es geht hier um die Frage: Welcher gesellschaftliche
Schaden wird hier eigentlich angerichtet? Welche Prio-
rität wird von der CDU/CSU-Fraktion für welche Krimi-
nalitätsbekämpfung verlangt?

Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen: Das Statistische
Jahrbuch weist 5,4 Milliarden DM Schaden im Bereich
der Wirtschaftskriminalität aus. Sozialhilfeerschleichung
wird laut BKA nicht einmal in der Statistik ausgewiesen.
Das soll nicht heißen, dass wir das bagatellisieren wollen.
Nehmen Sie das einfach einmal zur Kenntnis; lesen Sie
die Statistiken wirklich einmal genau! Es kann einfach
nicht sein, dass man – meine Kollegin Beck hat es schon
gesagt – versucht, mit Angstmacherei eine Politik zu be-
treiben, die darauf hinausläuft, Ausländerfeindlichkeit
und Rassismus in unserer Gesellschaft zu schüren.

Herr Koschyk, Sie haben davon gesprochen, dass die
datenschutzrechtlichen Bestimmungen der entscheidende
Grund gewesen sind, dass im Ausschuss eine Ablehnung
des Antrages für heute empfohlen wurde. Das gilt für das
Ausländerzentralregister, das wir damals schon abgelehnt
haben, aber auch für Ihre Warndatei; hier sind schon von
meinen Kollegen diverse Punkte genannt worden, warum
wir sie zurückweisen müssen.

Ich finde es ignorant und es ist mir juristisch völlig un-
klar, wie eine Fraktion wie die Ihre nicht einmal abwarten
kann, bis es ein Verfassungsgerichtsurteil gibt. Bürger
initiativen und Menschenrechtsorganisationen sind vor
das Verfassungsgericht gezogen, weil sie das Ausländer-
register infrage stellen, mit dem ja schon enorm viele
Fakten über Menschen ausländischer Herkunft gesam-
melt werden. Mit Ihrer Warndatei soll ja noch eins oben
drauf gesetzt werden.

Ihr Kollege Marschewski hat vorgestern ein Interview
gegeben, in dem er sich zu illegalen Einreisen und Schleu-
serkriminalität geäußert hat. Er hat davon gesprochen,
dass dies die innere Sicherheit in Deutschland schwer be-
drohe. Außerdem hat er in diesem Interview gesagt, dass
die entsprechenden Zahlen beträchtlich gestiegen sind.

Ich frage Sie, Herr Marschewski: Woher nehmen Sie
diese Behauptungen? Nennen Sie das ehrliche Politik,
dass Sie nicht einmal bei den Fakten bleiben? Warum sa-
gen Sie zum Beispiel nicht, dass die Zahl illegal Einge-
reister um 6 Prozent zurückgegangen ist, dass es sich bei
der Schleuserkriminalität nicht ausschließlich um Men-
schen ausländischer Herkunft handelt, sondern dass etwa
10 Prozent deutsche Staatsbürger dabei sind? Warum ana-
lysieren Sie, wenn Sie diesen Tatbestand auseinander neh-
men, nicht, worum es tatsächlich geht? Und warum setzen
Sie Illegale immer mit Kriminellen gleich? Selbst die
Genfer Flüchtlingskonvention verbietet es uns, Men-
schen, die illegal in unser Land einreisen, als Kriminelle
abzustempeln. Ich meine, auch Sie sollten sich daran hal-
ten. Denn auch die Regierung Kohl hat damals die Gen-
fer Flüchtlingskonvention akzeptiert.

Meine Damen und Herren, hören Sie endlich auf, diese
Politik für Ihre Parteibelange zu missbrauchen! Denn dies
geht auf Kosten von Ausländerinnen und Ausländern. Ich
meine, das kann kein Beitrag zur Kriminalitätsbekämp-
fung sein. Es ist allenfalls ein Beitrag zur Ausländer-
bekämpfung. Das wissen Sie auch ganz genau.

Zum Schluss meines Beitrages möchte ich noch ein
Wort an die Regierungsfraktionen, an SPD und Grüne,
richten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410207600
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen leider zum Schluss kommen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410207700
Das ist sowieso mein letzter
Satz. – Ich war ziemlich entsetzt darüber, dass sich die
Bundesregierung zu der Entscheidung im Europaparla-
ment betreffend Eurodac – ich habe es schon im Aus-
schuss gesagt – positiv geäußert hat. Ich wünsche mir,
dass wir nicht nur dieser Warndatei, sondern auch den
Verschärfungen, die auf europäischer Ebene angedacht
sind – sie sind noch nicht durchgesetzt, aber ange-
dacht –, geschlossen entgegentreten. Ich hoffe, dass die
anderen Fraktionen in diesem Hause auch dagegen vor-
gehen werden.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410207800
Herr Kollege Erwin
Marschewski, Sie haben das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1410207900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Gesetzentwurf
vorgelegt, mit dem sie Schlepper und Schleuser bekämp-
fen will. Das sind Leute, die andere Menschen ausbeuten.
Das sind Leute, die ausländische Menschen unter falschen
Versprechungen nach Deutschland locken, die ihnen ei-
nen Transport anbieten, der oftmals ihre Gesundheit be-
einträchtigt, sogar ihr Leben gefährdet. Gegen diese Leute
wollen wir vorgehen – mehr nicht.




Ulla Jelpke
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(C)



(D)



(A)



(B)


Das hat, Herr Kollege Westerwelle, überhaupt nichts
mit einer Green-Card zu tun. Es hat auch nichts mit einer
Zuwanderungssteuerung zu tun. Auch wir sind für ein
Zuwanderungssteuerungsgesetz. Wir werden Ihnen in
nächster Zeit einen entsprechenden Entwurf unterbreiten.

Das ist der Gegenstand der Debatte – nicht das, was Sie
gesagt haben. Eines ist mir in dieser Debatte deutlich ge-
worden: Die Union ist und bleibt offensichtlich der ein-
zige Garant der inneren Sicherheit in Deutschland. Das
hat diese Debatte klar und eindeutig gezeigt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Oder glauben Sie, innere Sicherheit werde garantiert von
Dr. Hirsch, Frau Leutheusser oder ihrem Nachfolger
Westerwelle? Von denen doch nicht!

Auch der heute nicht anwesende Bundesinnenminister
kann innere Sicherheit nicht garantieren. Herr Staatsse-
kretär, gerade in Ihrem Ministerium klaffen doch zwi-
schen dem, was versprochen wird, und dem, was heraus-
kommt – die Versprechen werden eben nicht gehalten –,
Welten. Sie haben uns gesagt, Sie wollten einen Gesetz-
entwurf vorlegen, um die Schleuserkriminalität zu be-
kämpfen. Ich bin gespannt, wann Sie dies tun werden. Sie
haben gesagt, Sie wollten darüber vorurteilsfrei im Aus-
schuss diskutieren. Heute ist kein Gesetzentwurf da. Die
Diskussion im Ausschuss bestand mehr oder weniger aus
einem Abwürgen der Argumente. Nichts ist geschehen.
Kein Versprechen wird von Ihnen erfüllt, obwohl wir Tau-
sende von Geschleusten im Jahr haben – Kollege
Koschyk hat es zu Recht gesagt – und die Zahlen im Stei-
gen begriffen sind. Schauen Sie in die heute vom Bun-
desinnenminister veröffentlichte polizeiliche Krimi-
nalstatistik. Die Dunkelziffer in diesem Bereich ist erheb-
lich höher.

Im Bereich der Innenpolitik geht Ihre Leistungsfähig-
keit gegen Null. Es wird überhaupt nichts gemacht. Das
liegt doch sicherlich daran, dass zwischen Rot und Grün
erheblich unterschiedliche Vorstellungen gerade im Be-
reich der Innenpolitik, des Ausländer- und des Strafrechts
vorhanden sind. Das werden Sie ja bestätigen. Hätten wir
damals so lange gewartet, bis das Bundesverfassungsge-
richt in einer Nebenfrage entschieden hätte, hätten wir
weder das Asylrecht noch das Verbrechensbekämpfungs-
gesetz in Kraft setzen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

So lange können wir nicht warten und so lange wollen wir
nicht warten.

Der Bundesinnenminister – heute nicht anwesend –
wird auch von seiner Koalition im Stich gelassen. Was ist
aus der Aussage von Herrn Schily, die Grenze der Belast-
barkeit sei überschritten, geworden? Welche Konsequen-
zen haben Sie daraus gezogen? Was ist aus dem Vorschlag
geworden – ich gehe davon aus, dass er ernst gemeint
war –, er wolle das subjektive Asylrecht einschränken? Er
hat uns in diesem Punkt an seiner Seite. Welche Konse-
quenzen haben Sie daraus gezogen? Was ist – jetzt ganz
aktuell – aus seinem Vorschlag, er wolle die Green Card
auf drei Jahre begrenzen, geworden? Sie haben den Bun-

desinnenminister bei all seinen Vorstellungen im Regen
stehen lassen.

Das bedeutet, dass gerade im Bereich der Innenpolitik
diese Bundesregierung unter mangelnder Handlungs-
fähigkeit leidet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist insbesondere im Bereich des Asyl- und des Aus-
länderrechts und der Verbrechensbekämpfung der Fall:
Kein einziges Gesetz haben Sie in den 18 Monaten Ihrer
Regierungszeit fertig gebracht. Kein einziges Gesetz!
Große Worte, wenig Taten: Das ist die Leistung des Bun-
desinnenministers, die so genannte Leistung im Bereich
der deutschen Innenpolitik.

Herr Kollege Westerwelle, mit dieser Art Laisser-faire,
die Sie als Liberaler haben zutage treten lassen, werden
Sie weder Schleusertum noch Menschenhandel noch So-
zialleistungsbetrug bekämpfen. Wir haben Praktiker
gehört – Sie müssten das eigentlich wissen, da Sie bei ei-
nem Teil der Koalitionsgespräche vor zwei, drei Jahren
dabei waren – und sind Punkt für Punkt die Praktiker-
vorschläge durchgegangen und haben sie ins Gesetz ge-
schrieben.

Erstens. Was ist dagegen zu sagen, dass wir nicht nur
die Antragstellung, sondern auch die Visaablehnung so-
wie die Gründe der Ablehnung im Gesetz speichern wol-
len? Es ist doch absurd, nur über die Antragstellung zu be-
richten. Wir wollen die Ablehnung und die Gründe dafür
speichern. Was ist dagegen zu sagen?

Zweitens. Wir wollen, dass auch die Polizeibehörden,
die die Kontrollen vor Ort ausführen, Zugriff auf das Aus-
länderzentralregister haben. Was ist dagegen zu sagen?

Drittens. Wenn jemand ein Versprechen gibt, für einen
Dritten einzustehen, und das Versprechen wird nicht er-
füllt: Warum soll das nicht in der Kartei bis zur Erfüllung
des Versprechens vermerkt werden, warum muss der
Steuerzahler in diesem Lande für dieses oft falsche Ver-
sprechen einstehen? Es gibt nicht nur gute Menschen auf
der Welt; das ist nicht nur meine Erkenntnis. Natürlich
wollen wir unser Land offen halten, aber wir wollen Ein-
satz zeigen gegen Schleuser und Schlepper: Es ist ein Ver-
brechen, wie die Geschleusten ausgebeutet werden. Da-
gegen vorzugehen ist unsere Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen bitte ich die Bundesregierung, wirklich

ernst zu machen und ein Gesetz vorzulegen. Ich frage Sie,
Herr Staatssekretär – ich wundere mich, dass Sie gar nicht
das Wort ergreifen –: Wann werden Sie konkret mit einem
Gesetzentwurf kommen? Ansonsten verantworten Sie,
dass das menschenverachtende Geschäft dieser Leute
weiter ausgeweitet wird. Ansonsten haben Sie zu verant-
worten, dass Menschen mit unhaltbaren Versprechungen
nach Deutschland gelockt werden und dort aufs Übelste
ausgebeutet und missbraucht werden.

Ich fordere Sie auf, endlich etwas gegen diese Zu-
stände zu unternehmen. Reden Sie nicht nur! Das gilt
insbesondere für Ihren Minister. Handeln Sie endlich,
Herr Minister!




Erwin Marschewski (Recklinghausen)


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(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410208000
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle
das Wort.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1410208100
Herr Kollege, Sie
haben mich zweimal persönlich angesprochen und darauf
möchte ich eingehen. Sie erwecken den Eindruck, dass
das, was Sie hier vortragen, von der Expertenkommission
und von Fachleuten unter der alten Regierung in der letz-
ten Legislaturperiode bestätigt worden sei. Das ist nicht
richtig. Die alte Regierung hat dieses Gesetz nicht im
Deutschen Bundestag eingebracht, und zwar aus Ver-
nunftgründen. Sie möchten jetzt etwas einbringen, was
die alte Regierung nicht eingebracht hat. Das ist aus un-
serer Sicht eine etwas schwierige Angelegenheit. Sie er-
wecken auch den Eindruck, als wollten wir Schleuser-
kriminalität nicht bekämpfen. Schleuserkriminalität be-
kämpfen will vermutlich jeder hier in diesem Hause und
wir ganz besonders.

Ich halte aber die Idee, dass die Aufnahme dieser Kri-
minellen in eine weitere Datei bei der Kriminalitäts-
bekämpfung helfen könnte, für reichlich realitätsfern.
Deswegen ist dies keine Frage von innerer Liberalität ver-
sus Kriminalitätsbekämpfung. Ihr Gesetz dient nicht der
Kriminalitätsbekämpfung. Es dient lediglich der Ab-
schreckung ansonsten Unbescholtener, zum Beispiel un-
bescholtener Unternehmen. Das ist der Grund, warum wir
das Gesetz damals abgelehnt haben, warum es die alte Re-
gierung nicht eingebracht hat und warum wir es heute
nicht einbringen werden.

Im Übrigen kann ich Ihnen nur sagen: Ich kann Ihren
Ausführungen nicht zustimmen. Dass Sie ein blaues
Hemd und eine gelbe Krawatte tragen, versöhnt mich aber
wieder.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410208200
Zur Erwiderung, Herr
Kollege Marschewski, bitte.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1410208300

Herzlichen Dank, Herr Kollege Westerwelle. Zunächst
einmal möchte ich sagen: Ich bin Ihnen gegenüber immer
versöhnlich eingestellt, das ist keine Frage. Aber Sie müs-
sen auch einmal Sachargumenten Folge leisten:

Erstens. Wir haben in der letzten Legislaturperiode
eine Expertenanhörung durchgeführt. Die Experten haben
uns gesagt: Verbessert das Ausländerzentralregister und
schafft eine Warndatei, um wirklich etwas zu verhindern.
Ich nenne einen praktischen Fall, den Sie eigentlich ken-
nen müssten, aber offensichtlich nicht kennen: Wenn je-
mand im Ausland beim Konsulat A einen Visumantrag
stellt und dieser Antrag abgelehnt wird, weil jemand be-
trügerisch gehandelt hat, weiß das Konsulat B zunächst
einmal nicht, dass und warum dort eine Ablehnung erfolgt
ist. Das wollen wir ändern, indem wir im AZR und in der
Warndatei zentrale Vermerke einbringen. Ein weiteres
Beispiel: Wenn ein Polizeibeamter vor Ort feststellen will,
ob jemand als Schleuser oder Schlepper tätig ist, soll er

das zentral geregelt im AZR kontrollieren dürfen. Das ist
der Sinn dieser Übung.

Ich habe den Eindruck, dass Sie den Gesetzentwurf
nicht in seinen Einzelheiten kennen, weil Sie daran nicht
mitgearbeitet haben. Letzteres hat der Kollege Stadler ge-
tan. Sie haben heute nur den Redebeitrag übernommen.

Zweitens. Herr Kollege, ich wende mich dagegen, dass
die F.D.P. immer noch im alten hirschschen bzw. leutheus-
serschen Geiste sagt: Uns ist Datenschutz lieber als Tä-
terschutz. Das ist nicht unsere Politik, Herr Kollege
Westerwelle.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410208400
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Fritz
Rudolf Körper.

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1410208500
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Sprache ist verräterisch. Dazu, dass bei-
spielsweise der Kollege Koschyk sagt, dass der Erlass des
Auswärtigen Amtes irgendwelche Visaregelungen
lockern wolle, sage ich ganz einfach: Er kennt diesen Er-
lass nicht.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Doch, den kenne ich schon!)


Dass beispielsweise zukünftig keine Ablehnung eines
zustimmungspflichtigen Visums ohne Rücksprache mit
der Innenbehörde erfolgen darf, ist – so denke ich – aus
der Praxis begründbar. Jemand, der eine Ablehnung eines
zustimmungspflichtigen Visums ausspricht, muss zumin-
dest bereit sein, diese auch zu begründen. Dies aber halte
ich nicht für eine Lockerung, sondern das ist in der Sache
geboten.

Dies gilt auch für die Einführung einer Begründung bei
Ablehnung eines Visums zum Familiennachzug. Ich frage
mich: Wo ist da eine Lockerung, wenn nun eine entspre-
chende Begründung der Entscheidung gegeben werden
muss? Ich halte dies im Übrigen für selbstverständlich
und denke, dass man darüber nicht streiten muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweiter Punkt. Lieber Herr Koschyk und Herr
Marschewski, Ihr Bundesinnenminister hätte froh sein
können, glaube ich, wenn es ihm beispielsweise gelungen
wäre, in Europa im Zuge des Konfliktes im Kosovo und
bei der Überwindung der Flüchtlingsschicksale eine Las-
tenteilung herbeizuführen, wie das Bundesinnenminister
Schily gelungen ist. Ich denke, das ist eine hervorragende
Leistung, und Sie sollten das auch einmal würdigen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Was hat das mit unserem Antrag zu tun?)


– Das hat beispielsweise damit zu tun, dass an- und auf-
gegriffen worden ist, was getan bzw. nicht getan worden
ist.




Erwin Marschewski (Recklinghausen)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Sprache ist auch dabei, wie Sie mit diesem Thema um-
gehen, verräterisch. Ich glaube, es ist selbstverständlich,
dass Schleusertum bekämpft werden soll. Aber es ist
schon ein bisschen merkwürdig, dass Sie es uns nachtei-
lig auslegen, wenn die Bundesregierung, der Bundes-
grenzschutz gewisse Aufgriffzahlen nachweisen kann.
Nein, umgekehrt: Sie hätten den Bundesgrenzschutz ein-
mal dafür loben müssen, dass er das Schleusertum wirk-
sam bekämpft hat.

Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir
nicht akzeptieren können, dass mit menschlichem Schick-
sal Geschäfte gemacht werden. Darüber brauchen wir kei-
nen Streit zu führen.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Beenden müssen wir den Streit!)


Sie sollten auch mit Ihren Sprüchen, die darauf abzie-
len, Angst zu schüren, aufhören; denn sie verkennen die
Fakten und bringen uns auch nicht weiter.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der von der CDU/CSU vorgelegte Gesetzentwurf zur
Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister
und zur Einrichtung einer Warndatei weist nach Dafür-
halten der Bundesregierung sowohl ungeeignete als auch
unverhältnismäßige Instrumente auf. Ich denke, das zeigt
sich auch an Folgendem: Lieber Herr Marschewski, Sie
versuchen ja denjenigen, die nicht in der Materie stehen,
glaubhaft zu machen, was Sie alles unternommen hätten.
Sie waren doch überhaupt gar nicht in der Lage, in Ihrer
eigenen Regierungszeit nur eine der von Ihnen genannten
Veränderungen herbeizuführen,


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Leider!)


und zu einem großen Teil mit gutem Grund, weil Sie
schon damals keine Mehrheiten dafür hatten. Das müsste
Sie doch eigentlich nachdenklich stimmen.

Natürlich muss man auch sehen, dass die von Ihnen
vorgeschlagenen Regelungen aus datenschutzrechtlicher
Sicht unverhältnismäßig und bedenklich sind. Sie ver-
stoßen nach meinem Dafürhalten gegen das verfas-
sungsrechtlich garantierte Recht auf informationelle
Selbstbestimmung. Die Bundesregierung folgt daher ganz
eindeutig dem Votum der Ausschüsse und lehnt diesen
Gesetzentwurf ab.

Entschieden lehnen wir auch insbesondere das vorge-
schlagene Gesetz über die Einrichtung einer so genannten
Warndatei ab. Die Einrichtung dieser Datei ist nach un-
serem Dafürhalten nicht erforderlich. Es steht außer
Frage, dass alles getan werden muss, um im Interesse der
Bekämpfung der illegalen Einreise Visaerschleichungen
zu verhindern. Dazu ist es auch wichtig, dass Visa ertei-
lende Stellen Informationen über ver- oder gefälschte Do-
kumente oder Erkenntnisse über international organisierte
Schleuserorganisationen austauschen. Der Aufbau eines
zentralen Registers in der von Ihnen vorgeschlagenen
Größenordnung ist für diese Zwecke nicht notwendig und
auch nicht geeignet.

Datenschutzrechtlich bedenklich ist insbesondere die
große Anzahl der Anlässe, die zu einer Datenspeicherung
in der von Ihnen vorgeschlagenen Warndatei führen soll.
So beabsichtigt die CDU/CSU zum Beispiel auch, Daten
über Personen zu speichern – da sollten Sie vielleicht ein-
mal zuhören, Herr Marschewski –,


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Ich höre ja zu!)


die Verpflichtungserklärungen nach § 84 Ausländergesetz
abgegeben haben, ohne zu wissen, dass die dadurch be-
günstigten Personen im Visaverfahren ge- oder ver-
fälschte Dokumente vorgelegt oder nach ihrer Einreise ei-
nen Asylantrag gestellt haben. Ich kann nicht nachvoll-
ziehen, warum ein gutgläubig handelnder Personenkreis
für das Verhalten eines eingeladenen Ausländers verant-
wortlich gemacht und mit dem Makel der Aufnahme sei-
ner Daten in diese Datei versehen werden soll.

Der große Kreis der zugriffsberechtigten Stellen, da-
runter Polizeivollzugs- und Verfassungsschutzbehörden,
ist ebenfalls datenschutzrechtlich mehr als fragwürdig.

Aber auch, meine Damen und Herren, die Vorschläge
zur Änderung des AZR-Gesetzes verstoßen gegen das in-
formationelle Selbstbestimmungsrecht und können von
der Bundesregierung nicht mitgetragen werden. So sieht
der Entwurf zum Beispiel die Schaffung einer Rechts-
grundlage für die Übermittlung von Daten aus dem Aus-
länderzentralregister an die Staatsangehörigkeitsdatei
vor, obwohl bis zum heutigen Tag für die Staatsan-
gehörigkeitsdatei keine Rechtsgrundlage geschaffen
wurde und der Gesetzgeber noch nicht entschieden hat, ob
diese Datei überhaupt fortgeführt werden darf.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Armutszeugnis!)


Die Ablehnung bedeutet aber nicht – das sage ich auch
ganz deutlich –, dass sich die Bundesregierung gegen jeg-
liche Änderung des AZR-Gesetzes ausspricht. So gibt es
für uns zwei Punkte, die wir gerne diskutieren. Dies be-
trifft die Zugriffsmöglichkeiten von Polizei und Sozial-
behörden.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aber nicht nur diskutieren, handeln!)


Allerdings sollten wir uns vor übereilten und pauschalen
gesetzlichen Änderungen hüten und zunächst einmal auf
die Erfahrungen der Praxis zurückgreifen. Meine Damen
und Herren, wenn Sie beispielsweise die Ergebnisse, Ihre
Gespräche aus der so genannten Praxis, wiedergeben, so
findet man einen eindeutigen Dissens. Es ist in der Tat zu-
erst die Frage zu stellen, ob eine solche Maßnahme not-
wendig ist oder nicht. Wir werden dies in der Praxis ge-
nau beobachten und nur in den Fällen, in denen tatsäch-
lich festgestellt wird, dass die vorhandenen Instrumente
zur Bekämpfung der illegalen Einreise und des Sozialleis-
tungsmissbrauchs nicht ausreichen, eventuelle Möglich-
keiten der Änderungen in Betracht ziehen.

Ich denke, das ist eine gute und eine richtige Vorge-
hensweise. Wir sind zum Gespräch und zum Dialog be-
reit. Aber Schnellschüsse, die nicht begründbar sind,




Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper

9539


(C)



(D)



(A)



(B)


werden wir nicht machen. Im Übrigen ist unsere Ableh-
nung bekannt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410208600
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Gesetzes
über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung ei-
ner Warndatei auf Drucksache 14/1662. Der Innenaus-
schuss empfiehlt auf Drucksache 14/2745, den Gesetz-
entwurf abzulehnen.

Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/1662 abstimmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU abge-
lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 f auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den
Übereinkommen vom 19. Dezember 1996
über den Beitritt des Königreichs Däne-
mark, der Republik Finnland und des
Königreichs Schweden zum Schengener
Durchführungsübereinkommen und zu
dem Übereinkommen vom 18. Mai 1999
über die Assoziierung der Republik Island
und des Königreichs Norwegen
– Drucksache 14/3247 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Investitionszulagengesetzes
1999
– Drucksache 14/3273 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Klaus Grehn, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi
Knake-Werner und der Fraktion der PDS ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Dritten Buches Sozialge-


(Viertes SGB III-Änderungsgesetz – 4. SGB III-ÄndG)

– Drucksache 14/3044 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva-
Maria Bulling-Schröter, Rosel Neuhäuser,
Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS
Ressourcenverbrauch der Bundesrepublik
Deutschland statistisch besser abbilden
– Drucksache 14/2654 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr.
Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Übergangsregelungen bei der Einführung
des Kapitalgesellschaften- und Co-Richt-
linie-Gesetzes
– Drucksache 14/3078 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Zeitweilige Aussetzung der Möglichkeit zur
Erhöhung der Nutzungsentgelte
– Drucksache 14/3121 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3078 soll zu-
sätzlich an den Finanzausschuss überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 d auf. Es
handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu de-
nen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 22 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. August
1998 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und den Vereinigten Mexikanischen Staa-




Parl. StaatssekretärFritz Rudolf Körper
9540


(C)



(D)



(A)



(B)


ten über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 14/2422 –

(Erste Beratung 84. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)

– Drucksache 14/3129 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt auf Drucksache 14/3129, den Gesetzentwurf unver-
ändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei
Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. November
1998 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und Antigua und Barbuda über die Förde-
rung und den gegenseitigen Schutz von Kapi-
talanlagen
– Drucksache 14/2423 –

(Erste Beratung 84. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)

– Drucksache 14/3130 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt auf Drucksache 14/3130, den Gesetzentwurf unver-
ändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetzentwurf
ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dietrich
Austermann, Otto Bernhardt, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der CDU/CSU
Wirtschaftlicher Ausgleich und Übergangsre-
gelung für Duty free
– Drucksachen 14/1206, 14/2103 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/1206 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlus-
sempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-

logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Gunnar Uldall, Kurt-Dieter Grill, Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Vorlage des Berichts zum Stromeinspeisungs-
gesetz
– Drucksachen 14/2239, 14/2837 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Kurt-Dieter Grill

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/2239 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmigung zum
Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnah-
mebeschlüsse erweitert werden. Erhebt sich dagegen Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gericht-
licher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebe-
schlüsse
– Drucksache 14/3338 –

Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zur Erhöhung
der Sicherheit im Internet vor dem Hintergrund
der Erfahrungen mit dem „I love you“-Virus

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-
Fraktion hat die Kollegin Ute Vogt.


Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1410208700
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Themas der
Aktuellen Stunde haben wir wieder einmal mehr Grund,
froh zu sein, dass es eine neue Bundesregierung gibt;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn wir haben einen Innenminister


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: I love you!)





Vizepräsidentin Petra Bläss

9541


(C)



(D)



(A)



(B)


– wenn Sie ihn lieben, umso schöner –, der auch in Bezug
auf die Informationstechnik auf der Höhe der Zeit ist, und
das, obwohl er selbst nicht zu der Generation gehört, von
der man sagen könnte, sie sei mit Computern groß ge-
worden. Aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat sich
der heutige Innenminister direkt nach seiner Amtsüber-
nahme dem Thema der Informationstechnik angenommen
und hat das, was im Bundestag lange vorbereitet wurde
und Ihnen auch schon aufgrund der Arbeit der Enquete-
Kommission in der letzten Legislaturperiode hätte be-
kannt sein können, angepackt und in die Praxis umgesetzt.

Wir haben einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, der
sich sehen lassen kann. Die heutige Aktuelle Stunde soll
auch dazu dienen, diesen Katalog der Öffentlichkeit aus
aktuellem Anlass in Erinnerung zu rufen und auf ihn
aufmerksam zu machen.

Wir haben das Paket mit Sofortmaßnahmen für ein
sicheres Internet verabschiedet, das den einzelnen Bürge-
rinnen und Bürgern, die das Internet benutzen, nicht nur
die Anwendung des Internets erleichtert, sondern auch
Schutz vor schädlichen Programmen durch Virenscanner,
durch Einstellungen in Webbrowsern und Software-
Firewalls ermöglichen wird.

Es gibt für Netzvermittler die Möglichkeit, dass bei
den Servicebetreibern ein Notfallplan entwickelt und eta-
bliert wird. Wir können Maßnahmen ergreifen, die ver-
hindern, dass gefälschte Adressen ankommen können.
Zum Beispiel ist die Technik für Paketfilter vorhanden;
sie müssen lediglich entsprechend eingesetzt werden.
Diejenigen, die ihre Seiten selbst ins Netz stellen, können
ihre Dateien täglich auf Viren und Angriffsprogramme hin
überprüfen.

Wir halten es für dringend notwendig, dass wir uns in
dieser Frage gemeinsam an die Öffentlichkeit wenden.
Wenn Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind, dann wer-
den Sie feststellen, dass gerade im Mittelstand mit dem
Thema „Sicherheit im Netz“ häufig sehr sorglos umge-
gangen wird und dass viele schon jetzt mögliche Sicher-
heitsanwendungen nicht genutzt werden, sodass es unsere
Aufgabe auch ist, auf diesem Gebiet Sensibilisierung her-
zustellen – etwas, was Sie in Ihrer Regierungszeit ver-
säumt haben.

An diese Aufgabe müssen wir alle zusammen herange-
hen. Es hilft nicht, wenn nur die Bundesregierung und nur
die Abgeordneten der Regierungskoalition dafür werben;
vielmehr brauchen wir den Einsatz des gesamten Parla-
ments. Wir müssen Öffentlichkeit herstellen, damit auch
private Anwender um die Gefahren wissen, in die sie sich
begeben, wenn sie sich im Internet bewegen und wenn sie
Angriffen wie den zuletzt durchgeführten begegnen wol-
len.

Wir haben erlebt, dass es vermutlich ein Einzelner ge-
schafft hat, innerhalb von nur 72 Stunden einen Schaden
von über 10 Milliarden US-Dollar anzurichten. Von der
Aktion eines Einzelnen sind etwa 45 Millionen Computer
betroffen; deshalb ist es notwendig, dass wir dieses
Thema sehr viel ernster nehmen, als Sie es in der Vergan-
genheit getan haben. Wie gesagt, wir haben von Anfang
an alles dafür getan. Der Maßnahmenkatalog musste

überhaupt erst entwickelt werden, weil Ihr Innenminister
leider das ignoriert hat, was zum Teil auch Sie in der En-
quete-Kommission vertreten haben. Ihm fehlte mögli-
cherweise der Bezug zu dem Medium; das muss man ver-
stehen.

Ich bin dafür – ich hoffe, dass auch Sie das zum Aus-
druck bringen –, dass wir dieses Thema nicht klein reden.
Wir sollten die vorhandenen Anstrengungen, Erfolge und
Hilfestellungen nicht zerreden; stattdessen sollten auch
Sie in dieser Debatte die Gelegenheit nutzen, die Bevöl-
kerung zu sensibilisieren und aufzuklären. Sie sollten vor
allem die Größe haben, die Leistungen der Bundesregie-
rung anzuerkennen. Hören Sie auf, an diesem Bereich
herumzumäkeln!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Mir kommen fast die Tränen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410208800
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Sylvia Bonitz.


Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1410208900
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ob „Melissa“ im
letzten Jahr, die Hackerangriffe auf Internetportale wie
„Yahoo“, „Amazon“ und „Ebay“ im Februar oder jetzt das
Computervirus „I love you“ – ihnen allen ist eines ge-
mein: Sie stehen für die Verwundbarkeit des Internets als
Masseninformations- und Kommunikationssystem. Im
Zeitalter von E-Mail, Online-Banking und E-Commerce
ist die vernetzte Welt anfällig für derartige Attacken. Es ist
zu erwarten, dass kriminelle Zeitgenossen ausreichend
Fantasie für immer neue und gefährlichere Viren besitzen
werden, die naturgemäß an nationalen Grenzen nicht Halt
machen.

Umso wichtiger sind ein möglichst internationaler
Rahmen und gemeinsame Standards zur globalen Gefah-
renabwehr. Auch die Bundesregierung muss ihren Beitrag
zur Verbesserung der Sicherheit in den neuen Medien leis-
ten. Sie hat ihre Hausaufgaben jedoch bislang nicht ge-
macht. Dabei wird das Ausmaß der Schäden durch Cyber-
Kriminalität in Form von Hackerangriffen, Wirtschafts-
spionage und -sabotage und durch Lücken in der
IT-Sicherheit in der System- und Prozesssteuerung von
Experten inzwischen auf dreistellige Milliardenbeträge
geschätzt.

Wer den Erfolg des Internets als zukunftsorientiertes
Medium sichern will, der steht in der Pflicht, über seine
Risiken aufzuklären, Sicherheitslücken, so weit machbar,
zu schließen und ein öffentliches Bewusstsein für diese
Problematik zu schaffen. Denn jedem muss klar sein: Eine
hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben.

Cyber-Kriminelle nutzen als Sprungbrett für ihre
Attacken nicht nur Großrechner der Industrie oder Uni-
versitätsrechner, sondern auch Tausende von Firmenrech-
nern, die inzwischen den Mittelstand ans Internet anbin-
den. Selbst ein PC daheim ist ausreichend, um die hoch
technisierte Welt lahm zu legen. Schließlich bietet der Cy-
berspace nicht nur die Anleitung zu Bombenbau und Kin-




Ute Vogt (Pforzheim)

9542


(C)



(D)



(A)



(B)


derpornos, sondern selbst das Werkzeug, um die Sicher-
heitsbarrieren des Internets zu überwinden.

Anstatt das vorhandene Expertenwissen zügig an einer
Stelle zu bündeln, befassen sich unterschiedlichste Ar-
beitsgruppen mit diesem sensiblen Thema. Aufgedeckte
Sicherheitslücken gelangen hierdurch nur scheibchen-
weise an die Öffentlichkeit. Dabei ist inzwischen bekannt,
dass sich Internetattacken im Auftrag von kriminellen Or-
ganisationen oder gar feindlichen Staaten gegen die ge-
samte zivile Infrastruktur der Republik richten könnten,
wie etwa die Energieversorgung, das Gesundheitswesen,
das Verkehrswesen oder auch die Polizei.

Nichts hat bislang die Bundesregierung veranlasst, die-
ses Wissen von sich aus an die Öffentlichkeit zu bringen
oder gar die Alarmglocken zu läuten. Stattdessen gibt In-
nenminister Schily pausenlos Verbalplacebos in Form von
Pressemittteilungen heraus, in denen seine Ideen zur Ver-
besserung der Sicherheit im Internet gemeldet werden.
Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt ein Cy-
berspace.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Realität in Deutschland sieht nämlich anders aus.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein süddeutsches Sys-
temhaus stellte fest, dass der eigene Internetrechner als
Sprungstelle für Angriffe auf andere Web-Angebote ge-
nutzt wurde. Die Firma wandte sich an das BKA und an
das Bundesamt für die Sicherheit in der Informations-
technik. Doch man fühlte sich dort nicht zuständig. Am
Ende wurde das Unternehmen an die lokalen Polizei-
dienststellen verwiesen. Was das angesichts veralteter
Ausstattung der Polizei und nur weniger Internetexperten
dort bedeutet, kann sich jeder ausmalen.

In den USA schenkt man diesem Thema in der Politik
eine weitaus größere Aufmerksamkeit als bei uns. Präsi-
dent Clinton beispielsweise hat sich nach den Inter-
netattacken vom Februar persönlich mit Experten beraten
und zu diesem Gespräch sogar einen der bekanntesten
Hacker ins Weiße Haus eingeladen. Wir in Deutschland
können uns schon glücklich schätzen, wenn sich Gerhard
Schröder, der sich in der Öffentlichkeit gern als „Online-
Kanzler“ präsentiert, immerhin jetzt beibringen lässt, wie
das Internet überhaupt funktioniert.

Randbemerkung: Wusste er das eigentlich schon, be-
vor er die Green-Card-Offensive gestartet hat?

Herr Schily hält das BKAmit seinen Experten nach ei-
genem Bekunden für „bestens geeignet für diese Auf-
gabe“. Jedenfalls steht es so in der „Welt“. Dagegen be-
zeichnet der Vorsitzende des Bundes der Kriminalbeam-
ten, Eike Bleibtreu, den Kampf im Internet als längst
verloren. Bleibtreu schätzt, dass es im gesamten Bundes-
gebiet noch nicht einmal 50 Internetfahnder gibt. Hinzu
kommt, dass in einer Spezialbehörde wie dem BSI von
den rund 360 Beschäftigten nicht einmal ein Dutzend für
das Internet zuständig ist.

Ein weiteres Beispiel für die Diskrepanz zwischen An-
spruch und Realität: Bereits vor einem Jahr kündigte das
Innenministerium eine spezielle Internetsuchmaschine

an, die es der Polizei erleichtern sollte, strafrechtlich rele-
vante Inhalte festzustellen, Beweismittel, Absender und
Adressaten zu ermitteln. Fakt ist: Bis heute ist in dieser
Hinsicht nichts realisiert.

Auch die gebildete Taskforce „Sicheres Internet“ bleibt
weit hinter den Erwartungen zurück. Die von ihr erarbei-
teten „15 goldenen Regeln“ werden selbst vom Chaos
Computer Club als „Beschwichtigung der Öffentlichkeit“
eingestuft.

Ich komme zum Schluss und frage die Bundesregie-
rung: Was konkret unternehmen Sie, um Lösungen zur
Verbesserung der Sicherheitsstandards im internationalen
Kontext zu erreichen?


(Jörg Tauss [SPD]: Die Frage stellen Sie aber früh! Aufgewacht! Guten Morgen!)


Haben Sie für das G8-Treffen in der kommenden Woche
einen konkreten Maßnahmenkatalog zur Globalisierung
der Gefahrenabwehr vorbereitet?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410209000
Frau Kollegin, ich
muss Sie an die Redezeit erinnern. Wir haben eine Aktu-
elle Stunde.


Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1410209100
Ja, ich komme zum
Schluss.

Haben Sie, Herr Minister Schily, wenn Sie sich für eine
internationale Verschärfung der Strafrechtsbestimmungen
aussprechen, dem Kanzler ein konkretes Aufgabenpaket
geschnürt, das er auf dem G8-Gipfel abarbeiten und erör-
tern soll?

Wir alle sind gefordert, auch und gerade als Politiker
das öffentliche Bewusstsein in Fragen der Informations-
und Infrastruktursicherheit zu fördern.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410209200
Frau Kollegin, ich
muss Sie nochmals daran erinnern: Wir haben eine Aktu-
elle Stunde.


Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1410209300
Das ist mein letzter Satz.
Wenn wir nicht mit vereinten Kräften und gebündeltem

Expertenwissen endlich einen Zahn zulegen, ist es mit den
Anstrengungen zur Erhöhung der Sicherheit im Internet
wie mit den Erfolgen der Regierung Schröder: Sie bleiben
virtuelle Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410209400
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Grietje
Bettin.


Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410209500
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!




Sylvia Bonitz

9543


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich freue mich, dass ich hier heute zum ersten Mal reden
darf,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Herzlich willkommen!)


und das zu einem Thema, das gerade in meiner Genera-
tion in jeder Wohngemeinschaft, auf jeder Studentenbude
und in fast jedem Jugendzimmer zu einem Stück Alltags-
kultur geworden ist. Ich spreche über den Umgang mit
dem Internet.


(Jörg Tauss [SPD]: Bei uns Alten aber auch!)

– Das mag sein.

Unweigerlich verknüpft mit dem Thema Internet ist
natürlich die Frage der Sicherheit und hier insbesondere
die Virenproblematik, über die wir in den letzten Tagen
viel gehört und gelesen haben. Die Attacke des „I love
you“-Virus hat uns deutlich vor Augen gehalten, wie we-
nig eigentlich unsere Daten im Netz geschützt sind und
wie angreifbar wir in unseren ganz persönlichen
Intimbereichen geworden sind.

Was ist eigentlich ein Virus? Kleine Programme, die
meist mit bösen Absichten per E-Mail verbreitet werden
und deren Aktivierung in der Regel an bestimmte Ereig-
nisse geknüpft oder wie hier bei diesem Virus auf unser
Liebesbedürfnis ausgerichtet sind, sind die Schattenseiten
dieser Alltagskultur. Jeden Monat kommen 150 bis 250
neue Viren auf den Markt. Die meisten sind harmlos, aber
5 Prozent der Viren sind wirklich so genannte Killerviren.

Was machen die Viren? Sie können Festplatten forma-
tieren, den Bios-Chip überschreiben oder die Systemleis-
tung bremsen. Auch können sie einzelne Anwendungen
oder Dateien löschen oder sich mittels eines E-Mail-Pro-
gramms selbstständig verbreiten.

Die Fragen, die wir uns heute hier stellen, lauten: Was
können wir national und auch international gegen diese
Gefährdung tun? Wie können wir unsere Daten vor einem
Virenangriff schützen? Was können wir den Bürgerinnen
und Bürgern empfehlen, um ihre eigenen Daten vor Ein-
griffen zu schützen? Das betrifft den gesamten Datenbe-
reich.

Eine Möglichkeit ist natürlich, den Rechner gar nicht
erst anzuschalten bzw. das Disketten- oder CD-Rom-
Laufwerk auszubauen. Letzteres wird übrigens bereits in
größeren Netzwerken praktiziert. Einen relativ wirksa-
men Schutz bieten auch so genannte Virenscanner, die
ständig im Hintergrund laufen. Dabei müssen wir aber in
Kauf nehmen, dass unsere Rechner etwas langsamer ar-
beiten. Gefordert ist aber insbesondere die Initiative aller
Nutzerinnen und Nutzer. Wir müssen in einem stärkeren
Maße kritische Distanz zu allem halten, was aus dem Netz
kommt. Jeder sollte sich als sein eigener Datenschützer,
seine eigene Datenschützerin begreifen. Wir müssen uns
auch daran gewöhnen, alle Mails zu checken und Ver-
dächtiges auch ungelesen zu löschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Jetzt kapiere auch ich es endlich!)


In den letzten Tagen wurde viel von der Einrichtung
von so genannten Firewalls gesprochen. Was bringen
diese Firewalls? Firewalls sollen ein Netzwerk vor An-
griffen von außen schützen. Als Firewall bezeichnet man
einen Rechner bzw. eine Anordnung von Rechnern, die
zwischen zwei Netzwerke geschaltet sind. Diese Rechner
werden speziell unter Sicherheitsaspekten konfiguriert
und geben nur erwünschte Verbindungen frei. Hier läuft
alles nach der Strategie: Alles, was nicht ausdrücklich er-
laubt ist, ist verboten.

Ganz besonders wichtig ist auch, das de facto Micro-
soft-Monopol endlich aufzubrechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS – Dieter Wiefelspütz [SPD]: Nieder mit den Monopolen!)


Durch die ausschließliche Verwendung eines Computer-
programms wurde eine kaum kontrollierbare Abhängig-
keit geschaffen. Bisher hat sich Microsoft geweigert, Be-
triebsgeheimnisse der oft schwer durchschaubaren Pro-
gramme preiszugeben, was sehr häufig auch die
Aufklärung behindert hat. Aus dem Bereich der Ökologie
wissen wir: Monokulturen können großen Schaden an-
richten.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aus dem Bereich der Biologie!)


Das gilt leider auch für den Computersektor. Auch hier ist
Konkurrenz gefragt. Sie sollte gefördert werden, um
Buntheit und Programmvielfalt sicherzustellen. Letztend-
lich kann nur so verhindert werden, dass ein Virus eine so
große Masse von Systemen befällt und lahm legt.

Ich teile die Auffassung von Minister Schily, der for-
dert, dass alle zivil- und strafrechtlichen Möglichkeiten
geprüft werden sollten, um die Verursacher der jüngsten
Attacke zur Verantwortung zu ziehen. Dies macht aber
internationale Abstimmung erforderlich. Um Straftaten
aufklären zu können, ist es außerdem erforderlich, dass
die Ausbildung der Strafverfolger verbessert wird. Oft
hängen diese den Hackern in Bezug auf das technische
Wissen weit hinterher.

Ich habe mit großem Interesse die Anregung der CDU-
Opposition aufgenommen, einen eigenen Bundesbeauf-
tragten für das Internet zu bestimmen.


(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Frau Böhmer war das!)


Ich frage mich aber, ob es nicht effektiver wäre, dies in die
Arbeitsbereiche des Datenschutzbeauftragten zu integrie-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber sollten wir weiter im Gespräch bleiben.

Wir sollten den „I love you“-Virus als Alarmsignal,
aber auch als Chance begreifen, um schnell und pragma-
tisch zu handeln. Hierbei muss uns klar sein, dass mit na-
tionaler Politik wenig zu bewegen ist. Es wird nicht das




Grietje Bettin
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(B)


Patentrezept gegen Virenattacken geben. Wir alle müssen
uns insbesondere im Bereich des Internet von der klassi-
schen Vorstellung vom Staat als letzter und allmächtiger
Instanz lösen. Eher wird man verschiedene Strategien auf
verschiedenen Ebenen gleichzeitig verfolgen müssen, um
wirklich sinnvollen Datenschutz zu betreiben.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410209600
Frau Kollegin Bettin,
dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich
möchte Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dazu recht herzlich beglückwünschen. Ich hoffe – ich
denke, auch hier spreche ich im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen –, dass Sie Ihre zweite Rede ohne Krücken
halten können.


(Beifall im ganzen Hause – Jörg Tauss [SPD]: Gute Besserung!)


Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Hans-
Joachim Otto.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1410209700
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wohl nie zu-
vor in der Kulturgeschichte hat es einen Liebesbrief ge-
geben, der weltweit solche Schmerzen und auch ökono-
mische Schäden angerichtet hat wie diese „I love you“
-Mails, ein Warnschuss, wenn auch mit mehr als 10 Mil-
liarden Dollar Schaden ein überaus teurer, aus dem wir
dringend und umgehend Konsequenzen ziehen müssen.
In diesem Punkt sind wir uns alle einig.

Wir müssen erkennen, dass solche kriminellen, ja ge-
radezu kriegerischen Attacken von überall auf der Welt
ausgeführt werden können. Eine Arbeitsgruppe der Bun-
desregierung hat zu Recht eine „grundsätzlich neue Situa-
tion der Unsicherheit“ analysiert, weil es im Internet „kein
geschütztes Staatsgebiet mehr gibt, das an seinen Grenzen
erfolgreich zu verteidigen wäre“. Ob allerdings, Frau Kol-
legin Vogt, die Bundesregierung angesichts dieser zutref-
fenden Analyse ihre Hausaufgaben umfassend und vor
allem rechtzeitig gemacht hat, scheint mir nicht so ganz
sicher zu sein.


(Jörg Tauss [SPD]: Die alte oder die neue Bundesregierung, Herr Otto?)


Bezeichnend ist es, dass zu dem Zeitpunkt, als Bun-
desinnenminister Schily seine Taskforce zusammenrief,
um über Gegenmaßnahmen zu beraten – das war am
4. Mai dieses Jahres um 17 Uhr; deswegen kann es nur die
neue Regierung sein, lieber Herr Tauss –,


(Jörg Tauss [SPD]: Die alte Regierung hat sich also nie damit beschäftigt!)


ein junges Privatunternehmen, nämlich Datango aus Ber-
lin, bereits einen „Webride“ gegen diesen Virus zur Ver-
fügung stellen konnte. Dieses Beispiel macht deutlich,
dass gegen diese Form der Bedrohung ein Schutz allein
vom Staat nicht zu erwarten ist. Es ist vielmehr drängen-
der und wichtiger denn je, auf eine Public Private Part-

nership zu setzen. In diesem Bereich gilt das Wort zu
Recht.

Künftig muss das Bundesinnenministerium aber auch
kompetente Warnungen von Praktikern ernster nehmen.
Ebenso wie der Virus „Melissa“ aus dem März 1999, so
ist auch der „I love you“-Virus eine Folge – in diesem
Punkt bin ich mir mit der Kollegin Bettin einig – der
Microsoft-Monostruktur. Beide Viren betrafen nur Rech-
ner mit Microsoft-Betriebssystemen und nutzten die feh-
lende Transparenz der MS-Quellcodes gnadenlos aus.

Auf diese Gefahr hatten zahlreiche Experten wie auch
die 57. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bun-
des und der Länder rechtzeitig hingewiesen, die bereits
Monate vor diesem Angriff mahnten, „nur solche Pro-
dukte einzusetzen, welche auch eine Transparenz der Ver-
fahrensabläufe gewährleisten“.


(Jörg Tauss [SPD]: Die Enquete-Kommission war das auch!)


Diese ausdrückliche Warnung war ursprünglich vom Bun-
desinnenministerium in seinem KBSt-Brief Nr. 2/2000 im
Netz veröffentlicht. Dem Vernehmen nach soll aber Frau
Staatssekretärin Zypries veranlasst haben, dass diese be-
rechtigte Warnung alsbald vom Server genommen wurde.


(Jörg Tauss [SPD]: Falsches Vernehmen!)

Wenn Herr Innenminister Schily eine Verschärfung der

deutschen Strafvorschriften gegen solche Hacker fordert,
wird dies bei potenziellen Tätern in Manila oder Tasch-
kent mit Sicherheit schlotternde Knie hervorrufen. Auch
in diesem Punkt bin ich mir mit der Kollegin Bettin einig:
Die Eigenart des globalen Netzes macht es unabdingbar,
dass Verteidigungsstrategien supranational entwickelt
werden müssen. Der „I love you“-Virus hat im Übrigen
auch die dringende Notwendigkeit einer weltweiten Inter-
netkonvention und einer verstärkten internationalen Zu-
sammenarbeit drastisch vor Augen geführt.

Die Erhöhung der Netzsicherheit ist nicht etwa ein exo-
tisches Außenseiterthema, sondern wird zu einer Schlüs-
selfrage für die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft.
Wenn deshalb der „I love you“-Virus zum Startschuss für
eine solche weltweite Internetkonvention wird, so hat er
uns ungewollt einen Liebesdienst erwiesen. Um im Bild
zu bleiben: Genauso wie bei der Aktion „Safer sex“ brau-
chen wir eine Aktion „Safer surf“, an der sich nicht nur die
Regierungen und die Wirtschaft zu beteiligen haben, son-
dern in wachsendem Maße auch die Nutzer.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber wir brauchen andere technische Lösungen!)


Denn es ist wahr: Wir brauchen technische Lösungen,
aber wir brauchen auch einen Bewusstseinswandel.

Ich werbe dafür – da bin ich mir auch einig mit meinen
Vorrednern –, dass diese Probleme natürlich auch eine Be-
teiligung und eine Vorsicht der Nutzer erfordern. Man
muss diese Briefe oder Mails nicht öffnen. Deswegen eine
Aktion „Safer surf“ über alle Parteigrenzen hinweg, über
nationale Grenzen hinweg. Das ist das Gebot der Stunde.
Wir sind bereit, hieran mitzuwirken.

Vielen Dank.




Grietje Bettin

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(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Inder auch? – Jörg Tauss [SPD]: I love you!)


– Die Inder auch.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410209800
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat die Kollegin Angela Marquardt.


Angela Marquardt (PDS):
Rede ID: ID1410209900
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als das Internet noch eine
Spielwiese war für ein paar abgedrehte Freaks, auch „Cy-
ber Punks“ genannt, kümmerte sich eigentlich kaum je-
mand um die Sicherheit der Daten im Netz.


(Jörg Tauss [SPD]: Abgeordnete!)

– Kaum jemand, Kollege Tauss. – Ob Datenmaterial au-
thentisch und Anwendungen angriffssicher waren, das
interessierte zumindest hier im Hause – natürlich bis auf
den Kollegen Tauss – kaum jemanden. Erst seitdem das
Internet nicht mehr nur als freier Kommunikations-
raum genutzt wird, sondern vor allem als elektronischer
Markt, also erst seit es ein großes kommerzielles und
wirtschaftliches Interesse gibt, sorgen sich Fachleute na-
türlich auch um die Sicherheit im Netz.

Es ist kein Zufall, dass die Experten auf diesem Gebiet
vor allem im Wirtschaftsministerium angesiedelt sind.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Der arme Herr Schily, der tut ja auch was!)


Es war auch das Wirtschaftsministerium, das sich schon
zu CDU-Zeiten, aber auch danach für die uneinge-
schränkte Verschlüsselung von Daten stark gemacht hat.
Ich unterstelle: nicht unbedingt aus demokratischem Inte-
resse an einer privaten Kommunikation, sondern natürlich
aus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der Unterneh-
men.


(Hubertus Heil [SPD]: Das ist doch auch nicht schlimm, oder?)


Der sichere Datenfluss im Internet ist schließlich die Vo-
raussetzung für die Abwicklung elektronischer Geldge-
schäfte und insofern treffen sich natürlich hier berechtigte
Interessen der Wirtschaft mit den Interessen der Bürge-
rinnen und Bürger.

Ähnlich verhält es sich mit Hacker-Angriffen, Server-
Attacken und E-Mail-Viren. Derartige Störungen beein-
trächtigen sowohl den Geschäftsverkehr als auch die
Kommunikation und den Informationsaustausch. Es ist
daher meines Erachtens richtig, wenn Maßnahmen ergrif-
fen werden, das Netz gegen solche Angriffe resistent zu
machen. Es geht dabei aber vor allem um technische Wei-
terentwicklungen auf diesem Gebiet. Es täte der deut-
schen Wirtschaft – wenn ich mir erlauben darf, das zu sa-
gen – recht gut, diese technischen Weiterentwicklungen
mit zu verfolgen.


(Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD])

Die Verfolgung der Täter ist eine andere Sache. So-

lange es Schwachpunkte und Angriffpunkte bei der Si-

cherheit im Internet geben wird, wird immer wieder ir-
gendjemand irgendwo auf dieser großen Welt versuchen,
diese Sicherheitslücken auch auszunutzen, sie aufzu-
decken. Manchmal muss man diesen Menschen nahezu
dankbar sein, weil sie genau diese Schwachpunkte im
Netz aufdecken. Ich darf daran erinnern, dass die einst-
mals bösen Buben des hier schon angesprochenen Chaos
Computer Club heute unter anderen zu den Beratern der
Bundesregierung gehören. Auch die Bundesregierung
setzt sich also damit auseinander.

Im Moment haben alle Angst vor Virenangriffen per
E-Mail. Wer häufig im Internet ist, weiß natürlich, dass es
um ein Vielfaches mehr an Virenwarnungen gibt, als es
tatsächlich Viren im Netz gibt. Der „I love you“-Virus ist
dabei natürlich eine ziemlich gefährliche und auch abso-
lute Ausnahme, die uns in den letzten Tagen sehr erschüt-
tert hat. Klar ist auch: Ob falsche oder echte Virenwar-
nung, davor muss man sich schützen. Ich hoffe, dass die
Expertinnen und Experten beim BSI gute Ideen für effek-
tive Schutzmaßnahmen entwickeln. Diese Aufgabe
kommt natürlich auch der Industrie zu.

Virenangriffe sind ein ernst zu nehmendes Problem.
Dennoch möchte ich noch zwei oder drei andere Faktoren
ansprechen, die das Vertrauen der Menschen in die Inter-
nettechnologie meines Erachtens auch – zu Recht – beein-
trächtigen, zum Beispiel die Datenrückverfolgung, die
jetzt eingesetzt wird, um den Virusverschickern auf die
Schliche zu kommen.
Für die Sicherheitsbehörden ist diese Rückverfolgung der
Datenspur natürlich hilfreich. Für den normalen Anwen-
der kommen Fragen hinsichtlich der Anonymität im Netz
auf. Es existiert eine permanente Verunsicherung. Darü-
ber hinaus sind die Verschlüsselungsprogramme heute oft
etwas für Spezialisten. Es gibt in der Gesellschaft ein ex-
trem starkes Gefälle zwischen den Menschen, die an
ihrem Rechner ohne jedes vernünftige Virenschutzpro-
gramm arbeiten, und denjenigen Sicherheitseliten, die im-
mer den aktuellsten Schutz aufbieten können. Auch gegen
dieses Gefälle muss man etwas tun.

Ein anderer Aspekt. Ich habe mich in der letzten Zeit
sehr intensiv mit dem Internet im Zusammenhang mit
Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder auch Seni-
orinnen und Senioren beschäftigt. Wenn Sie sich die
Qualifizierungsangebote auf diesem Gebiet, die so lang-
sam in Tritt kommen, ansehen, stellen Sie fest, dass viel-
fach vermittelt wird, wie man das Internet einsetzen kann,
wie man es nutzen kann, welche Chancen es bietet. Aber
eine solche Bildung vermittelt zurzeit nichts über die Ri-
siken. Darüber wird häufig nicht gesprochen. Ich denke,
dass das keine wirkliche Vermittlung von Kompetenz im
Umgang mit dem Internet ist, sondern dass es da um
gesellschaftliche Gruppen geht, die als potenzielle Kon-
sumentinnen und Konsumenten infrage kommen. Ich
glaube, dass man hier, wie es schon angesprochen worden
ist, auch viel häufiger über die Risiken sprechen muss,
statt dass nur über die Chancen und die Möglichkeiten der
Verwendung gesprochen wird.

Obwohl ich wirklich von den Partizipationsmöglich-
keiten begeistert bin, die das Internet mit sich bringt,
lehne ich zu diesem Zeitpunkt zum Beispiel Veranstaltun-




Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

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(B)


gen wie Wahlen im Internet ab. Denn diese suggerieren
eine Datensicherheit, die noch nicht vorhanden ist. Das
geht in die falsche Richtung. Man sollte über die Da-
tenunsicherheit reden. Deswegen geht es meines Erach-
tens nicht darum, ein größtmögliches Sicherheitsgefühl
zu vermitteln, sondern es geht darum, den Nutzerinnen
und Nutzern wirklich Sicherheit im Netz zu bieten.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410210000
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Hubertus Heil.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1410210100
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Marquardt, es
ist immer mein Schicksal, in solchen Debatten nach Ihnen
zu sprechen.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Ein erfreuliches Schicksal!)


– Das ist ein erfreuliches Schicksal. – Insofern erlaube ich
mir auch jetzt, zu sagen, was uns in diesem Punkt unter-
scheidet. Natürlich gibt es Risiken; das ist gar keine
Frage. Natürlich ist tatsächliche Sicherheit besser als ir-
gendein Gefühl von Sicherheit. Nur, wer ständig vor al-
lem über Risiken redet, baut gerade bei denjenigen eine
Hemmschwelle auf, diese Techniken zu nutzen, von de-
nen Sie gesprochen haben, beispielsweise auch bei klei-
nen und mittelständischen Unternehmen.

Lassen Sie mich etwas zu dem Problem sagen. Die
Zahlen sind genannt. Laut „Tagesspiegel“ – dem wir jetzt
einfach einmal vertrauen – wurde durch das „I love you“-
Virus und viele andere Viren, die sich anders nennen, ein
Schaden von bis zu 10 Milliarden US-Dollar angerichtet.
Die Frage, die wir heute zu diskutieren haben, ist: Welche
tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten haben wir als Po-
litiker? Da gebe ich Ihnen, Herr Kollege Otto, vollkom-
men Recht – das liegt nicht an meinem neoliberalen Out-
fit heute, blau-gelb,


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Bravo!)


sondern das wussten wir auch vorher schon –, dass das nur
in Kooperation mit der Wirtschaft geht – wie denn sonst? –,
natürlich auch mit der Wissenschaft und mit privater Ini-
tiative; Chaos Computer Club ist genannt worden.

Ich möchte aber drei Punkte bei den Handlungsmög-
lichkeiten in den Vordergrund stellen. Das Wichtigste ist,
dass wir uns über Prävention unterhalten. Das ist der tech-
nische Kampf, den wir gegen die Viren aufzunehmen
haben. Viren werden nie ganz auszuschließen sein. Eine
Firewall – das werden wir als Bundestagsabgeordnete bei
dem System, das wir verwenden, erleben – schafft aller-
dings nicht immer besonders viele Handlungsmöglichkei-
ten. Die Reden beispielsweise, die wir hier im Parlament
halten, kann sich jeder draußen im Lande, der die ent-
sprechende Software hat, auf seinem Rechner anschauen.
Wir können das als Abgeordnete nicht, weil wir uns diese
Software nicht auf den Rechner laden können. Das ist die
Kehrseite dieser Medaille. Aber da wird die technische

Entwicklung auf dem Markt Lösungen präsentieren, die
uns diesen Kampf erleichtern werden.

Erst in zweiter Linie – das ist auch notwendig – ist über
Strafverfolgung, über Sanktionen und gegebenenfalls
auch über die Verschärfung von Sanktionen zu sprechen.
Es geht nicht – es ist gut, dass wir diese Einschätzung
heute alle teilen – um so etwas wie einen elektronischen
Klingelstreich, sondern es geht tatsächlich um so etwas
wie elektronische Briefbomben, die wirtschaftlichen
Schaden anrichten, die vor allen Dingen in kleinen und
mittelständischen Unternehmen, welche 60 Prozent der
Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze in
Deutschland stellen, nachhaltigen Schaden anrichten.

Deshalb geht es neben Prävention und neben Strafver-
folgung auch um die Frage der Versicherung, also der
Nachsorge in dem Bereich. Ich bin froh und dankbar, dass
die Versicherungswirtschaft mittlerweile auch hier Ange-
bote parat hält. Ich appelliere an dieser Stelle aber auch an
die Wirtschaft, gerade für kleine und mittelständische Un-
ternehmen faire Konditionen auszuhandeln und die jet-
zige Situation nicht in der Form zu nutzen, angesichts des
bestehenden Problemes Leute über den Tisch zu ziehen.
Ich will das keinem unterstellen; aber ich halte das für ei-
nen wichtigen Punkt.


(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, über die Pluralität, über das

Marktgeschehen von Betriebssystemen ist an dieser Stelle
auch schon gesprochen worden. Ich unterstreiche das Ge-
sagte. Es gibt bestimmte Systeme, zum Beispiel Linux
oder Macintosh, die diese Virusprobleme nicht hatten.
Aber 90 Prozent der Rechner auf der Welt laufen auf
Microsoft- bzw. auf Windows-Basis. Das ist ganz einfach
so. Es ist nicht nur ordnungspolitisch bedenklich, welches
Maß an Konzentration es in diesem Bereich gibt – die
amerikanische Regierung hat das deutlich gemacht, sie
muss natürlich gegebenenfalls mit Mitteln des Kartell-
rechts diese Dinge regeln –, sondern es ist auch aufgrund
der Angreifbarkeit des Systems, was Viren betrifft, be-
denklich.

Nun können wir eines nicht tun, nämlich als Politiker
zu versuchen, Unternehmen zu zwingen, bestimme Be-
triebssysteme für ihre Arbeit heranzuziehen und andere
nicht. Natürlich gibt es Ansprüche im Hinblick auf Kon-
vergenz und Kompatibilität, die man politisch nicht ver-
ordnen kann, die sich vielmehr technisch ergeben. Trotz-
dem müssen wir auf die bestehende Gefahr hinweisen und
in letzter Konsequenz ordnungspolitisch intervenieren,
wenn sich ein Marktversagen, das technisch bedrohlich
ist, in diesem Bereich durch eine Monopolbildung ab-
zeichnet.

Zum Schluss: Zum Internet gehört die Offenheit,
gehört die Möglichkeit, die individuellen Freiheiten wei-
ter auszubauen. Wir haben uns in diesem Hause – zumin-
dest verbal und zunehmend auch in Regelungsform –
darauf verständigt, diesem Ganzen einen sicheren Ord-
nungsrahmen zu geben. Die Bundesregierung handelt.
Der Bundesinnenminister hat schon letztes Jahr eine ent-
sprechende Initiative ergriffen. Frau Kollegin Bonitz, ich
gestatte mir den Hinweis darauf: Das Spielchen in




Angela Marquardt

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Aktuellen Stunden – „Ihr habt noch nicht“ und unsere
Antwort darauf: „Ihr früher aber erst recht nicht“ – mag
ich eigentlich nicht. Aber wenn Sie damit beginnen, muss
ich es fortführen und sagen: Was haben Sie denn früher in
dieser Angelegenheit getan? Da gab es nur Absichtser-
klärungen. Jetzt müssen wir ein konkretes Problem lösen.
Helfen Sie uns lieber, anstatt in die Vergangenheit zu
schauen.

Wie gesagt, die Bundesregierung handelt. Die SPD-
Bundestagsfraktion bzw. die Koalitionspartner unterstüt-
zen die Bundesregierung in ihrem Bemühen. Ich denke,
nur so gelingt es, dieser Geißel im System Abhilfe zu
schaffen. Wir setzen auf Kooperation. Ich bin froh, dass
sich in diesem Hause trotz mancher Spielereien zumin-
dest in dieser Frage so etwas wie ein Konsens abzeichnet.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410210200
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Martin Mayer.


Dr. Martin Mayer (CSU):
Rede ID: ID1410210300
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Computervi-
rus „I love you“ hat verheerende Schäden angerichtet.
Jetzt geht es zum einen um die Begrenzung dieser Schä-
den. Zum anderen aber geht es um die Frage: Wie können
solche Schäden künftig vermieden werden? Vor allem
geht es um die Frage: Welches Ausmaß an Gefährdung be-
steht für die Allgemeinheit? Es geht ja nicht nur darum,
dass Einzelpersonen und Unternehmen geschädigt wor-
den sind, sondern dass für die gesamte Volkswirtschaft
und letztlich für den Staat eine Bedrohung besteht.

Seit der Debatte um das Jahr-2000-Computerproblem
weiß doch jedes Kind, wie sehr wir in all unseren All-
tagsdingen vom Computer und vom Netz abhängen und
welche außergewöhnliche Bedeutung der Sicherheit von
Informations- und Kommunikationsanlagen zukommt.
Wenn jetzt Einzeltäter mit einem Computervirus enorme
Schäden anrichten können, dann ist zu fragen, um wieviel
größer die Gefährdung ist, wenn sich organisierte Ver-
brecherbanden oder gar verbrecherische Regime dieses
Themas annehmen.

Da muss man schon die Frage stellen: Was tut eigent-
lich die Bundesregierung, um dieser umfassenden Bedro-
hung zu begegnen?


(Jörg Tauss [SPD]: Was tat die alte?)

Wo ist der strategische Ansatz? In ihrem Aktionspro-
gramm zur Informationsgesellschaft, das 140 Seiten um-
fasst, widmet sie dem Thema Sicherheit knapp vier.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber die haben es in sich!)

Der Bundesinnenminister hat den Bericht der Arbeits-
gruppe KRITIS, die meiner Erinnerung nach noch vom
früheren Bundesinnenminister Kanther eingerichtet wor-
den ist, zum Thema kritische Infrastrukturen entgegenge-
nommen. Mehr nicht! Was denkt eigentlich der Bundes-

verteidigungsminister in dieser Frage, die sehr viel mit
äußerer Sicherheit zu tun hat? Er schweigt.


(Hubertus Heil [SPD]: Aber er handelt!)

Hat er noch nicht gehört, dass sich in den USAHeerscha-
ren von Wissenschaftlern mit dem Thema Informations-
krieg befassen? Und wo ist insgesamt eine angemessene
Sicherheitsforschung? Wo ist eine grundlegende struktu-
rierte Bedrohungs- und Sicherheitsanalyse mit einer Prio-
ritätenliste?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist eine wichtige Frage!)


Als es in den 60er- und 70er-Jahren darum ging, das
große Risiko, das mit der Nutzung der Kernenergie ver-
bunden ist, in den Griff zu bekommen und zu minimieren,
wurden in Deutschland drei große Forschungseinrichtun-
gen mit Tausenden von Wissenschaftlern gegründet. Wo
gibt es Vergleichbares angesichts der großen Herausfor-
derung in der Informationstechnik? Statt sich dieses The-
mas anzunehmen, beschäftigt sich die Bundesforschungs-
ministerin mit der Zerschlagung der einzigen Organisa-
tion, die in der Lage wäre, sich eines solchen Themas
anzunehmen, nämlich der GMD.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Das ist schlicht eine Unverschämtheit, Herr Kollege!)


Sie sollte mehr darüber nachdenken, wie ein strategischer
Ansatz gefunden werden kann, den Gefahren für Compu-
ter und Netz, die letztlich den Lebensnerv unserer Gesell-
schaft bedrohen, zu begegnen.

Und wo bleiben die wirksamen Maßnahmen der Re-
gierung, um endlich zu einer Offenlegung der Quellcodes
der Software zu kommen? Der „I love you“-Virus hätte
sich möglicherweise auch bei einer freien Software ver-
breitet. Aber die Maßnahmen, dem zu begegnen, wären
wirksamer gewesen.


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.])


Es ist ja kein Zufall, dass sich dieser Virus in dem geheim
gehaltenen Outlook so verbreitet hat. Wo bleiben die Ak-
tivitäten der Bundesregierung, um beispielsweise dem of-
fenen Betriebssystem Linux zum Durchbruch zu verhel-
fen?


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Es gibt noch etwas Unglaubliches. Da beschäftigen

sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Lissabon
zwei Tage lang mit dem Weg Europas in die Informati-
onsgesellschaft und mit allgemeinen Sicherheitsfragen.
Der Herr Bundeskanzler hat darüber am 6. April im Ple-
num berichtet.


(Hubertus Heil [SPD]: Genau!)

Aber das Thema „Sicherheit von Computern und Netzen“
kommt in der Schlusserklärung der EU und in der Rede
des Bundeskanzlers nicht einmal in einem Nebensatz vor.
Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren.




Hubertus Heil
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(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil [SPD]: In Skandalen kennen Sie sich besser aus!)


Die Bundesregierung wird daher aufgefordert, dem
Thema „Schutz von Computern und Netzen vor Angriffen
von innen und außen“ endlich die notwendige Aufmerk-
samkeit zu schenken und umgehend zu handeln: Als Er-
stes muss ein verantwortlicher Minister benannt werden,
der eine umfassende Zuständigkeit hat, damit dieses
Thema nicht im Gerangel der Ressorts zerrieben wird.
Dann muss die systematische Forschung und die gene-
relle Offenlegung der Software folgen. Und schließlich
muss die Sicherheit von Computern und Netzen zu einem
europäischen Thema ersten Ranges gemacht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hubertus Heil [SPD]: Skandal!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410210400
Ich gebe dem Kolle-
gen Matthias Berninger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.


Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410210500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bisher hatte,
so finde ich, diese Debatte einen sehr guten Zug; denn wir
hatten eine sehr breite Einigkeit darüber, dass es sich so-
wohl bei diesem Virus als auch bei anderen Viren, die die
Sicherheit im Netz gefährden, um ein Problem handelt,
für das wir alle gemeinsam nach Lösungen suchen müs-
sen und bei dem wir schlecht in Schuldzuweisungen ver-
fallen können. Der Kollege Mayer ist da einen etwas an-
deren Weg gegangen. Das bedaure ich ein bisschen, zumal
er sich nach der Erledigung seiner Hausaufgaben fragen
lassen muss.

Ich halte das, was Sie zum Thema Monopolbildung
und Quellcodes und über Microsoft gesagt haben, für sehr
löblich. Nun muss man wissen, dass das Thema Microsoft
insbesondere von der Bayerischen Staatskanzlei beson-
ders nett behandelt wird. Es gibt nämlich keinen Minis-
terpräsidenten, der so am Monopolisten hängt wie Minis-
terpräsident Stoiber.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ein Gerücht!)


Das ist ein Problem, über das man hier auch einmal offen
reden muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist frei erfunden, was Sie sagen!)


Wir reden auch von der Neuordnung der Forschungs-
landschaft. Sie haben gesagt, dass die GMD zerschlagen
werden soll. Damit betreiben Sie natürlich Panikmache;
denn darum geht es gar nicht. Es geht darum, im Bereich
der neuen Medien effiziente Forschungsstrukturen zu
schaffen. Durch die Zusammenlegung von Fraunhofer-
Gesellschaft und GMD erhalten wir die größte For-
schungseinrichtung im Bereich der Informationstechno-
logie in ganz Europa.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [SPD] – Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Die werden sich aber nicht mehr mit diesem Thema beschäftigen können!)


Ich halte das für einen guten Weg. Inhaltlich ist das auch
von Ihrer Fraktion bisher nicht kritisiert worden.

Herr Kollege Mayer, damit wir uns wieder vertragen:
Sie haben einen wichtigen Punkt angesprochen, nämlich
die Tagung der Staats- und Regierungschefs der EU in
Lissabon, wo mit dem Thema „E-Europe“ ein wichtiger
Schritt nach vorne erreicht worden ist. Die Staats- und Re-
gierungschefs haben nämlich erklärt, dass ihnen dies sehr
wichtig ist. Dabei war vor allen Dingen von E-Commerce
und Zugang die Rede;


(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ CSU]: Aber nicht von Sicherheit!)


die Sicherheit spielte für alle Beteiligten nicht die ent-
scheidende Rolle.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja das Schlimme! Das muss geändert werden!)


Der Kollege Otto hat es angesprochen: Der „I love
you“-Virus kann eine heilsame Funktion haben, nämlich
insoweit, als man nicht in Euphorie verfällt, sondern das
Thema Sicherheit ganz weit nach vorn schiebt und nicht
nur krude über Inhalte redet. Wenn bisher über Sicherheit
geredet wurde, wurde vor allem darüber geredet, welche
Inhalte im Netz verbreitet werden; es wurde weniger über
diese Form der systematischen Gefährdung gesprochen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Wahrheit!)


Ich denke, das wird sich ändern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher halten sich

solche Gefährdungen noch in einem einigermaßen erträg-
lichen Rahmen. Die Zahl, die für den Schaden genannt
wurde, 10 Milliarden DM, hängt natürlich auch damit zu-
sammen, dass in den wirtschaftlichen Schaden sehr viele
das Wachstum bremsende Effekte eingerechnet werden.
Ich bin froh darüber, dass die Schäden bisher nicht das
Ausmaß zum Beispiel von Naturkatastrophen haben, bei
denen die Leute ihre Häuser und Ähnliches verlieren. Das
kann zumindest ein wenig beruhigen. Insofern sollte man
die Schadenssummen auch relativieren.

Nur, wir sind auf dem Weg dorthin, dass die Medien
miteinander verschmelzen. UMTS ist ein wichtiges Stich-
wort. Alle reden davon, dass die Bundesrepublik Deutsch-
land dadurch bald sehr viel Geld einnehmen kann.


(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ CSU]: Das dauert noch ein bisschen!)


UMTS steht auch dafür, dass die Medien, verschiedene
Anwendungen, etwa Internet und Handy – wahrschein-
lich wird sogar bald der Kühlschrank versuchen, mit mir
zu sprechen –, miteinander verschmelzen werden. In dem
Moment, in dem das passiert, werden die Anfälligkeit und
das Risiko erst richtig groß. Das unterstreicht eines: Die




Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn)


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(C)



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(B)


Politik hat mehrere Aufgaben. Die Politik hat die Auf-
gabe, den Zugang zu sichern.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Und für Akzeptanz zu sorgen!)


Hier tut die Bundesregierung sehr viel; auch die Telekom
und andere Unternehmen sind bereit, hier etwas zu tun.
Ich bin der Meinung, dass man nicht auf einen Monopo-
listen setzen darf, sondern auch den anderen eine Chance
geben sollte.

Wir entwickeln Programme und Lernsoftware, damit
die Menschen lernen, mit dieser Technologie umzugehen.
Dort stecken wir auch sehr viel Geld hinein. Das heißt,
beim Thema Zugang sind wir aktiv.

Der zweite Punkt ist die Sicherheit. Der Innenminister
kann ebenso wenig wie irgendein anderes Kabinettsmit-
glied sagen: „Ich kann allein für die Sicherheit sorgen“,
sondern das ist ein globales Problem. Die Europäer müs-
sen sich gemeinsam hinsetzen


(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Sie tun es nicht!)


und dürfen nicht den Amerikanern allein die Form der Si-
cherheitsphilosophie und der Standardsetzung überlassen.
Denn anhand der Frage, welche Wege wir bei der Sicher-
heit gehen, entscheidet sich auch, wie das Internet von
morgen aussehen wird. Ich erwarte hier, dass die Europäer
mehr machen. In Lissabon ist in dieser Frage zu wenig ge-
schehen; das muss man einfach auch einmal sagen.


(Zustimmung bei der CDU/CSU– Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Da sind wir uns einig!)


Das kann man aber nicht einer Regierung vorwerfen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ein dritter Punkt betrifft die Vielfalt. Sie alle haben

eine Einladung zu einer Tagung bekommen, auf der dann
wieder der Monopolist in diesem Fall mit den Beamten
gemeinsam über das Thema Neue Medien diskutiert,
während die anderen Anbieter in den Hintergrund geraten.
Ich wünsche mir, dass gerade die öffentliche Hand mit
gutem Beispiel vorangeht. Wir haben andere Möglichkei-
ten; wir können auf andere Produkte setzen. Das sollten
wir tun. Die Bundesregierung sollte auf europäischer
Ebene darauf drängen, dass Microsoft aus den gleichen
Gründen wie in den Vereinigten Staaten kartellrechtlich
behandelt wird. Das ist dringend nötig, wenn man für
Vielfalt sorgen will.

Bei all diesen Themen können wir, denke ich, im Kon-
sens vorankommen; wir wissen, dass da etwas passieren
muss.

Zu guter Letzt: Es gibt keine totale Sicherheit im In-
ternet. Der Staat kann unheimlich viel tun und er sollte
auch etwas tun. Aber diejenigen, die die E-Mails aufma-
chen, tragen die Hauptverantwortung. Es hat jemand, aus
meiner Sicht zu Recht, gesagt: Wenn man eine E-Mail
aufmacht, die unbekannt ist, dann ist das genauso, als
würde man ein dreckiges Bonbon von der Straße aufhe-

ben und weiter lutschen. Nur, das Tückische ist eben, dass
oft der Absender nicht unbekannt ist, sondern sich mit
dem Absender irgendein bekannter Name verbindet. Die
Menschen selber müssen die Verantwortung übernehmen.
Hier gilt es, Aufklärung voranzutreiben, aber hier gilt es
vor allem, die Unternehmen zu verpflichten, dass sie in
ihren Programmen entsprechende Warnroutinen ein-
bauen. Auch hier, denke ich, muss einiges getan werden.

Insgesamt glaube ich wie der Kollege Otto, dass der
„I love you“-Virus letzten Endes heilsam sein kann und
das Immunsystem des Internet am Ende durch die Ge-
genmaßnahmen gestärkt wird, wenn sie schnell und kon-
zertiert auf allen Ebenen ergriffen werden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410210600
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun der Kollege Dieter Wiefelspütz.


Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1410210700
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße sehr, dass wir
heute die Gelegenheit haben, über ein sehr ernsthaftes
Problem zu reden. Ich habe mich gerade noch einmal mit
unserem Oberexperten, Herrn Tauss, verständigt, ob denn
die durch das neuerliche Virus entstandene Schadens-
summe von 10 Milliarden DM realistisch ist. Ich denke,
darüber sollte man auch gar nicht streiten. Vielmehr muss
man erkennen, dass es sich um eine ganz ernsthafte He-
rausforderung handelt.

Ich hoffe, wir begreifen alle diese Zeichen an der
Wand. Das Internet ist eine Innovation, deren Stellenwert
wir in seiner ganzen Tragweite eigentlich nicht wirklich
ermessen können. Vergleiche hinken immer; aber es ist si-
cherlich so wichtig wie vor 500 Jahren die Einführung der
Buchdruckerkunst – eine völlig neue Kulturtechnik, die
uns alle ergreift und menschlich verändert, ein riesiger
Beitrag zur Ökonomie, ein Geschäft mit Folgen, die wir
alle noch gar nicht richtig abschätzen können.

Es gibt große Chancen, aber auch Risiken. Wir reden
heute weniger über die Chancen als vielmehr über die Ri-
siken. Die sind sehr ernst. Ich denke, wir sollten diesen
„I love you“-Virus als letzte Mahnung begreifen, dass wir
nicht tatenlos zusehen dürfen, was sich neben den Chan-
cen an Risiken entwickelt.

Wir werden heute auch den einen oder anderen Beitrag
zu Computerkriminalität, zu Internetkriminalität hören.
Ich will das überhaupt nicht gering schätzen, was hier an
Straftaten begangen worden ist, und bin natürlich ent-
schieden dafür, dass wir Lücken – insbesondere im inter-
nationalen Strafrecht – schließen. Ich glaube, auf nationa-
ler Ebene ist das im Wesentlichen alles in Ordnung; da ha-
ben wir keinen Nachholbedarf.

Aber ich muss Ihnen ganz freimütig sagen: Es interes-
siert mich nicht so sehr – ich bitte, das nicht misszuver-
stehen –, in Manila oder sonst wo auf der Welt jemanden
als Hacker zu entlarven und ihn zu bestrafen, auch nicht




Matthias Berninger
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(C)



(D)



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(B)


bei einer Schadenssumme von 10 Milliarden DM. Mich
interessiert, dass Sicherheit im Netz geschaffen wird,


(Beifall bei der SPD)

dass der Verbraucher nachhaltig geschützt ist. Da will ich
Ihnen deutlich sagen: Die Bundesregierung verdient Un-
terstützung dabei, diesen Weg konsequent weiter zu be-
schreiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Otto, hören Sie mir bitte zu!

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Ich höre Ihnen zu! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Er will erst einmal sehen, wie der Weg ist!)


Es geht doch letzten Endes darum, dass nicht der Staat
diese Sicherheit zu schaffen hat,


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Unstreitig!)


sondern das eine Bringschuld der Wirtschaft ist. Sie muss
das Netz sicher machen.


(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Nicht allein!)


– Sicherlich, Herr Mayer, nicht ganz alleine. Insofern gibt
es die politische Verantwortung. Aber die Bundesregie-
rung ist dieser Herausforderung nicht nur gewachsen,
sondern kommt ihr auch nach.

Trotzdem: Der Akzent liegt auf der Wirtschaft. Dieje-
nigen, die mit dem Internet große Geschäfte machen – das
sollen sie ja auch tun –, sollen bitte auch die Technik, die
sie anwenden und einbringen, sicher machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer ein Auto in Verkehr bringt, muss es sicher machen.
Das richtet sich nicht an die Justizministerin und den In-
nenminister, sondern an den Produzenten.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber der Staat stellt die Standards auf!)


Ich will auch überhaupt niemanden vorführen. Ich möchte,
Herr Otto, dass dort Geschäfte gemacht werden. – Ich rede
gerade mit Ihnen, Herr Otto.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Bin ich die Wirtschaft?)


– Ich kommuniziere mit Ihnen und anderen.
Es geht darum zu sehen: Wer muss wo Verantwortung

wahrnehmen? Ich sage: Es gibt eine Bringschuld der
Wirtschaft. Das ist keine Frage von neuen oder schärferen
Gesetzen. Ich bitte darum, dass die Bundesregierung wei-
ter den Weg verfolgt, sich mit der Wirtschaft zusammen-
zusetzen. Nach Möglichkeit sollte dies freiwillig gesche-
hen; wenn es nicht geht, national wie international auch
per Gesetz. Aber ich hoffe, es geht im Rahmen von Ver-
einbarungen.

Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen, das sehr
kühn klingen mag – Vergleiche hinken immer; ich bitte
also um Nachsicht, wenn sich das nicht gleich auf Anhieb

erschließt –: Wir haben vor Jahren besonders große Pro-
bleme mit dem Autodiebstahl gehabt. Was haben wir ge-
macht? Aus der Opposition heraus haben wir unter ande-
rem Wegfahrsperren veranlasst


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Kanther hat das gemacht!)


– die Koalition hat das mit aufgegriffen – und die Indu-
strie hat das trotz einiger Probleme umgesetzt. So sind
technologische Entwicklungen ermöglicht worden. Wenn
ich heute mit meinem Auto losfahren will, tippe ich vier
Zahlen ein und dann – aber auch erst dann – geht es los.

Anhand dieses simplen Beispiels müssen wir uns doch
einmal überlegen, wie auch im Bereich der Computer-
technik, der Internetwirtschaft die Systeme sicher werden
können. Die Wirtschaft muss ein sicheres Betriebssystem
anbieten. Es wird niemals 150-prozentige Sicherheit ge-
ben. Aber es gibt eine 98-prozentige Sicherheit. Das muss
die Wirtschaft leisten, insbesondere diejenigen – wir wis-
sen alle worum es geht –, die einen großen Marktanteil ha-
ben. Diese müssen in Zukunft wesentlich stärker auf Si-
cherheitsstandards achten. Es geht nicht in erster Linie um
Fragen von Strafbarkeit, sondern es wird in Zukunft da-
rum gehen, dass ganze Teilbereiche unseres gesellschaft-
lichen Lebens durch solche Attacken auf Rechner mögli-
cherweise lahm gelegt werden können.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410210800
Herr Kollege
Wiefelspütz, ich muss Sie an die Zeit erinnern.


Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1410210900
Ich komme sofort zum
Ende. – Es geht darum, die Wirtschaft aufzufordern –
durchaus mit einer gewissen Führung der Politik –, die
Sicherheit des internationalen Datennetzes zu gewähr-
leisten. Das ist eine Bringschuld der Wirtschaft. Diese
einzufordern werden wir nicht müde werden. Das sind
leistbare Dinge, übrigens auch im Interesse der Wirtschaft
und durchaus mit der Möglichkeit verbunden, weitere
Technologien zu entwickeln. Das ist eine Riesenchance
im Interesse aller Verbraucher und aller Bürger.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410211000
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht der Kollege Elmar Müller.


Elmar Müller (CDU):
Rede ID: ID1410211100
Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In meinem Alter bekommt
man nicht mehr viele Liebesbriefe.


(Jörg Tauss [SPD]: Das geht uns allen gleich!)

Ich bin auch nicht sicher, was ich gemacht hätte, wenn ich
eine E-Mail mit dieser Überschrift erhalten hätte.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja, was denn?)

Wir unterhalten uns heute über Viren im Internet. Wir tun
aber gut daran, hier die ganze Bandbreite der Möglich-
keiten, die wir durch das Internet erreichen können, zu
betrachten. Es geht dort nicht nur um Viren.




DieterWiefelspütz

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(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben Gelegenheit gehabt, uns über Hackertätig-
keiten zu unterhalten. Wir sehen und erleben die Mög-
lichkeiten, Systeme, vor allem im Zusammenhang mit der
Spionage, auch im sozialen Bereich zu verändern. Man
stelle sich vor, was passieren würde, wenn Hacker ein So-
zialsystem in der Bundesrepublik Deutschland manipu-
lieren würden. Dies wäre möglich und kann nicht ausge-
schlossen werden. Man stelle sich vor, was passieren
würde, wenn Verkehrssysteme manipuliert würden, wo-
durch der Deutsche nicht mehr die Möglichkeit hätte, auf
kontrollierte und geordnete Ampelfunktionen zurückzu-
greifen. All diese Dinge müssen betrachtet werden. Kei-
ner hat die Möglichkeit, Schuldzuweisungen zu verteilen.

Das ist eine Entwicklung, bei der wir in der Tat alle ge-
fordert sind, vor allem die Regierung.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [SPD])

Frau Vogt hat vorhin gesagt, von der alten Regierung
seien diese Fragen vernachlässigt worden. Ich erlebe je-
doch, dass die Ministerien gerade jetzt besonders aktiv
werden. Der Wirtschaftsminister lädt am Montag aus die-
sem Anlass Verbände und Wissenschaft ein und auch der
Innenminister ist in dieser Sache tätig. Wenn das Problem
im Oktober 1998 schon erkannt worden wäre, hätte man
die Diskussion damals geführt. Aber es benötigt diesen
konkreten Anlass. Sicherlich kann man nicht behaupten,
dass die Probleme durch die Mikroelektronik und die glo-
bale Vernetzung geringer geworden wären. Sie weiten
sich vielmehr im Grunde genommen jeden Tag aus und
keiner ist vor diesen Angriffen gefeit.

Die klassischen Verteidigungsmethoden der Auf-
klärung und Frühwarnung funktionieren in diesem Sys-
tem nicht. Der Vorwurf, den ich der Regierung mache –
das ist etwas, was die damals zuständigen Postpolitiker,
auf Ihrer Seite der Kollege Bury, 1998 erkannt und sich
auch gegenseitig versprochen haben –, besteht darin, dass
sie damals gesagt hat: Es muss gelingen, die Verant-
wortlichkeiten in diesem Bereich zusammenzuführen,
egal, welche Regierung nach dem September 1998 tätig
ist. Es hat sich aber leider nichts geändert. Es gibt Zu-
ständigkeiten im Innen-, Wirtschafts-, Verkehrs- und
Wissenschaftsministerium. Es ist eine wichtige Aufgabe,
die Dinge mehr zusammenzuführen und zu bündeln sowie
die Verantwortlichkeiten nicht durch dezentrale Zustän-
digkeiten, sondern durch eine gebündelte Zuständigkeit
zu ordnen. Die Gefahren werden, wie wir gesehen haben,
immer größer.
Die Aufgaben müssen also gebündelt werden.

Welcher politischer Handlungsbedarf besteht nun? Der
Kollege Mayer und meine Kollegin Bonitz haben schon
einiges genannt. Die politischen Rahmenbedingungen müs-
sen geschaffen werden. Man mag über Microsoft schimp-
fen, wie man will, aber am Ende muss schon als eines der
Ziele genannt werden, dass wir gewisse Standards erhal-
ten. Dazu haben wir auch auf europäischer Ebene durch-
aus Möglichkeiten. Die ECI in Nizza ist eine dieser
Einrichtungen, in denen staatliche und wirtschaftliche
Organisationen seit vielen Jahren erfolgreich bei der Stan-
dardisierung zusammenarbeiten. Das zeigt, dass Standar-
disierung auch in diesem Bereich möglich ist.

Der Aufbau so genannter redundanter und robuster
Teilstrukturen, die auch bestimme Bereiche des Staates,
der staatlichen Vorsorge und der staatlichen Organisation
schützen, muss möglich sein. Es muss möglich sein, dass
bestimmte Dinge auch im Notfall – es ist nicht ausge-
schlossen, dass ein solcher in größerem Umfang eintritt –
und anschließend funktionieren und funktionsfähig blei-
ben. So muss zum Beispiel die Integration der gesetzli-
chen Daten- und Informationssicherheit in den Schutz der
öffentlichen Energie- , Rohstoff- und Güterversorgung,
des Transports und Verkehrs sowie des Katastrophen-
schutzes geregelt sein. Diese Teilbereiche müssen notfalls
auch durch Zweitsysteme gesichert werden.

Wir brauchen ein internationales Regelungsregime.
Das wurde bereits angesprochen. Dies ist notwendig.
Dazu zählen sicherlich auch die Treffen der europäischen
Regierungschefs. Aber daran sollten alle beteiligt sein,
und zwar jeder in seinem Bereich. Am Schluss – das muss
auch noch einmal festgehalten werden; Herr Kollege
Wilhelm, Sie haben es vorhin genannt – ist dann auch je-
der Einzelne verantwortlich. Darauf muss man in diesem
Zusammenhang auch hinweisen.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber er muss auch in die Lage versetzt werden!)


– Er muss in die Lage versetzt werden. Aber er muss auch
seine eigene Verantwortung hinsichtlich der Anreize im
Internet erkennen. Er muss sich in seinem eigenen Inte-
resse in der Nutzung des Internet üben und notfalls selbst
zum Beispiel die Gefahren beim Öffnen einer E-Mail er-
kennen und diese abwehren.

Ich bedanke mich herzlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410211200
Ich gebe dem Parla-
mentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für
Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf, das Wort.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1410211300
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den 60er-Jahren hat
es einmal folgenden Satz gegeben: „Trau keinem über
30!“ Manche werden sich an diesen Satz noch erinnern.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Die sind heute alle 60!)


– Ja, da hinten erkenne ich einen.
Das Internet ist jetzt 30 Jahre alt. Am Anfang war es

sehr stark Pentagon-orientiert, und dann konzentrierte es
sich auf die Hardware. Danach kam die Phase der Soft-
ware. Dann kamen die Betriebssysteme, und jetzt kom-
men wir in eine neue Phase, die sich mit Inhalten, mit
„content“, beschäftigt. Das Internet hat sich sehr stark
verbreitet. Es ist zu einer der wichtigsten Infrastrukturen
der digitalen Ökonomie geworden. Natürlich gibt es da-
bei auch kritische Infrastrukturen. Es gibt Achillesfersen.
Es gibt Bereiche, die empfindlich sind. Es gibt in einer
solchen globalen Weltwirtschaft, in einer solchen globa-




Elmar Müller (Kirchheim)

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(C)



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(A)



(B)


len Infrastruktur vor allen Dingen auch den Bedarf – das
ist ganz klar zu erkennen –, dass die Regeln gelten, die wir
uns in einem rechtsstaatlichen historischen Prozess selber
erarbeitet haben.

Bis in die 80er-Jahre hinein gab es eine ganze Reihe
von Freaks – hier denke ich etwa an John Perry Barlow
oder andere –, die die These vertreten haben: Der Cyber-
space ist ein neues Hoheitsgebiet; darin hat der Staat
nichts zu suchen. Diese These ist natürlich grundfalsch.
Das ist völlig klar. Bei der Verbreitung und dem Einsatz
des Internets muss online das Gleiche gelten wie offline.
Deswegen sind wir dabei, auf vielen Sektoren entspre-
chende Gesetzesanpassungen vorzunehmen, Novellie-
rungen zu machen und auch neue Rahmen zu finden.
Wenn wir mit dem Netz einen globalen Infrastrukturrah-
men haben, braucht man dazu auch einen entsprechenden
Ordnungsrahmen.

Das ist übrigens der Punkt, bei dem wir – Herr Mayer
weiß das sehr genau aus der Arbeit der Enquete-Kommis-
sion – erheblich vorangekommen sind. Das muss man klar
sagen. Ich kann mich noch gut an die Diskussionen in den
letzten Jahren erinnern. Damals hieß der Innenminister
Kanther. Wir hatten einen heftigen Streit, weil Herr
Kanther auf gar keinen Fall eine Verschlüsselung erlauben
wollte und gesagt hat: Wenn Verschlüsselung, dann nur
mit der Hinterlegung des Schlüssels, denn sonst können
das auch die Kriminellen nutzen.


(Jörg Tauss [SPD]: Er wollte die Mathematik verbieten! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Da haben wir uns durchgesetzt!)


Ich meine, es gab da eine sehr interessante Diskussion,
eine sehr interessante Front. Ich habe auch damals immer
gesagt: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass irgendein
Krimineller bei Ihnen, Herr Kanther, einen Schlüssel hin-
terlegt.


(Jörg Tauss [SPD]: Das hat er nie begriffen!)

– Das hat er nicht verstanden. Das waren irgendwie alte
Antworten.


(Jörg Tauss [SPD]: Er muss es auch nicht mehr verstehen!)


Nun, das war die Zeit, als wir noch nicht wussten, dass
er sehr viel mit Liechtenstein zu tun hatte. Es war aber of-
fensichtlich so, dass die Frage nicht verstanden wurde.
Man gab alte Antworten auf neue Herausforderungen, auf
neue Probleme, und das dürfen wir nicht tun, wobei die-
jenigen, die Fachkundigen, die heute hier geredet haben,
das natürlich genau wissen. Deshalb müssen wir neue
Antworten finden.

Es gibt folgende neue Antworten:
Erstens. Wir brauchen konkrete Schritte der Umset-

zung auch im Ordnungsrahmen. Ich teile übrigens die
Auffassung von Herrn Wiefelspütz. Es ist zunächst die
Wirtschaft gefordert. Übrigens, Herr Wiefelspütz, die
Wirtschaft hat ein elementares Interesse daran, denn sie
möchte ja, dass das verbreitet wird. Deshalb ist auch im
Moment in Redmond, da, wo Microsoft zu Hause ist, die
Nervosität eindeutig am größten.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Zu Recht!)


– Ja, zu Recht, denn die wissen ganz genau, worum es
geht. Jetzt werden sie ein neues Angebot machen. Es gibt
schon ein neues Windows-Konzept, ME, an dem sie ar-
beiten.

Daran sieht man aber nur, dass das richtig ist: Die Wirt-
schaft ist gefordert, den Konsumenten, den Verbrauchern,
denjenigen, die diese Systeme nutzen, auch handhabbare
und vernünftige Systeme anzubieten. Das ist eine ganz
klare Forderung.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Zweitens. Es ist auch ganz klar, dass natürlich zu die-
ser Form von Gesellschaft, die wir Informations- oder
Wissensgesellschaft nennen, auch ein aufgeklärter Bür-
ger, ein informierter, ein medienkompetenter Bürger
gehört, der mit diesen Systemen umgehen kann. Das ist
ganz wichtig.

Wer glaubt, dass Informationsgesellschaft schon auto-
matisch mit informierter Gesellschaft gleichzusetzen ist,
der irrt sich. Wir brauchen schon Medienkompetenz; wir
brauchen – übrigens noch darüber hinausgehend – auch
so etwas wie eine umfassende Bildung, um mit solchen
Medien umgehen zu können, denn wir leiden ja nicht un-
ter dem schwierigen Problem des Zugangs zu Informatio-
nen. Das war früher einmal ein Problem; heute leiden wir
darunter, dass es einen Überfluss an Informationen gibt,
weshalb wir die Informationen einordnen und bewerten
müssen.

Drittens. Es ist klar, wir brauchen einen Ordnungsrah-
men, der den Staat handlungsfähig macht.

Wir haben übrigens in unserer Regierungszeit, unmit-
telbar nach deren Beginn, in einem schwierigen Diskus-
sionsprozess für Europa eine digitale Signaturrichtlinie
zustande gebracht, eine wichtige Voraussetzung für den
Erfolg des Internet. Das war nicht einfach, weil die Süd-
länder andere Ordnungsvorstellungen haben als die Skan-
dinavier, die sehr angelsächsisch orientiert und auch sehr
viel weiter waren. Wir haben einen Kompromiss für eine
digitale Signatur in Europa insgesamt gefunden.

Wir haben einen sehr schnellen Prozess mit dem Bun-
desinnenminister organisiert, um Eckpunkte für Krypto-
graphie zu verabschieden. Wenige Monate nach dem Re-
gierungsantritt ist das ins Kabinett eingebracht worden.


(Jörg Tauss [SPD]: Mit Argumenten!)

Damit ist klar geworden, dass wir nicht den Weg der Ame-
rikaner – und, wie ich eben geschildert habe, des alten In-
nenministers – gehen, sondern wir wollten Spielregeln ha-
ben, wir wollten Kryptographie zulassen, und das hat die
Bundesregierung unmittelbar danach gemacht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: In Fortsetzung zur alten Bundesregierung! In Fortsetzung der Linie, die vereinbart war!)





Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf

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(C)



(D)



(A)



(B)


– Ja, es gab diese Eckpunkte noch nicht, Herr Otto.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Ohne Hinterlegung von Schlüsseln und so weiter)


– Nein, nein, das war genau der kontroverse Punkt. Herr
Otto, das war der Punkt, den ich eben geschildert habe.

Es gab in der alten Koalition so unterschiedliche Auf-
fassungen, dass man sich gelähmt und nicht gehandelt hat.
Es gab Wirtschaftspolitiker, die unsere Auffassung teilten.
Die gab es, aber sie haben sich nicht durchsetzen können.
Wir haben uns jetzt durchgesetzt, wir haben jetzt konkrete
Entscheidungen getroffen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Kohl hat immer gehandelt!)


– Kohl hat immer gehandelt, höre ich jetzt gerade. Wissen
Sie, ich denke jetzt immer an Frau Merkel. Sie hat ja ein
schweres Amt übernommen, und mir kommt das so vor,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber nicht ablenken, Herr Mosdorf!)


als wenn Frau Merkel – sie ist jetzt neue Vorsitzende –,
die jetzt auch pausenlos Love-Letters aus der CDU be-
kommt und von allen angestrahlt wird,


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das ärgert Sie ein bisschen!)


damit gleichzeitig wie durch diesen „I love you“-Virus er-
stickt wird. Ich weiß gar nicht, wie sie da herauskommen
will. Das wird eine interessante Frage sein,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Überlassen Sie das ruhig mal Frau Merkel! Die schafft das schon!)


wie die neue Vorsitzende damit umgehen will.
Es gibt also den dritten Punkt, liebe Kolleginnen und

Kollegen, und das ist der Ordnungsrahmen, den wir natür-
lich auch brauchen.


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Es ist ein „I love you“-Virus in der CDU ausgebrochen,
und jeder, der das aufmacht, erstickt dann daran.

Wir haben da natürlich auch konkrete Schritte un-
ternommen. Wir haben übrigens – Herr Mayer weiß das
noch – in der Enquete-Kommission auch über die Frage
der Internetkompetenz der Strafverfolgungsbehörden ge-
redet. Auch hier gibt es in den Ländern – das sage ich ganz
klar dazu –, aber auch beim Bund große Anstrengungen,
überhaupt einmal die Internetkompetenz herzustellen.
Denn wie sollen die Strafverfolgungsbehörden überhaupt
auf diesem Sektor agieren, wenn sie selber mit dem Me-
dium gar nicht arbeiten? Da gibt es große Anstrengungen,
auch des Bundesinnenministeriums, etwa in Bezug auf
das BKA. Dort gibt es wichtige Fortschritte. Wenn wir all
das machen und die Richtlinie zur Datensicherheit und die
E-Commerce-Richtlinie entsprechend umsetzen, kom-
men wir ganz wesentlich voran.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen letz-
ten Punkt ansprechen. Es wird immer gesagt: Das ist ein
so wichtiges Feld, dafür brauchen wir einen zentralen
Minister, einen Internet-Minister.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Das wäre etwas für Sie, Herr Mosdorf!)


Wer so etwas fordert, versteht von der Sache nichts. Das
Internet ist das dezentralste Medium, das es jemals gege-
ben hat. Darauf kann man nicht mit einem zentralen
Minister antworten. Wir brauchen in allen Ressorts Fach-
kompetenz, Spezialisten. Wir brauchen in allen Ressorts
Kenner und müssen dann die Zusammenarbeit der Res-
sorts organisieren. Nach meiner Meinung ist es eine völ-
lig falsche Antwort, für ein dezentrales Medium eine neue
Zentrale schaffen zu wollen.


(Zuruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])

– Die ist klar geregelt. Deshalb gibt es auch klare Ent-
scheidungen.

Wir haben jetzt den Bedarf, in einer sich global ent-
wickelnden Weltwirtschaft, die auf der Plattform der glo-
balen Infrastruktur des Internets arbeiten wird, globale
Standards, globale Konventionen zu schaffen. Ich halte es
für absurd, zu meinen, wir könnten allein etwas tun und
anzunehmen, damit sei es dann gerichtet. Nein, wir brau-
chen die Partnerschaft der Wirtschaft. Deshalb machen
wir Innovationspartnerschaften wie die Initiative D 21.
Wir machen das Global Business Dialog Concept mit der
Wirtschaft zusammen. Wir brauchen Medienkompetenz
bei den Bürgern. Wir brauchen eine aufgeklärte Gesell-
schaft und einen handlungsfähigen, modernen Staat, der
versucht, auf internationaler Ebene zu vernünftigen Kon-
ventionen zu kommen. Dann kann man damit fertig wer-
den.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Angela Marquardt [PDS])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410211400
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Alfred Hartenbach.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1410211500
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen!


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sag bloß nichts Falsches!)


– Norbert, wenn ich dir in einem Brief „I love you“
schreiben würde, dann gäbe das einen gesellschaftlichen
Skandal.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir haben doch nichts miteinander!)


Ich will heute versuchen, mit konventionellen Mitteln
auf virtuelle Fragen zu reagieren. Leider ist es so, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, dass neue Medien die krimi-
nelle Energie anreizen und herausfordern. Der „I love
you“-Virus ist nicht der erste Virus dieser Art. Jeder hat in
irgendeiner Art und Weise schon mit Viren in seinem
Computer zu tun gehabt. Dies hat ganz offensichtlich
auch die Opposition wach werden lassen, wie ich den Dis-
kussionen entnehmen konnte. Wir sehen also, dass die
heutige Aktuelle Stunde ihre Berechtigung hat. Wir haben




Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
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(C)



(D)



(A)



(B)


als erste Regierung reagiert und etwas getan, während die
Vorgängerregierung bisher nichts getan hat,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist gar nicht wahr!)


denn sonst hätte man sicher bessere Mittel zur Gegenwehr
finden können. Wir sind die Ersten, die etwas unterneh-
men.

Die bestehenden Gesetze reichen eigentlich schon aus,
zumindest was das Inland angeht, um Hacker, die Viren in
Umlauf bringen


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Also hat die alte Regierung doch etwas getan!)


– das, was ich gleich sagen will, hat übrigens schon Kai-
ser Wilhelm gemacht –, kräftig zur Kasse bitten zu kön-
nen. Nach § 823 BGB können zivilrechtliche Forderun-
gen geltend gemacht werden. Wir haben über die §§ 303,
303 a und 303 b StGB die Möglichkeit, strafrechtlich zu
reagieren.

Angesichts der negativen volkswirtschaftlichen Aus-
wirkungen müssen wir natürlich auch im Vorfeld etwas
unternehmen. Wir haben europaweit eine Arbeitsgruppe,
die so genannte Cybercrime-Arbeitsgruppe, die im Ent-
wurf einer Konvention vorsieht, die Strafbarkeit des un-
befugten Zugangs zu Computersystemen zu verschärfen.
Im deutschen Recht haben wir insoweit lediglich den
§ 202 a StGB, mit dem das strafbare Sichverschaffen von
Daten geahndet wird. Der Schutzbereich dieser Norm
wird also möglicherweise auszuweiten sein. Ich denke,
dass wir das in Angriff nehmen werden. Eine Erweiterung
des Schutzbereiches des § 303 b StGB, der die so ge-
nannte Computersabotage betrifft, auf den Schutz priva-
ter Computersysteme müssen wir überlegen.

Es gibt eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Europäischen Rates über den rechtlichen Schutz
von Zugangskontrolldiensten vom 20. November 1998,
mit der die gewerbliche Verbreitung von so genannten
Cracking-Werkzeugen verhindert werden soll. Damit
werden nicht nur die Hacker als Endtäter, sondern auch
diejenigen, die aus kommerziellen Gründen derartigen
Tätern das Werkzeug, also die Programme oder die Hard-
ware, liefern, unter die Strafdrohung des Gesetzes ge-
stellt. Nun nutzt allerdings die beste Strafvorschrift we-
nig, wenn der Täter nicht gefasst werden kann.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Das ist ungefähr genauso wie bei der Graffiti-Bekämp-
fung.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Vor allen Dingen nutzt es dann nichts, wenn der Täter in Manila ist!)


– Es ist doch gut; wir wissen doch, wo er ist.
Deswegen haben die Innenminister und die Justizmini-

ster der G8-Staaten auf der Moskauer Konferenz 1999
eine Arbeitsgruppe mit der Entwicklung von Maßnahmen
zur besseren Lokalisierung und Identifizierung von
Straftätern im Internet beauftragt. Darauf hat auch unsere
Bundesregierung maßgeblich hingewirkt. Der Bundes-

innenminister wird nachher in seinen Ausführungen noch
deutliche Hinweise auf den Ansatz der Bundesregierung
in diesem Bereich geben.

Lassen Sie mich zum Abschluss meiner fünfminütigen
Rede noch ein paar Worte zu denjenigen verlieren, die
sich durch das Verursachen von Schäden durch Virenpro-
gramme produzieren. Für einen rechtschaffenen Men-
schen ist die geistige Haltung derer, die Schäden durch ei-
nen Computervirus hervorrufen, schwer nachvollziehbar.
So lässt der Name des „I love you“-Virus auf Schizophre-
nie der Täter schließen, auf eine Verwirrung, auf die Un-
fähigkeit, sich konstruktiv im Leben zu verhalten, und auf
die Negierung einer produktiven und positiven Teilnahme
am Wirtschaftsleben. Diese kriminelle Energie – genau
das ist der Punkt – könnte man auch anders einsetzen,
nämlich positiv gestaltend.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Das überzeugt mich restlos!)


– Dass Sie von Liebesbriefen nichts verstehen, habe ich
gemerkt, als Sie eben geredet haben. Das möchte ich nur
am Rande anmerken.

Es ist für mich erschreckend, dass die Menschen, die
solche Computerschäden verursachen, auf alles, was po-
sitiv und gut ist, mit Hass reagieren. Wir alle wissen, dass
es sich hier um reine, blinde Zerstörungswut handelt. Ich
möchte ein solches Verhalten zwar politisch nicht überbe-
werten, aber der Unterschied zu denjenigen, die mit
Springerstiefeln und Naziparolen durch die Gegend zie-
hen, ist nicht sehr groß. Es gab einmal eine Zeit, in der in
Deutschland Bücher verbrannt wurden. Nach meiner
Meinung ist auch der Unterschied zwischen einer Bücher-
verbrennung und der Zerstörung von geistigem Eigentum
durch Computerviren nicht sehr groß. Deswegen müssen
wir ein solches Verhalten mit aller Macht verurteilen und
es mit aller Macht zurückweisen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Der Hitler steckt da nicht dahinter!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410211600
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Norbert Geis.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1410211700
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das Internet ist seiner
Art nach ein loser, nie ganz kontrollierbarer Verbund von
Rechnern und seinemWesen nach auf Offenheit und Frei-
heit angelegt. Dasmacht das Internet auch anfällig für sol-
cheAttacken und Schädigungen, wie wir sie in den letzten
Monaten erlebt haben. Deswegen müssen wir uns Gedan-
ken darüber machen, wie wir solche Schädigungen ver-
hindern können. Diese Frage – da gebe ich Ihnen Recht –
betrifft sicherlich zunächst die Wirtschaft, insbesondere
die Techniker. Hier muss geforscht werden und hier müs-
sen Wege gefunden werden, mit denen die Hilflosigkeit
und die Schutzlosigkeit des Internets in irgendeiner Weise
verringert werden können. Es gibt ja schon Software, die




Alfred Hartenbach

9555


(C)



(D)



(A)



(B)


Schutz bietet, die es ermöglicht, dass solche Angriffe, wie
wir sie jetzt erlebt haben, zum großen Teil abgeblockt
werden.

Es müssen aber auch auf nationaler und internationaler
Ebene Regelungen vereinbart werden, mit denen sich
dann, wenn die Technik so weit ist, die technischen Mög-
lichkeiten des Schutzes umsetzen lassen. Hier sind die
Bundesregierung und – zweifellos – auch das Parlament
gefordert. Wir müssen auch auf nationaler Ebene Rege-
lungen erlassen und dürfen nicht achtlos beiseite stehen.

Schließlich müssen die Computernutzer selber im
präventiven Bereich besser als in der Vergangenheit in-
formiert werden. Dies sollte wiederum durch die Herstel-
ler, durch die Wirtschaft, durch den Staat und auch durch
die Schulen geschehen. Es muss möglich sein, dass sich
diejenigen Teile der Bevölkerung, die mit einem solchen
Kommunikationsmittel umgehen, besser schützen kön-
nen. „I love you“ hätte nicht diesen riesigen Erfolg ge-
habt, wenn es keine Nutzer gegeben hätte, die diese In-
formation in ihrer Arglosigkeit aufgeschlüsselt hätten.
Dieses Verhalten ist nach meiner Auffassung auf einen
Mangel an Unterrichtung zurückzuführen. Wir müssen
dafür sorgen, dass entsprechende Unterrichtungen der
Computernutzer erfolgen.

Ich teile die Bedenken derjenigen, die sagen, dass das
Strafrecht auf diesem Gebiet wenig wirksam ist. Bei uns
gibt es allerdings im strafrechtlichen Bereich seit dem
Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskrimina-
lität aus dem Jahre 1986 entsprechende Regelungen. Von
der alten Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist
sehr wohl und sehr frühzeitig erkannt worden, dass ein
Kriminalitätsfeld entsteht, das entsprechend normiert
werden muss. Bei uns sind die Computerstraftaten durch
die §§ 202 a, 303 a und 303 b StGB tatbestandsmäßig er-
fasst.


(Zuruf des Abg. Alfred Hartenbach [SPD])

Auch § 316 e StGB kommt hier als einschlägige Straf-
rechtsnorm in Betracht, lieber Herr Hartenbach, wenn
durch die Beschädigung von Daten die Funktionsfähig-
keit der Polizei oder der Feuerwehr beeinträchtigt wird.

Der Versender dieses berühmten Briefes hat sich in
Deutschland dadurch strafbar gemacht, dass er Schaden
verursacht hat. Der Erfolg ist in Deutschland wie in vie-
len anderen Ländern eingetreten. Der Täter kann in
Deutschland nach §§ 303 a und 303 b StGB bestraft wer-
den. Er müsste mit einem Strafrahmen von bis zu fünf Jah-
ren Gefängnis rechnen.

Ich meine, wir müssen uns angesichts der großen Be-
drohung eines Teils unserer Freiheit – es geht um die
Möglichkeit, über die Kontinente hinweg in Kontakt zu
treten und zu kommunizieren – und angesichts des Scha-
dens, der durch die Attacken über das Internet verursacht
werden kann, Gedanken darüber machen, ob wir den
Strafrahmen nicht höher ansetzen als diejenigen, die diese
gesetzliche Regelung 1986 getroffen haben.

Ein weiterer Mangel unseres Strafrechts scheint mir
darin zu liegen, dass ein deutscher Täter, der eine solche
Tat im Ausland begeht, dann nicht nach deutschem Recht

bestraft werden kann, wenn Tat und Taterfolg keinen Be-
zug zum deutschen Inland haben. Diese Taten unterfallen
nicht dem Weltrechtsprinzip. § 5 StGB gilt also insoweit
nicht. Deshalb ist durch eine entsprechende Gesetzesän-
derung sicherzustellen, dass ein Deutscher in Deutschland
bestraft wird, auch wenn er seine Tat im Ausland began-
gen hat und kein Bezug zu Deutschland besteht.

Wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob nicht
schon das bloße „Knacken“ von Computersystemen unter
Umständen strafbar sein soll. Das sollte auch dann gelten,
wenn kein Datenzugriff oder keine Datenzerstörung er-
folgt. Dasselbe gilt für das Einbringen eines Virus in ein
solches System, auch wenn dadurch kein Schaden ange-
richtet wird.

Es gibt also auch bei uns Anlass, über Verbesserungen
nachzudenken. Ich stimme all denen zu, die sagen, dass
wir internationale Regelungen treffen müssen. Die Bun-
desregierung ist hier zweifellos gefordert. Ich hoffe sehr,
dass wir zu solchen Regelungen gelangen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410211800
Das Wort hat der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1410211900
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Vogt hat
gütigerweise auf mein fortgeschrittenes Lebensalter hin-
gewiesen. Ich kann die Kollegin Vogt beruhigen: Auch im
fortgeschrittenen Lebensalter gehe ich mit diesen moder-
nen Kommunikations- und Informationsmedien um. Das
tue ich, um nicht jegliche Autorität bei meinen Nachkom-
men zu verlieren.

Ich glaube schon, dass wir die Debatte nicht so führen
sollten – das sage ich gerade an die Adresse des Kollegen
Dr. Mayer –, dass wir jetzt die großen Perspektiven und
Chancen, die mit diesen Medien verbunden sind, zerre-
den. Das darf nicht geschehen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das, was an Informationsvermittlung, an Informati-
onsgewinnung und an Steuerungsmöglichkeiten über
diese Medien für die Menschheit möglich geworden ist,
eröffnet ungeahnte Dimensionen. Darauf sollten wir im-
mer wieder hinweisen. Ich habe allerdings in meiner Ver-
antwortung als Innenminister auch immer darauf hinge-
wiesen, und zwar von Anfang an, Herr Kollege Dr. Mayer,
dass wir nicht euphorisch werden sollten und dass wir den
Sicherheitsaspekt immer sehr ernst nehmen müssen.

Wir haben das als Bundesregierung auch unter Beweis
gestellt. Sie wissen, es gab einige apokalyptische Voraus-
sagen, was das Jahr-2000-Problem angeht. Die gegen-
wärtige Bundesregierung hat das gut bewältigt. Aller-
dings muss ich Ihnen sagen: Die Vorbereitungen der alten
Bundesregierung – ich will das zurückhaltend ausdrück-
en – waren etwas dürftig.


(Beifall bei der SPD)





Norbert Geis
9556


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich halte jedoch nichts davon, dass wir nun alle Fragen
miteinander vermischen. Frau Bonitz, bei Ihnen habe ich
beim besten Willen nicht erkennen können, dass Sie ir-
gendwie eine Übersicht gewonnen hätten. Wir können na-
türlich diese Debatte erweitern und darüber sprechen, was
wir gegen die Übermittlung krimineller Inhalte über das
Internet tun. Diesbezüglich gibt es einige Ansätze. Das ist
eine schwierige Frage, weil man sich dabei in einen ge-
wissen Gegensatz zum Schutz der Privatsphäre und der
Geschäftsgeheimnisse begibt. Ich erinnere – Herr Mosdorf
hat das auch angesprochen – an Kryptographien und Ähn-
liches.

Aber ich will das nicht vertiefen, zumal Sie da auch bei
der falschen Adresse waren. Zwar kümmert sich das Bun-
deskriminalamt um diese Dinge, aber das dürfen Sie nicht
mit der Tätigkeit des Bundesamtes für Sicherheit in der
Informationstechnik vermengen.

Ich glaube, wir sollten diese Aktuelle Stunde nutzen,
um uns über die Frage zu unterhalten, die mit den Sicher-
heitsaspekten im engeren Sinne zu tun hat: Welche An-
griffsflächen ergeben sich aus einem so tief vernetzten
System, wie wir es haben?


(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Das ist die eigentliche Frage, mit der wir uns heute zu be-
schäftigen haben. Dabei darf man die Dinge nicht durch-
einander bringen.

Wir haben unterschiedliche Angriffsflächen. Es gibt
den Versuch, den man gemeinhin mit den Hackern in Ver-
bindung bringt, sich unbefugt Zugang zu Daten zu ver-
schaffen. Das ist die eine Angriffsfläche.

Wir haben eine andere Angriffsfläche, die man durch-
aus auch mit Computersabotage in Verbindung bringen
kann, dass man also eine bestimmte Website überlädt und
damit Denial of Service herbeiführt. Das war das, was uns
im Februar beschäftigt hat. Übrigens war das der Anlass
für die Taskforce, die ich eingesetzt habe. Es war richtig,
eine solche Taskforce einzusetzen und nicht erst lange zu
warten, ob irgendwelche Ressortabgrenzungen stattfin-
den. Sie wissen, wie mühsam es ist, Ressortzuständigkei-
ten zu überwinden. Nein, wir haben sofort gehandelt. Wir
haben die dafür notwendigen Maßnahmen ergriffen, die
richtigen Personen zusammengebracht und selbstver-
ständlich auch – das sage ich Ihnen, Herr Otto – die Pri-
vatwirtschaft einbezogen. Da haben Sie völlig Recht: Das
kann der Staat nicht allein, das kann die Privatwirtschaft
nicht allein. Das ist ein typischer Fall des Zusammenwir-
kens des Staates und der privaten Industrie.

Jetzt haben wir es mit einem Angriff zu tun, der si-
cherlich Dimensionen hat, die außergewöhnlich sind. Ich
teile die Auffassung aller, die hier zum Ausdruck gebracht
haben, dass das Strafrecht bei der Abwehr solcher An-
griffe an allerletzter Stelle steht. Strafrechtsdrohungen ha-
ben zwar auch präventiven Charakter, aber in diesem Fall
wahrscheinlich nur in sehr geringerem Maße. Mich in die
Psyche des Philippinos hineinzuversetzen, um festzustel-
len, warum er nun mit der Gesellschaft entzweit ist – oder
was da sonst war – das soll mich heute nicht beschäftigen.
Trotzdem müssen wir die strafrechtliche Seite angehen.

Der Europarat ist damit beschäftigt. Ich will das nicht ver-
tiefen.

Der entscheidende Punkt ist die technische Prävention,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und zwar die softwaretechnische Prävention; auf sie
kommt es an.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will das jetzt nicht alles wiederholen.

Interessant ist, dass es bemerkenswerte Parallelen zur
Natur gibt. Wir sprechen vom Virus. Wir haben von der
Monokultur gehört. Herr Otto hat völlig zu Recht darüber
gesprochen. Ich gebe Herrn Otto vollständig Recht: Es ist
auch meine Auffassung – Herr Heil hat ebenfalls darüber
gesprochen –, dass Monokulturen für Viren besonders an-
fällig sind. Das ist übrigens in der Natur genauso. Die
Wälder sind am ehesten dort zugrunde gegangen, wo sie
Monokulturen waren. Mischwälder sind weniger anfällig
für Krankheiten. Das gilt übrigens auch für die Zusam-
mensetzung der Gesellschaft. Das spricht für unser Staats-
bürgerschaftsrecht.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Aber das nur am Rande. Ich denke, wir müssen in der Tat
dafür sorgen, dass die Systeme so ausdifferenziert sind,
dass die Krankheitsanfälligkeit, die Schadensanfälligkeit
zumindest herabgesetzt wird.

Nun haben wir es mit einem Sachverhalt zu tun, auf
den wir im Moment noch keine Antwort haben. Diesbe-
züglich hat aber auch die alte Bundesregierung – wir soll-
ten uns da nichts einreden, lieber Kollege Dr. Mayer –
nichts zustande gebracht. Es geht darum, dass wir nicht im
Vorhinein wissen, wie neue Viren beschaffen sind. Das ist
wie in der Medizin: Es treten immer wieder neue Viren
auf. Deshalb kommt es zunächst einmal darauf an, mit
diesem Sachverhalt klarzukommen.


(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ CSU]: Machen Sie doch einmal große Forschungen!)


– Lassen Sie das doch! Ich habe Ihnen ja auch zugehört.
Beinahe hätte ich Sie jetzt als „Herr Virus“ angesprochen.
Das wäre aber nicht gerecht, Herr Dr. Mayer.

Es lag auch hier der Sachverhalt vor, dass der Virus
nicht bekannt war.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das Virus!)

Wir konnten ihn auch mit den Virenschutzprogrammen
nicht sofort identifizieren. Es gab auch keine Vorwarnzeit –
das ist ein Unterschied zu anderen Sachverhalten, bei de-
nen es rechtzeitig eine Warnung gab –, weil der Virus
zunächst in Deutschland aufgetreten ist.

Ich möchte in diesem Zusammenhang der Arbeit mei-
ner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der des Bun-
desamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik
Anerkennung zollen. Das ist übrigens eine Einrichtung,




Bundesminister Otto Schily

9557


(C)



(D)



(A)



(B)


auf die wir stolz sein können, denn nicht alle Länder ha-
ben so etwas.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Schon von der alten Bundesregierung gefördert!)


Ich bin stolz darauf, dass ich deren Mittel gegen beste-
hende Haushaltszwänge erhöht habe.

Wir haben also sofort, kurz nach dem Auftreten dieses
Virus, warnen können. Es hätten sich viele Schäden ver-
meiden lassen können, wenn diese Warnungen ernst ge-
nommen worden wären. Wir haben den Virus in kurzer
Zeit identifizieren und analysieren können. Bereits am
folgenden Tage haben wir eine Virusabwehr in die Scan-
ner integriert. Das ist, wie ich glaube, eine gute Leistung.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Sie waren nicht die Ersten! Die Ausfälle in der Bundesverwaltung waren relativ gering. Nun komme ich auf Ihre Anfrage zu sprechen, Herr Dr. Mayer: Im internen Bereich, also im eigentlichen Sicherheitsbereich, sind keine Schäden aufgetreten. Dennoch ist Ihr Hinweis auf kritische Informationsstrukturen richtig. Die Arbeitsgruppe „Kritis“ arbeitet, wie Sie wissen, ja schon seit längerer Zeit daran. Sie haben mit Recht gesagt, dass nicht ich, sondern die alte Bundesregierung das in Gang gesetzt hat. Ich habe deren Bericht entgegengenommen. Es stimmt, dass noch einiges nachzuarbeiten ist und man daran arbeiten muss, aber dabei kommt es auf viele Aspekte an. Es geht zum Beispiel nicht nur um die Frage von Monostrukturen, sondern auch um die Frage der Staffelung von Systemen. Einer der Kollegen – ich glaube, es war der Kollege Müller – hat davon gesprochen, dass es auch auf Redundanz ankommt. Wir wissen aus Problemstellungen in der Energieversorgung, dass dann, wenn Redundanz nicht gewährleistet ist, auch keine Staffelung möglich ist und ein Dominoeffekt eintreten kann: Ein kleiner Eingriff in ein komplexes System breitet sich dann mit Blitzgeschwindigkeit aus und führt zu gewaltigen Schäden im System. Wir müssen die Dinge auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie ein solcher Dominoeffekt abgewehrt werden kann. Wir benötigen auch eine enge Zusammenarbeit mit der Wirtschaft im Rahmen der so genannten Computer Emergency Response Teams. Diese CERTs müssen auch untereinander korrespondieren; man darf nicht in Betriebsegoismus verbleiben, indem man andere nicht abgucken lassen will. In diesem Bereich muss es Kooperation geben. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir den Blick nur auf eine Seite richten. Wir müssen alle Aspekte in Betracht ziehen und alle – das sind die Endanwender und die Administratoren wie auch die Softwarehersteller und die Inhaltsanbieter – in die Verantwortung einbeziehen. Nur so kommen wir zu einer vernünftigen Lösung. Daran arbeitet die Bundesregierung mit Hochdruck. Insoweit war es richtig, diese Taskforce einzusetzen. Sie macht gute Arbeit und hat im Februar dieses Jahres bereits Empfehlun gen herausgegeben. Sie wird das wieder tun. Da mich der Präsident mahnt, die Redezeit einzuhalten, kann ich sie jetzt nicht im Einzelnen vortragen. Ich glaube, dass die Bundesregierung gerade bezüglich der Sicherheit in der Informationstechnik auf eine hervorragende Arbeitsbilanz zurückblicken kann. Diese Bilanz wird sie in Zukunft sicherlich noch weiter verschönern. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410212000
Das letzte Wort in
dieser Aktuellen Stunde hat nunmehr für die SPD-Frak-
tion der Kollege Jörg Tauss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – HansJoachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Angeklagter, was haben Sie zu sagen?)



Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1410212100
Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Ich teile Ihnen jetzt mit, was ich zu sagen habe, lie-
ber Kollege Otto. Zunächst einmal freuen wir uns, dass
sich nach der Beschäftigung mit dem Jahr-2000-Problem
der Deutsche Bundestag erneut mit Fragen der Datensi-
cherheit bzw. – fachmännischer ausgedrückt – mit Fragen
der IT-Sicherheit beschäftigt. Wenn diese Debatte ein po-
sitives Signal aussendet, dann auch deshalb, weil die Be-
deutung der Themen Datenschutz und Datensicherheit in
den Medien – in der Politik ohnehin – und im Bewusst-
sein der einzelnen Nutzer angekommen ist.

Die Situation war vor zwei, drei Jahren, als wir in der
Enquete-Kommission zusammensaßen, völlig anders.
Wir haben damals – lesen Sie einmal im Bericht nach, den
wir damals in der Enquete-Kommission verabschiedet ha-
ben – auf diese Probleme in ihrer gesamten Breite hinge-
wiesen. Es haben sich leider nicht allzu viele dafür inter-
essiert. Ein Journalist hat mir gesagt, das Thema sei nicht
„sexy“ genug. Vielleicht bedurfte es des Virus mit dem
schönen Namen „I love you“, dass dieses Thema „sexy“
geworden ist.

Der „I love you“-Virus versetzte das globale Datennetz
innerhalb von 72 Stunden in Angst und Schrecken. Es gab
Meldungen über Schäden in Höhe von 10Milliarden DM.
Egal, wie hoch die Schäden sein mögen: Computer wur-
den lahmgelegt.

Was mich bedenklich stimmt – das ist auch in der De-
batte zum Ausdruck gekommen –, ist, wie leicht es offen-
bar war, die Sicherheitsvorkehrungen zu überlisten. Das
gilt erst recht, wenn man sich vor Augen führt – es ist ja
nach der Motivation des Täters gefragt worden –, dass es
sich um einen jungen philippinischen Studenten handelt –
wie dies der „Spiegel“ gestern berichtete –, dessen Haus-
arbeit abgelehnt worden war. Die Hausarbeit war exakt
der „I love you“-Letter. Frustration rechtfertigt diese Re-
aktion des Studenten selbstverständlich nicht. Lieber Kol-
lege Geis, aus Bayern kam fast schon reflexartig – Sie
kommen zwar nicht aus Bayern –




Bundesminister Otto Schily
9558


(C)



(D)



(A)



(B)



(Norbert Geis [CDU/CSU]: Doch! Aus Unterfranken!)


– Entschuldigung, aber dann passt mein Text jetzt genau –
der Ruf nach schärferen Gesetzen.


(Zuruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])

– Sie haben ja schon einige Paragraphen genannt, Herr
Kollege Geis. Auch § 202 a des Strafgesetzbuches können
wir in diesem Zusammenhang erwähnen. Wir haben
schon Systeme, die gegen unberechtigten Zugang gesi-
chert sind. Aber ich glaube, wir sollten im rechtlichen Be-
reich eine sehr sachliche Debatte miteinander führen.

Ich warne nur vor Hysterie. Hysterie war schon immer
ein schlechter Ratgeber gewesen. Wir sollten zunächst ein-
mal evaluieren, was eigentlich passiert ist. Dann werden
wir feststellen, dass der Sicherheit in der Informations-
technik eine Schlüsselrolle zukommt. Das ist heute
schon – völlig berechtigt – mehrfach gesagt worden.

Eines fällt auf: Behörden und Verwaltungseinrichtun-
gen, darunter die Bundesverwaltung, waren das Ziel die-
ser Attacke. Der Bundesinnenminister hat zwar darauf
hingewiesen, dass die Schäden erfreulicherweise gering
waren. Trotzdem ist die Situation ärgerlich. Es fällt außer-
dem auf: Nur die Nutzer einer bestimmten Software – auf
diesen Punkt wurde schon hingewiesen – waren Ziel die-
ses Angriffs. Diese Software hat es dem Virus aufgrund
mangelnder standardmäßiger Sicherheitseinstellungen
absolut einfach gemacht. Es stellt sich aber das Problem,
dass diese Software als Quasistandard für den Nutzer
kaum zu umgehen ist. Er bekommt mit dem Kauf seines
Computers dieses Betriebssystem mitgeliefert. Damit
sind wir bei dem Problem der Monokultur, um das Wort
„Monopolstruktur“ zu vermeiden.

Der Virus macht Folgendes deutlich: Man kann und
muss sich – das gilt für jeglichen Nutzer der neuen IuK-
Technologien – gegen derartige Angriffe selbst schützen.
Wäre das Bewusstsein für das Gefährdungspotenzial bei
allen Nutzern vorhanden gewesen und wären die Sicher-
heitseinstellungen, die es ja pikanterweise gibt, die aber
standardmäßig zum Teil ausgeschaltet waren, auf der
höchsten Stufe eingeschaltet gewesen, dann hätten die
Schäden nicht eintreten können.

Man kann nicht oft genug davor warnen, unbekannte
Mails mit angehängten Daten einfach ungeprüft zu öffnen.
Ich habe diese Mail nicht geöffnet, nicht nur wegen – ein
Kollege hat es schon angesprochen – meines hohen Al-
ters, sondern weil man misstrauisch sein muss, wenn im
Bereich des Bundestages eine Mail mit dem Titel
„I love you“ ankommt. Ich zumindest war misstrauisch.
Meinem Computer ist also nichts passiert.

Ich denke, es würde sich lohnen, wenn wir uns mit dem
Bericht der Enquete-Kommission beschäftigen. Die
Kommission stellte fest, dass im Bereich der Software die
Betriebssysteme eine Sonderstellung einnehmen. Es ist
nicht zu verantworten, dass in nahezu allen Bereichen Be-
triebssysteme existieren, deren Quelltext nicht veröffent-
licht wurde.


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.])


Es muss die Forderung an Microsoft sein, seine Politik
an dieser Stelle zu ändern. Da sind wir uns, Kollege
Otto, einig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Angela Marquardt [PDS])


Ihr großer Vorkämpfer in Sachen Datensicherheit, Herr
Rexrodt, wollte noch zur Bekämpfung von Kriminalität
Einbruchstellen schaffen. Ich nenne als Stichwort Tele-
kommunikationsüberwachungsverordnung. Wir haben
diese Initiative gestoppt und ein Gutachten erstellen las-
sen. Ich glaube, wir sind uns jetzt in diesem Punkt einiger,
als ich es damals mit dem Kollegen Rexrodt war.

Es gibt übrigens auch weitere Probleme. Es gibt die
Fragen: Können Geheimdienste eindringen? Können Po-
lizeidienststellen eindringen? Wo sie eindringen können,
können natürlich auch Hacker und Cracker eindringen,
also auch diejenigen, die bösartig sind.

Weil das rote Licht schon leuchtet, will ich nur noch sa-
gen: Wir müssen uns auch in der Forschung mit dem Be-
reich IT-Sicherheit nochmals ganz vehement beschäfti-
gen. Herr Marschewski und Herr Zeitlmann haben hier
völlig falsche Signale gegeben mit dem Verbot krypto-
graphischer Verfahren. Das hat sich schon durch den
Regierungswechsel erledigt.

Kollege Mayer, dass Sie uns die Zerschlagung der GMD
vorwerfen, ist Unfug. Sie wissen das. Nachher debattieren
wir darüber an dieser Stelle auch noch einmal. Nein, das Ge-
genteil wird gemacht. Wir haben beim Fraunhofer-Institut
beispielsweise hervorragende Datensicherheitsexperten.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410212200
Herr Kollege, auch
das letzte Wort geht irgendwann zu Ende.


Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1410212300
Ich bin bereits am Ende, Herr Prä-
sident. Lassen Sie mich den Satz kurz zu Ende führen. –
Die GMD, Herr Mayer, wird nicht zerschlagen. Das
Fraunhofer-Institut beschäftigt sich mit IT-Sicherheit, mit
elektronischer Sicherheit. Wir haben das Kompetenzzen-
trum „Cast“ in Darmstadt. Schauen Sie es sich doch ein-
mal an. Wir machen hier nichts kaputt, sondern ganz im
Gegenteil: Wir bündeln die Kompetenzen und aus dieser
Bündelung der Kompetenzen wird ein Mehr an Datensi-
cherheit in diesem Lande herauskommen. Das ist die Li-
nie, die diese Bundesregierung verfolgt, auch im For-
schungsbereich, und das ist die richtige.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410212400
Die Aktuelle Stunde
ist damit beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes




Jörg Tauss

9559


(C)



(D)



(A)



(B)


zur Änderung von Vorschriften über die Tätig-
keit der Steuerberater (7. StBÄndG)

– Drucksache 14/2667 –

(Erste Beratung 90. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/3284 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)

Margareta Wolf (Frankfurt)

Carl-Ludwig Thiele
Heidemarie Ehlert

Es liegen sieben Änderungsanträge der Fraktion der
PDS vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesfi-
nanzminister, Dr. Barbara Hendricks.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1410212500
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Nach der schillernden internationalen
Welt der Hacker und Cracker kommen wir jetzt zum
bodenständigen nationalen Berufsrecht der Steuerberater.
Vor dem Hintergrund zunehmender Internationalisierung
muss allerdings auch dieses Berufsrecht ab und an neu
überdacht werden.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung
von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater fin-
det ein langer und zum Teil kontroverser Diskussions-
prozess ein vorläufiges Ende. Im Mittelpunkt dieses
Diskussionsprozesses stand die Verteilung der Befugnisse
zur Steuerberatung, wobei Lohnsteuerhilfevereine und
Buchhalter eine Ausweitung ihrer Befugnisse vehement
forderten und die Steuerberater dies ebenso vehement ab-
lehnten.

Gestatten Sie mir, dass ich, bevor ich näher darauf ein-
gehe, auf andere, im Ergebnis vielleicht ebenso wichtige
und vielleicht sogar zukunftsweisendere Änderungen im
Steuerberatungsrecht hinweise.

Das 7. Steuerberatungsänderungsgesetz enthält zahl-
reiche materielle Regelungen, mit denen das Ziel verfolgt
wird, das Steuerberatungsgesetz und die dazu ergangenen
Verordnungen zu modernisieren und zu straffen. Nennen
möchte ich zunächst die Übertragung hoheitlicher Aufga-
ben auf die Steuerberaterkammern. Hierzu gehören die
Bestellung zum Steuerberater, die Anerkennung von Steu-
erberatungsgesellschaften, deren Widerruf und deren
Rücknahme. Die Übertragung der Aufgaben erfolgt im
Konsens mit dem Berufsstand und entspricht vergleich-
baren Aufgabenverlagerungen bei Rechtsanwälten und
Wirtschaftsprüfern.

Gleichzeitig wird den Steuerberaterkammern die Be-
fugnis gegeben, die Gebühren für die Erfüllung der ihnen

übertragenen Aufgaben nach dem Grundsatz der Kosten-
deckung jeweils in einer Gebührenordnung festzulegen.
Da die Gebührenordnungen jeweils der Genehmigung der
zuständigen Aufsichtsbehörde bedürfen, ist sichergestellt,
dass die Gebühren sich strikt an ebendiesem Prinzip ori-
entieren.

Eine weitere wichtige Neuerung stellt die Schaffung
der Möglichkeit der Beteiligung einer Steuerberatungsge-
sellschaft an einer anderen so genannten mehrstöckigen
Steuerberatungsgesellschaft dar. Dies entspricht einer
Regelung bei den Wirtschaftsprüfern und wird langfristig
vielleicht den Markt stärker verändern als andere, heute
mehr in der politischen Diskussion stehende Fragen des
Berufsrechts. Mit der Einführung der Möglichkeit so
genannter mehrstöckiger Steuerberatungsgesellschaften
wurde im Übrigen einer Anregung des Berufsstandes ent-
sprochen.

Präzisiert werden die Regelungen zur Berufsausübung.
Erstmals wird ein Überdenkungsverfahren bei Einwen-
dungen gegen die Bewertung von Leistungen in der Steu-
erberaterprüfung geregelt.

Wichtig ist die Anpassung des nationalen Steuerbera-
tungsrechts an das europäische Recht. Der Kreis derjeni-
gen, die befugtermaßen geschäftsmäßig Hilfe in Steuersa-
chen leisten dürfen, wird um Dienstleister in Steuersachen
im Anwendungsbereich des Art. 50 des EG-Vertrages, also
grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung, erwei-
tert. In Fällen, in denen tatsächlich keine grenzüberschrei-
tende Dienstleistung erbracht wird, sondern ein deut-
scher Staatsbürger Steuerberatung für Deutsche im deut-
schen Steuerrecht mit Zielrichtung auf deutsche Behörden
erbringt, ändert sich gegenüber heutigem Recht durch
die Neuregelung nichts. Wer bisher zu derartigen Hilfe-
leistungen nicht befugt war, wird dies auch zukünftig
nicht sein.

Im Übrigen können im Interesse des Verbraucher-
schutzes zukünftig auch Personen zurückgewiesen wer-
den, die erlaubterweise grenzüberschreitende Steuerbera-
tung betreiben, jedoch fachlich nicht dazu fähig sind. In
die Abgabenordnung wurde dazu mit Billigung der EU-
Kommission ein neuer Zurückweisungstatbestand einge-
fügt, der im Interesse der Verbraucher an die fachliche
Fähigkeit anknüpft.

Die im Steuerberatungsgesetz und in der Verordnung
zur Durchführung der Vorschriften für Steuerberater,
Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaf-
ten enthaltenen DM-Beträge werden ab 2002 im Verhält-
nis 2:1 auf Euro umgestellt.

Lassen Sie mich nun noch kurz auf die eingangs ange-
sprochenen kontroversen Themen eingehen, die Frage der
Beratungsbefugnisse von Lohnsteuerhilfevereinen und
Buchhaltern bzw. Bilanzbuchhaltern. Das Ergebnis des
Diskussionsprozesses sehe ich insgesamt als positiv an.
Die Koalitionsfraktionen werden deshalb im Zusammen-
hang mit der Abstimmung über das vorliegende Gesetz
dem Bundestag einen Entschließungsantrag vorlegen, in
dem die Bundesregierung gebeten wird, unter anderem zu
prüfen, ob und wie das berufliche Tätigkeitsfeld von
geprüften Bilanzbuchhaltern erweitert werden kann,




Vizepräsident Rudolf Seiters
9560


(C)



(D)



(A)



(B)


allerdings – das möchte ich hier ausdrücklich betonen –
unter Berücksichtigung der Belange des Verbraucher-
schutzes und eines fairen Wettbewerbs.

Natürlich geht es bei der Frage der Beratungsbefug-
nisse im Bereich der Steuerberatung um Marktanteile und
Einkunftsmöglichkeiten. Wer sich weigert, über eine Li-
beralisierung in diesem Bereich ernsthaft nachzudenken,
kann sich nur dem Vorwurf aussetzen, in einem Teilbe-
reich des Dienstleistungssektors den Status quo zementie-
ren zu wollen. Die Bundesregierung kann sich jedoch
nicht an Partikularinteressen orientieren, sondern muss
prüfen, was im Allgemeininteresse liegt.

Der Entschließungsantrag macht deutlich, dass auch
sensible Bereiche wie das Berufsrecht, hier der Steuerbe-
rater, nicht grundsätzlich vor Veränderungen geschützt
sind und genauso auf den Prüfstand der Zukunftstaug-
lichkeit gehören wie andere gesellschaftliche Bereiche
auch. Es muss möglich sein, über Reformen auch in die-
sem Bereich ernsthaft weiter nachzudenken. Deshalb be-
grüßt die Bundesregierung den vorgelegten Entschlie-
ßungsantrag der Koalitionsfraktionen.

Nun zu den Lohnsteuerhilfevereinen. Die Neurege-
lung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine
sieht unter anderem vor, dass die Beratungsbefugnis des
Lohnsteuerhilfevereins nicht entfällt, wenn das Mitglied
neben seinen Einkünften aus nicht selbstständiger Arbeit
Einnahmen aus anderen Einkunftsarten hat, solange diese Ein-
nahmen insgesamt den Betrag von 18 000 bzw. 36 000 DM
bei zusammen Veranlagten nicht übersteigen. Ich möchte
betonen, dass es sich bei den Einnahmen um reine Brut-
tobeträge handelt, bei denen es grundsätzlich nicht zu Sal-
dierungen kommt. Generell hält die Bundesregierung die
Neuregelung für notwendig, weil das bisher geltende Ge-
setz insoweit sprachlich unklar gefasst ist. Dies hat zu Un-
terschieden in der Rechtsanwendung in den verschiede-
nen Bundesländern geführt, was im Interesse aller Be-
troffenen nicht hinnehmbar ist. Der heutige Umfang der
Beratungsbefugnis wird bei der Neufassung maßvoll er-
weitert und deutlich klarer definiert.


(Zuruf der Abg. Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU])


– Frau Hasselfeldt, wir haben das doch alles schon bera-
ten. Sie verstehen das sicher auch im Schnelldurchgang.

Ich glaube, dass sich die gegen die Neuregelung vor-
gebrachten Bedenken hinsichtlich der Kompetenz der
Lohnsteuerhilfevereine in der Praxis als unbegründet er-
weisen, was die Finanzverwaltung allerdings genau beob-
achten wird. Personen, bei denen komplizierte steuerliche
Sachverhalte zu würdigen sind, gehören meines Wissens
nicht zu den typischen Mitgliedern eines Lohnsteuerhil-
fevereins. Dies dürfte sich auch in Zukunft nicht ändern.
Deshalb meine ich, dass alle Betroffenen in der Praxis mit
der gefundenen Regelung leben können.

Zu den Buchhaltern und Bilanzbuchhaltern. Die Frage
einer Erweiterung der Beratungsbefugnisse für die ge-
nannten Personen wird seit langem auf fachlicher und po-
litischer Ebene kontrovers diskutiert. Nach Auffassung
der Bundesregierung bedarf die Frage einer Befugnis-
erweiterung für die genannten Personen einer näheren

und intensiveren Prüfung, als sie im Rahmen des lau-
fenden Gesetzgebungsverfahrens zu leisten war. Gerade
im Interesse der Verbraucher, die Anspruch auf eine fach-
kundige Beratung haben, muss gewährleistet sein, dass
Berater, auch wenn sie nur in einem relativ kleinen Aus-
schnitt des Steuerrechts beraten, nachgewiesenermaßen
kompetent sind und der Verbraucher auch bei eventueller
Falschberatung den Schaden nicht zu tragen hat. Ich bin
zuversichtlich, dass eine befriedigende Lösung vielleicht
noch in dieser Legislaturperiode gefunden werden kann.

Insgesamt hat die im Rahmen des 7. Steuerberatungs-
änderungsgesetzes geführte Diskussion deutlich gemacht,
dass bei allen Unterschieden in der Detailbewertung ein
breiter Konsens besteht, dass auch in Zukunft eine sach-
kundige steuerliche Beratung unverzichtbar ist und der
Gesetzgeber national, aber auch international Vorkehrun-
gen treffen muss, um diese sicherzustellen.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410212600
Frau Staatssekretä-
rin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Seifert?

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1410212700
Ja, bitte.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410212800
Frau Staatssekretärin, Sie spre-
chen von der Kompetenz der Steuerberaterinnen und
Steuerberater, die diese nachweisen müssen. Können Sie
mir dann bitte erklären, wieso in einem Gesetz, das von
Ihnen vorgelegt wurde, die Möglichkeit eingeräumt, nein
regelrecht der Auftrag gegeben wird, dass der Beruf des
Steuerberaters „infolge eines körperlichen Gebrechens,
wegen Schwäche der geistigen Kräfte oder wegen einer
Sucht“ zu versagen ist. Wohlgemerkt, nachdem alle Prü-
fungen bestanden sind? Ist das nicht eine Diskriminie-
rung, die auf einem Menschenbild beruht, das in keiner
Weise dem, was Ihre Regierung immer wieder betont,
nämlich einen Paradigmenwechsel herzustellen, ent-
spricht? Können Sie mir bitte erklären, warum Sie diesen
Satz nicht einfach ersatzlos streichen?

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1410212900
Herr Kollege Seifert, ich
glaube, das von Ihnen vorgetragene Bedenken beruht auf
einem falschen Verständnis. Die von Ihnen angegriffene
Regelung besagt, wie Sie soeben zitiert haben, dass die
Bestellung zum Steuerberater zu versagen ist, wenn der
Bewerber „infolge eines körperlichen Gebrechens, wegen
Schwäche seiner geistigen Kräfte oder wegen einer Sucht
nicht nur vorübergehend unfähig ist, den Beruf des Steu-
erberaters ordnungsgemäß auszuüben“.

Bei dieser Regelung handelt es sich keinesfalls um eine
willkürliche Benachteiligung behinderter Menschen. Das
Gegenteil ist vielmehr der Fall: Die Vorschrift ist eine
Schutzvorschrift gleichermaßen für den betroffenen
angehenden Steuerberater und für die Mandanten. Der
Steuerberater muss gerade im Interesse seiner Mandanten
in der Lage sein, seinen Beruf unabhängig, eigenverant-
wortlich, gewissenhaft und verschwiegen auszuüben.




Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks

9561


(C)



(D)



(A)



(B)


Eine fehlerhafte steuerliche Beratung birgt immer die Ge-
fahr von Regressansprüchen des Mandanten in sich.
Durch die vorgesehene gesetzliche Regelung soll der ge-
nannte Personenkreis vor solchen Ansprüchen geschützt
werden. Das ist der Hintergrund. Es geht überhaupt nicht
darum, behinderte Menschen von einer Berufsausübung
auszuschließen. Wie Sie richtig gesagt haben, ist die Zu-
lassung zur Prüfung und der Abschluss der Prüfung
selbstverständlich möglich. Das ist übrigens neu. Das war
früher nicht der Fall. Früher gab es nicht einmal die Zu-
lassung zur Prüfung. Damit erzielen wir im Vergleich zum
bisherigen Rechtszustand für behinderte Menschen eine
Verbesserung. Denn sie können als angestellte Steuerbe-
rater tätig sein. Somit unterliegen sie nicht persönlich dem
Regress. Vielmehr müsste letztlich ihr Arbeitgeber, der
Inhaber des Steuerberaterbüros, die Verantwortung für ei-
nen Regress übernehmen.

Dies ist eine Verbesserung im Vergleich zum bisheri-
gen Rechtszustand. Denn im bisherigen Rechtszustand
war bereits der Ausschluss von der Prüfung möglich. Jetzt
ist ausschließlich – ich weiß, dass Sie das wahrscheinlich
nicht beruhigt – die Zulassung als Steuerberater in selbst-
ständiger Form nicht möglich. In Zukunft ist also eine Be-
rufsausübung möglich, was früher nicht der Fall war.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410213000
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine weitere Frage?

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1410213100
Bitte.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410213200
Frau Staatssekretärin, den Fort-
schritt im Vergleich zu dem Verbot, sogar an der Prüfung
teilzunehmen, erkenne ich an. Aber bei allem Verständnis
ist festzustellen: Jeder Mensch in diesem Land hat das
Recht, seine Fähigkeit oder Unfähigkeit zu beweisen. Nur
wenn er behindert ist, kann die Steuerberaterkammer sa-
gen: Nein, wir schützen dich vor dir selbst. Können Sie
das mit dem Gleichheitsgrundsatz und mit dem von Ihnen
selbst formulierten Paradigmenwechsel in Übereinstim-
mung bringen? Wollen Sie nicht auch den Menschen, die
behindert sind, nicht mehr und nicht weniger als allen an-
deren die Chance einräumen, sich selber zu blamieren?
Denn es ist nicht bewiesen, dass sie unfähiger sind als an-
dere. Nur die Steuerberaterkammer unterstellt, dass sie
unfähiger sind.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1410213300
Herr Kollege, die entspre-
chende Behinderung muss natürlich festgestellt worden
sein. Es muss zudem eine dauerhafte und nicht nur eine
vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliegen. Natürlich
ist das auch gerichtlich zu überprüfen. Es ist doch selbst-
verständlich, dass dies Gegenstand von gerichtlichen
Auseinandersetzungen sein kann und die Steuerberater-
kammer nicht einfach so entscheiden kann, ob jemand zu
krank ist und diese Tätigkeit in selbstständiger Form nicht
ausüben darf. Natürlich sind davon nicht Menschen mit
körperlichen Gebrechen betroffen, die im Übrigen in

ihren geistigen Fähigkeiten überhaupt nicht beeinträchtigt
sind.

Aber es ist doch ein Fall denkbar, dass jemand zum
Beispiel ins Koma fällt und den Antrag auf Zulassung
zum Steuerberater schon gestellt hat. Dieser Antrag kann
schlechterdings nicht genehmigt werden. Solche Fälle
sind zwar sicherlich sehr selten, aber denkbar.

Es geht in der Tat darum, den Betroffenen vor allfälli-
gen Regressansprüchen zu schützen. Ich wiederhole: Im
Vergleich zum bisherigen Rechtszustand würde ein sol-
cher Mensch nicht an der Berufsausübung insgesamt ge-
hindert, weil er als angestellter Steuerberater tätig sein
könnte. Das ist ein Fortschritt im Vergleich zur bisherigen
Rechtslage. Ich weiß nicht, ob es dazu im Sinne der Frei-
heit der Berufsausübung schon einmal verfassungsrecht-
liche Streitverfahren gegeben hat und ob es dazu schon
einmal eine höchstrichterliche Entscheidung gegeben hat.
Denn es hat sicherlich auch schon früher die Versagung
der Zulassung zur Prüfung aufgrund der genannten Ge-
sichtspunkte gegeben, die wir jetzt nicht mehr für die Ver-
sagung der Zulassung zur Prüfung, sondern nur noch für
die Versagung der Bestellung zum Steuerberater in selbst-
ständiger Form vorsehen.

Ich kann Ihre Bedenken verstehen, Herr Seifert; aber
ich glaube, dass Sie von einer falschen Voraussetzung
ausgehen. Es geht nämlich ganz gewiss nicht um einen
diskriminierenden Tatbestand, sondern um den Schutz so-
wohl der Betroffenen als auch natürlich der Verbraucher.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Man kann auch ins Koma fallen, wenn man für den Bundestag kandidiert, und trotzdem gewählt werden!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410213400
Fahren Sie bitte fort,
Frau Kollegin.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1410213500
Ich möchte nur noch kurz
an das anknüpfen, was ich eben gesagt habe. Die Globa-
lisierung geht natürlich am Dienstleistungssektor nicht
vorbei. Sie bringt auch für das Berufsrecht neue Heraus-
forderungen mit sich, da es noch weitgehend durch unter-
schiedliche nationale Regelungen geprägt ist. Es ist ein
wichtiges Anliegen der Bundesregierung und, wie ich
glaube, aller Fraktionen in diesem Hause, dass durch den
internationalen Anpassungsdruck keine Qualitätsnivellie-
rung nach unten auf Kosten der Verbraucher, aber auch
der Wirtschaft eintritt.

Abschließend möchte ich das Hohe Haus für die Bun-
desregierung bitten, dem Entschließungsantrag der Koali-
tionsfraktionen zuzustimmen und die Anträge der PDS
abzulehnen, die offenbar – das wurde nicht nur gerade
durch die Zwischenfragen des Kollegen Seifert deutlich,
sondern auch an anderen Stellen – von einem falschen
Verständnis des Regelungsinhaltes ausgehen. Diese An-
träge sind im Finanzausschuss ausführlich beraten wor-
den.

Im Übrigen freue ich mich, dass im Finanzausschuss
auch die CDU/CSU und die F.D.P. diesem Gesetzentwurf




Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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(B)


zugestimmt haben. Ich glaube, dass dies gerade bei be-
rufsrechtlichen Weiterentwicklungen von einem hohen
Wert ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410213600
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Hansgeorg Hauser.


Hansgeorg Hauser (CSU):
Rede ID: ID1410213700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das
heute zu verabschiedende Gesetz zur Änderung von Vor-
schriften über die Tätigkeit der Steuerberater ist für den
Berufsstand sicherlich sehr wichtig. Es sind eine Reihe
von berufsrechtlichen Veränderungen enthalten. Für den
einzelnen Steuerberater aber wird es sicherlich nicht sol-
che Auswirkungen haben wie andere Gesetze, die sich
zurzeit in der Beratung befinden. Hier denke ich insbe-
sondere an die Steuergesetze, aufgrund derer – durch die
Änderungen einiger Vorschriften, die Sie vornehmen wol-
len; ich nenne als Stichwort nur die Option – die Steuer-
berater eigentlich eine Zusatzprüfung machen müssten.
Es müssten die hellseherischen Fähigkeiten geprüft wer-
den; denn ohne diese können sie künftig ihren Beruf nicht
mehr ausüben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, das Änderungsgesetz ent-
hält im Wesentlichen fünf Schwerpunkte: Erstens geht es
um die Erweiterung des Kreises derjenigen, die befugter-
maßen geschäftsmäßige Hilfe in Steuersachen leisten dür-
fen, zweitens um die Ausdehnung der Beratungstätigkeit
der Lohnsteuerhilfevereine. Dann gibt es Neuregelungen
bezüglich der Werbung. Zudem wurden Rechtsgrundla-
gen für die Datenverarbeitung und die Datennutzung
geändert. Schließlich wurde die Übertragung hoheitlicher
Aufgaben auf die Steuerberaterkammern neu gefasst.

Zum ersten Punkt. Ich möchte nur wenig zur Erweite-
rung des Kreises der befugt Beratenden sagen; denn dies
wurde uns mehr oder weniger durch die europäische
Rechtsprechung vorgeschrieben. Ich möchte vielmehr un-
sere Position begründen, warum wir Buchführungshel-
fern und Bilanzbuchhaltern keine weiteren Befugnisse
zugestehen wollen. Sowohl vom Verband der Buchfüh-
rungshelfer als auch vom Bundesverband der Bilanz-
buchhalter wird die Forderung erhoben, den Mitgliedern
auch das Recht zur Einrichtung der Buchführung und zur
Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmel-dungen einzuräu-
men. Dass darüber hinausgehende Forderungen existie-
ren, war im Vorfeld der Beratungen klar geworden, auch
wenn sie jetzt wieder zurückgezogen wurden. Wir sehen
aber, dass dies die nächste Scheibe der Salamitaktik der
genannten Verbände gewesen wäre.

Unserer Meinung nach bleiben die Einrichtung der
Buchhaltung und die Erstellung von Umsatzsteuer-Voran-
meldungen eine Vorbehaltsaufgabe der steuerberatenden
Berufe. Diese Auffassung wird nicht nur durch die Recht-

sprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt, auch
wenn diese schon älteren Datums ist. Sie wird auch von
der gesamten Fachwelt einhellig unterstützt, und zwar
nicht nur von den betroffenen Berufen, sondern auch von
den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Klimatagung,
zu der beispielsweise der Bund Deutscher Finanzrichter
und auch die Deutsche Steuer-Gewerkschaft gehören.

Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Urteilen
festgestellt, dass sowohl die Einrichtung der Buchführung
als auch die Erstellung von Abschlüssen dem steuerbera-
tenden Beruf vorbehalten bleiben müssen, weil nur dieser
Personenkreis durch seine fachliche Kompetenz und
seine persönliche Integrität den Schutz gesetzesunkundi-
ger Steuerpflichtiger vor einer Falschberatung, die Auf-
rechterhaltung der Steuermoral, die Sicherung des Steuer-
aufkommens und den Schutz der einheimischen Wirt-
schaft vor den Folgen einer nicht ordnungsgemäßen
Beratung gewährleistet. So hat das Verfassungsgericht
sein Urteil begründet. Es wird klar zwischen dem Verbu-
chen laufender Vorgänge, der laufenden Lohnabrechnung
und der Anfertigung der Lohnsteueranmeldung unter-
schieden. Das ist das eine Arbeitsfeld.

Das andere ist das Einrichten der Buchführung. Das
würde – auch das sagt das Verfassungsgericht – fachspe-
zifische Kenntnisse des Handels- wie auch des Steuer-
rechts erfordern. Vor allem ist es wegen der erheblichen
Auswirkungen für die Steuerpflichtigen und auf den Fi-
nanzhaushalt des Staates mit Verantwortung verbunden.

Bei der Aufstellung des Kontenplanswird grundsätz-
lich darüber entschieden, über welche Konten die Verbu-
chung der laufenden Geschäftsvorfälle erfolgt und – in
der Konsequenz daraus – welche Positionen des Jahresab-
schlusses damit ermittelt werden. Die Wahl der Konten
entscheidet auch über die Qualität und Aussagekraft der
unterjährlichen Erfolgsrechnung als Mittel der Unterneh-
mensführung. Das ist ein sehr wichtiges Instrument für
eine Unternehmung. Die Auffassung, dass es heutzutage
sowieso keinen Entscheidungsspielraum gebe, weil durch
die EDV bereits alles vorgegeben sei, beweist, dass eine
fachkompetente Festlegung für überflüssig gehalten wird.
Nach meiner Auffassung zeigt dies, dass die Tragweite
der Entscheidung nicht richtig eingeschätzt wird. Auch
die EDV-gestützte Buchhaltung kann einem Anwender
die normative Wertung nicht abnehmen, die vor Einrich-
tung der Buchführung anzustellen ist.

Ähnlich verhält es sich mit der Erstellung von Um-
satzsteuer-Voranmeldungen.Es ist ein absoluter Irrglaube,
zu meinen, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen wären nur
ein Abfallprodukt der Buchhaltung. Die Umsatzsteuer-
Voranmeldung ist eine vollwertige Steuererklärung.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!)


Sie ist zu unterscheiden von der jährlichen Steuerer-
klärung. Es sind aber bei ihr alle rechtlichen und tatsäch-
lichen Erfordernisse einer Steuererklärung gegeben.
Das heißt, sie ist richtig, vollständig und termingerecht
zu erstellen – und das mit allen Konsequenzen. Das
heißt, gegebenenfalls ergeben sich Säumniszuschläge, es
kann zu Steuerverkürzungen kommen und es können




Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks

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(C)



(D)



(A)



(B)


entsprechende Folgen der Strafbarkeit entstehen. Dieser
Auffassung hat sich auch der BGH angeschlossen, der erst
im letzten Jahr, am 22. April 1999, der Auffassung, die
Umsatzsteuer-Voranmeldung sei lediglich ein Abfallpro-
dukt aus der erfassten Buchhaltung, eine klare Absage er-
teilt hat. Vielmehr, so der BGH, gehe es bei der Umsatz-
steuer-Voranmeldung um eine echte Steuererklärung, de-
ren Anfertigung und Abgabe sich nicht darin erschöpfe,
dass der Steuerberater seinen Stempel und seine Unter-
schrift auf den durch Ausdruck sozusagen ausgefüllten
Vordruck setze. Vielmehr verlangt die Erstellung der Um-
satzsteuer-Voranmeldung fundierte umsatzsteuerliche
Kenntnisse, die durch sich häufig ändernde finanzgericht-
liche Rechtsprechungen, durch die Steuergesetzgebung
sowie die Einflüsse durch das europäische Steuerrecht
ständig komplizierter werden.

Die Forderung, dass die Hilfeleistung bei der Fertigung
einer Umsatzsteuer-Voranmeldung weiterhin den Steuer-
beratern vorbehalten bleiben muss, wird auch von der
Deutschen Steuer-Gewerkschaft unterstützt. Es liege
im Interesse einer funktionsfähigen Steuerverwaltung,
dass die Umsatzsteuer-Voranmeldung von qualifizierten
Steuerberatern erstellt werde und dabei für die Steuerver-
waltung keine zusätzliche Mehrarbeit mehr entstehe.

Zu glauben, dass Steuervoranmeldungen ja jederzeit
durch die Jahressteuererklärung berichtigt werden könn-
ten, ist nur für sehr beschränkte Fälle zutreffend. Tat-
sächlich ergibt sich aus der Rechtsnatur jeder einzelnen
Umsatzsteuer-Voranmeldung als eigener Steuererklärung,
dass bei gravierenden Änderungen jede einzelne Umsatz-
steuer-Voranmeldung geändert werden muss.

Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass ei-
ner der wesentlichen Unterschiede zwischen Bilanzbuch-
haltern und Steuerberatern auch darin besteht, dass erstere
ihre Tätigkeit gewerblich ausüben, also nicht eigenver-
antwortlich freiberuflich, wie es im Gesetz definiert ist.
So besteht natürlich die Möglichkeit, damit alle mögli-
chen anderen Tätigkeiten zu verbinden, beispielsweise
die Vermittlung von entsprechenden Verträgen zur Kapi-
talanlage. Zudem gibt es für die Bilanzbuchhalter keine
Verpflichtung, eine Berufshaftpflichtversicherung ab-
zuschließen oder einen solchen Bestand nachzuweisen.
Jedem Steuerberater wird sofort die Zulassung entzogen,
wenn er keine Haftpflichtversicherung mehr nachweisen
kann. Das ist hier nicht der Fall.

Da auch jedwede Kontrolle und Berufsaufsicht fehlt,
sind erhebliche Vorbehalte gegen das Ergebnis der Arbeit
aus staatlicher Sicht anzumelden. Allerdings muss auch
deutlich gesagt werden, dass Personen, die in der Lage
sind, die mit der Buchhaltung verbundenen steuerrechtli-
chen Fragen zu erkennen und zu beantworten, auch die
Fähigkeiten haben müssten, die Prüfung zum Steuerbera-
ter zu bestehen und die Zulassung zu erlangen. Ich meine,
bevor ständig neue Forderungen erhoben werden, sollte
sich dieser Personenkreis auf die vollständige Ausbildung
zum Steuerberater konzentrieren. Das ist auch zumutbar.

Auch die deutliche Ausweitung der Beratungsbefugnis
von Lohnsteuerhilfevereinen haben wir mit großer Skep-
sis gesehen und im Ergebnis abgelehnt. Anders als bisher
sollte die Steuerberatungsbefugnis bei Lohnsteuerhilfe-

vereinen zum Beispiel auch Einnahmen aus Kapitalver-
mögen umfassen, die weit über dem Sparerfreibetrag lie-
gen.

Ich darf auf die Skepsis der Finanzverwaltung hin-
weisen, die über die Klimatagung – Sie wissen, die Kli-
matagung hat nichts mit dem Wetter zu tun, aber sehr
wohl etwas mit der Atmosphäre, nämlich zwischen den
Berufsständen auf der einen Seite sowie der Finanzver-
waltung und der Rechtsprechung auf der anderen Seite –
zum Ausdruck gebracht hat, dass durch die Änderung des
Steuerberatungsgesetzes auf keinen Fall mehr Arbeit für
die Steuerverwaltung entstehen darf. Die Klimatagung
weist auf die Schwierigkeit der Erstellung der Steuerer-
klärung hin, in der zu prüfen ist, ob und wie die unter-
schiedlichen Kapitaleinkünfte in der Steuererklärung zu
erfassen sind und ob sie ungeprüft aus den Bankbeschei-
nigungen übernommen werden können. Die richtige Ein-
ordnung und Zuordnung – beispielsweise bei Vorliegen
von inländischen oder ausländischen Aktiendividenden –
setzt profundes Wissen im Körperschaftsteuerrecht voraus.
Ebenso verhält es sich bei der Besteuerung aus Fondsan-
teilen. Man könnte hier noch eine ganze Reihe von Bei-
spielen aufführen.

Die Steuerverwaltung sei darauf angewiesen, dass ein
Großteil der Steuererklärungen mehr oder weniger unge-
prüft übernommen werden könne, weil sonst die Arbeits-
flut nicht zu bewältigen sei. Deshalb kam man zu dem
Schluss, eine Ausweitung sei nicht zu befürworten, weil
nach der allgemeinen Erfahrung bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Lohnsteuerhilfe Spezialkenntnisse
außerhalb des klassischen Lohnsteuerbereiches nicht
durchgängig gegeben seien.

Wir sprechen den Lohnsteuerhilfevereinen keinesfalls
die Befähigung zu einer guten Beratung ihrer Mitglieder
ab – das haben wir in Gesprächen mit den Verbänden auch
immer wieder zum Ausdruck gebracht –, aber wir sind der
Meinung, dass dieser Beratungsbereich begrenzt bleiben
und eben nicht auf diese Art ausgedehnt werden sollte.
Denn durch die Beträge, die im Raum stehen, entsteht au-
tomatisch ein größerer Kreis von Betroffenen, die durch
die Lohnsteuerhilfevereine beraten werden können.

Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Ausweitung ab und
hat deshalb im Finanzausschuss gegen diesen Punkt ge-
stimmt. Wir erkennen allerdings, dass durch die Zugrun-
delegung des Begriffes „Einnahmen“ die Grenzen trotz
allem relativ strikt sind, eben weil Werbungskosten und
Betriebsausgaben nicht mit den Einnahmen saldiert wer-
den dürfen, es also nur um einen Bruttobetrag geht. Damit
ist die Ausweitung der Beratungsbefugnisse stärker be-
grenzt, als es beispielsweise der Fall wäre, wenn Verlust-
verrechnungen zulässig wären. Dann könnte es um höhere
Summen gehen. Das ist nicht der Fall. Das haben wir auch
gesehen und im Übrigen in der Diskussion abgeklärt.
Trotzdem sind wir der Meinung, dass durch die Festle-
gung der erhöhten Beträge von 18 000 DM eine Auswei-
tung erfolgt, die wir nicht mittragen wollen.

Ein weiteres Anliegen des Gesetzentwurfs ist die Über-
tragung von hoheitlichen Aufgaben – zum Beispiel Be-
stellung zum Steuerberater, Anerkennung von Steuerbera-
tungsgesellschaften, Widerruf und Rücknahme – auf die




Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Steuerberaterkammern. Hier war ursprünglich vorgese-
hen, dass die Aufwendungen für diese Arbeiten durch
staatlich festgelegte Pauschalgebühren abgegolten wer-
den. Im Laufe der Beratungen ist auf unseren Antrag hin
erreicht worden, dass die Gebühren durch die Kammern
selbst festgesetzt werden dürfen. Es ist meines Erachtens
nur recht und billig, dass die Steuerberaterkammern wie
im Übrigen auch die Rechtsanwaltskammern und – so ist
es zumindest vorgesehen – auch die Wirtschaftsprüfer-
kammern die Höhe der Gebühren selbst bestimmen kön-
nen.

Selbstverständlich gibt es für die Festsetzung der Ge-
bühren entsprechende Grundsätze. So müssen sie den
Grundsatz der Kostendeckung berücksichtigen, das heißt,
die bestehenden Aufwendungen dürfen durch das Ge-
bührenaufkommen nicht dauerhaft überstiegen werden.
Es muss der Grundsatz der Äquivalenz gewahrt bleiben,
dass Leistung und Gebühr in einem angemessenen Ver-
hältnis zueinander stehen. Des Weiteren muss der Grund-
satz der speziellen Entgeltlichkeit gelten, der besagt, dass
in die Gebührenbemessung keine sachfremden Maßstäbe
eingehen dürfen. Ich bin davon überzeugt, dass sich die
Kammern ihrer Verantwortung bewusst sind und ihre Auf-
gaben – wie auch bisher immer – zuverlässig ausüben
werden.

Insgesamt stimmen wir dem Gesetz zu, auch wenn wir
uns in der Sache, wie bereits ausgeführt, gegen die Aus-
weitung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfever-
eine ausgesprochen haben. Den Entschließungsantrag
lehnen wir allerdings ab, da hier nach unserer Meinung
durch weitere Prüfungen bei den Buchführungshelfern
und Bilanzbuchhaltern nur falsche Hoffnungen erweckt
würden, die der Gesetzgeber auf keinen Fall erfüllen
sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410213800
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin
Christine Scheel.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410213900

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetz-
entwurf, den wir heute beschließen wollen, wird das Steu-
erberatungsgesetz und die damit verbundenen Verordnun-
gen modernisieren. Das war auch der Ansatzpunkt, dem
wir uns als Regierungsfraktion gestellt haben. Es haben
sich viele Sachverhalte in der praktischen Entwicklung
verändert, sodass eine Modernisierung jetzt ansteht.

Diese Diskussion ist natürlich auch eine Gelegenheit,
über die Abgrenzung der Tätigkeiten der unterschiedli-
chen Berufsgruppen sowie der Dienstleister, die in diesem
Kontext verankert sind, neu nachzudenken und die damit
verbundenen Anforderungen, die aufgrund der Entwick-
lung des Steuerrechts und der Rechtsprechung insgesamt
gegeben sind, in die Diskussion einzubeziehen.

Herr Hauser hat auch – ich finde, zu Recht – das Bei-
spiel der Umsatzsteuer-Voranmeldung genannt und aus-
geführt, welche Schwierigkeiten darin liegen. Wir haben
im Finanzausschuss eine Anhörung durchgeführt und sehr

intensive Debatten zu diesem Thema mit allen Erwägun-
gen, die hier eine Rolle spielen, geführt.

Es ist vollkommen klar, dass wir uns hier in einem
Spannungsfeld zwischen der Gewährleistung der Ge-
werbe- und Berufsfreiheit einerseits und dem Schutz der
Verbraucher und Verbraucherinnen andererseits bewegen.

Die Koalitionsfraktionen haben – anders als jetzt von
Ihnen, Herr Hauser, für die CDU/CSU-Fraktion darge-
stellt – die Befugnisse der Lohnsteuerhilfevereine zur
Hilfeleistung in Steuersachen erweitern wollen. Das ha-
ben wir mit diesem Gesetzentwurf erreicht, der wohl
heute verabschiedet wird. Hier wird eine sinnvolle Rege-
lung getroffen. Wir haben letztendlich auch einen
Prüfauftrag vergeben, inwieweit die Beratungsbefugnisse
der selbstständigen Bilanzbuchhalter und Bilanzbuchhal-
terinnen erweitert werden können.

Nach einer sehr sorgfältigen Prüfung haben wir die
Grenzen, bis zu denen die Lohnsteuerhilfevereine ihre
Mitglieder beraten können, über die in der ersten Fassung
vorgesehene 12 000- bzw. 4 000-Mark-Grenze hinaus wei-
ter angehoben.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410214000
Frau Kollegin
Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne-
ten Dr. Seifert?


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410214100
Ja,
bitte.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410214200
Frau Kollegin Scheel, da auch
Sie von der Kompetenz der Steuerberaterinnen und Steu-
erberater sprechen, möchte ich meine Frage, die ich auch
schon an die Staatssekretärin gerichtet habe, an Sie in ei-
ner etwas abgewandelten Form wiederholen. Immerhin
haben sich die Grünen und die Bündnis-90-Leute bisher
immer für selbst bestimmte Lebensverhältnisse von be-
hinderten Menschen eingesetzt: Können Sie allen Ernstes
zustimmen, dass dieser Diskriminierungstatbestand –
wenn auch in abgeschwächter Form –, jetzt von Ihnen
vorgelegt, neu beschlossen wird? Oder können Sie sich
nicht wenigstens in diesem einen Punkt dazu durchringen,
unserem Änderungsantrag zuzustimmen, diesen Satz er-
satzlos zu streichen, damit wir keine neuen Diskriminie-
rungstatbestände nur aufgrund von Behinderungen her-
stellen?


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410214300

Wir haben das sehr intensiv geprüft und sind zu dem Er-
gebnis gekommen, das jetzt als Gesetzentwurf vorliegt.
Ich muss Ihnen sagen: Es war auch aus unserer Sicht nicht
möglich, darüber hinauszugehen. Mehr kann man an die-
ser Stelle nicht dazu sagen.

Wir wollen den Lohnsteuerhilfevereinen künftig die
Möglichkeit geben, ihren Mitgliedern Hilfe in Steuersachen
zu leisten, wenn deren Einnahmen aus anderen Einkunfts-
arten als aus nicht selbstständiger Tätigkeit 18 000 DM bzw.
36 000 DM nicht überschreiten. Diese Erweiterung ist im
Hinblick auf die aktuelle Einkommenssituation und auch




Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)


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die weiter steigenden Einkommen notwendig. Damit ha-
ben wir eine Regelung getroffen, die den Lohnsteuerhil-
fevereinen für längere Zeit eine sichere Existenzgrund-
lage gibt. Das ist ein sehr guter und wichtiger Schritt, der
hier gegangen worden ist.

Entgegen der Auffassung der Opposition, Herr Hauser,
ist es für uns ganz klar, dass die Tendenz, Leistungen aus
den Unternehmen auszulagern, zu einem erhöhten Bera-
tungsbedarf auch in den weniger qualifizierten Bereichen
der Steuerberatung führt, und dass gleichzeitig viele
selbstständige qualifizierte Bilanzbuchhalter und Bilanz-
buchhalterinnen diese Dienstleistungen anbieten könnten,
sie aber zum Teil nicht ausführen dürfen. Dies muss man
bei der Bewertung der Gesamtsituation berücksichtigen.

Wir wollen die Befugnisse von Steuerberatern und
Steuerberaterinnen sowie von den selbstständigen Bilanz-
buchhaltern und Bilanzbuchhalterinnen den heutigen
Realitäten entsprechend neu abgrenzen. Das heißt, die en-
gen Grenzen müssen so erweitert werden, dass zwischen
beiden Berufsgruppen ein fairer Wettbewerb möglich ist.
Sie müssen so exakt sein, dass sie für die Verbraucher
transparent sind und vor allem auch deren Schutz ge-
währleisten. Daher haben wir vonseiten der Koalitions-
fraktionen diesen Entschließungsantrag vorgelegt, der
den Willen zum Nachdenken und darüber hinaus zum
Handeln dokumentiert, die Befugnisse der selbstständi-
gen Bilanzbuchhalter zu erweitern. Jetzt ist ein ganz kla-
rer zeitlicher Rahmen für eine Prüfung, welche Anforde-
rungen an Qualifikation, Versicherungsschutz und Berufs-
aufsicht gestellt werden müssen, geschaffen. Damit haben
wir zumindest ein Signal gegeben.

Ein ganz entscheidender Bestandteil des Gesetzent-
wurfes ist auch eine praxistaugliche Neuregelung der
Vorschriften zurWerbung. Gerade den zahlreichen Ab-
mahnverfahren wird hier durch eine ganz klare Definition
der Berufsbezeichnungen und der Möglichkeit, mit diesen
Bezeichnungen zu werben, die rechtliche Grundlage ent-
zogen. Fairer Wettbewerb ist heute keine Frage mehr, die
allein aus einem nationalen Blickwinkel betrachtet wer-
den kann. Daher ist es so, dass Personen aus dem EU-Aus-
land, die dort befugt sind, geschäftsmäßig Hilfe in Steu-
ersachen zu leisten, dies auch in der Bundesrepublik
Deutschland tun.

Wegen der unterschiedlichen Qualifikationsanforde-
rungen in anderen Staaten der Europäischen Union wurde
von verschiedenen Seiten vorgeworfen, dass die inländi-
schen Berater und Beraterinnen diskriminiert werden. Da-
her haben wir die Bundesregierung gebeten, die tatsächli-
che Entwicklung der grenzüberschreitenden Beratungs-
tätigkeiten nicht nur zu beobachten, sondern auch zu
analysieren und uns darüber zu berichten. Gegebenenfalls
muss dann über die Verteilung der Befugnisse unter dem
Aspekt der Gleichstellung unter Gleichbehandlungsge-
sichtspunkten der europäischen Situation auch neu ent-
schieden werden.

Auch die weiteren Neuregelungen – Rechtsgrundlagen
für die EDV-Nutzung, Übertragung hoheitlicher Aufga-
ben an die Steuerberaterkammer – modernisieren die Vo-
raussetzungen für die Zulassung und die Berufsausübung
in den steuerberatenden Berufen und sind angesichts der

veränderten Anforderungen an eine funktionierende
Dienstleistungsgesellschaft dringend erforderlich.

Somit ist es gut, wenn diesem Gesetzentwurf zuge-
stimmt wird. Ich freue mich, dass von der Opposition si-
gnalisiert wurde, dass sie auch hier im Plenum – im Fi-
nanzausschuss hat sie dies ja schon getan – diesem Ge-
setzentwurf in der letzten Lesung zustimmen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410214400
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht Kollege Gerhard Schüßler.


Gerhard Schüßler (FDP):
Rede ID: ID1410214500
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärin
hat den Gesetzentwurf im Transrapidtempo eingebracht.
Daran kann man sehen, was ein Transrapid manchmal
auch wert sein kann.

Wir verabschieden heute wieder einmal ein Gesetz zur
Änderung des Steuerberatungsgesetzes. Vieles ist bereits
gesagt worden. Ich will die nach unserer Auffassung
wichtigsten Bestandteile vortragen:
Erstens die Anpassung an Art. 50 des EG-Vertrages durch
Zulassung der niedergelassenen europäischen Rechtsan-
wälte zum Beruf des Steuerberaters, zweitens verschie-
dene Änderungen im Prüfungs- und Zulassungswesen,
auf die im Einzelnen schon hingewiesen wurde, und drit-
tens die Übertragung hoheitlicher Aufgaben wie die Be-
stellung zum Steuerberater auf die Steuerberaterkammern –
ich denke, letzteres ist eine wichtige Entscheidung.

Die Umsetzung von EG-Recht zeigt aber auch an die-
ser Stelle erneut, dass immer mehr Bereiche unserer
Rechtsordnung von der Europäischen Union beeinflusst
werden. Heute kommen wir bei der Harmonisierung des
Rechts der EU-Mitgliedstaaten auch wieder einen Schritt
weiter. Künftig werden im europäischen Ausland zuge-
lassene Rechtsanwälte zum Beruf des Steuerberaters
zugelassen. Der Dienstleistungsfreiheit bei grenzüber-
schreitender Hilfeleistung in Steuersachen wird Rech-
nung getragen.

Wir verteidigen heute aber auch etwas, was es in die-
ser Form nur in Deutschland gibt: das umfassend gere-
gelte Recht der freien Berufe. Um nicht missverstanden
zu werden: Ich bin ein Befürworter dieses bewährten Be-
standteils unseres Rechtssystems. Freiberufler wie die
Steuerberater tragen aber auch ein hohes Maß an persön-
licher Verantwortung. Ihre berufliche Leistung verlangt
besonderen Sachverstand und hohe berufliche Qualifika-
tion. Es ist deswegen mehr als gerechtfertigt, an die Zu-
lassung zum Steuerberaterberuf besondere Anforderun-
gen zu stellen, die zugegebenermaßen bei weitem nicht
von allen Bewerbern erfüllt werden.

Betrachtet man aber die Komplexität des trotz aller ge-
genteiligen Bekenntnisse der Koalition immer schwieri-
ger und komplizierter werdenden Steuerrechts, können
die Voraussetzungen für die Zulassung zum steuerbera-
tenden Beruf nicht abgeschwächt werden.




Christine Scheel
9566


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(B)


Das klingt für viele andere Berufsgruppen, die im Steuer-
wesen tätig sind, natürlich nicht befriedigend. Das wurde
auch bei dem Expertengespräch im Finanzausschuss
deutlich. Trotzdem bleibe ich dabei, dass die Zugangs-
voraussetzungen zum Steuerberaterberuf nicht aufge-
weicht werden dürfen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Übrigen steht allen im Bereich Steuern Tätigen frei,
die Steuerberaterprüfung zu absolvieren.

In diesem Zusammenhang kann man über die Zu-
lassungsbedingungen zur Steuerberaterprüfung reden.
Ohne Frage haben Buchführungshelfer, Bilanzbuchhalter
und andere im Steuerwesen Tätige eine qualifizierte Aus-
bildung mit einer anspruchsvollen Abschlussprüfung ab-
solviert. Mit der Weiterentwicklung des Steuerrechts und
damit auch der Ausbildungsinhalte wird von Zeit zu Zeit
zu überprüfen sein, ob sich Prüfungsbestandteile mit der
Steuerberaterprüfung überschneiden oder in welchem
Umfang Ausbildungszeiten als berufspraktische Zeit gel-
ten können.

In einigen Bereichen sind im heute vorliegenden Ge-
setzentwurf Verbesserungen vorgenommen worden. Da-
rauf ist hingewiesen worden. Zudem gibt es in allen
angesprochenen Berufsgruppen eine dynamische Ent-
wicklung, die es erforderlich macht, von Zeit zu Zeit zu
überprüfen, ob es Erleichterungen beim Zugang zum
Steuerberaterberuf geben kann. Grundsätzlich muss es
aber klare Grenzen zwischen dem steuerberatenden Beruf
und anderen Tätigkeiten im Steuerwesen geben. So ist –
auch das ist gesagt worden – jede Umsatzsteuer-Voran-
meldung eine Steuererklärung, die den steuerberatenden
Berufen vorbehalten ist und auch bleiben sollte.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine,
wir sind bisher mit dem Steuerberatungsgesetz gut gefah-
ren. Ich denke dabei insbesondere an die Bürger, die in
Steuersachen Hilfe in Anspruch nehmen. Die meisten
müssen das, weil unser Steuerrecht von normalen Steuer-
pflichtigen nicht mehr verstanden wird. Sie müssen sich
auch darauf verlassen können, sachlich kompetent und
umfassend beraten zu werden.

Eine Schlussbemerkung zur Kompliziertheit des
Steuerrechts. Die Qualität der Beratungsleistung steht
und fällt auch mit der Praktikabilität der Gesetze und
sonstigen Vorschriften. Hier stoßen wir mehr und mehr an
Grenzen. Dazu trägt die gestern im Finanzausschuss
verabschiedete Unternehmensteuerreform ein gutes Stück
bei, denn sie hat unser ohnehin schon kompliziertes Steu-
errecht in für uns unerträglicher Weise verkompliziert.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die F.D.P. stimmt der No-
velle des Steuerberatungsgesetzes zu. Ich sage allerdings:
Wir werden wegen der weiteren Verkomplizierung des
Steuerrechtes der Unternehmensteuerreform nicht zu-
stimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410214600
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Heidemarie Ehlert.


Heidemarie Ehlert (PDS):
Rede ID: ID1410214700
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Das Anliegen der Bundesregierung, das
Steuerberatungsgesetz zu modernisieren und zu straffen,
ist zu begrüßen. Leider ist unsere Steuergesetzgebung
schon mehr als kompliziert und die übergroße Mehrheit
der Bürger muss auf die Hilfeleistungen von steuerbera-
tenden Berufsgruppen zurückgreifen. Aber bei allen posi-
tiven Veränderungen, denen ich durchaus zustimme, sind
unserer Meinung nach einige wichtige Fragen nicht aus-
reichend geklärt. Dazu haben wir entsprechende Ände-
rungsanträge eingereicht. Leider kann ich nicht alle er-
läutern.

Völlig unverständlich ist, warum der Regierungsent-
wurf nicht auf die berechtigten Forderungen der Bilanz-
buchhalter eingegangen ist, ihre Befugnisse nun endlich
neu zu regeln. Bereits 1994, als das 6. Änderungsgesetz
zum Steuerberatungsgesetz eingebracht wurde, haben Sie
sich, verehrte Kollegin Westrich, im Namen der SPD-
Fraktion dafür engagiert, ob und in welchem Rahmen die
Befugnisse der geprüften Bilanzbuchhalter erweitert
werden können. Ich stimme mit Ihrer damaligen Auffas-
sung völlig überein, dass es sich bei einem Teil der erfor-
derlichen Tätigkeiten im Steuerberatungsbereich um
Routinetätigkeiten handelt. Die Erstellung der laufenden
Umsatzsteuer-Voranmeldung ist, wie Sie bereits 1994
feststellten, fast automatisch ein Abfallprodukt der lau-
fenden Buchführung. Aber sie durfte nach der geltenden
Rechtslage gemäß § 5 des Steuerberatungsgesetzes von
Bilanzbuchhaltern unter Zwangsgeldandrohung nicht
durchgeführt werden. Ähnlich ist es bei der Einrichtung
der Buchführung.

Der nun von der SPD vorgelegte Gesetzentwurf
berücksichtigt nach dem Motto „Was kümmert mich mein
Geschwätz von gestern!“ ihre eigenen Forderungen von
1994 nicht. Was soll der Vorschlag, die Arbeitsaufgaben
der Bilanzbuchhalter bis 2001 noch einmal zu prüfen? Für
eine solche Prüfung waren sechs Jahre Zeit, zumal die
SPD-Fraktion bereits 1994 die Stellungnahme des DIHT
aufgegriffen hatte, dass die geprüften Bilanzbuchhalter
hinreichend qualifiziert seien, die beiden zusätzlichen
Tätigkeiten sachgerecht auszuführen. Neue Erkenntnisse
dürften also in den kommenden Monaten nicht gewonnen
werden. Wohl aber werden Hoffnungen enttäuscht und
wird ein zusätzlicher Arbeitsaufwand für die mit der Prü-
fung beauftragten Behörden künstlich geschaffen. Die
Lobby der Steuerberater hat wieder einmal erfolgreich
ihre Pfründe verteidigt.


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Der BGH hat es entschieden!)


Ohne Nationalismus predigen zu wollen, wird den hei-
mischen Bilanzbuchhaltern mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf das vorenthalten, was EU-Ausländern
im gleichen Atemzug gestattet wird, nämlich in Deutsch-
land Hilfeleistungen in Steuersachen einschließlich der




Gerhard Schüßler

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Einrichtung der Buchführung und der Erstellung von Um-
satzsteuer-Voranmeldungen anzubieten. Der Umfang des
zulässigen Angebots richtet sich dabei nach dem Umfang
der Berechtigungen im Niederlassungsland. Den in Ös-
terreich niedergelassenen Bilanzbuchhaltern ist eben das
erlaubt, was den deutschen nicht erlaubt wird. Das ist
meines Erachtens ein Verstoß gegen den Gleichheits-
grundsatz.


(Beifall bei der PDS)

Einen weiteren Verstoß gegen den Gleichheitsgrund-

satz stellt Art. 1 Nr. 35 c Abs. 3 des Regierungsentwurfs
dar, in dem es um die Änderung des § 40 des Steuerbera-
tungsgesetzes geht. Er muss ersatzlos gestrichen werden.
Dieser Absatz gibt den Steuerberaterkammern das Recht,
die Bestellung zum Steuerberater zu versagen, wenn der
Bewerber

... infolge eines körperlichen Gebrechens … nicht
nur vorübergehend unfähig ist, den Beruf des Steuer-
beraters ordnungsgemäß auszuüben;

Dieser Passus widerspricht dem Benachteiligungsverbot
des Art. 3 des Grundgesetzes. Auch Menschen mit kör-
perlichen Behinderungen sind durchaus in der Lage, den
Beruf des Steuerberaters auszuüben.


(Beifall bei der PDS)

Ich möchte noch ein letztes Problem ansprechen. Dem

Petitionsausschuss liegen eine Reihe von Petitionen von
Bürgern aus den alten und den neuen Bundesländern vor,
die im Zuge der deutschen Einheit vorläufig zu Steuerbe-
ratern bestellt worden sind und denen die endgültige Be-
stellung zum Steuerberater versagt wird, obwohl sie die
entsprechenden Prüfungen abgelegt haben. Dafür gibt es
sehr unterschiedliche Gründe. Teilweise ist nach dem Par-
teibuch oder nach entsprechenden Beziehungen entschie-
den worden. Die Beweise kann ich Ihnen, Herr Hauser,
vorlegen. Sie liegen in meinem Büro. Diese Klientel sollte
von uns vertreten werden. Deshalb fordern wir in einem
Änderungsantrag, dass diese Personen noch einmal die
Möglichkeit erhalten, ihren Fall überprüfen zu lassen.

Ich bitte sie sehr herzlich, unseren Änderungsanträgen
zuzustimmen.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410214800
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun die Kollegin Lydia Westrich.


Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1410214900
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Gerade nach der Debatte von
heute Morgen freue ich mich, dass wir jetzt einen Gesetz-
entwurf verabschieden, der von allen Fraktionen – bis auf
die der PDS – getragen wird. Das Steuerberatungsgesetz
steht in guter Tradition, Herr Hauser. Wir haben uns bei
der Erarbeitung dieses Gesetzes schon öfter zusam-
mengerauft. Das bedeutet gleichzeitig, dass es trotz des
trockenen Stoffes ein sehr „lebendiges“ Gesetz ist, das
vielfach geändert wurde.

Heute verabschieden wir das 7. Steuerberatungsände-
rungsgesetz. Das beweist die Dynamik, die in der Ent-
wicklung dieses Berufsrechts zu verzeichnen ist. Unsere
fleißige Steuergesetzgebung der letzten Jahre trägt natür-
lich zu den Veränderungsnotwendigkeiten bei. Aber auch
die Entwicklungen im europäischen Raum machen das
zeit- und praxisnahe Reagieren notwendig.

Die Bundesrepublik ist eines der wenigen Länder in
Europa, das überhaupt ein Gesetz über den steuerberaten-
den Beruf hat. Die Angehörigen steuerberatender Berufe
dürfen durch diese traditionelle Besonderheit natürlich
nicht behindert werden. Wir wollen ihre Leistungs- und
Wettbewerbsfähigkeit weiter stärken.

Fast 60 000 Personen kümmern sich in Deutschland als
Angehörige steuerberatender Berufe um die fachgerechte
Unterstützung der Steuerpflichtigen bei der Erfüllung ih-
rer steuerlichen Pflichten und bei der Gestaltung ihrer
steuerlichen Verhältnisse, was uns manchmal nicht ganz
so lieb ist. Sie übernehmen damit im Rahmen der Volks-
wirtschaft eine bedeutsame Funktion. Außerdem sind sie
laut Bundesverfassungsgericht ein Organ der Steuer-
rechtspflege.

Der Aufgabenbereich hat sich weit über die Hilfeleis-
tung in Steuersachen hinaus entwickelt. Steuerberater
sind für ihre Auftraggeber im Normalfall nicht nur für ei-
nen Einzelfall tätig; in der Regel beraten und vertreten sie
die Steuerpflichtigen über längere Zeiträume. Daraus er-
gibt sich von selbst, dass sie sich zu allgemeinen Beratern
ihrer Auftraggeber in wirtschaftlichen Fragen entwickeln,
zumal eine sachgerechte Hilfe in Steuersachen oft ohne
betriebswirtschaftliche Beratung gar nicht durchzuführen
ist.


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Dem sensiblen Vertrauensverhältnis zwischen den An-
gehörigen der steuerberatenden Berufe und den Steuer-
pflichtigen, die eine umfassende und qualifizierte rechtli-
che Beratung erwarten dürfen, hat die Politik durch das
Steuerberatungsgesetz bereits 1961 Rechnung getragen.

Beim 7. Änderungsgesetz passen wir das nationale
Steuerberatungsgesetz an das europäische Recht an. Wir
modernisieren und straffen die Regelungen und machen
sie durch Präzisierungen in einigen Bereichen leichter
handhabbar. Ich muss jetzt nicht nochmals alle Maßnah-
men dieses Gesetzes erwähnen. Das hat die Frau Staats-
sekretärin schon sehr ausführlich getan. Wir haben
wichtige Forderungen der Steuerberater aufgenommen,
einschließlich der Ermächtigung für eine Gebührenord-
nung, und wir sind in weiten Teilen im Konsens mit den
Betroffenen.

Im Gegensatz zu Herrn Hauser will ich aber auch
meine große Freude ausdrücken, dass es den Koalitions-
fraktionen gelungen ist, die Beratungsbefugnisse der
Lohnsteuerhilfevereine gravierend zu verbessern.


(Beifall bei der SPD)

Der Wille der Koalitionsfraktionen, Arbeitnehmern eine
qualifizierte und günstige Steuerberatung zu erhalten,
drückt sich in der Erweiterung der Beratungsbefugnisse




Heidemarie Ehlert
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(B)


bei Einnahmen aus anderen Einkunftsarten, sprich:
Einnahmen aus Kapitalvermögen, auf Beträge von
18 000 DM bzw. 36 000 DM bei Verheirateten aus.

Damit berücksichtigen wir natürlich auch das verän-
derte Verhalten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern, die ihre Zukunftsvorsorge nicht mehr allein über
das Sparbuch abwickeln. Trotzdem sollen sie bei der Ab-
gabe des Lohnsteuerjahresausgleiches oder der Einkom-
mensteuererklärung auf die „Selbsthilfeeinrichtungen der
Arbeitnehmer“, also auf Lohnsteuerhilfevereine, im Steu-
erberatungsbereich nicht verzichten müssen. Dem dient
die Erhöhung dieser Beiträge.


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Das wird die Kosten erheblich erhöhen!)


Erstmals in der Geschichte des Steuerberatungsgeset-
zes haben wir die Anhörung mit den Fachleuten auch auf
die Berufsstände der selbstständigen Buchhalter aus-
gedehnt. Hier stehen die langjährigen Forderungen der
selbstständigen Angehörigen buchführender Berufe im
Raum, die ihre Befugnis auf die Einrichtung der Buch-
führung, vorbereitende Abschlussarbeiten und das Erstel-
len der Umsatzsteuer-Voranmeldungen ausdehnen wol-
len. Die Bilanzbuchhalter erhalten dabei auch massive
Unterstützung vom DIHT, der im Rahmen der Dienstleis-
tungsfreiheiten des europäischen Wettbewerbs diese Aus-
weitung für unabdingbar hält.


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Weil sie die Prüfungen abnehmen!)


Diese Argumente, Herr Hauser, sind nicht ganz von der
Hand zu weisen. Die Abgrenzungsstrategien der Steuer-
beraterkammern in den früheren Jahren, die sich auch in
einer Vielzahl von Prozessen gegen selbstständige Bilanz-
buchhalter und Buchhalter ausgedrückt haben, sind mei-
ner Ansicht nach den Erfordernissen der heutigen Zeit
nicht mehr angemessen. Auch die Ausdehnung von
Dienstleistungsmöglichkeiten und die Erwartung der
Steuerpflichtigen, bei der Erfüllung ihrer Steuerpflichten
optimal beraten zu werden, müssen gegeneinander abge-
wogen werden.

Wir haben im 7. Änderungsgesetz bereits einige wich-
tige Forderungen dieser Verbände erfüllt, auch mit Ihrer
Zustimmung: Wir haben eine einheitliche Berufsbezeich-
nung eingeführt, wir haben die Werbemöglichkeiten
rechtssicher gegen Prozesse gemacht und wir haben die
Zugangsbedingungen zur Steuerberaterprüfung wesent-
lich erleichtert.

In einem Entschließungsantrag fordert der Finanzaus-
schuss des Deutschen Bundestages mehrheitlich das Bun-
desfinanzministerium zusätzlich auf, bis Ende nächsten
Jahres zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen und in
welchem Umfang das Tätigkeitsfeld der geprüften Bi-
lanzbuchhalter erweitert werden kann.

Wir werden auch genau beobachten, wie sich die
grenzüberschreitende Steuerberatung aus anderen Staaten
der Europäischen Gemeinschaft, vor allem aus Österreich
und den Benelux-Staaten entwickeln wird. Wir wollen al-
len einen fairen Wettbewerb gewährleisten.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Der Zugang zu einem dem Steuerberater ähnlichen Be-
ruf setzt in anderen Staaten der Europäischen Gemein-
schaft teilweise eine wesentlich geringere fachliche Qua-
lifikation voraus als unsere detaillierte Gesetzgebung. Ob
dadurch gravierende Wettbewerbsnachteile für die An-
gehörigen buchführender Berufe entstehen, wird deshalb
in den nächsten eineinhalb Jahren penibel registriert.
Nötigenfalls müssen wir dann – ich bin überzeugt, das
machen wir gemeinsam – die Verteilung der Befugnisse
zur Steuerberatung neu überdenken.

Das für die Koalitionsfraktionen wichtigste Kriterium
wird auch dabei der Verbraucherschutz sein. Die Risi-
ken für mögliche Befugniserweiterungen dürfen den
Steuerpflichtigen nicht aufgelastet werden. Da vor allem
kleinere Unternehmen und Handwerksbetriebe auf die
Dienste der selbstständigen Bilanzbuchhalter, Buchhalter
und Buchführungshelfer zurückgreifen, stehen wir als
Gesetzgeber auch in der Pflicht, die Sicherheit einer ord-
nungsgemäßen Beratung in unserer komplizierten Steuer-
gesetzgebung, insbesondere auch im Umsatzsteuerrecht,
einigermaßen zu gewährleisten. Das bedeutet: obligatori-
sche Haftpflichtversicherung, Berufsaufsicht, besser ans
Steuerrecht angelehnte Ausbildungsinhalte und anderes
mehr. Gerade in diesem Bereich gibt es bei den selbst-
ständigen Buchhaltern und Buchführungshelfern noch er-
hebliche Defizite.

Die Überprüfungszeit, wie sie der Entschließungsan-
trag vorsieht, wird auch den Verbänden Zeit geben, even-
tuell vorhandene Defizite aufzuarbeiten. Es ist ratsam,
diese Zeit zu nutzen, zusammen mit den Steuerberater-
kammern, den Finanzbehörden, dem DIHT Kriterien zu
entwickeln, die eine Brücke bilden zwischen den An-
sprüchen, die eine moderne Dienstleistungsgesellschaft
im europäischen Raum stellt, und dem notwendigen Ab-
bau von Hemmnissen sowie dem Vertrauensschutz für die
Steuerpflichtigen bei der schwierigen Steuergesetzge-
bung im gesamten europäischen Raum.

Ich fordere auch die Opposition auf, sich an diesen Ge-
sprächen zu beteiligen. Ich bin überzeugt davon, dass wir
mit reinen Abschottungsmechanismen wie bisher nicht
weiterkommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch wenn das Steuerberatungsgesetz sicherlich ein
lebendiges Gesetz bleiben wird, das heißt immer den je-
weiligen Verhältnissen angepasst werden muss, haben wir
mit diesem 7. Änderungsgesetz die Basis für eine weitere
gute Entwicklung der steuerberatenden Berufe im euro-
päischen Wettbewerb gelegt.

Ich bedanke mich auch für die gute Zusammenarbeit
mit dem Finanzministerium, den verschiedenen Verbän-
den und der Bundessteuerberaterkammer und hoffe, dass
wir überall weiter im Gespräch bleiben – gemeinsam im
Dienste der Steuerpflichtigen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Lydia Westrich

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Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410215000
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen nun

zu den Abstimmungen. Nach den Abstimmungen wird es
eine persönliche Erklärung des Abgeordneten Dr. Seifert
geben.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit
der Steuerberater in der Ausschussfassung. Das sind die
Drucksachen 14/2667 und 14/3284. Dazu liegen sieben
Änderungsanträge der Fraktion der PDS vor, über die wir
zunächst abstimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3311? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än-
derungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ge-
gen die Stimmen der PDS abgelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3312? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch die-
ser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3313? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än-
derungsantrag ist mit demselben Stimmenverhältnis ab-
gelehnt worden.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3314? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch die-
ser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3315? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser
Änderungsantrag ist ebenfalls mit demselben Stimmen-
verhältnis abgelehnt worden.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3316? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch die-
ser Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS mit
den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt worden.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3317? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch
dieser Änderungsantrag ist mit dem eben festgestellten
Stimmverhältnis abgelehnt worden.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung in der Ausschussfassung,
Drucksache 14/3284 Nr. 1. Wer stimmt für den Gesetz-
entwurf? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen
worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
der dritten Lesung mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der PDS angenommen worden.

Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3284 die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-

gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden.

Jetzt kommen wir zur persönlichen Erklärung zur Ab-
stimmung des Abgeordneten Dr. Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410215100
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
den Tribünen und draußen! Wir haben hier gerade über ein
Steuerberatergesetz abgestimmt. Ich habe mich am Ende
enthalten, weil Sie all unseren Änderungsanträgen Ihre
Zustimmung verweigert haben. Ich will mich auf einen
einzigen Änderungsantrag beziehen. Normalerweise
spreche ich in diesem Hause, wenn es um Behinderten-,
Menschenrechts- oder Bürgerrechtsfragen geht. Hier
wurde ein Gesetz verabschiedet, das in einem Punkte, für
den die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten kämpft,
dass es keine – –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410215200
Herr Abgeord-
neter, einen Moment! Ich muss jetzt doch auf die Regeln
achten. Sie können nur zu Ihrem eigenen Abstimmungs-
verhalten Stellung nehmen. Sie können nicht das
Abstimmungsverhalten anderer Abgeordneter kommen-
tieren oder kritisieren. Bei diesem Instrument der Ge-
schäftsordnung, das Sie benutzt haben, besteht dazu nicht
die Möglichkeit.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410215300
Vielen Dank, Frau Präsidentin,
dass Sie mich darauf hinweisen. – Ich wollte Ihnen nur
mitteilen, dass die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten
darum kämpft, dass solche Diskriminierungstatbestände
nicht mehr in Gesetze aufgenommen bzw. getilgt werden.

Am 5. Mai – das ist noch keine Woche her –, am euro-
paweiten Aktionstag, haben Menschen mit Behinderung
europaweit und gerade auch hier in Berlin genau darum
gekämpft, dass solche Sätze nicht mehr in Gesetze kom-
men. Ich fühle mich als Teil dieser Behindertenbewegung
und muss Ihnen sagen, dass ich enttäuscht bin, dass wie-
derum ein solches Gesetz verabschiedet wurde. Ich bitte
Sie, in sich zu gehen. Vielleicht bekommen wir wenigs-
tens in diesem Punkte so schnell wie möglich eine erneute
Änderung hin, die solche Diskriminierungen unmöglich
macht.

Es kann nicht sein, dass sich jeder Mensch blamieren
darf, auch beruflich, so wie er will, aber Menschen mit
Behinderungen, die in gleicher Weise freiberuflich wie
viele andere tätig werden wollen, vor sich selbst geschützt
werden sollen. Wo gibt es denn so etwas?


(Zuruf von der CDU/CSU: Darum geht es doch gar nicht!)


Ich bitte Sie, in sich zu gehen.
Frau Präsidentin, ich habe vielleicht das Geschäftsord-

nungsinstrument nicht ganz so angewandt, wie es richtig
wäre. Daher schöpfe ich meine Redezeit nicht aus.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und bitte Sie
alle in diesem Hause: Lassen Sie uns eine achte Änderung






(C)



(D)



(A)



(B)


zugunsten von Menschen mit Behinderungen und ohne
diskriminierende Formulierungen in Angriff nehmen!

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410215400
Ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Hauser (Bonn), Norbert Röttgen, Ilse Aigner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Sicherung der außeruniversitären interdiszi-
plinären Grundlagenforschung in der Informa-
tions- und Kommunikationstechnik
– Drucksache 14/3097 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Norbert Hauser.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Guter Mann!)



Norbert Hauser (CDU):
Rede ID: ID1410215500
Frau Präsiden-
tin! Meine Damen und Herren! Die interdisziplinäre
Grundlagenforschung ist für die Informations- und Kom-
munikationstechnologie von fundamentaler Bedeutung.
Sie ist es nämlich, die die Grundlage für die anwen-
dungsbezogene Forschung nachfolgender Jahre bildet.

Herr Catenhusen, es schien, als hätten Sie die Bedeu-
tung der Grundlagenforschung nicht nur erkannt, sondern
wollten ihr zusätzlichen Auftrieb verleihen, als Sie uns am
29. September des vergangenen Jahres wie aus heiterem
Himmel die Pläne der Bundesregierung über die Fusion
von GMD und FhG gütigst zur Kenntnis gaben. In einer
Pressemitteilung vom selben Tag hieß es vielverspre-
chend – ich zitiere –:

Zugleich wird in der neuen Organisation mehr Raum
für Vorlaufforschung geschaffen und für die Inan-
griffnahme neuer Themen, die erst mittel- und lang-
fristig Vermarktbarkeit versprechen.

Was ist aus diesen hehren Zielen geworden? Die
Grundlagenforschung ist Ihnen im wahrsten Sinne des
Wortes abhanden gekommen. Sie haben seit September
Ihre forschungspolitischen Fusionsziele aufgegeben. So
sollte interdisziplinäre Grundlagenforschung auch nach
der Fusion in der FhG fortgeführt werden. Gerade hierin
sollte der forschungspolitische Mehrwert der neuen FhG
liegen. Sie, Herr Catenhusen, haben das Wort Grundla-
genforschung aus den Fusionsplänen gestrichen. So sollte
die Fusion mit einer Neugliederung der FhG einhergehen.
Vorgesehen war die Aufgliederung der FhG in Fachberei-
che, so auch in einen für I und K. Davon ist heute keine
Rede mehr.

Es ist daher kein Wunder, dass Sie mit Ihren Fusions-
plänen mittlerweile auf ungeteilte Ablehnung stoßen. Erst
vorgestern haben sich die Institutsleiter der GMD ge-

schlossen gegen eine Fusion ausgesprochen. Bei den Mit-
arbeitern der GMD herrschen Bitternis und Verärgerung.
Statt sie an dem Fusionsprozess zu beteiligen, werden ih-
nen seitens des BMBF Maulkörbe verpasst. Es macht sich
das Gefühl breit, es gehe nicht mehr um das Wohl der
GMD oder der FhG, sondern ausschließlich darum, die
einmal propagierte Fusion um des vermeintlichen politi-
schen Erfolges der Forschungsministerin willen
durchzusetzen. Dies ist Arroganz der Macht, die hier zu-
tage tritt.


(Zuruf von der SPD: Quatsch!)

Selbst die FhG, die nach allen Einschätzungen nach der

Fusion auf der Gewinnerseite stünde, hat starke Vorbe-
halte. Die FhG hat deutlich gemacht, dass die Fusion nach
Fasson der Bundesregierung nicht zum Ziel führen kann.
So war einem Papier, das den FhG-Senatsbeschluss vom
11. April 2000 vorbereiten sollte, Folgendes zu entneh-
men – ich zitiere –:

Ein Kernproblem liegt nach wie vor in den bisher
nicht überbrückbaren Unterschieden der Förderung
von FhG und GMD und damit im unterschiedlichen
Zwang zur Fokussierung der Forschung auf kurz-
und mittelfristige Umsetzbarkeit.

Die FHG fordert deshalb von der Bundesregierung
Antworten – Zitat –:

Noch heute fehlt es an erschöpfenden und konsisten-
ten Erklärungen des BMBF zu den mit der Fusion
verfolgten forschungspolitischen Zielen und den da-
mit verbundenen Förderbedingungen für die FhG-
und GMD-Institute in der erweiterten FhG.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Unter dem Label „Fusion unter Gleichen“ wurden
die Geschäftsführungen beider Gesellschaften

– hören Sie gut zu, Herr Hilsberg –
allein gelassen bei der gemeinsamen Richtungsfin-
dung unter dem Diktat der so unterschiedlichen wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen in FhG und
GMD.

Was muss Ihnen eigentlich noch ins Stammbuch ge-
schrieben werden, damit Sie endlich aufwachen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch von Externen, die von der Fusion nicht be-

troffen sind, erhalten Sie schlechte Noten. Professor
Wilfried Bauer von der TU München schrieb an Frau
Bulmahn:

Ich verstehe nicht, wie Sie ohne eingehende Bera-
tung durch kompetente Wissenschaftler und Fach-
leute aus der Industrie solch eine delikate Angele-
genheit im Stile einer Firmenfusion durchziehen zu
können glaubten.

Oder Professor Bernd Neumann von der Universität
Hamburg betonte gegenüber der Forschungsministerin –
Zitat –,




Dr. Ilja Seifert

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(D)



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(B)


dass Ihre Maßnahme die Grundlagenforschung der
GMD und damit in Deutschland substanziell
schwächen wird.

Noch deutlicher wurde Professor Siegfried Stiehl,
ebenfalls Universität Hamburg, der etwas drastisch meint,
dass durch die Fusion

eine politische Guillotine einen der besten Köpfe der
IuK-Grundlagenforschung in der Bundesrepublik
vom wissenschaftlichen Körper der nationalen In-
formatik trennt.

Das sind deutliche Worte, die der Koalition zu denken
geben sollten. Meine Damen und Herren, mit solchen No-
ten könnte keiner von Ihnen mehr irgendein Examen be-
stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Selbst die Sitzländer der GMD – Berlin, Hessen, Nord-

rhein-Westfalen – haben deutlich gemacht, – –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410215600
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Norbert Hauser (CDU):
Rede ID: ID1410215700
Ja.

(Zuruf von der SPD)


– Sie brauchen die Frage ja nicht zu stellen.


Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1410215800
Herr Kollege Hauser, ist
Ihnen eigentlich entgangen, dass die entscheidenden Be-
schlüsse der beiden Gremien für die Fusion nahezu ein-
stimmig erfolgt sind und dass von allen Fachleuten, die in
diesen Gremien versammelt sind, keinerlei Kritik an dem
bisherigen Fusionsprozess laut geworden ist?


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie waren doch nicht dabei! Das ist doch eine Lüge!)



Norbert Hauser (CDU):
Rede ID: ID1410215900
Herr Hilsberg,
hören Sie doch bitte zu! Ich habe Ihnen die Kritik der FhG,
die ja eigentlich – ich führte das aus – der Gewinner die-
ser ganzen Aktion sein sollte, ausdrücklich und umfas-
send zitiert. Hier wurde deutlich, dass zwar eine Fusion
unter den Parametern, wie sie ursprünglich einmal ange-
dacht waren – Stärkung der Grundlagenforschung in der
FhG, diese Stärke der GMD in die FhG mit hinüber neh-
men, dadurch die Synergieeffekte aus beiden stärken –,
möglich und sinnvoll sei. Aber von diesen Parametern ha-
ben Sie sich entfernt.


(Jörg Tauss [SPD]: Völliger Unfug!)

Ich werde gleich noch einmal dazu kommen, dass die Fu-
sion von der Erfüllung dieser Parameter abhängig ge-
macht werden muss. Nur wenn das gewährleistet ist, kann
es eine Fusion dieser beiden Einrichtungen geben. Und
unter dieser Bedingung, Herr Hilsberg, haben zum Bei-
spiel der Aufsichtsrat in der GMD und auch der Senat in
der FhG zugestimmt, weil man davon ausging, dass dies
auch Bedingungen für eine Fusion seien.

Meine Damen und Herren, ich wies schon darauf hin,
dass auch die Sitzländer – Berlin, Hessen und Nordrhein-
Westfalen – deutlich gemacht haben, dass in diesem Sinne
die Parameter eine Conditio sine qua non für eine Fusion
sind.

Ministerialdirigent Helmut Matonett vom Ministerium
für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und For-
schung des Landes Nordrhein-Westfalen schreibt in ei-
nem Brief vom 30. März 2000 an den Landrat des Rhein-
Sieg-Kreises:

Nur wenn gewährleistet ist, dass diese Eckpunkte,
die nach Geist und Inhalt Grundlage für die Zusam-
menführung sein sollen, auch tatsächlich umgesetzt
werden, wird die Landesregierung einer Fusion von
FhG und GMD zustimmen.

Meine Damen und Herren, Hauptproblem im Fusions-
prozess ist der entstandene Eindruck, dass die Bundesre-
gierung bereit ist, die interdisziplinäre Grundlagenfor-
schung im IuK-Bereich auf dem Fusionsaltar zu opfern.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist die ganze Zeit Ihre dumme Behauptung!)


Heute müssen Sie die Antwort darauf geben, wohin der
Weg der Informations- und Kommunikationstechnologie in
Deutschland führen soll. Entweder auf der einen Seite Grund-
lagenforschung, Vorlaufforschung und anwendungs-
orientierte Forschung als harmonischer Dreiklang oder auf
der anderen Seite, wie es im Bericht der Evaluierungskom-
mission für die FhG aus November 1998 heißt, anwendungs-
orientierte Vertragsforschung, ausgerichtet an der „Kun-
denzufriedenheit“.

Eine solche, auf kurzfristige Erfolge abzielende For-
schung hat durchaus ihren Sinn. Sie kann aber nur einen
Teil der Forschungslandschaft darstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Verbesserungen da, wo wir bereits top sind, Vorrang für
Anwender für das kurzfristig Benötigte, aber eben keine
Antworten auf lange Sicht.

Das ist Feuerwerksforschung: brillant, leuchtend und
beeindruckend für den Moment, aber eben ohne Ant-
worten und dunkel im Blick auf die Zukunft.

Wir haben Sie mehrfach auf die gegenläufige Ent-
wicklung in den USA hingewiesen, die Sie nicht zur
Kenntnis nehmen wollten. Die USA beabsichtigen, bis
2004 zusätzlich 1,378 Milliarden US-Dollar im Wesentli-
chen in die interdisziplinäre Grundlagenforschung zu in-
vestieren,


(Jörg Tauss [SPD]: Ihr habt gekürzt!)

ausgerichtet nicht an kurzfristigen Zielen, sondern an
Zeiträumen von Dekaden. Nur wenn wir übersehen, was
übermorgen gefragt ist, wenn es uns gelingt, die Anforde-
rungen, die unsere Gesellschaft in Zukunft zu bewältigen
hat, zu erkennen, um uns dann umgehend auf die Suche
nach Antworten zu begeben, eröffnen wir uns die Mög-
lichkeiten, die Schwelle zu neuen Märkten als Erste zu
überschreiten. Die USA haben das begriffen und verste-




Norbert Hauser (Bonn)

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hen die Grundlagenforschung als strategische Forschung
für neue Märkte.

Wir verlangen deshalb für die Fusion von FhG und
GMD deutliche Zeichen, dass die von Ihnen zugesagte Er-
haltung und Förderung der Grundlagenforschung Voraus-
setzung und Bedingung für eine Fusion dieser beiden For-
schungseinrichtungen sind.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410216000
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen.

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1410216100
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf dem Weg in
die Informations- und Wissensgesellschaft hat die
Vorgängerregierung ein schlüssiges Gesamtkonzept nie
zustande gebracht. Nur wenige technologische Neuerun-
gen im Bereich Internet sind „made in Germany“.
Hinsichtlich Computerausstattung und Internetanbindung
rangierten deutsche Bildungseinrichtungen bei Regie-
rungsübernahme im internationalen Vergleich höchstens
im Mittelfeld. Didaktisch hochwertige Bildungssoftware
war bei Regierungsübernahme nur wenig verfügbar, ganz
zu schweigen von dem Thema Aus- und Weiterbildung im
IT-Bereich, wo offenkundig nicht rechtzeitig auf er-
kennbare neue Anforderungen reagiert wurde, mit der
Folge, dass wir in Deutschland heute hier eine Wachs-
tumsbremse haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionspro-
gramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Infor-
mationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ erstmals ein
Gesamtkonzept vorgelegt, in dem wir Ziele formulieren,
Aktionen bündeln und in Kooperation und gegenseitiger
Abstimmung von Wirtschaft und Politik die für den Auf-
bruch in die Informationsgesellschaft notwendigen Wei-
chenstellungen für eine zukunftsgerichtete Forschungs-
und Bildungspolitik vorgenommen haben. Zentrale Maß-
nahmen sind dabei etwa die gemeinsame Initiative im Be-
reich Initiative D 21 mit der Wirtschaft und auch mit den
Ländern zur verstärkten Computerausstattung und Netz-
anbindung aller Bildungseinrichtungen. Es geht etwa um
das neue Förderprogramm „Neue Medien in der Bil-
dung“, bei denen die Entwicklung und Erprobung didak-
tisch hochwertiger Bildungssoftware Schwerpunkt ist,
wofür alleine in den nächsten Jahren 400 Millionen DM
zur Verfügung gestellt werden. Es geht etwa um Pro-
gramme zur Erschließung neuer Anwendungsfelder durch
Nutzung moderner I-und-K-Technologien, zum Beispiel
im Bereich virtuelle Realität, intelligente Internettechno-
logien. Es geht auch um die Sicherung und den Ausbau
der Spitzenposition in der informationstechnischen Tech-
nologieentwicklung, etwa durch unser neues Förderpro-
gramm UMTS plus, und um neue Anstrengungen zur
Fortentwicklung der wissenschaftlichen Infrastruktur,

zum Beispiel die Umstellung des deutschen For-
schungsnetzes hin zu einem Höchstleistungsnetz mit
Übertragungsraten im Gigabytebereich.

Zu einem in sich konsistenten zukunftsorientierten Ge-
samtprogramm gehört auch die Frage, wie wir die Struktur
der außeruniversitären Forschung auf dem Gebiet der Kom-
munikations- und Informationstechniken zukunftsorientiert
weiterentwickeln. In Übereinstimmung mit dem Präsiden-
ten der Fraunhofer-Gesellschaft und dem Direktor der
GMD haben wir deshalb einen Prozess begonnen, der zum
Ziel hat, durch Zusammenführung der Institute der GMD
mit den Informations- und Kommunikationsforschungsin-
stituten der Fraunhofer-Gesellschaft die Stärken beider Ein-
richtungen zu bündeln. Jeder kann in diese neue Struktur
seine besondere Stärke einbringen. Denn – das gilt es fest-
zuhalten – gerade im Bereich der Informations- und Kom-
munikationstechnik kommt es zu einer immer stärkeren
Rückkoppelung zwischen anwendungs- und produkt-
orientierter Forschung und Entwicklung und strategisch
orientierter längerfristiger Grundlagenforschung.
Gerade in diesem Bereich sind die Innovationszyklen ex-
trem kurz und damit verschwimmen die klassischen
Grenzen zwischen Grundlagenforschung, angewandter
Forschung und Vorbereitung auf Produktentwicklungen.

Meine Damen und Herren, ich meine, wer für
Deutschland, wie Sie es heute tun, ausschließlich die
Stärkung der Grundlagenforschung im klassischen Sinne
reklamiert, missversteht die Innovationsdynamik auf die-
sem Gebiet und den Abbau bisher gültiger Grenzen zwi-
schen Grundlagenforschung, angewandter Forschung
und produktorientierter Forschung. Er missversteht auch
grundlegende Studien wie etwa den amerikanischen
PITAC-Report.


(Beifall bei der SPD)

Denn dieser Report empfiehlt durchaus verstärkte Akti-
vitäten in strategisch ausgerichteten Forschungsfeldern.
Er verknüpft sie aber immer mit sehr konkreten Anwen-
dungsfeldern. Das ist der strategische Fehler und der
Denkfehler, den Sie, Herr Hauser, und andere machen, in-
dem Sie versuchen, diesen Gesamtkomplex künstlich aus-
einander zu dividieren und künstliche Trennungen im Ge-
füge und in der Struktur der außeruniversitären Forschung
in Deutschland einzufordern.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410216200
Herr Staatsse-
kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hauser?

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1410216300
Aber
gerne.


Norbert Hauser (CDU):
Rede ID: ID1410216400
Herr Kollege
Catenhusen, ist Ihnen entgangen, dass ich soeben
vorgetragen habe, dass unser Verständnis von Grundla-
genforschung aus dem harmonischen Dreiklang von
Grundlagenforschung, Vorlaufforschung und anwen-
dungsorientierter Forschung besteht, und dass damit
durchaus deutlich wird, dass wir diese drei Aspekte nicht




Norbert Hauser (Bonn)


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auseinander ziehen wollen, sondern dass wir gerade das,
was Sie jetzt im Begriff sind zu tun, nämlich sich nur noch
auf die anwendungsorientierte Forschung zu stützen, für
falsch halten?

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1410216500
Wenn
Sie das so sehen, Herr Kollege Hauser, nehme ich das
zwar zur Kenntnis, weise Sie aber darauf hin, dass es ei-
nen erkennbaren Widerspruch zwischen der strategischen
Grundeinschätzung, die Sie in Ihrer Rede haben anklin-
gen lassen – ich akzeptiere diese auch; darin besteht of-
fenkundig Übereinstimmung zwischen uns; das ist ja auch
wichtig –, und den Organisationskonsequenzen, die Sie
aufgrund Ihrer Position ziehen, gibt.

Denn gerade bei der Fusion von GMD und FhG wer-
den nach unserer Überzeugung alle Beteiligten gewinnen
können.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Sie sind jetzt aber wieder in Ihrer Rede, Herr Catenhusen! Da darf ich mich setzen!)


– Sie müssen mir schon überlassen, ob ich Ihre Frage mit
zwei oder mit 20 Sätzen beantworte, Herr Kollege Hauser.
– In diesem Sinne sage ich Ihnen: Jawohl, ich konstatiere
diesen Widerspruch und denke, dass Sie an dieser Stelle
für sich selber klären müssen, was für Sie wichtiger ist:
Wollen Sie grundsätzlich den Synergieeffekt, der sich aus
dem Prozess einer stärkeren Verknüpfung und Vernetzung
von stärker auf Grundlagenforschung orientierten Institu-
ten, die sehr viel mehr marktorientiert sind, sich aber in
der Synergie mit den Instituten der GMD stärker auf Fra-
gen der strategischen Forschung öffnen können, und von
auf strategische Forschung orientierten Instituten ergibt?
Oder wollen Sie in Ihren praktischen Umsetzungsforde-
rungen Strukturen konservieren, die das Zusammen-
führen und das, wie Sie sagen, stärkere Aufeinanderbe-
ziehen eher verhindern oder abblocken?

Das ist die strategische Frage, die Ihnen gestellt wird
und auf die wir eine andere Antwort geben. Denn nach un-
serer Überzeugung können bei der Fusion von GMD und
FhG im Bereich der Informations- und Kommunikations-
technik alle Beteiligten gewinnen, und zwar die Institute
der GMD an Marktorientierung und an stärkerer Orien-
tierung an Auftragsforschung, wie es den Strukturen der
Fraunhofer-Gesellschaft entspricht. Auch die Fraunhofer-
Gesellschaft – das Umdenken fällt beiden Organisationen
offenkundig nicht ganz leicht – kann von der längerfris-
tig orientierten Forschung auf der Basis strategischer
Gesichtspunkte, wie sie in der bisherigen GMD vorge-
herrscht hat, profitieren.

Meine Damen und Herren, es ist doch klar, dass wir die
Kompetenz der Fraunhofer-Gesellschaft, die sich sehr
stark auf die industrielle Auftragsforschung und auf die
Auftragsforschung für öffentliche Projekte konzentriert
hat, auch in zukünftig bedeutsamen Technologiefeldern
stärken müssen. Die Kommission, die die Fraunhofer-Ge-
sellschaft evaluiert hat, hat ausdrücklich empfohlen, die
Kompetenz der Fraunhofer-Gesellschaft für die Produkte

von morgen und übermorgen durch eine Verstärkung der
Vorlaufforschung voranzubringen.

Ich denke, konkret dies setzen wir um. Deshalb gilt: In
dieser gemeinsamen Struktur sollte die vergrößerte
Fraunhofer-Gesellschaft insgesamt mehr Anreize für Aus-
gründungen schaffen, wie sie zum Beispiel in der Gesell-
schaft für Mathematik und Datenverarbeitung in den letz-
ten Jahren durchaus in beachtlicher Weise realisiert wor-
den sind.

Dies werden wir erreichen durch einen eigenen Fonds
für die längerfristig angelegte Forschung auf strategi-
schen, zukunftsträchtigen Gebieten – dazu könnte man
auch „anwendungsorientierte Grundlagenforschung“ sa-
gen –, und durch eine Verbesserung des Anreizsystems in-
nerhalb der erweiterten Fraunhofer-Gesellschaft für Aus-
gründungen und für die Einwerbung von EU-Mitteln.

Mein Eindruck ist, dass, wenn wir die Diskussion zu
grundsätzlichen Fragen führen, viel mehr Gemeinsam-
keit in der Zielsetzung auf beiden Seiten des Hauses be-
steht, als es vielleicht in einer hitzigen Debatte wenige
Tage vor einer Landtagswahl den Anschein haben kann.
Offenkundig fällt uns das aktive Mitwirken an solchen
strukturellen Reformen, das offene Einlassen auf einen
gemeinsamen Entwicklungsprozess, den wir nicht im
Detail vorgeben wollen, nicht immer ganz leicht. Das ist
auch kein Wunder nach 16 Jahren Reformstau in
Deutschland. Wo gibt es die Kultur, strukturelle Refor-
men im Wissenschaftsbereich gemeinsam anzugehen?
Wo sind in den letzten 16 Jahren Lernprozesse erfolgt, die
Strukturen zukunftsorientiert weiterzuentwickeln?


(Zuruf von der SPD: Schon gar nicht bei Herrn Rüttgers!)


Wir müssen lernen, damit umzugehen, dass die Reform-
bereitschaft in diesem Bereich nicht im ersten Anlauf mit
Jubel begleitet wird, sondern zum Teil mit Besorgnis, weil
man geneigt ist, mit der Überzeugung in den Prozess zu
gehen: Besser, es bleibt so, wie es ist; ich weiß ja nicht,
wie die Zukunft wird.

Meine Damen und Herren, wir wissen – das hat die
schwierige Diskussion der letzten Monate gezeigt –, dass
es in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbei-
tung, einer Großforschungseinrichtung des Bundes, und
der Fraunhofer-Gesellschaft unterschiedliche Unterneh-
mensphilosophien und -kulturen gibt. Das macht den be-
gonnenen Integrationsprozess zu einem spannenden und
nicht spannungsfreien Unterfangen.

Ich kann verstehen, dass Sie als Abgeordnete es als Ihre
Aufgabe erachten, uns auf die Schwierigkeiten hinzuwei-
sen. Es ist auch richtig, dass Abgeordnete, die in diesen
Regionen Verantwortung tragen, uns mit den kritischen
Nachfragen der Beschäftigten konfrontieren. Aber in der
ersten Aprilhälfte hat es Beschlüsse seitens des Auf-
sichtsrats der GMD und des Senats der Fraunhofer-Ge-
sellschaft gegeben – darauf hat der Kollege Hilsberg be-
reits hingewiesen –, durch die eine gewisse Klärung der
Perspektive erreicht wurde:




Norbert Hauser (Bonn)

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Erstens. Die Umsetzung der Fusion wird zum 1. Ja-
nuar 2002 erfolgen. Das heißt, wir haben mehr Zeit für ein
sorgfältiges Austarieren der neuen Struktur gewonnen.

Zweitens. Nach diesen Beschlüssen sind die wissen-
schaftlichen Mitarbeiter und die Leiter der Institute der
GMD und der IuK-Institute der Fraunhofer-Gesellschaft
am Zuge. Sie können mit den Vorständen beider Seiten
und gemeinsam mit einem erfahrenen Moderator die Sy-
nergieeffekte der Zusammenführung definieren sowie die
Struktur und die Schwerpunkte ihrer Arbeit unter dem
künftigen gemeinsamen Dach der Fraunhofer-Gesell-
schaft ausarbeiten. Wir erhoffen uns davon eine nachhal-
tige Profilierung und Stärkung der Forschungs-
landschaft auf dem Gebiet der Informations- und
Kommunikationstechniken.

Eines aber will ich hinzufügen: Man sollte nicht den
Eindruck erwecken, als spiele sich die außeruniversitäre
oder gar die wissenschaftliche, strategisch orientierte
Forschung im Bereich der Informations- und Kommuni-
kationstechniken weitgehend in der GMD ab, als gebe es
außer der GMD keine außeruniversitäre Forschung
mehr. Wir haben eine Vielzahl weiterer außeruniversitä-
rer Forschungseinrichtungen in vielen Bundesländern,
die hoch qualifizierte Arbeit auch im Bereich strategisch
und anwendungsorientierter Grundlagenforschung leis-
ten. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur das
Heinrich-Hertz-Institut, das Max-Planck-Institut in
Saarbrücken und das Deutsche Zentrum für Künstliche
Intelligenz in Kaiserslautern. Ich könnte diese Liste um
20 Institute – um Institute auch in den neuen Bundes-
ländern – mit hervorragenden Leistungen erweitern.

Auch die GMD muss wissen, dass sie nur ein Teil des
Systems ist. Sie haben daher in Ihrem Antrag zu Recht da-
rauf hingewiesen, dass wir eine breite Forschungs-
landschaft haben, dass wir hier also einen Baustein
fortschrittsorientiert weiterentwickeln. Wir nehmen die
Motivation Ihres Antrags sehr ernst, uns darauf hinzuwei-
sen und auch uns zu ermuntern und zu drängen, dass wir
den Instituten der GMD und der Fraunhofer-Gesellschaft
den notwendigen Spielraum zur Mitgestaltung dieses Fu-
sionsprozesses lassen. Diesem Drängen wird durch die
Beschlüsse des Senats der FhG und dem Beschluss des
Aufsichtsrats der GMD nachgekommen. Allerdings wer-
den sie schon in den nächsten Wochen zu beraten haben,
wie ernst sie die allgemeine Begrüßung der Zielsetzung
der geplanten Strukturreform nehmen.

Wir sind zuversichtlich, dass alle Beteiligten dieses
Jahr für eine konstruktive Ausgestaltung der neuen Struk-
turen nutzen. Ich sage deutlich: Natürlich bedeutet dies
auch, dass wir die Ergebnisse, durch die die Strukturen im
Vergleich zum bisherigen Planungsstand weiterent-
wickelt wurden, ernst nehmen. Denn wir wollen eine ef-
fiziente, eine leistungsfähige Struktur, die uns auch auf
dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstech-
nik stärker macht. Ich denke, dass wir alle Grund haben,
hier ein aktives Mitarbeiten an der zukunftsorientierten
Weiterentwicklung der Strukturen zu ermuntern.

Dazu wird sicherlich auch die Arbeitsplatzgarantie,
die für alle Beschäftigten der GMD gilt, beitragen. Denn
trotz aller Besorgnisse und Proteste kann hier von einem

sehr sicheren Fundament aus die Strukturreform betrieben
werden. Das muss man den Beschäftigten manchmal auch
sehr deutlich sagen: Es geht nicht um ihren Arbeitsplatz;
es geht nicht um ihre soziale Existenz, sondern es geht um
die Frage, wie die zukunftsorientierten Erwartungen an
ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem auch von den
Wissenschaftlern selbst in eine Weiterentwicklung der
Strukturen umgesetzt werden. Ich werbe nach wie vor
dafür, dass auch die Wissenschaftler selbst an diesem
strukturreformerischen Prozess mitwirken.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410216600
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die wird jetzt mit diesen Desinformationen aufräumen!)



Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1410216700
Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, es
klang am Anfang alles gut; die Argumentation schien lo-
gisch und schlüssig. Dem Anschein nach war die Aktion
gut vorbereitet und so löste die Nachricht aus der Bundes-
pressekonferenz vom 29. September 1999 unter dem Ti-
tel „Fraunhofer-Gesellschaft und GMD streben Fusion
an“ erst einmal keine größeren Unmutsbekundungen aus.
Warum auch? Frau Ministerin Bulmahn informierte die
Öffentlichkeit darüber, sie habe sich mit den Vorsitzenden
der Vorstände und der Aufsichtsgremien über die Fusion
geeinigt.

Kurz darauf – man beachte im Übrigen auch die Rei-
henfolge der Informationen – wurden über die Absichts-
erklärung die Mitglieder des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung informiert.
Auch hier wurde der Eindruck erweckt, alles sei sehr mo-
dern und zukunftsorientiert. Die größte Forschungsorga-
nisation auf dem Gebiet der IuK-Technik Europas werde
entstehen, Raum für Vorlaufforschung werde für die neue
Fraunhofer-Gesellschaft/GMD geschaffen; von Syner-
gien war die Rede und davon, dass man mit einem über-
kritischen Potenzial den Wirtschaftsstandort Deutschland
stärken und das Ausland das Fürchten lehren wolle.

Jedoch verfehlen schnelle Schüsse oft ihr Ziel, Herr
Staatssekretär, und so hat diese Bundesregierung wieder
einmal den schnellen Erfolg vorgezogen – eigentlich ver-
wunderlich, denn Nachhaltigkeit sollte ja die Politik die-
ser Regierungskoalition bestimmen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das Ergebnis einer laufenden Systemevaluation der

Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher For-
schungszentren, das der Wissenschaftsrat übrigens im
November dieses Jahres vorlegen wird, wurde nicht ab-
gewartet und nach neuen zukunftsträchtigeren Modellen
einer Zusammenarbeit zwischen GMD und den Instituten
der Fraunhofer-Gesellschaft wurde erst gar nicht gesucht.
Was modern und zukunftsträchtig aussah, entpuppte sich
also schnell als Dinosaurier der Forschungsgeschichte.




Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen

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Meine Damen und Herren, heute kommt es in der Wis-
senschaft längst nicht mehr darauf an, große verwal-
tungsintensive Forschungsorganisationen zu schaffen
oder bestehende immer weiter anwachsen zu lassen. Ge-
rade in der Forschung sind entgegen den Entwicklungen
in der Wirtschaft – das zeigt ja gerade der rasche Wandel
in den vielen aus der GMD ausgegründeten jungen IuK-
Technik-Unternehmen – kleine, kreative Strukturen ge-
fragt. Nicht die Größe einer Forschungsorganisation ist
der Maßstab, sondern die Leistungsfähigkeit der For-
schungsinstitute selbst.

Die GMD-Institute zählen mit den von ihnen bearbei-
teten Themen zur Weltspitze, so zum Beispiel mit dem
„biological computering“. Das eigentliche Problem ist in
der unterschiedlichen wirtschaftlichen Organisation
von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft zu sehen; das
wurde hier ja auch schon gesagt. Kleine Institute bei der
GMD sind mit ihren Wissenschaftlerteams visionär tätig;
Träger der Forschungsleistungen der Fraunhofer-Gesell-
schaft sind Institute, die zwar unselbstständig sind, die
aber als selbstständige Profitcenter agieren. In der GMD
findet zu 70 Prozent anwendungsorientierte Forschung,
zu 30 Prozent Grundlagenforschung statt. In diesem Teil
ist das Zusammengehen nicht kompatibel. Die reine Zu-
sammenlegung von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft,
ohne Berücksichtigung der gewachsenen Strukturen, birgt
unseres Erachtens in Wirklichkeit eine Schwächung der
Forschungsleistungen der einzelnen Institute in sich und
läuft auf die Schwächung der Informations- und Kom-
munikationsbranche in Deutschland hinaus.

Die Stärke der GMD liegt in ihren Wissenschaftlern,
also in der Innovationskraft der Institute. In der heutigen
Zeit muss man über ganz andere Strategien nachdenken.
Kooperationsvereinbarungen und virtuelle Fusionen der
Institute sind bereits heute gangbare Wege. So ist es vor-
stellbar, dass die unterschiedlichsten Organisationsstruk-
turen zielführend miteinander kooperieren.

Die GMD kann auch künftig allein funktionieren.
So könnte künftig die GMD einen eigenständigen Beitrag zur
Erhöhung der Attraktivität des Studienstandortes Deutsch-
land in der Doktorenausbildung und der Postdoktoranden-
phase leisten. Die GMD könnte durch die Fondsidee als Zu-
kunftsmodell getragen werden. Dabei wären zwei Fonds zu
bilden, der eine für die so genannten neuen Märkte, der an-
dere für Projekte der Grundlagenforschung.

Der Auftrag an die Vorstände und Aufsichtsgremien
von Fraunhofer-Gesellschaft und GMD sowie an die ein-
gesetzten Moderatoren sollte von der Bundesregierung
neu überdacht werden, damit bis zum genannten Zeit-
punkt – der Zeitraum hat sich ja nun erweitert, wie Herr
Catenhusen vorgetragen hat – eine tatsächliche Koopera-
tion zwischen GMD und Fraunhofer-Gesellschaft entste-
hen kann.

Unseres Erachtens ist ein Kooperationsmodell zu ent-
wickeln, das an die jeweiligen Stärken der Institute der
GMD und der Institute der Fraunhofer-Gesellschaft an-
knüpft und zu gemeinsamen Projekten und Strategien
führt. Denn nur eine partnerschaftliche Vereinigung
schafft die Grundlage für den Erfolg. Das eigentliche
Problem, das der unterschiedlichen wirtschaftlichen

Organisation von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft, ist
auch so zu lösen. In der GMD sind, wie gesagt, kleine In-
stitute mit ihren kleinen Wissenschaftlerteams sehr vi-
sionär tätig. Sie betreiben sozusagen Forschung in einem
Randgebiet zwischen Grundlagen- und angewandter For-
schung. Sie heute zu Eigenmittelerwirtschaftung nach
dem FhG-Modell zu bewegen würde viele Forschungs-
räume beschränken. Ich behaupte, es würde den Wissen-
schaftsstandort Deutschland gefährden.


(Jörg Tauss [SPD]: Wahrscheinlich stürzt dann die Sonne herunter!)


– Ich weiß, Herr Tauss, Sie können leider nicht mit Kritik
leben. Die rot-grüne Bundesregierung hat riesige Schwie-
rigkeiten, die Kritik der Opposition zu ertragen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Aber Sie haben nun einmal Verantwortung übernommen;
da müssen Sie sich die besseren Ideen anhören, auch wenn
sie aus der Opposition kommen.


(Jörg Tauss [SPD]: Wenn es denn Ideen gäbe!)


– Die habe ich Ihnen doch gerade vorgetragen. Fakt ist,
dass mit der Fusion, die Sie vorhaben, die Rolle der
Grundlagenforschung künftig geschwächt wird. Deswe-
gen denke ich, dass der CDU/CSU-Antrag – das sage ich
auch namens meiner Fraktion – die richtigen Feststellun-
gen getroffen hat.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410216800
Frau Kollegin,
die Redezeit ist jetzt doch schon erheblich überschritten.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1410216900
Ich bedanke mich für den
Hinweis, Frau Präsidentin. – Wir unterstützen natürlich
den Antrag der Union.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410217000
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hans-Josef Fell.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410217100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen von der Union, Ihr Anliegen, die außeruniver-
sitäre Forschung im Bereich der Informations- und Kom-
munikationstechnologie zu sichern und zu stärken, ist si-
cher berechtigt. Wir teilen Ihre Meinung.
Nur, dies in einen Antrag zu packen, ist vordergründig und
sehr schnell nachzuvollziehen: Sie haben unter den Mit-
gliedern der GMD eine Stimmung aufgegriffen und da-
raus einen Antrag gemacht, um in Nordrhein-Westfalen
richtig Wahlkampf zu machen. Dies ist der eigentliche
Hintergrund dieses Antrages.


(Beifall bei der SPD)

Deswegen ist er auch nicht zu unterstützen.




Cornelia Pieper
9576


(C)



(D)



(A)



(B)



(Zuruf des Abg. Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU])


– Nein, Sie haben nicht die richtigen Inhalte aufgegriffen;
denn im Ziel sind wir überhaupt nicht voneinander ent-
fernt und wir arbeiten daran, genau diese Grundlagenfor-
schung voranzutreiben.

Worum geht es? Im letzten Herbst wurde verkündet,
die GMD und die FhG würden fusionieren. Die Unter-
stützung des Ministeriums lag nahe, da sich die Beteilig-
ten weitreichende Synergieeffekte erwarteten. Dennoch
war die Aufgabe von Ministerin Bulmahn von Anfang an
nicht leicht und die Ministerin war nicht zu beneiden.
Denn es zeichneten sich schnell zwei große Herausforde-
rungen ab.

Die erste ist ganz klar: Die Fusion muss erfolgreich
sein. Beide Partner müssen gemeinsam mehr Erfolg ha-
ben, das heißt, sie müssen in der Summe mehr Erfolg ha-
ben als die beiden vorherigen Einzelkämpfer.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sagen Sie besser Herrn Catenhusen!)


Dieser Erfolg ist nicht selbstverständlich. Aus der Wirt-
schaft wissen wir, dass mehr als die Hälfte der beabsich-
tigten Fusionen nicht stattfindet.

Zweitens. Beide Partner haben zum Teil sehr unter-
schiedliche Strukturen und Aufgabenfelder.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hören Sie zu! Der watscht euch nämlich ab!)


– Nein, das ist überhaupt kein Abwatschen, Herr
Kampeter. Ich will das klarstellen. Es ist nur eine Darstel-
lung der vorhandenen Probleme, die wir mit Sicherheit lö-
sen können;


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Ach so!)

denn die Grundlagenforschung ist ein Bestandteil der
GMD, die der Anwendungsorientierung der FhG momen-
tan noch ein Stück weit fremd ist.

Ich will einige herausragende Beispiele der GMD zur
Grundlagenforschung nennen: Die GMD arbeitet an
Geruchscomputern, die es dem Nutzer ermöglichen, In-
formationen auch mit dem Geruchsorgan wahrzunehmen.
Das ist ein sehr interessantes Forschungsgebiet. Die GMD
arbeitet an Robotern, die Fußball spielen. Das ist keine
reine Spielerei, wie man vielleicht denken könnte. Nein,
es handelt sich vielmehr um einen sehr intelligenten An-
satz, autonome Systeme zusammenarbeiten zu lassen.
Dies ist heute noch Grundlagenforschung, kann in einigen
Jahren aber zu geradezu revolutionären Umwälzungen
führen, zum Beispiel in der Produktion.

Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit an Bionik-Compu-
tern. DNA-PCs können die Rechenleistungen von Com-
putern eines Tages möglicherweise beträchtlich steigern.
Das alles sind herausragende Ergebnisse der GMD-For-
schung.

Auch außerhalb des direkten Forschungsbereichs
nimmt die GMD wichtige Funktionen wahr. So arbeitet
sie in internationalen Organisationenmit, die die künf-
tigen Standards für Internet und Multimedia definieren.

So stellt sie das deutsche Büro des World-Wide-Web-
Konsortiums sowie das deutsche Büro und den Vorsitz der
Internet-Society.

Als Großforschungseinrichtung nimmt sie darüber hi-
naus wichtige Aufgaben in der Ausbildung wahr. Diese
Funktion kann aber nur dann ausgefüllt werden, wenn
eine institutionelle Förderung vorhanden ist, die über das
hinausgeht, was anwendungsorientierten Einrichtungen
zur Verfügung steht. In diesen Punkten sind wir völlig ei-
ner Meinung.

Die FhG dagegen hat ihre Stärken in der industriena-
hen Forschung. Je industrienäher die Forschung ist, de-
sto schneller wird die Umsetzung in Produkte und die
Schaffung von Arbeitsplätzen geleistet, und das ist gut so.
Dies schafft Spielraum für die Finanzen des Staates. Der
Staat sollte sich daher vor allem dort engagieren, wo der
Markt wichtige Funktionen nicht erfüllen kann, wie in der
Vorlaufforschung.

Im anwendungsnahen Bereich hat die Industrie häufig
ein Interesse, das groß genug ist, um selbst finanziell ak-
tiv zu werden. Die Vorlaufforschung hingegen ist häufig
noch zu weit vom Markt entfernt, als dass es sich für
Unternehmen lohnen würde, hier selbst aktiv zu werden.
Wenn sich die Förderpolitik vermehrt in Richtung Markt-
nähe verschieben würde – eine solche Politik haben Sie
von der Union viele Jahre lang betrieben –, hieße das, vor
allem die Ideen der Vergangenheit umzusetzen. Damit
laufen wir Gefahr, dass den anwendungsorientierten For-
schern in einigen Jahren die Ideen ausgehen. Die staatli-
chen Akzente, auch in der Informationstechnologie, müs-
sen daher wieder stärker in Richtung Vorlaufforschung
verlagert werden.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der watscht euch doch ab!)


Bündnis 90/Die Grünen würden es daher begrüßen,
wenn die Vorlaufforschung durch die Fusion mit der FhG
gestärkt und in der GMD auf hohem Niveau erhalten
bliebe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dies entspricht im Wesentlichen dem Grundsatz Ihres
Antrags und wird durch die Fusion auch tatsächlich aus-
geführt. Leider ist die Stimmung – so müssen wir fest-
stellen – nach der anfänglichen Fusionseuphorie etwas
umgeschlagen. Die Fusion wurde sogar zeitweise von ei-
nigen Beteiligten in Frage gestellt. Die Aufgabe der Mi-
nisterin Bulmahn wurde daher nicht einfacher.

Bündnis 90/Die Grünen begrüßen es insbesondere,
dass jetzt der zeitliche Druck auf die Fusion etwas ge-
mindert wurde; denn erst der 1. Februar 2002 wird nun als
Fusionszeitpunkt angestrebt.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Verlängerung des Elends!)


Wir begrüßen auch, dass ein Moderator eingeschaltet
wurde, um die Kommunikation zwischen den Beteiligen
zu verbessern.




Hans-Josef Fell

9577


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich möchte den Akteuren einiges empfehlen: Die GMD
sollte noch einmal allen Mut zusammenfassen und die Fu-
sion offensiv angehen. Sie soll ihre Stärken in den
Vordergrund stellen, und die bislang vorhandenen
Schwächen soll sie als Chance sehen, gemeinsam mit der
Fraunhofer-Gesellschaft auch hier Stärken zu entwickeln.
Dort, wo Verkrustungen entstanden sind, sollten diese in
der Fusion aufgelöst oder als Ballast abgeworfen werden.

Eine Ehe macht nur dann Sinn, wenn beide Partner auf-
einander zugehen. Wenn ein Partner vor der Hochzeit mit-
teilt, dass sich nur der andere anpassen solle, führt dies au-
tomatisch zu Missstimmungen. Kommt es dennoch zur
Hochzeit, sollte die genannte Einstellung entweder korri-
giert werden oder die Ehe wird mit Krisen belastet sein.
Möglicherweise kommt es sonst zu weniger Start ups, als
von den Eltern erhofft wurde, oder es kommt zu Fluktua-
tionen.

Auf Frau Bulmahn kommt nun die Aufgabe zu, die bei-
den Partner mit einer sehr glücklichen Hand zusammen-
zuführen. Sollte sich allerdings trotz aller Anstrengungen
herausstellen, dass eine Fusion nicht fruchtet, wünsche
ich der Ministerin den Mut, daraus die Konsequenzen zu
ziehen und über neue Strukturen nachzudenken.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sind die ersten Absetzbewegungen!)


Die Oppositionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P.
möchte ich daran erinnern, dass sie 16 Jahre lang Zeit hat-
ten, die Forschungsstruktur in der Informationstech-
nologie zu organisieren. Wer heute „Kinder statt Inder“
schreit, wie dies ein ehemaliger Zukunftsminister tat,
muss sich fragen lassen, wie es dazu kam, dass die Ame-
rikaner und Japaner in den letzten Jahren den Ton anga-
ben. Sie müssen sich auch fragen lassen, wie es nach Jah-
ren des Aussitzens dazu kommt, dass heute Zehntausende
von Informationstechnologiefachleuten fehlen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie wollten den Computer der Rundfunkgebühr unterwerfen, Herr Fell!)


Unsere Anstrengungen, die Fusion von GMD und FhG
voranzutreiben, sind aus Sicht von Bündnis 90/Die Grü-
nen sehr sinnvoll. Wir sind hoffnungsvoll, dass diese Fu-
sion zum Vorteil der Grundlagenforschung ist und ihrer
Stärkung dient.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410217200
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.


Maritta Böttcher (PDS):
Rede ID: ID1410217300
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Durch die Bundesregierung
wurde im Rahmen neuer Schwerpunktsetzungen in Wis-
senschaft und Forschung zu Beginn dieser Legislaturperi-
ode festgestellt, dass die außeruniversitäre Forschung,
speziell in den 16 Forschungszentren der Hermann von
Helmholtz-Gemeinschaft, neu geordnet werden muss.

Durch Programmsteuerung und Projektfinanzierung soll
erreicht werden, dass Grundlagen- und Anwendungsfor-
schung enger zusammenrücken, um in kürzester Zeit tech-
nologische Spitzenleistungen zu erzielen.

Dieser Umstrukturierungsprozess wurde mit einer Zu-
sammenführung der FhG und der GMD eingeleitet.
Die Regierung feiert diese Fusion als Erfolg bei der
Schaffung der größten IuK-Organisation in Europa. Nur
frage ich: Ist das wirklich das Entscheidende?

Bei einer forcierten Verschmelzung beider For-
schungseinrichtungen ist eine Schwächung der Grundla-
genforschung zu befürchten. Ich möchte dafür noch ein-
mal einige Argumente anführen: Die GMD kann die
anwendungsorientierten Erfolgskriterien der FhG – im-
merhin gibt es dort eine institutionelle Finanzierung in
Höhe von 60 Prozent und eine Finanzierung in Höhe von
40 Prozent aus Wirtschaftserlösen – nicht erfüllen. Durch
eine Unterordnung der GMD unter die FhG-Kriterien
würden speziell die Grundlagenforschung und die vi-
sionäre Forschung weitgehend eingeschränkt. Die GMD
als Deutschlands weltweit bekannteste Forschungsinstitu-
tion für die klassischen Ingenieurwissenschaften würde
von der Bildfläche verschwinden, ohne dass die FhG ihr
Profil sichtbar ändert.

Die erhofften Synergieeffekte bleiben aus. Sie be-
schränken sich aufgrund unterschiedlicher Aufgaben bei-
der Einrichtungen auf den Abbau des Verwaltungsappara-
tes der GMD. Teile der hoch qualifizierten Erwerbstätigen
würden im Zuge der Auflösung der GMD in Erfolg ver-
sprechendere Einrichtungen und Firmen abwandern und
eben nicht von der gemeinsamen Einrichtungen über-
nommen werden oder zeitweise eingeschränkte Entgelte
erhalten. Wie sich ihre Arbeitsbedingungen entwickeln,
steht also in den Sternen. Das können Sie alle in den Brie-
fen, die auch Sie erhalten haben, nachlesen.

Obwohl zunächst beide Gesellschaften einem solchen
Fusionsprozess aufgeschlossen gegenüberstanden – darü-
ber ist hier heute schon viel gesprochen worden –, kris-
tallisierte sich Anfang April dieses Jahres heraus, dass
diese Fusion eine sehr einseitige Angelegenheit ist. Zum
jetzigen Zeitpunkt wird die Fusion als gescheitert be-
trachtet.

Deshalb fordert die PDS die Bundesregierung auf, die
Fusion auszusetzen und damit den Forderungen der Ge-
schäftsführung, der Institutsleitung und des Wissen-
schaftlich-Technischen Rates der GMD nachzukommen,
die auch von der Belegschaft unterstützt werden.


(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Nach sieben Monaten gescheiterter Verhandlungen

muss eine neue Phase des Nachdenkens, des Gespräches
und der Kooperation mit der Fraunhofer-Gesellschaft ein-
treten, um gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen
dort eine neue Grundlage für eine Fusion zu schaffen,
über die später zu entscheiden sein wird. Eine solche Ge-
sprächs- und Kooperationsphase betrachten die Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter der GMD als notwendige
Voraussetzung, um eine neues Klima des Vertrauens in
den Fusionsprozess und eine fachlich begründete Vision
für die Fusion zu erreichen.




Hans-Josef Fell
9578


(C)



(D)



(A)



(B)


Sollte diesen Vorstellungen nicht entsprochen werden,
sieht es so aus, als ob an der GMD ein Exempel statuiert
werden soll, um die IuK-Grundlagenforschung zurückzu-
drängen und ähnliche Strukturmaßnahmen an anderen
Gesellschaften der Helmholtz-Gemeinschaft einzuleiten.

Eine Einschränkung der Grundlagenforschung zieht
jedoch nicht automatisch den Ausbau der Kapazitäten der
Grundlagenforschung in Industriekonzernen nach sich,
denn – das wissen wir alle – die private Wirtschaft hat an-
dere Ziele. Wenn der Grundlagenforschung der Helm-
holtz-Gemeinschaft das Rückgrat gebrochen werden
sollte, werden nicht nur den öffentlichen anwendungs-
orientierten Forschungsgesellschaften die Ergebnisse die-
ser interdisziplinären Grundlagenforschungen in 10 bis
20 Jahren fehlen, sondern auch der Industrie.

Durch geschickte Rhetorik in den vergangenen Jahren
ist es anscheinend gelungen, die Forderungen nach dem
gesellschaftlichen Nutzen und der Gemeinwohlorientie-
rung der Forschung vollkommen aus der Diskussion zu
verdrängen. Jahrelang wurde die Forschung schlechtgere-
det. Mit dem Hinweis auf die deutsche Technologiefeind-
lichkeit und ihre fatalen Auswirkungen ist der gesell-
schaftliche Nutzen der Forschung inzwischen erfolgreich
auf die Sicherung des Standortes Deutschland einge-
schränkt worden.

Die PDS hält deshalb den von der Bundesregierung
eingeschlagenen Weg für eine Neuordnung und Um-
strukturierung der Gesellschaften der Helmholtz-Ge-
meinschaft für eine Sackgasse. Wir empfehlen der Bun-
desregierung dringend, gemeinsam mit den For-
schungseinrichtungen, Parteien, Organisationen und
Industrievertretern einen Neuansatz der Ordnung der
Forschung und ihrer Einrichtungen zu diskutieren, um
den unterschiedlichen Interessen am Ende auch wirk-
lich gerecht zu werden.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410217400
Jetzt hat Herr
Kollege Tauss das Wort.


Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1410217500
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wie
schwer es Parteien, die in Sonntagsreden immer wieder
beschwören, dass sie doch dynamisch und flexibel seien
und dass man in neuen Strukturen denken müsse, offen-
sichtlich fällt, einmal an einem konkreten Punkt in neuen
Strukturen zu denken. Es ist erstaunlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Im Gegenteil!)


Dieselben, die in der Wirtschaft jede Fusion bejubeln,
tun hier so, als stünde der Untergang der Welt bevor.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Es geht um Qualität, nicht um Quantität, Herr Tauss!)


Ich erinnere mich noch: Als vor Jahren die Fusion von
BMW und Rover stattfand, hat die CSU wochenlang ge-

jubelt, Bayern hat praktisch England übernommen – Fu-
sion war das Gute schlechthin.


(Heiterkeit bei der SPD)

Heute hören wir nur Bedenkenträger; nur irgendwelche
Schauerargumente werden vorgebracht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nehmen
die Bedenken der Beschäftigten ernst – deshalb ein klares
Signal in Richtung Arbeitsplatzsicherheit –, aber wir
missbrauchen die Ängste der Beschäftigten nicht,


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Darum geht es doch gar nicht!)


um sie im Wahlkampf in dieser Form, wie Sie es tun, zu
schüren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist unverantwortlich, auch gegenüber der For-
schungslandschaft in diesem Land, Herr Hauser.

Es ist schwierig, wie Sie mit diesem Thema umgehen.
Das gilt auch für die Form, wie Herr Kollege Mayer an an-
derer Stelle mit diesem Thema umgegangen ist. Bei Kol-
lege Mayer wählte ich noch das Wort „Unverschämtheit“,
um auszudrücken, wie Sie aus Gründen des Wahlkampfs
in NRW diese Verunsicherung schüren.

Meine Damen und Herren, das Forschungszentrum In-
formationstechnik, die GMD hat es nicht verdient, dass
an dieser Stelle von einer Zerschlagung der Grundlagen-
forschung geredet wird. Das ist Teil Ihrer Kampagne, aber
es ist nicht Teil der Wahrheit. Es ist noch nicht einmal Teil
der halben Wahrheit; es ist die blanke Unwahrheit, und
das muss an dieser Stelle gesagt werden.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. HansJosef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Kollege Hilsberg hat berechtigterweise darauf hinge-
wiesen, dass es einstimmige Beschlüsse der Aufsichtsräte
inklusive der Wirtschaft gibt, dass es klare Diskussionen
gibt.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Fragen Sie doch mal die Belegschaft!)


– Ich bin Gewerkschafter. Ich nehme die Bedenken der
Belegschaft außerordentlich ernst.


(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich habe den Betriebsräten angeboten zu kommen, ja so-
gar außerhalb von Sitzungswochen mit ihnen Mittag zu
essen und Gespräche zu führen. Sie als Vorkämpfer der
Arbeiterbewegung – das ist ja nun wirklich die klassische
Fehlbesetzung, die es in diesem Land überhaupt nur ge-
ben kann.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. HansJosef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nein, es stimmt nicht, Herr Hauser, wie Sie hier vor-
tragen, dass die FhG der Gewinner der Fusion sein soll.
Das hätte natürlich jeder Beteiligte gern, dass er gewinnt.
Das ist überhaupt keine Frage. Es geht hier nicht um
Gewinner und Verlierer.




Maritta Böttcher

9579


(C)



(D)



(A)



(B)



(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Eben!)

Wir wollen eine Fusion der Gewinner, wobei keine Mark
aus dem Bundeshaushalt weniger gezahlt wird. Das muss
man einmal klar sagen. Wir wollen eine Fusion der Ge-
winner, bei der wir den Beschäftigten eine Arbeitsplatz-
garantie geben. Gab es in den letzten Jahren eine Fusion
in diesem Lande, wo es so etwas gegeben hat? Ihre Poli-
tik war eine Kürzung der Forschungsmittel. Aus unserem
Aufwuchs der Forschungsmittel werden beide profitieren.


(Zustimmung bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt ist es so, dass die FhG und die GMD in Ruhe mit-
einander reden. Ich denke, wenn der Sonntag vorbei ist,
wird es noch einfacher sein, denn dann reden die Wissen-
schaftler miteinander. Es redet dann kein Außenstehender
mehr hinein, keiner sagt ihnen dann, was gut oder schlecht
wäre. Die wissen, was ihr Problem ist. Es wird dann über
Grundlagenforschung diskutiert, es wird über Anwen-
dung diskutiert, es wird über Vorlauf diskutiert. Es gibt bei
der Fraunhofer-Gesellschaft Leute, die sich auf diese Fu-
sion freuen, weil sie sagen: Durch diese Fusion haben wir
die Chance, auch bei uns mehr Grundlagenforschung zu
betreiben, mehr Zeit zu haben und nicht immer nach einer
Mitteleinwerbung – 38 Prozent oder wie auch immer –
schielen zu müssen. Wir wollen gemeinsam etwas errei-
chen. Wir wollen im Bereich der Grundlagenforschung
die Wissenschaftslandschaft in der IuK-Technologie ge-
meinsam stärken.

Jetzt kommt es darauf an, die Beteiligten in Ruhe ar-
beiten zu lassen. Jetzt kommt es darauf an, dass sie in
Ruhe ihr Konzept ausarbeiten können. Jetzt kommt es da-
rauf an, dass die gemeinsamen Interessen gebündelt wer-
den können. Es kommt nicht mehr darauf an, ob Ihre
Wahlkampfshow in irgendeiner Form Erfolg hat. Sie wird
keinen Erfolg haben. So leicht können Sie die Leute nicht
hinter das Licht führen.

Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schon ein-
mal gesagt, die Rationalisierungsfusion, die Sie be-
schwören, ist es nicht. Wir wollen selbstverständlich Sy-
nergieeffekte erzielen. Wenn man Strukturen zusammen-
legt, gehört es dazu, dass man sich überlegt, in welchen
Bereichen Stärken gebündelt werden müssen und in wel-
chen Bereichen über Synergie geredet wird. Das ist selbst-
verständlich. Wir haben großartige Chancen, die Kompe-
tenzen zu bündeln. Das haben wir in der Aktuellen
Stunde, in der wir über den Virus gesprochen haben, ge-
sehen. Hier hat sich Kollege Mayer lautstark darüber be-
klagt, dass wir in Deutschland den Viren aus dem Ausland
schutzlos ausgeliefert seien, weil jetzt die Fraunhofer-Ge-
sellschaft mit der GMD fusioniert. Ich will noch einmal
feststellen: Bei der Fraunhofer-Gesellschaft wie auch bei
der GMD gibt es eine hervorragende IT-Sicherheitsfor-
schung. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat in Darmstadt das
Kompetenzzentrum IT-Sicherheit. Werden diese Kompe-
tenzen gebündelt zusammengeführt, Frau Kollegin
Pieper, wird dies dazu führen, dass wir die Stärken, die
wir in diesem Bereich haben, ein Stück weit ausweiten
können. Sie werden nicht in irgendeiner Form gefährdet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Noch ein Satz zu Ihrem Antrag. Da es sich um reine
Wahlkampfrhetorik handelt, muss man nicht unbedingt
darauf eingehen. Es ist aber schon interessant, wie man
auf wenigen Seiten noch nicht einmal sagen kann, was
man eigentlich will. Auf Seite 1 steht:

Ungeklärt ist ..., ob die interdisziplinäre Grundlagen-
forschung, ..., weiter verfolgt wird.

Hier stellen Sie sich hin und tun so, als ob es längst ge-
klärt wäre. Herr Mayer stellt sich hier hin und sagt, es
droht das Aus, und spricht von einer Zerschlagung. Auf
Seite 2 Ihres Antrages sieht es ganz anders aus. Weiter sa-
gen Sie, dass die Fusion positive Wirkungen erzielen
könnte. „Voraussetzung dafür ist, dass beide Partner
gleichberechtigt ihre Forschungsziele... einbringen“. Was
wollen Sie nun eigentlich? So viele Widersprüche im ei-
genen Text. Das ist genau das, was wir wollen. Aus die-
sem Grunde bedarf es eigentlich nicht der ganzen Rheto-
rik. Diese positiven Wirkungen sollen erzielt werden.

Kollegin Pieper, es wird nichts, aber auch gar nichts
behindert. Es wird weiterhin Spin-offs geben. Wir kom-
men zu kleinen Einheiten. In diesem Bereich wird die An-
wendungsbezogenheit eine noch stärkere Rolle spielen.
Unternehmensgründer haben durch eine anwendungsbe-
zogene Grundlagenforschung bei der FhG die Chance,
sich selbstständig zu machen und kleine Betriebe aufzu-
bauen. Hier wird nichts in irgendeiner Form gefährdet. Im
Gegenteil. Wir betreiben eine moderne Forschungspoli-
tik. Ich muss nochmals sagen: Es ist wirklich kleinkariert,
wie Sie hier mäkeln.

Es ist interessant, wie Sie über das Internet reden und
diese Dinge im Jahr 2000 regeln wollen. Jetzt hat sich die
CDU einen Internet-Beauftragten gegeben. Ich wün-
sche dem Kollegen viel Erfolg. Inhaltlich halte ich davon
nichts. Man muss sich das einmal vorstellen: Im Jahr 2000
habt ihr einen Internet-Beauftragten. Herzlich willkom-
men im Klub, kann ich nur sagen. Wir sind gespannt da-
rauf, was wir inhaltlich zu erwarten haben. Ich hoffe, dass
der Internet-Beauftragte etwas mehr vom Thema Internet
versteht als das, was wir in der Vergangenheit von Ihnen
zur Kenntnis nehmen konnten.

Nein, Sie haben nicht über das Thema geredet. Sie re-
den nur darüber, wie Sie in irgendeiner Form etwas madig
machen können, aber vom Internet, von IuK-Technolo-
gien, von moderner Forschungspolitik haben Sie, so Leid
es mir tut, keine Ahnung.
Deshalb sind Sie auch aus diesem Grund im vorletzten
Jahr zu Recht abgewählt worden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410217600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter.


(Jörg Tauss [SPD]: Der resigniert jetzt!)





Jörg Tauss
9580


(C)



(D)



(A)



(B)



Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1410217700
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
gleich am Anfang meiner Rede etwas klarstellen, was an-
gesichts der Desinformation der Koalition unklar geblie-
ben ist: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht natür-
lich entschieden zur notwendigen Neuorientierung in der
deutschen Forschungslandschaft,


(Widerspruch bei der SPD)

die ja durch die Initiativen des ehemaligen Zukunftsminis-
ters und des zukünftigen Ministerpräsidenten von Nord-
rhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, begründet worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen wird heute auch nicht so sehr über das Ziel ge-
stritten.

Es ist richtig, dass angesichts eines sich verändernden
Umfelds eine strategische Neuordnung der GMD und
der FhG notwendig sein kann. Es ist richtig, eine
Mobilisierung von Synergien in beiden Einrichtungen zu
fordern. Es bleibt auch richtig, dass die Fortentwicklung
eines erfolgreichen marktnahen Forschungsmodells, näm-
lich des FhG-Modells, am Beginn des 21. Jahrhunderts
geboten zu sein scheint. Es ist richtig, die grundlagen- bzw.
vorlauforientierten Teile der GMD gleichwohl unter dem
Dach einer fusionierten Gesellschaft fortzuentwickeln.


(Jörg Tauss [SPD]: Gute Rede bis jetzt! Nehmen Sie Platz!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410217800
Herr Kollege
Tauss, es ist nicht Ihre Aufgabe, zu entscheiden, wann sich
der Kollege setzen darf. Ich ermahne Sie freundlich.


Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1410217900
Das sind die puber-
tären Ausflüchte des Herrn Tauss, an die wir uns hier
schon langsam gewöhnt haben, Frau Präsidentin.

Wir haben uns gewünscht, dieses Vorhaben im Kon-
sens und unter parlamentarischer Begleitung zu einem Er-
folg zu führen. Fusionsprozesse sind schließlich keine
Spaziergänge. Die Frau Bundesministerin Bulmahn hat
allerdings diese Entscheidung ohne parlamentarische
Rückkopplung getroffen. Sie ist mit ihr ohne Rücksprache
mit den verantwortlichen Parlamentariern an die Öffent-
lichkeit getreten. Sie sieht angesichts des heutigen Scher-
benhaufens, wohin das geführt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Von Rüttgers habe ich nie eine Information bekommen!)


Unsere Fraktion ist erstaunt, mit welchem Mangel an
politischer Führung, mit welcher grenzenlosen Instinktlo-
sigkeit, zumindest aber mit welcher riesengroßen Blauäu-
gigkeit die Ministerin und Ihr Ministerium diesen Vor-
gang betreuen. An den Ergebnissen müssen wir sie mes-
sen. Das angekündigte Vorhaben, die Fusion zum Beginn
des nächsten Jahres durchzusetzen, ist gescheitert. Inso-
weit ist auch die Ministerin gescheitert. Eine partner-
schaftliche Beteiligung der GMD entfällt, da eine Beteili-

gung der GMD an der zukünftigen fusionierten Struktur
derzeit nicht mehr vorgesehen ist.

Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Institu-
tionen zweifeln inzwischen öffentlich an der Richtigkeit
des Vorgehens. Daran können auch Aufsichtsratbeschlüsse
nichts ändern. Die anhaltende Diskussion fördert nicht das
Ansehen der beteiligten Forschungseinrichtungen. So
muss befürchtet werden, dass Experten aufgrund der im-
mer unsicherer werdenden Perspektiven die beiden For-
schungseinrichtungen bald verlassen werden.

Die Union führt eine Aufklärungsinitiative unter dem
Motto „Mehr Ausbildung statt mehr Einwanderung“
durch.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie machen deutlich, warum diese Aufklärung notwendig
ist. Sie fördern durch Ihr Verhalten die Abwanderung von
Experten. Dies geht nicht mit uns.


(Jörg Tauss [SPD]: Republikaner!)

Wenn das Vorhaben so wichtig ist, wie Herr

Catenhusen in seiner verlesenen Rede vorgetragen hat,
dann frage ich, warum es so schlampig vorbereitet wor-
den ist. Warum haben Sie denn mit den Beteiligten, mit
den Vertretern der Forschungseinrichtungen, mit den re-
gionalen Repräsentanten und mit den Menschen, die die
Fusion wirklich betrifft, den Vorgang nicht besprochen,
bevor Sie damit an die Öffentlichkeit getreten sind? Die-
ser Prozess ist zwar gewollt, aber nicht gekonnt.

Es fehlt bis heute eine strategische Bewertung der be-
stehenden fachlichen, finanziellen und organisatorischen
Voraussetzungen einer Fusion beider Einrichtungen. Es
fehlt eine tragfähige Chancen- und Risikoanalyse des Vor-
habens durch Ihr Ministerium. Es fehlt eine Darstellung
gemeinsamer fachlicher Ziele, wahrscheinlicher Syner-
gien, konkreter Kooperationsfelder sowie anderer strate-
gischer Vorteile. Es fehlt eine vorläufige Abschätzung der
kurz- und mittelfristigen finanziellen Auswirkungen. Dies
wird von beiden Einrichtungen gefordert. Angesichts des
kontinuierlich begangenen Bruchs Ihres Wahlverspre-
chens, die Investitionen in Forschung und Bildung zu ver-
doppeln, scheint mir diese Befürchtung sehr gerechtfer-
tigt zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der gesamte Prozess, so wie Sie ihn bisher gemanagt

haben, scheint mir nach dem Prinzip vonstatten zu gehen:
Sie zogen los, wussten aber nicht, wohin. Der Bundesfor-
schungsministerin ist es gelungen, aus einer an sich rich-
tigen Idee, nämlich dem synergieorientierten Zusammen-
schluss zweier bedeutender Forschungseinrichtungen, ei-
nen Vorgang zu machen, der inzwischen paradoxerweise
von beiden Einrichtungen als feindliche Übernahme
durch den jeweils anderen interpretiert wird. Das zeigt
mir, wie schlecht diese Sache vorbereitet worden ist. Die-
ser Vorgang wäre vermeidbar gewesen.

Herr Catenhusen, es wäre angesichts des dramatischen
Vertrauensverlustes, den das Handeln Ihres Hauses so-
wohl bei der Fraunhofer-Gesellschaft als auch bei der






(C)



(D)



(A)



(B)


GMD herbeigeführt hat, geboten gewesen, dass Sie auf-
grund Ihres schlampigen Vorgehens zumindest in den
Grundzügen in diesem Hause ein Maß an Selbstkritik
üben, das erkennbar macht, dass Sie wissen, wie schlecht
Sie in den letzten Monaten gehandelt haben. Uns ist heute
noch einmal deutlich geworden: Es ging Ihnen nicht um
die Sache; vielmehr stand die Presseerklärung am Anfang.
Das Konzept sollte nachfolgen. Es liegt bis heute nicht
vor.


(Jörg Tauss [SPD]: Dann lassen Sie uns doch einmal darüber reden!)


Bedauerlicherweise wird das Scheitern Ihres Handelns
auf dem Rücken zweier Forschungseinrichtungen ausge-
tragen. Die Fusion, die jetzt um ein Jahr verschoben wer-
den soll, hängt völlig in der Luft. Diese Verschiebung
wird deutlich machen, dass dieser unbefriedigende Zu-
stand noch um ein weiteres Jahr verlängert wird. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hofft, dass mit dem Mo-
derator, den Sie jetzt einsetzen, rasch eine Lösung ge-
funden wird.

Sagen Sie einmal: Warum fällt Ihnen eigentlich erst ein
Dreivierteljahr nach dem Beschluss darüber ein, dass Sie
einen Moderator brauchen, um die Kommunikationspro-
zesse zu steuern?


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Wenn das alles so super und so wichtig ist, dann wundere
ich mich, dass Sie eine wesentliche Veränderung des Fu-
sionsprozesses par ordre du mufti im April, Monate nach-
dem Sie die Fusion begonnen haben, vornehmen. Wir hof-
fen, dass wenigstens das anständig vorbereitet wird. Wir
wünschen dem Moderator viel Erfolg, diesen Fusionspro-
zess zu einem guten Abschluss zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Falls das allerdings bis Mitte September nicht erfolgen

wird, müssen wir uns noch einmal darüber unterhalten, ob
die Fusion unter den hier beschriebenen Konditionen
tatsächlich weiterhin sinnvoll ist. Herr Catenhusen, wenn
Sie es im September nicht schaffen, so etwas wie einen
Konsens herbeizuführen, der von vielen Seiten – von bei-
den beteiligten Einrichtungen, den Mitarbeitern, den Lei-
tungsebenen, den Aufsichtsgremien – akzeptiert wird,
dann halte ich es für geboten, zu überlegen, ob Sie an die-
sem Vorhaben tatsächlich festhalten wollen. Wir erwar-
ten, dass Sie jetzt handeln, dass Sie endlich anständig ar-
beiten, dass Sie politische Führung zeigen und dass Sie
uns Konzeptionen erläutern. Wenn das geschieht, dann
werden wir es an Unterstützung nicht mangeln lassen.


(Wilhelm Schmidt: [Salzgitter] [SPD]: Ihre Arroganz!)


Ich fasse zusammen: Die Union steht zur Neuordnung
der deutschen Forschungslandschaft. Sie ist notwendig,
um sich veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.
Wir unterstützen daher die Fusion auf Grundlage des Eck-
wertepapiers. Wir haben unsere Sorgen über Mängel des
Fusionsprozesses in unserem Antrag dargelegt. Wenn ich
mir zum Beispiel die Rede des Kollegen Fell anhöre, dann
komme ich zu dem Ergebnis, dass die SPD die einzige
Fraktion in diesem Hause zu sein scheint, die noch voll

und ganz hinter diesem Fusionsprozess steht; deswegen
werden wir ihn weiterhin konstruktiv-kritisch begleiten.
Jetzt sind Sie am Zug. Tun Sie endlich Ihre Arbeit!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dazu klatscht man dann auch noch!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410218000
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3097 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts

des Auschusses für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung (19. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Ursula Burchardt, Jörg Tauss, Klaus
Barthel (Starnberg), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Matthias Berninger, Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Strategie für eine Nachhaltige Informations-
technik
– Drucksachen 14/2390, 14/2814 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn)

Hans-Josef Fell
Cornelia Pieper
Angela Marquardt

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Kollegin Ursula Burchardt.


Ulla Burchardt (SPD):
Rede ID: ID1410218100
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Debat-
ten über die ökonomischen Perspektiven in unserer Repu-
blik verfolgt, dann stellt man fest, dass ein Begriff daraus
überhaupt nicht mehr wegzudenken ist: Die Informations-
und Wissensgesellschaft hat als ökonomisches Leitbild
der Industriegesellschaft längst den Rang abgelaufen.

Ins breite öffentliche Bewusstsein ist dies allerdings –
das ist mein Eindruck – erst in der jüngsten Zeit getreten.
Ich habe auch den Eindruck, dass die Green-Card-Initia-
tive des Bundeskanzlers für viele so etwas wie ein Weck-
ruf gewesen ist, um festzustellen, dass sich einige Dinge
wirklich dramatisch verändert haben.


(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Die sind endlich aufgewacht!)


Ich kann mich erinnern, dass ich vor ungefähr zwei-
einhalb Jahren in der Enquete-Kommission „Schutz des
Menschen und der Umwelt“ – wir haben uns dort zur Ver-




Steffen Kampeter
9582


(C)



(D)



(A)



(B)


blüffung mancher mit genau diesen Fragen sehr intensiv
beschäftigt – davon gesprochen habe, dass die Republik
auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesell-
schaft ist. Daraufhin hat mich der Sprecher der Unions-
fraktion völlig verständnislos angeschaut und meinte, das,
was die Kollegin von den Sozialdemokraten erzählt, seien
Fantastereien.
Ich habe den Eindruck, dass der aktuelle Stand bei einigen
immer noch nicht bekannt ist, auch wenn ich im Hinblick
auf das, was es an Veränderungsnotwendigkeiten gibt,
die gerade abgeschlossene Debatte der letzten Dreivier-
telstunde im Auge habe.

Faktisch ist es doch so, dass in den letzten anderthalb
Jahrzehnten durch die Entwicklung des World Wide Web,
die Entwicklung im Mobilfunk, im Bereich der Chippro-
duktion eine technische Revolution ihren Lauf genom-
men hat, die in dem, was sie an ungeheurer Dynamik ent-
wickelt hat, tatsächlich in dieser Breite nicht vorherzu-
sehen gewesen ist. Die Informations-Kommunikations-
Branche hat die Automobilindustrie, was die Umsätze be-
trifft, bereits jetzt eingeholt. Sie ist von den Beschäftig-
tenzahlen her der drittstärkste Sektor in der Bundesrepu-
blik, und uns als Sozialdemokraten, als Koalitionsfraktion
geht es darum, diese enormen Potenziale für die wirt-
schaftliche Entwicklung und damit für neue Beschäfti-
gungspotenziale ganz offensiv zu nutzen. –

Sonst beschweren sich meine Kollegen, dass ich keine
Pause mache. Jetzt habe ich sie gemacht und jetzt klat-
schen sie nicht.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dabei war das ein so richtiger Satz! – Zuruf von der CDU/CSU)


– Ja, Sie haben es ja schon im Redemanuskript drinstehen.
Mit dem Siegeszug der Informationstechnik sind aber

zugleich – das muss man ganz nüchtern zur Kenntnis neh-
men – Veränderungen verbunden, die weit über den rein
ökonomischen Bereich hinausgehen und in ihren sozialen
und kulturellen Auswirkungen tatsächlich die Dimensio-
nen haben, die damals auch den Übergang von der Agrar-
zur Industriegesellschaft gekennzeichnet haben. Die
Menschen erleben das täglich ganz praktisch an ihrem Ar-
beitsplatz. Kaum ein Arbeitsbereich ist von neuen Tech-
nologien nicht betroffen. Das geht weit bis in den priva-
ten Lebensbereich und in die Gestaltung sozialer Bezie-
hungen hinein.

Weil die neuen Technologien unser aller Leben drama-
tisch verändern, gilt es, das technisch-ökonomische Leit-
bild der Informationsgesellschaft mit einem qualitativen
Leitbild, mit einer gesellschaftlichen Gestaltungsper-
spektive zu verknüpfen. Das ist die Perspektive der nach-
haltig zukunftsverträglichen Entwicklung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daher begrüßen wir es außerordentlich, dass die Bun-
desregierung die Verknüpfung dieser beiden Leitbilder
mit ihrem Aktionsprogramm „Innovation und Arbeits-

plätze für die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhun-
derts“ verfolgt. Ausdrücklich gehört – Sie können es dort
nachlesen – die Erschließung von innovativen Anwen-
dungsmöglichkeiten für eine ökologische Modernisie-
rung und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu
den strategischen Handlungsfeldern des Aktionspro-
gramms. Das ist echter Fortschritt. Da zeigt sich Weitsicht
und da zeigt sich Gestaltungswille und Gestaltungskraft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN )


Denn, meine Damen und Herren, wir verstehen Tech-
nik nicht als Selbstzweck, sondern als Chance für mehr
Lebensqualität. Uns geht es darum, den größtmöglichen
Nutzen für die Menschen und nicht für Börsen und für Bi-
lanzen aus neuen Techniken zu ziehen. Das bedeutet,
technischen Fortschritt zu gestalten. Denn Technik an sich
ist für menschliche Bedürfnisse blind. Sie ist in ihren po-
sitiven oder negativen Auswirkungen ambivalent. Jeder,
der sich mit Technik auskennt, wird Ihnen das bestätigen
können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [KarlsruheLand] [CDU/CSU]: Nicht bei jeder Pause klatschen! Das ist falsch!)


– Nicht übertreiben!
Diese Ambivalenz wird insbesondere deutlich, wenn

man sich die Umweltwirkungen vor Augen hält. Ohne
Zweifel sind Informationstechnologien auf der einen
Seite ein ganz entscheidender Schlüssel für die Entkopp-
lung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenver-
brauch. Mit ihrer Hilfe lassen sich Produktionsprozesse in
nahezu allen denkbaren Bereichen effizienter gestalten
und damit Ressourcen und Energie einsparen. Mess-,
Steuer- und Regeltechnik trägt dazu bei, Emissionen zu
vermeiden, beispielsweise im Gebäudebereich oder in der
Verkehrslogistik. Nicht zuletzt spielt Informationstechnik
in der Umweltforschung, von Umweltinformationssyste-
men bis hin zur Klimaforschung, eine ganz entscheidende
Rolle, wenn es um Vorsorgestrategien geht.

Auf der anderen Seite – das muss man ganz nüchtern
sehen – werden durch neue Technologien auch neue Pro-
bleme induziert oder vorhandene verschärft. Neue Tech-
nologien tragen beispielsweise ganz erheblich zur Ent-
grenzung und Beschleunigung von Stoffumsätzen, Güter-
produktion und Warenverkehr bei mit der Folge, dass
trotz der hohen Effizienzgewinne in der Produktion unter
dem Strich Stoffumsätze steigen und der Ressourcenver-
brauch zunimmt. Dies wird insbesondere noch ein ganz
großes Problem beim Bereich E-Commerce werden. Hier
haben wir es mit zunehmendem Warenverkehr, mit Logis-
tikproblemen und zunehmendem Ressourcenverbrauch
zu tun. Ich glaube, dass diese Faktoren noch zu entschei-
denden Engpässen bei der technischen und ökonomischen
Entwicklung führen können. Auch die Hardware selbst ist
ein Problem.

Der Rohstoffverbrauch eines einfachen PCs alleine,
so hat das Wuppertal-Institut errechnet, entspricht einem
Äquivalent von fast 20 Tonnen Rohstoffen während sei-
nes gesamten Lebenszyklus, also von der Herstellung




Ursula Burchardt

9583


(C)



(D)



(A)



(B)


über die Nutzung bis zu dem Zeitpunkt, wo er zu Abfall
geworden ist. Dazu kommt das Energieproblem. Der ein-
mal eingeschaltete PC verbraucht, wenn er im Stand-by-
Betrieb vor sich hin schlummert, unglaublich viel Ener-
gie. Der Energieverbrauch durch Stand-by-Betrieb in
einem Jahr in der Bundesrepublik entspricht dem Ener-
gieverbrauch einer mittleren Großstadt. Dazu kommt der
Abfallberg, der schon heute sichtbar wird. Jährlich
fallen in Deutschland 2 Millionen Tonnen Elektronik-
schrott an. Der größte Teil davon entfällt auf ausgediente
PCs. Die Tendenz ist steigend. Ich will jetzt gar nicht
mehr auf die Fülle von problematischen Materialien und
Schadstoffen eingehen.

Wenn man die technischen Potenziale optimal nutzen
will, dann nutzt es überhaupt nichts, vor diesen Negativ-
wirkungen die Augen zu verschließen wie das Kaninchen,
das auf die Schlange starrt. Technische Potenziale zu nut-
zen und Fortschritt zu gestalten heißt, dass man sich da-
mit offensiv auseinander setzt. Sonst wird man früher
oder später von Problemen überrollt. Das brächte große
volkswirtschaftliche Folgekosten sowohl für den Staat
wie auch für die einzelnen Unternehmen mit sich. Des-
wegen geht es uns darum, Informationstechnik nachhaltig
zu gestalten. Das ist nicht nur eine Frage der Daseinsvor-
sorge, sondern schlicht und ergreifend der wirtschaftli-
chen Vernunft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist der Kern unseres Antrages „Strategie für eine
Nachhaltige Informationstechnik“. Wir greifen damit eine
ganz wesentliche Empfehlung der Enquete-Kommission
„Schutz des Menschen und der Umwelt“ auf. Natürlich
kenne ich den Einwand – wir haben das ja auch schon mit
Ihnen herauf und herunter diskutiert –, dass es keine Mög-
lichkeit gebe in dieser Branche, irgendwie gestaltend tätig
zu werden. Das ist falsch. Diese Auffassung haben wir in
der Enquete-Kommission übrigens einvernehmlich und
fraktionsübergreifend widerlegt. Wir haben uns damals
den Bereich der IuK-Branche als ein Beispielfeld ausge-
sucht, um einmal durchzudeklinieren, wie eine Nachhal-
tigkeitsstrategie für die Bundesrepublik entwickelt wer-
den kann.

Wir haben gerade festgestellt, dass in dieser Branche,
die einer unglaublichen Innovationsdynamik unterliegt
und von einer hohen internationalen Verflochtenheit ge-
kennzeichnet ist, natürlich Gestaltungspotenziale vor-
handen sind. Hierfür sind nur ganz bestimmte Vorausset-
zungen zu erfüllen und es müssen bestimmte Dinge an-
ders gemacht werden. Mit den klassischen Instrumenten
des Ordnungsrechts kommt man dabei nicht weiter, son-
dern es sind ein paar moderne Steuerungsinstrumente
nötig. Insofern werden auch in der Politik Innovationen
angesagt.

Man braucht ein neues Verfahren des Politikmanage-
ments. Das geht am besten, indem man sich mit den Ak-
teuren, mit der Branche, den Verbänden und der Wissen-
schaft, zusammensetzt, also alle an einen Tisch holt und
darüber redet, wo die Hauptproblembereiche liegen, wo
es Handlungsbedarf gibt, welche Ziele die Unternehmen
selber formulieren und in einer überschaubaren Zeit er-

reichen können, welche Anstöße dazu notwendig sind und
welche Rahmenbedingungen Politik gestalten muss.
Außerdem müssen ganz konkrete Aktionsfelder benannt
werden. Beispielhaft dafür stehen folgende Fragen: Wie
kann die Recyclingfähigkeit von Geräten und einzelnen
Komponenten gesteigert werden? Wie können Schad-
stoffe bei den verwendeten Materialien vermieden wer-
den? Wie kann der Energieverbrauch über den gesamten
Lebenszyklus reduziert werden?

Wenn man Lösungen hierfür sucht, wird es automa-
tisch dazu kommen, dass neue Dienstleistungskonzepte
entwickelt werden, die mehr Service für den Kunden und
Nutzer mit sich bringen, aber gleichzeitig auch neue
Beschäftigungspotenziale eröffnen. Mit dem Instrument
konditionierter Selbstverpflichtungen und freiwilligen
Vereinbarungen kann man im Konsens und in Koopera-
tion mit der Branche zu einer nachhaltigen Entwicklung
auch in diesem Sektor kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Fachausdruck für solch eine strategische Planung
heißt Roadmapping. Ich weiß, dass die Freunde vom
Verein zur Bekämpfung der Anglizismen in der deutschen
Sprache immer ganz laut aufschreien und fragen, ob man
das nicht übersetzen kann. Im Prinzip kann man das natür-
lich. Wir befassen uns aber mit einer Branche, die ganz
zentral von englischer Begrifflichkeit lebt. Jeder Kollege
und jede Kollegin hier wird Begriffe wie Downloaden,
E-Commerce oder Ähnliches kennen. Wer diese Begriffe
schon in die Umgangssprache aufgenommen hat, der wird
auch mit dem Begriff Roadmapping noch leben können.
Gelegentlich muss man eben auch als Abgeordneter sei-
nen Wortschatz ein bisschen „updaten“. So ist das nun
einmal, wenn man sich mit etwas Neuem beschäftigt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Prinzip ist das Roadmapping-Verfahren nicht so

neu; denn es wurde in den USA bereits erfolgreich er-
probt. Ich kann Ihnen sagen: Die Branche wartet seit meh-
reren Jahren darauf, dass die Bundesregierung an dieser
Stelle endlich die Initiative ergreift, weil sie weiß, dass in
diesem Bereich ihre ökonomischen Chancen liegen.

Lassen Sie mich abschließend noch ganz kurz eine
Rückbetrachtung zu den Ausschussberatungen anstellen.
Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang schon einmal
einen kleinen Vorgeschmack darauf geben, was die Kol-
legen von der Opposition gleich erzählen. Das wird nicht
so originell werden und dem ähneln, was wir eben schon
gehört haben. Von den Kollegen der CDU/CSU werden
wir hören, was sie immer sagen, wenn es um Ökologie
und Gestaltungsnotwendigkeit geht. Da werden wir die
Begriffe Dirigismus und Planungsbürokratie hören. Wir
werden außerdem den Vorwurf hören, dass die
Sozialdemokraten immer den Staat eingreifen lassen wol-
len.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hören Sie, was wir zu sagen haben, und gehen Sie nicht mit Ihren Vorurteilen dran!)





Ursula Burchardt
9584


(C)



(D)



(A)



(B)


– Das sind keine Vorurteile, das sind Erfahrungen, Herr
Kollege. Wir können ja einmal spekulieren, was wir
gleich hören werden. Ich meine das gar nicht persönlich,
wenn ich sage, dass es in der CDU weder im Westen noch
im Osten oder im Süden etwas Neues gibt. Ich habe den
Eindruck, dass es bei Ihnen wirklich schon eine Art paw-
lowscher Reflex ist, wenn Sozialdemokraten etwas zur
Ökologie und Gestaltungsfähigkeit sagen.

Der Umgang mit Technik muss rational sein. Entschei-
dungen dürfen nicht aus dem Bauch heraus getroffen wer-
den und dürfen nicht auf tief sitzenden Vorurteilen beru-
hen.


(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ CSU]: Das sagen Sie mal den Grünen!)


Denn sonst werden die Chancen für den technischen Fort-
schritt tatsächlich verspielt. Ich kann Ihnen sagen: Es
reicht nicht, immer nur Nein zu sagen. Wenn man sich im-
mer dem Fortschritt verweigert, hat man die Zukunft
schnell verspielt. Die Herren Rühe und Rüttgers sind
dafür ein lebendes Negativbeispiel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine allerletzte Anmerkung zu der Ausschussberatung,
was die F.D.P. in den mitberatenden Ausschüssen angeht.
Es war etwas verwirrend, um nicht zu sagen, es war keine
klare Linie erkennbar. Im Forschungsausschuss haben wir
die Vorwürfe bezüglich Dirigismus, Planungsbürokratie
sowie Marktfeindlichkeit und die Forderung gehört, wir
mögen „in enger Kooperation mit der Industrie Anwen-
dungs-, Vermeidungs- und Beseitigungsstrategien ent-
wickeln“. Dazu kann ich nur sagen: Das ist genau so in
unserem Antrag enthalten. Man muss uns nicht dazu auf-
fordern.

Das Interessante ist aber, dass die F.D.P. bei der Bera-
tung im Umweltausschuss festgestellt hat, man könne
überhaupt nichts von Dirigismus oder Markteingriffen er-
kennen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410218200
Frau Kollegin,
achten Sie bitte auf die Zeit. Wir können die Kollegen im
Übrigen original hören.


Ulla Burchardt (SPD):
Rede ID: ID1410218300
Ja. – Dazu kann ich nur
sagen: Mit etwas Mühe geht es also doch. Deswegen kann
ich an Sie – auch in Ihrem eigenen Interesse – nur appel-
lieren: Legen Sie die Scheuklappen ab, geben Sie sich
einen Ruck, hören Sie darauf, was die Branche und die
Bevölkerung will, und stimmen Sie unserem Antrag zu!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410218400
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Dr. Martin Mayer.


Dr. Martin Mayer (CSU):
Rede ID: ID1410218500
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frau Kolle-

gin Burchardt hat Pappkameraden und Gespenster aufge-
baut, um dann fest darauf einschlagen zu können. Ich will
Ihnen nur sagen: Der Begriff der Nachhaltigkeit ist keine
Erfindung der Informationsgesellschaft. Land- und Forst-
wirte haben schon vor Jahrhunderten so das Grundprinzip
des Wirtschaftens benannt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens ist auch heute ein

wichtiges politisches Ziel. Nachhaltigkeit heißt, die natür-
lichen Lebensgrundlagen zu schonen und ihre Regenera-
tionsfähigkeit zu erhalten. Als Konservative brauchen wir
da ohnehin keinen Nachhilfeunterricht. Bewährtes und
Kostbares für die Zukunft zu sichern, das gehört zu unse-
ren Grundsätzen. Dass das Ziel der Nachhaltigkeit auch in
der Informationstechnik von Bedeutung ist und berück-
sichtigt werden muss, ist selbstverständlich und bedarf ei-
gentlich gar nicht eines eigenen Antrages.

Auch die Zusammenarbeit von Wirtschaftsunterneh-
men und Regierung sollte selbstverständlich sein. Es ist
schon bemerkenswert, dass die Bundesregierung hierzu
noch einer gesonderten Aufforderung durch einen Antrag
bedarf.

Schließlich möchte ich feststellen, dass ich nichts ge-
gen die Methode des Roadmappings habe, die in ver-
schiedenen Bereichen der Wirtschaftsplanung angewandt
wird. Die Beteiligten müssen selbst wissen, mit welcher
Methode sie vorgehen.

Wenn es also nur darum ginge, das Ziel der Nachhal-
tigkeit durch die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft
und Verwaltung unter Zuhilfenahme moderner Planungs-
methoden zu fördern und zu unterstützen, könnte man
dem Antrag unter der Voraussetzung zustimmen, dass das
zu erwartende Ergebnis den Aufwand und die Anstren-
gungen lohnt.

Der Antrag von Rot-Grün zielt aber auf etwas anderes
ab. Er fordert als Ziel die Festlegung einer Selbstver-
pflichtung der Branche oder ein Branchenprotokoll. Die
Nichteinhaltung dieser neuen Normen soll mit Sanktio-
nen bestraft werden. Im Antrag steht übrigens, Frau
Burchardt, kein einziger Satz darüber, dass etwa beste-
hende Normen oder das klassische Ordnungsrecht da-
durch ersetzt werden sollen, sondern es ist ganz klar er-
sichtlich, dass es hier zusätzliche Festlegungen geben
soll. Das ist der Punkt, warum wir meinen, das sei der
falsche Ansatz, und deshalb muss der Antrag abgelehnt
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ursula Burchardt [SPD]: Die Sorge kann ich Ihnen schon jetzt nehmen!)


– Man muss den Antrag lesen. Sanktionsbewehrte Maß-
nahmen müssen im Vollzug nachprüfbar sein. In der
Praxis führt das, wie viele Beispiele beweisen, zu einem
riesigen bürokratischen Aufwand. Soll es eigentlich zu-
sätzlich zu den zahlreichen, fast unübersehbaren Umwelt-
vorschriften eigens für die IuK-Branche noch neue Nor-
men und neue Festlegungen geben? Wer prüft die Ein-
haltung der Verpflichtungen? Wer verhängt Sanktionen?
Wer schlichtet im Streit? Wie ist das mit Exporten und




Ursula Burchardt

9585


(C)



(D)



(A)



(B)


Importen in dieser ja sehr internationalen Branche? Das
lassen die Antragsteller bewusst offen, weil sonst deutlich
würde, welches Gestrüpp neuer Bürokratie entstünde.

Die Geräte der Informations- und Kommunikations-
technik, die Chips, die Leitungen, die Disketten, die Bän-
der, die Gehäuse, werden wie kaum andere Produkte – das
ist schon angesprochen worden – im weltweiten Verbund
hergestellt. Für hoch empfindliche Apparate und reinste
Chemikalien gibt es auf der Welt teilweise nur wenige
Hersteller, die sich nicht in Europa und auch nicht in
Deutschland befinden. Wie soll also eine nationale Initia-
tive hier die Dinge vollständig verändern? Ich glaube
nicht, dass sich die Asiaten oder die Amerikaner durch zu-
sätzliche deutsche Vorschriften etwa beeindrucken lassen.
Auch europäische Sondervorschriften sind hier nicht
durchsetzbar.

Nachhaltiges Wirtschaften heißt: möglichst wenig Ener-
gieverbrauch. Das steht ja auch in diesem Antrag. Wenn
aber der Energieverbrauch, wie im Antrag gefordert, im
Rahmen von Branchenprotokollen oder Selbstverpflich-
tungen festgeschrieben und zusätzlich sanktionsbewehrt
werden soll, wozu haben wir dann die Ökosteuer? Die rot-
grünen Antragsteller glauben wohl selbst nicht an die öko-
logische Wirkung ihrer Steuer.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Sie entlarven damit ihre eigene Gesetzgebung als Ab-
zockerei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Entwicklungen und Produktion in der IuK-Branche

finden auch in kleinen mittelständischen Unternehmen
statt. Von jungen Menschen mit guten Ideen, die bereit
sind, neue Unternehmen zu gründen, leben wir. Von ihnen
gehen wichtige Impulse aus. Damit wir mit dem weltwei-
ten Wachstum mithalten können, sind gerade diese Unter-
nehmen besonders wichtig. Diese jungen und kleinen Un-
ternehmen, die keine eigene Rechtsabteilung haben, wer-
den aber durch zusätzliche Vorschriften, die der Antrag
fordert, in besonderer Weise betroffen und gehemmt, und
das muss verhindert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In der IuK-Branche herrscht ein heftiger internationa-

ler Wettbewerb. Der Schnelle besiegt den Langsamen.
Unternehmen der Branche haben es in Deutschland mit
seiner hohen Regelungsdichte ohnehin sehr schwer, inter-
national mitzuhalten. Sollen sie nun mit neuen Regelwer-
ken zusätzlich behindert werden? Ich sage hier ein ganz
klares Nein.

Insgesamt geht der Antrag von Rot-Grün mit seiner
Forderung nach neuen Normen und Strafen bei Nichtein-
haltung von einem falschen planwirtschaftlichen und sta-
tischen Ansatz aus. Die neue vernetzte und informierte
Welt geht über diesen kleinkarierten ideologischen Ansatz
hinweg. Deshalb muss der Antrag abgelehnt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410218600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410218700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke,
die heutige Debatte zum Thema Nachhaltigkeit und neue
Technologien hat zumindest eines gezeigt, nämlich dass
über die Fraktionsgrenzen hinweg einige Blauäugigkeiten
in der Betrachtungsweise heute nicht mehr gang und gäbe
sind. Lange Zeit hieß es, neue Technologien seien per se
nachhaltig oder umweltfreundlich, weil sie Material-
ströme vermindern, den Energieverbrauch vermindern
und womöglich sogar den Verkehr vermindern. Das ist
also lange Zeit sehr positiv dargestellt worden.

Heute überwiegen, glaube ich, die skeptischen Töne.
Der Streit geht darum: Wie kann man das beurteilen, was
kann man tun, wie geht man damit um? Das hat übrigens
auch Ihre Rede gezeigt, aber – darauf komme ich noch –
Ihre Antworten darauf, wie man damit umgeht, waren
nicht sehr ausführlich. Jedenfalls habe ich nicht sehr viel
dazu gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]: Schwacher Beifall!)


– Ja, wir sind im Moment schwach besetzt. Aber Sie kön-
nen ja selber klatschen, wenn Sie meine Rede gut finden.

Im Verkehrsbereich gibt es inzwischen Studien, in de-
nen untersucht wird, wie sich neue Technologien auswir-
ken, ob sie zum Beispiel verkehrsmindernd wirken. Man
kann feststellen: Sie wirken sich dann positiv aus, wenn
man parallel dazu politische Maßnahmen ergreift, etwa,
wie Sie es gerade angesprochen haben, ökologisch steu-
ernde Maßnahmen, zum Beispiel das Verteuern des Auto-
fahrens zusammen mit Telematik. Das führt zu einer Ver-
kehrsminderung. Sie sehen, man muss manche Dinge zu-
sammenbringen, damit sie wirken, und darf nicht nur das
eine denken und das andere weglassen.

Ein anderes wichtiges Feld, insgesamt gesehen viel-
leicht noch wichtiger, sind die Produkte der Elektronik-
industrie. Man braucht nur auf sein eigenes Leben
zurückzublicken, um zu sehen, was sich da in den letzten
Jahren entwickelt hat. Ich kann für mich sagen: Ich bin
kein Computerfreak, aber ich habe jetzt schon die vierte
Generation von Computern.


(Beifall des Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU])


Ich habe schon drei Computergenerationen zu Hause ste-
hen. Manche sagen: Auf den Bühnen unserer Generation
lagern die Sondermüllanlagen von morgen. Das ist inzwi-
schen ein Riesenproblem. Das gilt auch für den
Telefonbereich. In meiner Kindheit gab es nur ein einzi-
ges schwarzes Telefon. Heute kann ich schon meine eige-
nen Telefone nicht mehr zählen. Sie sind farbig und haben
zahlreiche Bestandteile. So haben wir in jedem Bereich
eine Vielfalt von Geräten.

Die Kollegin Burchardt hat ausgeführt, wie zum Bei-
spiel der ökologische Rucksack eines einzigen Computers
aussieht. Wenn ich das noch ergänzen darf: Die ökologi-
sche Belastung durch einen PC besteht aus fast so vielen
Tonnen wie beim Automobil, und ein PC enthält bis zu
700 unterschiedliche, zum Teil hochtoxische Materialien,




Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn)

9586


(C)



(D)



(A)



(B)


bei denen zum Teil nicht ganz klar ist, wo sie herkommen,
weil sie nicht gekennzeichnet sind oder weil es Mischfor-
men sind. Manche sind nicht nur toxisch, sondern auch
sehr wertvoll. Aber alles ist miteinander verbunden und
wird im Nachhinein zu einem Riesenproblem.

Wir haben – es ist gesagt worden – 2 Millionen Tonnen
Schrott pro Jahr alleine in diesem Bereich. Zurzeit kom-
men gerade einmal 6 000 Tonnen zurück. Das ist nur ein
Bruchteil des Problems. Es ist nicht geregelt, wie wir mit
diesem Problem umgehen. Wir wissen nur, dass es die
Umwelt und nachwachsende Generationen belasten wird.
Wir müssen etwas tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Da möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU, einmal sagen: Es geht nicht nur da-
rum, dass die Industrie etwas dagegen unternimmt, son-
dern es geht auch darum, dass die Politik etwas tut. Es ist
ein Skandal, dass wir bis zum heutigen Tag noch keine
endgültig beschlossene Elektronikschrottverordnung
haben. Die CDU-regierten Länder blockieren seit Mona-
ten eine Elektronikschrottverordnung, die wir dringend
brauchen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen.


(Ursula Burchardt [SPD]: Ein Skandal ist das!)

Man kann schon sagen: Seit Jahren blockieren Sie eine
solche Verordnung. Das heißt, auf der einen Seite blockie-
ren Sie ordnungsrechtliche politische Maßnahmen dort,
wo Sie etwas zu sagen haben, im Moment im Bundesrat,
und auf der anderen Seite mäkeln Sie an einem anderen
Instrument herum, von dem ich dachte, dass Sie sagen
würden: Aha, endlich haben sie begriffen, was wir schon
lange sagen, dass die Industrie auch selbststeuernde Pro-
zesse organisieren muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Ja, nichts als Mäkelei!)


Im Grunde genommen vertreten Sie eine Politik eines
Nachtwächterstaates. Der Staat soll nichts tun, die Wirt-
schaft soll nichts tun, anstoßen soll man auch nichts. Was
soll man denn dann politisch eigentlich tun? Ich verstehe
das nicht. Sie mäkeln nur herum.


(Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie überhaupt zugehört?)


Jetzt komme ich im Einzelnen zu Ihren Punkten. Sie
sagen, Roadmapping und das andere, was wir vorge-
schlagen hätten, sei sozusagen Ordnungsrecht. Aber lesen
Sie doch bitte einmal den Antrag genau nach. Was steht
dort? Dort steht: Politik soll die Branche zusammen-
führen, also einen Dialog initiieren und moderieren. Die
Branche soll in Form einer freiwilligen Selbstverpflich-
tung definieren, welche Probleme es aus ökologischer
bzw. nachhaltiger Sicht gibt, welche großen Herausforde-
rungen bestehen, die wir gemeinsam lösen können, und in
welchen Bereichen wir uns darauf verständigen können,
auf übereinstimmende Art und Weise die entsprechenden
Produkte herzustellen und sie damit ökologisch-nachhal-
tig verantworten zu können. Dann wird die Branche sa-
gen: Wir sollten das vertraglich klären. Denn was nützt

eine Absprache, die hinterher niemanden bindet? Das ist
doch ein Witz.


(Beifall bei der SPD)

Die Form der freiwilligen Selbstverpflichtung ist,

dass man sagt: Wir binden uns und sehen Sanktionen vor.
Dies sind übrigens keine staatlichen Sanktionen. Viel-
mehr verständigt sich die Branche selber auf Sanktionen.
Das kann übrigens ganz einfach geschehen, indem die
Branche sagt: Diese oder jene Firma hat den Vertrag, den
sie mit uns allen geschlossen hat, gebrochen, da sie ent-
gegen unserer Absprache folgende hochtoxische Materia-
lien verwendet. – Das könnte sanktioniert werden. Das
wäre sehr wirkungsvoll. Dazu müsste man keine Büro-
kratie aufbauen. Man könnte eine einmalige Anzeige
schalten und fertig wäre die Angelegenheit.

Aber diese Fantasie haben Sie nicht. Ich wundere mich
nur! Sie sagen, man könne keinen nationalen Alleingang
machen. Ich bitte Sie: Auf europäischer Ebene und inter-
national in der Branche wird dieser Versuch schon lange
unternommen. Jetzt leisten wir einen Beitrag und sagen:
Wir wollen Anstöße geben, die Entwicklung wissen-
schaftlich begleiten und staatlicherseits ein wenig dazu
beitragen, dass in der Wirtschaft Selbstverantwortung ge-
deihen kann. Sie aber sagen wieder Nein. Insgesamt ge-
sehen sagen Sie nur Nein, mäkeln Sie nur und machen Sie
keine positiven Vorschläge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Politik muss in diesem Bereich Folgendes leisten:
Sie muss Vorstellungen entwickeln, wie Nachhaltigkeit
gedeutet bzw. definiert werden kann und was in diesem
Zusammenhang wichtig ist. Zum Beispiel sollten Geräte
sparsam beim Energieverbrauch sein. Die verwendeten
Stoffe sollten möglichst nicht toxisch sein oder, wenn dies
doch der Fall sein sollte, sollte dies kenntlich gemacht
sein. Die Geräte müssen demontierbar sein. Sie sollten
übrigens auch arbeitnehmerfreundlich sein. – Das sage
ich hier, weil wir heute hier im Hause eine Gruppe von
Gewerkschaftlern haben. – Auch das ist von Bedeutung.
Auch für die Menschen, die diese Geräte demontieren
müssen, darf keine Gefährdung bestehen. Wir müssen zu-
dem darauf hinweisen, dass neue Technologien im Rah-
men des Service im Reparaturbereich dienstleistungs-
freundlich sein müssen.

All dies sind Vorgaben, von denen ich glaube, dass die
Politik sie setzen sollte. Ansonsten wollen wir mit dem
vorliegenden Antrag ganz besonders die Eigenverantwor-
tung der Industrie stärken und schützen und damit ge-
meinsam einen Beitrag dazu leisten, eine nationale Nach-
haltigkeitsstrategie durch branchenspezifische Strategien
zu unterstützen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410218800
Jetzt erteile ich
der Kollegin Cornelia Pieper das Wort.




Winfried Hermann

9587


(C)



(D)



(A)



(B)



Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1410218900
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Hermann, Sie sagten, die
Opposition mäkele an Ihnen herum. Ich bezeichne das
nicht als Mäkeln. Ich bezeichne das – das will ich betonen –
als kritische Oppositionsarbeit.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Damit komme ich zur Sache: Wir behandeln heute im

Deutschen Bundestag einen Antrag, mit dem eine Strate-
gie für eine nachhaltige Informationstechnik entwickelt
werden soll. Frau Burchardt, Sie werden sich wundern:
Ich sage dazu, dass das ein guter Gedanke ist. Denn die
Informations- und Kommunikationstechnik stellt sich uns
als der Wachstumsmotor des beginnenden 21. Jahrhun-
derts dar. Auch Sie wissen natürlich, dass wir es zum Bei-
spiel beim Thema Bildung im Hinblick auf eine nachhal-
tige Entwicklung geschafft haben, einen gemeinsamen
Antrag dieses Hohen Hauses vorzulegen.

Aber darum geht es in diesem Falle nicht. Denn wer
glaubt, mit diesem Antrag, den Sie hier vorlegen, Ansätze
für eine politische Strategie an die Hand zu bekommen,
die eine Vernetzung von sozialen, ökonomischen und
ökologischen Aspekten dieser Entwicklung zum Ziel hat,
wird rasch enttäuscht sein.


(Beifall bei der F.D.P. – Zuruf des Abg. Dr. Dieter Thomae [F.D.P.])


– Genau. – Der aufmerksame Leser merkt schnell: Das
Produkt, also Ihr Antrag, hält nicht das, was die aufwen-
dige Verpackung verspricht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich würde gerne – mit Blick auf Herrn Dr. Thomae – der
Verpackung den Zettel beifügen: Zu Risiken und Neben-
wirkungen fragen Sie lieber die F.D.P.


(Beifall bei der F.D.P.)

Hier geht es nicht um eine nachhaltige Informations-

technik. Ihnen geht es im Grunde um einen nationalen
Eingriff in eine Wachstumsbranche, der ihre internatio-
nale Wettbewerbsfähigkeit zur Disposition stellt.

Auch in diesem Fall soll ein so genanntes Konsensmo-
dell herhalten, wovon Sie gesprochen haben. Unserer
Auffassung nach sollen in Wirklichkeit dieser jungen
Branche politisch die Korsettstangen eingezogen werden.
Genau das steht auch in dem Antrag und Herr Kollege
Mayer von der CDU/CSU-Fraktion hat es auch gesagt.
So, wie Sie es vorgestellt haben, geht es nicht nur um eine
Selbstverpflichtung der Wirtschaft und auch nicht um ein
reines Roadmapping. Sie liefern gleich die grüne Keule
noch dazu, nämlich durch Sanktionsmechanismen für
den Fall der Nichteinhaltung seitens der Wirtschaft.
Wir alle wissen, wie viele Jobs gerade in der Informati-
onstechnik stecken. Ich glaube, Ihr Antrag gefährdet den
Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb sollten wir ihn
nicht unterstützen und deswegen lehnen wir ihn ab.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich finde es köstlich, dass Ihr Vertrauen in die Arbeit

des Bundesumweltministers Jürgen Trittin anscheinend
nicht so toll ist; denn die kleine Anzahl der Kollegen aus

der SPD-Fraktion, die sich in das Rubrum des Antrages
eingetragen haben, zeigt mir, wer die eigentlichen Mütter
und Väter der Botschaft sind.


(Jörg Tauss [SPD]: Deswegen stehen die Namen obendrauf! Das ist das Ziel einer solchen Aktion!)


– Ich weiß, Herr Tauss, auch Sie haben an diesem Antrag
mitgearbeitet,


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das merkt man!)

und unsere konstruktive Kritik trifft Sie wieder schwer.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja, käme sie doch einmal!)

Ich kann das ja nachvollziehen.

Sie verlieren in dem Antrag kein Wort darüber, dass die
Industrie schon lange auf eine Elektronikschrottverord-
nung wartet, die den Stoffkreislauf von der Rohstoffge-
winnung über das Produkt und den Nutzer bis hin zur
Wiederverwertung verbindlich regelt. Das können Sie
nicht den Ländern vorschlagen. Hier ist vielmehr die Bun-
desregierung zum Handeln aufgefordert.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Fraktion wird dem Antrag in der vorliegenden

Form nicht zustimmen, da es richtiger wäre, Aufgaben für
die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung
aufzuzeigen sowie in enger Zusammenarbeit mit der In-
dustrie Anwendungs-, Vermeidungs- und Beseitigungs-
strategien zu erarbeiten. Ein einseitiger Standortnachteil
für den Informationstechnikbereich in Deutschland ist auf
jeden Fall zu vermeiden. Es geht um den Wirtschafts-
standort Deutschland. Das falsche Signal an diese Bran-
che bringt angesichts der Globalisierung eher große Ge-
fahren für das prognostizierte weitere Wachstum mit sich.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410219000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.


Angela Marquardt (PDS):
Rede ID: ID1410219100
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu den beiden
anderen Oppositionsfraktionen wird die PDS dem Antrag
zustimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist gut, dass die Themen Informationstechnologie
und Nachhaltigkeit zusammen beraten werden, auch
wenn man hinsichtlich der Kriterien bzw. der Konkreti-
sierung des Begriffs Nachhaltigkeit sicherlich noch dis-
kutieren wird. Beides sind Grundlagen der gesellschaftli-
chen Entwicklung. Es ist auch klar, dass das Verhältnis
zwischen ihnen ambivalent ist. Einerseits gibt es zahlrei-
che Möglichkeiten, die neuen Informationstechnologien
für eine nachhaltige Entwicklung zu nutzen, andererseits
bergen die neuen Technologien zusätzliche Belastungen
für Mensch und Umwelt. Deshalb gibt es keinen Zweifel
daran, dass es einer möglichst genauen Beobachtung und






(C)



(D)



(A)



(B)


einer gründlichen Folgenabschätzung dieser Entwick-
lung bedarf. Darin sind wir uns sicherlich alle einig, wie
man dies auch den Reden aus den Reihen der Union und
der F.D.P. entnehmen kann.


(Beifall bei der PDS)

Umstritten ist das vorgeschlagene Verfahren des Road-

mappings. Dieses Verfahren ist im Grunde ein Dialog der
Branche, weil diese am besten wissen müsste, was in den
nächsten Jahren auf uns zukommt. Es ist insofern auch ein
Ansatz für die Entwicklung des IuK-Marktes, weil dieser
von denjenigen, die ihn beherrschen, auch am besten ein-
geschätzt werden kann. Die Unternehmen planen voraus.
Was zählt, sind Fakten und Zahlen. Eine Analyse der In-
formations- und Kommunikationstechnologien unter dem
Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist also bei der Branche
in guten Händen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410219200
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Koppelin?


Angela Marquardt (PDS):
Rede ID: ID1410219300
Ja, bitte.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1410219400
Frau Kollegin, da Sie er-
klärt haben, Sie würden den Antrag begrüßen: Können Sie
mir dann erklären, warum von der Bundesregierung zur-
zeit kein Mitglied anwesend ist?


Angela Marquardt (PDS):
Rede ID: ID1410219500
Da ich ja leider noch nicht
Mitglied der Bundesregierung bin, kann ich diese Frage
natürlich schlecht beantworten.


(Heiterkeit und Beifall bei der PDS – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Aber wir haben es ja nun im Protokoll!)


Es ist natürlich schade, aber wir haben heute schon häufi-
ger über das Thema diskutiert und vielleicht hängen sie ja
noch am Bildschirm.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und bei der F.D.P. – Zurufe von der CDU/CSU: Hängen?)


Es versteht sich in meinen Augen auch von selbst, dass
unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
und Umweltverbände diesen Prozess begleiten müssen,
genauso wie die Tatsache, dass sich eine von wirt-
schaftlichen Interessen unabhängige Grundlagenfor-
schung ebenfalls dieses Themas, denke ich, annehmen
muss.


(Beifall bei der PDS)

Selbst wenn die Branche, Frau Burchardt, wartet,

bleibt doch die Frage, ob die Unternehmen diejenigen sein
sollten, die allein über die Konsequenzen oder die erfor-
derlichen Maßnahmen entscheiden sollten. Laut Antrag
ist das Ziel ein Konsens in der Branche, eine Selbstver-
pflichtung oder ein Branchenprotokoll, das entstehen
soll. Wir dürfen uns hier im Hause an manchen Stellen
nichts vormachen; wir alle wissen, dass die Unternehmen

Eingriffe in den Markt und ihren Profit nicht freiwillig
und schon gar nicht aus eigenem Antrieb unterstützen.

Das Verfahren darf natürlich in meinen Augen, sosehr
ich ihm zustimme, nicht in billige Absprachen münden,
darf natürlich nicht darin münden, dass Politiker oder
auch unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler oder Verbände die Ergebnisse dieser Analyse
nicht mit beurteilen können. Sie müssen natürlich mit in
die Diskussion über die Schlussfolgerungen einbezogen
werden. Da ist es, Kollege Mayer, natürlich notwendig,
dass Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen, wenn man
sich denn schon selbst verpflichtet, ergriffen werden kön-
nen. Denn wenn Selbstverpflichtungen nicht in konkrete
Maßnahmen münden, dann möchte ich auch das Recht ha-
ben, meinetwegen mit legislativen Maßnahmen einzu-
greifen. Ansonsten hat eine Selbstverpflichtung keinen
Sinn. Deswegen denke ich: Roadmap darf kein Freibrief
für die IuK-Branche sein, sondern muss natürlich Pflicht
sein, auch wenn sie einen Anteil an Selbstverpflichtungen
enthalten darf.

Damit gesellschaftlich kontrolliert werden kann, ob die
Regulierungsvorschläge angemessen sind, brauchen wir
eine breite Diskussion zum Thema „nachhaltige Informa-
tionstechnologien“. Was stellen wir uns darunter vor? Die
Entwicklung auf diesem Gebiet muss nachvollziehbar
sein. Es ist Aufgabe der Wirtschaft, der Medien, der Bil-
dungseinrichtungen, aber natürlich auch der Politik, dies
zu begleiten und offen zu legen. Wir partizipieren alle in
irgendeiner Form an dieser Entwicklung, an den neuen
Kommunikationstechnologien. Ich denke, dass sich nie-
mand aus der Verantwortung stehlen kann, auch nicht die
Politik. Sie sollte mutig genug sein, an dieser Stelle ein-
zugreifen.

Deswegen wird die PDS diesem Antrag zustimmen.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410219600
Das Wort hat
jetzt noch einmal der Herr Kollege Jörg Tauss.


(Zuruf von der CDU/CSU: Schon wieder? – Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Haben Sie heute ein Abo oder wie?)



Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1410219700
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin
Pieper, es geht nicht um kritische Oppositionsarbeit – sie
ist schon weg, schade –, es geht um Mäkelei. Begonnen
hat es heute Morgen mit dem Gemäkele an dem erfolgrei-
chen Kurs der Bundesregierung und des Kanzlers und
jetzt mäkeln Sie am Roadmapping herum. Das zieht sich
durch den ganzen Tag. Eine kritische Opposition, wie wir
sie verstehen, zeigt aber Alternativen auf.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wo ist die Regierung? Was für eine Regierung?)


– Was soll der Verweis auf die Regierungsbank? Sie ha-
ben doch eben davon gesprochen, dass diese Regierung
aufgefordert werden müsste. Dazu sage ich: Nein, sie




Angela Marquardt

9589


(C)



(D)



(A)



(B)


muss nicht aufgefordert werden; man ist bei der Arbeit;
man macht das schon, wozu Sie sie auffordern wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen Ihnen hier noch etwas erklären und nicht de-
nen. Die machen nämlich ordentliche Arbeit. Darin unter-
scheiden sie sich sehr von Ihnen.


(Zurufe von der F.D.P.: Wo ist die Regierung?)

– Seien Sie einmal ein wenig schweigsam; jetzt lese ich
Ihnen etwas vor, was Ihnen viel Freude macht. Es geht um
den Fachverband Informationstechnik im VDMA und
ZVEI. Die haben – jetzt hören und staunen Sie – bei einer
Anhörung unserer Enquete-Kommission in der letzten
Legislaturperiode Folgendes gesagt:

Wir haben dem Umweltbundesamt Ende 1996 die
Aufnahme von Beratungen über mittel- und langfris-
tige Umweltziele für die informationstechnische In-
dustrie vorgeschlagen.

Die Industrie hat es vorgeschlagen, nicht die bösen Sozi-
aldemokraten! – Hierzu haben auch Gespräche stattge-
funden, heißt es hier weiter im Text. Und dann:

Hieran könnte angeknüpft werden, wenn im
Umweltbundesamt konkrete Aktionsfelder definiert
werden.

Das, meine Damen und Herren, ist unser Ziel; mit der
Wirtschaft werden wir es machen. Sie könnten Opposition
machen, indem Sie Alternativen aufzeigen. Aber die ha-
ben Sie nicht. Intelligente Firmen und Unternehmen


(Zurufe von der F.D.P.)

– jetzt rufen Sie nicht die ganze Zeit dazwischen; die Frau
Präsidentin hat schon gemeint, ich solle mich heute kür-
zer fassen; Sie können auch eine Zwischenfrage stellen –
achten im eigenen Interesse darauf, dass Produktion und
Produktionsverfahren die Umwelt nicht belasten. Das ist
moderne Politik und nicht dieses rückwärtsgerichtete, al-
berne … – Ach, ich will das nicht weiter ausführen, sonst
rügt mich noch die Präsidentin.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade die IT-Branche hat Interesse daran. Elektronik-
schrott ist ein zentrales Problem. Der Kollege
Hermann hat zu Recht darauf hingewiesen.

Kollege Mayer, entschuldigen Sie bitte: Nachhaltigkeit
ist nicht Konservativismus. Wenn Konservativismus das
sein sollte, was Sie heute vorgetragen haben, dann ist es
ein Drama. Nachhaltigkeit heißt, optimierte Produkte,
optimierte Prozesse und Dienstleistungen und die Rah-
menbedingungen dafür zu entwickeln. Das hat etwas mit
Nachhaltigkeit zu tun


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und ist das Gegenteil von Konservativismus.
So angenehm und faszinierend der Computer ist – Kol-

lege Hermann hat Recht –, er hat, auf die Müllhalde ge-

bracht, höchst unangenehme Eigenschaften, da er hoch
toxisch ist. Auch hinsichtlich des Energieverbrauchs weiß
jeder Bescheid: Wenn wir das Problem mit dem Stand-by-
Betrieb in den Griff bekommen würden, könnten wir ein
ganzes Kernkraftwerk abschalten.

Die Bundesregierung hat – darüber haben wir gerade
geredet – gehandelt. Sie hat beispielsweise ein For-
schungskonzept für die Produktion von morgen auf den
Weg gebracht. Im Rahmen dieses Prozesses gibt es eine
ganz interessante Aktion, übrigens getragen vom Fraun-
hofer-Institut für chemische Technologie, was, Herr Kol-
lege Fischer, in unser beider Wahlkreis liegt. Falls Sie die
Kurve jetzt nicht kriegen – Sie reden nachher noch –,
würde ich vorschlagen, es einmal gemeinsam zu besichti-
gen. Dann hören Sie, was die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern zu unserem Antrag sagen. Sie werden
möglicherweise staunen.

Dieses Programm, von dem ich rede, hat mehrere
Ziele. Es geht um Lebensdauerplanung – „design to life“
ist der englische Fachbegriff –, es geht um Werterhaltung,
Mehrgenerationenproduktplanung. Es geht um Technolo-
gien und Methoden zur Lebensdauerdokumentation, zur
nachhaltigen Instandsetzung. Darüber freut sich übrigens
das Handwerk, das Sie sonst an allen Stellen hochjubeln.
Es geht um die marktfähige Umsetzung von erweiterter
Produktverantwortung. Das hat etwas mit Roadmapping
zu tun – aber nicht nur damit, sondern auch mit Methoden
zur Steigerung von Nachfrage nach nachhaltigen Pro-
dukten. Das schönste nachhaltige Produkt hilft nämlich
nichts, wenn die Verbraucher in den Märkten daran vor-
beigehen. Das heißt, wir müssen ein Bewusstsein für
nachhaltige Produkte schaffen, damit sie auch gekauft
werden.


(Beifall bei der SPD)

Das ist moderne Umweltpolitik, für die diese Regierung
steht.

Diesen Zielen wollen wir uns mit Hilfe des Roadmap-
ping nähern. Die IT-Branche könnte eine Vorreiterrolle
für nachhaltige Produktion und Produkte spielen. Ein Ro-
admapping ist dafür ein hervorragender Ansatz. Er kommt
aus den USA, nicht gerade das Musterland des Sozialis-
mus, wie wir alle wissen. Die Kapitalisten haben es also
erfunden. An dieser Stelle – nicht überall, aber hier beim
Roadmapping – wollen wir ausnahmsweise einmal von
den Kapitalisten lernen. Wir laden die Union ein, da mit-
zumachen.

Die Roadmap wird in Abstimmung mit der Branche er-
stellt. Über VDMAund ZVEI habe ich bereits geredet. So
kommt man zu gemeinsamen Ergebnissen. Nicht Papa
Staat alleine ist gefordert, sondern in der Kooperation von
Staat und Industrie werden umweltverträgliche Produkte
auf den Weg zur Nachhaltigkeit gebracht. Eine modernere
Politik kann man sich eigentlich nicht vorstellen.


(Beifall bei der SPD)

Deswegen: Mäkeln Sie nicht, machen Sie mit!

Wir freuen uns also auf die spannenden Diskussionen
mit Ihnen. Ich kann nur nochmals sagen: Kollege Fischer,
Sie haben ja nachher noch die Chance, die Kurve zu krie-




Jörg Tauss
9590


(C)



(D)



(A)



(B)


gen. Meine herzliche Bitte ist – ich meine es jetzt wirklich
ernst –, in diese Gespräche Hersteller, Fachverbände,
ZVEI, VDMAsowie viele Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler einzubeziehen. Sie haben die Chance mitzu-
machen. Setzen Sie sich wenigstens mit an den Tisch,
hören Sie es sich an! Den Workshop, den wir machen,
werden wir, Kollegin Burchardt, sicher nicht hinter ver-
schlossenen Türen abhalten. Die Opposition kann gerne
mitwirken. Denn wir wollen Sie auf dem Weg zu einer
moderneren Politik gerne einbinden. Das würde dem
Land sicherlich nicht schaden.

Machen Sie mit, anstatt sich – wie es heute geschehen
ist – nörgelnd ins Abseits zu reden. Es macht sonst noch
nicht einmal Spaß, sich mit Ihnen auseinander zu setzen,
so gerne ich mich mit Ihnen fetze.


(Beifall bei der SPD)

Das ist keine konstruktive Opposition, es macht keinen
Spaß mit Ihnen. Und das ärgert mich persönlich noch so
ein bisschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410219800
Das Wort hat
jetzt der schon mehrfach genannte Herr Kollege Fischer.

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Lieber Herr Kollege Tauss, was Sie uns hier geboten ha-
ben, war Demagogie pur.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Vielleicht liegt das auch daran, dass Sie heute bereits zum
dritten Mal hier im Einsatz sind. Man hat das Gefühl, die
SPD hat gar keine anderen Leute mehr, die zu diesem
Thema sprechen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Sachlichkeit hat darunter zu leiden.
Im Übrigen: Wenn man die Regierungsbank anschaut,

wird man nicht gerade in dem bestätigt, was Sie sagen,
Herr Kollege Tauss. Wenn das wirklich so ein wichtiges
Thema wäre, wären die alle hier und würden hören, was
das Parlament zu sagen hat. Das ist eine Missachtung des
Parlaments und Sie verteidigen das auch noch. Das kann
eigentlich nicht sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir debattieren heute den Antrag der Regierungsfrak-

tionen „Strategie für eine Nachhaltige Informationstech-
nik“. Das ist ein großer Anspruch, wenn man bedenkt,
dass das Leitbild derNachhaltigkeit drei Dimensionen –
die Ökonomie, die Ökologie und das Soziale – umfasst.
Das bedeutet eine dauerhafte tragfähige Entwicklung, bei
der ökologische, ökonomische und soziale Belange
gleichberechtigt und ausgewogen miteinander verbunden
sind.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die

Regierungsfraktionen den Versuch gestartet haben, diese
von der Enquete-Kommission formulierten Anforderun-
gen umzusetzen. Bereits im ersten Absatz Ihres Antrags –
ich will nun zu Ihrem Antrag sprechen, da Sie das selbst
nicht hinbekommen haben – umreißen Sie grob das ge-
setzte Anspruchsniveau. Sie haben einige der vielen Be-
reiche benannt, in denen die Politik Veränderungen der
Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung
der Informationstechnik in Deutschland vornehmen
müsse: Veränderungen im Arbeitsleben, Stichwort: Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf; Veränderungen der
Informationsübermittlung, Stichwort: Informationszu-
gang und Wissensvermittlung; Veränderungen der Quali-
fikationsanforderungen an Arbeitnehmer, Stichwort: zu-
kunftssichere Arbeitsplätze.

Leider kommen Sie über das Benennen dieser wichti-
gen Felder nicht hinaus. Denn im Weiteren handelt Ihr
Antrag, liebe Kollegin Burchardt, weniger von Nachhal-
tigkeit als vielmehr von der Ökologisierung der Infor-
mationstechnik. Es geht nur noch um die Verringerung
der Stoff- und Energieflüsse im Bereich der IuK-Technik,
die Erhöhung der Ressourcenproduktivität und die
Vermeidung von Problemstoffen bei der Herstellung von
IuK-Geräten.

Zur Lösung dieser vermeintlich drängenden Probleme
schlagen Sie unter Berufung auf die Enquete-Kommis-
sion die Erstellung einer Roadmap vor, die die ökologi-
schen Herausforderungen auf dem Weg zu einer nachhal-
tigen Informationstechnik benennen soll.

Die Enquete-Kommission hat in der Tat einvernehm-
liche Empfehlungen für eine weitere nachhaltige Ent-
wicklung im Bereich der Informationstechnik ausgespro-
chen. Ein Teilbereich war die ökologische Zielsetzung der
Verbesserung der Schadstofffreiheit und Verringerung des
Energieverbrauchs. Ein Unterkapitel dieses Teilbereichs
war die Erstellung einer Roadmap.

Dabei hat die Enquete-Kommission den Staat aber al-
lenfalls als Finanzier einer solchen Anstrengung der Wirt-
schaft erwähnt.


(Ursula Burchardt [SPD]: Ach, Herr Fischer, in der Enquete-Kommission war ich und nicht Sie!)


Vom Staat als Beteiligtem an einer „freiwilligen Selbst-
verpflichtung“ der Unternehmern und von einer Strafe für
Unternehmen bei Nichteinhaltung einer solchen Ver-
pflichtung ist in den Empfehlungen der Enquete-Kom-
mission nichts zu finden. Wir haben in Deutschland kein
Problem mit zu wenig Staat, sondern wir haben ein Pro-
blem mit zu viel Staat. Deshalb hat die Enquete-Kommis-
sion bei ihrer Empfehlung einer Roadmap den Staat als
Akteur bzw. als Sanktionator bewusst nicht vorgesehen.


(Ursula Burchardt [SPD]: Das ist doch falsch, Herr Fischer!)


Es ist schon bezeichnend, dass Sie mit Ihrem Antrag
von den eigentlichen Zielen einer nachhaltigen Entwick-
lung für und in Deutschland ablenken wollen.




Jörg Tauss

9591


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Nachhaltigkeit für Deutschland umfasst eben nicht
nur den ökologischen Bereich – ansonsten könnten wir
diese Debatte im Umweltausschuss führen – und sie ist
auch nicht durch mehr Staat zu erreichen, denn dann
könnten wir die Marktwirtschaft gleich durch Planwirt-
schaft ersetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nein, meine Damen und Herren, sie umfasst gleichbe-

rechtigt auch die ökonomischen und sozialen Belange der
Menschen in unserem Gemeinwesen. Die Enquete-Kom-
mission hat dem in ihrem Endbericht Rechnung getragen,
indem sie mehrere Strategien zur Umsetzung des Leit-
bildes der Nachhaltigkeit empfohlen hat. Eine davon
war zum Beispiel die Förderung der Nachhaltig-
keitskonzepte durch die Nutzung der IuK-Techniken.
Doch davon findet sich in Ihrem Antrag überhaupt nichts.
Stattdessen sprechen Sie die Ressourcenintensität und
Umweltbelastungen der Halbleiter- und Komponenten-
herstellung sowie den Energieverbrauch im Stand-by-Be-
trieb – wir haben sogar von Kernkraftwerken gehört, die
abgeschaltet werden könnten – an. Das sind Ihre Themen
im Bereich der Nachhaltigkeit.

Wenden wir jetzt unseren Blick ab von den Fragen des
Umwelt- und Gesundheitsschutzes hin zu den Fragen der
ökonomischen und sozialen Entwicklung. Bereits vor
zwei Jahren, liebe Frau Burchardt, hat die Enquete-
Kommission, die Sie zitiert haben, in ihrem Abschlussbe-
richt den Fachkräftebedarf für die Softwareentwicklung,
die Softwareanwendung und -ausgestaltung als das Na-
delöhr der ökonomischen Entwicklung identifiziert. Das
haben Sie damals mit unterschrieben.

Sie hat damals empfohlen, auf allen Ausbildungsebe-
nen – auf der Ebene der Universitäten, der Fachhoch-
schulen und der beruflichen Ausbildung – die bestehen-
den Ausbildungskapazitäten zu erweitern und neue zu
schaffen. Dieses Problem bewegt die Menschen, und zwar
nicht nur die unmittelbar betroffenen Unternehmer und
Arbeitskräfte, nein, unsere Gesellschaft stellt sich insge-
samt die Frage, wie wir mit älteren oder weniger qualifi-
zierten Arbeitnehmern in Zukunft umgehen wollen. Sie
hatten zwei Jahre Zeit zu handeln. Nichts ist passiert.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich hätte ange-
sichts der momentanen Lage in Deutschland von Ihnen er-
wartet, dass Sie die Initiative zur Behebung des Mangels
an geeigneten Fachkräften im Bereich der Anwendung
der Informationstechnik ergreifen, um zu einer nachhalti-
gen Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens beizutra-
gen.

Wenn ich mir aber vor diesem Hintergrund Ihren An-
trag zu einer nachhaltigen Informationstechnik anschaue,
stelle ich fest: Das ist so, als wenn eine Gruppe von Feu-
erwehrsachverständigen im zwanzigsten Stock eines
Hochhauses intensiv über die Verfeinerung eines Rauch-
melders diskutiert, während unter ihnen zehn Stockwerke
in hellen Flammen stehen. Mit der neuen Situation kon-
frontiert rufen sie die Feuerwehr aus Indien und Osteu-
ropa, denn die eigenen Feuerwehrleute scheinen aus ihrer
Sicht nicht qualifiziert oder schon zu alt zu sein, um die

neuen Löschgeräte anständig zu bedienen. Genau das ist
die momentane Situation.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das habe ich jetzt nicht verstanden!)


Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber es entspricht
den Tatsachen.

Wir haben 30 000 arbeitslose ansässige Computerfach-
leute. Aber statt in den letzten beiden Jahren die Qualifi-
kation neuer Fachleute forciert oder den Unternehmen
den Einsatz älterer Fachleute schmackhaft gemacht zu ha-
ben, setzen Sie auf den Import von Fachleuten und sche-
ren sich nicht um die Integration unserer Mitbürger in den
Arbeitsmarkt. Das muss hier einmal so deutlich gesagt
werden.

Es ist ein Armutszeugnis, dass an dieser Stelle über ei-
nen Antrag zur nachhaltigen Informationstechnik debat-
tiert werden muss, dessen Inhalt sich in keinem Wort an
den aktuell drängenden Problemen der Menschen hier in
Deutschland orientiert. Ihr Antrag geht jedenfalls an dem
eigentlichen Ziel einer nachhaltigen und dauerhaft trag-
fähigen zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaft
insgesamt meilenweit vorbei. Die Diskussion über Nano-
gramm und Pikogramm sowie über vermeintlich große
Entsorgungsprobleme beim Abfall, die Sie hier betreiben,
ist jedenfalls derzeit kein geeigneter Beitrag zur Siche-
rung der Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens.


(Jörg Tauss [SPD]: Ganz schwach!)

In diesem Sinne, meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen von den Regierungsfraktionen: Verstecken Sie sich
nicht länger hinter Ihrem ökologischen Umbau, sondern
stellen Sie sich endlich den realen Problemen der Men-
schen in unserem Lande!


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Rep-Sprüche!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410219900
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, For-
schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Stra-
tegie für eine Nachhaltige Informationstechnik, Drucksa-
che 14/2814. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2390 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten

Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Sicherung einer ange-
messenen Vergütung psychotherapeuti-
scher Leistungen im Rahmen der gesetzli-
chen Krankenversicherung




Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)

9592


(C)



(D)



(A)



(B)


– Drucksache 14/3086 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Ruth Fuchs, Dr. Ilja Seifert, Monika Balt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Existenzsichernde Vergütung der psycho-
therapeutischen Versorgung gewährleisten
– Drucksache 14/2929 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem
Kollegen Dr. Dieter Thomae für die FDP-Fraktion das
Wort.


Dr. Dieter Thomae (FDP):
Rede ID: ID1410220000
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! In der letzten Wahlpe-
riode haben wir dieses Gesetz weitgehend gemeinsam auf
den Weg gebracht und getragen. Die jetzige Bundesregie-
rung und die sie tragenden Fraktionen haben dieser Be-
rufsgruppe vor den Wahlen sehr viel versprochen – zu
viel, denn sie können es nicht halten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist erschreckend, wie die

Honorierung in diesem Bereich jetzt aussieht. Die floa-
tenden Punktwerte haben dramatische Auswirkungen.
Nicht nur in den alten Ländern, sondern besonders auch
in den neuen Bundesländern werden die psychologischen
Psychotherapeuten an die Grenze ihrer Existenz gebracht.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Skandalös!)

– Das ist in der Tat skandalös. Das ist die Grundlage der
Auseinandersetzung, die wir jetzt führen müssen.

Grundlage ist die Budgetierung. Meine Damen und
Herren, die Budgetierung treibt alle in den Ruin. Sie
rationiert insgesamt die Leistungen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ob wir das Arzneimittelbudget, das Heilmittelbudget oder
diesen Bereich nehmen: Überall führt die Budgetierung
zur Rationierung der Gesundheitsleistungen zum Nachteil
der Patienten. Zum Glück merkt man jetzt draußen, wel-
che Politik von Ihnen in diesem Bereich organisiert wor-
den ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, das Erstaunliche ist, dass
wir feststellen müssen: Es gibt keine akzeptablen Stun-
denlöhne mehr. Es handelt sich nämlich um Leistungen,
die im Gutachterverfahren von den Krankenkassen ge-
nehmigt worden sind. Aber man muss wissen, dass diese

Leistungen dringend notwendig sind und nun endlich zu
einem akzeptablen Preis organisiert werden müssen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Da gibt es kein Entkommen.

Viele Praxen in den neuen und alten Bundesländern
sind dem Ruin schon nahe; sie können keine entspre-
chenden Leistungen mehr erbringen. Der Bedarf ist groß.
Deshalb plädiere ich dafür, dass wir uns jetzt im Gesetz-
gebungsverfahren ernsthaft darum kümmern, eine sau-
bere, vernünftige Lösung auf den Weg zu bringen.

Ich möchte Ihnen einmal schildern, wie die Situation
in der Praxis aussieht. Ich glaube, Zahlen machen die Si-
tuation sehr deutlich: Im Jahr 1999 erzielten die Praxen im
Durchschnitt einen Umsatz von 70 DM pro Stunde. Wenn
man aber die Praxiskosten, die man mit etwa 44 DM ver-
anschlagen muss, abzieht, dann bleibt noch ein Betrag
von 26 DM brutto.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Das ist unglaublich!)

Dann kommt die Altersvorsorge, dann kommt die Kran-
kenversicherung, dann kommen die Steuern und dann – so
sagen uns die Experten – liegt der Nettostundenlohn bei
13 DM. Meine Damen und Herren, wer ist noch bereit, für
13 DM pro Stunde zu arbeiten? – Es kann keine vernünf-
tige therapeutische Betreuung zu diesem Stundenlohn
mehr erfolgen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Noch dramatischer ist es in Sachsen-Anhalt. Auch hier

möchte ich Ihnen einmal die Zahlen nennen: In Sachsen-
Anhalt beträgt der Stundenumsatz 52,20 DM brutto. Nach
Abzug der Praxiskosten, die 43,70 DM ausmachen, blei-
ben brutto noch 8,50 DM übrig.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Besserverdiener!)

Ich könnte Ihnen hierzu noch eine Reihe von Beispie-

len nennen. Ich könnte Ihnen beispielsweise sagen, wie
die Situation in Berlin ist – sie ist ähnlich dramatisch.

Meine Damen und Herren, es ist nicht nur in diesem
Bereich dramatisch, sondern es ist auch bei den Kran-
kengymnasten dramatisch, es ist bei den Logopäden dra-
matisch, es ist im Arznei- und Heilmittelbereich drama-
tisch. Ich sage Ihnen: Auch im Krankenhausbereich wer-
den wir recht bald feststellen, dass es dramatischer wird,
weil die Wartezeiten immer größer werden. Hier, meine
Damen und Herren, ist die Bundesregierung gefordert.

Ich war erstaunt, als ich in der „Bild am Sonntag“ vom
23./24. April 2000 las, dass der zuständige Staatssekretär
gesagt habe, es gebe in diesem Land keine Budgetierung
im Arznei- und Heilmittelbereich mehr.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da kann man nur lachen!)


Er hat behauptet:
Um das System zwischen den Ärzten gerechter zu
gestalten, haben wir einen Individualregress einge-
führt.




Vizepräsident Rudolf Seiters

9593


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich weiß nicht, wann dieses Gesetz über die Rampe ge-
bracht worden ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der kennt sein eigenes Gesetz nicht!)


Ich glaube, Ihr Staatssekretär sollte sich einmal um die
Gesetzgebung kümmern, die Sie gemacht haben.

Mit diesen Äußerungen hat er also nicht nur die „Bild
am Sonntag“ belogen, sondern auch die deutschen Pati-
enten, denn es gibt keinen Individualregress, sondern es
gibt bei der Budgetierung nur eine Gesamthaftung aller
Ärzte und das – ich sage es ganz eindeutig, meine Damen
und Herren – ist in meinen Augen nicht verfassungsge-
recht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich bin nicht bereit, dies weiter zu akzeptieren. Gehen Sie
von der Budgetierung weg! Dann, meine Damen und Her-
ren, sind Sie auf einem vernünftigen Weg.

Ich bin bereit, im Anhörungsverfahren vernünftige
Vorschläge aufzunehmen, damit diese Problematik, die
sehr dramatisch ist, gelöst werden kann. Sie haben den
Psychotherapeuten vor den Wahlen so viel versprochen,
aber nichts gehalten. Ich muss sagen, das ist unverant-
wortlich.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410220100
Für die SPD-Frak-
tion spricht Kollegin Helga Kühn-Mengel.


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1410220200
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etwas erstaunt
hat mich Ihr Beitrag schon, Herr Kollege Thomae.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Sie kennen ihn zu wenig!)


– Manchmal genügt auch eine kurze Zeit, um jemanden
kennen zu lernen, aber diesen Aspekt möchte ich nicht
vertiefen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: In den neuen Bundesländern finden Sie das alles bestätigt!)


Sie haben weder zu Ihrem Gesetzentwurf gesprochen
noch zu dem außerordentlich heiklen Punkt der Zuzah-
lung, die auch von der Verbändelandschaft abgelehnt
wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das haben Sie durch ein gewisses Timbre in der Stimme
kompensiert. Aber ich sage Ihnen schon jetzt – ich nehme
etwas aus meiner Rede vorweg –: Die Situation für die
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist ernst.
Das müssen Sie mir nicht sagen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Da hätten Sie längst etwas tun können!)


Mit diesem Thema reise ich durch die bundesdeutsche
Landschaft, wie auch meine Kollegen. Ich weiß um die

Not. Nur in der Ursachenbeschreibung setze ich etwas an-
dere Akzente als Sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Bisher haben Sie gar nichts getan!)


– Auch das ist nicht richtig. Aber dazu komme ich noch.
Sie erinnern sich: Als das Psychotherapeutengesetz

nach langen Jahren der Auseinandersetzung in Kraft trat,
haben wir viele der Schwierigkeiten, über die wir heute
sprechen, zumindest in Ansätzen kommen sehen: Es
wurde über Zugangsmodalitäten zur Kassenärztlichen
Vereinigung, Zulassungsbedingungen und Methodenviel-
falt diskutiert. Ich möchte daran erinnern, dass die SPD
diesem Gesetz die Zustimmung gegeben hat, weil sie im
Bundesrat ganz entscheidende Dinge nachbessern konnte:
bei der Gleichstellung der ärztlichen und psychologischen
Therapeuten und Therapeutinnen, bei ihrer Integration in
die Kassenärztlichen Vereinigungen mit Bildung eines
Fachausschusses und bei der Stärkung der Kinder- und Ju-
gendtherapeuten. Auch der Wegfall der Zuzahlung war
ein Punkt, weshalb wir zugestimmt haben. Es ist schon
bemerkenswert, meine Damen und Herren von der F.D.P.,
dass Sie die Zuzahlung heute wieder herauskramen und
wieder verwerten wollen.
Wir werden diesen Vorschlag jedenfalls heute ebenso ab-
lehnen wie damals.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben diesem Gesetz damals zugestimmt, weil wir
mehr Klarheit und mehr Sicherheit für die Patienten und
Patientinnen erreichen und deren gute psychotherapeuti-
sche Versorgung sicherstellen wollten. Ich erwähne das
deshalb, weil wir nicht unbedingt von einer Transparenz
im System sprechen können.

Es ist richtig, dass es Schwierigkeiten bei der Umset-
zung der Integration in die Kassenärztlichen Vereini-
gungen gibt. Es war das Ziel der Neugestaltung, dass die
Psychotherapeuten Mitglieder der Kassenärztlichen Ver-
einigungen werden, dass es eine gemeinsame Bedarfspla-
nung gibt, dass sie den Ärzten gleichgestellt sind, dass
beide Gruppen die gleiche Vergütung erhalten, dass sie in
den Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung vertreten
sind. Ich sage noch einmal: Das System hat manche die-
ser Forderungen, die wir aufgestellt haben, noch nicht
umgesetzt. Wir können nur hoffen, dass vieles davon zu
den Anfangsschwierigkeiten gehört.

Wir wussten natürlich, dass es nicht so einfach sein
würde, die gleichberechtigte Einbindung umzusetzen. Im-
merhin haben wir es mit einem Bereich zu tun, der sehr
standesbewusst und interessenorientiert ist, denn die
Ärzte sind schon lange etabliert. Das gehört zur Ursa-
chenbeschreibung. Es gibt nun einmal Schwierigkeiten,
wenn neue Partnerinnen und Partner in ein gewachsenes
System eingebunden werden sollen.

Man muss auch sagen, dass es in diesem System här-
teste interne Verteilungskämpfe gibt. Das ist unbestritten
und wird von den Ärzten und Ärztinnen in vernünftigen
Gesprächen immer wieder gesagt. Was die Therapeutin-




Dr. Dieter Thomae
9594


(C)



(D)



(A)



(B)


nen und Therapeuten betrifft, so haben wir es auch mit den
Auswirkungen solcher Verteilungskämpfe zu tun.

Es ist richtig, Herr Kollege Thomae, dass es im Jahre
1999 bundesweit einen dramatischen Punktwertabfall
bei der Vergütung psychotherapeutischer Leistungen gab,
der Teile eines ganzen Berufsstandes existenziell bedroht –
das ist richtig –, der Therapeuten in extreme wirtschaftli-
che Situationen bringt und – nicht zuletzt – in manchen
Regionen die psychotherapeutische Versorgung der Pati-
enten und Patientinnen gefährdet. Richtig ist aber auch,
dass Mittel, die eigentlich für die Psychotherapie hätten
verwendet werden sollen, über die Kassenärztlichen Ver-
einigungen in die Vergütung von Arztgruppen geflossen
sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Erste, was ich höre! Das haben Sie dem Ausschuss bisher nicht vorgelegt!)


– Das hat das BMG gesagt, das sagen Kommentatoren aus
dem Bereich der Krankenkassen.
Das finden Sie auch in einem Länderpapier wieder. Das
wird zurzeit überall diskutiert. Es ist doch nicht so, als
wären wir nicht bestrebt, die Ursachen der schwierigen
Situation herauszuarbeiten.

Richtig ist nach unserer Meinung aber auch, dass der
Antrag der PDS mit der Forderung nach Erhöhung des
Budgets zu kurz greift und – ich weise noch einmal da-
rauf hin – der Antrag der F.D.P. allzu anbiedernd ist.


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Unser Antrag war der erste, gnädige Frau!)


– Entschuldigen Sie bitte, Frau Dr. Fuchs. Ich meine mich
zu erinnern, Ihren Antrag auch als Ersten genannt und ge-
sagt zu haben, dass die dort erhobene Forderung nach Er-
höhung des Budgets zu kurz greife und – ich wiederhole
es gerne – der Antrag der F.D.P. anbiedernd sei.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Aber Sie haben gar keinen!)


Im letzten Jahr galten Übergangsregelungen, die im
Übrigen noch Ihre Regierung beschlossen hat. Als wir sa-
hen, wie problematisch sich die Vergütung psychothera-
peutischer Leistungen im Übergang gestaltete, haben wir
von der Koalition eine deutliche Nachbesserung in Höhe
von etwa 140 Millionen DM vorgenommen.

Wir haben mit der Gesundheitsreform 2000 festge-
schrieben, dass aufgrund der besonderen Tätigkeiten in
der Psychotherapie eine angemessene Höhe der Vergü-
tung pro Zeiteinheit zu gewähren ist. Das ist nicht un-
wichtig; denn damit wollten wir zum Ausdruck bringen,
dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei ei-
nem drohenden oder bereits eingetretenen Punktwertver-
fall ihren Leistungsumfang nicht so ohne weiteres aus-
weiten können, wie das andere Arztgruppen können. Es
ist wichtig, dass wir diesen Punkt in § 85 des Solidaritäts-
stärkungsgesetzes verankert haben.

Entscheidend ist nach unserer Meinung aber auch, dass
im Psychotherapeutengesetz eine Auffangregelung vor-

gesehen ist, damit ein bestimmtes Vergütungsniveau nicht
unterschritten wird,


(Detlef Parr [F.D.P.]: Das funktioniert ja in der Praxis nicht!)


und dass als Maßstab für die Angemessenheit der Vergü-
tung ärztliche Beratungs- und Betreuungsleistungen her-
angezogen werden sollen. So ist es in Art. § 11 Abs. 2 fest-
geschrieben.

Offensichtlich ist der Vergütungspunktwert im zwei-
ten Halbjahr 1999 aber auch deshalb so dramatisch ge-
sunken, weil das von der Kassenärztlichen Bundesverei-
nigung bereitgestellte Honorarvolumen im Vergleich zu
1998 zum Teil gesenkt wurde. Mittel für die Psychothera-
pie sind nicht geflossen. Sie sind – ich wiederhole es – in
andere Bereiche gelangt. Dabei handelt es sich nach einer
Schätzung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bun-
desweit um eine Summe von etwa 300 Millionen DM.
Wir können doch nicht einfach sagen: „Wir bessern das
Budget nach und geben mehr Geld in den Topf“, wenn all
diese Dinge nicht ordentlich auf den Tisch des Hauses ge-
legt werden.

Sie haben vorhin nach einem Beispiel gefragt. Die ne-
gativen Auswirkungen können am Beispiel Berlins – das
haben Sie vorhin selber erwähnt – dargestellt werden:
1996 gab die Kassenärztliche Vereinigung Berlin 72 Mil-
lionen DM für psychotherapeutische Leistungen aus. Im
Jahr 1998 stieg dieser Betrag auf 95 Millionen DM. Das
war eine Steigerung von 32 Prozent. 1999 betrug der An-
teil der Mittel für psychotherapeutische Leistungen aus
der vertragsärztlichen Versorgung am Gesamtbudget le-
diglich 73 Millionen DM. Es fehlten also im letzten Jahr
über 20 Millionen DM im Budget der Kassenärztlichen
Vereinigung Berlin, die im vorigen Jahr den Psychothera-
peuten noch zur Verfügung gestanden haben. Das habe ich
einer Darstellung der Länder entnommen. Ich weise nur
deshalb darauf hin, damit Sie nicht denken, ich ziehe wer
weiß was für Zahlen heran; denn die Länder befassen sich
damit. Wir befinden uns im Gespräch mit den Ländern,
weil wir wissen, dass wir die Länder als Aufsichtsbe-
hörden für eventuellen Änderungen brauchen.

Wir haben immer wieder darauf hingewiesen – und es
auch in Stellungnahmen betont –, dass die Kassenärztli-
chen Vereinigungen und die Krankenkassen gemeinsam
Lösungen zu vereinbaren haben, die eine Versorgung der
Versicherten und ein angemessenes Honorar für die Ärzte
gewährleisten sollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben immer beide Seiten in die Verpflichtung ge-
nommen. Wir sehen die rechtlichen Grundlagen für einen
solchen Konsens in den genannten Auffangregelungen
gegeben: Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes,
und § 85 des Solidaritätsstärkungsgesetzes.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Der hält doch gar nicht, was er verspricht!)


Bis zum Ende des letzten Jahres war es dem Bundes-
ministerium für Gesundheit nicht gelungen, die Kas-
senärztlichen Vereinigungen und die Spitzenverbände der




Helga Kühn-Mengel

9595


(C)



(D)



(A)



(B)


Krankenkassen zu einer gemeinsamen Position zu bewe-
gen. Dann gab es Ende Januar dieses Jahres aber einen
Konsens mit den Aufsichtsbehörden der Länder, dass
bei der Vergütung für das Jahr 1999, für das sich die Lage
ja besonders dramatisch darstellt, der vorgegebene Min-
destpunktwert nicht unterschritten werden darf. Dabei
muss natürlich auch die Frage geklärt werden, wer Auf-
wendungen in welchem Umfang zu tragen hat. Ich denke,
dass damit ein Prozess eingeleitet wurde, der zu einer
zwar nicht hochwertigen, aber doch halbwegs akzepta-
blen Lösung geführt hat.

Im Übrigen ist die Analyse der gesamten Situation
außerordentlich schwierig, weil wir ein geschlossenes
Datenbild vonseiten der Kassenärztlichen Vereinigungen
einfach nicht bekommen; es liegt nicht vor. Noch in
der letzten Sitzung vor der Osterpause – Herr Kollege
Lohmann, auch Sie haben das kritisiert – standen uns le-
diglich Daten vom ersten, allenfalls vom zweiten Quartal
1999 zur Verfügung.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das ist ein Trauerspiel!)


– Sie sagen „Trauerspiel“. Sie haben das ebenso kritisiert
wie wir.

Vor diesem Hintergrund, bei völlig unklarer Datenlage
und bei Spekulationen darüber, wo die für die Psychothe-
rapeuten gedachten Mittel eigentlich hingeflossen sind,
sehr verehrte Damen und Herren von der PDS und von der
F.D.P., erscheint das Nachschießen von frischem Geld
durch die Politik zu diesem Zeitpunkt nicht als das geeig-
nete Mittel.

Jetzt komme ich zu dem, was die F.D.P. will. Die F.D.P.
will in erster Linie diejenigen Regelungen verändern, die
sie in der alten Koalition beschlossen hat.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410220300
Frau Kollegin, ich
muss darauf hinweisen, dass Sie Ihre Redezeit weit über-
schritten haben. Kommen Sie bitte zum Schluss.


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1410220400
Ich danke Ihnen; aber
ich glaube, ich darf das noch.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410220500
Ja, wenn Ihre Frak-
tion das gestattet. Nur, das geht dann zulasten der zweiten
Rednerin; aber das ist Sache Ihrer Fraktion.


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1410220600
Ich danke Ihnen. Ich
beeile mich.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Lassen Sie doch lieber die Zweite reden! Das ist spannender!)


– Ja, die kommt gleich noch. Frau Schaich-Walch hat si-
cherlich noch viel Gutes zu ergänzen.

Die F.D.P. will in ihrem Antrag die Punktwertdifferenz
für 1999 so erhöhen, dass die Psychotherapeuten eine
„angemessene Vergütung“ erhalten. Das hört sich gut an
und suggeriert den Psychotherapeuten schnelle Hilfe. Es
bedeutet aber auch, dass die Kassenärztlichen Vereini-

gungen aus ihren Verpflichtungen entlassen werden; für
die Mehrkosten sollen allein die Krankenkassen aufkom-
men. Das heißt auf gut Deutsch: Die bestehenden Pro-
bleme sollen einseitig zulasten der GKV gelöst werden.
Im Übrigen: Was heißt „angemessene Vergütung“?


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Da gibt es Urteile!)


Mit welchen Arztgruppen, mit welchem Bezugsjahr usw.
wollen Sie Vergleiche anstellen?

Für das Jahr 2000 schlagen Sie eine Einzelleistungs-
vergütung vor. Das bedeutet, dass psychotherapeutische
Leistungen faktisch außerhalb des ärztlichen Gesamtbud-
gets bezahlt werden. Das können wir natürlich nicht mit-
tragen, weil wir den Rahmen für die Beitragssatzstabilität
gesetzt haben.

Wie ist Ihr Plan zur Gegenfinanzierung? Die von Ih-
nen vorgeschlagene Zuzahlung – dazu habe ich schon et-
was gesagt – ist für uns völlig inakzeptabel; wir haben sie
damals abgelehnt und das tun wir auch heute. Sie wird
auch von den Verbänden, zum Beispiel vom BVVP, ganz
kritisch gesehen. Ihr anderer Vorschlag zur Gegenfinan-
zierung besteht darin, dass Sie die Mittel, die wir für die
Verbraucherberatung eingesetzt haben, streichen wollen.
Sie können von uns nicht erwarten, dass wir ein Gesetz,
das wir gerade auf den Weg gebracht haben, schon wieder
zurücknehmen, indem wir ein wichtiges Element strei-
chen.

Natürlich sehen auch wir die schwierige Situation. Wir
fordern die KVen und die Krankenkassen noch einmal
auf, ihren Verpflichtungen auf den genannten Grundlagen
nachzukommen. Wir fordern vor allem eine ordentliche
Datenbasis. Erst wenn das erreicht ist, können wir auf se-
riöses Material zurückgreifen und überlegen, ob eine No-
vellierung an bestimmten Stellen infrage kommt.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410220700
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun der Kollege Aribert Wolf.


Aribert Wolf (CSU):
Rede ID: ID1410220800
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wenn wir über den Gesetz-
entwurf der F.D.P. debattieren, dann geht das nicht, ohne
dass wir ein Stückchen zurückschauen auf die Entwick-
lung der Psychotherapie und der dafür vorgesehenen Fi-
nanzgrundlagen. Frau Kühn-Mengel, Sie haben das im
Ton sehr nett gesagt, aber in der Sache wollen wir diesen
Geschichtsklitterungen schon ein bisschen entgegen-
treten. Wenn der Gesetzgeber, wie beim Psychothera-
peutengesetz, Neuland betritt und nicht über gesicherte
Erfahrungen verfügt, kann auch einmal etwas schief
gehen; das räumen wir durchaus ein. Aber ein klug be-
ratener und einsichtiger Gesetzgeber baut für eine solche
Situation vor und hält sich gleich im Gesetz ein Hin-
tertürchen offen nach dem Motto: Versuch – Irrtum –
Korrekturmöglichkeit. Und genau das hat die damals
unionsgeführte Bundesregierung, hat der damalige




Helga Kühn-Mengel
9596


(C)



(D)



(A)



(B)


Gesundheitsminister Horst Seehofer klugerweise im
Psychotherapeutengesetz vorgesehen.

Aber ich muss Ihnen beweisen – und ich kann Ihnen
das auch beweisen –, dass die rot-grüne Bundesregierung
diese Klugheit in ihrer Gesundheitspolitik leider nicht an
den Tag gelegt hat. Frau Fischer, leider ist Ihr Budgetie-
rungswahn eine der Hauptursachen dafür, dass wir in
Deutschland auch im Bereich der Psychotherapie derart
massive Probleme haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber nicht nur in der Psychotherapie, auch in anderen me-
dizinischen Versorgungsbereichen in unserem Land ha-
ben wir immer stärker eine heimliche Mehrklassenmedi-
zin zu verzeichnen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie haben

zwar die von uns aus Gründen der Kostenbegrenzung an-
gehobenen Zuzahlungen im Bereich der Arzneimittel
offiziell minimal abgesenkt, aber in der bundesdeutschen
Wirklichkeit werden heute Patienten dank Ihrer Budge-
tierungspolitik viel massiver zur Kasse gebeten, als das
mit unseren sozial abgefederten und über Härtefallrege-
lungen gemilderten Zuzahlungsregelungen der Fall war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

All das läuft heute in der bundesdeutschen Wirklichkeit
wesentlich härter, brutaler, aber heimlich unter dem La-
dentisch.

Das sind keine erfundenen Geschichten, Frau Fischer.
Ich habe es in der eigenen Familie vor kurzem erfahren.
Meine Frau war vor einigen Tagen bei einem Gynäkolo-
gen. Die erste und routinierte Forderung der Sprech-
stundenhilfe war: 50 Mark bar auf den Tisch, sonst gibt es
keine Vorsorgeuntersuchung!


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Finden Sie das in Ordnung?)


Nach eineinhalb Jahren rot-grüner Gesundheitspolitik ist
das die traurige Wirklichkeit in Deutschland. Da können
Sie schreien, so viel Sie wollen, Sie haben für die Men-
schen etwas Schlechtes auf den Weg gebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen, Frau Fischer, sollten Sie sich weniger Ge-

danken darüber machen, wie Sie Bundesbürgern mehr
Geld aus der Tasche ziehen können, indem Sie Zins- und
Aktieneinkünfte auch noch sozialversicherungspflichtig
machen wollen. Stattdessen sollten Sie lieber darüber
nachdenken, wie Sie den bundesdeutschen Normalver-
braucher vor diesem heimlichen Abkassieren und vor die-
ser heimlichen Mehrklassenmedizin endlich wirksam
schützen. Das wäre eine lohnende Aufgabe, mit der Sie
sich als Gesundheitsministerin wirklich profilieren könn-
ten.

Aber bleiben wir bei der Psychotherapie. Meine Da-
men und Herren, wir kennen ja im Medizinbetrieb viel-
fach das Gejammer der Akteure, die Vergütung sei zu ge-
ring. Ich bin bestimmt der Letzte, der sagt, dass das, was
an Wehklagen bei uns in der Politik abgeladen wird, im-

mer stimmt. Da ist natürlich oft ein Stückchen überzeich-
nende reine Interessenvertretung dabei. Aber wenn wir
uns die Situation der Psychotherapeuten im Jahre
1999 ansehen, dann müssen wir feststellen, dass sie in
mindestens der Hälfte der Bundesländer in der Tat völlig
unerträglich war. Das belegen Gerichtsurteile, Schieds-
sprüche, Aussagen der Krankenkassen und folgende Fak-
ten, die ich Ihnen kurz nennen darf. Ich habe die Zahlen
vom dritten Quartal. Es reicht nämlich völlig aus, wenn
man einmal bei einer Krankenkasse anruft und sich Über-
sichten geben lässt. Das Gesundheitsministerium wäre
auch ein Stückchen weiter, wenn es dies tun würde. Ich
weiß nicht, warum ich die Zahlen bekomme, Sie im Mi-
nisterium aber nicht.

Das Bundessozialgericht peilt einen Vergütungspunkt-
wert von 10 Pfennig an. Nach den mir vorliegenden Über-
sichten schwanken die Auszahlungspunktwerte zwischen
2 Pfennig in Berlin, 3,1 Pfennig in Sachsen, 3,9 Pfennig
in Mecklenburg-Vorpommern, 6,1 Pfennig in Süd-Würt-
temberg, 6,5 Pfennig im Saarland und 7 Pfennig in West-
falen-Lippe, Bayern, Hamburg und Nordrhein. Das ist
wirklich beschämend.

Hinzu kommt, dass viele Psychotherapeuten zeitlich
genau festgelegte Leistungen erbringen und diese vorher
auch noch von den Krankenkassen genehmigen lassen
müssen. Für die üblichen Mengenausweitungen im
Medizinbetrieb steht die Psychotherapie also nur ganz be-
grenzt zur Verfügung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen sind die Klagen der Psychotherapeuten über
eine katastrophale Einkommenssituation, die es ihnen
vielfach noch nicht einmal ermöglicht, die Praxiskosten
zu decken, richtig.

Ich will mich jetzt überhaupt nicht über die Gründe
auslassen, die dazu geführt haben, dass dieser dramati-
sche Punktwerteverfall eingetreten ist.


(Zuruf von der SPD: Damit machen Sie es sich jetzt aber einfach!)


Schuldzuweisungen helfen weder den Patienten noch den
Psychotherapeuten.

Nur so viel: Keiner, auch Sie nicht,

(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Tja, Herr Schuster!)

wusste zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Psycho-
therapeutengesetzes, ob das Geld, das für die Integration
der Psychotherapie in die gesetzliche Krankenversiche-
rung und in das System der Kassenärztlichen Vereinigun-
gen vorgesehen war, ausreichen würde.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das Wasser steht euch bis zum Hals!)


Deswegen bestand Konsens in der Ärzteschaft, unter den
Psychotherapeuten und den Krankenkassen, dass man
sich darum bemühen wollte, ein ausreichendes Finanzvo-
lumen zu berechnen. Von allen wurden ihre Zahlen an
Horst Seehofer gemeldet. Anhand dieser wurde dann das
Volumen berechnet. Und diese Zahlen wurden für die




Aribert Wolf

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(C)



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(B)


Ausgestaltung des Psychotherapeutengesetzes übernom-
men. Heute sind wir alle, Sie und auch wir, ein Stückchen
schlauer, denn wir alle wissen, dass diese Berechnungen
von der Wirklichkeit überholt wurden: So wurden we-
sentlich mehr Psychotherapeuten zugelassen, als man da-
mals gedacht hat,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und die von den Kassen gemeldeten Zahlen zur Kosten-
erstattung im Bereich der Psychotherapie waren offen-
sichtlich viel zu niedrig angesetzt.

Es ist normal – das weiß jeder, meine Damen und Her-
ren –, dass dann, wenn ein Honorarkuchen aufgrund zu
geringer Zutaten schon von Haus aus zu klein gebacken
wird, sich aber trotzdem auch noch wesentlich mehr Per-
sonen von diesem Kuchen ein Stückchen abschneiden
wollen, beileibe keine Freude aufkommen kann. Das
leuchtet, wie ich glaube, auch denen von uns ein, die nicht
tagtäglich in der Küche stehen und Kuchen backen.

Aber ein Mann wie Horst Seehofer hatte vorgebaut.
Weil er von diesen Unsicherheiten wusste, hat er in Art. 11
Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes eine Auffangrege-
lung verankert. Darin ist ein klarer Verhandlungsauftrag
an die Kassen und die Ärzteschaft enthalten, dass dann,
wenn der Punktwert der Psychotherapeuten den der ärzt-
lichen Betreuung um 10 Prozent unterschreitet, nachver-
handelt werden muss.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Versuch – Irrtum – Korrekturmöglichkeit.


(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Richtig!)


– Ich würde da nicht so laut schreien, Herr Schmidbauer.
Jetzt, meine Damen und Herren, kommt das, was Rot-

Grün in eigener Machtvollkommenheit an Gesetzge-
bungspolitik auf den Weg gebracht hat: ein Budgetie-
rungswahn ohnegleichen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Sie haben uns ja nicht erst letztes Jahr mit dem GKV-
Gesundheitsreformgesetz,


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das war schon vorher so!)


sondern bereits 1998 massiv Probleme beschert. Mit dem
so genannten GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz haben
Sie eine Budgetierung eingeläutet, die die Ausgaben der
Kassen bereits für 1999 streng begrenzt hat.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Damit durfte keine Krankenkasse in Deutschland, auch
wenn sie noch so sehr überzeugt war – das haben ja viele
Kassen gesagt –, dass das Finanzierungsvolumen für die
Psychotherapeuten zu knapp bemessen ist, mehr Geld zur
Verfügung zu stellen. Das war aufgrund Ihrer Gesetze
ausgeschlossen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es! – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das ist der Grund!)


Es kommt ja noch toller, meine Damen und Herren: In
Art. 14 des ersten rot-grünen Budgetierungsgesetzes, des
so genannten Solidaritätsstärkungsgesetzes, ist geregelt,
dass die Auffangklausel des Psychotherapeutengesetzes
ausgehebelt wird.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410220900
Herr Kollege
Wolf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schmidbauer?


Aribert Wolf (CSU):
Rede ID: ID1410221000
Nein, ich möchte erst den
Gedanken zu Ende führen. Vielleicht kann er sich hinter-
her noch einmal melden.

Während des Gesetzgebungsverfahrens zum GKV-
Solidaritätsstärkungsgesetz wurde 1998 zunächst ein
Änderungsantrag von Rot-Grün eingebracht, der eine
Öffnung der Budgetierung gemäß Art. 11, also genau der
Auffangregelung von Horst Seehofer, vorsah. Aber da es
bei Ihnen wie üblich chaotisch zugegangen ist,


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Da ist vieles verloren gegangen!)


haben Sie diesen Antrag im Rahmen des allgemeinen Ge-
wurstels wieder zurückgezogen und gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. beschlossen, dass es bei der
strengen Budgetierung bleibt. Und jetzt kommen in den
Bundesländern die Probleme hoch.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Aber richtig!)

Die Frau Fischer lässt dann vom Bundesgesundheits-

ministerium erst einmal ganz forsch an alle Beteiligten
Briefe schicken mit dem Inhalt, dass Rot-Grün im Bun-
destag eine klare gesetzliche Ausgabenbegrenzung für die
Krankenkassen vorgenommen hat und es keine Ausnah-
men von der Budgetierung, auch nicht für die Psychothe-
rapie, gibt. So lautete der Inhalt der Briefe. Dann kamen
wutentbrannte Reaktionen aus den Ländern. Alle Betei-
ligten schimpften über die Gesetze und diesen Blödsinn
von Rot-Grün: Bundesländer, die von der SPD regiert
werden, unionsgeführte Bundesländer, Kassenärztliche
Vereinigungen, Kassen, Psychotherapeuten und am Ende
auch die Schiedsämter. Und langsam dämmert es der
Spitze des Gesundheitsministeriums, dass Rot-Grün hier
Murks beschlossen hat.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)

Aber die politische Spitze hat nicht den Mut, Gesetze

zu ändern, Frau Fischer, denn dann würden die Dinge ja
öffentlich bekannt werden. Nein, ein findiger Beamter
kommt auf die Idee und sagt: Wir vollziehen einfach den
Murks nicht, den wir mit der Verabschiedung von Art. 14
GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz beschlossen haben. Ge-
sagt, getan. Dann hört man aus dem Gesundheitsministe-
rium ganz kleinlaut: Beanstanden wir halt die Gesetzes-
verstöße der Kassen nicht. Sie dürfen ruhig mehr zahlen,
als im Solidaritätsstärkungsgesetz festgelegt ist. Was wäre
denn los – so wörtlich –, wenn das Bundesgesundheits-
ministerium einen harten Standpunkt bezieht? Was würde
dann passieren?




Aribert Wolf
9598


(C)



(D)



(A)



(B)


Man muss sich dies auf der Zunge zergehen lassen: Der
Deutsche Bundestag beschließt auf Grundlage eines Vor-
schlages von Frau Fischer ein Gesetz. Dann aber ent-
scheidet die Ministerin in eigener Selbstherrlichkeit: Aus
politischen Gründen vollziehe ich dieses Gesetz nicht. –
Das ist die traurige Wirklichkeit bei den Psychotherapeu-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dirk Niebel [F.D.P.]: Rechtswidrig!)


Frau Fischer, damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir
wollen nicht, dass Sie dieses Murksgesetz vollziehen. Wir
leben aber doch nicht in einer Bananenrepublik. Wenn Sie –
Gott sei Dank – endlich einsehen, dass Rot-Grün mit die-
ser totalen Budgetierung gesetzgeberischen Mist gebaut
hat, dann haben Sie wenigstens den verfassungspolitisch
geforderten Mut, Ihre Murksgesetze zu ändern, statt nur
deren Vollzug auszusetzen. Daher werden wir das Ge-
setzesvorhaben der F.D.P. unterstützen, soweit es die
Vergütungssituation für 1999 betrifft.

Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich kann Sie
nur auffordern, hier ebenfalls mitzuziehen. Denn das Par-
lament muss entscheiden, was in Deutschland rechtlich
gilt, und nicht eine Ministerin, die willkürlich festlegt, ob
sie ein vom Deutschen Bundestag beschlossenes Gesetz
vollzieht oder nicht. Aus dieser Patsche sollten Sie Ihrer
Ministerin – wenigstens mit Verspätung – heraushelfen.

Problematischer ist im F.D.P.-Vorschlag allerdings –
auch diesen Punkt will ich ansprechen –, was dort an Re-
gelungen für das Jahr 2000 vorgesehen ist. Zunächst ein-
mal will ich die Punkte nennen, in denen wir mit der
F.D.P. übereinstimmen. Die verkorkste Situation von
1999 in Kombination mit der rot-grünen Budgetierung für
das Jahr 2000 darf nicht dazu führen, dass heuer andere
Facharztgruppen massiv geschröpft werden, um für die
Psychotherapeuten überhaupt eine angemessene Vergü-
tung sicherzustellen. Genau das droht, wenn wir die rot-
grünen Gesetze unverändert lassen.

Sie von der F.D.P. haben einen Vorschlag gemacht, der
die Budgetierung durchbricht. Aber es ist ja so, dass der
Vergütungsanteil der Psychotherapeuten von den Kas-
sen nicht mehr aus einem gesonderten Honorartopf be-
zahlt wird. Er wird vielmehr in die von den Kassen in ei-
ner Summe entrichtete Gesamtvergütung für alle Fach-
ärzte eingerechnet. Rot-Grün hat die Gesamtvergütung
für die Fachärzte der Höhe nach streng begrenzt. Das
heißt: Alle Verbesserungen in Sachen Honorar für die
Psychotherapeuten gehen zu Lasten anderer Fachärzte.
Dies ist ein Teufelskreis: Nimm dem einen, gib dem an-
deren; so geht es der Reihe nach um.

Als Kinder haben wir bei uns zu Hause früher „Reise
nach Jerusalem“ gespielt.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Immer ein Stuhl weniger!)


Solange die Musik spielt bzw. die Verhandlungen mit den
Krankenkassen laufen, dürfen alle um einen aus Stühlen
gebildeten Kreis herumlaufen. Wenn die Musik aufhört
bzw. die Verhandlungen mit den Krankenkassen zu Ende
sind, dann müssen sich alle hinsetzen. Aber leider ist dann

ein Stuhl zu wenig da. Das heißt, einer fliegt heraus und
ist der Dumme. Da die Stühle bzw. die Finanzmittel ins-
gesamt begrenzt sind, muss am Ende eine Arztgruppe für
die Verbesserungen der anderen Gruppe bezahlen. Das ist
die rot-grüne Reise nach Jerusalem bzw. die rot-grüne
Budgetierung.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist ein Schmarren! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.]: Das sagt Ihnen jeder!)


Die F.D.P. sieht dieses Problem; Sie aber wollen es
nicht sehen. Ich weiß, dass Sie dem Budgetierungswahn
anhängen. Trotzdem halten wir den Lösungsweg der
F.D.P. aus folgenden Gründen für unbefriedigend. Liebe
Kollegen von der F.D.P., wenn wir die Psychotherapeuten
von diesem rot-grünen Irrsinnsspiel befreien und die Leis-
tungen außerhalb des Budgets gesondert vergüten, alle
anderen aber in diesem System bleiben sollen, dann sind
wir von CDU und CSU der Meinung, dass wir nicht nur
eine Arztgruppe bevorzugen und diese vor dem rot-grü-
nen Budgetierungssumpf retten sollten. Es sollte vielmehr
gleiches Recht für alle gelten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir möchten hier im Interesse aller gesetzlich Kranken-
versicherten in diesem Land ein Ende der falschen rot-
grünen Budgetierungspolitik für Psychotherapeuten, für
Augenärzte, für Gynäkologen und für alle anderen Fach-
und Hausärzte.

Im Bereich der Psychotherapie ist eines überdeutlich
geworden: Die Budgetierung ist kein geeignetes Steue-
rungsinstrument für eine medizinische Versorgung, die
sich an den Bedürfnissen der Patienten orientiert.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Deswegen unser erster Schritt!)


Frau Fischer, wenn Sie Ihr Angebot zu Konsensge-
sprächen über die Gesundheitspolitik wirklich ernst mei-
nen und diese nicht nur aus wahltaktischen Gründen kurz
vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl platzieren, dann
verabschieden Sie sich – wie im Bereich der Psychothe-
rapie – auch in anderen Bereichen von dem Budgetie-
rungswahn. Dies sollte nicht nur auf dem Wege gesche-
hen, dass Sie Gesetze nicht vollziehen, sondern Sie soll-
ten wirklich bereit sein, aus den Fehlern der letzten Jahre
zu lernen und etwas anderes auf die Füße zu stellen. Sie
wissen selber: Unsere Vorstellungen liegen auf dem
Tisch.


(Bundesministerin Andrea Fischer: Quatsch!)

– Natürlich liegen sie auf dem Tisch. Ich kann sie Ihnen
zuschicken, wenn Sie sie nicht haben. Ich bin sogar von
Herrn Schulte-Sasse aus Ihrem Ministerium angerufen
und gefragt worden, ob er diese Vorstellungen nicht mal
haben könne.

Nur mit einem klaren Bekenntnis zu mehr Eigenver-
antwortung, zu mehr Transparenz für die Patienten, zu
mehr Wettbewerb und Gestaltungsspielräumen für die
Selbstverwaltung und zu mehr differenzierten Wahlmög-
lichkeiten für dieVersicherten könnenwir die Probleme in
unserem Gesundheitswesen zukunftsgerichtet angehen,




Aribert Wolf

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(C)



(D)



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im Bereich der Psychotherapie genauso wie in allen an-
deren Versorgungsbereichen.

Also laden Sie uns nicht nur zu Konsensgesprächen
ein, Frau Fischer, sondern legen Sie endlich ein Konzept
vor! Bewegen Sie sich in Sachen Gesundheitspolitik ein
Stückchen in eine vernünftige Richtung! Dann können
wir für die Menschen in Deutschland etwas erreichen. Wir
als CDU/CSU sind bereit, sachgerecht zu diskutieren.
Aber zuerst müssen Sie dazu ein Konzept auf den Tisch
legen. Sie können nicht nur aus wahltaktischen Spielchen
heraus einfach etwas in den Raum stellen, was mit null
Substanz unterlegt ist.

Ich bedanke mich, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410221100
Zu einer Kurzin-
tervention gebe ich das Wort dem Kollegen Horst
Schmidbauer.


Horst Schmidbauer (SPD):
Rede ID: ID1410221200
Herr Kollege
Wolf, Sie haben den genialen Vorschlag, den Herr See-
hofer in Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes
formuliert hat, angesprochen. Wir finden den Vorschlag
auch gut. Wir konnten ihm deswegen seinerzeit gut zu-
stimmen, weil das Einfügen eines völlig neuen Ver-
sorgungsbereichs in der Dimension Psychotherapie in das
Gesundheitswesen natürlich ein schwieriges Unterfangen
ist. Ich bin Ihrer Rede deshalb interessiert gefolgt, weil ich
denke, dass Sie daraus nicht die Schlussfolgerungen
abgeleitet haben, die Herr Seehofer damit verbunden hat.
In Art. 11 Abs. 2 heißt es ja: Wenn der für die Vergütung
psychotherapeutischer Leistungen geltende Punktwert
den für allgemeine Beratungstätigkeiten geltendenden
durchschnittlichen Punktwert der beteiligten Kranken-
kassen um mehr als 10 Prozent unterschreitet, sind die
entsprechenden Stützungsmaßnahmen vorzunehmen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Haben Sie nicht zugehört? Das hat er doch erklärt!)


Jetzt hat diese Regierung nichts anderes gemacht, als
in dieser Situation darauf hinzuwirken, was logisch ist,
dass diejenigen, die die Aufsicht haben – das sind die Län-
der, wenn nicht andere Beteiligte da sind –, letztendlich
im Schiedsverfahren vor dem Schiedsgericht klären las-
sen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Dazu braucht man Geld!)


was 90 Prozent sind. In den Ländern, in denen das ge-
schehen ist, sind in der Zwischenzeit einigermaßen ver-
tretbare Vergütungsstrukturen für die Psychotherapie ent-
standen. Ich weiß also nicht, wo Ihr Problem ist.


(Zuruf von der CDU/CSU)

Die Situation der Psychotherapeuten im Jahr 1999 war
doch nicht in dem Gesetz begründet. Ich kann daher nicht
nachvollziehen, wenn Sie ableiten, dass letztendlich die
Psychotherapie in 1999 schlecht gestellt war. Und für
2000 können wir das schon überhaupt nicht nachvollzie-
hen.

Sie haben sehr eingehend dargelegt, dass wir bei der
Psychotherapie eine zeitabhängige Tätigkeit haben. Was
Herr Seehofer bei dem Gesetz nicht vorausgesehen hat,
haben wir korrigiert, indem wir gesagt haben: Es ist völ-
lig klar, die Grenzen dürfen bei der Psychotherapie nicht
überzogen werden. Wir müssen eine zeitabhängige
Größenordnung für die Vergütung einführen. – Wir erle-
ben auch, dass diese zeitabhängige Vergütung zurzeit in
der Selbstverwaltung ausgehandelt wird. Jetzt kommt es
sehr darauf an zu prüfen, ob die Rechnung, die die Selbst-
verwaltung zugrunde gelegt hat, greift. Wenn sie richtig
angewendet wird – das ist unsere Auffassung –, werden
wir dazu kommen, dass in der Psychotherapie eine ord-
nungsgemäße Vergütung auch für das Jahr 2000 und die
folgenden Jahre eingeführt wird.

Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wo Ihre
Probleme liegen. Dass die Vergütung der Psychothera-
peuten im Rahmen der Gesamtvergütung zu verteilen ist,
haben Sie gewollt. Sie haben doch ausdrücklich ein Inte-
grationsmodell gefordert. Danach findet Psychotherapie
in der Gemeinschaft mit ärztlichen Psychotherapeuten
und anderen Ärzten statt und deswegen ist die Vergütung
natürlich auch im Gesamtrahmen des ärztlichen Budgets
zu regeln. Das ist ein ganz normaler Vorgang, das haben
Sie politisch selbst gewollt.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410221300
Ich bedanke mich,
dass Sie sich auf die Sekunde an die Zeit für die Kurzin-
tervention gehalten haben.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Es kommt auf den Inhalt an, Herr Präsident!)


Aber daran sieht man mal wieder, wie lang eine Kurzin-
tervention sein kann.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Zur Erwiderung hat der Kollege Aribert Wolf das Wort.


Aribert Wolf (CSU):
Rede ID: ID1410221400
Herr Schmidbauer,
zunächst einmal: Nicht ich habe ein Problem, sondern die
Psychotherapeuten und ihre Patienten haben ein Problem.
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist in unserem Gesundheitswesen so, dass dort, wo

Vergütungsprobleme auftauchen, in der Regel der Patient
der Leidtragende ist, weil er dann nämlich in die eigene
Tasche greifen muss oder weil er Versorgung vorenthalten
bekommt. Das ist etwas, was Sie überhaupt nicht zur
Kenntnis nehmen wollen und womit wir in unseren Wahl-
kreisen immer wieder konfrontiert werden, wenn die
Menschen zu uns kommen und fragen: Ist das tatsächlich
bundesdeutsche Wirklichkeit, was ich gerade wieder beim
Arzt erlebt habe?

Zur Ihren Argumenten. Natürlich gibt es Schiedsver-
fahren, aber genau da beginnt das Problem, Herr
Schmidbauer. Wenn Sie sich damit einmal intensiver be-
fassen, sehen Sie, dass bei den Schiedsverfahren die Re-
gel ist, dass die Stützungsmaßnahmen zu einem erhebli-




Aribert Wolf
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(C)



(D)



(A)



(B)


chen Teil, mindestens hälftig, von den Kassen finanziert
werden.

Nun haben Sie Ihre tollen Budgetierungsgesetze ge-
macht. Und in Art. 14 des Solidaritätsstärkungsgesetzes
wurde festgelegt, dass die Auffangregelung faktisch auf-
gehoben wird. Jetzt gibt es aber mutige Länder – rot re-
gierte wie unionsregierte, das will ich gar nicht leugnen –,
die sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass wir auf-
grund eines völlig verkorksten Gesetzes, das von Rot-
Grün auf Berliner Ebene beschlossen wurde, den Psycho-
therapeuten nicht helfen können, dass wir sie im Regen
stehen lassen müssen. – Ich habe Ihnen die Zahlen ge-
nannt; der Auszahlungspunktwert liegt in Berlin bei 2 statt
bei 10 Pfennig. – Jetzt kommen die Länder und sagen:
Liebes Bundesgesundheitsministerium, wir beanstanden
nicht und wehe, ihr beanstandet, dann haben wir ein
großes Remmidemmi draußen.

Genau das ist der Punkt. Das alles hat auch Herr
Schulte-Sasse ausgeführt. Wenn Sie jetzt diese Schieds-
verfahren nicht beanstanden und die Verstöße gegen
Art. 14 des Solidaritätsstärkungsgesetzes nicht geltend
machen, obwohl Sie früher einmal einen entsprechenden
Änderungsantrag vorgesehen haben, haben wir genau den
Fall eines Versäumnisses des Gesetzgebers. Die Budge-
tierung zeigt, wie fatal diese Regelungen sind.

Im Hinblick auf das Jahr 2000 machen Sie es sich auch
sehr leicht. Sie hätten zuhören sollen, Herr Schmidbauer,
als ich mit Blick auf die Verteilungskämpfe von der
Reise nach Jerusalem gesprochen habe. Es ist eben immer
eine Arztgruppe betroffen. Wenn ich alles aus einem Topf
nehme und die Psychotherapeuten unterstützen will, dann
nehme ich das Geld den Gynäkologen, den Fachinternis-
ten oder den Rheumaspezialisten weg, die es aber genauso
nötig brauchen. Hier geben Sie nur den schwarzen Peter
weiter. Damit helfen Sie zwar den Psychotherapeuten,
schaden aber den anderen.

Das wollen wir nicht tun. Deswegen sagen wir: Bud-
getierung ist der falsche Weg. Das sollten Sie endlich zur
Kenntnis nehmen, statt sich an einem Wahn festzubeißen,
in den Sie sich einmal hineingesteigert haben. Ich bitte da-
rum, dass Sie hier ein bisschen die Lebenswirklichkeit in
Deutschland berücksichtigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410221500
Wir fahren in der
Aussprache fort. Das Wort für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katrin Dagmar
Göring-Eckardt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Herr Wolf, Sie haben Recht, die Psychothe-
rapeutinnen und die Psychotherapeuten haben ein Pro-
blem. Aber das, was Sie hier abgeliefert haben, ist weder
sachgerecht,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wahrheit ist immer sachgerecht!)


noch kann man davon reden, dass das nicht wahltaktisch
sei. Was Sie hier abliefern, hat mit der wirklich schwieri-
gen Situation nichts zu tun, sondern es hat damit zu tun,
dass Sie versuchen wollen, diese Debatte für Ihren Wahl-
kampf in NRW zu nutzen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der ist von der CSU! Die haben doch keinen Wahlkampf!)


– Ich glaube nicht, dass in Nordrhein-Westfalen nur die
Nordrhein-Westfalen Wahlkampf machen. Bei uns ist das
jedenfalls anders; da machen alle mit.


(Norbert Hauser gen haben Sie auch so große Erfolge! – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Wenn noch mehr von Ihnen da hingehen, verlieren Sie noch weitere Stimmen!)


Ich gehe davon aus, dass das bei Ihnen nicht viel anders
ist.

Wenn Sie hier von einem Ende der Budgetierung für
alle reden, dann haben Sie die andere Seite vergessen,
Herr Wolf. Sie haben nämlich nicht gesagt, dass das auf
der anderen Seite heißt: mehr Beiträge für alle Versicher-
ten. Damit schieben Sie den schwarzen Peter, von dem
auch Sie hier gesprochen haben, nämlich nicht innerhalb
der Ärzteschaft hin und her, sondern Sie schieben ihn
ganz klar in Richtung der Versicherten und Patienten. Ich
kann Ihnen für diese Regierung ganz deutlich sagen: Das
werden wir nicht mitmachen. Das sage ich übrigens auch
in Richtung F.D.P.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Detlef Parr [F.D.P.]: Sind Sie denn der Anwalt der Patienten und Versicherten?)


Was Sie als F.D.P. hier abgeliefert haben, ist, ebenso
wie das, was uns von der PDS als Antrag vorgelegt wor-
den ist, aus zwei Gründen schlichtweg ungeeignet,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Unser Antrag ist solide handwerkliche Arbeit!)


die Situation der Psychotherapeutinnen und Psychothera-
peuten tatsächlich zu verbessern. Erstens. Dadurch wer-
den die Unsicherheiten und Unklarheiten für die psycho-
therapeutische Vergütung, die sich aus den Übergangsre-
gelungen für 1999 ergeben haben, nicht beseitigt, sondern
vergrößert. Zweitens. Für die Zukunft wird wieder eine
Sonderregelung für Psychotherapeuten geschaffen und
damit die Steuerungskompetenz der Selbstverwaltung im
Gesundheitswesen geschwächt. Ich glaube, das können
wir alle nicht wollen.

Noch ungeeigneter finde ich allerdings das, was die
PDS vorgeschlagen hat. Denn es heißt in ihrem Antrag
nur, man habe ein Problem und die Regierung möge sich
einmal darüber Gedanken machen. So einfach können wir
es uns im Parlament nicht machen.

Doch zunächst noch einmal zur Vergangenheit: Was
genau sind denn die Ursachen für die Probleme bei der
Vergütung psychotherapeutischer Leistungen, die aus
dem Jahre 1999 resultieren?




Aribert Wolf

9601


(C)



(D)



(A)



(B)



(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Herr Schmidbauer sagte, es gebe gar keine Probleme!)


Auch die anerkannten nicht ärztlichen Psychotherapeuten
sind mit der Verabschiedung des Psychotherapeutenge-
setzes Teil des vertragsärztlichen Versorgungssystems ge-
worden – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich
bringt. Das war so gewollt. Denn in der modernen Medi-
zin ist die Behandlung psychischer Probleme gleichbe-
rechtigter Teil der Versorgung. Deshalb war eine In-
tegration in die Selbstverwaltung geboten.

Die im Psychotherapeutengesetz von CDU/CSU und
F.D.P. eingeführte Übergangsregelung für die Vergütung
psychotherapeutischer Leistungen im Jahre 1999 war je-
doch offenbar problematisch, obwohl wir – darüber haben
Sie heute leider nicht gesprochen – mit dem Solidaritäts-
stärkungsgesetz eine deutliche Nachbesserung in Höhe
von 140 Millionen DM ermöglicht haben – so viel übri-
gens zum Thema Budgetierungswahn. In diesem Gesetz
ist eine so genannte Auffangregelung für den Fall vorge-
sehen, dass der aus dem vorgegebenen Budget errechnete
Punktwert für eine angemessene Vergütung nicht aus-
reicht.

Im zweiten Halbjahr 1999 kam es dann dennoch zu ei-
nem drastischen Absinken des Vergütungspunktwertes,
weil das von den Kassenärztlichen Vereinigungen bereit-
gestellte Honorarvolumen im Vergleich zu 1998 zum Teil
abgesenkt wurde. Die Datenlage ist zwar nach wie vor un-
vollständig; das können Sie nicht leugnen, wenn Sie die
reale Situation berücksichtigen. Aber man muss davon
ausgehen – da kann ich Frau Kühn-Mengel nur zustim-
men –, dass Mittel, die eigentlich für die Psychotherapie
hätten verwendet werden sollen, in die Vergütung anderer
Arztgruppen geflossen sind. Das werden auch Sie nicht
leugnen können. Wenn man sich die Zahlen genau an-
schaut, dürfte das ziemlich klar sein.

Gegen Ende letzten Jahres hat die Bundesregierung mit
allen Beteiligten – auch darauf ist schon hingewiesen
worden – wegen dieser Probleme intensive Gespräche ge-
führt. Dabei gab es Ende Januar dieses Jahres einen Kon-
sens mit den Aufsichtsbehörden der Länder. Ich finde es
richtig, dass die Aufsichtsbehörden dort, wo es weiterhin
Probleme gibt, ihre aufsichtsrechtlichen Möglichkeiten
nutzen und davon Gebrauch machen. Herr Schmidbauer
hat gerade darauf hingewiesen.

Nun zum zweiten Teil des Vorschlages der F.D.P., der
sich mit der Zukunft beschäftigt. Mit Beginn dieses Jah-
res haben wir, wie schon erwähnt, eine neue Situation. Die
Vergütung psychotherapeutischer Leistungen ist integra-
ler Bestandteil der Gesamtvergütung für die ver-
tragsärztliche Versorgung. Die Psychotherapeuten wer-
den damit wie eine Arztgruppe in die Institutionen der
ärztlichen Selbstverwaltung und deren Steuerungsverant-
wortung eingebunden. Zu diesem Integrationsmodell
gehört auch die Honorierung psychotherapeutischer Leis-
tungen aus der von den Krankenkassen an die Kas-
senärztlichen Vereinigungen für die gesamte vertragsärzt-
liche Versorgung gezahlten Gesamtvergütung. Das hat
übrigens damals auch die F.D.P. so gewollt. Mit der Ge-
sundheitsreform 2000 hat Rot-Grün außerdem bereits ge-

setzlich festgeschrieben, dass aufgrund der besonderen
Tätigkeit in der Psychotherapie eine angemessene Vergü-
tung pro Zeiteinheit zu gewähren ist.

Was die F.D.P. nun will, ist, dass psychotherapeutische
Leistungen in Zukunft faktisch außerhalb der ärztlichen
Gesamtvergütung honoriert werden sollen. Dazu kann ich
nur sagen: Das halte ich nicht für den richtigen Weg. Klar
ist, dass dann die Kassenärztlichen Vereinigungen an ei-
ner Mitwirkung an den ausgabenrelevanten Steuerungs-
aufgaben und an einer wirksamen Bedarfsplanung kein
Interesse mehr haben werden und die Lasten allein bei den
Kassen liegen. Gerade das wollen wir nicht – weder in
diesem noch in irgendeinem anderen Fall. Dies hat übri-
gens nichts damit zu tun, dass man sofort handeln könnte.

Frau Kühn-Mengel hat, so glaube ich, hier detailliert
aufgeführt, welche Maßnahmen geeignet sind, welche wir
bereits ergriffen haben und wie wir – so hoffen wir jeden-
falls – gemeinsam zu einer Lösung kommen.

Deshalb zum Schluss nur noch eines: Es mag Sie, liebe
Kollegen von der F.D.P., kolossal ärgern, dass wir mit
dem Solidaritätsstärkungsgesetz die Zuzahlungen für
Psychotherapien wieder abgeschafft haben. Ich nehme
an, dass Sie deshalb die Idee einer Gegenfinanzierung
wieder aufwerfen. Ob die dadurch zur Verfügung stehen-
den Mittel zur Gegenfinanzierung reichen würden, will
ich hier nicht bewerten. Eines ist jedoch klar: Ihr Vor-
schlag würde die Versicherten, die psychisch krank sind,
im Vergleich zu denen, die somatisch bedingte Erkran-
kungen haben, wieder benachteiligen.

Ich dachte, dass wir uns von diesem Denken bereits
verabschiedet hätten. Wir jedenfalls wollen nicht wieder
dorthin zurück. Wir wollen keine neue Zuzahlungsepoche
einläuten, sondern wir wollen eine vernünftige und sach-
gerechte Lösung finden. Dies gilt auch für die Zeit nach
den Wahlkämpfen.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Gut, dass der Kanzler das anders sieht!)


Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410221600
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.


Dr. Ruth Fuchs (PDS):
Rede ID: ID1410221700
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es stimmt: 1999 waren wir uns einig, dass
das Psychotherapeutengesetz die Voraussetzungen für die
psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung deut-
lich verbessern sollte. Wichtige Schritte dabei waren die
staatliche Anerkennung zweier neuer akademischer Heil-
berufe, ihre Approbation sowie der Schutz der Berufsbe-
zeichnung.

Dabei ging es nicht allein um ein neu zu schaffendes
Berufs- und Sozialrecht. Es ging immer auch um die Stär-
kung sprechender und zuwendungsorientierter Behand-
lungsverfahren im Rahmen der gesamten gesundheitli-
chen Versorgung. Das kennzeichnet den Stellenwert der




Katrin Dagmar Göring-Eckardt
9602


(C)



(D)



(A)



(B)


heutigen Debatte um eine existenzsichernde Finanzierung
psychotherapeutischer Leistungen.

Wer auf diesem Gebiet eine bedarfsgerechte und qua-
litativ gesicherte Versorgung haben will, muss die Psy-
chotherapeuten auch angemessen vergüten. Das ist aber
nicht der Fall.


(Beifall bei der PDS – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: So ist es!)


Bereits im dritten Quartal 1999 wurde deutlich, dass die
gesetzlichen Regelungen für das entsprechende Honorar-
volumen nicht ausreichten. Die Aufstockung durch das
GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz änderte daran nichts.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste vom BMG ein
klares Signal an die Vertragsparteien der Selbstverwal-
tung dahin gehend erwartet werden, dass dieses Problem
unter finanzieller Beteiligung beider Seiten gelöst werden
muss, das heißt auch durch Budgeterhöhungen seitens der
Kassen. Doch dieses Signal gab es nicht.

Stattdessen verstrickte sich das Ministerium in einen
lang andauernden Streit mit der Kassenärztlichen Bun-
desvereinigung und den Kassen, und zwar darüber, wer
nun die zusätzlichen Mittel aufzubringen habe. Das ge-
schah vor dem Hintergrund unterschiedlich interpretier-
barer gesetzlicher Formulierungen und nicht komplett er-
fasster Ausgaben im Erstattungsverfahren durch die Kas-
sen.

Liebe Kollegin Helga Kühn-Mengel, Sie sagen, unser
Antrag greife zu kurz. Ich frage Sie ganz ehrlich: Wer,
wenn nicht die Bundesregierung, hat die Pflicht, für Klar-
heit zu sorgen, wenn ein Gesetz nicht eindeutig formuliert
ist oder nicht sachgerecht umgesetzt wird?


(Beifall bei der PDS)

Liebe Kollegin Göring-Eckardt, ich finde Ihre Polemik

gegen die PDS langsam primitiv. Wo, wenn nicht in die-
sem Haus, muss ein Gesetz korrigiert werden?


(Beifall bei der PDS – Detlef Parr [F.D.P.]: Die Grünen werden immer nervöser!)


In diesem Fall hätten Sie wohl nur eingestehen müssen,
dass die Budgetierungspolitik, wie es zu diesem
Zeitpunkt auch schon für das Gesundheitsstrukturre-
formgesetz 2000 vorgesehen war, nicht funktionieren
kann. Während die Zeit verstrich, ging es für viele Psy-
chotherapeuten längst um Sein oder Nichtsein. Auch bei
hohem persönlichen Einsatz – vielleicht sollte ich besser
sagen: trotz persönlichem hohem Einsatz – geriet eine zu-
nehmende Zahl von Psychotherapeuten in eine Situation,
in der es nicht mehr möglich war, kostendeckend zu ar-
beiten, geschweige denn, sich überhaupt ein eigenes Ein-
kommen zu erwirtschaften.

In den neuen Bundesländern nahm diese Entwicklung
dramatische Formen an. Ich sage Ihnen klipp und klar:
Dort gibt es keinen Bereich, in dem Überversorgung vor-
handen wäre. Dort haben wir nach wie vor Unterversor-
gung und es wird zunehmend mehr Geld notwendig sein,
um eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen.


(Beifall bei der PDS)


Ich möchte auch daran erinnern, dass allein im Petitions-
ausschuss über 3 000 Petitionen eingegangen sind. Ich
denke, dies zeigt die Not der Psychotherapeuten. Ich bitte,
hier zu berücksichtigen, dass es nicht nur um die Not der
Psychotherapeuten geht, sondern auch um die Gefähr-
dung der Behandlung der Patienten.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Erst nach einem Jahr völliger Ungewissheit aufseiten
der Leistungserbringer kam es schließlich durch Schieds-
amtentscheidungen zu einer vorübergehenden Entspan-
nung. Das BMG hat dafür – nach unserer Meinung zu
spät – die Voraussetzung geschaffen, indem es erklärte,
dass vertragliche Vereinbarungen oder Schiedsamtsent-
scheidungen auch dann aufsichtsrechtlich nicht infrage
gestellt würden, wenn sie mit der Rechtsauffassung des
BMG nicht übereinstimmten. Es ist schon einmal gesagt
worden: Hier wird ein eigenes Gesetz nicht dafür in An-
spruch genommen, Fehlentwicklungen zu verändern.

Ich denke, das ist eine verklausulierte Form der Zu-
stimmung zu der jetzt vorgenommenen Budgetierung. Ich
sage Ihnen ganz ehrlich und offen: Es ist das verschämte
Eingeständnis einer völlig verfehlten Politik.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Probleme, werden, obwohl Sie sie im Moment
überwunden haben, in der Zukunft wieder auf dem Tisch
liegen. Denn Sie gehen nach wie vor davon aus, dass die
Honorierung nach dem Prinzip der Budgetierung erfolgen
muss.
Es gibt schon jetzt Widerstände; es gibt schon jetzt For-
derungen, dass die Psychotherapeuten außerhalb des
Facharztbudgets zu honorieren sind.

Ich sage Ihnen: Es bleibt dabei. Es wird Streit geben.
Es ist Ungewissheit da.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Sozialverlust!)


Ich denke, die Bundesregierung bleibt aufgefordert, hier
eine verlässliche Grundlage für die Finanzierung von psy-
chotherapeutischer Versorgung zu schaffen. Nichts ande-
res und nichts weniger war der Inhalt unseres Antrages.


(Beifall bei der PDS)

Zu dem Antrag der F.D.P.-Fraktion äußere ich mich

dann im Ausschuss, weil Sie unsere Auffassung zum
Thema Selbstbeteiligung kennen und weil Sie wissen,
dass wir auf keinen Fall dafür sind, dass man Geld, das Pa-
tienten und Selbsthilfegruppen durch ein Gesetz bekom-
men, streicht.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und ich hoffe, wir
kommen im Interesse der Patienten und der Psychothera-
peuten zu einer gemeinsamen Entscheidung.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Dr. Ruth Fuchs

9603


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410221800
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun die Kollegin Gudrun Schaich-Walch.


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1410221900
Lieber verehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
natürlich klar: Wir haben ein Problem. Aber wir werden
dieses Problem nicht lösen können, solange wir nicht in
der Lage sind, das Geschehen wirklich exakt zu beurtei-
len. Ansonsten laufen wir letztendlich Gefahr, zu Lösun-
gen zu kommen, die unter Umständen ebenso unzuläng-
lich sind, wie es die damalige Budgetfestsetzung in dem
entsprechenden Gesetz, das innerhalb der Regierungszeit
der CDU/CSU und der F.D.P verabschiedet worden ist,
offensichtlich gewesen ist.

Wir haben in diesem Bereich allerdings auch nichts
versprochen, was wir letztendlich nicht gehalten haben.
Wir haben das Budget für diesen Bereich im Jahre 1998
erhöht. Wir haben in den letzten Jahren in diesem Bereich
einen Anstieg zu verzeichnen. Im Gegensatz zu dem, was
Herr Wolf hier vorgetragen hat, gibt es in diesem Bun-
desland keine einzige KV, die einen Punktwert von weni-
ger als 2 Pfennig festgelegt hat. Das ist ganz einfach nicht
wahr. Im Osten besteht eine schwierige Situation, in den
West-KVen allerdings nicht. Ich gehe auch davon aus,
dass der § 11 im Gesetz letztendlich konsequent umge-
setzt werden wird. Wenn dies nicht der Fall sein sollte,
muss man, denke ich, sehen, dass wir das Gesetz in die-
sem Bereich korrigieren werden.

Was uns aber letztendlich fehlt, ist die Tatsache, dass in
diesem gesamten Bereich keine Bedarfsplanung besteht,
dass wir – Ostdeutschland ausgenommen – sehr schwer
feststellen können, wo Überversorgung und wo Unterver-
sorgung besteht. Wir müssen uns diese Dinge erst vor-
stellen können, damit wir dann auch klar sagen, was es be-
deutet.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Aber wie lange soll das denn dauern? Das ist das Problem!)


– „Wie lange soll es denn dauern?“ Sie kannten die Da-
tenlage doch auch nicht. – Nein, eines kann nicht sein,
nämlich dass wir, wenn Überversorgung besteht,


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Wir haben doch überhaupt keine Überversorgung!)


diese Überversorgung finanzieren und nicht abbauen, in-
dem wir die Beiträge der Versicherten erhöhen.


(Beifall bei der SPD – Abg. Aribert Wolf [CDU/ CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410222000
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1410222100
Nein.
Das ist keine Perspektive, mit der wir arbeiten. Wenn

die Selbstverwaltung – in diesem Fall die KV – die Um-
verteilung des ärztlichen Honorars nicht so vornimmt, wie
es im Gesetz geschrieben steht, kann ich auch nicht sagen,

dass die Reaktion der Politik dann diejenige sein muss,
mehr Geld in das System zu investieren. Das kann auch
nicht sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie sollten hier heute auch eines zur Kenntnis nehmen:

Wir hatten noch nie einen so großen Umfang von Ausga-
ben im Bereich des Gesundheitswesen und eine solch her-
vorragende Zuwachsrate wie in diesem Jahr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie letztendlich
mehr Geld ausgeben wollen, als Beiträge in diesem Sys-
tem aufgebracht werden. Wenn Sie mir sagen können, wie
es gehen soll, die Beiträge stabil zu halten und den Ärz-
tinnen und Ärzten mehr Geld zu geben, muss ich Ihnen al-
lerdings sagen, dass Sie dann eine Bombenlösung haben.

Aber wie Ihre Lösung, zu der Sie hier nichts sagen,
aussieht, kann ich Ihnen sagen: 10 DM Zuzahlung bei je-
dem Arztbesuch und neben hohen Versicherungsbeiträgen
eine weitere Abschöpfung durch Zuzahlung der Versi-
cherten. Dies kann nicht funktionieren. Wir müssen klar
machen, wie die Versorgungssituation aussieht, was und
wie viel Geld wir dafür brauchen. Dies werden wir bis
zum Herbst geschafft haben.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Dann sind Sie abgesoffen!)


Dann wird es auch – wenn es so sein sollte – die not-
wendigen gesetzlichen Regelungen geben.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410222200
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Aribert Wolf das Wort.


Aribert Wolf (CSU):
Rede ID: ID1410222300
Frau Schaich-Walch, Sie
kennen das Sprichwort: Wer schreit, hat Unrecht.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

– Das freut Sie natürlich nicht.

Wenn Sie es immer noch nicht erreicht hat, obwohl es
schon vielfach in der Presse veröffentlicht war, bin ich
gerne bereit, Ihnen unser Konzept zur Gesundheitspolitik
zu schicken, in dem deutlich steht, wie wir uns die Zu-
kunft der gesetzlichen Krankenversicherung vorstellen:
mehr Eigenverantwortung.


(Zurufe von der SPD: Aha!)

– Das heißt nicht: mehr Zuzahlung!

Sie können das alles in Ruhe nachlesen, was wir ma-
chen wollen, damit wir zum einen mehr Geld ins System
bringen und zum anderen die Bürger nicht mehr abkas-
sieren. Wir wollen dem Einzelnen eine Wahlmöglichkeit
geben, damit er sich sein Versicherungspaket zusammen-
stellen kann, und trotzdem einen solidarisch finanzierten
Kernbereich gewährleisten.

Wenn Sie bereit sind, dieses Papier zur Kenntnis zu
nehmen, dann werden Sie auch bereit sein, zur Kenntnis






(C)



(D)



(A)



(B)


zu nehmen: Wenn ich von 2 Pfennig spreche, dann beruht
das natürlich nicht auf meinen eigenen Erkenntnissen.
Lassen Sie sich von der AOK Berlin oder von den Ersatz-
kassen in Berlin die Zahlen des dritten Quartals schicken!
Ich habe von rechnerischen Punktwerten und von Aus-
zahlungspunktwerten gesprochen. Sie werden feststellen,
dass sich für Berlin, bevor das Schiedsamt entschieden
hat, für das dritte Quartal ein rechnerischer Punktwert für
die Psychotherapeuten von 2 Pfennig im Primärkassen-
bereich und von 5,3 Pfennig im Ersatzkassenbereich er-
gab.

Anhand dessen können Sie sehen, dass das, was Sie
hier im Deutschen Bundestag behauptet haben – es gebe
keinen KV-Bereich, in dem 2 Pfennig erreicht wurden –,
unwahr ist. Ich hoffe, Sie nehmen das dann auch zurück
und akzeptieren, dass diejenigen, die unmittelbar im Ge-
sundheitswesen beteiligt sind, doch wohl eher die richti-
gen Zahlen haben als wir hier im Parlament. Es schadet
nichts, wenn man sich bei den unmittelbaren Fachleuten
ein wenig informiert, bevor man solche Behauptungen
aufstellt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410222400
Zu einer Erwiderung
die Kollegin Schaich-Walch.


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1410222500
Herr Wolf, ich stelle
Ihnen die Zahlen, die ich hier vorliegen habe, gerne zur
Verfügung. Allerdings ist die Spalte für Berlin noch leer,
weil die Zahlen da noch nicht vorgelegen haben.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Ich kann einmal anfangen: 8 Pfennig pro Punktwert für
Hamburg; 7,5 Pfennig für Rhein-Hessen.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Nein, nein, wir sprachen von Berlin!)


– In Berlin gibt es eine Überversorgung, die grandios ist.
Wenn Sie jedem, der in dieses System kommt, ein leis-
tungsgerechtes Gehalt garantieren wollen – was bei kei-
nem anderen Arbeitnehmer in dieser Republik der Fall
ist –, dann wünsche ich Ihnen dabei viel Vergnügen. Aber
diesen Weg gehen Sie allein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt etwas zu Ihrem wunderbaren Zukunftsprogramm,
Ihrer Intervention für mehr Eigenverantwortung. „Ei-
genverantwortung“ heißt bei der F.D.P., für deren Antrag
Sie anscheinend mit gesprochen haben, eine Selbstbetei-
ligung von 10 DM. Was in Ihrem Papier „Eigenverant-
wortung“ heißt, ist nicht beschrieben. Vielmehr sprechen
Sie von „Versicherungspaketen“, ohne es bis heute ge-
leistet zu haben – wie Sie das seit Jahren unterlassen ha-
ben –, zu konkretisieren, was ein „Versicherungspaket“
denn beinhaltet. Welche Indikationen sollen denn aus dem
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung
ausgeschlossen werden? Welche Indikation soll denn der-
jenige, der seinen Beitrag in der gesetzlichen Kranken-
versicherung zahlt, noch in der PKV zusatzversichern?

Um diese inhaltliche Ausgestaltung haben Sie sich bis
jetzt gedrückt. So lange ist Ihr Paket nichts anderes als
eine Mogelpackung.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Und Sie behaupten Zahlen, die Sie gar nicht haben! Das ist der größte Witz des Abends!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410222600
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3086 und 14/2929 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Andere Vorschläge liegen nicht vor. Das Haus ist damit
einverstanden. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Klaus
Barthel (Starnberg), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Matthias Berninger, Ekin Deligöz, Hans-Josef
Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lebensbegleitendes Lernen für alle – Weiterbil-
dung ausbauen und stärken
– Drucksache 14/3127 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Auch
damit ist das Haus einverstanden.

Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Ich gebe
zunächst für die Fraktion der SPD das Wort dem Kollegen
Ernst Küchler.


Ernst Küchler (SPD):
Rede ID: ID1410222700
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Antrag zur Weiterbil-
dungspolitik nimmt die SPD-Bundestagsfraktion ein
Thema wieder auf, das bereits in der letzten Legislaturpe-
riode Gegenstand einer von unserer Fraktion initiierten
Debatte im Deutschen Bundestag war und das auch in der
Koalitionsvereinbarung seinen Niederschlag gefunden
hat.
Die Weiterbildung, so heißt es dort, soll als vierte Säule
des Bildungssystems verankert und ausgebaut werden.


(Beifall bei der SPD)

Die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens mache eine
enge Verzahnung zwischen Berufsleben und Weiterbil-
dung erforderlich.

Nun ist der Hinweis auf die Notwendigkeit, der Wei-
terbildung einen deutlich höheren Stellenwert in der Bil-
dungspolitik einzuräumen, nicht besonders originell, ver-
folgt man die einschlägigen Äußerungen aller politischen
Parteien, der Wirtschaft, der Gewerkschaften und anderer
gesellschaftlicher Gruppen in den letzten Jahren. Es




Aribert Wolf

9605


(C)



(D)



(A)



(B)


vergeht kein bildungspolitischer Kongress, kaum eine
Debatte über die gesellschaftlichen und ökonomischen
Entwicklungen in unserem Land, ohne dass auf den Be-
deutungszuwachs der Weiterbildung und des lebenslan-
gen Lernens hingewiesen wird.

Es macht mitunter skeptisch, wie inflationär dieser Be-
griff verwandt wird. Allerdings stehen die weiterbil-
dungspolitischen Verlautbarungen und Beschlüsse aller
Ebenen – von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden
und Bildungspolitikern – in keinem angemessenen Ver-
hältnis zum entsprechenden Engagement der öffentlichen
Hand, etwa der Länder und Kommunen. Im Gegenteil,
während der Weiterbildungssektor expandiert, stagnieren
die öffentlichen Anstrengungen, den Weiterbildungsbe-
reich aufzuwerten und entsprechend auszustatten.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist sehr bedauerlich!)


Während die Nachfrage nach Weiterbildungs- und
Qualifizierungsmaßnahmen ständig steigt – in den letzten
20 Jahren immerhin von 25 Prozent auf über 42 Prozent
der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren –, gehen die
Ausgaben der öffentlichen Hände für die Weiterbildung
zurück. Der Weiterbildungsbereich ist inzwischen – ge-
messen an der Inanspruchnahme – zum größten Bil-
dungssektor geworden, und zwar auch was das Finanzvo-
lumen angeht. Das Berichtssystem Weiterbildung weist
Aufwendungen in einem Volumen von über 80 Milliar-
den DM für den Weiterbildungsbereich aus.

Die in unserem Antrag noch einmal zusammengefass-
ten Defizite im Weiterbildungsbereich, die übrigens be-
reits im Bericht des Bildungsministeriums unter Bil-
dungsminister Jürgen Möllemann 1989 detailliert aufge-
listet wurden, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen,
wurden bislang in der Bildungspolitik nicht hinreichend
berücksichtigt.

Einschlägige Programme und Projekte zum Abbau die-
ser Defizite blieben weitgehend im Versuchsstadium
stecken. Bildungspolitiker und Bildungsexperten sind
sich überraschend einig, dass der Weiterbildungsmarkt
zwar boomt, insbesondere im Bereich der beruflichen
Weiterbildung, es jedoch an der für die Nutzer und die
Weiterbildungseinrichtungen notwendigen Transparenz
mangelt, dass es einer flächendeckenden und qualifizier-
ten Weiterbildungsberatung bedarf, dass ein System der
Qualitätssicherung und der Zertifizierung dringend erfor-
derlich ist, dass es an einer auch unter ökonomischen Ge-
sichtspunkten vorgenommenen Optimierung des Einsat-
zes der Ressourcen mangelt, dass die Professionalisierung
des Weiterbildungspersonals und der Weiterbildungsein-
richtungen erhebliche Defizite aufweist, dass die Weiter-
bildungsforschung nicht dem Stand und der Bedeutung
des Weiterbildungssektors entspricht und – das ist das
Wichtigste – dass die allgemeine Zugänglichkeit nicht ge-
währleistet und die Chancengleichheit, die wir für das
Bildungssystem selbstverständlich reklamieren, im Wei-
terbildungsbereich nicht gegeben ist.


(Beifall bei der SPD)

Das Berichtssystem Weiterbildung weist aus, dass be-
züglich der Weiterbildungsbeteiligung das Gefälle je nach

Alter, Berufsstatus, Vorbildung und Geschlecht erheblich
ist. Aus sehr verschiedenen Gründen sind nach wie vor
große Teile der Bevölkerung von der Weiterbildung fak-
tisch ausgeschlossen.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es geht nun nicht
darum, diesen Bildungsbereich ordnungspolitisch dem
klassischen Bildungssystem und den herkömmlichen
Strukturen anderer Säulen des Bildungssystems einfach
anzupassen. Vielmehr muss aus unserer Sicht auf Bun-
desebene durch eine intelligente Förderpolitik und eine
Harmonisierung der Weiterbildungspolitik von Bund und
Ländern eine Weiterbildungsinfrastruktur geschaffen,
ausgebaut und gestützt werden, die Nutzer, Einrichtungen
und Träger in die Lage versetzt, flächendeckend qualifi-
zierte Angebote und Lernmöglichkeiten zu entwickeln
und vorzuhalten, die Chancen zur Teilnahme und die Wei-
terbildungsmotivation zu verbessern bzw. zu stärken,
Weiterbildungsnetzwerke vor allem im regionalen Zu-
sammenhang entstehen zu lassen und somit den Weiter-
bildungsbereich zu einem leistungs- und anpassungsfähi-
gen Sektor unseres Bildungssystems zu entwickeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm
„Lebensbegleitendes Lernen für alle“ erste wichtige Ak-
zente gesetzt und Entwicklungsstränge aufgezeigt, die mit
weiteren Programmen und Projekten in den kommenden
Jahren systematisch weiterzuentwickeln sind. Die Förde-
rung einschlägiger Projekte weist hier den richtigen Weg
und zeigt, dass die Bundesregierung die Initiative zur
Stärkung des Weiterbildungsbereiches ergriffen hat.

Wir sind uns durchaus der Schwierigkeiten bewusst,
die sich aus der Kompetenzverteilung zwischen Bund
und Ländern sowie aus der spezifischen Rolle der Tarif-
parteien in diesem Bereich und der Bundesanstalt für Ar-
beit ergeben. Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Weiter-
bildung im Bündnis für Arbeit, im Forum Bildung und in
der Konzertierten Aktion ein Thema ist, denn dort sind die
Verantwortlichen vertreten. Dort werden die Zusammen-
hänge von schulischer Bildung, beruflicher Ausbildung
und Weiterbildung, von allgemeiner und beruflicher Bil-
dung angemessen zu diskutieren sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unser Antrag zielt nicht auf eine bundeseinheitliche
staatliche Reglementierung ab, sondern auf eine Weiter-
bildungspolitik, die über Anreize und abgestimmte Akti-
vitäten etwa in Form von Vereinbarungen, Förderpro-
grammen und Projekten versucht, das System der Weiter-
bildung und Qualifizierung aufzuwerten und zu optimieren.
Auch bei der Novellierung einschlägiger Gesetze – ich
nenne hier nur das SGB III, das Meister-BAföG und das
Betriebsverfassungsgesetz – wird der Weiterbildung ein
angemessener Stellenwert beigemessen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir an
dieser Stelle auch einen kritischen Hinweis auf zwei in der
Weiterbildungsdiskussion häufig verwandte Begriffe, die
Begriffe des „lebenslangen Lernens“ und der „Eigenver-
antwortung“. Inzwischen gehört es zum Allgemeingut,




Ernst Küchler
9606


(C)



(D)



(A)



(B)


dass sich Menschen in unserer Informations- und Wis-
sensgesellschaft notwendigerweise ein Leben lang wei-
terbilden und qualifizieren müssen, wollen sie nicht den
Anschluss an die gesellschaftlichen und beruflichen Ent-
wicklungen verlieren.

Angesichts der raschen Veränderungen im Beruf, in der
Gesellschaft, in der Medienlandschaft sowie in den Lern-
und Kommunikationsstrukturen müssen wir dem Prinzip
des lebenslangen Lernens zwar zum Durchbruch verhel-
fen, ihm jedoch den mitunter bedrohlichen Charakter neh-
men. Es ist nämlich eine Chance und nicht nur eine
Pflicht, sich weiterzubilden.


(Beifall bei der SPD)

Wir müssen vielmehr auf Motivation, auf Neugier und auf
das Lernen als einen reizvollen und Erfolg versprechen-
den Prozess setzen. Gerade die neuen Medien, die die
Lernprozesse und damit auch die Bildungseinrichtungen
grundlegend verändern, eröffnen die Chance für kreati-
ves, schnelles, flexibles und zeitgemäßes Lernen an den
unterschiedlichsten Orten zu den unterschiedlichsten Zei-
ten und mit vielfältigen Methoden: zu Hause, im Betrieb,
in Weiterbildungseinrichtungen, individuell und in Lern-
gruppen.


(Beifall bei der SPD)

Online und offline, in den unterschiedlichsten Lernar-

rangements kann gelernt, können Informationen verarbei-
tet und neue Qualifikationen erworben werden. Selbst ge-
steuertes und informelles Lernen werden sich in die klas-
sischen Lernstrukturen einpassen.

Dabei kommt der „Eigenverantwortung“ – um auf
den zweiten Begriff zu sprechen zu kommen – des Ein-
zelnen eine größer werdende Bedeutung zu. Das kann
nicht bedeuten, dass die Eigenverantwortung – auch was
die Finanzierung der Weiterbildung angeht – die öffentli-
che Verantwortung für den Weiterbildungsbereich, die
Weiterbildungsangebote und die Weiterbildungseinrich-
tungen ablöst. Vielmehr müssen Eigenverantwortung und
öffentliche Verantwortung angemessen korrespondieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass sich die öffentliche Hand teilweise aus der Finanzie-
rung von Weiterbildungseinrichtungen und -angeboten
zurückzieht und den an Weiterbildungsveranstaltungen
Teilnehmenden weitgehend die Finanzierung überlässt.
Dies ist in einer Zeit, in der wir die Verantwortung jedes
Bürgers für seine Weiterbildung anmahnen und die Teil-
nahme an Qualifizierung und Weiterbildungsangeboten
einfordern, ein falsches Signal.

Wir fordern daher die Entwicklung von Modellen zur
Weiterbildungsfinanzierung, die als Anreizsysteme für
eine breite Weiterbildungsbeteiligung dienen. Die entspre-
chenden Stichworte hierzu sind Gutscheinsysteme, Bil-
dungskonten und Freistellungsregelungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-
schließend noch einmal kurz auf einige in unserem Antrag
formulierte Forderungen zu sprechen kommen: Die

Schaffung und die Förderung regionaler Kooperationsver-
bünde sowie die Vernetzung der Weiterbildungseinrich-
tungen und -anbieter, wie sie im Netzwerkprojekt der
Bundesregierung angedacht sind, finden unsere Zustim-
mung. Diese Netzwerke werden zur Optimierung der An-
gebote, der Teilnahme und Teilhabe, der Qualitätssiche-
rung und der Beratung beitragen. Dabei darf es nicht bei
kurzatmigen und vereinzelten Netzwerkversuchen blei-
ben. Vielmehr müssen solche Vorhaben dauerhaft,
flächendeckend und strukturbildend sein.


(Beifall bei der SPD)

Die Bundesanstalt für Arbeit und das Bundesinstitut

für Berufsbildung, die eine wesentliche Rolle bei der Ent-
wicklung des Weiterbildungssystems spielen, müssen die-
sem Bildungssektor eine größere Aufmerksamkeit wid-
men, damit insbesondere die berufliche Weiterbildung
und Qualifizierung verlässlich weiterentwickelt werden.

Versuche zur Optimierung der Weiterbildungsange-
bote, wie sie zum Beispiel in anderen Ländern bereits
mit Erfolg praktiziert werden – ich nenne hier nur die
Stichworte Jobrotation, Stiftung „Weiterbildungs-Test“,
Weiterbildungsaudit und verschiedene Formen der indivi-
duellen Weiterbildungsförderung und -finanzierung –,
können dazu beitragen, für Nutzer, Betriebe und Wei-
terbildungseinrichtungen Angebote noch attraktiver zu
machen. Qualitätssicherungssysteme sollen erprobt und
später flächendeckend eingesetzt werden. Der Weiterbil-
dungsforschung muss eine deutlich höhere Bedeutung zu-
kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Grundlage für alle Akteure ist ein verlässliches und
brauchbares Informationssystem. Dieses fördert nicht nur
die Transparenz, sondern auch den Qualitätswettbewerb
unter den Weiterbildungsanbietern.

Die Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD-Bundes-
tagsfraktion zur Weiterbildungsstatistik hat verdeutlicht,
wie diffus und unvermittelt die unterschiedlichen Weiter-
bildungsstatistiken und Berichtssysteme derzeit noch ne-
beneinander stehen, übrigens auch ein Defizit, das bereits
im Berichtssystem 1989 beschrieben worden ist, aller-
dings ohne Konsequenz.


(Beifall bei der SPD)

Auch für eine solide Weiterbildungspolitik ist eine dif-

ferenzierte, verlässliche und interpretationsfähige Daten-
basis unerlässlich. Wir fordern deshalb auch eine Ergän-
zung des Berufsbildungsberichts um ein ausführliches
Kapitel zur beruflichen Weiterbildung.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn die Reden
und Beschlüsse auf Parteitagen und Bildungskongressen
nicht nur Sonntagsreden und Antragsmakulatur bleiben
sollen, muss Weiterbildungspolitik einen festen Platz im
Bewusstsein nicht nur der Bildungspolitiker erhalten.
Weiterbildungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die
Bildungspolitikerinnen und -politiker, Sozial- und Wirt-
schaftspolitikerinnen und -politiker gleichermaßen an-
geht.




Ernst Küchler

9607


(C)



(D)



(A)



(B)


Unterstützen Sie unseren Antrag und tragen Sie dazu
bei, dass er nicht in der Akte „Wiedervorlage in der nächs-
ten Legislaturperiode“ verschwindet.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410222800
Als nächster Redner
spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kollege Werner
Lensing.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1410222900
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Die am
tiefsten greifenden sozialen und ökonomischen Verände-
rungen unserer Gesellschaft sind bekanntlich eine fort-
schreitende Globalisierung von Produktion und Märkten,
zahlreiche durchgreifende Veränderungen von Form und
Inhalt der Arbeit, dazu die grenzüberschreitende Mobili-
tät, offene Beschäftigungsverhältnisse und schließlich ein
häufiger Berufswechsel. Die dadurch notwendig gewor-
dene Anpassung beruflicher Kompetenz weist der Gestal-
tung eines kontinuierlichen lebensbegleitenden Lernens
in der Tat eine zentrale Rolle zu.


(Norbert Hauser So ist es!)


Je schneller sich der soziale, technische und wirtschaftli-
che Wandel vollzieht, je tiefer greifend sich die Anforde-
rungen in der Arbeits- und Lebenswelt ändern, desto
zwingender wird für die betroffenen Menschen der Auf-
bau zeitgemäßer Wertvorstellungen, innovativer Fähig-
keiten und neuer Überlebensstrategien.

Dies scheint nun endlich – ich denke, Herr Tauss, Sie
stimmen mir gleich auch noch zu – auch die rot-grüne Re-
gierungskoalition begriffen zu haben, nachdem bisher seit
dem Regierungswechsel zumindest in der Weiterbil-
dungspolitik viel zu wenig geschehen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vergleicht man den vorliegenden Antrag auf Drucksa-

che 14/3127 mit roten oder grünen Papieren der Vergan-
genheit, so muss man heute neidlos anerkennen, wenn
auch mit Verwunderung: Selbst die rot-grünen Initiatoren
scheinen in der Tat weiterbildungsfähig zu sein.


(Norbert Hauser Schein trügt!)


Waren doch deren vergangenen Entwürfe durchgängig
geprägt von den veralteten Vorstellungen der 70er-Jahre –
das haben Sie, Herr Küchler, eben angesprochen –, so
muss man heute neidlos anerkennen: Man hat gelernt,
dass man mit Formen des institutionalisierten Lernens un-
ter staatlicher allgegenwärtiger Aufsicht nichts bewirken
kann.

Zur allgemeinen Verblüffung erkennt nun auch Rot-
Grün nach viel zu langem Zaudern: Mit Mitteln des
Staatsdirigismus und der Planwirtschaft sind die realen
Entwicklungen einer hoch komplexen und global ver-

netzten Industriegesellschaft nicht in den Griff zu bekom-
men. Dass Sie das gelernt haben, ist wunderbar.

So entdeckt man auch im neuen Antrag eine ganz neue
Sprache – für mich völlig überraschend. Hier wird zum
Beispiel – man höre und staune – eine alte CDU/CSU-
Forderung zu einem neuen Leitbild erhoben.


(Zuruf von der SPD: Warum haben Sie die Forderung nicht umgesetzt?)


Man traut seinen Augen kaum, wenn man liest, dass –
Zitat –

die Eigenverantwortung der am Lernprozess
Beteiligten als grundlegendes Prinzip zur Gestaltung
der Lernprozesse neu bestimmt

wird.

(Jörg Tauss [SPD]: Sehr guter Satz!)


– Er ist ja von uns abgeschrieben worden. Von daher ver-
stehe ich das auch sehr gut.

Und selbst folgender – für Rot-Grün außerordentlich
bemerkenswerter Satz ist zu finden – ich zitiere wieder
mit Vergnügen –:


(Jörg Tauss [SPD]: Aus unserem Antrag!)

Die Stärkung der Fähigkeit zu eigenverantwortlichem
Lernen ist eine der wesentlichen Aufgaben zukünf-
tiger Bildungspolitik und Bildungspraxis.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Auch gut!)


Bei solch geballter Weisheit kann ich nur sagen: Herzli-
chen Glückwunsch, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition.


(Zuruf von der SPD: Sie sollten einmal zu Ende lesen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider – und dies
muss ebenfalls in aller Deutlichkeit gesagt werden – blitzt
diese neue Erkenntnisfähigkeit nur vereinzelt auf und
wird keineswegs in der nötigen Konsequenz durchgehal-
ten. Denn ein dringender Paradigmenwechsel, der aller
Orten angesichts einer immer enger werdenden Verzah-
nung von beruflicher Tätigkeit und lebenslangem Lernen
zu Recht gefordert wird und der zudem von der Instituti-
onsbeschreibung zur Funktionsdarstellung führt, kurzum:
ein solch längst überfälliger Paradigmenwechsel wird
von der Koalition nicht erkannt, geschweige denn in
ihrem Antrag berücksichtigt. So viel Konsequenz hätte
mich im Übrigen auch erstaunt.

Doch eines muss klar sein, meine sehr verehrten Da-
men und Herren: Die Mobilisierung bisher bildungsbe-
nachteiligter Gruppen, so wichtig diese ist, und die Ver-
wirklichung „lernender Regionen“ reichen eben nicht aus.


(Zuruf von der SPD: Ihr habt euch doch nie darum gekümmert!)


Die zahlreichen, eher bieder anmutenden Vorschläge
des Antrages bleiben bedauerlicherweise an der Ober-
fläche und werden den tatsächlichen Veränderungen nicht




Ernst Küchler
9608


(C)



(D)



(A)



(B)


gerecht. Weil wir bei der CDU/CSU all das, was wir be-
haupten, auch beweisen,


(Lachen bei der SPD)

möchte ich fünf Einwände formulieren.

Einwand eins. Der von Rot-Grün gern beschworene in-
tegrative Ansatz – von Ihnen auch erwähnt, Herr Küchler –
einer wie auch immer gearteten Synthese von allgemei-
ner, beruflicher und politischer Weiterbildung hat sich
schon längst als eine politideologische Luftnummer er-
wiesen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Reden Sie, meine Kolleginnen und Kollegen aus der Re-
gierungskoalition, einmal mit den Menschen der neuen
Bundesländer über diese vermeintliche integrative Wei-
terbildung. Die Menschen werden Sie fragen: Habt ihr
denn gar nichts gelernt? Es ist ja schließlich Weiterbil-
dung gefragt.

Einwand zwei. Ihr vermeintlich so moderner Vor-
schlag, ein Netzwerk „Lernende Region“ aufzubauen,
entspricht, wie die Erfahrungen in Nordrhein-Westfalen
bis Sonntag ganz eindeutig beweisen, bedauerlicherweise
reinem Wunschdenken.

Einwand drei. Ihr Angebot, geeignete Finanzierungs-
instrumente zur Deckung vor allem individueller Wei-
terbildungskosten zu schaffen, klingt großzügig. Berück-
sichtigt man jedoch, dass zwei Drittel der Kosten von den
Betrieben übernommen werden, 15 Prozent die Bundes-
anstalt für Arbeit bezahlt und der übrig bleibende eigenfi-
nanzierte Anteil von lediglich 15 Prozent zudem noch von
der Steuer abgesetzt werden kann, erkennt man die wahre
Größenordnung Ihres scheinbar so reichhaltigen Angebo-
tes.

Einwand vier. Weil Sie alle so sprachlos zuhören, trage
ich es gerne vor. Das von Ihnen vorgeschlagen Akkredi-
tierungssystem ist ein uralter Hut der 70er-Jahre und
kaum realisierbar, vor allem, wenn man bedenkt, dass die
weitaus meisten Weiterbildungsmaßnahmen auf betriebli-
cher Ebene stattfinden.

Einwand fünf: Ihre Absicht, die Bund-Länder-Koope-
ration im Bereich der Weiterbildung auszubauen, er-
scheint in der Tat löblich. Aber Sie führen mit keiner Silbe
aus, auf welche Weise und auf welcher Basis die enge
Zusammenarbeit zwischen dem Bund, allein zuständig
für die berufliche Bildung, und den Ländern, allein zu-
ständig für die allgemeine Bildung, im Detail funktionie-
ren soll.

Eine Weiterbildungspolitik, die den hochgradig ver-
netzten und sich weiterhin differenzierenden Lebensbe-
dürfnissen entsprechen soll, sollte sich von vier Prinzipien
leiten lassen, nämlich von der Eigenverantwortung, der
Selbstorganisation, der marktwirtschaftlich geprägten de-
zentralen Steuerung und natürlich auch von der Subsi-
diarität.


(Zuruf von der SPD: Am besten nichts tun!)


Ich verspreche Ihnen, dass wir uns trotz unserer Be-
denken konstruktiv, wie man das von uns zu Recht erwar-
ten kann,


(Jörg Tauss [SPD]: „Erwarten“ ja, aber es kommt nichts!)


an der Arbeit im Ausschuss beteiligen werden.
Die CDU/CSU stellt hierbei vier wesentliche Forde-

rungen: Erstens. Wir brauchen mehr selbst organisiertes
Lernen, und zwar auf der Basis flexibler Angebote be-
ruflicher Bildungsinstitutionen.

Zweitens. Wir benötigen mehr praxisbezogenes Ler-
nen. Dies macht die Entwicklung neuer arbeitsintegrier-
ter Formen der Weiterbildung im betrieblichen Ablauf er-
forderlich.

Drittens. Wir wünschen mehr IuK-gestütztes Lernen.
Dazu ist wiederum unter anderem eine stärkere Nutzung
der immensen Möglichkeiten der modernen Multimedia-
techniken erforderlich.

Viertens. Schließlich und endlich sind verstärkte An-
strengungen bei der Überwindung der drohenden gesell-
schaftlichen Bildungskluft gefordert. Dazu benötigen wir
neben anderem auch eine zuverlässige Diagnose der indi-
viduellen Weiterbildungsbedürfnisse.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410223000
Herr Kol-
lege, bitte kommen Sie zum Schluss.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1410223100
Wenn ich Ihnen einen
Gefallen damit tun kann, komme ich natürlich zum
Schluss. Aber das mag ich gar nicht glauben, Herr Präsi-
dent.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410223200
Sie tun
uns allen einen Gefallen, wenn Sie zum Schluss kommen.


(Lachen und Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1410223300
Es geht doch um die
Bildung, Herr Präsident.

Der Schlusssatz als Krönung meiner Rede, meine Da-
men und Herren und vor allen Dingen Herr Präsident, lau-
tet: Bildung ist in jeder Beziehung das eigentlich Humane,
das den Menschen auszeichnet und ihn zu einem geord-
neten, selbstbestimmten und Zufriedenheit stiftenden Zu-
sammenleben befähigt. Weiterbildung ist zu wichtig, um
auf dem Altar der politischen Auseinandersetzung geop-
fert zu werden.

Ich danke Ihnen für alles, was Sie mir an Gutem ange-
tan haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben eben wieder viel gelernt!)





Werner Lensing

9609


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410223400
Die vor-
gegebene Redezeit darf auch unterschritten werden, zu-
mal zu einer späten Stunde.


(Jörg Tauss [SPD]: Der erste Teil der Rede war auch besser! Den zweiten hätte er weglassen können!)


Ich gebe das Wort nun dem Kollegen Matthias
Berninger vom Bündnis 90/Die Grünen.


Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410223500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
dem Vorredner aufmerksam zugehört hat, dann hat man
den Eindruck gewonnen, dass der Regierungswechsel
geradezu ein katastrophaler Einschnitt für die Weiterbil-
dungsinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland ge-
wesen sei.

Nun, Herr Kollege Lensing, wenn man sich das an-
schaut, was der so genannte Zukunftsminister qualitativ
und quantitativ in der letzten Legislaturperiode zustande
gebracht hat, dann muss man einfach feststellen: Er mag
zwar einige Dinge für wichtig gehalten haben, aber Wei-
terbildung gehörte sicherlich nicht dazu. Um sie hat er
sich nicht gekümmert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Insoweit halte ich die Behauptung für ziemlich weit her-
geholt, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag von
ihm abgeschrieben hätten. Wenn sie das getan hätten,
wäre der Stillstand in diesem Bereich fortgesetzt worden.
Das hätte sich auch in dem Antrag ausgedrückt.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist ja auch so zum Teil!)


Ich sehe einmal davon ab, dass im Weiterbildungsbe-
reich relativ wenig passiert ist, und wage den Ausblick auf
das, was in den nächsten 20 Jahren vor uns liegt. Zwei
Zahlen sind sehr eindrucksvoll und sollten auch in einer
solchen Debatte unbedingt genannt werden, weil sich mit
ihnen das Ausmaß der Veränderungen, vor denen das
Bildungssystem steht, verdeutlichen lässt. Heute sind
12 Millionen Menschen unter 30 Jahre. In 20 Jahren wer-
den es noch 8 Millionen Menschen sein. Zu diesem Zeit-
punkt wird jeder zweite Arbeitnehmer in Deutschland äl-
ter als 40 Jahre sein. Alle Prognosen besagen, dass sich die
Wirtschaft in diesem Zeitraum ganz massiv und radikal
wandeln wird. Das heißt, immer ältere Menschen müssen
einen immer schneller voranschreitenden Wandel in ir-
gendeiner Form erstens verkraften, und zweitens dürfen
sie sich nicht von ihm überrollen lassen. Wenn man sich
dies vergegenwärtigt, dann weiß man, wie bedeutsam das
Thema Weiterbildung in den nächsten Jahren sein wird.
Auch deswegen freue ich mich, dass die Bundesregierung
in dem Bereich durch wesentliche Maßnahmen Akzente
setzen möchte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Das Tempo, das die rot-grüne Koalition derzeit an-
schlägt, reicht nicht aus, um die vor uns stehenden He-

rausforderungen tatsächlich schon meistern zu können.
Innerhalb der Koalitionsfraktionen ist keiner selbstgefäl-
lig; aber wir denken, dass wir auf einem guten Weg sind.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Technische Entwicklun-
gen werden die Bildung völlig verändern. Die Bundesre-
gierung hat ein Programm angekündigt – das ist wirklich
ein sehr wichtiger Schritt –, in dem es um die Entwicklung
von Lernsoftware geht. Es geht darum – darüber haben
wir heute schon an anderer Stelle debattiert, als wir über
die Gefahren von Viren im Internet diskutiert haben –,
diese Entwicklung für den Bildungsbereich nutzbar zu
machen.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Das passt genau zu dem, was auch der Kollege Lensing

gesagt hat – wir sind uns darin einig –: Lernen ist ein Vor-
gang, der von den Individuen abhängt; die Individuen
müssen möglichst selbstbestimmt etwas leisten.


(Beifall der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.])

Das ist durch die neuen Medien noch besser möglich, weil
man, zumindest teilweise, ortsunabhängig lernen kann.
Wir sind in Deutschland aber technologisch und in der
Frage, wie man solche Lerninhalte vermittelt, nicht ge-
rade an der Spitze. Wir müssen Anstrengungen unterneh-
men.

Zumindest in den vier Jahren, in denen ich während Ih-
rer Regierungszeit im Bundestag war – in anderen Län-
dern war diese Entwicklung in vollem Gange –, hat man
im Bildungsministerium eher gähnend dagesessen. Das
mag damit zusammenhängen, dass Herr Rüttgers keinen
Computer in seinem Büro hatte. Jedenfalls muss man mit
hohem Tempo etwas verändern.

400 Millionen DM, die dafür eingesetzt werden sollen,
sind kein Pappenstiel, wenn man sich die Beträge an-
schaut, die wir ansonsten in dem Antrag zu den Weiter-
bildungsprogrammen, die die Bundesregierung aufgelegt
hat, erwähnt haben. Die Summe ist im Vergleich zu Vor-
herigem deutlich größer, weil wir riesige Lücken
schließen und gegenüber anderen Ländern aufholen wol-
len.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Man sollte darüber reden, dass lebenslanges Lernen
natürlich nicht das Gleiche wie eine lebenslange Haft-
strafe ist; stattdessen sollte man den Menschen etwas an-
deres vermitteln. Für meine Begriffe ist lebenslanges Ler-
nen eine positive Entwicklung: Es geht darum, dass man
nicht mehr mit 15, 16 oder 17 Jahren oder nach dem Stu-
dium einen Beruf ergreift und ihn sein ganzes Leben lang
ausübt; vielmehr wird man in Zukunft die Chance haben,
mehrere Berufe erlernen und sein Leben auf dem Gebiet
der Erwerbstätigkeit ändern zu können. Es ist wichtig,
deutlich zu machen, dass eine Gesellschaft, die lebens-
lang lernt, den Menschen letzten Endes mehr Freiheiten
gibt als eine Gesellschaft, die den Menschen irgendwann
einmal zu einer Ausbildung verhilft und sie nur dazuler-
nen lässt, wenn es beispielsweise neue Maschinen gibt;
ansonsten bleibt man in derselben Firma am selben Ar-
beitsplatz.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich sehe eine solche Gesellschaft eher positiv, wenn-
gleich sie für die Menschen mit Unsicherheiten verbun-
den ist. Nur, auch das ist eine Entwicklung, die nicht so
weit entfernt ist. Über 24 Millionen Menschen nehmen in
Deutschland jährlich an Weiterbildungsangeboten teil.
Das heißt, Weiterbildung findet schon statt, egal, ob wir
das hier diskutieren oder nicht.

Ich glaube aber, dass sich die Qualität der Weiterbil-
dung sehr radikal verändern wird. Meine Einschätzung
ist, dass meine Generation ein zweites Mal wird an die
Hochschulen zurückgehen müssen. Wer in den 80er- oder
in den 90er-Jahren einen Hochschulabschluss gemacht
hat, der wird wahrscheinlich im Laufe seines Berufsle-
bens noch einmal den Weg zur Hochschule finden müs-
sen. Man wird, ganz anders als die Generationen davor,
sehr viel dazulernen müssen. Das bedeutet, dass Hoch-
schulen ihren Umgang mit dieser Art von Studenten völ-
lig verändern müssen. Die Hochschulen müssen lernen,
dass sie nicht mehr nur Orte der Erstausbildung sind; viel-
mehr werden die Themen „Weiterbildung“ und „Ausbil-
dung von berufstätigen Menschen“ auch dort immer
wichtiger.

Ich sehe die Gefahr – Sie haben sie ebenfalls ange-
sprochen – der Zuständigkeiten von Bund und Län-
dern.Mit genau diesen Zuständigkeitszuordnungen wird
aus meiner Sicht zu häufig Untätigkeit begründet, nach
dem Motto: Eigentlich dürfen die anderen nichts tun, weil
man selbst zuständig ist. Ein anderer Versuch, Untätigkeit
zu begründen, besteht darin, den anderen entsprechende
Zuständigkeiten zu übertragen.

Die Hochschulen selbst müssen lernen: Es wird immer
weniger junge Menschen geben, die an die Hochschulen
kommen, weil ihre Zahl in Deutschland abnimmt. Wenn
die Hochschulen weiterhin wie bisher bestehen wollen,
dann müssen sie aus meiner Sicht Anstrengungen unter-
nehmen, auch Erwachsenen gute Angebote zu machen.

Zum Abschluss möchte ich sagen, dass es dabei zwei
sehr unangenehme Botschaften gibt. Die eine unange-
nehme Botschaft beim lebenslangen Lernen ist, dass es –
das ist schon heute so – nicht völlig kostenlos zu haben ist.
Die zweite unangenehme Botschaft besteht darin, dass die
Situation wohl nicht eintreten wird, dass die Betriebe die
beruflichen Fortbildungen komplett bezahlen werden.
Ebenso wenig wird es so sein, dass der Staat die Kosten
der beruflichen Weiterbildungsangebote vollständig über-
nehmen wird.

Vor diesem Hintergrund halte ich die in unserem An-
trag formulierte Forderung, dass die Bundesregierung
konzeptionell darüber nachdenken muss, wie man Men-
schen in die Lage versetzen kann, Weiterbildungsange-
bote anzunehmen, und zwar unabhängig davon, ob sie
mehr oder weniger wohlhabend sind, für sehr wichtig.

Bündnis 90/Die Grünen sind daher der Meinung, dass
man ähnlich wie Bausparen oder ähnlich wie Altersvor-
sorge auch die Bildungsvorsorgeleistungen begünstigen
muss. Wenn Bildung so wichtig ist wie ein Dach über dem
Kopf, dann ist Bildungssparen aus meiner Sicht ein
ebenso wichtiges Thema wie das Thema Bausparen. Hier
müssen Veränderungen auch im Denken her.

All das, was ich an Entwicklungen beschrieben habe
und worüber wir uns auch einig waren, muss dazu führen,
dass man auch in anderen Politikbereichen sein Denken
deutlich verändert.

Der Präsident bedeutet mir, dass ich seine Anregung,
die Redezeit zu unterschreiten, nicht befolgt habe. Dafür
bitte ich um Entschuldigung, höre jetzt aber auch auf.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410223600
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


(Zurufe von der SPD: Oh!)



Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1410223700
Vielen Dank, Herr Präsi-
dent. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schönen Dank,
dass Sie sich so freuen, dass ich heute schon zum dritten
Mal vor Ihnen stehe.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Qualität setzt sich halt durch!)


In der Tat, es ist so, und ich freue mich auch über den Ein-
stieg in die Diskussion zum Thema „Lebensbegleitendes
Lernen“.

Ich glaube, uns allen ist klar, dass zukünftig in der Wei-
terbildung in der modernen Wissens- und Informations-
gesellschaft ganz andere Anforderungen, ja Herausforde-
rungen bestehen als bisher. Dabei stehen nicht mehr so
sehr individuelle beziehungsweise ökonomische Lernbe-
dürfnisse im Vordergrund, sondern eine dauerhafte enge
Verzahnung zwischen allgemeiner und beruflicher Bil-
dung, Beruf und Weiterbildung als gesamtgesellschaftli-
che Aufgabe.

Der polnische Erziehungswissenschaftler Suchodolski
hat in seiner Veröffentlichung „Lifelong Education at the
Crossroads“ aus dem Jahre 1979 geschrieben, dass le-
benslanges Lernen zur Schicksalsfrage für das Überleben
der Menschheit wird. Der Club of Rome hat die Hin-
wendung zur Erforschung, Entwicklung und Förderung
menschlicher Lernprozesse sowie die Verbesserung von
Lernmethoden und Lernhilfen als den entscheidenden
Ansatz zur menschlichen Zukunftssicherung bezeichnet.

Bereits 1973 hatte eine entsprechende Kommission,
die von der UNESCO eingesetzt worden war, festgestellt,
dass traditionell Schulen und Bildungseinrichtungen
weltweit nicht in der Lage seien, die noch etwa zu 50 Pro-
zent brachliegenden Begabungspotenziale zu mobilisie-
ren. Im UNESCO-Bericht wurde deutlich gemacht, dass in
der modernen Lerngesellschaft bestehende Bildungseinrich-
tungen ihre Bildungsmonopolstellung verlieren werden.
Sie sind aber immer noch die wichtigste Komponente in
einem Lernnetzwerk. Dieses Lernnetzwerk ist das Ge-
flecht, das den Rahmen für lebenslanges Lernen zusam-
menhalten wird.




Matthias Berninger

9611


(C)



(D)



(A)



(B)


Wollen wir dieses Geflecht erfolgreich knüpfen, meine
Damen und Herren von der Regierungskoalition, müssen
dem grundlegende Bildungsreformen in Deutschland vo-
rausgehen. Das ist an dieser Stelle noch einmal meine
Botschaft an Sie, dort, wo Sie Verantwortung in den Län-
dern haben, diese Bildungsreformen auch durchzuführen.

Das betrifft erstens die Verbesserung des Niveaus der
allgemein bildenden Schulen. Die Profilbildung aller
Schulformen einschließlich jener der Hauptschule muss
gestärkt werden. Wir haben immerhin fast ein Viertel
Ausbildungsabbrecher in Deutschland und das hat meines
Erachtens auch damit zu tun, dass wir bestimmte Schul-
formen, wie die Hauptschule, vernachlässigen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Zweitens muss die Qualitätssicherung der Schul- und

Berufsbildung im Vordergrund stehen. Auch das gehört zu
den dringend notwendigen Bildungsreformen und ist eine
wichtige Voraussetzung, um die Weiterbildung in Gang zu
bringen. Wir brauchen eine stärkere Hinwendung zum
selbstständigen projektorientierten Lernen,


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])

wir brauchen eine Allgemeinbildung, die auf traditionelle
Kulturtechniken setzt, aber auch auf Medienkompetenz,
Teamfähigkeit und eine allumfassende Allgemeinbildung,
die auch Mathematik, Naturwissenschaften und Technik
in den Vordergrund stellt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Nicht zuletzt sei erwähnt, dass es Riesendefizite bei der

Ausstattung und der Unterrichtsversorgung an den Schu-
len in Deutschland gibt.

Ich will Ihnen anhand einer Studie, die in Schweden
gemacht wurde, verdeutlichen, dass dort circa 20 Prozent
der Topmanager aus der Wirtschaft durch ihre eigenen
Kinder das Surfen im Internet gelernt haben. Was heißt
das für die Weiterbildung? Diese Studie macht deutlich,
dass zukünftig das situative, natürliche Lernen aller Men-
schen in ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen ge-
stärkt werden muss. Das Ad-hoc-Lernen wird mehr denn
je bei der Erwachsenenbildung zur Kompetenzentwick-
lung und zur Bewältigung von neuen Lebenssituationen
beitragen, wie sie die Informationsgesellschaft von heute
auf morgen mit sich gebracht hat.

Zu den Reformen gehört aber auch die Vernetzung von
Schule und Wirtschaft. Da nenne ich nur beispielhaft das
Modell Baden-Württemberg, das Projekt „Surreale
Schule“, bei dem berufsbezogene Projekte bereits in die
allgemein bildenden Schulen getragen werden.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.] und des Abg. Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU])


Der Sinn der dualen Ausbildung besteht in der rechtzei-
tigen Verknüpfung von allgemein bildenden Schulen mit
der Wirtschaft bis in den Weiterbildungsbereich hinein.

Die nächste wichtige Reform umfasst meines Erach-
tens die Vernetzung von Aus- und Weiterbildung. Es geht
um Lernen im Beruf und nicht als Beruf, wie Bundesprä-
sident Herzog es schon einmal sagte. Damit meine ich,

dass kürzere Ausbildungszeiten im ersten Lebensab-
schnitt und permanentes Lernen in allen Lebenssituatio-
nen in einer sich rasant entwickelnden, global orientierten
Welt notwendig geworden sind.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Last, but not least ist die europäische Vernetzung von
Aus- und Weiterbildung angesichts eines EU-Binnen-
marktes unerlässlich. Dafür hat der Lissabonner Gipfel
Grundlagen gelegt. Sie kennen beispielsweise den Euro-
Pass in der Berufsausbildung. Aber auch die Länder müs-
sen ihre Hausaufgaben machen. Das ist meine Botschaft
in diesem Zusammenhang.

Ein Gesamtkonzept für lebenslanges Lernen ist unver-
zichtbar, wenn wir das Auseinanderdriften zwischen einer
immer komplexer werdenden globalen Welt und den ent-
sprechend entwickelten Kompetenzen der Menschen ver-
hindern wollen.

Die Chancen der Menschen zu verbessern und sie sie
erkennen zu lassen heißt zum einen, in ihre Köpfe zu in-
vestieren, zum anderen aber auch – das betone ich und da
stimme ich Herrn Berninger zu –, sie mehr als bisher zu
eigenverantwortlichem selbstständigen Lernen zu erzie-
hen. Ihr Aktionsprogramm „Netzwerke Lebensbegleiten-
des Lernen“ ist da der richtige Anstoß, aber eben keine
ganzheitliche Lösung. Hierfür muss die Politik die längst
überfälligen Bildungsreformen auf den Weg bringen. An-
sonsten wird Ihr Konzept zum lebensbegleitenden Lernen
reine Rhetorik bleiben. Ich freue mich auf die Diskussio-
nen im Ausschuss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410223800
Als
nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Maritta
Böttcher von der PDS-Fraktion.


Maritta Böttcher (PDS):
Rede ID: ID1410223900
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich diesen An-
trag gelesen habe, habe ich mir überlegt, was er eigentlich
an Neuem enthält. Ich bin zu dem Schluss gekommen,
dass er nichts enthält, was die Regierung und das zustän-
dige Ministerium veranlassen könnten, auf dem Gebiet
der Weiterbildung etwas anders zu machen, als sie es
ohnehin bereits tun. Wollte man in den Koalitionsparteien
die Zustimmung zur Weiterbildungspolitik der Bundesre-
gierung zum Ausdruck bringen, so erscheint mir ein An-
trag, liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür als die unge-
eignetste Form. Da hätte vielleicht ein Glückwunsch-
schreiben ausgereicht.


(Beifall bei der PDS)

Die absehbare Wirkungslosigkeit dieses Antrages, ob-

gleich er ja von der Mehrheit dieses Hauses getragen wird,
lässt sich an allen seinen Teilen festmachen:

Die unumstritten wachsende Bedeutung der Weiterbil-
dung wird so begründet, wie es die Regierung der neuen
Mitte am liebsten sieht, nämlich im Unterschied zu




Cornelia Pieper
9612


(C)



(D)



(A)



(B)


mancher Sonntagsrede aus der verengten Sichtweise der
Standortdebatte heraus.

Die aufgelisteten und allseits bekannten Defizite im
Bereich der Weiterbildung unterliegen damit ebenfalls ei-
ner verengten Sicht. Für den Abbau selbst dieser ausge-
wählten Defizite gibt es keinen konkreten Vorschlag, son-
dern lediglich eine allgemeine Beschreibung des Wün-
schenswerten.

Der Hauptteil unter Abschnitt 2 liest sich wie eine Pres-
seerklärung des BMBF – ich sage das jetzt einmal so – zur
Erläuterung von Projekten, die das Ministerium in Aus-
sicht stellt.

An der Stelle, wo die Einbringer des Antrags die Bun-
desregierung schließlich doch noch auffordern, etwas zu
tun, läuft das im Grunde auf eine Forderung hinaus, die zu
nichts verpflichtet, nämlich dieses oder jenes zu prüfen.
Dabei halte ich es, Herr Catenhusen, außerdem für sehr
bedenklich, wenn die Bundesregierung diese Sachver-
halte tatsächlich noch nicht geprüft haben sollte.

Die Antragsteller hoffen, durch punktuelle Anstöße das
Weiterbildungssystem in die richtigen Bahnen zu lenken.
Ich halte das, gelinde gesagt, für eine wirklichkeitsfremde
Illusion. Wir müssen den gesamten Weiterbildungsbe-
reich systematisch strukturieren. Um dies zu erreichen,
muss der Bund endlich seine Kompetenz auf diesem Ge-
biet voll ausschöpfen. Er täte das nach unserer Meinung
am konsequentesten durch die Vorlage eines entsprechen-
den Rahmengesetzes.


(Beifall bei der PDS)

Ein solchermaßen gesteckter Rahmen hätte die Funktion,
den Zugang aller zu einem lebenslangen Lernen sowohl
rechtlich als auch materiell auf gleichem Niveau zu si-
chern, die demokratische Mitwirkung der Lernenden für
die inhaltliche und strukturelle Ausgestaltung der Weiter-
bildung im gesamten Bundesgebiet gleichermaßen zu ge-
währleisten, die Weiterbildung mit der ebenfalls bundes-
rechtlich geregelten beruflichen und universitären
Ausbildung sowie mit den zahlreichen Formen der
Arbeitsförderung sinnvoll zu verzahnen und schließlich
einheitliche Mindeststandards hinsichtlich Qualität, Trans-
parenz und Zertifizierung in der Weiterbildung festzule-
gen.

Mit der Forderung eines solchen Rahmengesetzes geht
es uns nicht darum, der im Antrag betonten „Eigenverant-
wortung und Selbststeuerung der Lernenden“ den alles re-
gulierenden Staat gegenüber zu stellen. Aber Eigenver-
antwortung in der Weiterbildung darf nicht, wie es der
Antrag nahe legt, vorrangig auf die Eigenfinanzierung zur
dauerhaften Erhaltung und Verbesserung der Verwer-
tungsbedingungen des Kapitals reduziert werden.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Was ist denn das?)


Eigenverantwortung muss sich auf die Entfaltung aller
Fähigkeiten und Potenzen des Einzelnen beziehen und da-
rüber hinaus dessen umfassende demokratische Mitwir-
kung bei der Bestimmung von Bedingungen, Inhalten und
Zielen der Weiterbildung beinhalten.

Von einem solchen Ansatz aus müssen die Akzente in
einer rahmengesetzlichen Regelung auch anders gesetzt
werden, als das im vorliegenden Antrag der Fall ist. So
notwendig es ist, das Weiterbildungssystem hinsichtlich
Träger, Koordination, Qualität, Transparenz, Zertifizie-
rung usw. zu optimieren: Noch dringlicher sind eindeutige
Regelungen, die es jedem und jeder auch tatsächlich er-
möglichen, dieses System kontinuierlich zu nutzen. Auf-
schlussreich ist doch zum Beispiel, dass mangels entspre-
chender gesetzlicher Regelungen in einigen Ländern viele
Beschäftigte nach wie vor keinen Anspruch auf bezahlten
Bildungsurlaub haben und dass von denen, die ihn haben,
nur etwa 3 Prozent davon Gebrauch machen.

Die PDS kann und wird vieles unterstützen, was von
verschiedenen Seiten, einschließlich der Bundesregie-
rung, zur Erhöhung der Effizienz der Weiterbildungsinsti-
tutionen vorgeschlagen wird. Ihren Schwerpunkt sieht sie
jedoch darin, sich auf Seiten der Lernenden für solche Be-
dingungen einzusetzen, die es allen ermöglichen, die Wei-
terbildungsangebote entsprechend anzunehmen.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410224000
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Maritta Böttcher (PDS):
Rede ID: ID1410224100
Meine letzte Bemerkung,
Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, über
eines sollte frühzeitig Klarheit herrschen: Angesichts der
Dimension eines lebenslangen Lernens ist die Realisie-
rung dieser Aufgabe gewiss mit beträchtlichen Kosten
verbunden. Sie ist jedoch sowohl für den Einzelnen wie
für die Gesellschaft von existenzieller Bedeutung.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410224200
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1410224300
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige kon-
struktive Debatte über den Antrag der Koalitionsfraktio-
nen versteht die Bundesregierung als Ermutigung und als
Auftakt für eine intensive parlamentarische Begleitung
des Weges hin zur schrittweisen Verwirklichung des Prin-
zips vom lebensbegleitenden Lernen.


(Beifall bei der SPD)

Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist in den Ländern,
bei den Sozialpartnern, bei den Trägern und Verbänden in
der konzertierten Aktion Weiterbildung, im Bündnis für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit und auch
in der Bund-Länder-Kommission erfreulich groß. Es ist
erstaunlich, dass die alte Bundesregierung im letzen Jahr-
zehnt diese Chancen nicht genutzt hat.

Wir befinden uns in einer Situation, in der die Bereit-
schaft zum lebenslangen Lernen erfreulicherweise wächst;
denn unter den 19- bis 64-Jährigen nutzt heute schon




Maritta Böttcher

9613


(C)



(D)



(A)



(B)


jeder Zweite die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Die
Teilnahme an allgemeiner beruflicher Weiterbildung –
da sind wir uns ja alle einig – ist dabei gleich wichtig. Al-
lein für die berufliche Weiterbildung wenden Teilneh-
merinnen und Teilnehmern jährlich 2 Milliarden Stunden
für Kurse und Lehrgänge auf. Tag für Tag bilden sich
durchschnittlich etwa 1 Million Menschen im erwerbs-
fähigen Alter in der einen oder anderen Form beruflich
weiter. Dabei ist informelles Lernen am Arbeitsplatz und
selbst organisiertes Lernen, auch in verschiedenen sozia-
len Zusammenhängen und Projekten, statistisch bisher
nur unzureichend erfasst.

Ohne Übertreibung lässt sich also feststellen, dass wir
bereits auf dem Wege zu einer lernenden Gesellschaft
sind, wie sie jetzt von der UNESCO, der OECD und auch
der EU als Leitbild vorgeschlagen wird. Warum also heute
diese Debatte? Warum legen wir so viel Wert darauf, dass
lebensbegleitendes Lernen für alle Menschen selbstver-
ständlich werden muss? Was sind die neuen Herausforde-
rungen, auf die wir neue Antworten finden müssen? Auf
diese Fragen will ich Ihnen nur zwei Antworten geben.

Erstens. Wir müssen davon ausgehen, dass bei einer
Nichtbeteiligung an kontinuierlichem „Lernen ein Leben
lang“ für den einzelnen Menschen und für seine Familie
die Gefahr der Ausgrenzung aus allen gesellschaftlichen
Bereichen wächst.

Zweitens. Der Strukturwandel unserer Gesellschaft
und Wirtschaft kann nur mithilfe einer alle Gruppen
einschließenden Entwicklung lebensbegleitenden Ler-
nens bewältigt und sozialverträglich gestaltet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hiervon, Kolleginnen und Kollegen, hängen sowohl
die Innovationsfähigkeit als auch der soziale Zusammen-
halt unserer Gesellschaft immer stärker ab. Zwischen die-
sen beiden Polen der Stärkung und Entfaltung individuel-
ler Möglichkeiten und auch der Zunahme und Verän-
derung gesellschaftlicher Anforderungen muss das
Bildungssystem sich weiterentwickeln.

Notwendig ist daher die Mobilisierung aller, vor allem
bildungsferner und benachteiligter Gruppen, und auch die
schrittweise Verwirklichung des Konzeptes „Lernende
Regionen“. Dies sind die beiden strategischen Ansatz-
punkte einer Bildungspolitik der Bundesregierung, die
Lernen ein Leben lang ermöglichen und fördern will.

Lebensbegleitendes Lernen für alle kann natürlich nur
realisiert werden, wenn alle Bildungsbereiche mit allge-
meinen, politischen, kulturellen und beruflichen Inhalten
in ein integratives Konzept einbezogen werden. Kollege
Lensing, ich glaube, das Gegeneinandersetzen allgemei-
ner, beruflicher und politischer Weiterbildung ist ein
falscher Ansatz. Für die gesellschaftliche Weiterentwick-
lung der Menschen brauchen wir Angebote auf allen Fel-
dern. Wenn sie stärker miteinander vernetzt und aufei-
nander bezogen werden, umso besser.


(Beifall bei der SPD)

Auch ist eine stärkere Kooperation zwischen Bil-

dungsanbietern und Bildungsnachfragern insbesondere in

den Regionen notwendig. Wir müssen alle Anstrengungen
unternehmen, um unser Bildungssystem offen zu halten,
weitere Chancen zu ermöglichen, Durchlässigkeit zu ge-
währleisten, Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruf-
licher Bildung zu verstärken und nicht zuletzt auch das
System der individuellen Förderung erwachsenengerecht
weiterzuentwickeln.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410224400
Herr
Staatssekretär, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Lensing?

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1410224500
Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410224600
Bitte
schön, Herr Lensing.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1410224700
Herr Staatssekretär,
ich beziehe mich auf Ihre Äußerung im Hinblick auf den
integrativen Ansatz. Ich habe erhebliche Bedenken, die
drei Säulen der allgemeinen, der beruflichen und der po-
litischen Weiterbildung, die Sie angesprochen haben, zu
integrieren, vor dem Hintergrund der schmerzhaften Er-
fahrungen in der früheren DDR, wo dieses Modell erprobt
worden ist. Daher erklärt sich auch meine Bemerkung von
vorhin.


(Widerspruch bei der SPD – Stephan Hilsberg [SPD]: Sie haben doch keine Ahnung davon!)


Dass es erhebliche Bedenken gibt, merken wir schon an
der Unruhe auf der – von mir aus gesehen – rechten Seite.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Weil es falsch ist, was sie erzählen!)


Ich weiß es auch aus entsprechenden Bemerkungen aus
den Bildungskreisen der ehemaligen DDR.

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1410224800
Ge-
schätzter Kollege Lensing, mir ist nicht ganz verständlich,
wieso Sie einen Zusammenhang sehen zwischen den
Angeboten politischer Weiterbildung in der Bundesrepu-
blik, in dem freien Deutschland, sowie den Prinzipien und
der Praxis so genannter politischer Indoktrination in der
ehemaligen DDR. Ich kann Ihnen bei diesem Gedanken –
ehrlich gesagt – nicht folgen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Werner Lensing [CDU/ CSU]: War es das schon?)


– Ja.
Wir sind in dieser Entwicklung zwei erste konkrete

Schritte gegangen. Am 1. April dieses Jahres konnte erst-
mals in der über 30-jährigen Geschichte der gemeinsamen
Bildungsplanung der Bund-Länder-Kommission ein
Modellversuchsprogramm zum lebenslangen Lernen
auf den Weg gebracht werden. Dieses Programm mit
14 Modellversuchen, für das in den nächsten fünf Jahren




Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen
9614


(C)



(D)



(A)



(B)


25 Millionen DM aufgewendet werden, die je zur Hälfte
von Bund und Ländern getragen werden, basiert auf einer
gemeinsam in der BLK entwickelten Programmbeschrei-
bung. Die Länder sind bereit, mit uns auf einer
programmatischen Grundlage die Rahmenbedingungen
dafür zu erproben, wie auf der einen Seite Eigenverant-
wortung und Selbststeuerung der Lernenden und auf der
anderen Seite die Vernetzung hin zu einem eher nachfra-
ger- und nutzerorientierten Bildungssystem geschaffen
werden können.

Das sind auch die Ziele, die wir als Bundesregierung
mit unserem geplanten Aktionsprogramm „Lebensbe-
gleitendes Lernen für alle“ verfolgen. Frau Ministerin
Bulmahn hat dazu auf der Plenarsitzung der von uns wie-
derbelebten konzertierten Aktion „Weiterbildung“ ent-
sprechende Schritte angekündigt.

Den Kern unseres Aktionsprogramms bildet das Pro-
gramm „Netzwerke lebensbegleitenden Lernens“,
dessen strategische Bedeutung für den Aufbau lernender
Regionen offensichtlich ist. Wir freuen uns, dass die Län-
der dieses anerkannt und unsere Absicht zur Förderung
von Netzwerken ebenso wie die konzertierte Aktion
„Weiterbildung“ begrüßt haben.


(Beifall bei der SPD)

Wir beabsichtigen, Projekte zur Vernetzung auf der

Grundlage einer mit den Ländern noch abzuschließenden
Vereinbarung noch vor der Sommerpause auszuschrei-
ben. Die Europäische Union, die auch weitere beschäfti-
gungspolitisch begründete Programme zur Kompetenz-
entwicklung und zur Benachteiligtenförderung kofi-
nanzieren wird, wird dieses Netzwerkprogramm vor-
aussichtlich mit rund 10 Millionen DM pro Jahr unter-
stützen. Das heißt, wir können in den nächsten fünf
Jahren im Rahmen dieses Programms rund 150 Milli-
onen DM zielgerichtet für die Entwicklung lernender Re-
gionen in Deutschland einsetzen.


(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: So macht man Politik, jawohl!)


Zu den Förderschwerpunkten zählen insbesondere die
breitere Anwendung von für die Nutzer transparenten
Qualitätssicherungsverfahren; die Zertifizierung von
Qualifikationen, möglichst unter Einschluss von Kompe-
tenzen, die in informellen und selbst organisierten Lern-
prozessen erworben wurden; die Verbesserung der Bera-
tung und die Motivierung insbesondere bildungsferner
und benachteiligter Gruppen; die Förderung neuer Lehr-
und Lernkulturen und eines insgesamt lernförderlichen
Umfeldes.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410224900
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Lenke?

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1410225000
Ja,
bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410225100
Bitte
schön, Frau Lenke.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1410225200
Herr Staatssekretär, das sind ja
Ziele, die eigentlich zu unterstützen sind. Was sagen Sie
aber dazu, dass das Land Niedersachsen zum Beispiel Er-
wachsenenbildungsmittel in den Haushalten in den letz-
ten Jahren ständig gekürzt hat und auch im Bildungsbe-
reich der Schulen und Hochschulen ständig weniger Mit-
tel zur Verfügung stehen?


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt ja überhaupt nicht!)


– In der Erwachsenenbildung in Niedersachsen sind seit
1990 ständig die Mittel gekürzt worden. Ich möchte gerne
von Ihnen wissen, ob das nicht Ihre guten Ideen konter-
kariert.

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1410225300
Ich
höre erstens Widerspruch vonseiten sozialdemokratischer
Abgeordneter aus Niedersachsen. Das sollten Sie als
Niedersachsen erst einmal untereinander diskutieren. Als
Parlamentarier aus Nordrhein-Westfalen kann ich in un-
serem Lande keinerlei Diskussion in dieser Richtung fest-
stellen. Ich denke, es gilt für alle Bundesländer die Be-
merkung, die Herr Küchler vorhin gemacht hat, dass es
nämlich in der Frage der Förderung der Weiterbildung in
dem einen oder anderen Land Diskussionen gibt, die hin-
sichtlich einer Prioritätensetzung für die Weiterbildung
nicht immer im vollen Glanze wünschbarer politischer
Gestaltung stehen. Aber dieser Diskussion soll sich jedes
Bundesland selbst aussetzen.

Die beiden angesprochenen Maßnahmen sollen den
Start zu einer Ausweitung der Aktivitäten des Bundes bil-
den. Wir freuen uns sehr, dass wir im Ausschuss auch wei-
tere Prüfaufträge des Koalitionsantrages beraten können.
Dann sollten wir gemeinsam in die Debatte über einige
wichtige Fragen eintreten, etwa die Fragen: Was können
wir bezüglich der Weiterbildungsforschung tun? Was
müssen wir in der Weiterbildungswerbung mit den Län-
dern und Kommunen zusammen tun? Wie sieht es mit der
Qualitätssicherung und der Verzahnung beruflicher und
außerberuflicher Weiterbildung aus?

Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir im Be-
reich der betrieblichen Weiterbildung, die Kollege
Lensing zu Recht angesprochen hat, mit den Tarifpart-
nern im Bündnis für Arbeit bereits Vereinbarungen
über Ziele und Maßnahmen zur Qualifizierung und Wei-
terentwicklung der beruflichen Weiterbildung getroffen
haben. Das kann auch der Union helfen, ihre Position wei-
ter zu bestimmen. Ich habe mit Zufriedenheit zur Kennt-
nis genommen, dass Versuche zur Beschreibung der Leis-
tungen der früheren Bundesregierung auf diesem Gebiet
nicht unternommen worden sind.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410225400
Als letz-
tem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich dem




Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen

9615


(C)



(D)



(A)



(B)


Kollegen Heinz Wiese von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Heinz Wiese (CDU):
Rede ID: ID1410225500
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Land wie
die Bundesrepublik Deutschland, das nur über wenige er-
tragreiche Rohstoffe verfügt, kann sich im weltweiten
Wettbewerb nur dann behaupten, wenn es den Investitio-
nen in sein Humankapital eine herausragende Bedeutung
beimisst. Bildung ist – darüber sind wir uns sicherlich ei-
nig – das Megathema der kommenden Jahre.

Wenn es heute um einen ganz konkreten Antrag der
Regierungsfraktionen zum Thema lebensbegleitendes
Lernen und zum Ausbau der Weiterbildung geht, stelle ich
etwas Erfreuliches fest, nämlich dass sehr viele Positio-
nen mit denen in unserem Antrag, den wir bereits 1999
zum Thema Ausbildung und Qualifizierung für junge
Menschen eingebracht haben, identisch sind. Das möchte
ich hier anerkennen und deutlich machen. Denn ich
glaube, das Thema ist in höchstem Maße konsensfähig,
wenn wir uns der neuen Herausforderung des lebensbe-
gleitenden Lernens stellen, um im neuen Jahrtausend neue
Wege zu gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Damals habe ich in der Debatte sehr deutlich auf die

neuen Herausforderungen hingewiesen. Das ist zum Bei-
spiel der technologisch bedingte Strukturwandel in Ge-
sellschaft und Wirtschaft, die bereits stattfindende digitale
Revolution im Informations- und Kommunikationszeital-
ter. Jetzt ist es unsere Aufgabe, die daraus resultierenden
neuen Herausforderungen anzunehmen. Insoweit wird es
im zuständigen Ausschuss in vielen Punkten eine, so
glaube ich, interessante und spannende Beratung geben.

Zunächst möchte ich ein paar Anmerkungen machen,
die man nicht so sehr semantisch sehen sollte. Es handelt
sich eher um systematische Aspekte. Zu dem Arbeits-
thema Weiterbildung bzw. lebensbegleitendes Lernen
für alle muss ich sagen: Es sollte nicht der Eindruck ent-
stehen, dass die Weiterbildung der Bildungssektor ist, auf
dem ausschließlich lebensbegleitendes Lernen stattfindet.
Ich als Pädagoge sehe das ein wenig anders. Unsere For-
derung hat schon immer gelautet: Alle Bildungs- und Aus-
bildungseinrichtungen, alle Bildungs- und Ausbildungs-
systeme müssen eine Kultur des lebensbegleitenden Ler-
nens entwickeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Gerade heute in der Wissensgesellschaft geht es nicht da-
rum, immer mehr zu lernen. Es geht vielmehr um die
Kompetenz, das Richtige zu lernen. Das ist ein gewaltiger
Unterschied. Ich glaube, dass gerade in diesem Bereich
die Weiterbildung und das lebensbegleitende Lernen ei-
nen neuen Stellenwert erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unsere Kinder und Jugendlichen müssen also bereits in
der Schule an das Lernen in irgendeiner seiner vielen For-
men herangeführt und dazu motiviert werden.


(Stephan Hilsberg [SPD]: Wofür ist Schule sonst da?)


Wenn wir es nicht schaffen, in der Schule zu vermitteln,
zu lernen, wie man lernt,


(Stephan Hilsberg [SPD]: Dann können wir sie abschaffen!)


dann werden wir diese Menschen in späteren Jahren mit
noch so vielen Weiterbildungsprogrammen und -einrich-
tungen nicht mehr motivieren können.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Ich gehe davon aus, dass in der Bildungspolitik drei

neue Zielsetzungen zu sehen sind. Für mich gibt es über
das hinaus, worüber wir bisher diskutiert haben, drei Ziel-
setzungen, die in die jetzigen Diskussionen mit eingeflos-
sen sind: zum Ersten den verantwortungsbewussten Um-
gang mit den neuen Medien – was man mit den neuen
Medien anstellen kann, das haben wir in den letzten Ta-
gen trefflich erlebt –, zum Zweiten eine ausgeprägte
Fremdsprachenkompetenz und zum Dritten die Befähi-
gung zum lebensbegleitenden Lernen.

Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, dass
bereits die Grundschule diese Bereiche berücksichtigen
muss. Neben den klassischen Grundfertigkeiten Lesen,
Schreiben und Rechnen müssen bereits dort die Methoden
einer modernen Wissensaneignung eine zentrale Bedeu-
tung erlangen. Ich gehe davon aus, dass damit auch die
Fähigkeit zur Eigenverantwortung, die soeben auch vom
Herrn Staatssekretär angesprochen wurde, und zur Selbst-
organisation des Lernens von Anfang an in den Mittel-
punkt gerückt werden muss.

Wir haben doch festzustellen, dass sich gerade viele
Kinder aus lern- und bildungsfernen Schichten, wie
auch Sie, Herr Staatssekretär, das formuliert haben, vor
dem Lernen – das zeigen empirische Forschungen – gera-
dezu scheuen. Dies tun sie auch als Erwachsene, weil ih-
nen die Schule das Lernen als wichtigste Quelle der Er-
neuerung in allen Lebensbereichen und als Quelle der Le-
bensbereicherung nicht oder nur unzureichend vermittelt
hat. Was dort nicht geleistet wurde, kann man unter Um-
ständen in vielen Fällen später nicht mehr gutmachen.

Ein weiterer Aspekt in diesem Kontext ist: Wir sollten
uns sehr differenziert mit der Forderung nach lebensbe-
gleitendem Lernen für alle auseinander setzen. Denn wir
sollten allen Talenten bzw. allen Begeisterungsmöglich-
keiten der Einzelnen gerecht werden. Wir sollten auch
nicht Gruppen ausmachen, die dafür vielleicht nicht mo-
tivierbar sind. Sie haben in Ihrem Antrag Frauen, Mütter,
Väter und Benachteiligte ohne Bildungsabschlüsse er-
wähnt. Diese haben es sehr schwer, sich in dieser Rich-
tung zu aktivieren. Ich gehe aber davon aus, dass wir den
alten Grundsatz beherzigen sollten, die Menschen in ihren
individuell ausgeprägten Begabungen, Fähigkeiten und
Talenten so zu nehmen, wie sie sind. Dabei dürfen wir
nicht irgendwelchen Vorurteilen aus der Vergangenheit
aufsitzen.

Es kann heute beispielsweise nicht mehr behauptet
werden, Frauen würden sich in diesen Bereichen nicht
aktiv betätigen. Wir wissen, dass Weiterbildung für die




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
9616


(C)



(D)



(A)



(B)


Frauen heute ebenso ein Thema ist wie für die Älteren.
Wir müssen dabei zunächst einmal den Weg für die Kin-
der ebnen. Gerade die jungen Menschen sollten gezielt
gefördert, aber auch angemessen gefordert werden. Das
ist eine alte Grundthese unserer Bildungspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In diesen Bereichen kann es natürlich nicht nur um die

Jugend gehen. Bei dem heute in allen Bereichen und be-
sonders auf dem Arbeitsmarkt festzustellenden Verdrän-
gungswettbewerb wird es auch künftig unter der älteren
Generation – das ist bereits von Diskussionsrednern an-
gesprochen worden – immer mehr Menschen geben, die
als so genannte Modernisierungsverlierer gelten, weil sie
diesem oft gnadenlosen Verdrängungswettbewerb nicht
standhalten konnten.

Wenn wir heute in Deutschland fast eine Million Ar-
beitslose über 55 Jahre haben, ist das eine riesengroße ge-
sellschaftspolitische Herausforderung.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darüber hätten Sie 16 Jahre nachdenken können!)


Wir müssen daher dem Bereich der Qualifizierung älterer
Arbeitnehmer einen neuen Stellenwert einräumen. Unser
Motto, das wir sowohl in unserem Antrag als auch heute
Morgen in der Debatte verdeutlicht haben, lautet: Lieber
mit 50 weiterqualifizieren als mit 60 in Rente!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410225600
Herr Kol-
lege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.


Heinz Wiese (CDU):
Rede ID: ID1410225700
Abschließend
einige Anmerkungen zu dem, was wir im Ausschuss dis-
kutieren sollten. Wir sollten uns im Ausschuss mit der In-
novation der beruflichen Bildung, den Maßnahmen zum
Zusammenspiel des dualen Systems und der Weiterbil-
dung befassen sowie zum Ausbau des dualen Systems be-
kennen. Wir sollten auch die Frage stellen, inwieweit Zer-
tifizierung und Differenzierung von Abschlüssen künftig
neu umgesetzt werden können.

Ich darf dabei im Zusammenhang mit der beruflichen
Bildung an das DIHT-Satellitenmodell erinnern. Ich
glaube, auf dieser Basis kann man weiter diskutieren. Ich
gehe davon aus, dass wir Sie von der SPD dafür begeis-
tern können, obwohl wir das schon einige Male im Aus-
schuss ohne Erfolg versucht haben.


(Zuruf von der SPD: Wie viel Zeit hat er eigentlich noch?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410225800
Herr Kol-
lege Wiese, Sie haben die Redezeit weit überzogen. Ich
bitte Sie, jetzt wirklich den letzten Satz zu sprechen.


Heinz Wiese (CDU):
Rede ID: ID1410225900
Ich komme zum
Schluss, Herr Präsident.

Ich gehe davon aus, dass wir uns miteinander ohne
große Auseinandersetzungen auf den Weg in die bereits

vorher erwähnte lernende Gesellschaft begeben sollten,
den wir kritisch begleiten.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410226000
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3127 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich höre keinen Wiederspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann (Bremen),
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Hauptstadtkulturförderung
– Drucksache 14/3182 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich darauf
hinweisen, dass die Reden zu den beiden noch ausstehen-
den Tagesordnungspunkten nach einer Vereinbarung zu
Protokoll gegeben werden. Ich setze voraus, dass Sie da-
mit einverstanden sind.

Ich bitte, bei der Aussprache die vorgegebenen Rede-
zeiten einzuhalten. Es scheint hier ein Wettbewerb zu be-
stehen, wer die Zeit am meisten überziehen kann. Das
bringt nichts.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner
hat der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU-
Fraktion.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1410226100
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Her-
ren, die CDU/CSU-Fraktion will mit dem Antrag zur
Hauptstadtförderung die parlamentarische Befassung mit
einem Thema herbeiführen, die längst überfällig und
durch die intensive öffentliche, auch publizistische Dis-
kussion der letzten Wochen natürlich nicht zu ersetzen ist.

Es geht bei diesem Thema weder finanziell noch kon-
zeptionell um eine Marginalie der Kulturförderung des
Bundes, sondern um einen zentralen Bestandteil. Nicht
nur für die Hauptstadt hat dieses Thema vitale Bedeutung,
sondern auch für den Bund. Im Kern geht es, unter
Berücksichtigung der föderalistischen Strukturen dieses
Staates, um das Selbstverständnis des Kulturstaates
Deutschland. Wir reden, wenn wir uns nichts vormachen
und die eigentlichen Dimensionen dieses Themas in den
Blick nehmen, beim Thema Hauptstadtförderung zu-
gleich über das Thema Kulturföderalismus und da-
rüber, was wir uns darunter eigentlich vorstellen.




Heinz Wiese (Ehingen)


9617


(C)



(D)



(A)



(B)


Von dem neuen Berliner Kultursenator Christoph
Stölzl, dem ich auch von dieser Stelle alles Gute für die
Übernahme seines Amtes und allen im gemeinsamen In-
teresse angestrebten Erfolg wünsche,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


stammt aus einem Interview der letzten Tage der wunder-
schöne Satz: „Die Kulturhoheit der Länder ist im Lande
Berlin nur eine sehr unzureichende Beschreibung der
Lage.“

Lieber Herr Stölzl, dieser Satz wäre auch dann noch
richtig, wenn Sie den ausdrücklichen Bezug auf Berlin ge-
strichen hätten. Denn die Kulturhoheit der Länder ist nur
eine unzureichende Beschreibung unserer Lage, so wie –
um es vollständig zu sagen – schon der Begriff „Kultur-
hoheit“ eine unzutreffende Beschreibung des Verhältnis-
ses des Staates zur Förderung von Kunst und Kultur dar-
stellt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht ganz offen-
sichtlich nicht nur um Geld, eher geht es auch um eine
Menge Geld. Das Volumen der Bundesförderung wird
seit Jahren notorisch unterschätzt und mit dem eher klein-
lichen Streit um einige Millionen DM mehr oder weniger
verniedlicht. Insgesamt stellt der Bund, wenn man die
verschiedenen Förderinstrumente zusammen nimmt, was
in diesem Zusammenhang natürlich erfolgen muss, mit
fast 500 Millionen DM und damit mit knapp einer halben
Milliarde DM fast die Hälfte aller in Deutschland verfüg-
baren Kulturfördermittel des Bundes für die Hauptstadt
zur Verfügung. Ich sage dies auch deswegen, weil damit
die gelegentliche öffentliche Quengelei aus der Berliner
Lokalszene – wie ich finde: hinreichend – widerlegt ist
und wir uns auf das konzentrieren sollten, was den Streit
wirklich lohnt.

Der Bund hat Berlin in der Vergangenheit weder allein
noch im Stich gelassen. Er wird dies auch in Zukunft nicht
tun. Darüber gab und gibt es zwischen Regierung und Op-
position Konsens. Dies war vor dem Regierungswechsel
so und ist nach dem Regierungswechsel so geblieben. Ich
finde, das ist überhaupt die wichtigste und unverzichtbare
Gesprächsbasis innerhalb des Bundestages für die Ver-
handlungen, die gegenwärtig zwischen der Bundesregie-
rung und dem Berliner Senat stattfinden.

Nach meinem Verständnis gibt es in diesem Zusam-
menhang drei grundsätzliche Fragen: Erstens. Warum
überhaupt gibt es Hauptstadtkulturförderung? Zweitens.
Wofür im Konkreten gibt es sie? Drittens. Wie viel wird
dafür aufgebracht?

Die Beantwortung der ersten Frage ist, jedenfalls nach
unserem Verständnis, nach dem gemeinsamen Verständ-
nis aller Kulturpolitiker der Fraktionen in diesem Haus,
die einfachste. Wegen der begrenzten Redezeit und der
Ermahnung des Präsidenten, uns an dem Wettbewerb um
deren Überschreitung möglichst nicht zu beteiligen,
schenke ich mir die Begründung. Wir alle sind davon

überzeugt, dass der Kulturstaat Deutschland auch und ge-
rade in der Hauptstadt erkennbar sein muss.

Bei der Beantwortung der Frage, wofür diese Haupt-
stadtförderung stattfindet, müssen wir in aller Ruhe, aber
auch sorgfältig darüber nachdenken, welche Adressaten
denn geeignet sind und richtiger- und notwendigerweise
eine solche Kulturförderung bekommen sollten.

Bei der Beantwortung der Frage nach dem „Wie viel?“,
also nach der richtigen Dotierung, werden wir uns sofort
mindestens darauf verständigen können, dass, gemessen
an den begründeten Ansprüchen, immer zu wenig zur Ver-
fügung steht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wohl wahr!)


Weil dies aber so ist, will ich auch hinzufügen, dass es
durchaus begründete Zweifel daran gibt, ob in der Ver-
gangenheit alle Bundesmittel immer genau da angekom-
men sind, wo sie Kunst und Kultur in der Hauptstadt för-
dern sollten.

Haushaltsrechtlich wie kulturpolitisch reicht es nicht
aus, den Nachweis zu führen, dass die Fördermittel des
Bundes in Berlin restlos ausgegeben worden sind. Ein
bisschen mehr würden wir nicht nur gerne wissen, son-
dern vor allen Dingen sichergestellt haben. Wir brauchen
Transparenz und Plausibilität, nicht nur im Verhältnis des
Bundes zu Berlin, sondern auch im Verhältnis zu den an-
deren Ländern und zu den kulturpolitisch engagierten
Kommunen, die wir in Deutschland Gott sei Dank haben.

Für die Union ist eine überzeugende Hauptstadtkultur-
förderung wie übrigens auch eine Fortführung der Förde-
rung für die Bundesstadt Bonn unverzichtbar. Indem ich
das eine wie das andere anspreche, mache ich zugleich
deutlich: Für uns kommt eine Reduzierung der Kulturför-
derung des Bundes auf Hauptstadtförderung selbstver-
ständlich nicht in Betracht. Wir sind uns darüber einig,
dass die Kriterien einer solchen Förderung sein müssen:
die künstlerische und kulturpolitische Bedeutung und die
nationale und internationale Relevanz. Glücklicherweise
gibt es nicht nur in Berlin Kultureinrichtungen von natio-
naler und internationaler Bedeutung. Und nebenbei: Nicht
jede Berliner Kulturinstitution hat nationale und interna-
tionale Bedeutung.


(Beifall des Abg. Dr. Heinrich Fink [PDS])

Das Selbstbewusstsein der Berliner Intendanten hat zwei-
fellos Weltniveau, der Leistungsstand der von ihnen ge-
führten Opernhäuser und Theater nicht immer. Die Eitel-
keit der Betroffenen kann aber nicht Förderkriterium sein.

Die letzte Runde der öffentlichen Diskussion, die sich
ja auch in vielen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschrif-
ten, die sich erfreulicherweise an dieser Diskussion betei-
ligen, niedergeschlagen hat, hat bei mir gelegentlich den
Eindruck erzeugt, als sei Berlin die Übernahme jeder Ein-
richtung durch den Bund recht, wenn der Bund nur deren
Kosten übernimmt, während umgekehrt der Bund solche
Berliner Kultureinrichtungen für besonders geeignet für
die Bundesförderung hält, bei denen viel Glanz und we-
nig Ärger zu erwarten ist. Ich will ganz deutlich sagen:
Beides genügt den Ansprüchen an ein überzeugendes




Dr. Norbert Lammert
9618


(C)



(D)



(A)



(B)


Förderkonzept nicht. Eine Spur anspruchsvoller darf es
schon sein.

Wir, die CDU/CSU, sind aufgeschlossen für die beab-
sichtigte Änderung der Fördersystematik. Es gibt in der
Tat gute Gründe für die institutionelle Förderung anstelle
der bisherigen Töpfchenwirtschaft. Dagegen ist die bisher
vorliegende Liste dringend diskussionsbedürftig.

Ich halte es beispielsweise für ausgeschlossen, dass bei
den Berliner Festspielen mit der Nachfolge eines unge-
wöhnlich verdienstvollen Intendanten, der hoffentlich ei-
nen ähnlich überzeugenden Nachfolger findet, alles so
bleibt wie bisher und man im Übrigen tut, als habe sich
die Geschäftsgrundlage nicht wirklich fundamental ver-
ändert.

Ich halte es für dringend diskussionsbedürftig, ob es
wirklich plausibel ist, dass der Bund in die Förderung des
Jüdischen Museums – das als Berliner Stadtmuseum ge-
plant war – institutionell einsteigt, während er für die
„Topographie des Terrors“ eine ähnliche Verantwortung
ablehnt. Wenn überhaupt, wäre die umgekehrte Entschei-
dung allemal eher plausibel.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist sehr wohl wahr!)


Aus unserer Sicht ist der Zusammenhang zu wahren bzw.
herzustellen zwischen der Dokumentation des jüdischen
Lebens in Deutschland und in Berlin, der „Topographie
des Terrors“ als der „nationalen Endlösung der Ju-
denfrage“ und dem Holocaust-Museum, also dem Mahn-
mal für die ermordeten Juden Europas, wobei diese drei
Einrichtungen im Übrigen, wie es ein guter Zufall fügt,
auch städtebaulich auf einer Achse liegen.

Was das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt bzw. die
Berliner Philharmoniker angeht, so ist es nicht plausi-
bel, dass sich der Bund massiv direkt und indirekt in die
Förderung der Berliner Orchesterszene einschalten will,
aber jegliche Verantwortung für Musiktheater wie
Sprechtheater kategorisch ablehnt. Da ist das Interesse am
Glanz und dem Vermeiden von Risiken offenkundig aus-
geprägter als die Konsistenz eines nur schwer erkennba-
ren Konzeptes.

Aus unserer Sicht, meine Damen und Herren, liegen
vier Säulen einer Hauptstadtkulturförderung nahe, über
die wir in den nächsten Wochen weiter sprechen wollen:
erstens – das versteht sich fast von selbst – nationale Ge-
denkstätten und zweitens die Stiftung Preußischer Kultur-
besitz. Letztere ist als Institution Gott sei Dank unstreitig,
wenngleich ich ein Nachdenken darüber nicht nur für er-
laubt, sondern für überfällig halte, ob nicht eine Neuord-
nung der Bund-Länder-Beteiligung bei der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz auch eine überzeugendere Do-
kumentation unseres Verständnisses von nationalem Erbe
und der Pflege und Förderung von Kunst und Kultur in
Deutschland unter den Bedingungen des Kulturfördera-
lismus sein könnte.


(Jörg Tauss [SPD]: Bayern zahlt weniger als andere!)


– Ein großes Thema, Herr Tauss, das uns sicher gemein-
sam beschäftigen wird.

Wir müssen als dritte Säule solche Solitärinstitutionen
fördern, die es in Berlin, aber anderswo nicht gibt und die
sich schon deswegen zur Förderung anbieten. Schließlich
brauchen wir ganz gewiss einen Hauptstadtkulturfonds,
der neben Institutionen herausragende Projekte fördern
kann und der anders aussehen muss, als das beim bisheri-
gen Hauptstadtkulturfonds der Fall war.

Meine Damen und Herren, wir begleiten die Verhand-
lungen zwischen Bundesregierung und Berliner Senat mit
kritischer Sympathie. Wir werden allerdings darauf ach-
ten, dass am Ende ein Ergebnis erzielt wird, das nicht nur
den Haushaltserfordernissen des Jahres 2001, sondern
auch den genannten Ansprüchen an eine Haupt-
stadtkulturförderung, die diesen Namen wirklich ver-
dient, gerecht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich Fink [PDS])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410226200
Für die
Bundesregierung hat Staatsminister Dr. Michael
Naumann das Wort.

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410226300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es
ist keineswegs gespenstisch, sondern wirklich der Sache
geschuldet, dass ich jedes Mal, wenn Herr
Lammert spricht, das Gefühl habe, dass er Recht hat. Wir
mögen uns über einige Dinge streiten, aber er hat Recht.
Wird das aber auch von Ihren Parteifreunden in dieser
Stadt gehört? Wir werden es gleich vernehmen. Aller-
dings ist es kein Parteifreund, der das Wort ergreifen wird,
sondern ein unabhängiger, kulturpolitisch engagierter
Kopf.

Gestern durften Christoph Stölzl, der neue Berliner
Kultursenator, und ich dem Kulturausschuss des Deut-
schen Bundestages unsere verschiedenen Ansichten über
die zukünftige Kulturförderung der Hauptstadt Berlin
durch den Bund vortragen. Das Ziel der Veranstaltung –
so durfte ich der Vorausberichterstattung entnehmen – sei
es, Harmonie und Einvernehmen, also jene Form des
Glücks zwischen Bund und Land herzustellen, die nicht
unbedingt das Merkmal der bisherigen öffentlichen kul-
turpolitischen Diskussion war.

Trotz der angestrengten therapeutischen Bemühungen
der Vorsitzenden des Kulturausschusses, die allerdings
am Ende der Sitzung unter gewisse Redaktionsschluss-
terminzwänge zu geraten schien – man kennt das aus den
Woody-Allen-Filmen, bei denen der Therapeut immer öf-
ter auf die Uhr schaut, während der Patient auf der Couch
gerne weiterreden möchte –,


(Heiterkeit bei der SPD)

ließ sich der harmonische Dauerton, der ihr vorgeschwebt
haben mag, beim genauen Hinhören nicht vernehmen.


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: Eine Frage der Wahrnehmung!)


Was Wunder? Die Fragmente der Berliner Kultur-
haushaltspolitik fügen sich nicht automatisch zu einem




Dr. Norbert Lammert

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(D)



(A)



(B)


hübschen Bild zusammen, nur weil man eine Pressekon-
ferenz anberaumt hat. Die Verhältnisse sind anders. Sie
sind – so der von mir sehr geschätzte Kollege Stölzl aus
bayerisch-liberaler Perspektive – preußischen Ursprungs.
Doch wer Preußens Geschichte und die Geschichte seines
Herrscherhauses kennt und schätzt, wird neben allerlei
aufgeklärtem Absolutismus, großer ethischer, architekto-
nischer, rechtsphilosophischer und ästhetischer Anstren-
gungen im politischen Raum und ihrer hegelianischen
Überhöhungen in der Idee des sich selbst als Vollendung
der Geschichte wissenden Staates einige ausgeprägte
Spuren von Wahnsinn entdecken. Auch diese Spuren sind
nicht völlig getilgt.

In Christoph Stölzls Darlegungen war viel von preußi-
schem Erbe und davon die Rede, dass dieses reiche, aber
auch teure kulturelle Vermächtnis der Stadt Berlin von na-
tionaler Bedeutung sei. Wer will das bestreiten, Herr
Lammert? Doch selbst dann, wenn wir dem Rat der Aus-
schussvorsitzenden folgend auf eine juristische Definition
dessen stoßen sollten, was nationale Bedeutung in der
Kultur heißen mag – wir sind also wieder bei Hegel, der
übrigens nicht weit von hier seine Vorlesungen hielt und
von dem die wenigsten wissen, dass er dabei sehr viel
Schnupftabak genoss, der mit etwa 20 Prozent Cannabis
versetzt war –, wüssten wir nicht, was diese nationale Be-
deutung den deutschen Steuerzahler in den nächsten Jah-
ren kosten darf, geschweige denn in 50 Jahren.


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Das ist ein Schwabe.

Ein in und um Berlin herum, aber sonst nicht bekann-
ter Lokalpolitiker hat kürzlich wieder dargelegt, dass er
sich ungern von „Bundesschlaumeiern“ in die unterfinan-
zierte Kulturpolitik seiner Stadt hineinreden lasse, zumal
dann nicht, wenn der Bund – so sagt er – lediglich
100 Millionen DM per annum zur Verfügung stelle. Ich
finde, das ist ganz schön viel Geld.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] sowie der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Einige Berliner Abgeordnete mögen das auch so sehen.
Aber – Herr Lammert hat das gerade richtig erklärt – die
Fakten sind ganz anders: Der Bund überweist in diesem
Jahr 474 Millionen DM in die Haushalte von Berliner
Kulturinstitutionen.


(Beifall bei der SPD)

Mit den Worten des erstaunten Herrn Lammert während
der Kulturausschusssitzung ausgedrückt heißt das: eine
schlappe halbe Milliarde Mark. Das sind übrigens
126 Millionen DM mehr als im Jahr 1998.


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: So ist es!)

In der Zunahme der Berliner Kulturförderung manifes-

tiert sich auch die kulturpolitische Verantwortung dieser
Regierung gegenüber der Hauptstadt. Es wäre angesichts
seiner darbenden kulturellen Institutionen nur schön zu
beobachten, wenn – bei allen Vorbehalten, die Sie, Herr
Lammert, gemacht haben – ein ähnliches zunehmendes fi-

nanzielles Verantwortungsgefühl des Berliner Senats zu
spüren wäre.

Tatsächlich hat Berlin ein großes Erbe aus preußischer
Zeit angetreten, dessen Pflege nicht allein dem Land auf-
erlegt werden kann. Der Bund hat dem längst Rechnung
getragen. Er finanziert den größten Komplex in der kultu-
rellen Landschaft dieser Stadt, die Stiftung Preußischer
Kulturbesitz, zu 75 Prozent. Wir helfen Berlin bei der Er-
füllung seiner Verpflichtungen auch dadurch, dass wir uns
bereit erklärt haben, die in Brüssel zu akquirierenden
EFRE-Mittel in Höhe von 25 Millionen DM als genuinen
Anteil Berlins an der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
anzuerkennen. Das ist etwas, das – da bin ich bei aller
haushaltspolitischen Vorsicht ganz sicher – der Vorgänger
von Hans Eichel nicht gemacht hätte.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was den angeht, sind wir einer Meinung! – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Herr Lafontaine sowieso nicht! – Dr. Elke Leonhard [SPD]: Jetzt ist aber Schluss mit der Opposition! – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das kommt alles ins Protokoll!)


– Genau, aber gehen wir noch einen Schritt weiter zurück:
Da haben wir beide Recht.

Auch bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten
ist der Bund der größte Geldgeber. Dem muss freilich
auch die Bereitschaft Berlins entsprechen, seinen eigenen
Verpflichtungen in gemeinsam getragenen Institutionen
verlässlich nachzukommen.

Es gibt in Berlin aber über diejenigen Preußens hinaus
noch weitere Erbschaften, vor allem diejenigen, die uns
die DDR hinterlassen hat. Vor zehn Jahren sind hier zwei
Hauptstädte verschmolzen. Einen Masterplan über die
zukünftige finanzielle Ausstattung, eine Art kulturpoliti-
sche Architektur, in der haushaltspolitische Stabilität, pro-
grammatische Abstimmungen oder gar institutionelle
Verschmelzungen zum planerischen Vorteil aller Beteilig-
ten vorgelegt worden wären, hat es nicht gegeben. Den
gab und gibt es nicht.

Die Vorgängerin von Christoph Stölzl, Frau Christa
Thoben, warf einen kurzen Blick in die Kulturverwaltung –
oder besser: in die Abgründe der Kulturverwaltung – die-
ser Hauptstadt und wandte sich mit Grausen ab. Christoph
Stölzl hat die Rolle des Sisyphus übernommen. Und doch
sollen wir uns vorstellen, dass er ein glücklicher Mensch
sei. Im nächsten Haushaltsjahr fehlen ihm 29 Millionen
DM. Das steht fest.

Dass in der Zwischenzeit die Verhandlungen des Bun-
des mit der Stadt Berlin ein wenig ins Stocken geraten
sind, wird er uns nicht anlasten wollen. Der Stein, den er
nach oben wuchten sollte, ist nach Frau Thobens Abgang –
und nicht durch unser Verschulden – wieder in die Tal-
sohle der Berliner Haushaltspolitik zurückgerollt. Packen
wir es also noch einmal an.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meinen Vorschlag, eine noch genau zu verabredende

Zahl von Berliner Institutionen vollständig in Bundes-
finanzierung zu übernehmen, möchte ich so verstanden
wissen: Wir sind bereit, die Hauptlast der Finanzierung




Staatsminister Dr. Michael Naumann
9620


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(D)



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(B)


dieser Institutionen zu tragen, eben weil wir ihre überre-
gionale Bedeutung anerkennen, so zum Beispiel das Jüdi-
sche Museum, das geplant und gebaut wurde, an dessen
Betriebskosten man aber einfach nicht gedacht hat – man
hat übrigens dieses riesige Haus unter der Bedingung ge-
baut, dass 300 Menschen pro Tag kämen, also die Klima-
anlage und übrigens auch die sanitären Anlagen verges-
sen, was zu Nachbesserungskosten mal eben in Höhe von
9 Millionen DM führte –, die Festspiele, den Gropiusbau,
das Haus der Kulturen der Welt.

Auch das Berliner Philharmonische Orchester, ein be-
sonderer Glanzpunkt der Hauptstadtkultur, aber mit ei-
nem jährlichen Zuschussbedarf in Höhe von 24 Millionen
DM auch ein besonders teurer Glanzpunkt, könnte unter
bundesfinanzierter Obhut weiter musizieren. Dem Orche-
stervorstand und dem designierten Dirigenten Sir Simon
Rattle wäre das nur recht. Ebenso wenig wie die Landes-
regierung würde sich der Bund anmaßen, den Künstlern
die Noten aufs Pult zu legen. Art. 5 des Grundgesetzes gilt
unabhängig von Haushalts- und Kulturhoheitsfragen.

Um Christoph Stölzl zu zitieren: „Das Orchester musi-
ziert ja weiter in Berlin“ – wie auch die Museumsinsel im
Herzen dieser Stadt erneuert wird und die Festspiele, um
die es auch geht, die Berliner Festspiele bleiben werden.

Der Bund ist bereit, die Hauptstadt bei der Wahrneh-
mung ihrer kulturellen repräsentativen Pflichten zu unter-
stützen. Aber was in der Kultur repräsentativ ist, bestim-
men in letzter Instanz nicht die Haushaltspolitiker, son-
dern die Autoren und Künstler, die Komponisten und
Regisseure, die Intendanten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In ihrer Arbeit spiegelt sich nicht nur die Selbstinterpreta-
tion unserer Gesellschaft wider, ihre Fantasie, auch ihr
Trostbedarf, ihre Innovationskraft, sondern auch die Auf-
forderung zur Toleranz. Sie benötigt ein politisches Klima
der Zuneigung, nicht ein Klima der verbissen geleisteten
Subventionen.

Politiker haben in Berlins Theatern, obwohl man das
manchmal zu glauben scheint, kein Hausverbot, selbst
wenn sie wie der Regierende Bürgermeister der Meinung
sind, man müsse endlich damit aufhören, „abgetanzte und
abgelatschte Künstler durchzufüttern“.


(Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich! Herr Diepgen pur!)


Derlei Sprache aus dem Bauch der Kulturfeindlichkeit
richtet sich selbst.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Berlins größte Schätze sind die Museen, die Univer-
sitäten, der freie Geist der Forschung und der Künste. Sie,
nicht die Politik als solche, sind das Signum einer Haupt-
stadt. Sie bedürfen der kontinuierlichen Pflege aller, die
sich für das politische Klima des Landes verantwortlich
fühlen. Sich dabei einerseits auf den Bund zu verlassen
und andererseits gleichzeitig mit dem Lokalpatriotismus
von Kuhschnappel allerlei parteipolitische Büffelpossen

aufzuführen, verträgt sich nicht mit dem Auftrag, Bun-
deshauptstadt zu sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kürzlich ist hier in Berlin eine Finanzsenatorin ausge-
schieden, die sich der Politik der kontinuierlichen haus-
haltspolitischen Schildastreiche widersetzt hatte. Als sie
ihren ersten Sanierungsplan vorlegte, fuhr ihr ein hierzu-
lande, aber sonst nicht weiter bekannter Politiker in die
Parade. Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“ – nicht
widerlegt –:

Was soll der ganze Unsinn, was sollen wir hier müh-
sam konsolidieren? Wenn die Arbeitslosen erst auf
den Stufen des Reichstages liegen, wird der Bund uns
die Milliarden schon rüberkippen.

So ging das zu in Berlin. Aber so geht es nicht weiter.
Wenn rechtzeitig Geld in die maroden Theaterbauten

im Ostteil der Stadt investiert worden wäre, dann sähe die
Situation heute anders aus. Ich wiederhole: Ein struktur-
erhaltendes Konzept für die Kultur hätte Berlin bereits in
den glücklichen Stunden der Wiedervereinigung vor ei-
nem Jahrzehnt gut getan. Und das betrifft beide Parteien,
die hier regieren.

Nun stehen wir vor den bröckelnden Fassaden und der
veralteten Bühnentechnik und nur noch Notmaßnahmen
können so manches kulturelle Erbstück vor dem endgül-
tigen Verfall retten. Das Einzige, was in Berlin immer
noch wie geschmiert funktioniert, sind die Drehbühnen
der Berliner classe politique.

Der Antrag der CDU/CSU wird in die Ausschüsse
überwiesen werden. Zum Teil haben wir die dort aufge-
führten Forderungen erfüllt, ich habe es eben erläutert.
Über anderes kann man sehr gut streiten.

Wir sind hier nicht auf der Titanic. Die Berliner Kultur
wird nicht untergehen, aber – um im Bilde zu bleiben –
wir können auch keine Kollisionen mit Eisbergen gebrau-
chen, deren Tücke, wie man weiß, darin besteht, dass sie
zu sechs Siebteln unter der Wasseroberfläche verborgen
sind.

Christoph Stölzl, so höre ich, nimmt die Akten seiner
Behörde mit ins Bett, wo sie ihm den Schlaf rauben. Dass
er gleichwohl immer noch der aufgeweckte, offene Kul-
turpolitiker bleibt, als der er auch mir bekannt und von mir
geschätzt ist, bleibt meine ehrliche Hoffnung. Ich wün-
sche ihm die Autonomie, die ein Kennzeichen des kriti-
schen Geistes ist.

Parteipolitische Solidarität in der Auseinandersetzung
mit den Herren des Berliner Haushalts ist ein Tugend,
aber sie greift erst dann, wenn er selbst die Solidarität je-
ner erfahren hat, die ihn berufen haben. In der Zwi-
schenzeit will ich gerne mit ihm die Sorge tragen und tei-
len, dass Berlins Kultur in geistiger und finanzieller Un-
abhängigkeit das leisten kann, was ihre Aufgabe ist:
Ausgänge zu öffnen aus der öden Welt des Alltags und
auch aus der öden Welt der Finanzierungsdebatten in die
Welt der Künste, die immer noch der Ursprung von




Staatsminister Dr. Michael Naumann

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gesellschaftlichem Glück sein kann, wenn man es nur su-
chen will.

Aber ich möchte mir Christoph Stölzl weiterhin als
glücklichen Menschen vorstellen, wenn auch als Sisy-
phus.

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410226400
Als
nächste Rednerin hat Kollegin Franziska Eichstädt-
Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Herr Lammert, Ihr Antrag ist mir und, ich glaube,
auch anderen Kolleginnen und Kollegen sehr sympa-
thisch. Ich empfinde ihn in gewissem Sinne als eine Art
Lobantrag für unsere Koalition und insbesondere für
Staatsminister Naumann.


(Norbert Hauser ben wir gerade gehört!)


Ich möchte Ihnen drei Aspekte nennen, wo mir der An-
trag besonders nahe ist. Der erste Aspekt ist: Der Antrag
stellt dar, was Rot-Grün Schritt für Schritt inhaltlich und
konzeptionell längst erarbeitet. Wir haben es eben gehört.

Der zweite Aspekt – und das ist sehr wichtig – ist: Kul-
tur braucht ein besonders hohes Maß an politischem Kon-
sens. Ihr Antrag zeigt, dass in unserem Hause die Bereit-
schaft dazu besteht. Das finde ich sehr gut. Ich habe den
Eindruck, dass Koalition und Opposition auf Bundes-
ebene hinsichtlich der Politikkultur, die gerade für die
Kulturförderung notwendig ist, deutlich weiter sind als in
der Beziehung zwischen Bund und Berlin. Wir haben es
eben schon von mehreren Seiten gehört. Ich kann das nur
bestätigen. Hier hapert es insbesondere von Berliner Seite
mächtig.

Der dritte Aspekt ist: Es ist wichtig, dass wir uns auf
ein gemeinsames Leitbild verständigen. Ich habe Ihren
Antrag und all das, was Minister Naumann bisher getan
und gesagt hat, so verstanden, dass wir gemeinsam das
Ziel haben, Berlin als neu belebte Hauptstadt mit einer be-
sonderen kulturellen Ausstrahlung zu erhalten, zu gewin-
nen und weiterzuentwickeln. Das ist eine Aufgabe, die
über das bisherige Denken in der föderalen Kulturhoheit
ein deutliches Stück hinausgeht. Offenbar sind aber alle
bereit, diese Besonderheit positiv zu transportieren. Das
ist sehr wichtig.

Ich möchte noch einen vierten Punkt erwähnen, weil er
sonst heute nicht erwähnt wird. Ich finde das, was Sie als
Hinweis in Richtung Engagement für Bonn gesagt haben,
richtig und wichtig. Ich möchte nicht, dass es in Berlin so
ist, wie es in Bonn teilweise war. Man denkt immer, der
andere Ort ist so unendlich weit weg, sodass man sich da-
rüber keine Gedanken mehr machen müsste. Das sollten
wir nicht vergessen.

Es ist schon gesagt worden, wie reichhaltig das Berli-
ner Kulturangebot ist. Ich möchte noch einmal einige
Stichpunkte, die gleichzeitig politische Stichpunkte sind,
nennen: Der preußische Kulturbesitz, das reiche Erbe der
beiden konkurrierenden Teile Berlins – Hauptstadt der
DDR auf der einen Seite und Schaufenster des Westens
auf der anderen Seite –, die besonderen Gedenkstätten,
mit denen wir die Erinnerung an den Faschismus wach
halten wollen, und die Mahnung an die Verantwortung,
die daraus für uns und folgende Generationen folgt, dann
die Orte und Gedenkstätten, die diese Stadt als Vorposten
des Stalinismus und des real existierenden Sozialismus
geerbt hat – wir müssen darüber sehr ernst nachdenken,
wie sie in der Pflege stabilisiert werden können – und last,
not least – zunächst alles sehr widersprüchlich und un-
vermittelt nebeneinander stehend – der vielfältige, krea-
tive Gärteich, der als Nahtstelle zwischen Ost und West
teils vor der Wende, aber auch nach der Wende recht üp-
pig gediehen ist, von dem wir alle kulturell zehren, auch
die klassische Kultur der berühmten Leuchttürme.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mein Eindruck ist, dass das Land Berlin politisch noch
nicht begriffen hat, dass es mit der Hauptstadtwerdung
eine Doppelfunktion übernommen hat, dass Berlin ei-
nerseits als Stadt, aber in Zukunft gleichzeitig als Haupt-
stadt auch der gesamten Nation verpflichtet ist. Diese
Doppelfunktion wird bisher von Berliner Seite mit einem
verklemmten Misstrauen behandelt, während es sehr
wichtig ist, dass sie konstruktiv und partnerschaftlich de-
finiert wird. Das ist die Voraussetzung dafür, dass das bis-
herige Spiel „Gebt uns Geld und mischt euch nicht ein“
endlich durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit
beendet wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der F.D.P. und der PDS)


Ich glaube, dass von allen Seiten des Bundestages, aber
auch vonseiten der Regierung das Angebot zu einem kon-
struktiven Dialog besteht. Ich muss aber sagen: Bevor wir
das stabilisieren können, muss man das Land Berlin deut-
lich kritisieren. Meiner Meinung nach ist Berlin bisher
schlicht nicht hauptstadtfähig, weil es nicht bereit ist, auf
diese Doppelfunktion, die ich versucht habe zu skizzieren –
sie soll letztlich zur Symbiose werden, wenn wir das Bei-
spiel anderer Hauptstädte und Metropolen nehmen – po-
sitiv zuzugehen.

Ich muss mich schon wundern, wie stümperhaft und
mit welcher Ignoranz die Regierung des Landes Berlin
nicht nur zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode, son-
dern auch in den letzten fünf Jahren gearbeitet hat. So-
lange wie ich Mitglied des Bundestags bin und miterlebe,
wie in Berlin Politik gemacht wird, so lange benehmen
sich der Regierende Bürgermeister und sein damaliger
Kultursenator politisch wie ein Elefant im Porzellanladen,
insbesondere im Kulturbereich – das finde ich skanda-
lös –, leider mit Duldung des Koalitionspartners.

Ich halte es für ein zentrales Problem, wenn der Regie-
rende Bürgermeister der Metropole Berlin die Übernahme
von persönlicher Verantwortung für politisch bedeutsame




Staatsminister Dr. Michael Naumann
9622


(C)



(D)



(A)



(B)


Gedenkstätten verweigert und sich dieses „Heldenmuts“
nicht nur an Zehlendorfer Stammtischen rühmt. Es darf
nicht sein, dass in dieser Stadt auf diese Art und Weise ein
wichtiger Teil unserer politischen und kulturellen Ge-
schichte und unseres kulturellen Gedenkens an diese Ge-
schichte ignoriert werden.

Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen.
Die längst überfälligen Reformen in den großen Häusern,
um die es bei der Debatte über die Übernahme von Bun-
desverantwortung geht, sind seit Jahren verschleppt und
verweigert worden.

Last, not least: Dem Bund gegenüber tritt man – ich
muss sagen: trat man; jetzt hat sich das schrittweise geän-
dert; ich hoffe, dass sich das Verhalten noch weiter ändern
wird – bisher nach Gutsherrenart auf, und zwar nach dem
Motto – ich habe es vorhin schon erwähnt –: Rückt mehr
Geld heraus, aber mischt euch nicht ein; es geht euch
nichts an, was wir hier machen! Ich halte es auch für ei-
nen Skandal, dass eine Abrechnung der bisher gewährten
Kulturfördermittel nicht vorgelegt werden kann, weil ein
heilloses Kuddelmuddel herrscht. So darf es wirklich
nicht sein.

Frau Thoben – Herr Minister Naumann hat vorhin
schon darauf hingewiesen – stand sozusagen zwischen
Baum und Borke. Sie sollte auf der einen Seite die Koh-
len aus dem Feuer holen, aber auf der anderen Seite
gleichzeitig gewährleisten, dass sich nichts Grundlegen-
des in Berlin ändert. Ich möchte von dieser Stelle aus
Christa Thoben meine Hochachtung und meine volle
Sympathie dafür aussprechen, dass sie nicht bereit war,
das gewünschte Durchlavieren und Vertuschen mitzutra-
gen, sondern dass sie stattdessen der persönlichen Glaub-
würdigkeit den Vorrang gegeben hat. Ich finde, dies war
ein sehr honoriger Schritt von Christa Thoben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich wünsche Ihnen, Herr Stölzl, dass Sie den Weg und
die Kraft finden werden, um die unabdingbar notwendi-
gen und sicherlich auch schmerzhaften Reformschritte –
ich weiß nicht, ob ich sagen soll: mit, ohne oder gegen die
Regierung des Landes Berlin, der Sie nun angehören –
wenigstens teilweise einzuleiten. Wie das praktisch mög-
lich sein soll, weiß ich selber noch nicht. Ich wünsche
Ihnen vor allem, dass es Ihnen gelingen wird, die
misstrauische Verklemmtheit, die bisher Berlin dem Bund
gegenüber immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, ins-
besondere auch in der berühmten Sondersitzung, in der es
um den Rücktritt von Christa Thoben ging, schrittweise
abzubauen. Die Mitglieder des Bundestages sind sicher-
lich bereit, mit Ihnen insoweit zusammenzuarbeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu unserer Kul-
turförderung sagen – ich sehe es ähnlich wie Herr
Lammert –: Auch ich halte die Grundkonzeption für gut,
80 Millionen DM für eine Art – ich verwende dieses Bild
ebenfalls – Leuchtturmförderung mit klaren Zuständig-
keiten und 20 Millionen DM – davon verspreche ich mir
sehr viel; ich hoffe, dass ab 2001 auch wirklich 20 Milli-

onen DM zur Verfügung stehen werden – für den Haupt-
stadtkulturfonds, für innovative und kreative Projekte
aufzuwenden. Das ist im Grundsatz eine sehr gute Eintei-
lung. Ich wünsche mir allerdings eine nochmalige Dis-
kussion über die einzelnen Institutionen.

Ich muss gestehen, dass ich selber teilweise hin- und
hergerissen bin. Auf der einen Seite finde ich es sehr gut,
wenn das Jüdische Museum in die bundespolitische
Kompetenz fällt, obwohl ich sehr genau weiß – ich war
seinerzeit Baudezernentin in Kreuzberg und habe das Pro-
jekt selbst mit auf den Weg gebracht –, dass dieses Mu-
seum eigentlich als eine Dependance des Berliner Stadt-
museums, also ursprünglich als eine Art Heimatmuseum
kreiert war. Ich gestehe: Ich habe selbst dazu beigetragen,
dass Berlin dieses Kuckucksei ins Nest gelegt worden ist.
Dazu stehe ich auch bis heute. Insofern wünsche ich mir,
dass es jetzt durchaus eine Bundesinstitution wird. Auf der
anderen Seite geht es mir mit der „Topographie des Ter-
rors“ so ähnlich wie Ihnen. Ich glaube, dass das der zen-
trale politische Ort ist, der letztlich über Berlin hinausge-
hende gesamtdeutsche Verantwortung repräsentiert.

Ich halte es für falsch, zwei Konzerthäuser und damit
zwei Orchester zu übernehmen. In diesem Punkt muss in
jedem Fall eine Entscheidung in die eine oder in die an-
dere Richtung getroffen werden. Ich will mich im Einzel-
nen nicht festlegen; das steht mir auch nicht zu. Ich wün-
sche mir schon ein echtes Theater – eigentlich kann es nur
das Deutsche Theater sein – in dem Paket, für das der
Bund Verantwortung übernimmt.

Wahrscheinlich geht es allen so: Die Diskussion bein-
haltet ein Stück Spaltung zwischen dem, was man sich
wünscht, und dem, was letztlich realisiert werden kann.
Last, not least ist es natürlich schon nötig, die Zuständig-
keiten so zu definieren, dass zwischen Berlin und dem
Bund auf der Grundlage klarer Vereinbarungen wirklich
agiert werden kann.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410226500
Frau Kol-
legin, Sie müssen zum Schluss kommen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Als Letztes möchte ich nur noch sagen, dass wir an
Berlin sehr klare Anforderungen stellen – ich hoffe, dass
uns das allen gemeinsam so geht –: partnerschaftliches
Zugehen auf den Bund, klare Vereinbarungen über
Zuständigkeiten, Schluss mit der Gießkannenförderung,
klare Reformen und Kosteneinsparungen, klare Mitver-
antwortung bei den Gedenkstätten. So wird von dieser
Seite Schritt für Schritt ein inhaltlich sinnvolles Konzept
über kurz oder lang vereinbart werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410226600
Als nächs-
tem Redner gebe ich dem Kollegen Dr. Günter Rexrodt
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.




Franziska Eichstädt-Bohlig

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(D)



(A)



(B)



Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1410226700
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Zahl und die Qualität der hier
vorhandenen Kulturgüter sowie die Fülle der kulturellen
Ereignisse in Berlin stellen die Stadt ohne jeden Zweifel
in die erste Reihe der Kulturmetropolen in dieser Welt. Da
das so ist, sind die Themen Kulturförderung und Kultur-
arbeit in der Tat nicht nur ein regionales Ereignis, sondern
auch etwas, womit wir uns zu befassen haben.

Bevor ich etwas mehr dazu sage, möchte ich eine Be-
merkung zur Qualität der Kulturlandschaft in Berlin
machen. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, die
gegenwärtige Schwächephase der Berliner Kultur, die
schon Jahre andauert, in irgendeiner Weise zu kaschieren.
Ich schließe mich aber nicht dem gängigen und auch hier
immer wieder durchscheinenden Klischee an, dass die
Berliner ihre Kulturarbeit in den letzten 40 oder 50 Jahren
so schlecht gemacht haben – im Gegenteil.

Dass das nicht wahr ist, gilt aus meiner Sicht sogar für
den Ostteil der Stadt. Unter schwierigen und komplizier-
ten Umständen sind dort ganz erhebliche und bleibende
Kulturleistungen erbracht worden. Was uns überliefert
worden ist, ist allerdings eine total verrottete Substanz
vieler Einrichtungen, insbesondere der Museen. Diese
Mängel zu beheben kostet enorm viel Geld. Ich glaube,
dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz bei der Zusam-
menführung der beiden Teile der Stiftung und auch bei der
Arbeit an der äußeren Rekonstruktion Hervorragendes
geleistet hat.

Ich glaube auch, dass im Westteil der Stadt nach dem
Kriege alles in allem – das hat nichts mit der gegenwärti-
gen Schwächephase zu tun – hervorragende Kulturarbeit –
im Theater, in der Musik, in der darstellenden Kunst – ge-
leistet worden ist. Dasselbe gilt für die Museen in der Off-
Szene, die es eigentlich nur in wenigen Städten und an ers-
ter Stelle immer in Berlin gegeben hat. Dort ist eine le-
bendige Landschaft mit Ausstrahlung entstanden. Dies ist
im Ostteil und im Westteil natürlich mit viel Geld gesche-
hen; das ist auch heute noch so. Insgesamt kann sich diese
Stadt und dieses Land Berlin mit seiner Kulturarbeit se-
hen lassen.

Mit der Wiedervereinigung sind in Berlin enorme Pro-
bleme entstanden. Es handelt sich um Probleme in Berei-
chen, die die Masse der Menschen unmittelbar angehen:
der Arbeitsmarkt, der Sozialbereich, die Infrastruktur der
Berliner Haushalte. Ich habe auf diesem Gebiet Erfah-
rung; ich selbst war im früheren Westberlin vier Jahre lang
politisch verantwortlich. Der Haushalt war überlastet und
es war in vielen Bereichen, auch in der Kultur, nicht mehr
alles Wünschenswerte finanzierbar.

Das hat krisenhafte Entwicklungen mit sich gebracht,
auch in der Qualität der Kulturarbeit. Hier ist Kritik am
Berliner Senat angebracht und es ist die Frage zu stellen,
warum viele Berliner Kultureinrichtungen enorme Perso-
nalkörper mit sich herumschleppen, Entlassungen gar
nicht möglich waren, obwohl keine Arbeit mehr da war.
„Betriebsbedingte Kündigungen“ sind hier ein Stichwort,
bei dem alles aufschreit. Dabei sind sie in einer ganzen
Reihe von Einrichtungen, die ich Ihnen auch nennen
könnte, dringend erforderlich.

Der Berliner Senat muss sich auch gefallen lassen, dass
man ihm die Frage stellt, ob das Geld, das er da ausgibt,
sein eigenes und das, das er bekommt – 470Millionen DM
vom Bund –, auch wirklich dort angekommen ist, wo es
ankommen sollte. Da ist vieles in keiner guten Verfassung.

Aber, meine Damen und Herren, ich würde es mir zu
einfach machen, wenn ich fordern würde, dass der Bund
ob der tatsächlichen oder mutmaßlichen Schwächen in
der Berliner Kultur den Hahn einfach zumacht oder die
Förderung auf Sparflamme stellt. Ich glaube, das wäre
nicht richtig. Die Neuordnung des Kulturbetriebes mit der
Wiedervereinigung und die Tatsache, dass Bundesregie-
rung, Parlament und Bundesrat hier ansässig sind, bietet
ungeahnte Möglichkeiten. Wir sollten Berlin nutzen, um
den Anspruch Deutschlands als Kulturnation in aller
Welt zu vertreten.

Wir sollten da im Übrigen nicht zimperlich sein. Das
hat überhaupt nichts mit Nationalismus oder gar Chauvi-
nismus zu tun und das hat auch gar nichts damit zu tun,
dass wir – Herr Naumann und Herr Lammert, Sie haben
darüber gesprochen – die Kulturhoheit der Länder infrage
stellen. Wir sollten froh sein, dass wir eine solche
Kulturmetropole in einem Land haben, in dem es Gott
sei Dank eine breit gefächerte Kultur in allen Regionen
gibt. Wir sollten diese Möglichkeiten nutzen.

Berlin gibt 760 Millionen DM aus, der Bund zahlt da-
von allerdings 300 Millionen DM an die Stiftung, und
dann gibt es noch einmal 470 Millionen DM. Das ist ein
Betrag für einen öffentlich finanzierten Kulturhaushalt,
wie wir ihn in keiner anderen Stadt dieser Welt finden. In
keiner Stadt dieser Welt wird so viel öffentliches Geld zur
Verfügung gestellt.

Dennoch sage ich: Dieser Betrag darf trotz seiner enor-
men Dimension für uns kein Tabu sein. Aber dieser Be-
trag kann auch nicht einfach aufgestockt werden, sondern
es muss ein Konzept vorgelegt werden und dann müssen
wir darüber reden.

Ich habe viel Verständnis dafür und unterstütze es, wenn
gesagt wird, wir müssten einige Einrichtungen unmittelbar
dem Bund zuordnen. Ich glaube nicht, dass wir das hier im
Detail diskutieren können. Die nationalen Gedenkstätten
sind unstrittig. Es gehören mindestens ein Sprechtheater,
eine Oper und auch mindestens ein Orchester dazu.

Wenn ich das sage, meine ich nicht, dass Berlin, was
Kulturarbeit und Kulturverantwortlichkeit betrifft, auf
provinzielles oder regionales Niveau zurückgeführt wer-
den soll. Nein, auch Spitzeneinrichtungen müssen in der
Verantwortung vornehmlich Berlins sein. Aber, Herr
Stölzl, Berlin hat auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass
die Kulturarbeit in der Breite funktioniert, dass die Off-
Szene erhalten bleibt und auch Kiezarbeit stattfindet, dass
in der bildenden Kunst etwas nachwächst, junge Leute da
sind. Berlin hat ferner dafür zu sorgen, dass die Ausbil-
dungseinrichtungen, die es hier in Fülle gibt und die hohe
Qualität haben, ihr hohes Niveau noch weiter verbessern
können.

Meine Damen und Herren, als Letztes – der Herr Prä-
sident mahnt schon – möchte ich mir noch eines wün-
schen: Das ist die Tatsache – wir reden hier über Kultur






(C)



(D)



(A)



(B)


und Kulturförderung –, dass wir ein stärkeres privates
Engagement in der Hauptstadt brauchen. Dafür müssen
die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu bedarf
es einer bestimmten Atmosphäre. Das betrifft auch das
Stiftungsrecht. Daran arbeiten wir ja, nicht nur Sie. Das
hat gar nichts mit Parteipolitik zu tun.

Es kommt darauf an, dass das private Engagement ver-
stärkt wird. Das steht nicht in Ihrer Tradition, es steht viel-
leicht gar nicht so sehr in deutscher Tradition. Es ist den-
noch dringend erforderlich.


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das stimmt doch nicht!)


Nein, die deutsche Tradition ist darauf orientiert, dass sich
der Landesherr, der Fürst, der regional Verantwortliche,
für die Kultur verantwortlich fühlte.
Das ist in staatliche Verantwortlichkeit eingemündet. Da
tun uns Formen amerikanischer bzw. angelsächsischer
Kulturarbeit und -verantwortlichkeit sehr wohl. Das hat
nichts mit Kapitalismus und mit Knechtschaft des Kapi-
tals zu tun, sondern damit, dass wir die breiten Ressour-
cen, die wir haben, für Kultur, Kulturförderung und Kul-
turengagement nutzen müssen. Das gilt gerade für Berlin.
Diesen letzten Aspekt halte ich für enorm wichtig.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410226800
Für die
PDS-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Heinrich Fink das
Wort.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1410226900
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist Bedeu-
tendes hier gesagt worden. Ich bin ganz besonders dank-
bar für die Rede von Herrn Staatsminister Naumann. Ich
kann sehr vieles davon unterstreichen und habe auch sehr
vieles davon in Berlin erlebt.

Ich möchte nur kurz unsere Position zusammenfassen:
Einer zielgerichteten Diskussion über die Hauptstadt-
kulturförderung des Bundes fehlt meiner Meinung nach
eine entscheidende Grundlage, nämlich eine auf demo-
kratischem Wege entstandene Grundkonzeption für die
Entwicklung der Berliner Kultur in ihrer ganzen Vielfalt.
Erst auf einer solchen Grundlage ließen sich die Institu-
tionen, Projekte und die Modalitäten ihrer Förderung
durch den Bund sinnvoll festlegen. Deshalb ist, langfris-
tig gesehen, die Forderung nach einem solchen Gesamt-
konzept auch die Kernforderung der PDS in dieser De-
batte.


(Beifall bei der PDS)

Der vorliegende Antrag der CDU/CSU verzichtet lei-

der ebenfalls auf eine solche Grundlage. Angesichts der
gegebenen Umstände unterstütze ich aber eine Reihe von
Forderungen, die ich als kurzfristigen Handlungsauftrag
an die Bundesregierung verstehe. Dabei bin ich mir darü-
ber im Klaren, dass die Antragsteller von der Bundesre-
gierung teilweise andere Auskünfte erwarten als wir, zum

Beispiel bezüglich der Planungen für das Schloss. Hier er-
warten wir zuallererst ein schlüssiges und detailliertes
Nutzungskonzept für die gesamte Spree-Insel, bevor man
über Gebäude und konkrete architektonische Planungen
redet.


(Beifall bei der PDS)

Im Ausschuss für Kultur und Medien besteht über Par-

teiengrenzen hinweg Konsens darüber, dass der Bund
nach der demokratischen Entscheidung für die Hauptstadt
Berlin in der Pflicht steht, sich an der Finanzierung der
Berliner Kultur von gesamtstaatlicher und hauptstädti-
scher Bedeutung angemessen zu beteiligen. Die Stadt
Berlin allein wäre auch mit der Bewahrung und
Weiterentwicklung der vielgestaltigen Kultur überfordert.
Die PDS würdigt durchaus das bisherige finanzielle En-
gagement des Bundes in der Hauptstadt Berlin, ist aber
der Auffassung, dass dieses noch nicht ausreicht und in
keinem begründbaren Verhältnis zur Kulturförderung
steht, die die Stadt Bonn bis heute erhält.

Angesichts der gegenwärtigen komplizierten Situation
in Berlin muss in neuer Weise überdacht werden, welche
Wege der Kooperation zwischen Bund, Land Berlin und
den anderen Ländern zu beschreiten sind. Dazu ist ein
konzeptioneller Vorlauf notwendig. Die gestrige Beratung
des Ausschusses möchte ich als hoffnungsvollen Beginn
eines konstruktiven Dialogs in Sachen Kulturförderung in
Berlin werten. Welche konkreten Institutionen und Pro-
jekte gefördert werden, bedarf der Abstimmung und Be-
teiligung aller. Ich möchte hier deutlich machen, dass es
eine noch bessere Absprache mit den jeweiligen Stadtbe-
zirken geben muss.

Ich möchte nun auf die Kriterien hinweisen, die nach
bisherigem Stand der Diskussion in der PDS der künfti-
gen Förderung zugrunde gelegt werden sollten. Nach un-
serer Auffassung sind Kulturaufgaben von gesamt-
staatlicher Bedeutung jene, die sich aus der deutschen
Geschichte ergeben: aus der Trägerschaft für das Erbe
Preußens, aus den Folgen der faschistischen Diktatur und
des Weltkriegs, aus der deutschen Spaltung und der Ver-
einigung Deutschlands. Die sich daraus ergebenden Ver-
pflichtungen sind ja im Einigungsvertrag zwischen der
BRD und der DDR und in internationalen Abkommen
festgeschrieben.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Was ist denn „BRD“?)


Das gilt auch für die Verpflichtung zum Erhalt der kultu-
rellen Substanz im Ostteil der Stadt. Ich möchte auch
sehr dankbar darauf hinweisen, dass im Ostteil der Stadt
bisher kein bedeutendes Theater geschlossen wurde.

Demnach hat der Bund besondere Verantwortung für
die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit der Museums-
insel, für die Stätten des Mahnens und Gedenkens an die
Opfer des Faschismus, für die Gedenkstätten, Archive
und Dokumentationszentren aus der DDR-Zeit sowie für
die sowjetischen Ehrenmale. In Bezug auf die sowjeti-
schen Ehrenmale gehen die Meinungen von Land und
Bund bis heute auseinander. Der Bund hat aber im Zwei-
plus-Vier-Vertrag die Verpflichtung dafür übernommen.




Dr. Günter Rexrodt

9625


(C)



(D)



(A)



(B)


Für unbedingt notwendig halten wir deshalb die Fort-
setzung der Förderung im Rahmen des sogenannten
Hauptstadtkulturfonds.Die Vergabe seiner Mittel sollte
auch weiterhin durch ein unabhängiges Fachgremium für
die Förderung des kulturellen und künstlerischen Dialogs
in Berlin für besonders innovative Projekte und Experi-
mentelles reserviert sein.

Sie stimmen mir doch bestimmt zu, dass die kulturelle
Vielfalt in Berlin


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Erst mal gucken, wie der Satz zu Ende geht!)


einmalig ist und daher wegen ihrer ganz besonderen Art,
gerade hinsichtlich ihrer Breite und – Herr Rexrodt, Sie
haben darauf hingewiesen – hinsichtlich der den meisten
nicht bekannten Off-Szene, besonders zu fördern ist.

Es ist schwierig zu unterscheiden: Was ist Hochkultur
und was ist nicht Hochkultur? Ich lehne diesen Begriff so-
wieso ab. Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie gut
und dass sie schön ist. Dazu gehört in Berlin die breite
Szene, die sich den meisten bisher nicht erschließt, –


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410227000
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1410227100
– nämlich die Szene, die in
den Hackeschen Höfen stattfindet und die auch zu fördern
wäre.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410227200
Als nächs-
tem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Eckhardt
Barthel von der SPD-Fraktion.


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1410227300
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Einige Beiträge haben mich
veranlasst, meine Schwerpunktsetzung ein bisschen zu
verändern. Es gab bei einigen Beiträgen – das sage ich
jetzt als Berliner Abgeordneter – für meine Begriffe ein
bisschen viel Kritik. Außerdem wurde nur ein Teil der
Berliner Wirklichkeit betrachtet.

Herr Staatsminister, ich habe heute eine Überschrift in
der „Berliner Morgenpost“ gelesen, die etwa lautete: Die-
ses Thema geht mir langsam auf die Nerven. – Ich fand es
toll, wie Sie in Ihrer Rede ihre Gefühlswelt beschrieben
haben. Die Überschrift ist angesichts dessen, was Sie ge-
sagt haben, zu verstehen. Ich will aber nicht behaupten,
dass etwas Falsches in Ihrer Rede enthalten war. Ich
möchte nur ergänzend hinzufügen – das scheint mir not-
wendig zu sein –, dass es noch eine andere Berliner Szene
gibt, und zwar die Szene, die wegen oder trotz der Kul-
turpolitik in Berlin vorhanden ist.

In diesem Zusammenhang sollte man einmal zwei Bei-
spiele erwähnen: Die Berliner Theater boomen. Wenn ein
Theater weniger als 90 Prozent ausgelastet ist, dann spricht
man inzwischen schon von einer geringen Auslastung. Die

Museen haben nicht zuletzt durch den Tourismus, auch
durch den Kulturtourismus, einen Millionenzuwachs an Be-
suchern. Das ist ein gutes Zeichen. Mir liegt daran – ich
werde mich noch sehr kritisch mit der Berliner Kulturpoli-
tik beschäftigen –, dass man auch die andere Seite der Kul-
tur in Berlin betrachtet.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Herr Lammert, was ist eigentlich falsch an Ihrem An-
trag?


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Das möchte ich auch gern wissen!)


Die zweite Frage ist: Wozu brauchen wir ihn? Sie be-
schreiben in diesem Antrag das, was der Staatsminister
tut.


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Dafür hat aber der Staatsminister sogar den Weltgeist bemüht!)


Jetzt ist die Frage für mich: Wie interpretiere ich Ihren An-
trag? Ich interpretiere ihn so, dass ich sage: Ich sehe darin
eine Unterstützung für unsere Kulturpolitik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Da haben Sie aber eine hohe Meinung von dem, was der Staatsminister tut!)


Das brauchen wir. Ich finde das sehr gut.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wenn ihr das braucht! – Jörg Tauss [SPD]: Wir brauchen es nicht, aber wir haben Freude daran!)


Es ist schön, wenn Sie das unterstützen, vor allen Dingen
weil sich diese Kulturpolitik ja auch dadurch auszeichnet –
im Unterschied zu der vorhergehenden –, dass mehr En-
gagement und auch mehr Mittel für die Hauptstadtkultur
damit verbunden sind. Insofern freue ich mich.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dann hat er doch seinen Zweck erfüllt!)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Anfang
noch einmal etwas sagen zu den Begriffen in der Diskus-
sion um die Hauptstadtkultur, bei denen ich Sorge habe.
Ich las neulich in einer Zeitung – um es deutlich zu sagen:
keine Berliner Zeitung –, dass es darum gehe, die Kultur-
hauptstadt zu fördern. Manchmal sind Begriffe ja sehr ge-
fährlich. Ich hoffe, der Journalist wird sich da noch korri-
gieren. Das Schöne an der Bundesrepublik ist, dass es
nicht eine Kulturhauptstadt gibt, sondern dass wir Kultur-
hauptstädte, Kulturmetropolen haben:


(Beifall bei der SPD und der PDS)

München, Frankfurt, Hamburg, Dresden, Leipzig – ich
will es nicht weiter aufzählen. Das ist das Gute. Mir liegt
daran gerade bei der Diskussion über die Hauptstadtkul-
turförderung deutlich zu machen, dass sich daran nichts
ändern wird und sich daran auch nichts ändern darf.

Aber wir benötigen eine Hauptstadt Berlin mit einer
großen kulturellen Ausstrahlung. Das berührt auch Fragen
der Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Hauptstadt,




Dr. Heinrich Fink
9626


(C)



(D)



(A)



(B)


auch Fragen der Identität. Wenn sich Identität über Kultur
definiert, dann bin ich sehr zufrieden mit dieser Identität.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Aufgabe kann Berlin nicht allein leisten, das ist –
das ist zum Glück heute auch mehrfach gesagt worden –
eine nationale Aufgabe.

Viele – das will ich auch noch als Ergänzung sagen –
sind sich der finanziellen Situation der Stadt nicht voll be-
wusst. Das ist kein Vorwurf, sondern nur eine Erläuterung.
Das berührt nicht nur die Kulturpolitik, aber die eben auch.
Zwei bis dato hochsubventionierte Kulturmetropolen –
man muss von zwei sprechen, nämlich Ost- und Westber-
lin –, deren kulturelle Vielfalt und Qualität es zu erhalten,
ja zu erweitern gilt, befinden sich jetzt – ich sage: Gott sei
Dank – unter einem Dach, aber eben auch unter einem viel
zu engen Dach, was die Finanzierung betrifft. Deshalb ist
Hilfe nötig, und diese Hilfe gibt es auch.

Ich bin froh über den Beitrag, den die Bundesregierung
leistet. 474 Millionen DM stellt sie in diesem Jahr der
Berliner Kultur zur Verfügung. Gestatten Sie mir eine
Fußnote: Ich wäre ein schlechter Berliner Abgeordneter,
wenn ich mir nicht auch eine andere Zahl vorstellen
könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Allerdings bin ich mir natürlich auch bewusst, dass die

Notwendigkeit und die Wirksamkeit der Hauptstadtkul-
turförderung außerhalb Berlins vermittelt werden muss.
Herr Lammert, Sie werden das in NRW machen müssen,
Frau Griefahn in Niedersachsen und andere wo auch im-
mer. Das gilt übrigens nicht nur für die Hauptstadtkultur-
förderung, das gilt natürlich auch für andere Politik-
bereiche.

Unter diesem Gesichtspunkt und auch unter dem Ge-
sichtspunkt der Unterstützungsbereitschaft verstehe ich
die vielen kritischen Blicke vieler Kolleginnen und Kol-
legen und auch von Staatsminister Naumann auf die –
jetzt gestatten Sie mir einmal, Ross und Reiter zu nennen
und nicht immer nur von Berlin zu sprechen – christde-
mokratische Kulturpolitik in Berlin – eine Kultur-
politik, von der ein ehemaliger christdemokratischer Kul-
tursenator in Berlin sagte, dass sie in der Krise sei. Ich be-
haupte, das stimmt. Die Situation ist so, wie Herr
Hassemer sie beschreibt. Nicht die Kultur ist in Berlin in
der Krise, sondern die Kulturpolitik ist in der Krise.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich erwähne diese kritische Anmerkung – Sie merken,
dass ich versuche, Brücken zu bauen – durchaus auch als
vertrauensbildende Maßnahme für die Stadt, um die Be-
reitschaft für die Kulturförderung in diesem Hohen Hause
zu erhöhen.

Der Rücktritt von Frau Thoben war keine Flucht vor
Verantwortung, sondern ich glaube, er war die Konse-
quenz aus der desolaten Lage, in die die größte Regie-
rungspartei in Berlin die Kulturpolitik getrieben hat. Der
Herr Staatsminister hat vorhin schon das Wort des Regie-

renden Bürgermeisters von abgetanzten und abgelatsch-
ten Künstlern zitiert.


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: Wie kann man nur, kann ich nur dazu sagen! Pfui!)


Wenn man seine Kulturkompetenz derart präsentiert, darf
man sich natürlich nicht wundern, wenn andere fragen:
Was habt ihr eigentlich mit Kultur am Hut, wenn der Re-
gierende Bürgermeister das sagt?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich gestatte mir, hier auch ein Zitat von Fraktionschef
Landowsky zu bringen, der – das finde ich besonders be-
merkenswert – unter Beifall seiner Fraktion im Berliner
Abgeordnetenhaus sagte, dass „jeder Bundespolitiker, der
früher nichts zu sagen hatte, weil es keine Kulturpolitik
und -kompetenzen gegeben hat, sich nun als Oberkultur-
guru hier in Berlin aufspielt“. Das sind keine Vertrauen er-
weckenden Maßnahmen. Solche Aussagen schaden der
Stadt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch zu den „Bundesschlaumeier“-Vorwürfen gegen

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410227400
Wenn das im Inte-
resse der Stadt geschehen soll, dann weiß ich nicht, wo die
Leute das Interesse der Stadt sehen.

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat dieses Verhalten mei-
nes Erachtens gut dargestellt. Sie hat es „in Kulturfragen
aggressives Desinteresse nach Gutsherrenart“ genannt.
Besser kann man das, glaube ich, nicht ausdrücken.

Berlin hat es nicht nötig, als demütiger Bittsteller auf-
zutreten. Ich glaube auch – das ist bestätigt worden –, dass
es ein Recht darauf hat, dass die Hauptstadtkultur geför-
dert wird. Aber man sollte vielleicht lieber nicht in die
Hand beißen, aus der man Gelder haben möchte. Das
dient bestimmt weder der Stadt noch der Kultur der Stadt.

Herr Stölzl, ich will Ihnen an dieser Stelle noch einmal
alles Gute für Ihre schwere Arbeit wünschen. Aber Sie
werden noch eine Menge Bewusstseinsarbeit bei denen
leisten müssen, die Sie inthronisiert haben. Das wird eine
schwierige Aufgabe werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich hoffe auch, dass wir – ich glaube, wir sind da bei
uns schon ziemlich weit – wegkommen von der Konfron-
tation und hinkommen zum Dialog. Er wird nicht ohne
Konflikte sein; das geht nicht anders. Es ist ja nicht so,
dass ein Haushalt voll und der andere leer ist, sondern wir
haben bei beiden Probleme. Aber ich glaube, dass es mit
Staatsminister Naumann und Senator Stölzl zum Dialog
kommt, weil Herr Naumann um die Verantwortung des
Bundes für die Hauptstadtkultur weiß und entsprechend
handelt. Herr Stölzl weiß sicher auch – nun zitiere ich ein-
mal, Herr Lammert, aus Ihrem Antrag –, dass die „Betei-
ligung des Bundes an der Finanzierung der Berliner Kul-
tur/-szene ... die überfällige Lösung struktureller Pro-
bleme nicht ersetzen“ kann. Ich glaube, der neue




Eckhardt Barthel (Berlin)


9627


(C)



(D)



(A)



(B)


Kultursenator weiß das. So wird es auch einfacher, das
umzusetzen.

Ich bin froh über das Konzept, das der Staatsminister
für die Hauptstadtkulturförderung auf den Tisch gelegt
hat.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was hat er denn auf den Tisch gelegt?)


Ich finde es richtig, dass anstatt pauschaler Überweisun-
gen oder Beteiligungen einige Kulturinstitute voll über-
nommen werden, und zwar aus mehreren Gründen. Ers-
tens wird es dadurch eine klarere Verantwortungszu-
ordnung – das finde ich immer wichtig – und zweitens
eine größere Transparenz, geben, etwa hinsichtlich der
Frage: Wo fließen die Mittel hin? Schon aus diesen beiden
Gründen finde ich das sehr gut. Wie ich gehört habe, wird
das Land Berlin bei diesen Institutionen durchaus Mit-
spracherechte haben. Das finde ich in Ordnung.

Was ich an dem vorliegenden Konzept ebenfalls sehr
in Ordnung finde, ist der Hauptstadtkulturfonds, denn da-
hinter steckt der Gedanke – ich hoffe, es läuft so, wie es
geplant ist –, dass es neben der Förderung der großen
Institutionen auch freie, innovative Kulturprojekte ge-
ben wird, die gefördert werden. Das halte ich für wichtig.
Wir brauchen nicht nur diese Leuchttürme – ich kann die-
ses Wort eigentlich nicht ertragen –, sondern wir brauchen
auch Innovatives, das Chancen bietet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410227500
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1410227600
Lassen Sie mich
mit Folgendem abschließen: Berlin braucht die Unterstüt-
zung des Bundes. Aber die Bundesrepublik Deutschland
braucht auch eine Hauptstadt mit großer kultureller
Ausstrahlung. Da darüber Konsens zu bestehen scheint
und die Kultur des Bundes jetzt in guten Händen ist, bin
ich optimistisch, obwohl ich weiß, wie schwer die Auf-
gabe ist.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410227700
Als
nächster Redner hat der Kollege Steffen Kampeter von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Dr. Elke Leonhard [SPD]: Du lieber Himmel, was hat denn der mit Kultur zu tun?)



Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1410227800
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine parlamen-
tarische Debatte über die Hauptstadtkultur und die
Rolle des Bundes ist notwendig und überfällig. Die
CDU/CSU hat sie angestoßen. Vielleicht wird es uns auch
gelingen, die parlamentarische Geschäftsführung dem-

nächst davon zu überzeugen, dass Kulturdebatten keine
Mitternachtsveranstaltungen, sondern von tagespoliti-
schem Interesse sind und dass sie in diesem Hause auch
einmal bei Sonnenschein stattfinden sollten. Eine nächste
Möglichkeit würde sich im Übrigen im Rahmen der kom-
menden Haushaltsdebatte bieten. Der Kulturetat hat ja
bisher in diesen Debatten eine untergeordnete Rolle ge-
spielt. Ich rege an, zwischen den Fraktionen eine ent-
sprechende konsensuale Vereinbarung zu finden, damit
wir als „Kulturmenschen“ nicht immer ins Hintertreffen
geraten.


(Monika Griefahn [SPD]: Da können wir nur zustimmen! – Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das war ein sehr guter Einstieg!)


Mit der durch den Umzug von Legislative und Exeku-
tive gewachsenen Verantwortung des Bundes für die
Hauptstadtkultur musste endlich die Exekutierung der
Hauptstadtkulturförderung beendet werden. Es war ja ein
ärgerlicher Vorgang, dass in den parlamentarischen Gre-
mien das, was Beamte vorher schon längst verabschiedet
hatten, nur noch nachträglich abgesegnet worden ist. Vor
diesem Hintergrund macht die Parlamentarisierung
Sinn. Wir wollten dieses Verfahren nicht fortsetzen. Als
Fraktion bekennen wir uns zu der Verantwortung des
Bundes für die kulturelle Rolle Berlins als Bundeshaupt-
stadt und halten dies nicht für lediglich schmückendes
Beiwerk des Sitzlandes.

Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig hat vorhin die Be-
hauptung aufgestellt, unser Antrag sei als Lob für den
Kulturstaatsminister zu verstehen. Dieser Einschätzung
möchte ich widersprechen. Für das Lob für den Kultur-
staatsminister ist in der Regel Michael Naumann selbst
zuständig. Er lässt sich in dieser Tätigkeit von keinem
überbieten, schon gar nicht von der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion.


(Jörg Tauss [SPD]: Überbieten müssen Sie nicht gerade! Aber es war schon ganz gut! – Dr. Elke Leonhard [SPD]: Was wollten Sie denn damit sagen?)


Die Diskussion über die Hauptstadtkultur sollte aller-
dings auch den Kulturföderalismus fest im Blick behal-
ten. Die Länder werden das Engagement des Bundes
umso mehr akzeptieren, je mehr von ihm kulturelle Viel-
falt gefordert und gefördert wird. Deswegen wäre es gut,
wenn, statt in der Bundeskulturpolitik auf mehr Zentra-
lität zu setzen, von dieser Debatte das Signal ausginge,
dass der Bund zu seiner kulturellen Verantwortung auch
in anderen Bereichen steht. Es wäre beispielsweise gut,
wenn der leibhaftige Staatsminister seinen Kleinkrieg ge-
genüber den Bayreuther Festspielen beenden und dieses
nationale Musikereignis mit Weltrang außer Streit stellen
würde. Es wäre gut, wenn er die kleinlichen Kürzungs-
maßnahmen im Hinblick auf das Deutsche Museum in
München und andernorts zurücknähme. Es wäre ebenfalls
ein gutes Signal, wenn der Versuch beendet würde, die
Förderung der Vertriebenenkultur zu beerdigen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat uns gerade noch gefehlt! – Jörg Tauss [SPD]: So Eckhardt Barthel 9628 einen Unfug erzählt noch nicht einmal Frau Steinbach!)





(C)


(D)


(A)


(B)


Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt nachdrück-
lich die Überlegungen des Bundes, Teile der Hauptstadtkul-
tur, der Kultur in der Hauptstadt, auch institutionell, das
heißt hundertprozentig, zu fördern. Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit waren in der Vergangenheit nicht umfas-
send gewährleistet. Beispielhaft sei nur auf die Versuche der
Finanzsenatorin Fugmann-Heesing hingewiesen, Bundes-
kulturmittel für andere Zwecke umzuwidmen.

Wir erwarten allerdings von Ihnen, Herr Naumann, im
Rahmen Ihrer haushaltsrechtlichen Absicherung eine ent-
sprechende Vorarbeit. Die hundertprozentige dauerhafte
Förderung einzelner Einrichtungen muss im Haushalt
umfassend dargestellt werden. Das von den Kollegen der
Regierungsfraktionen dargestellte Verfahren einer Pau-
schalzuweisung reicht nicht mehr aus. Dies erfordern die
Haushaltsgrundsätze.

Ich rechne daher mit einem raschen Abschluss der Ver-
handlungen mit dem Land Berlin. Denn Mitte dieses Jah-
res muss ein Haushaltsentwurf vorliegen. Dann müssen
alle Haushaltspositionen fixiert werden, und zwar die
Sachmittel, die Investitionen und die Personalkosten. Das
ist sehr viel Arbeit.

Ich halte es für eine ungewöhnliche Verhandlungsstra-
tegie, wenn Sie vor dem Deutschen Bundestag despek-
tierliche Bemerkungen über Berliner Verfassungsorgane
machen.


(Jörg Tauss [SPD]: Lesen Sie einmal nach, was dort erzählt wird!)


Zumindest glaube ich nicht, dass dies für das Verhand-
lungsklima zwischen dem Bund und dem Land Berlin för-
derlich ist. Es ist eines Mitgliedes der Bundesregierung
keinesfalls würdig, in dieser Art und Weise über andere
Verfassungsorgane in der Bundesrepublik herzuziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was haben denn die Berliner erzählt? Haben Sie eben nicht zugehört? – Jörg Tauss [SPD]: Wollen Sie sich für Landowsky entschuldigen oder was?)


Alle diejenigen, die hier heute sagen: „Es ist eine gute
Entscheidung, dass der Bund Teile der Berliner Haupt-
stadtkultur institutionell fördert“, möchte ich warnen. Ob
dieses Projekt mit weniger Geld vonseiten des Bundes
durchgeführt werden kann, bezweifle ich. Da nutzt es we-
nig, wenn hier viel von Hegel gesprochen wird. Da soll-
ten Sie mehr mit Eichel sprechen, um zu Ergebnissen zu
kommen. In der Substanz, so glaube ich, hilft Ihnen hier
Eichel mehr als Hegel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Dr. Heinrich Fink [PDS]: Das ist nicht wahr! – Jörg Tauss [SPD]: Der Geist von Hegel: Davon verstehen Sie nichts!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bedarf klarer Kri-
terien, was der Bund im Rahmen der institutionellen
Hauptstadtkulturförderung übernimmt. Wir als Uni-

onsfraktion haben einige Orientierungspunkte geliefert:
die Verantwortung für das Erbe Preußens, was nicht nur
eine nationale Aufgabe ist, sondern auch die bundespoli-
tische Finanzierungskompetenz erfordert, die Förderung
von einzigartigen Einrichtungen in Berlin und ein klares
Bekenntnis zur nationalen Gedenkstättenarbeit.

Was der Kulturstaatsminister hier und an anderer Stelle
gesagt hat, ist noch nicht ausreichend und genügt keiner-
lei seriösen Ansprüchen. Entgegen der Behauptung mei-
nes Vorredners ist kein Konzept erkennbar und es mutet
eher peinlich an, wenn die Übernahme des Jüdischen
Museums, bei welchem man vortrefflich diskutieren
kann, ob es ein bundespolitisch solitäres Ereignis ist und
von uns individuell gefördert wird, mit Defekten in der
Klimaanlage begründet wird. Dies kann kein Unterschei-
dungskriterium dafür sein, ob etwas in Bundesobhut über-
nommen wird oder nicht.

Auch der Versuch, sich mit besonders hochwertigen
Kultureinrichtungen des Landes Berlin wie zum Beispiel
den Philharmonikern zu kleiden, um sie mit einem mög-
lichst niedrigen Zuschussbedarf einzukaufen, kann kein
Leitbild für seriöse Verhandlungen zwischen dem Bund
und Berlin sein. Es mag keinen überraschen, dass wir
Zweifel an den Vorschlägen haben. Die Ausführungen der
Kollegin Eichstädt-Bohlig wichen ebenso in wesentlichen
Punkten von dem ab, was Sie, Herr Naumann, hier vorge-
schlagen haben.

Ich will abschließend klarstellen, dass sich der Bund
nicht nationaler Aufgaben entledigen darf, weil sie ihm
unangenehm, zu teuer oder gar ideologisch missliebig ge-
worden sind. Ich sehe insbesondere für den Bereich der
nationalen Gedenkstätten einiges an Diskussionsbe-
darf. Hier möchten Sie, Herr Naumann, einiges überneh-
men, manches ist Ihnen sehr unlieb. Ich denke hier bei-
spielsweise an die „Topographie des Terrors“. Heinrich
Wefing beschreibt ihren Zustand in der „Frankfurter All-
gemeinen Zeitung“ sehr zutreffend:

Da gibt es ein Haus ohne Ausstellung: das Jüdische
Museum. Und eine Ausstellung ohne Haus: die „To-
pographie des Terrors“. Schließlich, gleichsam als
doppelte Null-Lösung, weder Haus noch Ausstel-
lung: den „Ort der Information“ am Holocaust-
Mahnmal.

Das ist ein Problem, das im Rahmen dieser Diskussion
über die nationale Verantwortung für die Gedenkstätten-
arbeit ebenso gelöst werden muss wie die Frage der Ver-
antwortung für das preußische Erbe. Hier muss um die
Zukunft und die finanzielle Ausstattung der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz vonseiten des Bundes noch ein-
mal gestritten werden. Es wäre schön, wenn sich Geld und
Geist durch diese Diskussion ein Stück weit wieder ver-
söhnten. Ihnen, Herr Senator Stölzl, wünsche ich bei die-
ser Aufgabe viel Erfolg.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410227900
Ab-
schließend hat der Senator für Wissenschaft, Forschung




Steffen Kampeter

9629


(C)



(D)



(A)



(B)


und Kultur des Landes Berlin, Herr Christoph Stölzl, das
Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410228000
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Einem Geschichts-
freund, der es noch nicht zum Parteifreund gebracht hat,
mag es gestattet sein, heute Abend einen etwas längeren
Zeitraum für die Bilanz des Verhältnisses zwischen dem
Bund und Berlin zu wählen. Ich sage ausdrücklich: Ber-
lin sagt ohne Wenn und Aber Dank für Hilfe, Engagement,
Solidarität und – ich scheue das Wort nicht – Liebe für
seine aus vielen Erbschaften stammende Kultur, die ihm
durch den Bund und das Bundesparlament seit 1949 ge-
geben worden ist.

Ich sage Dank für eine Förderung – diejenigen, die da-
bei gewesen sind, wissen das ebenso wie Wolfgang
Schäuble –, die in weiten Teilen ohne Gängelband, in Dis-
kretion, mit Augenmaß und manchmal mit notwendiger
Freimütigkeit erfolgte. Darum ist das, was Frau Leonhard
gestern angefangen hat, nämlich einerseits ihr strategi-
scher Genius und andererseits die gewissermaßen kame-
radschaftliche Offenheit von Staatsminister Naumann, die
Fortsetzung einer alten und guten Tradition.


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Das scheint der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zu sein! – Heiterkeit)


Das ist die eine Seite.
Aber es gibt auch die andere Seite: Eine Beurteilung

mit Augenmaß und Fairness wird trotz aller Kritik im De-
tail zugestehen müssen: Berlin hat in diesen Jahrzehnten
das Beste daraus gemacht, eine Stadt, die in einer schwe-
ren sozialen Krise immer noch 1 Milliarde DM bzw.
760 Millionen DM – je nachdem, ob man die religiöse
Kultur einbezieht – ausgibt, obwohl sie wahrlich, wie man
so sagt, andere Sorgen haben könnte. Einer solchen Stadt
kann man nicht generell vorwerfen, dass sie mit der Kul-
tur schlecht umginge.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nicht für sich allein, sondern für die Deutschen und für

ihr Verhältnis zu der Welt hat Berlin das – übrigens in Ost
und West – geleistet. Das ist hier schon gesagt worden.
Die Kultur, die nicht „der DDR war“, sondern in der DDR
und oftmals trotz der DDR entstanden ist, hat auch für das
Verhältnis der Deutschen zur Welt viel Gutes getan. Da-
rum, und nur darum, dürfen wir heute dringlich darum bit-
ten, dass das historisch gewachsene und deshalb notge-
drungen seit 1990 ganz unvollkommene Vertragswerk zur
Förderung der Kultur in der Hauptstadt endlich vollendet
wird.

Berlin hat im Jahre 1990 im Vertrauen auf Art. 35 des
Einigungsvertrages stellvertretend für die Nation fast die
gesamte Kultursubstanz – verzeihen Sie mir dieses häss-
liche Wort – übernommen. Dass dies unter den sozialen
Prämissen dieser großen und armen Stadt nicht zu leisten
war, ist offenkundig. Darum, finde ich, muss in Fairness
neu verhandelt werden. Diese Verhandlungen müssen zu
einem Ergebnis, zu einem Vertragswerk, zu Organisati-
onsformen und zu Kontrollformen führen. Ich sage es

ganz deutlich: Sie müssen dazu führen, dass wir uns als
Föderalisten reinen Herzens gemeinsam an den Kultur-
leistungen in Berlin erfreuen dürfen, auch dann, wenn die
Lasten endlich gerecht verteilt sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, spätestens
seit dem Moment, in dem das Parlament an hochsymboli-
scher Stelle in Berlin seinen Sitz genommen hat, wird die
unverzichtbare kulturelle Vielstimmigkeit von allen
Deutschen wahrgenommen. Niemand wird sagen können,
dass ihr föderaler Eigensinn, ihr eingewurzelter Stolz auf
regionale Kulturleistungen dadurch Schaden leidet. Wenn
man Berlins Kulturen liebt, wünscht man sich deshalb
noch lange keine Kulturhauptstadt. Was sich aber in Ber-
lin spiegelt, das geht doch alle Deutschen an: das Erbe des
aufgeklärten Kosmopolitismus des 18., 19. und auch des
frühen 20. Jahrhunderts, die unauslöschlichen Erinnerun-
gen an Diktaturen, Kriege und an die Spaltung der Welt,
aber auch an den Kampf um die Freiheit und die großen
Opfer, die Menschen dafür gebracht haben.

Die kulturellen Institutionen Berlins kann man auch
als Erinnerungszeichen einer gemeinsamen, dramati-
schen Geschichte lesen, die uns alle angeht und die wir
deswegen auch alle gemeinsam nach einem Schlüssel, der
ausgehandelt werden muss, finanzieren sollten.

Berlin ist aber trotzdem – keine Sorge – nicht nur Ge-
schichte, sondern vor allem Zukunft. Die Deutschen
brauchen eine Hauptstadt, die sichtbar Erfolg hat. Berlin
leuchtet, Berlin zieht an, Berlin lockt Menschen, gerade
die jungen, aus der ganzen Welt an und Berlin ist Markt-
und Kampfplatz der Ideen und Träume.

Heinrich Mann hat sich Berlin einst als eine Men-
schenwerkstatt gewünscht, ein Labor, in dem sich politi-
sche Vernunft und Künste zum Nutzen einer neuen deut-
schen Demokratie mischen sollten. Berlin wünscht sich,
dass dieses Hohe Haus die Bundesregierung nachdrück-
lich ermuntern möge, nicht Anmut und nicht Mühe zu
sparen, um gemeinsam mit uns die anstehenden Probleme
zu lösen, die – Sie haben die Summen gehört; im Verhält-
nis zu diesen Summen geht es um Randprobleme – wahr-
lich zu lösen sind. Mit gutem Willen müssen sie schnell
vom Tisch gebracht werden. Lassen Sie uns dann ge-
meinsam das Gespräch mit der Welt in der Sprache der
Kultur, die alle Menschen verstehen, die guten Willens
sind, suchen.

Herzlichen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410228100
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3182 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Darüber hinaus soll
die Vorlage an den Ausschuss für Angelegenheiten der
neuen Länder, den Ausschuss für Tourismus und Verkehr
und den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sie sind
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
9630


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich darf Sie bitten, noch einen Moment hier zu bleiben.
Obwohl die Reden für die beiden nächsten Tagesord-
nungspunkte zu Protokoll gegeben worden sind, haben
wir noch einige Formalitäten zu erledigen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem
Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Die Rolle der Interparlamentarischen Union

(IPU) im Zeitalter der Globalisierung

– Drucksachen 14/1567, 14/2951 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Schloten
Dr. Rita Süssmuth
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke-Reymann

Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Rede-
beiträge zu Protokoll gegeben werden.1 Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung, Drucksache 14/2951. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/1567 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Heinrich
Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Un-
recht“ gründen und Entschädigung von NS-
Opfern der Zwangssterilisation und der Eu-
thanasie in die Wege leiten
– Drucksache 14/2298 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Auch hier ist interfraktionell beschlossen worden, die
Reden zu Protokoll zu geben.2 Besteht dagegen Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2298 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.

Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-

tages auf morgen, Freitag, den 12. Mai des Jahres 2000,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.