Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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(C)(A)
1 Anlage 2 2 Anlage 3
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(C)
(D)
Altmaier, Peter CDU/CSU 11.05.2000
Dr. Blank, CDU/CSU 11.05.2000
Joseph-Theodor
Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 11.05.2000
Peter H.
Dreßler, Rudolf SPD 11.05.2000
Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 11.05.2000
DIE GRÜNEN
Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 11.05.2000
DIE GRÜNEN
Flach, Ulrike F.D.P. 11.05.2000
Gebhardt, Fred PDS 11.05.2000
Dr. Hornhues, CDU/CSU 11.05.2000
Karl-Heinz
Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 11.05.2000
Imhof, Barbara SPD 11.05.2000
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 11.05.2000
Klinkert, Ulrich CDU/CSU 11.05.2000
Moosbauer, Christoph SPD 11.05.2000
Müller (Berlin), PDS 11.05.2000
Manfred
Neuhäuser, Rosel PDS 11.05.2000
Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 11.05.2000
DIE GRÜNEN
Ohl, Eckhard SPD 11.05.2000
Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 11.05.2000
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 11.05.2000
Hans Peter
Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 11.05.2000
Wiesehügel, Klaus SPD 11.05.2000
Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 11.05.2000
Margareta DIE GRÜNEN
Zierer, Benno CDU/CSU 11.05.2000*
Dr. Zöpel, Christoph SPD 11.05.2000
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
(A)
(B)
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung: Die
Rolle der Interparlamentarischen Union (IPU)
im Zeitalter der Globalisierung (Tagesordnungs-
punkt 12)
Dieter Schloten (SPD):Ich möchte die Gelegenheit
nutzen, bei einem Antrag zur Rolle der IPU im Zeitalter
der Globalisierung, der in den Gremien des Deutschen
Bundestages unstrittig ist, über die soeben in der jordani-
schen Hauptstadt Amman beendete 103. Interparlamenta-
rische Konferenz zu berichten. Sie hat die Bedeutung der
IPU als der einzigen weltweiten, 139 Parlamente umfas-
senden Organisation nachhaltig unterstrichen. Wenn mehr
als 700 Parlamentarier, 600 weitere Delegierte und Sach-
verständige sowie Vertreter zahlreicher internationaler
Organisationen zusammentreffen, hat dies Auswirkungen
auf die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Gestaltungsmöglichkeit in einer immer schneller zusam-
menwachsenden Welt. Zugleich ist die IPU ein Forum in-
ternationaler Kontakte. So hat die deutsche Delegation in
Amman intensive Gespräche geführt mit Delegationen
aus: Äthiopien, Indien, Israel, Jordanien, Libyen, Ma-
rokko, Mexiko, Palästina, Tunesien und Uruguay.
Die 103. Interparlamentarische Konferenz hat sich mit
drei wichtigen Themenbereichen befasst, deren Ergeb-
nisse nunmehr weltweit von den Parlamenten den Regie-
rungen zugeleitet werden. Die Regierungen sind auf-
gefordert, die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen.
Natürlich ist die Erfüllung einer interparlamentarischen
Verpflichtung nicht in allen Ländern gleichgewichtig ge-
währleistet. Gleichwohl wird und muss die Botschaft ei-
ner im Konsenswege oder mit großer Mehrheit angenom-
menen Resolution aufgegriffen und umgesetzt werden.
Als Beispiel möchte ich die Frage der palästinensischen
Flüchtlinge nennen. Über dieses Thema, auf das ich spä-
ter näher eingehen werde, haben wir in Amman tagelang
kontrovers diskutiert. Gewiss wird es Gegenstand heftiger
Debatten in den Parlamenten der arabischen Staaten und
in der Knesset sein.
Die Konferenz in Amman befasste sich mit zwei or-
dentlichen Tagesordnungspunkten und einem Zusatzta-
gesordnungspunkt.
„Frieden, Stabilität und umfassende Entwicklung in
der Welt zu erreichen mit dem Ziel, engere politische,
wirtschaftliche und kulturelle Bindungen zwischen den
Völkern“ zu schaffen, hieß der erste Tagesordnungspunkt.
Er war weitgehend unumstritten.
Schwieriger gestalteten sich die Diskussionen um den
zweiten Tagesordnungspunkt: „Dialog zwischen Zivilisa-
tionen und Kulturen“. Es war bereits vor einem Jahr in
Brüssel gemeinsam von der deutschen und der iranischen
Delegation für die Konferenz in Amman vorgeschlagen
worden. Hierbei hatte die deutsche Delegation unter Fe-
derführung der Kollegin Monika Griefahn gemeinsam
mit Frau Professor Süssmuth ausgezeichnete Vorarbeit
geleistet, sodass der deutsche Entwurf zur Grundlage für
die Diskussion im Redaktionsausschuss wurde. Leider
konnte Frau Professor Süssmuth wegen einer Erkrankung
nicht an der Konferenz in Amman teilnehmen. Frau
Griefahn hat in Kooperation mit unseren britischen Kol-
leginnen und Kollegen, die ihren Entwurf zugunsten des
deutschen zurückgestellt haben, durch geschicktes Ver-
handeln die wesentlichen Ziele unseres Entwurfes erfolg-
reich durchsetzen können, nämlich kulturelle Vielfalt,
kulturelle Bereicherung und eine weltweite Zivilgesell-
schaft. Die einstimmige Beschlussfassung in Ausschuss
und Versammlung hat schließlich – trotz vorheriger Ein-
wände einiger Staaten – sogar dazu geführt, dass die Kon-
ferenz den Vorrang der Achtung der Menschenrechte vor
kulturellen Traditionen und Dogmen anerkannt hat.
In einem Zusatztagesordnungspunkt befasste sich die
Konferenz mit der „Rolle von Parlamenten, das Recht
der durch Krieg und Besatzung betroffenen Flüchtlinge
und Vertriebenen sowie ihre Repatriierung zu unterstüt-
zen sowie die internationale Zusammenarbeit bei Ent-
wicklung und Anwendung von Strategien zu vertiefen,
die darauf ausgerichtet sind, kriminelle Aktivitäten des
Menschenhandels zu bekämpfen“. Dieser Tagesord-
nungspunkt war aufgrund der Situation der Flüchtlinge im
Nahen Osten, insbesondere in Jordanien selbst, das 1,4
Millionen palästinensische Flüchtlinge beherbergt, der
umstrittenste Punkt. Dennoch war die Zusammenarbeit
zwischen den Delegierten gekennzeichnet durch Ver-
ständnis, gegenseitige Rücksichtnahme und insbesondere
Offenheit gegenüber den Argumenten anderer. Ein Kom-
promiss musste gefunden werden. In diesem Tagesord-
nungspunkt wurde nämlich nicht nur die Berücksichti-
gung des Flüchtlingsproblems im Nahen Osten, sondern
in allen Teilen der Welt gefordert, zum Beispiel auf dem
Balkan, im Kaukasus und in Teilen Afrikas. Für die Zu-
stimmung sollte jedoch die gesamte arabische Welt ge-
wonnen werden. Nachdem es den arabischen Kollegen
gelungen war, im politischen Ausschuss eine etwas ra-
dikale Lösungsformulierung durchzusetzen, lautet der
Kompromissvorschlag, den ich gemeinsam mit dem
Parlamentspräsidenten Jordaniens, der zugleich Konfe-
renzpräsident war, gefunden habe, folgendermaßen:
Die 103. Interparlamentarische Konferenz bekun-
det – ohne die Flüchtlingsprobleme in anderen Tei-
len der Welt aus dem Auge zu verlieren – ihre nach-
drückliche Unterstützung für alle Bemühungen um
einen gerechten, dauerhaften und umfassenden Frie-
den im Nahen Osten, einschließlich des Rechts der
palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr im Ein-
klang mit der VN Resolution 194, dem in der Kon-
ferenz in Madrid festgelegten Grundsatz Land für
Frieden, und die Durchführung der Resolutionen des
Sicherheitsrates 242, 338 und 425 und des Vertrages
von Oslo.
In dieser Kompromissformulierung, die nach einigem
Zögern zunächst von dem palästinensischen Delegations-
leiter und dann auch von sämtlichen arabischen Delega-
tionen unterstützt wurde, sehe ich einen Erfolg, sowohl
für die Lage der Flüchtlinge als auch für die Ernsthaftig-
keit, bei schwierigen Problemstellungen in der IPU eine
positive Zusammenarbeit sicherzustellen. Der Wermuts-
tropfen war, dass sich die israelische Delegation in diesem
Punkte nicht in der Lage sah, einen Schritt nach vorne zu
tun. Obwohl ich die israelischen Delegierten ständig über
den Gang der Verhandlungen informiert habe, behaupte-
ten sie in der Konferenz, sie seien nicht involviert gewe-
sen und lehnten von vornherein jeden Kompromiss ab.
Andererseits war diese Entwicklung wichtig für die guten
deutsch-arabischen Beziehungen. Ich möchte an dieser
Stelle ein Wort des Dankes an unseren Botschafter in Am-
man, Herrn Dr. Martin Schneller, richten, der die deutsche
Delegation während der gesamten Zeit unterstützt hat, so-
wie an die anwesenden Mitarbeiter des Auswärtigen Am-
tes und des Bundestages für die große Unterstützung, die
sie der Delegation und insbesondere mir als ihrem Leiter
gewährt haben.
Erwähnen möchte ich auch die Breite des Spektrums
wichtiger Konferenzbereiche, bei denen die IPU entspre-
chend ihrer Zielsetzung nach friedlicher Zusammenarbeit
in immer stärkerem Maße tätig wird. Lassen Sie mich bei-
spielhaft folgende Problemfelder anführen, die kontinu-
ierlich und mit großem Sachverstand und hohem Engage-
ment bearbeitet werden:
Der Ausschuss für die Menschenrechte von Parlamen-
tariern befasst sich mit der Verletzung der Menschen-
rechte demokratisch gewählter Kolleginnen und Kolle-
gen, deren Schicksal uns nicht gleichgültig sein darf. Un-
sere Aufgabe ist es, sowohl bei Besuchen in den
betroffenen Ländern als auch als Gastgeber von Parla-
mentsdelegationen aus diesen Ländern alles zu tun, um ih-
nen die Ausübung ihres Mandats auf den Grundlagen des
Rechtsstaates zu ermöglichen. Als Beispiele möchte ich
erstens den Präsidentschaftskandidaten der RPG bei den
letzten Präsidentschaftswahlen in Guinea, Herrn Alpha
Condé, nennen. Er befindet sich seit Oktober letzten Jah-
res ohne stichhaltige Begründung im Gefängnis. Ich
würde mich freuen, wenn es wegen der guten Kontakte
zwischen Deutschland und Frankreich auf Regierungs-
ebene gelänge, den französischen Präsidenten dazu zu be-
wegen, seinen Einfluss beim Präsidenten Guineas geltend
zu machen, um Herrn Condé wieder zur Freiheit zu ver-
helfen.
Zweitens möchte ich das Beispiel Burma bzw. Myan-
mar anführen, wo nach wie vor zwischen 20 und 30 frei
gewählte Abgeordnete seit Jahren im Gefängnis sitzen.
Mit der Unterstützung von lateinamerikanischen Delega-
tionen ist es mir gelungen, am letzten Tag der Konferenz
das Thema „Menschenrechtsverletzungen an Parlamenta-
riern“ zum Konferenzthema für die nächste IPU Konfe-
renz in Jakarta im Oktober dieses Jahres zu machen.
Erwähnen möchte ich auch die Gruppe, die sich mit der
Gleichstellung der Geschlechter befasst. Sie bemüht sich
intensiv und erfolgreich darum, die Rolle der Frau und der
Parlamentarierinnen weiter voranzubringen. Lassen Sie
mich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass
der Deutsche Bundestag diesen Auftrag vorbildlich er-
füllt. Die achtköpfige Delegation des Deutschen Bundes-
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tages bei der Konferenz in Amman bestand aus fünf
Frauen und drei Männern.
Der Ausschuss für Nahostfragen ist ein weiteres wich-
tiges Gremium, und ich freue mich, dass unsere Kollegin
Frau Dr. Angelika Köster-Loßack als neues Mitglied in
diesen ständigen Ausschuss gewählt wurde.
Abschließend möchte ich noch zwei Punkte erwähnen.
Sie beinhalten das Verhältnis zwischen der IPU und den
Vereinten Nationen sowie die wachsende Bedeutung der
Gruppe der Zwölf Plus in der IPU.
Zum Ersten. In einer Studie des Generalsekretärs zur
Reform der IPU ist der Vorschlag unterbreitet worden, die
Zusammenarbeit mit den VN zu verstärken und der IPU
die Rolle einer parlamentarischen Dimension der VN zu
verleihen. Die bevorstehende Millenniumskonferenz aller
Parlamentspräsidenten der Welt in New York vom 30. Au-
gust bis 1. September 2000 sowie der jährliche Zusam-
mentritt von Parlamentariern aus aller Welt während der
Generalversammlung weisen in diese für die IPU so wich-
tige Richtung. Wir alle sollten ein hohes Interesse daran
haben, den Vereinten Nationen eine parlamentarische Di-
mension zur Seite zu stellen, deren Kontrollfähigkeiten
neben den VN auch andere internationale Organisationen
umfassen. Seattle und Washington, das heißt die Tagun-
gen von WTO und IMF, haben deutlich die Notwendig-
keit gezeigt, die parlamentarische Dimension auch hier
einzubringen. Konkrete Vorschläge werden zurzeit von
deutscher Seite sowie von anderen Delegationen erarbei-
tet. Wir wollen versuchen, diese Entwürfe in Jakarta zu
einem gemeinsamen Vorschlag zu bündeln.
Zum Zweiten. Die Bedeutung der vor 25 Jahren durch
unseren damaligen Kollegen Dr. Klaus von Dohnanyi,
Georg Kliesing und Dr. Uwe Holtz gegründeten geopoli-
tischen Gruppe der Zwölf Plus – das sind die Mitglieder
des Europarates ohne ehemalige GUS-Staaten sowie Aus-
tralien, Kanada, Neuseeland und USA–, deren Vorsitzen-
der ich seit 1998 bin, nimmt ständig an Gewicht zu. Diese
Gruppe, etwa einer Fraktion vergleichbar, ist der Motor
der Demokratisierung in der IPU. Insgesamt gehören die-
ser Gruppe nunmehr 43 Mitgliedsländer sowie drei Beob-
achter-Delegationen aus dem Europäischen Parlament,
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates so-
wie der Knesset an. Wir unterhalten intensive Beziehun-
gen zu den übrigen sechs geopolitischen Gruppen in der
IPU. Mit der Gruppe Lateinamerikas haben wir in Amman
vereinbart, gemeinsam eine Arbeitsgruppe zur Reform
der IPU einzurichten.
Auf der Millenniumskonferenz in New York soll die
inhaltliche Abstimmung abschließend erfolgen. Ich freue
mich in diesem Zusammenhang darüber, dass der Bun-
destagspräsident an der Millenniumskonferenz teilneh-
men wird. Seine Anwesenheit wird dazu beitragen, die
parlamentarische Dimension der VN auf einen weiteren
erfolgreichen Weg zu bringen.
Die 103. IPU Konferenz in Amman hat gezeigt, dass
parlamentarische Diplomatie nicht gegen, sondern in Er-
gänzung zur Außenpolitik der Regierungen einen Beitrag
zu Frieden und Demokratie in unserer Welt leisten kann,
für die wir gemeinsam Verantwortung tragen.
Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Die IPU hat sich
im 20. Jahrhundert von einer kleinen Vereinigung zu
einer weltweiten Parlamentarierversammlung ent-
wickelt mit Parlamentariern und Parlamentarierin-
nen aus 138 Mitgliedstaaten. Sie ist ein parlamentari-
sches Forum, das wie kein anderes Demokratie, Rechts-
staatlichkeit und Frieden fördert. Dort begegnen sich
unterschiedliche politische Systeme und Kulturen, arme
und reiche Kontinente. Dort kommen Krieg und Frieden,
Flüchtlings- und Armutsprobleme, Weltwirtschaftsord-
nung, gerechte Teilhabe an Entwicklung zur Sprache.
Auf Initiative der deutschen Delegation, es war damals
Dr. Klaus von Dohnanyi, wurde in der IPU die Gruppe der
12 mit Mitgliedern des Europarats gebildet. Die Präsi-
dentschaft von Hans Stercken (1985–1988) und sein Wir-
ken für die IPU sind unvergessen. Die Parlamentarier der
Bundesrepublik Deutschland haben stets einen sehr akti-
ven Part in der IPU gespielt, Themenvorschläge für das
Plenum sowie Resolutionen eingebracht.
Parlamentarier unterschiedlicher politischer Systeme,
mit geringerer und voller Demokratieentwicklung disku-
tieren zu Themen wie dem Krieg auf dem Balkan, eine
neue gerechtere Weltwirtschafts- und Handelsordnung,
friedliche Lösung von Konflikten, Dialog der Kulturen.
Es ist ein parlamentarisches Forum, das den Austausch
gemeinsamer und höchst gegensätzlicher Positionen an-
strebt.
Ich kenne keine Institution, die in vergleichbarer Weise
für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gewaltlose, fried-
liche Konfliktlösungen eintritt. Delegationen der Mit-
gliedstaaten zeigen, dass freie Rede, mit Pro und Contra
in der Debatte, Einübung und Einhaltung parlamentari-
scher Regeln im Plenum und in den Ausschüssen sowie
im Umgang miteinander Chancen für die Demokratie
sind, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kön-
nen.
Es treffen sich Parlamentarier aus allen Kontinenten,
aus unterschiedlichen Kulturen, mit sehr unterschiedli-
chen Entwicklungsbedingungen und Entwicklungsni-
veaus, Länder und Kulturen, die Partnerschaft und
Gleichbehandlung wollen, die um Anerkennung werben
und Klage führen über Diskriminierung, Benachteiligung
und Ausgrenzung. Regionen mit anhaltenden militäri-
schen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, Flücht-
lings- und Armutsproblemen begegnen Parlamentariern
aus friedlichen Regionen, armen und reichen.
Parlamentarische Aufgaben sind wechselseitiges Ver-
stehen und Verständigung, Erörterung der Probleme in
Rede und Gegenrede, Achtung der jeweils anderen Kul-
turen, auch Verständigung darüber, welche Werte und
Normen gelten bzw. gelten sollen. Wollen wir den
„Kampf der Kulturen“ vermeiden, soll an die Stelle der
Konfrontation ein kooperatives Miteinander treten, dann
ist es unabdingbar, kulturelle Gemeinsamkeiten und Un-
terschiede in persönlicher Begegnung zu erörtern und auf
diese Weise wechselseitige Kenntnis, Achtung und Ver-
trauen aufzubauen. Kontroversen haben klärende und
annähernde Funktion.
Auf der Brüsseler IPU-Tagung 1999 wurde mit großer
Heftigkeit die Intervention der NATO im Kosovo disku-
tiert, um die massive Verletzung von Menschenrechten
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und den brutalen Einsatz von Gewalt zu beenden. Die IPU
ist ein parlamentarisches Forum, das Gelegenheit gibt,
politische Entscheidungen zu erklären, sie zu begründen,
sich der Kritik argumentativ zu stellen. Dabei ging es in
dieser Auseinandersetzung nicht nur um die gegenwärtige
und zukünftige Rolle der UNO, sondern auch um die
Frage, ob Menschenrechtsfragen nur in bestimmten Tei-
len der Welt oder überall in der Welt gleiche Unterstüt-
zung erfahren und welche Rolle dabei die UNO in Zu-
kunft haben wird.
Begegnung und Austausch finden nicht nur im Plenum
und in den Ausschüssen, sondern auch in vielen informel-
len Kontakten statt. Die werden von den Delegationen
auch gesucht, und zwar aus allen Teilen der Welt: aus der
lateinamerikanischen, afrikanischen, asiatischen und ara-
bischen Welt.
Lassen Sie mich abschließend zu einem für die IPU
wichtigen Anliegen kommen, nämlich die Zusammenar-
beit zwischen IPU und UNO. Die IPU fordert die An-
wendung demokratischer Prinzipien auch auf die interna-
tionalen Beziehungen sowie weltweit operierende Orga-
nisationen wie zum Beispiel die UNO.
Ziel ist es, die IPU zur parlamentarischen Dimension
der Vereinten Nationen zu machen. Im Sommer dieses
Jahres werden die Präsidenten der IPU-Mitgliedsparla-
mente bei den Vereinten Nationen zu einer Konferenz zu-
sammenkommen, ein wichtiges Zeichen für die parla-
mentarische Dimension dieser Organisation.
Damit die in der IPU geleistete Arbeit in ihrer politi-
schen Wirksamkeit erhöht wird, fordert der Deutsche
Bundestag die Bundesregierung auf, die von der IPU ver-
abschiedeten Resolutionen nicht nur in der Bundesrepu-
blik Deutschland, sondern auch in internationalen Gre-
mien und Institutionen zu implementieren, in denen
Deutschland Mitglied ist.
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
weltweit zum Erfolg zu bringen, das ist eine begeisternde
und lohnende Aufgabe.
Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Die 103. Interparlamentarische Konferenz in
Amman fällte wichtige Entscheidungen zu drei Themen-
schwerpunkten. „Frieden, Stabilität und umfassende Ent-
wicklung in der Welt zu erreichen mit dem Ziel, engere
politische, wirtschaftliche und kulturelle Bindungen zwi-
schen den Völkern zu schaffen“, war ein zielorientiertes
Thema. Auf der Ebene weitgehender Abstraktion von
konkreten Situationen gab es zu diesem Punkt keine
größeren Auseinandersetzungen.
Diese entstanden beim zweiten Tagesordnungspunkt
über den Dialog zwischen Zivilisationen und Kulturen,
den gemeinsam von Deutschland und dem Iran einge-
reichten Vorschlag. Es gelang jedoch, bei der Schlussab-
stimmung die universelle Gültigkeit der Menschenrechte
und ihre Achtung vor jeglicher Relativierung durch kultu-
relle Traditionen festzuschreiben.
Die Auseinandersetzungen fanden einen schmerzli-
chen Höhepunkt bei der Diskussion zum Thema „Rolle
von Parlamenten, das Recht der durch Krieg und Besat-
zung betroffenen Flüchtlinge und Vertriebenen sowie ihre
Repatriierung zu unterstützen sowie die internationale
Zusammenarbeit bei Entwicklung und Anwendung von
Strategien zu vertiefen, die darauf ausgerichtet sind, kri-
minelle Aktivitäten des Menschenhandels zu bekämp-
fen.“
Dieser Zusatztagesordnungspunkt wurde zum Objekt
der Auseinandersetzung zwischen den am nahöstlichen
Friedensprozess beteiligten Vertretern. Ein durch das Re-
daktionskomitee verhandelter Kompromissvorschlag, der
auch die Zustimmung der israelischen Delegation gefun-
den hatte, wurde auf der nächsten Ebene der Beschluss-
fassung wieder verworfen. In dieser neuen Fassung war,
auf Betreiben insbesondere der palästinensischen Beob-
achterdelegation, jeglicher Hinweis auf Flüchtlingssitua-
tionen in der Welt gestrichen worden. Dem Einsatz des
Kollegen Dieter Schloten ist es zu verdanken, dass in der
abschließenden Plenarsitzung ein Kompromissvorschlag
verabschiedet werden konnte. Leider hat die israelische
Delegation diesen Vorschlag nicht mehr mittragen kön-
nen. Wir werden versuchen, dass solche Konfliktsituatio-
nen in Zukunft bei den Vorbereitungsverhandlungen ge-
klärt werden können.
Eine sehr produktive und konsensorientierte Debatte
fand unter den Parlamentarierinnen in eigenständigen Sit-
zungen statt. Die IPU, insbesondere ihre Frauenpolitike-
rinnen, hat sich seit der Verabschiedung der Aktionsplatt-
form von Beijing im Jahre 1995 unablässig darum
bemüht, diese Forderungen den Parlamenten in aller Welt
nahe zu bringen.
Zu diesem Zweck wurde eine Dokumentation erstellt,
die eine generelle Bestandsaufnahme der Entwicklung
weiblicher politischer Partizipation in aller Welt zusam-
mengefasst. Untersucht wurde auf der Basis der bei den
VN eingegangenen Regierungsberichten die Repräsen-
tanz von Frauen in nationalen Parlamenten, politischen
Parteien, Regierungen und der IPU selbst.
Angesichts der fünf Jahre nach der Weltfrauenkonfe-
renz noch immer mächtigen Widerstände gegen die Um-
setzung der Forderungen von Beijing wünsche ich der von
der IPU geplanten Sitzung bei den Vereinten Nationen in
New York den für Frauen in aller Welt so notwendigen Er-
folg bei der Überzeugungsarbeit.
Ulrich Irmer (F.D.P.): Fragt man den statistischen
Durchschnittsbürger, welche Stichworte ihm zum Thema
der Globalisierung einfallen, so wird er wahrscheinlich
antworten: Internet, Welthandel, Unternehmenszusam-
menschlüsse, Auslandsinvestitionen, Standortvorteile
und Arbeitsplätze. Der ungehinderte Austausch von Wa-
ren, Dienstleistungen und Informationen ist jedoch nur
eine Seite der Globalisierung. Ebenso wichtig ist die welt-
weite Durchsetzung demokratischer Werte.
In den zehn Jahren nach dem Zerfall des Sowjetimpe-
riums ist die Globalisierung der Demokratie so weit fort-
geschritten, dass nur noch einige wenige bornierte Des-
poten vom Schlage des Kim Jong Il oder des Fidel Castro
ernsthaft meinen, sie könnten die politische Weltkugel
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aufhalten. Aber selbst diese Dinosaurier nehmen für sich
in Anspruch, Demokraten zu sein. Demokratie und Men-
schenrechte sind heute zur Ordre public der Weltinnenpo-
litik geworden. Demokratie ist eine ansteckende Gesund-
heit, deren wohltuende Erreger inzwischen ganze Konti-
nente dauerhaft infiziert haben. Wer hätte etwa vor nur
zehn Jahren zu hoffen gewagt, dass ganz Lateinamerika –
von der genannten Ausnahme einmal abgesehen – zu Be-
ginn des 21. Jahrhunderts demokratisch regiert werden
würde?
Noch vor wenigen Jahren wurde unter Politikwissen-
schaftlern darüber diskutiert, ob es nicht neokoloniales
Gehabe sei, den Entwicklungsländern eurozentrische De-
mokratievorstellungen überstülpen zu wollen. Heute ha-
ben sich faire und freie Wahlen, Gewaltenteilung und de-
mokratische Kontrolle als gesellschaftliche Ordnungs-
prinzipien fast überall durchgesetzt. Die Einhaltung
demokratischer Spielregeln ist zu einer weltweit aner-
kannten Voraussetzung für Entwicklungszusammenarbeit
geworden. Pompöse Parlamentsgebäude, deren Oppositi-
onsbänke verwaist sind und elektronische Abstimmungs-
anlagen ohne Nein-Taste, wie unlängst noch auf Reisen in
die so genannte Dritte Welt zu bewundern, sind heute
kaum noch zu finden.
Dass dies so ist, ist vor allem ein Verdienst einer der äl-
testen multilateralen Organisationen, der Interparlamen-
tarischen Union, die 1889, lange vor Erfindung des Inter-
nets, des Fernsehens, des Radios, ja sogar vor Einführung
des Telefons, ihren Kampf für die Globalisierung der De-
mokratie begonnen hat. Auch wenn nicht immer alle Mit-
gliedsparlamente einer strengen demokratischen Über-
prüfung standgehalten haben, hat sich doch der mit der
IPU verbreitete Demokratiebazillus als sehr reprodukti-
onsfreundlich und widerstandsfähig erwiesen. Heute
kämpfen fast 140 Mitgliedsländer zusammen mit anderen
multilateralen Organisationen für eine vollständige und
unwiderrufliche weltweite Durchsetzung von Demokratie
und Menschenrechten. So hat die IPU seit 1966 in über
700 Fällen zugunsten von inhaftierten Volksvertretern in-
terveniert. Heute leistet die IPU umfassende Demokrati-
sierungshilfe in vielen Entwicklungsländern.
112 Jahre nach ihrer Gründung und zu Beginn des
neuen Jahrtausends ist die Vision einer demokratischen
Welt so greifbar wie nie zuvor. Doch selbst in einer Welt,
in der sich Menschenrechte, Demokratie und Marktwirt-
schaft durchgesetzt haben, kurz: in einer liberalen Welt,
wird die IPU weiterhin wichtige Aufgaben zu erfüllen ha-
ben. Die Tätigkeit der Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates, der NATO oder der OSZE zeigen, dass
in einer immer näher zusammenrückenden Welt ein er-
heblicher Koordinierungsbedarf zwischen demokrati-
schen Volksvertretungen besteht. Vieles, was zu Zeiten
der Nationalstaaten der ausschließlichen Regelungskom-
petenz nationaler Parlamente vorbehalten war, bedarf im
Zeitalter der Globalisierung multilateraler Abstimmung.
Hier liegt eine der großen Herausforderungen der IPU als
parlamentarisches Gegenstück zu den Vereinten Natio-
nen.
Petra Bläss (PDS): Die 103. Konferenz der Interpar-
lamentarischen Union vergangene Woche in Amman hat
gezeigt, wie wichtig der institutionalisierte internationale
Dialog der Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus
aller Welt ist. Der Globalisierungsprozess stellt gerade
hier eine wichtige Herausforderung dar. Denn der Hori-
zont nationaler Parlamente reicht längst nicht mehr aus,
den vor uns stehenden Problemen gerecht zu werden.
Es waren zutiefst existenzielle Fragen, die im Mittel-
punkt der Debatte standen: das Erreichen von Frieden,
Stabilität und einer umfassenden Entwicklung in der Welt
und der Aufbau engerer politischer, wirtschaftlicher und
kultureller Beziehungen zwischen den Völkern sowie die
Förderung des Dialogs zwischen Zivilisation und Kultu-
ren. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier plädier-
ten unter anderem für eine Stärkung der multilateralen
Konfliktbewältigung von Organisationen wie UNO und
OSZE und regten die Bildung weiterer regionaler und lo-
kaler Zusammenschlüsse zur Konfliktprävention und zur
Friedenssicherung an. Unsere Delegation hat der Debatte
um den Dialog und den Austausch zwischen Zivilisatio-
nen und Kulturen entscheidende Impulse gegeben.
Nein, es gibt keine Alternative zum Dialog zwischen
den Zivilisationen. Nur der Dialog führt zum friedlichen
Zusammenleben der Völker und zur kulturellen Bereiche-
rung der Menschen. Noch immer ist es wichtig, darauf
hinzuweisen, dass die universell akzeptierten Menschen-
rechte Grundlage jeder dialogfähigen Zivilisation und
Kultur sein müssen. Die Toleranz gegenüber kulturellen
Unterschieden und die Bereitschaft zum Dialog zwischen
Kulturen und Zivilisationen dürfen keinen Vorwand für
die Verletzung der Menschenrechte liefern.
Da ich unmittelbar im Anschluss an die IPU-Konferenz
an der Parlamentspräsidentenkonferenz der parlamentari-
schen Versammlungen in Europa teilnahm, möchte ich an
dieser Stelle auf eine Parallele der Debatten in Amman
und Strasbourg aufmerksam machen, zumal sie unsere
Arbeit in den nationalen Parlamenten betrifft:
Die internationalen Zusammenhänge und Gremien, zu
denen die IPU gehört, haben durch ihr stetes Engagement
für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit
einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung geleistet.
Nun gilt es aber, Wege zu finden, diesen großen Erfah-
rungsschatz und seinen reichen Fundus völkerrechtlicher
Bestimmungen durch eine verstärkte Rückkopplung zu
den nationalen Parlamenten noch besser nutzbar zu ma-
chen. Noch laufen zu viele internationale Initiativen ins
Leere, werden zu viele in den nationalen Parlamenten
nicht ausreichend wahrgenommen. Hinzu kommt, dass
Konventionen unratifiziert bleiben, zum Teil auch wegen
der Schwerfälligkeit der Entscheidungsverfahren in den
Mitgliedstaaten. Der Ratifizierungsstand von Konventio-
nen sollte daher Gegenstand regelmäßiger parlamentari-
scher Prüfung und Beratung sein. Wir brauchen einen ge-
regelten Informationsfluss zwischen den internationalen
Zusammenhängen bzw. Organisationen und den nationa-
len Parlamenten.
Die Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten aus 45
Staaten Europas waren sich einig, dass das Engagement
für internationale Fragen und auswärtige Politik in den
nationalen Parlamenten mehr gefördert und anerkannt
werden muss. Es besteht eine Diskrepanz zwischen der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 9637
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(A)
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Internationalisierung der Probleme einerseits und dem
Festhalten an einer Art nationaler Kirchturmpolitik ande-
rerseits. Zu einer modernen Politik gehört es schließlich
auch, dass einmal erarbeitete internationale Grundsätze
sowohl für die nationalen Parlamente als auch für Institu-
tionen Geltung erlangen müssen, damit die Universalität
der Menschenrechte weltweit gewährleistet wird.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrages: Bundesstiftung
„Entschädigung für NS-Unrecht“ gründen und
Entschädigung von NS-Opfern der Zwangssteri-
lisation und der Euthanasie in die Wege leiten
(Tagesordnungspunkt 13)
Bernd Reuter (SPD): 55 Jahre nach Ende des Zwei-
ten Weltkrieges, ich erinnere an den 8. Mai, stehen auf der
Tagesordnung des Deutschen Bundestages wiederholt
Themen, die sich mit den furchtbaren Folgen dieses Krie-
ges und eines verbrecherischen Regimes beschäftigen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat in umfangreicher
Weise Entschädigung an die Opfer geleistet. Bis Januar
1999 wurden rund 104 Milliarden Mark an Entschädi-
gungen auf der Grundlage von gesetzlichen und außerge-
setzlichen Regelungen an Opfer auf der ganzen Welt ge-
zahlt, dazu kommen nicht bezifferbare sonstige Leistun-
gen in Milliardenhöhe nach Regelungen wie dem Gesetz
über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialis-
mus in der Sozialversicherung u. Ä. Es wird eingeschätzt,
dass in Zukunft für diese Regelungen ein weiterer Fi-
nanzbedarf von 20 Milliarden Mark aufzubringen sein
wird. Jährlich werden heute 1,5 Milliarden Mark geleis-
tet. Wir müssen aber trotz dieses großen finanziellen Auf-
wandes feststellen, dass es eine wirkliche Wiedergutma-
chung für massenhafte Vernichtung von Leben, für
schwerste gesundheitliche Schäden, für Demütigung und
tiefste Verletzung der Menschenwürde nicht geben kann.
Deshalb erkläre ich hier für die SPD-Fraktion: Die Re-
habilitierung und die Verbesserung der Entschädigung für
Opfer nationalsozialistischen Unrechts bleibt fortdau-
ernde Verpflichtung. So auch nachzulesen in der Koaliti-
onsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen. Und zu diesem Grundsatz stehen wir.
Getragen von allen Fraktionen hat der Bundestag am
14. April 2000 das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädi-
gung von NS-Zwangsarbeit und weiterem NS-Unrecht
behandelt. Diese Bundesstiftung ist ein ganz wichtiger
Schritt zur Verbesserung der Entschädigungsleistungen
und eine weitere enorme finanzielle Anstrengung des
Bundes in Höhe von 5 Milliarden Mark. Ich möchte an
dieser Stelle alle deutschen Unternehmen, die sich bisher
der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft verwei-
gern, aufrufen, sich ihrer moralischen Verantwortung be-
wusst zu werden und sich finanziell zu beteiligen. Eine
abwartende Haltung der Unternehmen ist nicht zu tolerie-
ren.
Im Rahmen der Bundesstiftung werden vorrangig ehe-
malige, noch lebende Zwangsarbeiter entschädigt, vor al-
lem in den osteuropäischen Ländern, die bisher keinerlei
Wiedergutmachung erfahren haben. Darüber hinaus lässt
das Gesetz im Rahmen der finanziellen Ausstattung zu,
dass durch die Partnerorganisationen Leistungen für sons-
tige Personenschäden gewährt werden können, im Rah-
men der finanziellen Mittel. Unter diesem Aspekt ist es
besonders misslich, dass bei der Mittelverplanung die für
diese Fälle zuständige Partnerorganisation, der so ge-
nannte „Rest der Welt“, unterdurchschnittlich ausgestattet
wurde.
Insofern gilt es die Erfahrungen mit der Bundesstiftung
abzuwarten. Wir wissen heute noch nicht, zumindest nicht
so genau wie bei den anderen Partnerorganisationen, wie
viele Anträge an diese noch zu findende Partnerorganisa-
tion eingereicht werden.
Wir werden im Herbst über diese Erfahrung verfügen
und dann müssen wir neu beraten, auch über die im PDS-
Antrag genannten „vergessenen Opfer“. Die aber, und das
möchte ich ausdrücklich betonen, keine „vergessenen Op-
fer“ sind. Die im Antrag angesprochenen Gruppen hatten
und haben die Möglichkeit nach dem Bundesentschädi-
gungsgesetz oder dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz
und dazu erlassenen Härterichtlinien eine Entschädigung
zu beantragen und in vielen Fällen auch erhalten.
Euthanasie-Geschädigte und Zwangssterilisierte sind
in diese Regelungen voll einbezogen worden. Wir werden
auch zu reden haben über weitere Opfergruppen, die nach
den vorbenannten Regelungen Anträge stellen konnten,
das sind zum Beispiel psychiatrisch Verfolgte, Wehr-
dienstverweigerer, Wehrkraftzersetzer, Homosexuelle,
Asoziale, alles Gruppen, die der Verfolgung durch das
NS-Regime unterlagen.
Wir müssen uns dabei bemühen, nicht neue Lücken zu-
zulassen und Ungerechtigkeiten vermeiden. In den ver-
gangenen Jahren ist viel geleistet worden, aber es muss
auf den Prüfstand, ob es der Schwere des Schicksals an-
gemessen war und ist oder ob es Härten zu vermeiden
gibt.
Ich muss nochmals sagen, dass es eine wirkliche Wie-
dergutmachung nicht geben kann. Und für sehr viele Op-
fer kommt jegliche Entschädigung zu spät. Ich versichere
Ihnen aber, dass keiner „vergessen“ wird.
Die Bundesrepublik hat, anders als die ehemalige
DDR, ihre Verantwortung für begangenes NS-Unrecht
wahrgenommen und wird es weiter so handhaben. Aller-
dings sehe ich nicht so einen großen Nachholbedarf wie
den, der im PDS-Antrag gefordert wird. Aus diesen und
den vorgenannten Gründen lehnen wir den Antrag ab.
Martin Hohmann (CDU/CSU):Die Fraktion der PDS
stellt den Antrag, eine Bundesstiftung „Entschädigung für
NS-Unrecht“ zu gründen und die Entschädigung von NS-
Opfern der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ in
die Wege zu leiten. Es erübrigt sich klarzustellen, dass es
keinen Dissens in der Verurteilung dieser schrecklichen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt. Es erübrigt
sich festzustellen, dass den Opfern und Angehörigen und
Nachkommen der Opfer unser Mitgefühl gilt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 20009638
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Einerseits will die PDS wieselflink sein, andererseits
kommt sie zu spät. Natürlich hat auch die PDS die rot-
grüne Koalitionsvereinbarung gelesen. Dort steht in der
Tat, dass neben der Bundesstiftung „Entschädigung für
NS-Zwangsarbeit“ eine weitere Bundesstiftung „Entschä-
digung für NS-Unrecht“ für die „vergessenen Opfer“ ein-
gerichtet werden soll. Da nun die Verhandlungen und Ar-
beiten für die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ in ein abschließendes Stadium gekommen sind,
will die PDS mit der Einbringung des vorliegenden An-
trages demonstrativ zeigen: „Wir sind auf der Höhe der
Zeit. Wir sind die Ersten, die das neue Thema auf die Ta-
gesordnung bringen.“ So viel zur vergeblichen Schnellig-
keit der PDS.
Warum kommt die PDS gleichzeitig zu spät?
Unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, musste
nicht durch eine PDS-Initiative auf die Nöte dieser Op-
fergruppen hingewiesen werden. Zu der Zeit unserer Re-
gierungsverantwortung wurden für die Zwangssterilisier-
ten die Sterilisationsentscheide der entsprechenden NS-
Sondergerichte aufgehoben. Auch erhalten sie nach
Prüfung ihrer Einkommens- und Vermögenslage Entschä-
digungszahlungen. Es sind nicht unerhebliche Zahlungen
an die Opfer geleistet worden. 5 000 DM an Zwangssteri-
lisierte als einmalige Leistung und eine monatliche Bei-
hilfe von zurzeit 120 DM. Härteleistungen nach dem All-
gemeinen Kriegsfolgengesetz sind bei wirtschaftlicher
Notlage zusätzlich möglich. An die „Euthanasie“-Ge-
schädigten, also die Nachkommen von „Euthanasie“-Op-
fern, können nach den Richtlinien zum Allgemeinen
Kriegsfolgengesetz einmalige Beihilfen in Höhe von
5 000 DM bei entsprechenden Einkommensvoraussetzun-
gen gezahlt werden. Keineswegs kann also behauptet
werden, unser Gemeinwesen habe diese Opfergruppen
vergessen. Das erkennt die PDS in der Antragsbegrün-
dung sogar selbst an. Sie schreibt nämlich wörtlich, dass
die erbrachten Leistungen „Hilfe“ waren.
Was ist denn nun der wahre Grund für diese parlamen-
tarische Initiative der PDS? Man wird den Eindruck nicht
los, die PDS wolle mit ihren Forderungen nach Erhöhung
der finanziellen Leistungen an diese Menschen sich in
erster Linie selbst darstellen. Darstellen als Anwalt des
Humanen, als Freund und Fürsprecher der Menschen, be-
sonders von solchen, die Opfer wurden. Wie aber steht es
tatsächlich um den humanen Ansatz der PDS?
Ziemlich umfangreich geht die PDS in ihrem Antrag
auf die Opfer der so genannten Euthanasie ein; in der na-
tionalsozialistischen Terminologie Aktion T 4 genannt.
Diese sah die Vernichtung von so genanntem lebensun-
werten Leben vor. Diesen Ausdruck haben die National-
sozialisten einer kleinen, im Jahre 1920 erschienenen
Schrift entnommen. Die Autoren waren der Jurist Carl
Binding und der Mediziner Alfred Hoche. Der genaue Ti-
tel lautet: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten
Lebens, die Unterzeile: Ihr Maß und ihre Form. In sehr
nüchterner Art sprechen die Autoren Menschen mit
schweren angeborenen Schädigungen die Fähigkeit ab,
ein vollwertiges Leben führen zu können. Ihr Vorschlag:
Diese Menschen durch einen „guten“ Tod (eu thanatos,
aus dem Griechischen) von ihrem Leiden und ihrem Le-
ben zu erlösen. Zugleich sollte damit die Gesellschaft die
Kosten und die Mühen der Pflege einsparen. Welch eine
Hybris, welch ein Verstoß gegen das göttliche Gebot: Du
sollst nicht töten. Die Angehörigen und die Kirchen wa-
ren es, deren Protest diese Mordaktion stoppte.
Wenn nun die PDS die Aktion T 4 als verbrecherisch
darstellt, müsste sie konsequenterweise die Abtreibung
nach eugenischer Indikation bekämpfen. Davon hat man
nie etwas gehört. Im Gegenteil, die PDS hat sich immer
für eine völlige Freigabe der Abtreibung ausgesprochen.
Und so werde ich einfach den Verdacht nicht los, die PDS
nutze diesen Vorgang auch um ihr Weltbild zu stützen und
zu propagieren. Hinter den Untaten des NS-Regimes lässt
sich die hochbelastete Vergangenheit des Kommunismus
trefflich verstecken, dessen Erbe und Ausläufer die PDS
zweifellos ist. Dazu diente und dient die „antifaschisti-
sche Propaganda“.
Und es drängt sich der Gedanke auf, dass es für die
Glaubwürdigkeit des antitotalitären Konsenses in unserer
Gesellschaft gut gewesen wäre, die SED beziehungsweise
PDS nach dem Mauerfall zu verbieten. Die juristischen
Voraussetzungen waren jedenfalls gegeben. So aber wer-
den sich die demokratischen Parteien in diesem Haus
noch so manches Mal mit PDS-Anträgen beschäftigen
müssen, die aus einer Gemengelage von vordergründig
humanem Anlass und beigepackter Propaganda bestehen.
Der Vergleich mit dem „I-love-you“-Virus, das dieser
Tage schadensträchtig um die Welt ging, hinkt nur wegen
der Begrenztheit seiner Wirkdauer.
Meine Damen und Herren, wir von der CDU/CSU-
Fraktion sind gegen die PDS-Viren immun. Wir lehnen
den PDS-Antrag ab.
Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen): Die Regie-
rungsfraktionen haben – mittlerweile mit Unterstützung
aller Fraktionen dieses Hauses – einen Gesetzentwurf für
die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ auf
den Weg gebracht. Wir sind darüber sehr froh, denn damit
wird unser wichtigstes Versprechen aus der Koalitions-
vereinbarung an die Opferverbände umgesetzt. Soweit es
sich um im Inland und Ausland lebende NS-Opfer, na-
mentlich die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter,
KZ-Häftlinge, Opfer von Menschenversuchen oder Insas-
sen der NS-Arbeitserziehungslager, handelt, werden mit
dieser Stiftung endlich auch Opfer umfasst, die als „ver-
gessene“ oder bislang ausgegrenzte Opfer zu bezeichnen
sind.
Aber im Inland leben weitere Opfer, die entweder
keine oder in den meisten Fällen keine zureichende Ent-
schädigung erhalten haben, die sich mit geringfügigen
Einmalzahlungen zufrieden geben mussten. Diese Opfer
fallen zumeist nicht unter die Regelungen dieser Stiftung.
In einzelnen Bereichen hat man ja in Deutschland in
den letzten Jahren für bestimmte Betroffenengruppen
nachgebessert. Ich nenne hier beispielhaft die Renten in
Höhe von monatlich 500 DM, die jüdische Opfer mittler-
weile im Rahmen des so genannten Artikel-2-Fonds er-
halten können, wenn sie zuvor keine ausreichende Ent-
schädigung erhalten haben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 9639
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Für andere Opfergruppen gibt es diese Grundrente aber
bislang nicht oder allenfalls auf Landesebene In den letz-
ten Wahlperioden haben Bündnis 90/Die Grünen und SPD
deshalb darauf gedrängt, eine befriedigende bundesweite
Lösung zu finden. Und deshalb ist dieses Projekt, eine
zweite Bundesstiftung für die „vergessenen Opfer“ vor-
zubereiten, auch in die Koalitionsvereinbarung aufge-
nommen worden. Wir brauchen hier also keine Nachhilfe
der PDS.
Wir müssen nun schauen, welche Betroffenen tatsäch-
lich unter das Stiftungsgesetz „Erinnerung, Verantwor-
tung, Zukunft“ fallen werden und welche nicht. Das wis-
sen wir erst nach Verabschiedung des Gesetzes im Bun-
destag. Die Regierungsfraktionen haben sich deshalb
darauf verständigt, über das zweite Projekt für die „ver-
gessenen Opfer“ erst im Herbst in Detailgespräche einzu-
treten.
Die PDS fordert zudem die Anerkennung der Zwangs-
sterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten als rassisch
Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes
und verbesserte Leistungen für diese. Ich muss zuerst da-
rauf verweisen, dass der Begriff, den die PDS für die
„Euthanasie“-Geschädigten wählt, sehr problematisch ist.
Er schließt nämlich die aus, die das Tötungsprogramm
selbst überlebt haben, und konzentriert sich allein auf die
Angehörigen. Ansonsten greift die PDS wiederum allein
die Forderung auf, die Bündnis 90/Die Grünen schon von
jeher vertreten haben, zuletzt sogar mit einem eigenen Ge-
setzentwurf zum NS-Aufhebungsgesetz, der das Ziel
hatte, die Zwangssterilisierten als NS-Verfolgte anzuer-
kennen.
Die eigentlich komplizierte Frage ist aber die der
Rechtsfolgen. Hier ist interessant, dass die PDS zwar die
genannten Betroffenen als rassisch Verfolgte anerkennen
will, für sie aber nicht wieder die Antragsfrist nach dem
BEG öffnen will. Die Betroffenen sollen nach dem Willen
der PDS auch nicht die regulären BEG-Leistungen, etwa
für einen Berufsschaden, bekommen, sondern stattdessen
eine einmalige Pauschalabfindung. Wenn die Fristen für
das BEG aber nicht geöffnet werden, könnten die Betrof-
fenen für den Gesundheitsschaden allein die Härteleis-
tungen nach dem BEG erhalten. Diese wären aber nicht
höher als die Härteleistungen, die die Zwangssterilisierten
heute schon aufgrund des allgemeinen Kriegsfolgenge-
setzes (AKG) bekommen. Damit wäre also nichts gewon-
nen.
Wenn man aber umgekehrt die Fristen zum BEG für
die Zwangssterilisierten öffnen würde, müsste man das
BEG auch für andere Betroffenengruppen öffnen, um
keine neuen Ungerechtigkeiten zu schaffen. Das will
aber die Mehrzahl der deutschen Verfolgtenverbände
nicht und favorisiert – wie wir – eine unbürokratische
Bundesstiftung. Und wenn die PDS den Zwangssterili-
sierten und „Euthanasie“-Geschädigten eine Zusatzzah-
lung von einmalig 10 000 DM zahlen will, wird sie den
Militärjustizopfern, Homosexuellen und so genannten
Asozialen, die vielleicht auch einen Berufsschaden erlit-
ten haben, erklären müssen, warum sie nicht auch eine
solche Leistung erhalten sollen. Mit einem Wort: Das
Konzept der PDS ist undurchdacht und in sich wider-
sprüchlich. Auch können wir nicht dem Anliegen der PDS
zustimmen, „ausländische NS-Opfer (...) in gleicher
Weise zu entschädigen wie jene, die deutsche Staatsbür-
ger sind“. Dies hieße, das Regelwerk, das mit den Global-
abkommen im Westen und Osten – und nun ergänzend mit
der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ – be-
schlossen wurde, in eine außerordentlich komplizierte Si-
tuation zu bringen.
Wir tun deshalb gut daran, unter Gesichtspunkten der
Gleichbehandlung aller Opfer Verbesserungen für die
„vergessenen Opfer“ im Rahmen unserer Debatte für eine
zweite Bundesstiftung aufzugreifen. Wir haben auch
nichts dagegen, in einem ersten Schritt schon Verbesse-
rungen bei den jetzigen Härteregelungen vorzunehmen,
wie dies von den Betroffenenverbänden gewünscht ist.
Erstaunlicherweise tauchen diese im Forderungskatalog
des PDS-Antrages aber nicht auf. Ich nenne beispielhaft
eine Reform bei der Anrechnung des Familieneinkom-
mens. Im Übrigen regen wir an, nachdem die Urteile der
NS-Erbgesundheitsgerichte gegen die Zwangssterilisier-
ten mittlerweile als NS-Unrecht gesetzlich aufgehoben
wurden, durch eine Entschließung des Deutschen Bun-
destages zu dokumentieren, dass wir als Parlament die
„Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten als
Verfolgte anerkennen und ihnen damit auch ihre Würde
wiedergeben wollen. Rechtsfolgen im Sinne einer Öff-
nung des BEG sind damit nicht zwingend verbunden.
Dr. Max Stadler (F.D.P): Mit dem heute in erster Le-
sung zu behandelnden Antrag wird die Regierungskoali-
tion zu Recht daran erinnert, dass sie in der Koalitions-
vereinbarung eine Entschädigungsregelung für die so ge-
nannten vergessenen NS-Opfer versprochen hat.
Eine Koalitionsvereinbarung geht in ihrer Wirkung
weit über das hinaus, was von Parteien beispielsweise in
Wahlprogrammen angekündigt wird. Eine Koalitionsver-
einbarung ist das Programm, das die Koalitionspartner
mit bindender Wirkung vertraglich verabreden. Damit
verpflichten sich die Koalitionspartner nicht nur im Ver-
hältnis zueinander, sondern sie wecken in der Öffentlich-
keit und insbesondere bei den Betroffenen die sichere Er-
wartung, das Vereinbarte werde auch realisiert.
Diese Hoffnung ist jedoch von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen bisher nicht erfüllt worden. Von einer Lösung
der Problematik der so genannten vergessenen Opfer war
in den letzten 18 Monaten keine Rede mehr. Damit zeigt
sich wieder einmal, dass es offenkundig leichter ist, aus
der Oppositionsrolle heraus Anträge zu stellen, als in ei-
ner Regierung gegebene Versprechen einzuhalten. Denn
sowohl von der SPD als auch den Grünen sind in der Ver-
gangenheit wiederholt Anträge auf Errichtung von Stif-
tungen zur Entschädigung von NS-Unrecht gestellt wor-
den.
Die Regierungsfraktionen werden aufgrund des vorlie-
genden Antrags Auskunft darüber geben müssen, warum
sie nun für die „vergessenen Opfer“ nichts tun. Dabei hat
die F.D.P.-Fraktion durchaus Verständnis für eine Argu-
mentation, die auf die vorrangige Lösung der Zwangsar-
beiterproblematik verweist. Das Gesetz zur Errichtung ei-
ner Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zu-
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kunft“ ist ja soeben von allen Fraktionen gemeinsam im
Bundestag eingebracht worden. Das gemeinsame gesetz-
geberische Bemühen muss sich jetzt darauf konzentrie-
ren, dieses Stiftungsgesetz noch vor der Sommerpause zu
verabschieden, damit eine humanitäre Geste in Form von
finanziellen Zuwendungen an die Zwangsarbeiter und
Zwangsarbeiterinnen geleistet werden kann.
Die Zwangsarbeiter-„Entschädigung“ stellt ohne
Zweifel für die öffentliche Hand einen finanziellen Kraft-
akt dar. Es ist verständlich, wenn nicht zeitgleich weitere
finanzielle Leistungen für andere Opfergruppen beschlos-
sen werden können. Dies hätte allerdings SPD und Grü-
nen schon bei Abschluss ihrer Koalitionsvereinbarung
klar sein müssen.
Entscheidend dafür, dass das Thema von der Regie-
rungskoalition hinten angestellt wird, ist aber offenkundig
ein Dissens zwischen den Regierungsfraktionen. Daher
wird die F.D.P. in den Ausschussberatungen genau nach-
fragen, ob denn von der neuen Regierungskoalition nun
doch wieder die stets vom Bundesfinanzministerium ver-
tretene Auffassung übernommen wird, wonach gar keine
Notwendigkeit für neue Entschädigungsregelungen be-
stehe. Zu vermuten ist, dass diese traditionelle Haltung
des Bundesfinanzministeriums weiterhin bei der SPD
Sympathie genießt, von den Grünen jedoch abgelehnt
wird. Wenn sich dieser Dissens herausstellen sollte, wäre
es allerdings nicht verwunderlich, dass sich die Koaliti-
onsvereinbarung in diesem Punkt als unerfüllbares Ver-
sprechen erweist.
Dr. Ilja Seifert (PDS): Erst vor wenigen Wochen hat
der Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen, die Bun-
desstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ zu
gründen. 55 Jahre mussten vergehen, um die Entschädi-
gung der vom Naziregime und seinen Helfern ausgebeu-
teten Arbeitssklaven endlich zu regeln. Aber der Skandal
dauert fort; denn noch immer versuchen deutsche Unter-
nehmen, sich vor einer Beteiligung an der Entschädigung
der Zwangsarbeiter vorbeizudrücken.
Und noch immer gibt es die so genannten „vergesse-
nen“ Opfer, die überwiegend keine oder sehr geringe Ent-
schädigungsleistungen erhielten.
Homosexuelle, Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-
Geschädigte, Sinti und Roma, so genannte Asoziale und
andere gehören ebenso dazu wie solche, die in den Zeiten
des Kalten Krieges von Leistungen des Bundesentschädi-
gungsgesetzes gezielt ausgeschlossen wurden.
In ihrer Koalitionsvereinbarung hatten SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen vorgesehen, eine entsprechende Bun-
desstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ zu gründen
und die Entschädigung auf den Weg zu bringen. Da die
Regierungsfraktionen bisher keinen Gesetzentwurf vor-
gelegt haben, um die Koalitionsvereinbarung in diesem
Punkt zu realisieren, hat die PDS Ende 1999 den heute zu
behandelnden Antrag eingebracht.
Nachdem bald zwei Jahre seit den letzten Bundestags-
wahlen vergangen sind und jeden Monat Überlebende des
Naziterrors sterben, ist es nicht länger hinnehmbar, dass
Opfern eine umfassende moralische und finanzielle Ent-
schädigung versagt bleibt. Dabei geht es nicht nur um
diese Opfer, sondern auch um die Glaubwürdigkeit so vie-
ler Bekenntnisse aus allen Bundestagsparteien, dass
Rechtsextremismus und Neonazismus in der Gesellschaft
der Bundesrepublik nicht toleriert werden dürfen.
Erinnern und nicht vergessen heißt eben auch, den
Überlebenden des Naziterrors mit Würde zu begegnen
und sie – wie leider in vielen Fällen üblich – nicht in Äm-
tern fragwürdigen Bedürftigkeitsprüfungen zu unterwer-
fen, um ihnen dann in „Notsituationen“ eine bescheidene
finanzielle Hilfe zu gewähren.
Exemplarisch für die so genannten „vergessenen“ Op-
fer stehen die NS-Opfer der Zwangssterilisation und der
„Euthanasie“. Frühzeitig, gleich nach ihrem Machtantritt,
erließ die Nazi-Führung das „Gesetz zur Verhütung erb-
kranken Nachwuchses“, dessen juristische Begründung
auf der nationalsozialistischen Rassendoktrin und -politik
beruhte. Es war eines der ersten Massenvernichtungsge-
setze der Nazis und Grundlage für die nachfolgenden
Mordaktionen zur Vernichtung so genannten „unwerten
Lebens“.
Unter missbräuchlicher Nutzung des Begriffs Euthana-
sie wurden mehr als 200 000 kranke und behinderte Men-
schen ermordet – zumeist in systematischen Tötungsak-
tionen, für die ab 1939 die „Aktion T 4“ stand. Noch heute
wird deutlich, dass Hadamar, Bernburg, Sonnenstein,
Grafeneck und Hartheim viele weitere Ortsnamen hinzu-
zufügen wären, an denen ebenfalls unentschuldbare „Eu-
thanasie“-Verbrechen begangen wurden. Gerade nach den
jüngsten Diskussionen in Jena und Stadtroda sage ich un-
missverständlich, dass „Euthanasie“-Verbrechen ohne
Wenn und Aber als solche benannt werden müssen und
nicht verharmlost werden dürfen.
Zur rassistisch begründeten Verfolgung gehörten auch
die verbrecherischen Zwangssterilisationen, die ab 1933
an etwa 400 000Menschen begangen wurden. In der Bun-
desrepublik leben heute noch etwa 20 000 Opfer der NS-
Zwangssterilisationen sowie circa 7 000 bis 8 000 „Eut-
hanasie“-Geschädigte.
Trotz der Härteleistungen und Aufhebung nationalso-
zialistischer Unrechtsurteile bleibt festzuhalten: Eine an-
gemessene finanzielle Entschädigung und eine klare An-
erkennung der Opfer als Verfolgte stehen nach wie vor
aus.
Die PDS fordert in ihrem Antrag ausdrücklich, die
Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ für alle
so genannten „vergessenen“ Opfer unverzüglich zu grün-
den und im Rahmen dieser Stiftung „für eine angemes-
sene Entschädigung aller bisher nicht oder nur unzurei-
chend berücksichtigten NS-Opfer Sorge zu tragen“.
Beispielhaft, aber durchaus auf andere Opfergruppen
anwendbar, sind im Antrag der PDS speziell für „Eu-
thanasie“-Geschädigte und Zwangssterilisierte Wege der
Entschädigung aufgezeigt worden.
Dabei geht es um zwei Kernfragen: Erstens. Die be-
troffenen Opfer werden als Verfolgte anerkannt, denen ein
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2000 9641
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(D)
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juristischer und moralischer Anspruch auf Entschädigung
zusteht.
Zweitens. Als Wiedergutmachung erhalten die Opfer
eine einmalige Entschädigung von 10 000 DM innerhalb
von 12 Monaten nach Verabschiedung des Gesetzes, un-
abhängig von bisher gezahlten Beihilfen oder eventuellen
früheren Verzichtserklärungen, unabhängig von den Ein-
kommens- undVermögensverhältnissen derOpfer undmit
geringstmöglichemAntrags- und Verwaltungsaufwand.
Wieso können diese relativ einfachen Regelungen für
eine sehr begrenzte Anzahl von Opfern des NS-Regimes
nicht endlich in entsprechende gesetzliche Regelungen
umgesetzt werden? Was hindert die Bundesregierung da-
ran, endlich zu ihrem Wort zu stehen?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 20009642
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