Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen ei-nige Änderungen bei der Besetzung von Gremien vor-genommen werden.Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der frühere Kol-lege Ernst Schwanhold aus dem Vermittlungsausschussals ordentliches Mitglied ausscheidet. Als Nachfolgerwird der Kollege Dr. Norbert Wieczorek vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist der Kollege Wieczorek als or-dentliches Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der frühereKollege Peter Jacoby aus dem Gemeinsamen Aus-schuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes als ordentli-ches Mitglied ausgeschieden ist. Als Nachfolger schlägtdie Fraktion den Kollegen Helmut Rauber vor. SindSie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist der Kollege Rauber als ordentlichesMitglied im Gemeinsamen Ausschuss bestimmt.Der Kollege Michael von Schmude scheidet ausdem Schuldenausschuss bei der Bundesschuldenverwal-tung aus. Als Nachfolger schlägt die Fraktion derCDU/CSU den Kollegen Hans Jochen Henke vor. SindSie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist der Kollege Henke in den Bundes-schuldenausschuss entsandt.Des Weiteren teilt die Fraktion der CDU/CSU mit,dass die Kollegin Dr. Maria Böhmer als stellvertreten-des Mitglied aus der Parlamentarischen Versammlungdes Europarates ausscheidet. Nachfolger soll der Kolle-ge Joachim Hörster werden. Sind Sie damit einver-standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist derKollege Hörster als stellvertretendes Mitglied in die Par-lamentarische Versammlung des Europarates gewählt.Sodann teile ich mit, dass interfraktionell eine Erwei-terung der verbundenen Tagesordnung vereinbart wurde.Die entsprechenden Zusatzpunkte bitte ich der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste zu entnehmen: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUgemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe Ausschuss für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung GO-BT zu den Ant-worten der Bundesregierung auf die Fragen 7 und 8 inDrucksache 14/2948 zur Rente und Rentenanpassung ent-sprechend der Inflationsrate 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Anke Hartnagel, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke, Sylvia Voß, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz der Waledauerhaft sicherstellen – Drucksache 14/2985 – 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Marga Elser, UlrikeMehl, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on der SPD sowie der Abgeordneten Sylvia Voß, Gila Altmann, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbot des Elfen-beinhandels wieder herstellen – Drucksache 14/2986 –
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Lamers, PeterWeiß , Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Stabilitäts-pakt Südosteuropa mit Leben erfüllen – Drucksache14/2768 –
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Hal-tung der Bundesregierung zur Fusion von Deutscher Bankund Dresdner Bank und zu den öffentlichen Diskussionenüber die Folgen dieser Fusion 6. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zwei-ten Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
– Drucksache
14/2983 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss 7. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zum Schutz der Stromerzeugung aus Kraft-
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Wärme-Kopplung – Drucksa-che 14/2765 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Anschlusses für Wirtschaft und Technologie – Druck-sache 14/3007 – Berichterstattung: Abgeordneter Volker Jung (SPD) 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred Hartenbach,Margot von Renesse, Wilhelm Schmidt , Dr. PeterStruck und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenVolker Beck , Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauchund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rehabilitie-rung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuel-len – Drucksache 14/2984 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe HaushaltsausschussVon der Frist für den Beginn der Beratung soll – so-weit es bei einigen Tagesordnungspunkten erforderlichist – abgewichen werden.Darüber hinaus wurde vereinbart, heute Morgen zu-erst mit der Beratung der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Energiepolitik für das 21. Jahrhundertzu beginnen. Die Regierungserklärung zum Washingto-ner Artenschutzübereinkommen beginnt somit erst imAnschluss daran. Auch sollen die Beratungen zu denTagesordnungspunkten 6 – Altschuldenhilfe – und 11 –Doping im Spitzensport – getauscht werden und der Ta-gesordnungspunkt 7 a bis c – es handelt sich um Vorla-gen zur Deregulierung im Umweltmanagement – sollabgesetzt werden. Der Tagesordnungspunkt 14 – Nicht-verbreitungsvertrag – soll ohne Debatte überwiesenwerden.Im Übrigen mache ich darauf aufmerksam, dass dievon der Fraktion der F.D.P. verlangte Aktuelle Stundezur Hermes-Bürgschaft für eine neue Kernenergieanlagein China am Freitag wegen der langen Dauer der Plenar-sitzung zurückgezogen wurde.
Schließlich weise ich noch auf nachträgliche Aus-schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktlistehin: Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Eine Steu-erreform für mehr Wachstum und Beschäfti-gung – Drucksache 14/2688 – überwiesen: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann OttoSolms, Hildebrecht Braun , RainerBrüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder F.D.P.: Unternehmensteuerreform – libera-le Positionen gegen die Steuervorschläge derKoalition – Drucksache 14/2706 – überwiesen: Finanzausschuss
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit HaushaltsausschussDie in der 93. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Vorlagen sollen zusätzlichdem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Fors-ten zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zurUmsetzung einer Steuerreform für Wachstumund Beschäftigung – Drucksache 14/2903 – überwiesen: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, RolfKutzmutz, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der PDS: Besteuerungder Unternehmen nach deren Leistungsfähig-keit – Drucksache 14/2912 – überwiesen: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKurt-Dieter Grill, Gunnar Uldall, Dr. Klaus W.Lippold , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU: Energiepolitik fürdas 21. Jahrhundert – Energiekonzept derBundesregierung für den Ausstieg aus derKernenergie – Drucksachen 14/676, 14/2656 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir diskutieren heute den Kernenergieausstieg unddie Frage: Liegt diesem Kernenergieausstieg auch einenergiepolitisches Konzept der Bundesregierung und dersie tragenden Parteien zugrunde?Lassen Sie mich zunächst einmal eine grundsätzlicheFrage stellen: Wie muss die Energiepolitik im 21. Jahr-Präsident Wolfgang Thierse
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8735
hundert gestaltet sein? Es sollte eine Energiepolitik sein,die die Umwelt schont, die in unserem Land die Grund-lage für eine effiziente Energieversorgung zu interna-tional wettbewerbsfähigen Preisen schafft und die aufDauer so ausgerichtet ist, dass auch zukünftige Genera-tionen auf dem aufbauen können, was wir politisch vor-entschieden haben.Es muss eine Antwort für eine nationale Energiepoli-tik sein, die sich an den internationalen Herausforderun-gen orientiert und sich nicht aus dem europäischen undinternationalen Rahmen verabschiedet.
Auch wenn die derzeit entspannte Situation der Welt-energiemärkte den einen oder anderen darüber hinweg-täuscht, müssen wir uns auch darüber im Klaren sein,dass sowohl die nationale wie auch die internationaleEnergiepolitik vor gewaltigen Zukunftsproblemen steht.Der Weltenergiebedarf hat sich in den letzten dreiJahrzehnten verdoppelt. Bis zum Jahre 2020 wird eineweitere Steigerung von 40 Prozent erwartet. AnderePrognosen sprechen von 75 Prozent. Der damit verbun-dene weltweite Anstieg der CO2-Emissionen liegt auf der Hand. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit vonglobalen Umweltkatastrophen – Stichwort: Klimakata-strophe. Jede Energienutzung muss deshalb mit dem globalenKlimaschutz im Einklang stehen. Das heißt nun wieder,dass die Konzentration der Treibhausgase in der Atmo-sphäre langfristig auf einem Niveau stabilisiert werdenmuss, das eine gefährliche anthropogene Störung desKlimasystems vermeidet. Das würde bedeuten, dass wirbis 2050 einen Beitrag zur Emissionsreduktion in un-serem Land in der Höhe von 70 bis 80 Prozent leistenmüssten. Was das bedeutet, brauche ich nicht im Einzel-nen auszuführen.Um das zu bewältigen, benötigen wir aber ein klaresKonzept, klare Aussagen, konkrete, in sich schlüssigeHandlungsstrategien und die Setzung und Umsetzungvon Rahmendaten. Das erwarteten wir eigentlich vonder Antwort der Bundesregierung auf unsere Große An-frage. Der Wirtschaftsminister hat noch im Februar ge-sagt:Wir führen Deutschland in eine sichere Zukunft. Der Wirtschaftsminister sagt: Wir werden ein Energiekonzept vorlegen. Wir werden Eckpunkte vorlegen.Die Frage ist nur, meine Damen und Herren: wann? Dasist der Punkt. Im Grunde hätten wir erwarten müssen,dass ein solches Energiekonzept vorliegt, bevor überden Ausstieg aus der Kernenergie entschieden wird.
Deshalb wollten wir auch deutliche, klare und konkreteAntworten auf unsere Fragen. Das Ergebnis ist, wennich es vorsichtig formuliere, Herr Minister, schwammig,unklar, unpräzise, ausweichend. Auf viele Fragen ver-weigern Sie die Antworten.
Ich will deutlich machen, wie unterschiedlich dasaussieht. Das muss man sich einmal klarmachen. Dawird zum einen formuliert:... werden durch den Ausstiegsbeschluss der Bun-desregierung weder zusätzliche Kosten noch zu-sätzliche Emissionen verursacht.Man freut sich darüber, da es eine klare Formulierungist. Aber einen Absatz weiter lesen wir:Ob und inwieweit per Saldo volkswirtschaftlicheKosten entstehen, wird sich erst zeigen, wenn kon-krete Daten über den Vollzug des Ausstiegs aus derNutzung der Kernenergie und über den Umbau desEnergieversorgungssystems einschließlich des Auf-baus von Ersatzkapazitäten vorliegen. Dies gilt ingleicher Weise für eventuell zusätzliche Emissio-nen.Das heißt, Herr Wirtschaftsminister, die klare Aussagehält nur einige wenige Zeilen an. Dann stellen Sie sieselbst infrage und beantworten die Fragen somit nicht.Vorher hätten Sie sie beantworten müssen. Hier wird derWiderspruch in ganz wenigen Zeilen deutlich. So kön-nen wir keine Politik machen. Das ist nicht zukunfts-orientiert.
Die entscheidende Frage der Zukunftsorientierungbleibt offen. Damit stellt sich die Grundsatzfrage derKlimapolitik in Deutschland – wir hatten bislang eineFührungsrolle, leider haben wir sie nicht mehr; daraufkomme ich noch – und auch für Europa und internatio-nal.Wir kommen zu einem entscheidenden Punkt. Hältdie Regierung das Ziel ein, die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent zu reduzieren? Daran hängt übri-gens auch die Glaubwürdigkeit unserer Klimapolitik iminternationalen Kontext. Lassen Sie in diesem Zusam-menhang zur Beantwortung der Frage nicht mich spre-chen, sondern den Sachverständigenrat für Umweltfra-gen.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen formu-liert:Der Umweltrat nimmt zur Kenntnis, dass eine voll-ständige Zielerreichung bis zum Jahr 2005 inzwi-schen nur noch durch einschneidende Maßnahmenzu erreichen ist. Das Klimaschutzziel wird also al-ler Voraussicht nach verfehlt werden. Absolute Pri-orität räumt er deshalb der Entwicklung einer Kli-maschutzstrategie ein, die gesellschaftlich und öko-nomisch verträglich ist und eine langfristige Re-duktion der Treibhausgasemissionen über das Jahr2005 hinaus gewährleistet.Dr. Klaus W. Lippold
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Der Sachverständigenrat formuliert sehr vornehm. Ichdrücke das in meiner Sprache viel einfacher und deutlichaus: Von dieser Regierung erwartet der Sachverständi-genrat nicht mehr, dass sie ein Handlungsprogramm vor-legt, das die Zielerreichung bis 2005 gewährleistet. Vondieser Regierung erwartet er keine konkreten Maßnah-men mehr. Von dieser Regierung erwartet er allenfalls,dass sie sich jetzt schon Gedanken über ihr Versagenmacht, das sie irgendwann eingestehen muss. Das ist derKlartext in dieser Frage. Das heißt, der Sachverständi-genrat für Umweltfragen attestiert Ihnen, dass Sie in die-ser Frage versagen.
Er hat den Glauben an die Bundesregierung aufgegeben.Jetzt könnte man natürlich sagen: Sozialdemokratenmachen immer nur Sprüche. Aber das muss ja nicht sosein. Schauen wir einmal in den internationalen Kontext.Der britische Premier Blair hat jetzt ein Sofortpro-gramm vorgelegt und durch Herrn Prescott vorstellenlassen. Meine Frage ist: Warum kann das der PremierBlair, warum können Sie das nicht? Warum können dieBriten konkret werden, warum können Sie das nicht?Warum bekommen wir von Ihnen nur Ankündigungenund keine Maßnahmen, wie sie in diesem Fall von denBriten vorexerziert werden? Es ist doch ein Punkt, der uns zu denken geben muss,dass mittlerweile die Schwerpunkte in der Umweltpoli-tik sich von Deutschland wegbewegen – damit kommeich zum internationalen Kontext – und von anderenLändern gesetzt werden. Wir haben keine Vorreiterrollemehr. Herr Trittin hat auf den letzten internationalenKonferenzen schon keine Rolle mehr gespielt und, wiezu erwarten ist, wird er es auch künftig nicht tun. Aberselbst in den Punkten, in denen wir bislang national im-mer deutlich machen konnten, dass wir Vorreiter sind,versagen Sie. Da läuft nichts mehr. Wenn das so weiter-geht, stellt das natürlich auch die europäische Zusage iminternationalen Kontext in Frage. Wenn wir hier inDeutschland unser Ziel nicht erreichen, wird die EU ihrZiel verfehlen, weil das Ziel der EU zur Klimareduktiondavon abhängig ist, dass wir unsere Vorgaben erreichen.Das ist ein ganz wesentlicher Punkt.Die Frage ist: Wie können wir denn Kernenergie er-setzen? Solarenergie kann es nicht sein. Wir wollen So-larenergie fördern, aber sie kann ganz einfach die Kern-energie nicht ersetzen. Wie sagt Minister Müller?Wir werden die Masse des deutschen Kern-energiestroms nicht aus dem heutigen europäischenKraftwerksbestand ergänzen können. Aber es gibtTendenzen, den grenzüberschreitenden Stromhan-del an sich, aber auch durch deutsche Neubauten imAusland zu verstärken. Das halte ich für bedauer-lich, weil dann Stoibers Argument von der Arbeits-platzvernichtung doch noch tragen könnte.Es sind die Konsequenzen Ihrer Politik, die Sie selbstvorzeichnen. Gelegentlich negieren Sie das hier im Par-lament. Aber ich sage: Dass Standorte zukünftig auch inDeutschland möglich sind, stellen Sie doch selbst inFrage. Sie sagen selbst: Dann, wenn wir aussteigen, wirdmeine erste Überzeugungsarbeit dem gelten müssen,dass ein neues Kraftwerk kommen muss. Und das Zwei-te wird sein, dass dieses Kraftwerk auch in Deutschlandund nicht jenseits der Grenzen gebaut wird.Wir können nicht – so sagen Sie, Herr Müller – gegenden Bau von Kernkraftwerken oder gegen jeden Bauvon Kraftwerken sein; sonst verlieren wir den größtenEinzelinvestor im Land. Was sagt Ihr Kollege Müller, der Umweltpolitiker,von der SPD? – Er sagt schlicht und ergreifend Nein zudem Kraftwerksbau, wie Sie ihn vorschlagen. Die Wi-dersprüche, die wir seit gut einem Jahr in dieser Frageaufzeigen, sind völlig ungeklärt. Sie sprachen weiterhinvon Kraftwerksbauten in großem Umfang, dort wird voneiner völlig anderen Strategie geredet und Sie haben bis-lang nichts anderes vorgelegt. Sie wollen sich in Deutschland aus der Kernenergieverabschieden, weil deren Nutzung so gefährlich undunverantwortlich ist. Aber wie ist es denn dann mit denHermes-Bürgschaften, meine Damen und Herren? ImGrunde genommen ist es verlogen und menschenverach-tend, wenn wir die Zusage von Hermes-Bürgschaften fürden Bau von Kernkraftwerken in China geben, abergleichzeitig die Nachrüstung in der BundesrepublikDeutschland, die sicherheitserhöhend ist, verhindern.
Wieso – frage ich Sie – stützen wir den Bau von Kern-kraftwerken in anderen Regionen der Welt, aber die ei-genen, sicheren schalten wir ab? Wie steht es mit derweiteren Lieferung von spaltbarem Material? Gilt denndas Nonproliferationsargument in China nicht? HabenSie in China jederzeitigen Zugang und Kontrolle? Wa-rum schalten Sie bei anderen ab, aber in China liefernSie? Das sind doch die Fragen, die sich stellen. Sieschaffen in anderen Ländern der Welt Arbeitsplätze, aber in der Bundesrepublik Deutschland vernichten Siesie. Auf diesen Widerspruch geben Sie keine Antwort.
Da stellt sich doch die Frage: Welche Rolle spieltBundesaußenminister Fischer in diesem Zusammen-hang? Ich habe gehört, er hat im Kabinett reichlich An-träge vorgelegt, über die abgestimmt worden ist. Jetzthöre ich widersprüchliche Meldungen aus dem Haus-haltsausschuss. Da soll es Formulierungen gegeben ha-ben, die besagten, es müsse sich wohl um virtuelle An-träge gehandelt haben. Ich hätte gerne einmal Aufklä-rung in dieser Frage. Hat Herr Fischer auf dem Parteitaggelogen oder hat er nicht gelogen?
Man kann es natürlich auch anders ausdrücken. HerrFischer hat überhaupt keine Schwierigkeiten, einen grü-nen Grundsatz nach dem anderen zu verraten. Er wech-selt seine Grundsätze schneller als seine Hemden, wenner im internationalen Jetset-Kontext reist. Jetzt werfenSie mir nicht vor, dass ich ihm vorwerfen würde, erwürde seine Hemden schnell wechseln. Das ist schon inDr. Klaus W. Lippold
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8737
Ordnung. Aber der Sachverhalt, wie schnell er seineGrundsätze ändert, zeigt doch, dass diese Politik nichtglaubwürdig ist. Dieser Minister hängt die grünenGrundsätze in den Kleiderschrank, vergisst sie und lässtsie verstauben. Das haben Sie doch selbst schmerzlicherfahren. Jetzt höre ich, dass es sich im Kabinett um vir-tuelle Anträge und nicht um reale Anträge handelt. Die-sen Widerspruch hätte ich gerne aufgeklärt. Denn dagibt es einen offensichtlichen Dissens zwischen denAussagen im Haushaltsausschuss und den Aussagen aufdem Grünen-Parteitag. Das lassen wir nicht einfach sodurchgehen.
Ein ganz wesentlicher Punkt, der nur kurz angespro-chen werden kann: Sie halten die Ökosteuer, die weite-re Belastung der Bürger, für ein richtiges Konzept. DieÖkosteuer ist, um das im Klartext zu sagen, die klareVerneinung der Rio-Grundsätze.
Die Rio-Grundsätze heißen: ökologisches Vorgehen,ökonomisches Vorgehen und soziales Vorgehen.
Der Bundesregierung selbst liegen die Gutachten vor,die deutlich machen, dass die Ökosteuer in dieser Frageüberhaupt keine ökologische Lenkungskraft hat, dass sieversagt, dass sie allenfalls zur Einnahmebeschaffung gutist. Das wissen Sie. Bei Ihrem Kollegen Trittin sind dieÜberlegungen noch nicht abgeschlossen, eine zusätzli-che Erhöhung der Ökosteuer vorzunehmen und davondie Unternehmen auszunehmen, die ein Energie-Auditdurchführen. Bürokratie plus Bestrafung: Das kann esdoch wirklich nicht sein.
Zum Punkt Ökonomie. Sie belasten durch Ihre Vor-gehensweise den Mittelstand und nicht die Großver-schmutzer. Ich sage das einmal ganz deutlich. In ersterLinie werden die kleinen Betriebe belastet. Alles das,was Sie zur Mittelstandspolitik sagen, ist in dieser Hin-sicht Makulatur.Dann noch zum Sozialen; das ist an und für sich dasGrößte. Es gibt ja ebenfalls verschiedene andere Opposi-tionsparteien, die deutlich gemacht haben, dass die Öko-steuer nicht sozial ist. Es ist auch eine Diskussion inner-halb der Grünen und innerhalb der SPD. Aber der Sach-verhalt ist doch: Dadurch werden Rentner zusätzlichbelastet. Rentner werden nicht entlastet. In diesem Zu-sammenhang muss ich doch Ihre Rentenlüge Nummerdrei sehen. Ihr Kanzler hat zugesagt, dass die Renten,wenn sie schon nicht wie bisher erhöht werden – unsereReformen haben Sie ja abgelehnt –, dann doch zu-mindest einen Kaufkraftausgleich beinhalten. Aber wasSie jetzt vorhaben, bringt doch nicht einmal den Kauf-kraftausgleich. So unsozial gehen Sie mit den Rentnernum! Das hat mit der Rio-Formel überhaupt nichts mehrzu tun.
Das ist glatter Wortbruch. Wenn schon, dann müssen wir die Dinge im Zusam-menhang sehen. Wir meinen, dass es für die Zukunftbesser ist, wenn wir nicht einen Weg der Belastung,sondern einen Weg der Entlastung gehen. Wir wollenden Weg der Selbstverpflichtung konsequent weiterge-hen. Wir kennen Steuern nicht nur als Belastung, son-dern auch als Anreiz. Die Energieeinsparverordnungmüsste längst vorliegen. Legen Sie sie vor! Geben Sieihr zusätzliche Schubkraft, indem Sie sie mit steuerli-chen Erleichterungen und Zinsbezuschussung verbinden.Dann können wir ein Arbeitsbeschaffungsprogramm inGang setzen, das gleichzeitig dafür sorgt, dass die Ener-giepolitik vorangetrieben wird. Das sind die No-Regret-Maßnahmen, die Sie zitieren, aber nicht umsetzen. Dasfordern wir ein.Wenn es um diese konkrete Politik geht, bieten wirIhnen an zu kooperieren, bieten wir unsere Mitarbeit an,aber nicht in der Form, dass wir im Ausschuss nichteinmal erfahren, was beschlossen werden soll, und dieVorlagen erst zum Plenumsbeginn eingereicht werden,wie wir das in der Vergangenheit erlebt haben. In die-sem Punkt wünschen wir uns einen besseren parlamenta-rischen Stil und konkrete Vorgaben, die wir beratenkönnen. Dann sind wir bereit, konstruktiv mit Ihnen zu-sammenzuarbeiten.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wortdem Bundesminister für Wirtschaft, Werner Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Gestatten Sie mir, dass ich mich bemühe, zudem Thema der Großen Anfrage zu sprechen. Die Unionhat eine Große Anfrage zur Energiepolitik gestellt. Wirhaben diese Anfrage im Kabinett beantwortet. Daringeht es tatsächlich um Energiethemen. Insofern ist esschon verwunderlich, wenn in der Einführungsrede Din-ge wie Rentenlüge, Ökosteuer oder Verbürgung vonExportkrediten für chinesische Kraftwerke zur Dis-kussion gestellt werden.
Von all den Punkten, zu denen Herr Lippold etwassagte, will ich einen Punkt herausgreifen. In der Tat ha-ben wir für chinesische Kernkraftwerke den Exportdeutscher ingenieurtechnischer Leistungen verbürgt. Wirhaben nichts verbürgt, was originär etwas mit einemKernkraftwerk zu tun hat,
Dr. Klaus W. Lippold
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8738 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
sondern wir haben Dinge verbürgt, die in jedes Kraft-werk eingebaut werden.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Eines Ihrer Frakti-onsmitglieder, das inzwischen eine führende Positionhat, hat mich inständig gebeten, dafür zu sorgen,
dass Batterien, die in seinem Wahlkreis in einer mittel-ständischen Firma gefertigt werden, im Wert von 9 Mil-lionen DM Hermes-verbürgt werden, weil das für diesenWahlkreis eine bedeutende Sache sei.
– Das Problem haben Sie doch aufgeworfen.
Lassen Sie mich damit zu Ihrer Anfrage kommen undfeststellen: Sie ist insgesamt gut und erschöpfend be-antwortet worden, sodass aus Ihrer Sicht wenig Sinndarin besteht, über die einzelnen Antworten noch längermit uns zu sprechen. Statt dies zu tun, haben Sie gesternin der Presse verkündet, die Antwort auf diese GroßeAnfrage sei ein Beleg dafür, dass dieser Bundesregie-rung die energiepolitische Vision fehle.
Wenn man einige Dutzend Antworten erhält und das dieZusammenfassung ist, dann bedeutet das aus meinerSicht, dass Sie ausweichen. Man kann über energiepolitische Visionen streiten.Aber dann muss auch wissen, wer die Forderung nacheiner energiepolitischen Vision stellt. Ich will Ihnen sa-gen, dass das schon merkwürdig ist, was die Union hiertut. Als Sie zu regieren begonnen haben, hatten Sie einEnergieprogramm, in dem der merkwürdige Satz stand,dass es eine Entkopplung von Wirtschaftswachstumund Energieverbrauch niemals geben dürfe, weil sonstdas Wirtschaftswachstum abgewürgt werde. Wörtlichheißt es in dem Programm: Wirtschaftswachstum ohneEnergiezuwachs ist unmöglich. – Das war eine Vision,die Sie hatten. Dies ist mit ein Grund dafür, warum wirin den 80er- und 90er-Jahren so viel Überkapazitäten aufdem Energiemarkt aufgebaut haben. Sie hatten eine völ-lig falsche Vision von Wirtschaftswachstum und Ener-gieverbrauch.
Was Ihre Vision zur Kernenergie angeht, so gab esEnde 1980 eine erste Energie-Enquete, damals noch vonder sozialliberalen Regierung eingesetzt.
In dieser Energie-Enquete haben Sie vehement für dieVerdoppelung des Kernenergieanteils an der Energie-versorgung gekämpft. Sie haben dort mehrfach die Auf-fassung vertreten, dass die Kernenergie auf 50 Giga-watt ausgebaut und die Zahl der Kernkraftwerke ver-doppelt werden müsse. Das ist Ihre Vision von derKernenergie gewesen. Ich will sie Ihnen nicht streitigmachen. Ich will Ihnen nur sagen, was eingetreten ist. Seit 1980 ist kein einziges Kernkraftwerk bestelltworden. Die Zahl ist also nicht verdoppelt worden. Siehaben für einen Brüter gekämpft, den es nicht gibt. Siehaben für eine Wiederaufarbeitungsanlage gekämpft, diees nicht gibt. Das größte Problem aber ist – auch da istnichts geschehen und da haben Sie nicht gekämpft –:Wir haben bei der Entsorgung immer noch einen Zu-stand, der zu denken gibt und im schlimmsten Fall dasbaldige Ende des Kernkraftwerksbetriebes heraufbe-schwören wird.
Ich will Ihnen eine weitere Vision nennen. Sie hattenAnfang der 80er-Jahre die Vision, dass die Deutschenim internationalen Öl- und Gasgeschäft eine nationalePosition haben müssten. Was ist erreicht worden? Nachwie vor sind wir von Importen abhängig und haben kei-nerlei nationalen Einfluss bei den Förderquellen von Ölund Erdgas. Man könnte auch über die Richtigkeit dieserVision streiten. Jedenfalls ist keine von all diesen Visionen realisiertworden. Nun sagen Sie: Wir müssten Visionen entwickeln unddurchsetzen. Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Sol-che Visionen, die völlig realitätsfern sind und die wirgegen die Wirtschaft durchsetzen müssten, werden wirnicht entwickeln. Unser Ziel ist, zusammen mit derWirtschaft das zu tun, was, an den Forderungen der Zu-kunft gemessen, vernünftig ist, und entsprechend dieRahmendaten zu setzen, damit wir nicht etwa, wie Sie esjahrelang vorgemacht haben, irgendeiner Fata Morganahinterherrennen.
Sie wollen im Grunde nicht verstehen, dass dieseBundesregierung zur Kernenergie eine grundsätzlichandere Position hat als Sie. Es ist immer gesagt wor-den – das ist ja auch nicht zu bestreiten –, dass die deut-schen Kernkraftwerke aller Voraussicht nach sichersind, denn sonst würden sie abgestellt. Aber unabhängigvon der Tatsache, dass sie aller Voraussicht nach sichersind, ist völlig unstreitig, dass sie nicht hundertprozentigsicher sind, sondern dass, auch wenn das noch soBundesminister Dr. Werner Müller
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unwahrscheinlich ist, doch ein Schadensfall eintretenkönnte, der dieses Land unbewohnbar machen würde.
Vor diesem Hintergrund ist es absolut konsequent,dass alle Seiten – Sie, die Wirtschaft und auch Rot-Grün – sagen: Die Frage der Nutzung dieser Energiekann nur die Politik entscheiden. Die Politik hat darüberzu entscheiden, ob man eine Technik nutzt, die – sei esnoch so unwahrscheinlich – ein Land auf ewig unbe-wohnbar machen könnte.
Diese Bundesregierung hat die Entscheidung getroffen,dass wir diese Technik nicht auf Dauer nutzen wollen.
Ich halte das für eine durchaus nachvollziehbare Ent-scheidung, die zu treffen niemand anders in der Lageund berechtigt ist. Wir haben einfach einmal zu überlegen, was damitzusammenhängt. Sie tun so, als wäre der Streit um dieKernenergie sozusagen ein Streit um irgendeine neueMode für Damenoberbekleidung.
Es geht hier um eine grundsätzliche und sehr ernsthafteAuseinandersetzung und nicht darum – das unterstellenSie ja immer wieder –, dass wir von einem Tag auf denanderen aus der Kernenergie aussteigen wollen. Viel-mehr muss ein längerfristiger Übergangsprozess mit fol-genden Prämissen organisiert werden: Erstens werdenan dessen Ende keine Kernkraftwerke mehr in diesemLande betrieben, zweitens müssen bei der Entsorgunggleichwohl Fortschritte gemacht werden, drittens müs-sen die CO2-Ziele erreicht werden und viertens muss das alles auch noch in einem für Bürger und Wirtschaft be-zahlbaren Rahmen bleiben.
Wenn wir einmal ins Detail gehen und das eine oder an-dere Ihrer Anfrage beleuchten, werden Sie feststellen,dass wir keineswegs energiepolitisch völlig untätig wa-ren. Ich will auch darauf hinweisen, dass Sie einiges ge-macht haben, was ich grundsätzlich begrüße, es uns aberin einem völlig ungeordneten Zustand hinterlassen ha-ben: Erstens. Ich habe immer gesagt, dass die von Ihnengetroffenen kohlepolitischen Vereinbarungen vernünftigsind. Das Problem, das diese Bundesregierung hatte, waraber, dass wir, weil Sie für Ihre Kohlepolitik nicht dierichtigen Zahlen in den Haushalt eingesetzt hatten, dieseKohlepolitik erst einmal in der Haushaltsplanung reali-sieren mussten.
Zweitens. Sie haben es versäumt, den notwendigeneuropäischen Rahmen für Ihre Kohlepolitik zu organi-sieren. Auch dieses müssen wir in den nächsten Mona-ten erledigen.
Drittens. Bezüglich der Braunkohle haben Sie inOstdeutschland einen so ungeordneten Zustand hinter-lassen, dass ich mich frage, ob es überhaupt gelingt die-sen Zustand zu stabilisieren, ohne dass der Staat ein-greift? Es kann doch von Ihnen nicht ernsthaft geplantgewesen sein, auf der einen Seite den Wettbewerb aufdem Strommarkt einzuführen, aber auf der anderen Seiterund um Ostdeutschland einen Schutzzaun in der Hoff-nung zu legen, dass die Bürger in der ehemaligen DDRden Strompreiswettbewerb nur im Fernsehen verfolgen.
Das alles sind Kleinigkeiten, die Sie verschwiegen.Stattdessen werfen Sie uns, nachdem Sie eine erschöp-fende, umfangreiche Beantwortung von einem gutenDutzend Fragen erhalten haben, vor, es fehle uns an Vi-sionen und ansonsten dächten wir nur über China nach.Das ist keine ernsthafte Diskussion. Ich will Ihnen sagen, was wir machen werden. Ichhabe gesagt, die Nutzung der Kernenergie wird irgend-wann beendet, aber nicht kurzfristig, sondern in einemÜbergangsprozess. Wir werden an die Stelle dessen ei-nen Mix aus fossiler Energie, aus sehr sparsamer Ener-gieverwendung setzen und und wir werden zunehmendAnteile regenerativer Energien in den Energiemix ein-bauen. Da sind noch Potenziale zu erschließen. Bei-spielsweise werden wir demnächst eine Energieeinspar-verordnung fertig haben. Wir werden im Straßenverkehrdeutlich Richtung Dreiliterauto vorwärts kommen. Rati-onelle Energie hat also durchaus noch Zukunftspoten-ziale.1990 haben Sie vielleicht eine richtige Vision entwi-ckelt, indem Sie das Stromeinspeisungsgesetz erfundenhaben. Das ist überparteilich gegangen und das ist gutso. Wir haben es jetzt erneuert, renoviert und wir habenSorge dafür getragen, dass die Nutzung dieses Gesetzeskünftig zu deutlich höheren Raten der Sonnenenergie-nutzung in der Energiebilanz führt.Die Energiewirtschaft ist nämlich jetzt auch berech-tigt, Anlagen zu bauen und Einspeisevergütungen dafürzu erhalten. Die Energiewirtschaft wird dies nutzen, wiesie mehrfach versichert hat. Es ist übrigens für die Ener-giewirtschaft die einzige Form der Stromerzeugung, beider sie eine garantierte Rendite bekommt. So werden wirerleben, dass sich der Anteil der regenerativen Energienin wenigen Jahren deutlich erhöht. Das ist eine Vision,die trägt. Man kann zur Kernenergie stehen, wie manwill, man kann zu den fossilen Anteilen stehen, wieman will, eines ist sicher: In 50 Jahren – das ist fürBundesminister Dr. Werner Müller
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Energiepolitik kein langer Zeitraum, sondern der Planungs-zeitraum – werden wir vor einer relativen Knappheit vonÖl- und Erdgas stehen. Beide machen 50 Prozent unse-rer Energiebilanz aus. Infolge dessen bleibt gar kein an-derer Weg, als zunehmend regenerative Energien zuverwenden.Michael Müller hat schon vor langer Zeit einmal ge-sagt: Wir müssen die Brücke ins Solarzeitalter bauen.Und ich sage Ihnen: Wir werden in 40, 50 Jahren mitIhnen zusammen im Konsens auf dieser Brücke vielweiter gegangen sein, als Sie sich das heute vielleichtvorstellen.
Insofern werden wir ein Energiekonzept vorlegen.Ich weiß gar nicht, warum Sie den Zeitpunkt vermissen.Sie müssen mich vollständig zitieren. Wir werden es imFrühsommer vorlegen. Wir werden darin das einfließenlassen, was wir mit den gesellschaftspolitisch relevantenGruppen an energiepolitischer Diskussion führen. Dasist der Energiedialog, den der Vorsitzende des Forumsfür Zukunftsenergien, Herr Breuer, und der Wirt-schaftsminister zusammen ins Leben gerufen haben. Ichbedanke mich ausdrücklich bei Ihnen von der Union undvon der F.D.P. dafür, wie Sie bisher in diesem Energie-dialog mitarbeiten. Sie wissen, es sind vernünftige Ge-spräche. Es besteht der Versuch, die Bausteine eines Energie-konzeptes in einem die gesellschaftlichen Gruppen um-fassenden, konzeptionellen, konsensfähigen Ansatz zuformulieren. Ansonsten werden wir weitermachen. Wirhaben das Einspeisungsgesetz erneuert. Wir werden eineHilfestellung für bestehende Kraft-Wärme-Kopp-lungsanlagen geben. Wir haben ein Programm für100 000 Solarenergiedächer. Wir haben – gegenüber denAnsätzen bei Ihnen – die Mittel für Energieforschungverzehnfacht. Energiepolitisch wird hier also auch wei-tergearbeitet. Ich habe die herzliche Bitte an Sie, nicht inErkenntnis der Tatsache, dass eine vernünftige Energie-politik gemacht wird, in Allgemeinplätze zu verfallen,sondern sich konkret mit den Antworten auf die Fragen,die Sie gestellt haben, zu beschäftigen. Vielen Dank.
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Steffen
Kampeter, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Ich
beziehe mich auf die Äußerungen des Herrn Bundes-
wirtschaftsministers am Anfang seiner Rede zu den
Hermes-Bürgschaften. Herr Bundeswirtschaftsminis-
ter, gestern im Haushaltsausschuss waren Sie zu diesem
Thema erheblich auskunftsfreudiger und haben auf
Nachfragen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erläutert,
dass die Hermes-Anträge, von denen Vizekanzler
Fischer behauptet, dass sie abgelehnt worden seien, gar
nicht gestellt worden sind.
Das heißt, dass der Vizekanzler Fischer von der Ab-
lehnung virtueller Anträge ausgeht.
Der Kollege Lippold hat noch einmal ausdrücklich
angemahnt, auch dem Plenum des Deutschen Bundesta-
ges mitzuteilen, welche Anträge tatsächlich gestellt und
welche abgelehnt worden sind. So könnten Sie den Bun-
desaußenminister von dem zwangsläufigen Vorwurf der
Falschinformation der Öffentlichkeit und des Grünen-
Parteitages befreien und die deutsche Öffentlichkeit über
die Vorgänge im Kabinett, die Sie bisher offensichtlich
nicht offen legen wollen, informieren. Bisher scheint es
mir so zu sein, dass die Behauptung, das Bundeskabinett
habe Anträge abgelehnt und damit die Hermes-Bürg-
schaft für das chinesische Kernkraftwerk legitimiert,
falsch ist. Sie haben leider nichts dazu getan, dass diese
Fehlinformation der Öffentlichkeit von Ihnen heute kor-
rigiert wird.
Herr Minister, Siehaben Gelegenheit, auf die Intervention zu antworten.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Gestatten Sie, darauf hinzuweisen,dass ich die Tagesordnung, die Sie sich setzen, ernstnehme. Ich habe nicht so furchtbar viel Erfahrung mitParlamenten. Aber wenn Sie eine Anfrage an die Bun-desregierung stellen und eine Debatte über die Antwor-ten verlangen, dann möchte ich mich in meiner Redeauch auf diese Antworten beziehen.
Ich weiche aber Ihrer Frage nicht aus. Ich habe – viel-leicht haben Sie vorher abgelenkt – gesagt, dass wir fürKraftwerksbauten in China, die von anderen, nicht vonDeutschen verantwortet werden, Zulieferungen verbür-gen. Dies gilt beispielsweise für die Leittechnik, die injedes Kraftwerk – Kohle-, Öl- und Gaskraftwerke; siealle bekommen Leittechnik, meistens der Firma Sie-mens – eingebaut wird. Oder: Weil es für eine kleineFabrik im Sauerland enorm wichtig ist, verbürgen wirauch den Export von Batterien für das besagte Kraft-werk in Höhe von 9 Millionen DM.
– Das ist kein Ablenkungsmanöver. Sie wollen dochwissen, was verbürgt worden ist. Das sage ich Ihnenjetzt.
Nun zu der anderen Frage: Es ist gesagt worden, so-undso viele Kernkraftwerke würden nicht mit Hermes-Bundesminister Dr. Werner Müller
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Bürgschaften versehen. Ich habe an der Aussage an sichnichts auszusetzen. Ich habe nur gesagt: Es handelt sichdabei auch um Kernkraftwerke, zu denen nach Aussageder Bundesregierung kein Antrag auf Hermes-Bürg-schaft vorliegt. Wenn jemals ein Antrag vorliegen wür-de, den Export eines gesamten Kernkraftwerkes zu ver-bürgen, dann würden wir das nicht machen. Das ist eineklare Aussage.
Das habe ich gestern im Wirtschaftsausschuss gesagt;ich habe es gleich lautend im Haushaltsausschuss ge-sagt. Das ist alles nachlesbar.Eines möchte ich als der für Hermes zuständige Mi-nister nicht. Ich möchte nicht, dass das Instrument Her-mes in der öffentlichen Diskussion von irgendjeman-dem – insbesondere auch nicht von Ihnen, die Sie diesesInstrument jahrelang mitgetragen haben – der Beliebig-keit anheim gestellt wird. Das hat das Instrument nichtverdient.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Diese Antwort des Wirtschaftsminis-ters eben war ein Beleg für die Virtualität dieser Bun-desregierung. Es werden keine Anträge gestellt. undüber diese wird dann öffentlich debattiert. Herr Minister,allein der Fürsorgepflicht gegenüber dem Grünen-Parteitag hätte es bedurft, deutlich zu machen, dass esgar keine Anträge gab. Worüber haben die denn eigent-lich stundenlang diskutiert?
Der Ausdruck „Luftnummer“ trifft offenbar nicht nurauf Nordrhein-Westfalen und die Ereignisse dort zu,sondern auch auf das, was hier vor sich gegangen ist.Herr Minister, mich hat schon erstaunt, dass Sie inder Vorbemerkung zu Ihrer Rede gesagt haben, die Öko-steuer habe nichts – wie die CDU das in die Debatte ge-worfen hat – mit Energiepolitik zu tun. Das haben wirzwar immer gesagt; aber dass das ein Minister dieserBundesregierung vor dem Plenum noch einmal verdeut-licht, das ist aller Anerkennung wert.
Damit sind wir mitten in der Diskussion über IhreAntwort auf die Große Anfrage; denn selten hat eineAntwort auf eine Große Anfrage das Fehlen eines Kon-zepts so deutlich gemacht wie diese. Natürlich kann manselbst in einer ausführlichen Antwort nicht auf alles ein-gehen. Aber Sie sagen zum Beispiel einerseits, es wür-den bei einem Ausstieg aus der Kernenergie weder zu-sätzliche Kosten noch zusätzliche Emissionen entstehen.Andererseits sagen Sie nicht, dass die Kernenergie er-satzlos wegfalle; vielmehr sagen Sie, die Regierung set-ze auf die Schaffung von Ersatzkapazitäten. Sie behaup-ten, Probleme für Klima und Gesundheit gebe es bei ei-nem Ausstieg aus der Kernenergie nicht. Die Frage nachden Kosten alternativer Energien wird nicht beantwortet.Das alles ist ganz erstaunlich.Ich ziehe das Fazit: Die Bundesregierung weiß nicht,was an die Stelle der Kernenergie treten soll; die Bun-desregierung weiß nicht, wie viel der Ersatz der Kern-energie kosten wird; die Bundesregierung weiß nicht,welche Wirkung die Ersatzenergien auf Klima und Ge-sundheit haben. Das ist in Ihren Augen dann ein Kon-zept. Das darf doch wohl nicht wahr sein!
Die Bundesregierung weiß aber ganz genau: Es ent-stehen bei einem Ausstieg aus der Kernenergie wederzusätzliche Emissionen noch zusätzliche Kosten. Diessagen Sie nämlich an einer anderen Stelle. Die Bundes-regierung bestätigt auch ausdrücklich, dass die Kern-energie im Bereich des Grundlaststroms nicht durch er-neuerbare Energien ersetzt werden kann. Rot-Grün hatkeine Probleme mit dieser Einschätzung, auch wenn dieKernenergie einen Anteil von 60 Prozent an der Erzeu-gung des Grundlaststroms hat. Diese Ansicht ist be-achtlich. Die Bundesregierung behauptet weiter, dass der Bei-trag der Kernenergie zur Minderung der CO2-Emis-sionen nicht bedeutend sei. Sie verweist dabei auf dieganze Welt. Aber wenn Sie sich den unterschiedlichenCO2-Emissionsausstoß in den einzelnen Bundesländern anschauen, dann können Sie schon im Kleinen und vorder Haustür erkennen, dass der Beitrag der Kernenergieentscheidend ist, um die CO2-Emissionen zu mindern. Warum weichen Sie, Herr Minister, dem aus und ver-weisen mit Statistiken auf den Weltzusammenhang, dieso nicht brauchbar sind? Sie drehen und wenden sich,wie Sie es brauchen. Aber Märchenerzählungen werdender Realität nicht gerecht.
Sie versuchen Konsensrunden zu organisieren. Ichbedanke mich für Ihr Lob, dass wir dort konstruktiv mit-arbeiten würden. Aber Sie haben die Kernenergie aus-geklammert. Wir werden jetzt sehen, ob Sie nicht auchdie Braunkohle aus den Gesprächen ausklammern wer-den. Diese Diskussion haben wir noch vor uns.Lassen Sie mich feststellen: Dieser Bundestag sollteeigentlich gar nicht lange über den Ausgangspunkt vonEnergie- und Klimapolitik diskutieren. Uns liegen dieErgebnisse der Enquete-Kommission des 12. Bundes-tages vor. An diese sollten wir gemeinsam anknüpfen. Indem Bericht der Enquete-Kommission wird zum Bei-spiel die Forderung erhoben, dass die Kohlenstoffinten-sität zu halbieren sei. Das bedeutet doch nichts anderes,als dass die Menge fossiler Brennstoffe jedweder Formdramatisch reduziert werden muss und diese Brennstoffedurch andere Energieträger ersetzt werden müssen. AberBundesminister Dr. Werner Müller
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Sie haben eben in Ihrer Rede entgegen der Forderungnach Erfüllung der Klimaschutzziele gesagt, dass dieKraftwerke, die auf der Basis fossiler Energieträger ar-beiten, ausgebaut werden sollten und dass die Kernener-gie, die einen Beitrag zur CO2-Minderung leisten könn-te, ersetzt werden solle. Das entspricht nicht einem über-schaubaren Szenario, das wir von Ihnen, Herr Minister,erwarten.Ich akzeptiere, dass Sie sich von der Kernenergie ver-abschieden wollen. Aber wenn Sie das wollen, dannmüssen Sie auch ein langfristig angelegtes Szenario ha-ben, das den Realitäten und den wirtschaftlichen Be-dürfnissen entspricht und das nicht ein Wolkenku-ckucksheim ist, das zulasten unserer Arbeitsplätze geht.
In diesem Zusammenhang ist es schon interessant, HerrMinister, festzustellen, dass Sie Bürgschaften für denBau eines Kernkraftwerks in China bewilligen – wie Siesagen, handele es sich nur um die Leittechnik – und dassdieses Kraftwerk mit deutscher Hilfe gebaut werdensoll, weil deutsche Sicherheitstechnologie in diesem Be-reich weltweit unverzichtbar ist. Aber in Deutschlandwollen Sie die Kernenergie kaputtmachen. Das ist dochnichts anderes als die Vernichtung von Arbeitsplätzen inDeutschland und der Export von Arbeitsplätzen ins Aus-land. So haben wir nicht gehandelt. So werden auch dieRio-Verpflichtungen in keiner Weise erfüllt, und zwarweder sozial noch wirtschaftlich und auch nicht ökolo-gisch.
Wir fordern von Ihnen eine Energiepolitik, die sichan der Reduzierung der Schadstoffbelastungen orien-tiert. Aber davon ist keine Rede. In allen Modellen, dieSie anbieten, stellen Sie lediglich auf den Verbrauch ab.Aber auch dort – das hat der Kollege Lippold schon amAnfang dieser Diskussion deutlich gemacht – ist eshöchst fragwürdig, ob sich mit der Ökosteuer, so wie Siesie konzipiert haben, überhaupt der beabsichtigte Erfolgerreichen lässt; denn – ich wiederhole dies an diesemPult – alle Länder um uns herum, die diese Steuern ein-geführt haben, haben seit diesem Zeitpunkt keine Sen-kung der CO2-Emissionen. Im Gegenteil: In den Nieder-landen zum Beispiel ist eine heftige Diskussion darüberim Gange, warum jetzt die CO2-Emissionen wieder stei-gen. Die Steuer spielt dabei gar keine Rolle, weil dieSteuer eine Abzockerei ist und nicht das geeignete In-strument, um in dieser Sache weiterzukommen.
Lassen Sie uns doch stattdessen darüber reden, wiewir mit wettbewerbsorientierten Modellen den erneuer-baren Energien in Deutschland einen größeren Anteilsichern. Wir wollen dabei die Kernenergie nutzen. Wirsind auch offen für einen Weg, der ein Szenario ohnediese Energieform ermöglicht. Aber lassen Sie dochdarüber den Markt entscheiden! Ihr Problem mit denAusstiegsgesprächen ist doch, dass Sie Ihren eigenenArgumenten nicht trauen. Sie sagen, die Kernenergie seiunwirtschaftlich. Aber gleichzeitig müssen Sie unbe-dingt ein Ausstiegsgesetz machen. Wenn sie wirklichunwirtschaftlich wäre, würde sie von alleine auslaufen.Sie müssen das Ausstiegsgesetz machen, weil Ihre Ar-gumentation an dieser Stelle nicht richtig ist. Darüber,welche Technik sich durchsetzt, sollte der Markt ent-scheiden. Die Menschen im Markt sind letzten Endesdiejenigen, die entscheiden. In diesem Zusammenhang gibt es doch mehr alsWindenergie und Kraft-Wärme-Kopplung. Was ist dennmit Wasserstofftechnologie, mit Brennstoffzellen zumBeispiel? Sie können zu einer Umstrukturierung imEnergiemix führen. Wir können nicht heute den Ener-giemix der Zukunft ein für alle Mal festlegen. Das istnicht die Vorstellung der F.D.P. von Offenheit für Ent-wicklung, und zwar nicht nur im technischen, sondernauch im gesellschaftlichen Bereich. Herr Müller, Sie haben hier wieder den durchsichti-gen Versuch gemacht, Ihre Position als die moralischedarzustellen und die anderer als die hässliche, indem Siedie Kernenergie in die Ecke gestellt haben. Ich kann Ih-nen nur sagen: Wenn es richtig ist, dass das größte Pro-blem der Erde das Klimaproblem, das Treibhausproblemist, dann ist Ihre Moral eine kleinkarierte und falsche.
Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, die uns helfen,von der größten Geißel der Menschheit zuerst wegzu-kommen und dann die anderen Probleme zu lösen. Sie wissen, dass der Potsdamer KlimaforscherSchellnhuber, der quer durch alle Fraktionen hohe An-erkennung genießt, in einem „Focus“-Interview wörtlichgesagt hat: Der Nutzen der Kernenergie für die Menschheit istsehr hoch und die technische Unfallwahrschein-lichkeit eher gering. Schellnhuber als Klimaforscher stellt die Klimafrageüber die Ideologiefrage. Sie tun es genau umgekehrt.Wir bedauern das, weil das der falsche Weg ist, den Ar-beitsplätzen in Deutschland zu helfen. Es ist der falscheWeg, die Klimafrage in Deutschland zu lösen, und derfalsche Weg, die Klimafrage in Europa und in der Weltzu lösen. Stattdessen sollten wir den Entwicklungslän-dern mit einer preisgünstigen, sicheren, hoch intelligen-ten Energietechnik dabei helfen, sich zu entwickeln, unddamit dazu beitragen, dass diese Erde eine friedlicheZukunft hat und sich nicht in Streitigkeiten erschöpft. Sie sind auf dem falschen Weg. Für diesen falschenWeg versuchen Sie immer einzelne Bruchstücke in dieDebatte zu werfen. Sie haben kein Konzept; das machtIhre Antwort deutlich. Das bedaure ich. Ich hoffe, dassSie im Laufe des Dialogs zu einem Weg kommen, aufdem wir uns dann gemeinsam bewegen können. Vielen Dank.
Ich erteile das Wortder Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.Walter Hirche
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hirche,diese Hermes-Debatte ist Kinderkram.
Sie wissen ganz genau, dass Hermes-Anträge von denBetreibern nur gestellt werden, wenn große Wahrschein-lichkeit oder eine Sicherheit besteht, dass sie angenom-men werden. Deswegen ist die Debatte im Vorfeld überProjekte, von denen jeder weiß, dass sie anstehen, dieentscheidendere. Es kommt weniger darauf an, auf dieAnträge in der IMA zu warten.
Deswegen ist es richtig, jetzt die Diskussion über die an-stehenden Anträge zum Gesamtprojekt zu führen. Dashaben die Grünen getan und werden es auch weiterhintun.
Herr Lippold, wenn Sie schon den Sachverständi-genrat für Umweltfragen zitieren, dann picken Sie sichbitte nicht nur das heraus, was Ihnen gefällt. Zur Öko-steuer zum Beispiel hat der Sachverständigenrat fürUmweltfragen die Bundesregierung ausdrücklich gelobtund gesagt, wir sollten auf diesem Weg noch wesentlichkonsequenter voranschreiten, weil das ein Beitrag fürden Klimaschutz wäre.
Sie bieten uns Ihre konstruktive Zusammenarbeit an.Dann frage ich die CDU-Fraktion: Wo war denn Ihrekonstruktive Zusammenarbeit bei dem Gesetz zur För-derung der erneuerbaren Energien, das wir in der letztenWoche verabschiedet haben? Da haben Sie mit Nein ge-stimmt. Gott sei Dank hat das der Bundesrat nicht getan.Der Bundesrat hat tatsächlich konstruktiv mit uns zu-sammengearbeitet und hat diesem Gesetz zur Förderungder erneuerbaren Energien zugestimmt. Sie haben indiesem Punkt Fundamentalopposition betrieben undwenden damit einer Zukunftsbranche den Rücken zu. Ich war auf der Messe der Maschinen- und Anlagen-bauer in Halle 7, in der sich die Stände der Träger dererneuerbaren Energien befinden. Dort herrscht jetzt Auf-bruchstimmung. Es wird geplant, es wird verkauft, eswird investiert, es werden neue Arbeitsplätze geschaf-fen. Schmack-Biogas sagt zum Beispiel: Statt bisherfünf Anfragen in einer Woche haben wir jetzt zehn An-fragen pro Tag, Biogasanlagen zu bauen, unter anderemvon Stromkonzernen. Tacke kündigt an, die Zahl derArbeitsplätze um 50 Prozent steigern zu wollen. Wo gibtes so etwas noch? In der „neuen energie“ gibt es jetztneun Seiten Stellenanzeigen für diesen Bereich. Übri-gens profitiert davon auch die Zulieferindustrie. Wuss-ten Sie zum Beispiel, dass Enercon mehr Stahl ver-braucht als die deutsche Werftindustrie? Ich kann Ihnennur sagen: Das sind grüne Ideen und mit diesen grünenIdeen werden jetzt in der Wirtschaft schwarze Zahlengeschrieben.Es gibt in diesem Bereich einen ungeheuer großenInnovationsdrive. Die Biogasanlagenbauer haben ange-kündigt, dass sie ihre Anlagen in absehbarer Zeit um50 Prozent verbilligen wollen. Die Betreiber von Wind-kraftanlagen wollen Offshoreparks, also schon größereKraftwerke, vor der Küste bauen. Ich sage Ihnen: Hiergibt es richtig Bewegung, und zwar Bewegung in Rich-tung Umweltschutz, Arbeitsplätze und Zukunft. Nun also gibt es eine Große Anfrage der CDU: Siestellen Fragen, wir handeln.
Genauer gesagt: Sie stellen Fragen von gestern und wirhandeln für morgen. Eine Frage von gestern ist zumBeispiel, ob es in ungefähr 18 Jahren, wenn wir kom-plett aus der Atomenergie aussteigen wollen, möglichist, die AKWs in der Grundlast zu ersetzen. Ich sageIhnen: Italien, Portugal, Dänemark, Irland und Taiwanhaben null Prozent Atomindustrie. Haben diese Länderkeine Grundlast? Wenn Sie so wenig Fantasie haben, umsich vorstellen zu können, dass auch in Deutschland ir-gendwann die Grundlast durch andere Energien sicher-gestellt werden kann, tut es mir um Sie Leid. Ich glaube,dass Ihre ideologischen Scheuklappen Sie tatsächlichdaran hindern, in die Zukunft zu denken. Mit anderenWorten: Auch die Bretter, die man vor dem Kopf hat,können die Welt bedeuten.
Sie reden von Klimaschutz und davon, dass eventuelldie Gefahr besteht, dass wir das Ziel nicht erreichen. Ichsage Ihnen Folgendes: Das ist auch Ihre Altlast. Jahre-lang haben sie in diesem Bereich nichts, aber auch garnichts getan. Fünf Jahre verbleiben uns noch. Die Maß-nahmen, die wir jetzt Schritt für Schritt ergreifen, wer-den natürlich nur zeitverzögert zur Senkung der CO2-Emissionen führen. Aber wenn wir das Klimaschutzzielnicht erreichen, ist die Hauptursache dafür, dass Sie inden zehn Jahren, in denen Sie regiert haben, nichts getanhaben.
Die Behauptung, der Atomausstieg führe zu einemCO2-Anstieg, ist falsch. Wenn wir dieses Thema end-lich einmal vom Tisch haben, wird sich der Blick für dieZukunftstechnologie weiten. Wir sagen: Wenn wir unsnicht erhängen wollen, wollen wir uns auch nicht er-schießen. Die Atomtechnologie ist keine Alternative zurBegrenzung des Treibhauseffektes. Wir müssen beidesschaffen.
Ich nenne Ihnen einige Beispiele: Wir erarbeitenzurzeit gemeinsam einen Antrag, Stand-by-Geräte, dieEnergie verschwenden, herunterzuschalten. Wenn wirdas schaffen – dabei müssen Sie den Zeitraum von18 Jahren für den Atomausstieg bedenken –, dann könnenwir 4,4 Prozent Strom einsparen. Das entspricht unge-fähr zwei AKWs.Ein anderes Beispiel ist die Biomasse, zu deren Nut-zung wir jetzt eine neue Initiative gestartet haben. Wenn
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wir nur 60 Prozent der in Deutschland vorhandenen Bio-abfälle für die Stromproduktion einsetzten, könnten wirdamit 15 Prozent des deutschen Strombedarfs, 60 Mil-liarden Kilowattstunden Strom produzieren. Das ent-spricht ungefähr sechs AKW.Oder wenn wir nur die bestehenden Fernwärmeanla-gen modernisierten, dort neue Technologien einsetzten,um die Fernwärmenetze trotz der Liberalisierung weiterzu betreiben, dann könnten wir beim gleichen Wärme-bedarf wesentlich mehr Strom produzieren und damit10 Prozent des deutschen Strombedarfs CO2-neutral er-setzen.Dies sind nur drei kleine Beispiele, wie man CO2-neutral Atomkraftwerke ersetzen kann. Diese drei klei-nen Beispiele erbrächten schon 10 Prozent. Ich habe dabei noch nicht über Wind geredet, ich ha-be dabei noch nicht über Erdwärme geredet. Erdwärmehat ein Potenzial von 30 Prozent. Ich habe noch nichtüber die GuD-Anlagen gesprochen, bei denen es eineChance gibt und die übrigens sehr gut in die Grundlastpassen. Ich habe noch nicht über die Energieeinsparungin Krankenhäusern, in Schulen und in der Industrie, dieimmer noch möglich ist, geredet. Ich habe noch nichtdarüber geredet, dass die Bundesregierung auch das Zielhat, die Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung zu ver-doppeln.Beim endgültigen Ausstieg in 18 Jahren kann man esschaffen. Ich bin mir sicher, dass wir sowohl die Nut-zung der gefährlichen Atomtechnologie beenden, alsauch den Treibhauseffekt in unserem Lande begrenzen.Der Weltenergieverbrauch verdoppelt sich in derTat und eben deswegen müssen Zukunftstechnologienumweltfreundlich sein. Wir haben mit dem Gesetz überdie erneuerbaren Energien zusammen mit dem 100 000-Dächer-Förderprogramm, das wohl weltweit ambitio-nierteste Instrumentarium zur Förderung der erneuerba-ren Energien. Das ist ein sehr wichtiger Baustein für denKlimaschutz; das ist eine sehr wichtige Säule auch fürein zukünftiges Energiekonzept.Ein zweiter Bereich, den wir uns jetzt in absehbarerZeit vornehmen, wird die effiziente Nutzung der fossi-len Energieträger sein. Es ist ein Skandal, finde ich,wenn über Endlichkeit der fossilen Energieträger ge-sprochen wird. Es ist ein Skandal, dass wir in Deutsch-land immer noch Kraftwerke betreiben, in denen nur40 Prozent des Energiegehaltes dieser fossilen Energie-träger tatsächlich genutzt werden. Über 60 Prozent desEnergiegehaltes werden sinnlos, ohne dass wir darausEnergie gewinnen, in die Luft gepustet. Das ist keineZukunftstechnologie.
Deswegen nimmt sich diese Bundesregierung vor, dieAusnutzung der fossilen Energieträger, wenn wir sieschon einsetzen – wir werden sie auf absehbare Zeitbrauchen –, wesentlich zu erhöhen. Wir haben Techno-logien, mit denen wir 60, 70, 80, ja sogar 90 Prozent desEnergiegehaltes nutzen können, indem wir die Wärme,die bei der Stromproduktion entsteht, im Anschlussnicht einfach in die Luft geben, sondern zum Heizen vonWohnungen oder als Prozesswärme nutzen.Deswegen – damit befinden wir uns in Übereinstim-mung mit der Europäischen Union – wollen wir diesenAnteil der Kraft-Wärme-Kopplung bei der Ausnutzungder fossilen Energien in den nächsten zehn Jahren ver-doppeln.
Die Grünen setzen dabei auf einen Zertifikatshan-del. Wir wollen jedem Stromlieferanten vorschreiben,dass er einen bestimmten Anteil dieser hoch effizientenNutzung der fossilen Energieträger mit im Angebot ha-ben muss, und dieser Anteil wird Schritt für Schritt ge-steigert. Wie dieser Stromlieferant diesen Anteil erfüllt,das wollen wir offen lassen, das wollen wir dem Marktüberlassen. Er kann ihn entweder selbst produzieren, erkann ihn aber auch zukaufen, er kann ihn in Gemein-schaftsproduktion mit der Industrie oder mit Stadtwer-ken produzieren. Dies wollen wir dem Markt überlassen.Damit hätten wir dafür gesorgt, dass auch in dem Be-reich der hoch effizienten Nutzung der fossilen Energie-träger Kohle, Gas und Öl eine marktwirtschaftlicheKomponente enthalten ist.Damit werden wir das Ziel erreichen, auch mit denfossilen Energieträgern sparsam umzugehen. Dieses Zielwerden wir zu minimalen volkswirtschaftlichen Kostenmit maximalen Innovationsanreizen erreichen können.Ich freue mich, mit Ihnen diese Debatte zu führen.Herr Lippold, ich werde Sie an Ihr Angebot erinnern,diese Debatte konstruktiv zu führen. In diesem Zusam-menhang wünsche ich mir, dass nicht wieder die Situati-on eintritt, dass wir Sie im Bundestag überstimmen müs-sen, im Bundesrat aber eine Mehrheit für unsere Kon-zepte bekommen.
Ich erteile Kollegin
Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Grundsätzlich ist zu bemer-ken, dass die Große Anfrage der CDU/CSU eine deutli-che Steilvorlage für die Atompolitik der Bundesregie-rung geliefert hat. Sie, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, haben Profilierungsprobleme: Außer ihremFesthalten an der Kernkraft hat die CDU/CSU kaumnoch ein positives Projekt auf dem energiepolitischenFeld, und so verwickelt sie sich in rührende Ungereimt-heiten. Einerseits will sie die Kräfte des freien Marktes wal-ten lassen, wo bekanntlich Monopolstrukturen und nichtetwa Marktstrukturen den dominanten Einfluss ausüben.Michaele Hustedt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8745
Sie stellt volkswirtschaftliche Betrachtungen über denEnergiemix an und verdammt gleichzeitig sämtliche po-litischen Instrumente zur Gestaltung dieses Energiemi-xes als Eingriff in das Walten des Marktes. Ein schön-geistiger Streit über Plan und Markt ist in der deutschenEnergiepolitik angesichts der Eigentumsstrukturen undder starken Rolle der öffentlichen Hand völlig gegen-standslos.Wirklich rührend unschuldig klingt es, wenn dieBundesregierung erklärt:Die Bundesregierung erstellt keine eigenen Energieprognosen. Sie will damit vermeiden, dassProduzenten und Verbraucher amtliche Bewertun-gen als staatliche Vorgaben oder Erwartungenmissverstehen.Ich frage Sie: Wird eine risikoarme und ressourcenscho-nende Energiepolitik ohne Bewertungen und ohne For-mulierung von Erwartungen auskommen? – Ich denke,nein.Stichwort Energierohstoffreserven: Sowohl die Fra-gen der CDU/CSU als auch die Antworten der Bundes-regierung zeugen von einem mangelnden Bewusstseinfür die Notwendigkeit einer international abgestimmtenKlimaschutzpolitik. Ihr Sinnen und Trachten ist auf diebilligste Versorgung mit Rohöl, Erdgas und Kohle ge-richtet. Man muss sich beim Stichwort Versorgungssi-cherheit doch einmal klarmachen, dass die vorherr-schenden Strategien zur Destabilisierung der Preispolitikder OPEC klimapolitisch total kontraproduktiv sind. Bil-liges Rohöl auf den Weltmärkten heizt die Nachfrageund den Verbrauch an.Auf die Frage der Öffnung der nationalen Strom-märkte für ausländische Anbieter antwortet die Bundes-regierung mit Verweis auf den geschlossenen französi-schen Markt in einem Sinne, der darauf schließen lässt,dass die Bundesregierung einer Ausweitung des grenz-überschreitenden Handels mit Strom nicht ablehnendgegenübersteht. Dagegen erkläre ich: Die PDS teilt dasZiel einer Ausweitung des grenzüberschreitenden Han-dels nicht. Nach unserer Auffassung ist dezentraler Energieerzeugung in kleinen Anlagen Vorrang einzu-räumen.
Die Bundesregierung macht deutlich, dass sie demStrompreisniveau eine bedeutende Rolle hinsichtlichvergleichender Kostenbetrachtungen bei der Wahl vonIndustriestandorten beimisst. Aus Sicht der PDS stehtdas jeweilige Strompreisniveau in aller Regel jedochnicht an vorderster Stelle bei der Abwägung von Stand-ortentscheidungen,
sondern wird nach wie vor durch Faktoren wie Markt-nähe und Qualifikation der Arbeitskräfte dominiert. Nach unserer Auffassung bestehen unter Würdigungaller Standortfaktoren erhebliche Spielräume hinsicht-lich der Strompreisgestaltung. Diese Spielräume müssenbei der noch ausstehenden Energiewende erheblich stär-ker genutzt werden. Gegenwärtig bezahlen gerade dieenergieintensiven Branchen in Deutschland viel zu we-nig für ihren Energieverbrauch.Die Bundesregierung behauptet, sie erörtere „mit al-len relevanten gesellschaftlichen Gruppen, wie die künf-tige Energieversorgung klimaverträglich gestaltet wer-den kann“. Sie vertritt in beispielloser Selbstgerechtig-keit die Auffassung, im Rahmen des „Energiedia-logs 2000“ mit den Beteiligten gesprochen zu haben.Tatsache ist jedoch, dass die PDS eine gesellschaftlichrelevante Gruppe ist, die nicht nur eine Fraktion imBundestag stellt, sondern in Ostdeutschland auch die In-teressen der von der Braunkohleindustrie geprägten Re-gionen wahrnimmt, und die sich darüber hinaus für eineoffene und sachgerechte Erörterung der Probleme beider Sanierung von Atomaltlasten in Greifswald undRheinsberg einsetzt.
Die undemokratische Ausgrenzungspolitik der Bun-desregierung gegenüber der PDS ist durch und durchvon parteiegoistischem Kalkül geprägt und ist weit da-von entfernt, zu dauerhaften Lösungen zu kommen. Diesgilt insbesondere für ihre verantwortungslose Atompoli-tik. Stichwort Energiewirtschaftsrecht: Die PDS hält imGegensatz zur Bundesregierung die Verbändevereinba-rung für absolut unzureichend. Eine gesetzliche Regulie-rung der Einspeisemodalitäten und der Durchleitungs-entgelte ist unabdingbar. Da das Monopoleigentum amTransportnetz nach wie vor Monopolprofite erwartenlässt und zu realisieren hilft, erheben wir auch weiterhindie Forderung nach Überführung des Stromleitungsnet-zes in gemeinwirtschaftliches Eigentum.
Eine Klima und Ressourcen schonende Energiepolitikist mit privater Aneignung von Monopolprofiten unver-einbar. Die Bundesregierung erklärt:Eine dauerhaft günstige Versorgung der Verbrau-cher mit Strom soll über den Wettbewerb auf libe-ralisierten Strommärkten gesichert werden. Sie feiert damit die so genannte Liberalisierung desStrommarkts und begrüßt das Absinken der Strompreise.Einen guten Teil aus den Rationalisierungsgewinnen inder Energiewirtschaft führt sie sich als Energiesteuerzu. Herr Hirche, zum Beispiel das kostet Arbeitsplätze.Dass diese Entwicklung in einen wachsenden Gegensatzzum Ziel der rationalen sparsamen Energienutzung ge-rät, stört Sie auch nicht.Die Energiesteuer der Bundesregierung belastet vor-nehmlich die privaten Haushalte anstelle der Industrieund das verarbeitende Gewerbe. Die Wunderformel„Arbeit verbilligen, Natur versteuern“ entlässt die Un-ternehmen aus ihrer Verantwortung zur Finanzierungder gesetzlichen Rentenversicherung und schafft auf-grund dieser unsozialen Verteilung von Steuern undAbgaben gerade keine Preisanreize zur EntwicklungEva Bulling-Schröter
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8746 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Energie sparender und Ressourcen schonender Produkte und Produktionsverfahren.Ich habe neulich mit einem Professor gesprochen, dergerade – –
– Herr Glos, weil Sie so erstaunt tun: Vielleicht redenSie nie mit Professoren. Ich kann Ihnen nur sagen: For-schungsaufträge gerade für Großbetriebe zur Ressour-ceneinsparung werden zurzeit zurückgezogen. Vielleichthaben Sie davon noch nichts gehört, aber ich inzwischenschon.Die Bundesregierung will auch zukünftig die Kern-energienutzung durch öffentliche Forschungsmittel un-terstützen. Sie fördert – darüber haben wir schon ge-sprochen – den Export der deutschen Atomindustriedurch Hermes-Kredite. Ja, sie erklärt unumwunden,dass deutsche Firmen unter Mitwirkung deutscher For-schungsinstitute an den Arbeiten zur Entwicklung derHochtemperaturreaktortechnologie insbesondere in Süd-afrika beteiligt sind.Wir fordern die Bundesregierung auf, die Beteiligungdeutscher Forschungsinstitute, soweit es sich um öffent-lich geförderte Forschung handelt, unverzüglich einzu-stellen. Die HTR-Technologie hat sich gerade vor demHintergrund der Erfahrungen mit der Reaktorkatastrophevon Tschernobyl als unsicher erwiesen, da chemischeReaktionen zwischen Wasserdampf und dem Modera-tormaterial Graphit zu heftigen Explosionen und zurZerstörung des Reaktors führen können. Ein HTR istdaher keineswegs sicher und er wäre in Deutschland eben nicht genehmigungsfähig.Darüber hinaus erheben wir den Vorwurf, dass sichdie Bundesregierung mit der Förderung der HTR-Technologie in Südafrika der Zulieferung und Ver-fügbarmachung von Technologie zur Kernwaffenpro-duktion schuldig macht; denn die Kugelhaufentechnolo-gie ermöglicht einen kontinuierlichen Wechsel vonBrennelementen während des laufenden Betriebes, dereine Überwachung von spaltbarem Material durch inter-nationale Maßgaben zur Kontrolle dieser Stoffe schierunmöglich macht.Stichwort Restrisiko: Die Antworten der Bundesre-gierung zum Stichwort Restrisiko sind mehr als unbe-friedigend. Sie hält offenkundig am Konzept Restrisikofest. Damit stellt sie sich einerseits auf den Standpunkt,es sei akzeptabel, dass keine technische Vorsorge gegenUnfallabläufe, die das Leben und die Gesundheit vonMillionen Menschen schwer beeinträchtigen, getroffenwird und auch nicht getroffen werden kann.Andererseits ist das haarsträubende Festhalten derBundesregierung am Konzept Restrisiko vor dem Hin-tergrund ihrer Restlaufzeitpläne nur folgerichtig. Würdesie nämlich feststellen, dass keine technischen Maßnah-men verfügbar sind, die gravierende Unfallabläufe undderen Folgen beherrschbar machen, müsste sie unterdem öffentlichen Druck die Betriebsgenehmigungen al-ler Atomkraftwerke mit sofortiger Wirkung widerrufen.Zum letzten Punkt, Stichwort Restlaufzeiten: Zurzeitist eine Restlaufzeit von 30 Jahren vorgesehen. Auf demParteitag der Grünen wurde dies bestätigt. Unserer Mei-nung nach erhalten die Betreiber von Atomkraftwerkenerstmalig einen rechtlich einklagbaren Titel zur Verwer-tung ihres Kapitals, den sie so bisher nie ihr Eigen nen-nen konnten. Statt eines Ausstiegsgesetzes droht nochvor der Sommerpause eine Regelung, die man ohne Um-schweife „Atomkraftverstromungsgesetz“ nennen muss.Wir lehnen diese Politik ab. Danke.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion lautet: „Energiepolitik für das 21. Jahrhundert –Energiekonzept der Bundesregierung für den Ausstiegaus der Kernenergie“. Wenn man sich diese Anfrage nä-her anschaut, dann stellt man fest, dass sich fast80 Prozent der Fragen auf die Kernenergie beziehenund sich nur ein geringerer Teil der Fragen mit dem ei-gentlichen Thema, nämlich mit dem Konzept für das21. Jahrhundert, befasst. Die Redner der früheren Koali-tion haben heute eine ähnliche Gewichtung vorgenom-men. Man hat manchmal den Eindruck: Hier sprechennicht Politiker, sondern Vertreter der Atomlobby. Ichglaube, auf diese Art und Weise sind die Zukunftspro-bleme im Energiebereich nicht zu lösen.
Trotzdem ein paar Worte zum Komplex Kernenergie:Zu dem Vorwurf an die Bundesregierung, sie plane denAusstieg aus einer Energieform, die beispielsweise imHinblick auf den CO2-Ausstoß über besondere Vorzüge verfüge, muss man ganz klar sagen: Das, was die Bun-desregierung in diesem Bereich tut, ist im Grunde ge-nommen bereits vor 20 Jahren durch die Kernenergie-wirtschaft eingeleitet worden.Denn was ist passiert? Wer hat denn beispielsweiseden Betrieb des Brüters eingestellt? Wer hat den Betriebdes HTR eingestellt? Wer hat den Betrieb einer Wieder-aufbereitungsanlage eingestellt und wer hat seit20 Jahren nicht mehr den Bau eines Atomkraftwerkes inder Bundesrepublik Deutschland bestellt? Das war nichtdie Politik; das war die Energiewirtschaft. Insofern wirddeutlich, dass es sich letztlich um ein Vergießen vonKrokodilstränen handelt, wenn man behauptet, dass diePolitik einer erfolgreichen Technologie das Ende berei-tet. Im Gegenteil: Wir sorgen endlich dafür, dass es ei-nen geordneten Ausstieg und damit die Möglichkeitgibt, endlich die Zukunft der Energie zu planen.
– Herr Hirche, ich traue mir auf jeden Fall immer zu100 Prozent; bei anderen mache ich manchmal Abstriche.Eva Bulling-Schröter
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Aber ich traue dem Energiekonzept der Bundesre-gierung weit mehr als dem, was in der Vergangen-heit von der ehemaligen Bundesregierung getan wordenist. Da ist nämlich eher nach dem Prinzip „Lasst dieWirtschaft einmal machen und dann wird das allesschon vernünftig laufen“ verfahren worden. Wir haben aber gesehen – ich werde das gleich aus-führlicher darstellen –: Gerade in den Bereichen, wo wireine Regulierung dem Markt überlassen wollten, zumBeispiel bei der Liberalisierung des europäischen Bin-nenmarktes, haben die Maßnahmen, die Sie richtig be-absichtigt haben, in der Sache nicht gegriffen. Es gibteben keinen wirklich fairen Binnenmarkt für Energie.Es gibt Ungleichgewichte und eine mangelnde Rezipro-zität, worüber Sie sich selbst – beispielsweise im Wirt-schaftsausschuss – immer wieder beklagen. Das ist dasErgebnis einer von Ihnen hier im Deutschen Bundestagabgenickten europäischen Energierichtlinie und des vonIhnen vollzogenen Umsetzungsgesetzes. Um bei der europäischen Dimension zu bleiben: Hierliegt die eigentliche Thematik, mit der wir uns befassenmüssen. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist eben nichtderjenige Komplex, der die weitere Zukunft der deut-schen Energieversorgung entscheidend beeinflusst. DieSituation hinsichtlich der Energieversorgung in Deutsch-land wird viel stärker durch die Frage beeinflusst, wie inEuropa in Zukunft weiter Energiepolitik betrieben wird.Es stellt sich insbesondere die Frage, wie der Energie-binnenmarkt umgesetzt wird.Was von der alten Koalition bezüglich der Europa-richtlinie auf den Weg gebracht worden ist – ich denke,in diesem Punkt sind wir uns im Ausschuss einig –, hatletztlich dazu geführt, dass inzwischen eine Reihe vonUnternehmen aus anderen EU-Ländern auf unserenMarkt drängen konnten. Umgekehrt bestehen aber fürunsere Unternehmen – beispielsweise in Frankreich –diese Möglichkeiten nicht.Man muss ganz klar feststellen: Hier ist eine Reihevon Aufgaben übrig geblieben, die die jetzige Bundes-regierung zu lösen hat. Weil Sie sie nicht gelöst haben,ist es in Zukunft unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dassdiese Ungleichgewichte beseitigt werden. Es ist auchunsere Aufgabe – das ist jedenfalls für die nächsten Jah-re ein Teil unseres Energiekonzeptes –, dafür zu sorgen,dass französische Unternehmen zwar als Wettbewerberdurchaus hier auftreten können, dass aber umgekehrtauch wir die Chance haben, uns etwa auf dem französi-schen Markt zu engagieren. Dies ist bisher leider nichtmöglich.
Die alte Bundesregierung hat hier nach dem Mottogehandelt: Hauptsache wir haben Wettbewerb. – Dazusage ich ganz klar: Der Grundgedanke ist richtig. Auchwir sind dafür, dass Wettbewerb auf den europäischenEnergiemärkten stattfindet. Die alte Bundesregierunghat aber geglaubt, dass sie mit dieser europäischenRichtlinie, wie sie damals verfasst worden ist, tatsäch-lich auch Wettbewerb erreicht. Was sie erreicht hat, ist –nach einhelliger Auffassung – eher Wettbewerbsverzer-rung. Deswegen müssen wird dafür sorgen, dass wir inZukunft all die Elemente, die zur Wettbewerbsverzer-rung beitragen, endlich beseitigen.Wir müssen zum einen dafür sorgen, dass endlichEntflechtungsprozesse auf dem französischen Energie-markt und auch auf den südeuropäischen Energiemärk-ten erfolgen. Zum anderen müssen aber auch bestimmteProzesse, die eigentlich vor dem In-Kraft-Treten der eu-ropäischen Richtlinie hätten liegen müssen, endlichnachvollzogen werden.
Das heißt, dass wir endlich all die Rahmenbedingun-gen, die letztlich den Wettbewerb beeinflussen und diegeordnet werden müssen, damit es einen echten und fai-ren Wettbewerb gibt, zumindest aneinander angleichen.Ich will gar nicht das große Wort von der Harmonisie-rung strapazieren. Ich denke aber, es ist klar, dass wirdafür sorgen müssen, dass wir endlich etwa bei demThema einer europäischen Energiebesteuerung Schritteweiterkommen. Die Vertreter der früheren Koalitionmüssen eingestehen, dass die alte Bundesregierung indiesem Bereich eher defensiv gewesen ist.
Wir müssen aber auch andere Faktoren, die den Energiekomplex und die Wettbewerbsfähigkeit sowohlder energieproduzierenden als auch der energieverbrau-chenden Industrie beeinflussen, endlich in die Handnehmen. Es geht einerseits um die Entflechtungen, dieich eben genannt habe. Es geht andererseits um die An-gleichung der Besteuerung. Es geht aber auch um dieAngleichung vieler Auflagen, die ganz unterschiedlichauf die europäischen Mitgliedstaaten verteilt sind, dieaber die Kosten von Energieproduktion und Ener-gieverbrauch beeinflussen. Wir müssen endlich dafürsorgen, dass der Begriff „europäischer Binnenmarkt fürEnergie“ diesen Namen verdient.
In diesen Zusammenhang gehört auch ein Stichwort,das der Bundeswirtschaftminister genannt hat. DasStichwort heißt EGKS. Es ist völlig klar – wir hatten inder letzen Legislaturperiode hierzu einen Vorstoß ge-macht; wir werden diesen wieder aufgreifen –, dass wirwichtige Elemente dieses fundamentalen europäischenVertrages, der im Jahre 2002 ausläuft, in die europäi-schen Verträge übernehmen müssen. Das ist keine ein-fache Aufgabe. Wahrscheinlich ist dies der Grund, wa-rum die alte Bundesregierung sie nicht angepackt hat.Wir werden sie aber anpacken. Wir haben schon zahlrei-che Verbündete, die uns dabei zur Seite stehen werden.
Die Frage der Stromeinspeisung von erneuerbarenEnergien ist ebenfalls ein europäisches Thema. Es wirdSie nicht verwundern, dass ich diesen Aspekt besondershervorhebe, weil ich dafür im Wirtschaftsausschuss zu-ständig bin. Wir haben in Deutschland ein entsprechen-des Gesetz auf den Weg gebracht, das nicht nur von denBranchen, sondern insgesamt von der EnergiewirtschaftRolf Hempelmann
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als Fortschritt gegenüber der alten Situation gelobt wird.Ich denke, wir werden auch auf europäischer Bühneversuchen müssen, Schritt für Schritt zu entsprechendenAngleichungen zu kommen. Es gibt einige, die auf die-sem Wege schon weit fortgeschritten sind. Wir müssenaber auch andere mitnehmen und müssen dafür sorgen,dass sie diesen Weg gemeinsam mit uns gehen. Die ers-ten Anzeichen sprechen dafür, dass wir auf diesem We-ge auch Erfolg haben können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, an diesen Wortenist glaube ich deutlich geworden, dass wir eine Mengezu tun haben, um Reparaturen vorzunehmen und um da-für zu sorgen, den europäischen Binnenmarkt endlich ineine vernünftige Ordnung zu überführen, was im deut-schen Energiemarkt einschneidendere Auswirkungenhat. Wenn der europäische Binnenmarkt nicht funktio-niert, wenn er verzerrt funktioniert oder wenn er Wett-bewerbsnachteile für deutsche Marktteilnehmer produ-ziert, sind die Gefahren für Arbeitsplätze, etwa im Be-reich der Energieproduktion oder auch der Energieverbrauchenden Unternehmen, sehr viel größer als beieinem Ausstieg aus der Kernenergie.
Um es klar zu sagen: Die Politik der Bundesregierunggeht in die Richtung, dass per saldo im Bereich der Energie eher Arbeitsplätze gewonnen werden. Die Kol-legin Hustedt hat eben deutlich gemacht, wie sich dasbeispielsweise im Bereich der erneuerbaren Energienbereits auswirkt und in Zukunft weiter auswirken wird.Im Übrigen planen wir nicht den Sofortausstieg. AlleZahlen, die von der Wirtschaft vorgelegt werden, bezie-hen sich auf den Sofortausstieg. Arbeitsplätze in der ge-nannten Größenordnung wären nur dann bedroht, wennein kompletter Sofortausstieg stattfinden würde. Dies al-les haben wir nicht vor.
Herr Kollege
Hempelmann, Sie nehmen bereits Ihren Fraktionskolle-
gen die Redezeit weg.
Dann will ich jetzt zum
Schluss kommen, Herr Präsident.
Das Energiekonzept für das 21. Jahrhundert, das Sie
einfordern, haben Sie, hat aber auch der BDI schon ein-
mal vor 20 Jahren versucht. Hätten wir das realisiert, so
hätten wir jetzt 50 Kernkraftwerke mehr, dann hätten
wir im Energiesektor eine zusätzliche Kostenbelastung
von jährlich 100 Milliarden DM. Es macht eine ganze
Menge Sinn, sich mit solchen Konzepten Zeit zu lassen,
den Dialog mit den Betroffenen, mit der Wirtschaft zu
suchen und dann etwas auf den Tisch zu legen, was
möglichst über Jahrzehnte trägt. Dabei sind wir. Wir
können uns die Zeit lassen, weil der Kernenergieaus-
stieg, wie ich es schon ausgeführt habe, in den nächsten
Jahren keine einschneidende Wirkung haben wird, wie
Sie es behaupten – auch nicht bei der CO2-Thematik. In-sofern sind Sie eingeladen, in der Enquete-Kommission,
in den Ausschüssen und im Plenum an den Konzepten
mitzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Das Bundespres-seamt hat zur Veröffentlichung der Antwort auf dieGroße Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion fol-gende Überschrift für seine Presseerklärung gewählt:40 000 Beschäftigte in der deutschen Kernenergiewirt-schaft gefährdet, weitere 150 000 Arbeitsplätze vomAusstieg aus der Kernenergie abhängig.
– Das ist Ihr Bundespresseamt.
Ich sage nur: Eine Bilanz dessen, was Ihr Zugewinndurch die Politik ist, die Sie heute Morgen vorgetragenhaben, findet sich in der Antwort nicht, können Sie nichtgeben. Das heißt, Sie gefährden 190 000 Arbeitsplätze.Sie können aber nicht sagen, wie viele neue Arbeitsplät-ze Sie schaffen, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Hempelmann, ich schätze Sie sehr, auchbei der Arbeit in der Enquete-Kommission; eines kannich Ihnen aber nicht durchgehen lassen – das gilt genau-so für Herrn Müller und für viele andere –: 50 oder 55deutsche Kernkraftwerke war die Zahl, die HelmutSchmidt in Anbetracht der Ölpreiskrise für Deutschlandgeplant hatte und nicht Helmut Kohl.
Ich kann das nur so sagen. Sie haben hier jemandenvor sich, der genau unter dieser Planung in Gorleben22 Jahre lang politisch gearbeitet hat. Gorleben ist dasProdukt Ihrer Politik und nicht das Ergebnis vonCDU/CSU- und FDP-Regierung in diesem Land.
– Herr Schmidt, darauf komme ich später vielleicht nocheinmal zurück.Meine Damen und Herren, wir haben am Ende unse-rer Zeit 20 deutsche Kernkraftwerke und wir haben inden 80er-Jahren die Zukunft in die Hand genommen.Wenn Sie einmal die Haushalte durchgehen, werden Siesehen, dass seit 1983 der stärkste Abbau der Kernener-gieförderung passiert ist und unter Heinz Riesenhuberund anderen der Aufbau der regenerativen Energienkonsequent und permanent verfolgt worden ist. Rolf Hempelmann
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Nun hat der Herr Bundeswirtschaftsminister Müllergesagt, der Kollege Lippold hätte sich mit dem beschäf-tigen sollen, was in der Antwort steht. – Ja, die Substanzreicht dafür eigentlich nicht aus, Herr Müller.
Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen beweisen. DerKollege Hempelmann hat gerade gesagt: Wir wollen dieWirtschaft lenken. Meine Damen und Herren, beschäfti-gen Sie sich doch einmal mit der Antwort der Bundesre-gierung. Darin steht: Wir wollen eine wettbewerbsorien-tierte Energiewirtschaft, wir wollen eine staatsfreie Energiewirtschaft, wir wollen eine subventionsfreie Energiewirtschaft. Aber das, was Sie auf der linken Sei-te dieses Hauses bisher verbreiten, ist ein Eingriff nachdem anderen, eine Subvention nach der anderen, weilSie dem Wettbewerb nicht vertrauen.
Herr Müller, ich diskutiere gern mit Ihnen über dieFrage des Wirtschaftswachstums, weil ich zusammenmit Heinz Riesenhuber in einer Zeit mit der Energiepo-litik angefangen habe, in der dieses Land unter einemEnergiefaktor 1,2 diskutiert hat. Wenn Sie heute die Bi-lanzen sehen, dann stellen Sie fest, dass Sie von uns ei-nen Energiefaktor von 0,7 bis 0,8 übernommen haben.Das heißt, in den 16 Jahren der Regierung Kohl ist dieEnergieeffizienz der deutschen Wirtschaft um das Viel-fache gesteigert worden und wir brauchen für ein Pro-zent Wirtschaftswachstum eben nicht mehr 1,2 ProzentEnergiewachstum. Aber Sie werden mit jeder Wachs-tumspolitik auch Energiefragen auslösen. Diesen Zu-sammenhang werden Sie nicht auf Null reduzieren kön-nen.
Jetzt spreche ich über die Frage der Entsorgung; dasist ja Ihr Lieblingskind. Politisch ist für Sie die Entsor-gung kaputt, aber fachlich nachprüfbar haben Sie bisheute an keiner Stelle hinterlegt, wo das Entsorgungs-konzept gescheitert ist. Herr Trittin, Sie teilen dochHerrn Jüttner mit, „Konrad“ ist genehmigungsfähig, diePilotkonditionierungsanlage ist genehmigungsfähig unddie dezentralen Zwischenlager, die jetzt gebaut werden,werden nach dem Baumuster von Ahaus und Gorlebengebaut. Wo ist Ihr Problem? – Sie haben ein politischesProblem, weil Sie mit den technisch-wissenschaftlichhervorragenden Leistungen unserer Zeit politische Pro-bleme haben, aber keine technischen.
Meine Damen und Herren, die Frage ist doch, wel-chen Anspruch Sie draußen erwecken. Sie erwecken denAnspruch einer Energiewende. Sie erwecken den An-spruch, dass der Ausstieg aus der Kernenergie sozusa-gen problemlos möglich ist.Danach haben wir gefragt. Wir haben Sie gefragt:Wie wollen Sie das ersetzen? Sie haben am Anfang IhrerZeit gesagt: „Wer aussteigt, muss sagen, wo er hin will.“Wenn wir diese Antwort lesen, dann wissen wir nicht,wo kommen Sie her, aber wir wissen schon gar nicht,wo Sie in der Energiepolitik hin wollen.
Die Umrisse eines Energiekonzeptes sind nicht erkenn-bar. Wohin führt Ihr Weg?Ich habe in der Antwort einen schönen Satz gefun-den, der all dem Hohn spricht, was hier so vorgetragenwird, und auch dem, was noch kommen wird, wenn HerrScheer sprechen wird. Er lautet: Der Ersatz der Kernenergie in der Grundlast durchregenerative Energien– hören Sie genau zu! –ist abwegig.
Und Sie gehen jeden Tag ins Land und erzählen denMenschen, dass man mit Wind, Sonne und allen mögli-chen anderen Dingen wie Biomasse die Kernenergie inder Grundlast ersetzen kann.
Sie sagen selber, es ist abwegig. Dann sollten Sie denMenschen draußen endlich ein realistisches Theater vor-führen und nicht so ein Pseudotheater, das im Grundegenommen einer Prüfung überhaupt nicht standhält.
Eine eher traurige Lachnummer ist Ihre Behauptung,dass die Frage von Leittechnik mit Kernkraftwerken originär nichts zu tun habe. Sehen Sie, in der Ukraine, inTschechien, in der Slowakei geht es immer um die Frageder Leittechnik, weil sich damit die Frage der Sicherheitder Kernkraftwerke entscheidet. Es ist falsch, wenn Siedraußen den Eindruck erwecken, es ginge gar nicht umKernkraftwerke.Es gibt doch weitere Anträge. Ich habe die Zusam-menstellung von Siemens. Da geht es um Kozloduj. Hiersagt Herr Verheugen für die Europäische Union: Legt 1 bis 4 still, dann rüsten wir 5 und 6 mit Leittechnik ausund machen sie sicherer. Sie verweigern kerntechnischeSicherheit in Osteuropa; China ist weit genug weg. Dasist der Punkt.
Das Zweite ist: Die Bundesregierung hat 1999 still-schweigend den Vertrag mit Brasilien für Angra um fünfJahre verlängert. Die Bundesrepublik Deutschland hatsich verpflichtet, alles zu tun, Angra 3 in Brasilien zubauen. Der Vertrag ist durch diese Bundesregierung undnicht durch die CDU/CSU verlängert worden.
Kurt-Dieter Grill
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Im Übrigen eine Bemerkung zu den Hermes-Bürg-schaften. Unterhalten Sie sich einmal mit Siemens. Wirhaben doch selbst das Problem bei der Wasserkraft.Siemens verlagert sein gesamtes Personal zur Herstel-lung von Wasserkrafttechnik nach Brasilien, weil vonDeutschland aus nicht mehr operiert werden kann. Dasist Ihre Bilanz, nicht nur bei der Kernenergie, sondernauch bei der Wasserkraft.Dann haben Sie gesagt – das habe ich mir sehr gutgemerkt –: Kernenergie kann ein Land auf ewig unbe-wohnbar machen. Herr Müller, wenn das so ist, dannmüssen Sie hier die Frage beantworten, warum Sie per-sönlich für 35 Jahre Laufzeit von Kernkraftwerken sind.
Das steht in einem krassen Widerspruch zueinander.Auch in Ihrer schriftlichen Antwort steht: Erstens: Deut-sche Kernkraftwerke sind sicher. Zweitens: Das Perso-nal ist hervorragend. Drittens: Es gibt keine neue Risi-kobewertung. Wo haben Sie eigentlich das Problem mitder Kernenergie? In Ihrer Antwort steht: Deutsche Kern-energie ist sicher. Warum wollen Sie eine sichereTechnik abschalten?
Dann kommt die Kollegin Hustedt und spricht vonSchweden, das eine CO2-Erhöhung um 5 Prozent bean-tragt hat. Das eigentliche Problem besteht darin, dass derBundeskanzler auf einem nordrhein-westfälischen Par-teitreffen gesagt hat: Wir wollen Kernenergie durchKohle ersetzen. Ich sage Ihnen, Herr Müller: Wer Kern-kraftwerke durch Kohlekraftwerke ersetzt, schafft einKlimaproblem. Die Folgen, die daraus erwachsen, kön-nen sehr stark in die Richtung gehen, die Sie für dieKernenergie beschrieben haben.
Ich sage mit allem Nachdruck: Die Kernenergie istnicht das einzige Risiko. Moral, Ethik und Verantwor-tung stehen nicht auf der Seite derjenigen, die gegenKernenergie sind, sondern ich behaupte, dass sie auf un-serer Seite sind, weil wir zwar schwierigere, aber konse-quentere und verantwortungsbewusstere Wege gehen alsSie.
Ich möchte nur noch eines ansprechen. Ich zitiereWolfgang Schäuble, der gefordert hat – das ist die ei-gentliche zentrale Aufgabe –,
die Vorherrschaft der fossilen durch die Vorherrschaftder erneuerbaren Energien zu ersetzen. Dann gehenSie den richtigen Weg. Sie schleichen um das Klima-problem herum, weil Sie es nicht lösen können. Die So-larbrücke in die nächsten 50 Jahre können Sie nur bau-en, weil Sie das erste kräftige Widerlager des Windener-gieweltmeisters Deutschland von der CDU/CSU, vonRiesenhuber und anderen, übernommen haben. Aber dashaben nicht Sie, sondern das haben wir in den letzten16 Jahren gebaut. – Walter Hirche, ich schließe dieF.D.P. mit ein.
Zum Schluss. Herr Müller, ich hätte Ihnen das gerneerspart, aber das kann ich dann doch nicht. Sie habensich bei CDU/CSU und F.D.P. für die Teilnahme amDialog bedankt. Sie haben jedoch die Grünen nicht er-wähnt, die auch mit am Tisch sitzen. Sie haben daswahrscheinlich nicht getan, weil dann aufgefallen wäre,dass Sie sich bei der SPD nicht hätten bedanken können.Michael Müller hat bei der Diskussion über den Be-schluss zur Einsetzung der Enquete-Kommission gesagt:Uns interessieren die Ergebnisse des Energiedialogsnicht. – Ihr eigentliches Problem ist, dass Sie für die inder Antwort grundsätzlich beschriebene Energiepolitikin der SPD keine Mehrheit haben.
Ich erteile das Wortdem Bundesminister Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich muss dem Kollegen Grill Rechtgeben,
nicht dafür, dass er die Moral für sich in Anspruch ge-nommen hat,
sondern dafür, dass er gesagt hat, dass das Ausbaupro-gramm für die deutschen Atomkraftwerke ein Programmvon Helmut Schmidt gewesen ist. Das ist richtig. Aber,Herr Grill, Sie sollten es denn doch unterlassen, mit die-ser richtigen Aussage hier das Bild zu zeichnen, Sie alsarmer Landtagsabgeordneter und armer Bundestagsab-geordneter seien von Helmut Schmidt sozusagen gegenIhren Willen und gegen Ihre innere Überzeugung ge-zwungen worden, sich in Gorleben für das Zwischenla-ger einzusetzen.
Da hat es, glaube ich, auch noch einen Ernst Albrechtund andere gegeben, die da Mitverantwortung tragen.
Die Opposition und Sie, Herr Lippold, haben einProblem.
Kurt-Dieter Grill
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Dieses Problem lautet, dass die Frage der Klimaverän-derungen ein Problem ist, das sich langfristig aufbaut.Wenn der SRU heute sagt, dass es sehr schwierig wirdund dass wir, wenn man nicht zu einschneidenden Maß-nahmen zum Schutz der Erdatmosphäre greift, unserKlimaziel zu verfehlen drohen, dann ist das – für dieRegierung, die 16 Monate regiert – nicht nur eine Kritik,der wir Rechnung tragen müssen, weswegen wir imFrühsommer zusätzliche Maßnahmen vorlegen werden,sondern es ist auch eine massive Kritik – ich kann dasauch noch an Details deutlich machen – an Ihnen, dieSie über Jahre hinweg, genauer gesagt: 16 Jahre lang,die Ratschläge dieses Gutachtergremiums in den Windgeschlagen haben.
Was war dort immer eine der zentralen Forderungen? ImSinne der Steigerung der Energieeffizienz könne es nichtsein, dass Energie immer billiger werde. Deswegen for-dert der SRU seit Jahren – Sie haben sich dem ver-weigert – eine ökologische Steuerreform. Wo stündenwir heute im Klimaschutz, wenn Sie den Entwurf Ihrerdamaligen Ministerin Merkel, Ihrer künftigen Partei-vorsitzenden, damals nicht einfach kassiert und in dieSchublade gepackt hätten, sondern dem Ratschlag desSRU gefolgt wären?Aber ich will nicht nur Vergangenheitsbewältigungbetreiben. Lesen Sie, lieber Herr Lippold, doch einmaldie Ausführungen des SRU zu der Frage der Fortsetzungder ökologischen Steuerreform. Der SRU fordert genaudas, was Sie hier mittlerweile in drei Reden, die ich inErinnerung habe – ich habe keine Liste geführt; viel-leicht waren es auch vier oder fünf Reden –, beklagt ha-ben, nämlich die kontinuierliche Fortschreibung und Ef-fektivierung der ökologischen Steuerreform explizit über2003 hinaus. Ich rate Ihnen dringend: Wenn Sie sich auf Gutachterberufen, dann lesen Sie diese Gutachten vollständig undbemühen Sie sich wenigstens im Ansatz darum, IhrerPolitik wenigstens den Hauch einer logischen Konsis-tenz zu geben.
Das gilt natürlich auch für den Zielkonflikt zwischenKlimaschutz und Nutzung der Atomenergie. Ich rate Ih-nen – das ist auch keine neue Debatte –: Nehmen Siedoch das ernst, was die Enquete-Kommission zumSchutz der Erdatmosphäre hierzu vorgelegt hat. Sie hatganz klar festgestellt, wie dieser Zielkonflikt aufzulösenist. Er ist nicht so aufzulösen, wie Sie, Herr Hirche, estun, nämlich durch ein simples Gegeneinander-Hoch-halten: hier Klimaschutz, dort Nutzung der Atomener-gie; vielmehr liegt der Schlüssel zum Schutz der Erdat-mosphäre in einer deutlichen Steigerung der Energieef-fizienz, in mehr erneuerbaren Energien und da, wo diesnicht möglich ist, in einer effizienteren Nutzung endli-cher Ressourcen.
Jetzt kommen wir zu der Frage: Wie wirkt die Atom-energie im freien Markt? Die Atomenergie wirkt so,dass diejenigen, die entsprechende Anlagen betreiben,heute gute ökonomische Gründe haben, diese Anlagenmöglichst lange zu betreiben, weil sie abgeschriebensind. Was heißt das? Notwendige Investitionen in neue,effiziente Energietechniken werden unterlassen. Gleich-zeitig wirkt der Markt so, dass niemand in neue Atom-anlagen investiert.
– Das ist nicht grüne Logik, verehrter Herr Kollege.Schauen Sie sich einmal die Entwicklung in den Verei-nigten Staaten, in Großbritannien und schließlich auchhier in der Bundesrepublik an. Das gilt übrigens auch fürBayern, wo überaltete und energieineffiziente Atoman-lagen stillgelegt werden, weil hochmoderne Anlagentei-le zu Dumpingpreisen aus diesen herausgekauft werden.
Wir können gerne über den Markt reden. Ich habenoch gut in Erinnerung, wie die rechte Seite des Hausesreagiert hatte, als wir sagten: Wir sorgen für Wettbe-werbsgleichheit zwischen Kohlekraftwerken, Atom-kraftwerken und hocheffizienten GuD-Kraftwerken.Wer hat denn hier vorne gestanden und gesagt, es seidoch eine Schweinerei, wenn hier Marktgesetze geltenwürden? Es war Herr Rüttgers, der jetzt hier mit solchenSprüchen antritt. Wenn Sie, lieber Herr Hirche, für einengemeinsamen Markt mit den entsprechenden Mecha-nismen plädieren, soll ich dann daraus die Schlussfolge-rung ziehen, dass nun auch Sie dafür eintreten, dassKernenergie im Primärenergieeinsatz genauso besteuertwird wie der effiziente Energieträger Gas? Ich wäre da-für. Wir können uns gerne darauf verständigen, werterHerr Kollege.
Das ist Marktwirtschaft. Das Gegenteil von Marktwirt-schaft ist, den einen nicht zu besteuern und die anderenentsprechend straff zu besteuern. Das ist im Übrigen auch ein Teil der Antwort auf dieFrage, wie wir einen Ersatz für die Grundlast schaffen.Ein Ersatz in der Grundlast muss möglichst auf die sau-berste und energieeffizienteste Art und Weise gesche-hen. Auch auf diese Frage – das ist keine Glaubensfrage,sondern eine Frage der realen Entwicklung – wird derEinsatz von hocheffizienten Gas- und Dampfkraft-werken eine der ganz zentralen Antworten darstellen.
Es ist heute nicht mehr die Frage, ob diese zum gro-ßen Teil innerhalb der Bundesrepublik und insbesondereBundesminister Jürgen Trittin
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in Nordrhein-Westfalen entwickelten und konstruiertenAnlagen gebaut oder nicht gebaut werden bzw. ob ande-re Energieträger eine größere Rolle spielen. Angesichtseines liberalisierten Strommarktes in Europa wird sichnur noch die Frage stellen: Werden diese Anlagen, die inder Bundesrepublik konstruiert und entwickelt wurdenund in die hier ingenieurwissenschaftlicher Verstandeingeflossen ist, auch hier gebaut oder um uns herumund wird der Strom anschließend zu uns geliefert? Vordieser industriepolitischen Herausforderung stehen wir.
Meine Damen und Herren, eines wird Ihnen nicht ge-lingen: Sie werden hier nicht schlüssig erklären können,die Bundesregierung wüsste nicht, wie es zukünftig inder Energiefrage weitergeht. Nein, die Wirklichkeit ist:Sie blockieren jeden Schritt hin zu einer Erneuerung derEnergiepolitik. Ich kann Ihnen das durchbuchstabieren: Erstens: Sicherung und Rettung der Kraft-Wärme-Kopplung. Wir sind dafür, Kraft-Wärme-Kopplung energieeffizient auszubauen. Wir wollen ihren Anteilverdoppeln. Sie werden – das prophezeie ich Ihnen heu-te schon – dieses Gesetz ablehnen. Zweitens: Fortschreibung des Stromeinspeisungsge-setzes. Die damalige Opposition hat die Größe gehabt zusagen: Das ist ein vernünftiges Gesetz; wir spielen nichtOpposition, sondern verhalten uns verantwortungsvollund stimmen dem zu. Dieses Gesetz wurde durch dasErneuerbare-Energien-Gesetz fortgeschrieben, das dieAufforderung enthält, den Anteil der erneuerbaren Ener-gien bis zum Jahre 2010 zu verdoppeln. Was macht dieUnion? Sie stimmt dagegen und versucht massiv, esauch noch im Bundesrat zu blockieren. Die einzigenLandesregierungen mit CDU-Beteiligung, die dann dochnoch die Vernunft ereilt hat, waren die großen Koalitio-nen in Berlin und Bremen. Sie, werter Herr Grill, erklä-ren jetzt hier vor dem Deutschen Bundestag, Sie wolltendie erneuerbaren Energien fördern.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Nein, ich bin gleich am
Schluss meiner Rede.
Dann weise ich Sie
darauf hin, dass Sie Ihre Redezeit bereits überschritten
haben.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Ich möchte deswegen
auch zum Schluss kommen, werter Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, Sie bekommen es nicht
hin, den Glauben zu verbreiten, dass man mit den ideo-
logischen Glaubenssätzen der 70er-Jahre und einer Fun-
damentalopposition die Energiepolitik des 21. Jahrhun-
derts bestreiten könnte. Das funktioniert nicht.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Sehrverehrte Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsmi-nister hat für den Energiedialog 2000 so genannte Eck-punkte vorgeschlagen und die Bundesregierung setzt beider Energiepolitik – man höre und staune; das stellt manfest, wenn man die Antwort der Bundesregierung liest –,auf staatsfreie Lösungen, aber – so schreibt sie danngleich wieder – nur unter der Voraussetzung, dass diesedie gleiche Qualität haben wie eine gesetzliche Rege-lung. Meine Damen und Herren, ich finde das eine ziem-liche Frechheit: Staatsfrei ja, aber nur, wenn es so ist,wie es uns passt. – Das offenbart Ihr Demokratiever-ständnis.
Wer aber jetzt denkt, dass das womöglich heißenkönnte, dass die Messlatte relativ hoch ist, weil dasGanze wie eine gesetzliche Regelung sein soll, dertäuscht sich natürlich. Ich nehme nur einmal die jüngsteKostprobe: Vor wenigen Wochen haben wir hier dasGesetz zur Förderung erneuerbarer Energien mehr oderweniger durch das Parlament gepeitscht. Dabei hat manbei der Regierung nicht erkannt: Förderung erneuerbarerEnergien bedeutet auch, Verantwortung für das Welt-klima zu übernehmen.
Die F.D.P. hat die Bundesregierung eindringlich undmehrfach aufgefordert, alles daranzusetzen, beim inter-nationalen Klimaschutz endlich voranzukommen. Ver-gebens! Stattdessen Stückwerk: Hier das EEG, da dieKraft-Wärme-Kopplung, dann mal zwischendurch eineHermes-Bürgschaft für ein chinesisches Kernkraftwerk.
Meine Damen und Herren von der Regierung, wennSie den Ausstoß von Treibhausgasen wirklich begrenzenwollen, dann brauchen Sie endlich ein schlüssiges Ge-samtkonzept.
Dabei lautet die zentrale Frage: Wie kann man auf dieKernkraft langfristig verzichten, ohne die Atmosphäredurch den verstärkten Einsatz fossiler Energieträger wei-ter zu belasten? Die F.D.P. will eine preiswerte, sichereund zugleich klimafreundliche Energieversorgung. Da-bei geht es selbstverständlich auch um erneuerbare Bundesminister Jürgen Trittin
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Energien. Allerdings braucht man dafür dann auch kon-sistente und glaubwürdige Konzepte. Niemals wird mansonst das ehrgeizige Ziel erreichen, das die F.D.P. nachwie vor anstrebt – das wurde vom gesamten Haus ge-meinschaftlich beschlossen –, bis zum Jahr 2050 einenAnteil von 50 Prozent erneuerbarer Energien zu errei-chen. Nun zu Ihrem Gesetz zur Förderung erneuerbarerEnergien. Messen wir die Bundesregierung doch einmalan dem, was sie uns als Antwort gibt. Da heißt es: Inves-titionslenkung durch den Staat passt nicht für eine Ener-giewirtschaft, die sich im europäischen Wettbewerb be-währen muss. Und an anderer Stelle: Die Bundesregie-rung vertritt die Auffassung, dass eine effiziente Ver-wendung knapper Ressourcen über den Preismechanis-mus gesteuert wird. Da kann man nur sagen: Frechheit siegt! Das ist eineVerhöhnung des Parlaments, was Sie da machen. Dreistnehmen Sie wieder einmal die Öffentlichkeit auf denArm und glauben, dass es keiner merkt.
Herr Wirtschaftsminister Müller, Sie haben vorhingesagt, es gehe hier um Grundsätzliches und nicht umDamenoberbekleidung. Ich denke, Sie haben keine Ah-nung, was Damenoberbekleidung für Damen bedeutet.
Das ist nämlich etwas ganz Grundsätzliches. Jetzt stellenSie sich doch einmal vor, die anwesenden Damen hiersäßen alle ohne Damenoberbekleidung.
Kommen wir zurück zu Ihrem Gesetz zur Förderungerneuerbarer Energien. Wie weit ist es mit Ihren Grund-sätzen her? Erstens: die Anmaßung von technologi-schem Wissen durch den Staat, zweitens: eine in derSumme und im Zeitverlauf erhebliche Belastung derStromkunden, und drittens: ein Außer-Kraft-Setzen desWettbewerbs. Die hehren Worte des Bundeswirtschafts-ministers sind also nichts als Lippenbekenntnisse.Die F.D.P. fordert von der Bundesregierung endlichein schlüssiges energiepolitisches Konzept. Das heißt,dass erneuerbare Energien gefördert werden müssen, wodies sinnvoll, das bedeutet auch: kostengünstig möglichist. Ein Mengenziel wird festgelegt. Dazu braucht mannicht staatlich diktierte Preise und auch nicht vorge-schriebene Technologien, meine Damen und Herren.
Wir wollen Zielvorgaben und flexibel handelbare In-strumente, also ein Zertifikatmodell. Das ist Markt, HerrTrittin, und nicht das, was Sie hier beschrieben haben.
Die Beamten aus dem Wirtschaftsministerium haben dasoffensichtlich schon verstanden. Ich kann Ihnen nurempfehlen: Machen Sie sich diese Position zu Eigen,lernen Sie davon und verschonen Sie um Gottes willendie Stromkunden! Die können sich nämlich gegen das,was Sie hier machen, nicht wehren.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Axel Berg, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die Strukturen der Ener-gie ändern sich. Die Politik debattiert hier, ob wir dieseÄnderungen mitmachen wollen oder ob wir alles so wei-terlaufen lassen wollen, wie es schon bisher war. MeinPlädoyer ist: Lasst uns aus dem Wandel, da er ohnehinkommt, ein Geschäft machen!
Ich möchte gleich zu Beginn klarmachen, dass es mirbei meiner Rede heute um den IndustriestandortDeutschland geht und um Ideen, wie sich der Industrie-standort Deutschland entwickeln könnte. Auch der Letz-te hat mitbekommen: Die Zeiten ändern sich. Wir habenes mit einer Globalisierung zu tun. Gerade im Umwelt-bereich spüren wir die Folgen: Kohlendioxid kennt kei-ne Grenzen. Die Österreicher beispielsweise jammern –vollkommen zu Recht – über den Transit, von dem sieselbst keine Vorteile haben. Und auch saurer Regenkennt keine Grenzen.Es geht auch um Liberalisierung. Sie wollen Wett-bewerb, so haben Sie uns immer gesagt – das wollen wirja auch. Sie wollen freie Märkte – das wollen wir auch,so weit es geht. Das ist ja, so hieß es schließlich immer,zum Vorteil aller. Aber nicht überall, wo Liberalisierungdraufsteht, ist auch Liberalisierung drin.
Wenn die Akteure auf den neuen Energiemärkten mitungleichen Voraussetzungen an den Start gehen, dannwerden die bestehenden regionalen Monopole nur er-setzt durch wirtschaftliche Monopole oder gar Oligopo-le. Um diese Thematik wird sich die Enquete-Kom-mission Energie kümmern, auf die ich mich sehr freue.Die Deutschen sind doch ein technisch hoch begabtesVolk. Wir waren ja noch nie ein Rohstoffland. Öl gab esbei uns noch nie; wir haben bei uns auch noch nie nachGold geschürft. Diesbezüglich war doch bei uns inDeutschland nie wirklich etwas zu holen. Also haben dieDeutschen richtig reagiert und haben angefangen, diebesten Automobile der Welt zu bauen, die besten Filter-anlagen zu entwickeln, haben Computer und Faxgeräterfunden, sich also in eine andere Richtung orientiert.Das war ja auch sehr vernünftig. Jetzt stellt sich für unsdie Frage: Wollen wir ein Industriestandort bleiben? Ichdenke, ja, wir sollten Industriestandort bleiben. Wennwir das wollen, dann müssen wir jetzt vorangehen unddann kommen wir nicht umhin, jetzt einige alte Zöpfeabzuschneiden.Birgit Homburger
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Ich kenne keinen volkswirtschaftlichen oder be-triebswirtschaftlichen Ansatz, der uns glaubhaft macht:Investieren Sie jetzt in Atomkraft, investieren Sie jetzt inKohle! Sie werden sehen, Länder wie Frankreich wer-den es noch bitter bereuen, dass sie den Strukturwan-del, der zurzeit stattfindet, verpassen. Meine Damen undHerren, jetzt findet das große Stühlerücken auf denWeltmärkten statt. Jetzt müssen wir uns positionieren,als die größte, als die erfahrenste, als die innovativsteIndustrie-, Dienstleistungs- und Handwerksnation derWelt.
Das Auto ist eine deutsche Erfindung. Es hat die Weltauf den Kopf gestellt. Kaum einer wagte damals, sichvorzustellen, welche rasante Entwicklung es nehmenkönnte. Bis heute sind Markennamen wie BMW, Mer-cedes, Porsche, Volkswagen weltweit tonangebend.
– Sagte ich bereits, gut zugehört!Warum sollten diese Autos nicht in ein paar Jahrengeräuschlos durch unsere Straßen fahren, mit Brenn-stoffzellen ausgerüstet und mit Wasser als Treibstoff?Warum sollten sie nicht durch Städte fahren, in denen eskeinen Wintersmog mehr gibt, weil die meisten Gebäu-de inzwischen gedämmt sind und effiziente Heizungsan-lagen haben? Gute Umwelt wird einmal schick und sexysein.
Und nicht jeder wird sie haben. Dadurch, dass sie nichtjeder haben kann, wird eine Handelsware daraus, undzwar eine saumäßig teure. Nur gute Umwelt wird es er-lauben, in einem Zustand zu leben, den man Wohlstandnennt. Das macht unser Land attraktiv; das macht unsfür uns selbst, aber natürlich auch für unsere Nachbarnund den Rest der Welt attraktiv, die ihre Umwelt- undArbeitslosenprobleme ebenso elegant angehen wollen,wie wir es tun. Dafür werden sie unsere Produkte kaufenmüssen. Bei Energie geht es um wesentlich mehr als nur umAutomarken, von denen ich gerade sprach. Energie istetwas sehr viel Wichtigeres. Wir haben jetzt die Chance,Deutschland zum Marktführer zu machen. Das ist diegroße politische Vision, mit der wir das 21. Jahrhundertangehen sollten. Wenn Sie der Großen Anfrage, die Sievorgelegt haben, den Titel „Energiepolitik für das21. Jahrhundert“ geben, dann, denke ich, ist es zu kurzgesprungen, wenn wir uns hier darüber streiten, welcheVor- und Nachteile Atomkraft, Kohle, Gas und auchErdöl haben. Das alles geht zu Ende. Die Sonne gehtdagegen nie bzw. erst sehr spät zu Ende.Der Stellenwert von Energie kann kaum überschätztwerden. Es geht weit darüber hinaus, nur einen Steckerin die Steckdose zu stecken. Es geht durch die Welt; esbewegt die Welt; es geht durch alle sozialen, kulturellen,wirtschaftlichen und auch kriegerischen Entwicklungender Menschheit. Es ist doch kein Zufall, dass dieMenschheit entscheidende Sprünge gemacht hat, als dasFeuer entdeckt und die Dampfmaschine erfunden wurde.Wie hat das Automobil den Lauf der Welt im letztenJahrhundert geprägt! Mit der Erfindung des Automobilswurde das Erdöl wichtig. Wer das Erdöl hatte, der warals Erster in der Lage, die Entwicklung dieser Erfindungdes 20. Jahrhunderts voranzutreiben, sie zum Massen-produkt zu machen und mit ihr Geld zu verdienen. Sosind die USA groß geworden. British Shell ist auf die-sem Weg zu einer Legende in England geworden. Die erneuerbaren Energien könnten sich mit sehrhoher Wahrscheinlichkeit ähnlich entwickeln. Diese Energieträger wird es auch noch dann geben, wenn dieKinder in der Schule nur noch aus den Geschichtsbü-chern wissen, dass es irgendwann einmal fossile Ener-gieträger gab, weil diese in ferner Zukunft längst ver-braucht sind. Auf uns kommt kein einfacher Kampf zu.Es wird nicht einen einfachen Kampf zwischen Indus-triekonzernen auf der einen Seite und Industriekonzer-nen auf der anderen Seite geben.Der weltweite Kampf um Energie geht meines Erach-tens jetzt in eine entscheidende Phase. Jetzt, spätestensseit Kioto, werden die alten Energieformen weltweit in-frage gestellt. Jetzt werden die Claims für neue Märkteabgesteckt, in denen richtig Musik ist. Dort stecken Ar-beitsplätze drin, die eine noch größere Arbeitsmotivationvermuten lassen. Es stecken Steuern drin, die man bei-spielsweise in Bildung und Soziales investieren könnte.Es steckt auch mehr Lebenslust für sämtliche Beteiligtenan diesem Prozess drin, nicht zuletzt deshalb, weil dieLuft und die gesamte Umwelt besser werden. Es geht auch schon langsam los: Die Unternehmeninvestieren in den Umweltschutz. Bereits nach wenigenJahren haben sich solche Investitionen amortisiert. Abdann wird Geld verdient bzw. werden Energiekosteneingespart. Wer die Ressourcen beherrscht, der war im-mer oben in der Geschichte der Menschheit. Jetzt habenwir erstmalig in der Geschichte der Menschheit dieChance, bei der zukünftigen Eroberung der Energieres-sourcen ganz vorne dabei zu sein. Wer hier Geld inves-tiert, der legt sein Geld gut an und investiert in einekommende Schlüsselindustrie. Wenn wir jetzt ein paarzusätzliche Kniebeugen machen, dann haben wir dieChance, für lange Zeit in der Oberliga zu spielen. Be-züglich Energieinnovation und Energiequalität wün-sche ich mir, dass wir Deutsche einen ebenso guten Rufwie in der Automobilbranche genießen werden.Wer jetzt noch von der Atomkraft als der goldenenZukunft spricht, der erinnert mich an jemanden von1930, der von der Weiterentwicklung der einfachenPferdekutsche zum Achtspänner geschwärmt hat unddamit vollkommen danebenlag.
Das Personal für die zukünftigen Aufgaben ist imGroßen und Ganzen bereits vorhanden. Bereits jetzt sindin unseren Kraftwerken – unabhängig davon, welcherArt diese Kraftwerke auch immer sein mögen – hochqualifizierte Mitarbeiter beschäftigt. In diesen steckt einenormes Potenzial. Dieses Potenzial müssen wir jetztDr. Axel Berg
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ausschöpfen. Um diese hoch qualifizierten Arbeitskräftefür unsere Ziele zu gewinnen, müssen wir sie natürlichin den Arm nehmen. Wenn der Letzte von ihnen in dieRakete eingestiegen ist, dann geht die Reise los. Wirverfügen bereits jetzt über Fachleute und Ingenieure,um eine Energiewende einzuleiten. Das hat doch Stil.
Herr Kollege, Sie
haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Gut, ich werde zum Ende
kommen. – Das ist nicht alles. Natürlich brauchen wir
eine neue Philosophie und ein neues gemeinsames Ziel.
Das liegt vor uns. Lasst uns zugreifen! Lasst es uns
wirklich alle wollen! Lasst uns jetzt die Ärmel hoch-
krempeln! Dann werden wir es auch schaffen. Dann
werden wir Deutschland auf diesem Zukunftsmarkt ganz
vorne positionieren.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile der Kolle-
gin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Menschliches Leben am Be-ginn des dritten Jahrtausends ist unlösbar mit demVerbrauch von Energie verbunden. Wir brauchen Ener-gie für beheizte, beleuchtete Wohnungen, für die Fahrtim Auto, für die Produktion von Gütern und vieles mehr.Deswegen können wir den Stellenwert einer voraus-schauenden und besonnenen Energiepolitik gar nichthoch genug einschätzen.
Aber was Sie hier praktizieren, liebe Freunde von derRegierung, ist genau das Gegenteil einer besonnenenEnergiepolitik. Sie verzetteln sich im Streit um Rest-laufzeiten. Sie bringen uns noch höhere Steuerbelastun-gen und noch mehr Subventionen. Die zentralen Zieleder Energiepolitik verlieren Sie vollkommen aus demBlickfeld:
Erstens. Eine Energieversorgung muss sicher sein.Das heißt, Energie muss jederzeit und überall in ausrei-chendem Maße zur Verfügung stehen. Zweitens. Energie muss preiswert sein, und zwar so-wohl für den normalen Bürger als auch für die Unter-nehmen. Drittens. Die Energieversorgung muss umweltver-träglich sein. Das heißt, die mit der Gewinnung, Um-wandlung und Verteilung von Energie zwangsläufigverbundenen Eingriffe in unsere Umwelt müssen auf dasgeringstmögliche Maß beschränkt sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sicher, preiswertund umweltverträglich – das ist sozusagen das Einmal-eins der Energiepolitik, und das war bis 1998 auchCommon Sense aller Regierungen in Europa und in derWelt. Bei Ihnen jedoch geht das Einmaleins andershe-rum: nicht sicher, sondern unsicher; nicht preisgünstig,sondern teuer; nicht umweltverträglich, sondern klima-schädlich – so sieht die deutsche Energieversorgung aus,auf die Ihre Politik hinausläuft.
Sie sind dabei – das ist das Gefährliche –, einen dauer-haften Schaden für unser Land anzurichten. Nochmals: Energie muss preiswert sein. Energiepoli-tik ohne Kostenbewusstsein ist eine Politik zulasten vonArbeitsplätzen, zulasten von Familien und zulasten derkleinen Leute. Sie machen einen riesigen Fehler, wennSie meinen, Energie müsse teuer sein. Auch die Mehr-heit der Bevölkerung in unserem Land empfindet IhrePolitik als Bevormundung und als reine Abkassiererei.
Ich verweise hier auf die Liberalisierung desStrommarktes, eine der größten und erfolgreichstenReformen von CDU/CSU und F.D.P.
– Da brauchen Sie gar nicht zu lachen. Sie hat bewirkt,dass heute der Verbraucher für eine Kilowattstunde rund5 Pfennig weniger bezahlt als noch vor zwei Jahren.Was machen Sie damit? Diesen Erfolg verfrühstückenSie einfach mit einer Stromsteuer von 4 Pfennig;1 Pfennig geht für Subventionen drauf – von der Mehr-wertsteuer, die noch dazugerechnet werden muss, ganzzu schweigen. Die Ökosteuer ist und bleibt eine politische Fehlent-scheidung. Sie ist weder öko noch logisch. Sie vernich-tet Arbeitsplätze.
Ich denke an die Landwirtschaft, ich denke an Handelund Gastronomie, ich denke an mittelständische Trans-portunternehmen – um nur einige wenige zu nennen. Die Ökosteuer ist vor allem extrem unsozial. Sie trifftniedrige Einkommen viel stärker als hohe.
Liebe Kollegen von der SPD, Sie haben auf Ihremletzten Parteitag immens lange darüber diskutiert, wieSie hohe Einkommen belasten und niedrige Einkommenentlasten können. Sie hätten es einfach haben können.Die einfachste Lösung: Schaffen Sie die Ökosteuer wie-der ab! Schließen Sie endlich diese Gerechtigkeitslücke!Besonders ungerecht ist die Ökosteuer – das muss Siedoch nachdenklich machen – für kinderreiche Familien.Ein Einkommen, über das ein Single ganz alleine verfü-gen kann, müssen sich dort viele Personen teilen. Auchist hier der Energieverbrauch bei weitem höher als beieinem Single. Dr. Axel Berg
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das mit Abstandfolgenschwerste Stromverteuerungsprogramm stellt aberIhr politisch verordneter Ausstieg aus der Kernenergiedar. Herr Helmut Maier-Mannhart schreibt in der „Süd-deutschen Zeitung“ – dem können Sie nicht widerspre-chen – :
Es führt eben kein Weg daran vorbei, dass es einvolkswirtschaftlicher Gewinn ist, mit den bestehen-den Kernkraftwerken Strom zu erzeugen. Seinen Leitartikel überschreibt er folgerichtig mit demTitel: Ein Wohlstandsverlust ist programmiert. Allein die Bayerische Staatsregierung rechnet im Falldes Atomausstiegs mit einer Stromverteuerung um30 Prozent. Ich will gar nicht davon sprechen, dass über150 000 Arbeitsplätze mittelbar und unmittelbar davonbetroffen sind. Allein für Ihren grünen Seelenfrieden,liebe Kolleginnen von den Grünen, ist dieser Preis ein-fach zu hoch. Dieser Preis allein für Ihre Ideologie ist zuhoch!
Ihre Atomausstiegspolitik macht die Stromversor-gung nicht nur teurer, sondern auch klimaschädlicher.Ich erinnere Sie nur daran – das kann man nicht oft ge-nug sagen –, dass 160 Millionen Tonnen CO2-Emis-sionen im Jahr durch die Kernenergie vermieden wer-den. Die Energieversorgung wird auch unsicherer wer-den.
Ohne Kernenergie werden wir bei weitem mehr Stromund fossile Energieträger importieren müssen. Das be-deutet Abhängigkeit vom Ausland.Ich begrüße es sehr, dass die EU-Kommissarin FrauLoyola de Palacio ein umfassendes Dokument zur zu-künftigen Entwicklung der Energieversorgung vorlegenwill. Es ist wichtig, warum: Es geht um die Versor-gungssicherheit der Zukunft. Es sind Anzeichen dafürvorhanden, dass der Import nach Europa von 50 auf70 Prozent steigen wird. Wir müssen uns zukünftig da-rüber Gedanken machen, wie wir unsere Versorgung inder Zukunft sichern.
Woher sollen denn zukünftig die 34 Prozent der deut-schen Stromerzeugung, die die Kernkraftwerke momen-tan liefern, kommen? Auch hierzu zitiere ich die „Süd-deutsche Zeitung“. Mir glauben Sie anscheinend nicht,aber vielleicht glauben Sie der „Süddeutschen Zeitung“:
So spricht denn vieles dafür, dass die durch Schlie-ßungen von Kernkraftwerken verursachten Strom-lücken hauptsächlich durch Importe geschlossenwerden. ... Dabei kann man dann mit Sicherheit da-von ausgehen, dass es sich bei den Importen weit-gehend um Strom aus Kernkraftwerken in Frank-reich, Tschechien, der Slowakei oder der Ukrainehandeln wird.
So sehen es Experten. Die Antwort auf unsere Frage in der Großen Anfrage,ob die Bundesregierung an ein Importverbot von Elek-trizität aus Kernkraftwerken im Ausland denkt, ist ein-deutig: Die Bundesregierung denke nicht an ein Import-verbot. Dann aber, liebe Kolleginnen, muss die Frage er-laubt sein: Welchen Sinn macht es, die anerkannt si-chersten 19 Kernkraftwerke abzuschalten, wenn sichweltweit 434 Kernkraftwerke in Betrieb und 36 im Baubefinden und der in diesen Kernkraftwerken erzeugteStrom auch zukünftig in das deutsche Stromnetz fließenwird? Die Antwort kann nur lauten: Es macht überhauptkeinen Sinn.
Sie machen die Entsorgung unsicher. Sie werfen dasgemeinsam entwickelte Entsorgungskonzept einfach über den Haufen. Die von Ihnen gewünschte Zwischen-lagerung abgebrannter Brennelemente an den Kraft-werksstandorten ist nichts anderes – das ist das, was ichIhnen ankreide – als eine Verschiebung der Entsor-gungsaufgaben auf künftige Generationen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-on, Ihre Energiepolitik befindet sich auf Abwegen. Ichgebe Ihnen einen guten Rat. Korrigieren Sie Ihren Kursund beherzigen Sie endlich das energiepolitische Ein-maleins: Deutschland braucht auch im 21. Jahrhunderteine sichere, preisgünstige und umweltverträgliche Energieversorgung.Vielen Dank.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun der Kollege Christoph Matschie.
Herr Präsident! WerteKolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute überdie Energiepolitik des 21. Jahrhunderts. Gerade nachdem, was ich von Ihnen, Frau Kollegin Wöhrl, gehörthabe, glaube ich, die wichtigste Voraussetzung für einesolche Diskussion über die Energiepolitik des 21. Jahr-hunderts ist es, dass wir uns von alten Ideologien befrei-en, dass wir uns von Ideologien befreien, die wir imletzten Jahrhundert mitgeschleppt haben.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,ich kann Ihnen nur empfehlen: Steigen Sie aus demKampfanzug aus, den Ihnen Herr Stoiber verordnet hat,Dagmar Wöhrl
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und folgen Sie sachlichen und konstruktiven Argumen-ten.
Dann kommen wir wirklich zu einer Debatte über dieEnergiepolitik dieses Jahrhunderts.
Ich gehe an dem entlang, was Sie, Frau Wöhrl, gesagthaben: sichere Versorgung, umweltverträgliche Versor-gung, wettbewerbsfähige Versorgung.Zur Versorgungssicherheit ist im Moment nur zusagen, dass wir in Europa Überkapazitäten von gigan-tischen 40 000 MW haben. Das entspricht etwa der dop-pelten Leistung aller in Deutschland installierten Atom-kraftwerke.
In der Bundesrepublik haben wir entsprechend den An-gaben von 1997 eine Überkapazität von etwa 23 000MW. Das sind 24 Prozent der verfügbaren Kapazitäten.Auch hier ist im Moment überhaupt kein Versorgungs-engpass zu erkennen.Langfristig müssen wir uns allerdings die Frage nachder Verfügbarkeit und nach der Preisentwicklung vonRessourcen stellen. Da gebe ich Ihnen völlig Recht.Zur Umweltverträglichkeit: Hier haben wir ver-schiedene Aspekte zu beachten. Dabei ist wahrschein-lich an erster Stelle die Frage der Klimaverträglichkeitzu nennen. Das ist hier ja von einigen angesprochenworden. Aber auch Schadstoffemission, Bergbau undAbfall sowie Sicherheit der Technik müssen eine Rollespielen. Am stärksten umstritten ist die Nutzung der Kern-energie. Deshalb hat sie hier in der Debatte auch eine sogroße Rolle gespielt, obwohl sie nach meiner Überzeu-gung nicht die Energieform des 21. Jahrhunderts seinkann und sein wird.
Die Sicherheitsrisiken haben dazu geführt, dass eineMehrheit hier in Deutschland die Kernenergienutzungbeenden will. Diese Sicherheitsrisiken haben auch dazugeführt, dass die Bundesregierung und die sie tragendenParteien sich entschieden haben, aus der Kernenergieauszusteigen. Jeder, der dieses Problem ideologisch betrachtet, soll-te einmal nachlesen, was der Sachverständigenrat fürUmweltfragen zu diesem Thema aufgeschrieben hat.Der Sachverständigenrat geht zum Beispiel in seinemGutachten 2000 davon aus, dass die Atomenergienut-zung auch ohne vorzeitigen Ausstieg nach 2010 deutlichabsinkt, das heißt ohnehin nicht die Zukunftsperspektivein der Energieversorgung ist.Nun wird ja von einigen – das ist auch hier gesche-hen – die Kernenergie als die Waffe gegen den Klima-wandel ins Spiel gebracht. Man kann sich ja einmal überlegen, ob es sinnvoll ist, die Gefahren der Atom-energienutzung gegen die Risiken des Klimawandelsabzuwägen.Herr Kollege Lippold, Sie wissen das aus den Dis-kussionen in der Enquete-Kommission: Auch die Nut-zung der Atomenergie ist natürlich nicht CO2-frei, son-dern wenn man die gesamte Kette vom Bau der Kraft-werke, vom Bergbau, der damit zusammenhängt, bis hinzur Produktion betrachtet, zeigt sich, dass die Kernener-gie keine CO2-freie Energie ist
und dass es durchaus Entwicklungspfade gibt, die unterdem Gesichtspunkt der Freisetzung von CO2 ähnlich ef-fizient sind. Professor Graßl, bis Herbst immerhin Leiter desWeltklimaforschungsprogramms in Genf, hat ja auchdamals in der Enquete-Kommission Ihren Aussagen wi-dersprochen, dass die Kernenergie als Lösung für dasCO2-Problem angesehen werden könnte.Nun überlegen wir einmal: Die Atomenergie hatweltweit an der Primärenergieerzeugung einen Anteilvon 7 Prozent, und das bei 436 zurzeit am Netz befindli-chen Kernkraftwerken.
– Wenn wir über Klima reden, reden wir über Primär-energie, Herr Kollege. Beantworten Sie doch einmal die Frage: Wie vieleHunderte und Tausende von Kernkraftwerken wollenSie denn bauen, um deren Anteil an der Primärenergie-erzeugung nennenswert auszuweiten? Was bedeutet dasfür die Sicherheit? Was bedeutet das für die verfügbarenReserven?Auch Uranreserven sind begrenzt. Nach der statischenVerfügbarkeit – das wissen Sie so gut wie ich –
sind die Uranreserven in etwas mehr als 60 Jahren amEnde. Es gibt also auch von dieser Seite keine Zukunftfür diese Energietechnologie.
Das Fazit kann doch nur sein – da stimme ich übri-gens auch mit den Aussagen des SachverständigenratesChristoph Matschie
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für Umweltfragen überein –, dass der Ausbau der Kern-energie nach heutiger Kenntnis nicht signifikant zur Lö-sung des Klimaproblems beitragen kann. Wenn Sie ge-statten, zitiere ich für Sie – auch für Frau Wöhrl –, wasder Sachverständigenrat für Umweltfragen zu dieserDebatte sagt, nämlich erstens:Der Umweltrat hält eine weitere Nutzung der Atomenergie für nicht verantwortbar.Er sagt zweitens:Klimapolitischer Handlungsbedarf kann kein Ar-gument gegen eine Beendigung der Nutzung derAtomenergie sein.Er unterstützt auch die Strategie der Bundesregierung, inGesprächen mit der Atomindustrie eine Lösung für ei-nen geordneten Ausstieg zu finden.Wenn die Atomenergie nicht die Lösung des Klima-problems sein kann, müssen wir fragen, welche vertret-baren Strategien sich anbieten. Dazu hat diese Koalitioneine Reihe von Aussagen gemacht:Die erste Strategie, die kurzfristig auch das größtePotenzial verspricht, ist die Einsparung von Energie.Wir haben in Deutschland mit den heutigen Technolo-gien ein Einsparpotenzial von etwa 40 Prozent. Nicht al-les davon ist im Moment wirtschaftlich erschließbar; aber hier liegt die größte Quelle. Ökosteuer und Ener-gieeinsparverordnung werden diese Technologienvorantreiben.Die zweite Strategie ist der Einsatz erneuerbarerEnergien. Da sind wir auf dem richtigen Weg. Dazu hatauch die alte Bundesregierung mit dem Stromeinspei-sungsgesetz einen wichtigen Beitrag geleistet. Ich kannüberhaupt nicht verstehen, warum Sie sich heute ausdieser Debatte verabschieden und warum Sie das Erneu-erbare-Energien-Gesetz abgelehnt haben, anstatt weiterdaran mitzuwirken, dass die regenerativen Energien indiesem Land ausgebaut werden.
Wir haben beim Anteil der regenerativen Energien ander Endenergie kurzfristig – das heißt, bis 2010 – einPotenzial von etwa 10 Prozent und bis 2050 eines vonetwa 60 Prozent.
Der dritte Pfad, den wir einschlagen, betrifft die bes-sere Ausnutzung fossiler Energieträger. Auch hierzuist einiges gesagt worden. Die Strategien sind auf denWeg gebracht worden. Die Kraft-Wärme-Kopplung undihr Ausbau werden dazu einen wesentlichen Beitrag leis-ten.
Wir werden ja noch am Freitag dieser Woche die Ab-stimmung über das KWK-Vorschaltgesetz haben undüber eine langfristige Strategie zum Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung diskutieren.
Herr Kollege
Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Ramsauer?
Aber selbstverständ-
lich.
Herr Kollege
Matschie, wie kommen Sie eigentlich zu der Feststel-
lung, dass sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus
einer Politik zur Förderung der erneuerbaren Energien
verabschiedet habe, angesichts der Tatsache, dass wir in
der zweiten Lesung bei der Verabschiedung des EEG
Änderungsanträge gestellt haben, die zur Förderung der
erneuerbaren Energien substanziell deutlich über das hi-
nausgingen, was Sie im EEG beschlossen haben?
Herr Kollege
Ramsauer, die Frage kann ich Ihnen ganz einfach be-
antworten.
In der Vergangenheit ist es auf diesem Politikfeld guter
Brauch gewesen, sich frühzeitig zusammenzusetzen und
zu versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden.
So haben wir das damals gehalten.
Sie haben sich jetzt aber an dieser Diskussion nicht be-
teiligt. Sie haben beispielsweise auch im Umweltaus-
schuss keine Anträge zum Erneuerbare-Energien-Gesetz
gestellt, die wir dort hätten diskutieren und einarbeiten
können. Am Ende haben Sie dieses Gesetz abgelehnt.
Das bedeutet für mich: Sie haben sich aus dieser Debatte
verabschiedet.
Gestatten Sie, Herr
Kollege Matschie, eine zweite Frage des Kollegen
Ramsauer? Auf Ihre Redezeit wird das nicht angerech-
net.
Bitte.Christoph Matschie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8759
Herr Kollege
Matschie, ich muss Sie gerade nach der jetzt gegebenen
Antwort fragen, ob Ihnen entgangen ist, dass wir im
Laufe der Ausschussberatungen mehrmals das angebo-
ten haben, was wir im Bereich der erneuerbaren Ener-
gien zuvor stets praktizierten und was ich früher als den
kleinen Energiekonsens bezeichnete; das ist auch immer
gut gelaufen, Herr Kollege Scheer. Da wir mit den Wei-
terungen, die wir angeboten haben, im Ausschussverfah-
ren nicht weitergekommen sind, hatten wir nur noch die
Möglichkeit, unsere Anträge zu wesentlich weiterge-
henden Förderungsinstrumenten in der zweiten Lesung
einzubringen.
Mein Eindruck aus die-
sen Auseinandersetzungen ist – das muss ich Ihnen ganz
offen und ehrlich sagen –, dass die Gespräche nicht da-
rauf angelegt waren, am Ende zu einem Konsens zu
kommen. Anderenfalls hätten wir einen solchen Kon-
sens ja erreichen können. Vielmehr waren Sie darauf
aus, dass es beim Dissens bleibt, weshalb Sie am Ende
das Erneuerbare-Energien-Gesetz abgelehnt haben.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich kann Sie nur noch einmal bitten: Nicht nur wir in der
Bundesrepublik, sondern auch andere Länder, unter an-
derem in der Europäischen Union, führen die Diskussion
um den Ausstieg aus der Atomenergie. Lassen Sie
uns die Diskussion um die Energiepolitik des
21. Jahrhunderts sachlich führen! Beenden Sie die ideo-
logischen Debatten!
Jemand, der so über die Atomenergie diskutiert, wie
Sie es hier tun, wird nicht dazu beitragen, dass bürger-
kriegsähnliche Zustände, beispielsweise bei Atomtrans-
porten, endlich verhindert werden und dass der gesell-
schaftliche Konflikt um die Nutzung der Atomenergie
friedlich beigelegt werden kann. Ich wünsche mir – ich
sage es noch einmal –: Legen Sie den Kampfanzug ab,
den Ihnen Herr Stoiber verordnet hat!
Stellen Sie sich einer fairen und sachlichen Debatte! Ich
wünsche mir, dass Sie sich in Zukunft genauso für die
erneuerbaren Energien und für die Energieeinsparung
einsetzen werden, wie Sie sich hier für die Atomenergie
eingesetzt haben.
Ich gebe dem Kol-
legen Ulrich Klinkert für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Noch nie in der Nachkriegs-geschichte herrschte auf dem Energiesektor Deutsch-lands so viel Verunsicherung und Chaos wie seit demAmtsantritt der rot-grünen Bundesregierung.
Das hohe Gut einer sicheren, preiswerten und ökologi-schen Energieversorgung unter hoher einheimischerWertschöpfung wird durch Sie zunehmend infrage ge-stellt.Die Maßnahmen von Rot-Grün drohen zu einem De-saster für den Energiestandort Deutschland insgesamt zuwerden. Zusätzlich zu Ihren nationalen Maßnahmen sor-gen Sie, allen voran Bundesumweltminister Trittin, mitIhren chaotischen und teilweise peinlichen internationa-len Auftritten dafür, dass die Glaubwürdigkeit Deutsch-lands insgesamt infrage gestellt wird.National träumt Rot-Grün noch immer den Traum ei-nes vollständigen Atomausstiegs. Rot-Grün glaubt, dassdie Energieunternehmen so naiv wären, diesen Atom-ausstieg auch noch auf dem silbernen Tablett zu servie-ren. Die Bundesregierung ist weltfremd genug, anzu-nehmen, dass dies auch international noch Schule ma-chen würde.Aber die Tatsachen sprechen eine völlig andere Spra-che. Meine Damen und Herren, Sie wissen doch ganzgenau, dass einem gesetzlichen Ausstieg enge juristi-sche – grundgesetzliche – Grenzen gesetzt sind. Selbstwenn es Ihnen gelingen würde, national alle deutschenReaktoren zu schließen, meinen Sie dann, dass dasAuswirkungen auf nur einen einzigen der weltweit 436in Betrieb befindlichen oder der 36 im Bau befindlichenReaktoren hätte? Das Gegenteil ist der Fall.In ganz Europa freut man sich auf einen deutschenAlleingang beim Atomausstieg, um dann in genau dieLücke springen zu können, die durch die Schließung derdeutschen Kernkraftwerke entsteht, sprich: Atomstromnach Deutschland liefern zu können. Herr Trittin, Siesollten sich nicht wie vorhin in Ihrer Rede auch nochdarüber lustig machen, dass durch Ihre chaotischen Blo-ckadepolitiken Investitionen in Kernkraftwerke inDeutschland – und nicht nur in Kernkraftwerke – aus-bleiben.
In der Atompolitik wird die ganze Widersprüchlich-keit der Bundesregierung deutlich. Die Bundesregierungspricht im Inland von „Teufelszeug“, gewährleistet aberüber Hermes-Bürgschaften den Bau von Kernkraft-werken, zum Beispiel in China. Gegen diese Her-mes-Bürgschaften für China ist im Prinzip nichts zu sa-gen. Wie die Herren Trittin und Fischer dies der grünenBasis beibringen, das ist zunächst einmal nicht unserProblem.Dass Sie aber einerseits, zum Beispiel für China, Krediteverbürgen und andererseits internationale Verträge bre-chen und wiederum Kredite verweigern, die für die si-cherheitstechnische Nachrüstung von Kernkraftwer-ken in der Ukraine gedacht sind, ist im Sinne der nuklearen Sicherheit verantwortungslos und schadetdem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland.
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Jedes Kind weiß, dass Kernkraftwerke russischerBauart nach westlichem Verständnis Sicherheitsdefiziteaufweisen. Aber die internationale Fachwelt ist sichdurchaus darüber einig, dass ein Teil dieser Kraftwerke,nämlich die so genannten WWER-Blöcke, die nicht demTyp von Tschernobyl entsprechen, sicherheitstechnischauf vergleichbares westliches Niveau nachrüstbar sind. Weil das so ist, haben die G-7-Staaten 1995 beschlos-sen, der Ukraine bei der Schließung des Kraftwerks vonTschernobyl und bei der Schaffung von Ersatzkapazitä-ten behilflich zu sein. Diese vertraglich vereinbarte Li-nie hat die Regierung Schröder inzwischen verlassen.Man hat mir anlässlich eines vor kurzem gemachten Be-suches der Ukraine gesagt, dass man erstens inzwischenan der Zuverlässigkeit der Bundesregierung zweifelt unddass zweitens die Kernkraftwerke Rowno und Khmel-nytsky, um die es hierbei geht, auf jeden Fall in Betriebgehen werden, dann eben ohne eine entsprechende si-cherheitstechnische Nachrüstung. Meine Damen und Herren, wenn in der UkraineKernkraftwerke in Betrieb gehen, die in ähnlicher Ent-fernung zu Deutschland liegen wie das KraftwerkTschernobyl, und wenn sie von der Ukraine bis nachMitteleuropa eine potenzielle Gefährdung der Bevölke-rung darstellen, dann hat dafür die rot-grüne Bundesre-gierung in hohem Maße Mitverantwortung.
Die Regierung beruhigt sich und ihr grünes Gewis-sen, indem sie die weltweit anerkannt sichersten Kern-kraftwerke, nämlich die in Deutschland, als erste ab-schaltet und zusieht, wie wesentlich unsicherere Kraft-werke in der Ukraine in Betrieb gehen. Falls es Ihnenwirklich gelingt, einige Kernkraftwerke in Deutschlandabzuschalten, werden Sie dies sicherlich als Ihren ver-meintlich großen Erfolg feiern. Aber selbst wenn Sie indiesem Zusammenhang alle Ihre Steckdosen grün an-streichen werden, werden Sie im Zuge der Liberalisie-rung der internationalen Märkte nicht verhindern kön-nen, dass aus eben diesen Steckdosen Strom aus Kern-kraftwerken kommt, deren Sicherheitsverbesserung Sieverweigert haben.
– Das ist wohl wahr; das ist eine besondere Art von Mo-ral, auf die Kollege Hirche zu Recht hinweist.Zurück zum deutschen Energiemarkt. Mit dem Aus-stieg aus der Kernenergie würde ein gigantischerArbeitsplatzverlust einhergehen und auch eineZunahme des CO2-Ausstoßes wäre zu befürchten. Es ist ein Märchen, zu glauben, dass Kernkraftwerke durchEnergieeinsparung oder erneuerbare Energien kom-pensiert werden können. Möglicherweise kommtder Zuwachs des CO2-Ausstoßes nicht aus deutschen Kraftwerken, sondern wird durch Stromimporte aus demAusland bedingt. Dies ist, wie wir wissen, derAtmosphäre ziemlich egal. Dass dieser Zuwachs auch aus dem Ausland kommenkönnte, liegt sicherlich daran, dass die Bundesregierungzurzeit – ähnlich ideologisch motiviert wie bei Kern-kraftwerken – massive Angriffe gegen konventionelleKraftwerke, insbesondere gegen Braunkohlekraftwer-ke in den neuen Bundesländern, richtet. Jeder weiß,dass die ostdeutsche Braunkohleverstromung zurzeit,bedingt durch notwendige Investitionen in Höhe von20 Milliarden DM, finanzielle Probleme hat. Was tut dieBundesregierung? Sie gefährdet diese gigantischen In-vestitionen auch noch, indem sie zum Beispiel eine zu-sätzliche Besteuerung von Rückstellungen für dieRekultivierung plante, was nur in letzter Minute durchmassive Proteste verhindert werden konnte, übrigensauch durch massive Proteste der IG BCE, die sich dieseVerhinderung durchaus als Erfolg auf ihre Fahnenschreiben kann. Ich habe allerdings den Eindruck, dassdiese Gewerkschaft im Moment aufgrund dieses Erfol-ges etwas ermüdet ist. In der Zeit vor 1998, also vor demRegierungswechsel, habe zumindest ich diese Gewerk-schaft als wesentlich munterer erlebt,
was ich in jedem Fall als positiv betrachte. Im Weiteren führt die Bundesregierung einen Schlaggegen die Braunkohle, indem sie eine Steuerbefreiungfür Gaskraftwerke einführt, dies in einer Ausgestal-tung, die zwar verhindert – Herr Präsident, ich kommezum Schluss –, dass in Nordrhein-Westfalen Gaskraft-werke gebaut werden, die aber gewährleistet, dass dieVoraussetzungen gegeben sind, eine Konkurrenz zurostdeutschen Braunkohleverstromung in den neuenBundesländern zu schaffen. Dies zeigt die ganze Dop-pelzüngigkeit der Bundesregierung.Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf dieGroße Anfrage und in den Redebeiträgen am heutigenTage bewiesen, dass sie nicht in der Lage ist, Antwortenauf die Fragen der Energieversorgung des 21. Jahr-hunderts zu geben.Vielen Dank.
Für die SPD-
Fraktion spricht der Kollege Hermann Scheer.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Eine Kollegin der CDU/CSU-Fraktion hat vorhin gesagt, es ginge um eine sichere,preisgünstige und umweltfreundliche Energieversor-gung, wie sie bisher praktiziert worden sei – und zwarnicht nur in Deutschland, sondern von allen Regierun-gen dieser Welt.
– So haben Sie es wörtlich gesagt. – Angesichts diesesSatzes habe ich mich gefragt, in welcher Welt Sie ei-gentlich leben.Ulrich Klinkert
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Dass die Energieversorgung dieser Welt extrem um-weltgefährdend, ja umweltzerstörend ist, wissen wir in-zwischen von allen Weltklimakonferenzen. Das ist eineindeutiger Tatbestand.
Dass es unglaubliche Gefahren durch die Atomenergiegibt, wissen wir spätestens seit Tschernobyl. Was die si-chere und preisgünstige Energieversorgung anbetrifft:Das Argument hinsichtlich der Sicherheit und der Preis-günstigkeit fällt aufgrund der Entwicklung der Energie-märkte desto stärker in sich zusammen, je mehr wir anden herkömmlichen atomaren wie fossilen Energiequel-len festhalten.Es ist ja unbestritten, dass die Zahlen, die in der Ant-wort der Bundesregierung in Bezug auf die statistischeVerfügbarkeit genannt werden, realistisch sind. In derAntwort wird von einer statistischen Verfügbarkeit beiErdöl von 43 Jahren – das ist ein extrem kurzer Zeit-raum –, bei Erdgas von 66 Jahren und bei Atombrenn-stoffen – die jetzt in Anspruch genommenen Uranreser-ven einmal zugrunde gelegt – von ungefähr 60 Jahrenausgegangen. Das sind absolut alarmierende Zahlen, diedie gesamte internationale Sicherheit infrage stellen.Die Preisgünstigkeit der Energieversorgung wird oh-nehin infrage gestellt. Man muss nämlich bedenken,dass diese Zahlen eine nur durchschnittlich ansteigendeZuwachsrate des Weltenergieverbrauchs unterstellen.Von einer durchschnittlich ansteigenden Energiezu-wachsrate kann aber gar nicht die Rede sein. Der Ener-gieverbrauch entwickelt sich nämlich weltweit über-durchschnittlich. Das heißt, wir müssen damit rechnen,dass die Zeiträume hinsichtlich der statistischen Verfüg-barkeit kleiner sind, als das gegenwärtig noch von denStatistiken ausgewiesen wird.Die Welt wird natürlich nicht darauf warten, bis dasEnde der Verfügbarkeit tatsächlich eingetreten ist.Vielmehr werden die politischen und wirtschaftlichenSpannungen zunehmen. Je mehr wir uns dem Kreu-zungspunkt zwischen nachlassender – zum Schlussnicht mehr gegebener – Verfügbarkeit und Ener-giebedarf nähern, desto früher werden wir es neben denökologischen Turbulenzen mit riesigen wirtschaftlichenTurbulenzen zu tun haben. Diese wirtschaftlichen Tur-bulenzen werden zu massiven militärischen Spannungenführen und brutale militärische Konflikte provozieren.Das ist die Situation, vor der wir stehen.
Von daher ist jedwede Selbstgefälligkeit in Bezug auffrühere Energiepolitik falsch – gleich, wer sie praktizierthat. Wir stehen vor einer derart dramatischen Heraus-forderung, dass sie ganz anders bewältigt werden muss,nämlich mit viel konsequenteren Schritten, mit denenvermieden werden kann, dass wir jemals an dem Kreu-zungspunkt von nachlassender Verfügbarkeit und Ener-giebedarf ankommen; denn das würde ein Chaos unbe-schreiblichen Ausmaßes in der Welt bedeuten. Das ist inletzter Konsequenz nur durch eine Mobilisierung er-neuerbarer Energien möglich. Wir dürfen das nichtweiter verschleppen. Dass das in der Vergangenheit vonfast allen Regierungen der Welt verschleppt worden ist,dass das ungenügend oder teilweise gar nicht praktiziertworden ist, war ein gravierendes Versäumnis des20. Jahrhunderts.Wir gehören zur oberen Klasse der Staaten, die in den90er-Jahren in diesem Bereich etwas gemacht haben.Aber auch diejenigen, die zur oberen Klasse zählten,müssen sich angesichts der Gesamtherausforderung sa-gen lassen, dass die Antworten ungenügend waren.Auch die Maßnahmen, die jetzt ergriffen worden sind,die deutlich über frühere hinausgehen, reichen längstnoch nicht aus. An dieser Stelle muss entschieden wei-tergearbeitet werden. Eine Verschleppung ist unverant-wortlich.
Das gilt auch für die Europäische Union. Wir müs-sen viel mehr Initiativen ergreifen, damit im Rahmen derEuropäischen Union und etwa bei Weltklimakonferen-zen diese Thematik richtig aufgegriffen wird. Deswegenstehen wir vor zwei Herausforderungen, nämlich zumeinen vor der Bewältigung des Verfügbarkeits- wie auchUmweltproblems durch die Mobilisierung erneuerbarerEnergien. Zum anderen stehen wir vor der Frage, wiewir dies vor dem Hintergrund der Liberalisierung derEnergiemärkte – gegebenenfalls mit Hilfe – beschleuni-gen können und wie wir verhindern, dass die Liberalisie-rung der Energiemärkte unsere Strategien für die Zu-kunft durchkreuzt. Auch das ist denkbar.Die Liberalisierung, wie sie heute praktiziert wird,ist für sich gesehen hochproblematisch, weil sie nichtden Vorrang von Naturgesetzen, also der Erhaltung derUmwelt, vor Marktgesetzen festschreibt. Wenn man denMarktgesetzen den Vorrang einräumt, muss das logi-scherweise in einer Katastrophe enden. Man muss alsoden Vorrang der Naturgesetze festschreiben, und damitdas Ende der Subvention; denn gegenwärtig subventio-niert die Gesellschaft die kostengünstige, herkömmliche,umweltschädigende Energieversorgung. Dies muss be-endet werden. Das ist ein Gebot unserer Zeit. Deswegenist das EEG, das diesen Vorrang festschreibt – das warschon mit dem Stromeinspeisungsgesetz gegeben, wirdaber jetzt ausgeweitet –, genau der richtige Weg. Eshandelt sich um eine notwendige Ergänzung zur Libera-lisierung.Was die Liberalisierung selbst angeht, so kann sienutzen, wenn dieser Vorrang gegeben ist und wenn dieLiberalisierung tatsächlich im Sinne der Wettbewerbs-gleichheit praktiziert wird. Davon kann gegenwärtignoch keine Rede sein. Die UN spricht von Subventionenin einer Höhe von 300 Milliarden Dollar jährlich welt-weit für atomare und fossile Energien. Es ist somit keinWunder, wenn diese gegenüber alternativen Energieneinen Preisvorteil haben. Das heißt, ein Programmpunktfür die künftige Weltklimakonferenz müsste der Abbauder Energiesubventionen im weltweiten Maßstab sein,damit die alternativen Energien durchbrechen können. Dr. Hermann Scheer
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Ein weiterer Programmpunkt müsste die Frage sein –das hat heute eine große Rolle gespielt –, wie erreichtwerden kann, dass Wettbewerbsverzerrungen durch Un-gleichzeitigkeit in der Liberalisierung der Energiemärkteeintreten. Hier wurde die Gefahr beklagt – das habenviele Redner der Oppositionsparteien heute gemacht –,dass billiger Atomstrom aus Russland oder aus Frank-reich oder vielleicht billiger Kohlestrom aus Polen indiesen Markt kommt. Es ist doch völlig klar, dass dasdaran liegt – nicht ausschließlich, aber entscheidend –,dass von nicht liberalisierten Märkten in liberalisierteMärkte importiert werden kann, ohne dass es gegenwär-tig – wegen des Energiewirtschaftsgesetzes, wegen einerfalschen Konstruktion der europäischen Energiecharta,also wegen früherer Versäumnisse –, keine Handhabedagegen gibt. Das heißt: Wenn Sie im Energiewirt-schaftsgesetz keine Schutzklausel, gegen diese Art derWettbewerbsverzerrungen vorgesehen haben, dürfen Siedie eintretenden Folgen nicht beklagen. Die Antwort derBundesregierung lautet bisher, dass hier keine Maßnah-men ergriffen werden, außer die, dass man sich bei derEU-Kommission richtigerweise beschwert, mit demZiel, dass sie dagegen tätig wird.Wir müssen in unserem EnergiewirtschaftsgesetzVorkehrungen dagegen treffen – selbstverständlich –,sonst riskieren wir, dass aufgrund der wettbewerbsver-zerrenden Importe aus Ländern, die noch geschützteMärkte haben und diese Energien deswegen zu Dum-pingpreisen anbieten und die Preise auf ihre heimischenKunden überwälzen können, Initiativen für Effizienz-maßnahmen und zur Sicherung heimischer Stromerzeu-gung und die Mobilisierung erneuerbarer Energiendurchkreuzt werden. Dies muss vermieden werden; dasist eine der zwingenden Herausforderungen.Das heißt, Sie dürfen sich nicht darüber beklagen. DieUrsache liegt in einem falschen Liberalisierungsansatz;er ist viel zu ideologisch praktiziert worden. An der Stel-le sage ich: Wenn Sie jetzt die Folgen sehen und wirgemeinsam dagegen initiativ würden, dann wäre das einproduktives Ergebnis dieser Debatte.Danke schön.
Wir können uns ja,da wir es gerade praktiziert haben, einmal grundsätzlichdarauf verständigen: Wer frei spricht, kriegt einen Bo-nus bei der Redezeit.
Ich schließe die Aussprache.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 und die Zusatz-punkte 2 und 3 auf:3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierungzur 11. Vertragsstaatenkonferenz zum Wa-shingtoner ArtenschutzübereinkommenZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten AnkeHartnagel, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Steffi Lemke, Sylvia Voß, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutz der Wale dauerhaft sicherstellen – Drucksache 14/2985 –ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten MargaElser, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPD sowie derAbgeordneten Sylvia Voß, Gila Altmann, UlrikeHöfken, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbot des Elfenbeinhandels wieder herstellen – Drucksache 14/2986Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Manche von Ihnen werden es viel-leicht schon dem „Spiegel“ entnommen haben: DieBundesrepublik Deutschland oder – exakter – die Haupt-stadt Berlin hat aktuell ein äußerst bäriges Problem, was den Artenschutz angeht. Das Pandabä-ren-Weibchen Yan-Yan, vor fünf Jahren zu – so mussman an der Stelle wohl sagen – angeblich wissenschaft-lichen Zwecken mit Hilfe Berliner Politiker nachDeutschland eingeschleust, soll angeblich wieder nachChina abgeschoben werden. Der Grund ist banal: Yan-Yan kann oder will nichtdas tun, was sich Berliner Zooleute und Amtsträger beiihrer Einfuhr erhofft haben, nämlich Nachwuchs produ-zieren. Die Dame Yan-Yan muss oder soll nun das aus-baden, was eigentlich die Berliner und die zuständigenBehörden des Bundes vor dem Panda-Deal hätten eruie-ren sollen: Wenn es nämlich zulässig ist, solche Tierezum Zwecke der wissenschaftlichen Produktion vonNachwuchs zu importieren – und nur zu diesem Zwe-cke –, hätte man prüfen müssen, ob das mit der DameYan-Yan überhaupt möglich ist.Ich will aber – gerade um die Luft aus dieser Debattezu nehmen – eines klar sagen: Wir wollen alles tun, umihr einen angemessenen – sprich: artgerechten – Ruhe-stand zu ermöglichen – ob nun hier oder in China, dasbleibt abzuwarten.
Sie werden das verstehen, weil ich auch in anderen Fra-gen, bei illegal Zugereisten, eher zurückhaltend bin, wasAbschiebung angeht.Dr. Hermann Scheer
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Meine Damen und Herren, ich habe dieses Einzel-schicksal ausgewählt, weil sich an dieser Frage, die dieEmotionen der Öffentlichkeit sehr stark bewegt, etwasillustrieren lässt: Der Handel mit vom Aussterben be-drohten Pandas – ob es nun wissenschaftliche oder poli-tische Zwecke sind, die dahinter gestanden haben – istnur die Spitze eines Eisberges des weltweiten Geschäftsim Handel mit gefährdeten Tier- und Pflanzenarten.Die Dimension dieses Geschäfts ist zu beziffern; sie be-trägt wahrscheinlich mehr als 10 Milliarden DM imJahr.Auf der 11. Vertragsstaatenkonferenz zum Washing-toner Artenschutzabkommen im April werden genaudiese Fragen, also insbesondere die Fragen des Handelsund des Handelsverbots, wieder im Mittelpunkt der Dis-kussion stehen. Es geht um den traditionellen Konfliktzwischen Nutzern und Schützern gefährdeter Tier-und Pflanzenarten. Mehr als 146 Staaten diskutieren undentscheiden über Verschärfungen und Lockerungen iminternationalen Artenschutz.Auch dieses Jahr werden die Vertreter vieler Ländermit seltenen exotischen Arten auf ihren Anspruch po-chen, ihre eigenen natürlichen Ressourcen auch nutzenzu können. Nachhaltige, also naturschonende Nutzungist die Zauberformel, mit der solche wirtschaftlichenMöglichkeiten eingefordert werden. Auf der anderenSeite werden vor allem die Einfuhrstaaten und Natur-schutzorganisationen dem entgegenhalten, dass die Rea-lisierung dieses Prinzips grundsätzlich mangelhaft istund dass sich damit der Handel mit vielen gefährdetenArten verbietet.Aber nicht nur in Deutschland, überall auf der Weltstehen Artenschützer vor einer schwierigen Aufgabe.Tiere und Pflanzen sollen unter Schutz stehen, aberdaneben soll auch eine Nutzung möglich sein. Das istunter der Prämisse der Nachhaltigkeit in der Konventionüber die biologische Vielfalt von 1992 in Rio de Janeiroso festgelegt worden. Auch das Washingtoner Arten-schutzabkommen aus dem Jahre 1973 hat diesen Grund-gedanken aufgegriffen, wenn auch nicht so explizit for-muliert.Festzustellen ist aber: Das Artenschutzabkommen hatseine zentrale Aufgabe, die nachhaltige Nutzung gefähr-deter Tier- und Pflanzenarten und deren kontrolliertenHandel, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie er-reicht; denn – diese Bilanz ist zu ziehen – die Liste derbedrohten Arten ist seit In-Kraft-Treten der Konventi-on stetig gewachsen. Auch in Nairobi werden der Listesicherlich weitere Tier- und Pflanzenarten hinzugefügtwerden.Zwei Gründe sind meines Erachtens für diese Ent-wicklung ganz besonders verantwortlich: mangelndeHandelskontrollen sowie fragwürdige und teilweise feh-lende wissenschaftliche Daten zum Erhaltungszustandvon Arten in freier Natur. Die Folge ist: Der Handel mitAffen, Papageien, Schlangen, Korallen, Orchideen, Kak-teen und vielen anderen Arten stellt nach wie vor denwesentlichen Gefährdungsfaktor für viele Arten dar.Neben der Gefährdung und der Zerstörung der natürli-chen Lebensräume trägt der Handel mit diesen Arten zudem erschreckenden Verlust biologischer Vielfalt unddamit unser aller Lebensgrundlagen bei.Kommt man diesem Problem mit totalen Handels-verboten bei? Ich meine, nein. Mit populistischen For-derungen nach generellen Importstopps wird sich derKonflikt zwischen Nutzern und Schützern nicht kon-struktiv lösen lassen. In manchen Fällen ist es sogar so,dass sie dem Ziel des Schutzes der bedrohten Artenmehr schaden als nutzen.Ich glaube, wir müssen im internationalen Arten-schutz offensiv neue Wege gehen. Die BundesrepublikDeutschland hat als eines der Haupteinfuhrländer fürexotische Tiere und Pflanzen eine zentrale Verantwor-tung, dem Washingtoner Artenschutzabkommen neueImpulse zu verschaffen. Das ist der Grund, warum wirdie Konferenz sehr sorgfältig vorbereitet haben. Wirwollen auf der 11. Vertragsstaatenkonferenz in Nairobiim Wesentlichen zwei Ziele umsetzen: Wir wollen ei-nerseits jeder ungerechtfertigten Lockerung vonSchutzbestimmungen für gefährdete Tiere und Pflan-zen entgegenwirken und andererseits konstruktive Vor-schläge unterbreiten, die der Weiterentwicklung des Übereinkommens unter dem Blickwinkel der nachhalti-gen Nutzung dienen.Lassen Sie mich kurz einige Beispiele hierfür erläu-tern. Erstens. Deutschland wird sich dafür einsetzen,dass Anträge mit dem Ziel, den Schutz bestimmter Artenzu lockern, von den Vertragsstaaten abgelehnt werden,wenn die Antragsteller nicht überzeugende und nach-vollziehbare Informationen vorlegen. „Überzeugend undnachvollziehbar“ heißt, dass sie die wissenschaftlicheVertretbarkeit der Nutzung belegen müssen und dass esein lückenloses Management- und Kontrollsystem fürdie erweiterte Nutzung einer bestimmten Art aufzuzei-gen gilt.So ist zum Beispiel abzusehen, dass auf der Vertrags-staatenkonferenz wieder hitzig und kontrovers über denSchutz des Afrikanischen Elefanten und den Elfen-beinhandel gestritten wird. Botswana, Namibia undSimbabwe haben Anträge gestellt, ihre Elefantenpopula-tionen weiterhin im Anhang II des Übereinkommens zubelassen. Gleichzeitig hat Südafrika mit demselben Zieleine Herabstufung seiner Bestände beantragt und möch-te 30 Tonnen Elfenbein exportieren. Kenia und Indien wiederum werden einen Gegenan-trag zu dem erstgenannten Antrag der Staaten mit demZiel des Handelsverbots stellen wollen, also eine Hoch-stufung in den Anhang I des Washingtoner Artenschutz-abkommens erreichen. Diese beiden Länder haben inmeinen Augen überzeugende Informationen vorgelegt,dass seit der Lockerung des Elfenbeinhandels auf derletzten Vertragsstaatenkonferenz, also seit 1997, dieWilderei von Elefanten in Afrika, wieder zugenommenhat. Für uns heißt das: Die begrenzte Freigabe einzelnerBestände stellt offenkundig einen Anreiz zur Wilderei inallen Verbreitungsstaaten der Afrikanischen ElefantenBundesminister Jürgen Trittin
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dar. Sie kann aus diesem Grunde nach unserer Auffas-sung nicht weiter aufrechterhalten werden. Deswegenbeabsichtigt die Bundesrepublik Deutschland, den An-trag von Kenia und Indien zu unterstützen.Ich sage aber hier auch klar: Dies durchzusetzen wird,nachdem Großbritannien und Frankreich eine anderePosition eingenommen haben, nicht einfach sein. Wirwerden aber gegenüber den anderen Vertragsstaatenauch signalisieren, dass die Nutzung Afrikanischer Ele-fanten grundsätzlich möglich sein kann. Aber dafürmüssen die wissenschaftlichen und die vollzugstechni-schen Rahmenbedingungen stimmen. Dies gilt auch fürdie Kontroverse um die Frage der Bestandsregulierungbei Elefanten in Südafrika, die Frage der Öffnung vonGrenzen und ähnlichem.Die Frage eines Handelsverbotes stellt sich auch inBezug auf den Handel mit Walprodukten. Ich freuemich, dass die Fraktionen hier eine klare Position bezo-gen haben. Wir stimmen damit völlig überein. Zweitens. Wir als Bundesrepublik Deutschland wol-len insgesamt sechs Anträge zur Unterschutzstellungneuer Arten und zur Aufnahme in eine höhereSchutzkategorie zur Diskussion stellen. Primäres Zielist es dabei, auf weitgehend unbekannte Tier- und Pflan-zengruppen aufmerksam zu machen, auf Arten, die imöffentlichkeitswirksamen Schatten von Elefant, Wal undTiger unbemerkt in riesigem Umfang genutzt werdenund mangels ausreichender Handelskontrollen im Be-stand gefährdet sind. Dazu zählt nicht nur der Hai; hier-zu gehören auch das Steppenschaf und die Scharnier-schildkröte, aber auch Pflanzen wie etwa die südafrika-nische Teufelskralle. Sollten Sie oder ich einmal vom Rheuma geplagtwerden, dann dürften wir in Zukunft froh sein, dass esdie südafrikanische Teufelskralle noch gibt; denn da-raus wird ein Rheumamittel gewonnen, das sich bei unsschon lange einer großen Nachfrage erfreut. Mehr als600 Tonnen getrockneter Wurzeln dieser Pflanze wer-den pro Jahr allein aus Namibia nach Deutschland undin andere Länder Europas exportiert und hier weiter ver-arbeitet. Wissenschaftler sind besorgt, dass diese Nut-zungsmenge den jährlichen Zuwachs übersteigt und diePflanze in ihrem Weiterbestand gefährdet ist. Dasschmerzt.Deshalb hat Deutschland in seiner Verantwortung alsHauptverbraucherland für Nairobi den Antrag gestellt,die Teufelskralle in Anhang II des Washingtoner Arten-schutzabkommens aufzunehmen. Aber wir wollen diesesInstrument diesmal anders verstanden wissen als in derVergangenheit: nicht als Maßnahme für ein Handelsver-bot oder die Vorbereitung dazu, sondern als ein Instru-ment der Handelsüberwachung, des so genannten Moni-toring, und gleichzeitig als Instrument, um die Nutzungdieser Ressource dauerhaft zu sichern und ihre wildwachsenden Bestände in den Kalahari-Gebieten des süd-lichen Afrikas dauerhaft zu schützen. Wir richten unseren Blick gar nicht so sehr auf denlandwirtschaftlichen Anbau. Wir sind der Meinung, dassdie lokalen, oft in Armut lebenden Sammler unterstütztund ausgebildet werden müssen, um langfristig sicher-zustellen, dass sie die Pflanzen schonend sammeln undsich an Sammelquoten halten.
Diese Menschen, die mit und von dieser Ressource le-ben und mit dieser Sammeltätigkeit ein spezielles sozia-les und kulturelles Leben entwickelt haben, müssen imMittelpunkt unserer Schutzbemühungen stehen. So istder Nutzungskonflikt zu bewältigen. Das meint nachhal-tige Nutzung. Wir haben den Antrag zur Aufnahme der Teufelskral-le in Anhang II gestellt. Gleichzeitig wollen wir in dennächsten vier Jahren knapp 200 000 DM an Forschungs-geldern ausgeben, um festzustellen, wie viel Teufels-kralle es wo noch gibt, und um im Rahmen einer nach-haltigen Nutzung die jährlichen Zuwachsmengen zu er-mitteln. Ich bin mir sicher, dass meine Kollegen in denMinisterien von Botsuana, Namibia und Südafrika dieseErgebnisse nutzen werden. Sie können entsprechendeQuoten festlegen, die mit Hilfe des Artenschutzüber-einkommens dann auch international überwacht werdenkönnen.Drittens. Die Bundesrepublik wird in Nairobi mit ins-gesamt elf Resolutionen und Diskussionspapieren teil-weise zusammen mit anderen Vertragsstaaten nicht nurGrundsatzfragen zur Verbesserung des WashingtonerArtenschutzübereinkommens aufwerfen, sondern auchandere Lösungsmöglichkeiten suchen. Gerade in einerPhase, wo immer mehr Ausländer den Artenschutz-Hardlinern eine so genannte Käseglockenphilosophie beider Erhaltung gefährdeter Arten vorwerfen und einemehr wirtschaftlich orientierte Umsetzung der Arten-schutzkonvention fordern, wollen wir Anregungen ge-ben, wie man das Notwendige beim Schutz mit demMachbaren bei der Nutzung verknüpfen kann. Das giltnicht nur für Reizthemen wie Kaviar, Krokodilleder oder das Ranching von Wildtieren, sondern wir legenauch eine umfangreiche Dokumentation zum Handelmit Süßwasserschildkröten vor, um auf eines derbrennendsten Artenschutzprobleme in Südostasien auf-merksam zu machen. Wir wollen Vorschläge an Staaten wie China unter-breiten, wie der katastrophale Bestandsrückgang, der imÜbrigen dadurch verursacht wird, dass dort täglich 30Tonnen Schildkröten verbraucht werden, aufgehaltenund rückgängig werden kann. Meine Damen und Her-ren, mir geht es nicht darum, beispielsweise die Nutzungdieser Schildkrötenart, etwa zum Zwecke traditionellerchinesischer Medizin, generell zu unterbinden, aber einedurch Ernährungsgewohnheiten bedingte Massenver-nichtung der Bestände dieser Schildkröten ist nicht zuakzeptieren.
Wir sind fest entschlossen, bei der Vertragsstaaten-konferenz und im Nachgang dazu mehr als bisher deninternationalen Artenschutz aktiv, innovativ und vorBundesminister Jürgen Trittin
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allem im Dialog mit den Exportländern zu gestalten. Wirwerden dabei vorrangig den Schutz solcher gefährdeterTier- und Pflanzenarten verbessern helfen, die auch undgerade für Deutschland eine Rolle im Handel spielen.Das verstehen wir als unseren nationalen Beitrag zumweltweiten Bemühen, biologische Vielfalt und nutzbareRessourcen zu schützen. Wir werden auch aktiv alleEntwicklungen im nationalen wie internationalen Be-reich mitgestalten, die dazu beitragen, die gesellschaftli-che Akzeptanz für die nachhaltige Nutzung von Wildtie-ren und -pflanzen zu festigen. Ich darf Ihnen versichern,dass mein Ressort hierbei ein kritischer, vorrangig – aber nicht ausschließlich – dem Natur- und Artenschutzverpflichteter, aber auch um die Zielkonflikte wissenderPartner für alle an diesem Prozess Beteiligten sein wird.
Ich eröffne die Aus-
sprache und gebe für die CDU/CSU-Fraktion zunächst
dem Kollegen Cajus Julius Caesar das Wort.
– Die Reaktion kennt der Kollege schon. – Insbesondere
die Schülerinnen und Schüler auf der Tribüne werden
mit großer Spannung auf Ihre Ausführungen warten.
Herr Präsident! Ich be-danke mich für diese nette Einführung.Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der CDU/CSU-Fraktion war es in der Vergangenheit ein Herzensanlie-gen, zur Artenvielfalt beizutragen. Ich denke, dieserAussage können Sie alle zustimmen.
Aber auch mir persönlich war es immer ein besonderesHerzensanliegen, im Sinne der Artenvielfalt zu handeln,denn als gelernter und ausgebildeter Forstmann sowieals Revierleiter habe ich mich auch vor Ort sehr dafüreingesetzt, im eigenen Land Artenvielfalt zu praktizie-ren.
Wenn man hier über Tier- und Pflanzenvielfalt redet,dann muss man das auch selbst vor Ort praktizieren. Dasist sicherlich eine wichtige Voraussetzung.Übereinkommen muss heißen: Aktion für die Zu-kunft. Bei dieser Konferenz hat Rot-Grün die Möglich-keit zu dokumentieren: Will man lamentieren oder willman handlungsfähig sein? Bisher haben wir erlebenmüssen, dass im Umweltbereich nicht sehr viel erreichtwurde und die wichtigen Themen vor Ort in hohem Ma-ße zu kurz gekommen sind. Nationaler Stillstand und in-ternationale Handlungsunfähigkeit müssen bald ein En-de haben. Deshalb fordern wir, auf den guten Erfolgender bisherigen, von der CDU/CSU und F.D.P. geführtenBundesregierung aufzubauen und hier anzusetzen. Mandarf die Messlatte nicht von Woche zu Woche, von Tagzu Tag heruntersetzen. Dieser Zustand muss beendetwerden.
Nutzen Sie, meine Damen und Herren von der Regie-rungskoalition, Ihre Chance für eine sinnvolle Umwelt-politik – zum Wohle aller Beteiligten. Ich darf ins Gedächtnis zurückrufen: 1993 wurde dasArtenschutzübereinkommen unterzeichnet, 1976 trat esin der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Damitwurde ein wichtiger Schritt im Sinne der Artenvielfaltgetan, um frei lebende Tier- und Pflanzenarten vor derAusrottung zu schützen. Nach dem Schritt in die richtigeRichtung bleibt nach wie vor viel zu tun. Wir könnenfeststellen: 26 000 Arten sind es jährlich weniger; alle20 Minuten verschwindet eine Art von der Erde. Dasbedeutet: Wir alle sind aufgefordert zu handeln. Dass eine Trendwende möglich ist, zeigt unter ande-rem der Süßwasserbereich, bei dem es der von derCDU/CSU und der F.D.P.geführten Bundesregierung inder Vergangenheit in der Tat gelungen ist, eine Trend-wende herbeizuführen.
Durch die konsequente Abstellung von schädigendenEinflüssen ist eine Trendwende gelungen. Die Qualitätder Bäche, der Flüsse ist deutlich verbessert worden.Es gilt nun, über diesen Bereich hinaus internationalzu einer Trendwende zu kommen. Dazu müssen wir aufden in der Vergangenheit abgeschlossenen Abkommenaufbauen mit dem Ziel des Verbotes, bedrohte Arten inandere Länder zu exportieren. Damit können wir ver-hindern, dass wir zur Schädigung dieser Arten beitragen.Das Abkommen enthält drei Anhänge. Es ist wichtig,dass wir uns insbesondere auf den Anhang I konzentrie-ren. Denn dadurch wird der Handel mit bedrohten Artenausgeschlossen. In den vergangenen Jahren hat es je-doch die Tendenz gegeben, wonach auch mit streng ge-schützten Arten gehandelt werden darf. Voraussetzungdafür ist allerdings, dass ein Artenschutz betrieben wird,der eine starke Population sichert. Sie, meine Damen und Herren, werden mir sicherlichzustimmen, dass Arten- und Naturschutz nicht gegen,sondern nur mit den Menschen in den betroffenen Län-dern realisiert werden kann. Ziel unserer Artenschutzpo-litik muss sein, den Menschen so weit zu helfen, dass sienicht mehr darauf angewiesen sind, Wildtiere zu jagen,zu erlegen, zu verkaufen, um zu überleben.
Eine sinnvolle Entwicklungshilfe kann hier ansetzenund – mit finanzieller Hilfe – Unterstützung für die be-troffene Bevölkerung leisten. Unter diesem Aspekt ist esBundesminister Jürgen Trittin
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meiner Fraktion und mir allerdings völlig unverständ-lich, warum beispielsweise die rot-grüne Bundesregie-rung im Bereich des Schutzes der tropischen Regenwäl-der die Mittel – gemessen an denen, die die Vorgänger-regierung hierfür zur Verfügung gestellt hat – deutlichzurückgeführt hat.
Während 1997 noch rund 300 Millionen DM dafür imHaushalt standen, sind es jetzt nur noch knapp250 Millionen DM.
Das kritisiere ich an dieser Stelle aufs Schärfste. Daskönnen wir nicht hinnehmen. Natur- und Artenschutzbeginnt da, wo man die Lebensräume bedrohter Artenschützt. Dafür müssen zukünftig wieder mehr Gelder alszuletzt zur Verfügung gestellt werden. Der Schutz desTropenwaldes dient ja nicht allein den dort lebendenTier- und Pflanzenarten, sondern auch dem Schutz desglobalen Klimas.Sie erläutern in Ihrem Antrag „Schutz der Wale dau-erhaft sicherstellen“, dass sich das Klima weltweit um1,5 bis 4 Grad erwärmen wird. Sollte diese PrognoseTatsache werden, müssen wir dies umso mehr zum An-lass nehmen, noch einmal nachdrücklich den Schutz desKlimas einzufordern: nicht – wie von Ihnen vorgese-hen – durch weniger, sondern durch mehr finanzielleHilfen vor Ort und durch internationale Forschungspro-gramme. Sie, Herr Minister, haben eben deutlich ge-macht, dass Sie für Forschungsprogramme in diesemBereich in der Zukunft 200 000 DM zur Verfügung stel-len wollen. Das ist im Verhältnis zu den gekürzten Mil-lionenbeträgen natürlich wirklich nur ein Tropfen aufden heißen Stein.
Auch hier klafft eine gewaltige Lücke zwischen Wahl-kampfaussagen, Regierungserklärungen und der Wahr-heit.
Stellen Sie mehr Geld zur Verfügung, um die Lebens-räume zu schützen! Gerade hier sollte Rot-Grün voran-gehen und zeigen, dass Sie es mit Klima- und Natur-schutz ernst meinen.Schlimm ist auch, dass Sie entgegen Ihrer Ankündi-gung, Herr Minister Trittin, die Umweltmittel im Be-reich der Entwicklungshilfe gekürzt haben. Siehe da,ein Viertel weniger hat Ihr Ministerium im Bereich derEntwicklungshilfe zur Verfügung gestellt. Sie verkün-den zwar – wie noch vor wenigen Minuten geschehen –,man könne die Probleme nur mit den Menschen und mitzusätzlichen finanziellen Hilfen bewältigen, aber Sie tungenau das Gegenteil dessen.
Auch der Ausstieg aus der CO2-freien Kernenergie ist nicht geeignet, die Klimaproblematik zu lösen. Ich er-wähne das nur, weil das auch vonseiten der Regierungeben angesprochen worden ist.Meine Damen und Herren, wir müssen den Menschenin unserem Land aber auch selbst vor Augen führen,dass Pelze, dass Leder, ja dass Duftstoffe von artenge-schützten Tieren möglichst nicht eingeführt und vor al-lem nicht verwendet werden sollten. Dieses Signal mussvon uns allen an die Hersteller gehen. Dann haben dieseProdukte auch keine Chance. Hier sind wir alle – überParteigrenzen hinweg – gefordert.Nun steht uns die 11. Vertragsstaatenkonferenz insHaus. Dabei geht es auch um den Schutz des Afrikani-schen Elefanten. Die letzte Konferenz hat eine Locke-rung des strengen Schutzes beschlossen – dies musstenwir damals zur Kenntnis nehmen –, obwohl sich diedeutsche Delegation entschieden dagegen ausgespro-chen hat, die Schutzkategorie für die Elefantenpopulati-onen Botswanas, Namibias und Simbabwes herabzustu-fen. Das war nicht in unserem Sinne, im Sinne der Deut-schen. Angela Merkel hat seinerzeit formuliert, dass dieerforderlichen Handelskontrollen und Methoden zurHerkunftsbestimmung von Elfenbein noch nicht so weitausgereift sind, dass ein Wiederaufleben der Wildereiverhindert werden könne.
Sie hat Recht behalten.Die Beschlüsse haben seinerzeit dazu geführt, dassein begrenzter Handel wieder zugelassen wurde. Dieshatte verheerende Folgen. Allein im letzten Jahr, wurden13 Tonnen Elfenbein sichergestellt. Die Auswirkungender Wilderei sind also eklatant. Im letzten Jahr sind inKenia sechsmal mehr Elefanten als im Durchschnitt dervergangenen Jahre getötet worden. Deshalb ist es drin-gend, geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen.Leider ist es in der Vergangenheit nicht gelungen,den Handel mit Elfenbein zu unterbinden. Aufgrund derin Botswana, Namibia und Simbabwe gesunden Popula-tionsentwicklung erscheint eine Einstufung in Anhang IIdes Artenschutzabkommens aus wissenschaftlicher Sichtdurchaus vertretbar. Wir sind aber der Meinung, dass einmöglicher Handel mit Elfenbein nicht wirksam oder nurmit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand unterbun-den werden kann. Wir sollten der Einstufung in AnhangII deshalb nicht folgen. Denn dies würde in der Tat zumehr und nicht zu weniger Elfenbeinhandel führen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert deshalbdie Regierungskoalition auf, sich erneut für ein Han-delsverbot einzusetzen. In den vergangenen zweieinhalbJahren ist deutlich geworden, dass auch die geringsteTolerierung von Elfenbeinhandel den Wilderern nurzeigt, dass sie mit ihren dunklen Geschäften Geld ver-dienen können. Nur ein generelles Handelsverbot kanndiesem dunklen Treiben zumindest teilweise Einhalt ge-bieten.Cajus Caesar
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Dass solche Schutzmaßnahmen Erfolg haben, hat dieEntwicklung zwischen 1989, als man feststellte, dass derAfrikanische Elefant fast ausgerottet war, und 1997 ge-zeigt, als die Populationen zugenommen hatten.Es muss unser Ziel sein, den Ländern vor Ort nach-haltige Hilfen zu gewähren. Das muss im Wesentlichendurch die Gewährung finanzieller Hilfen erfolgen, umden finanziellen Verlust durch das Verbot des Elfen-beinverkaufs sowie durch das Verbot des Verkaufs derHäute und des Fleisches der Elefanten auszugleichen.Nur, wenn es gelingt, die Menschen vor Ort auf unsereSeite zu ziehen, werden wir auch im Interesse der Tierehandeln können.
Wir sind bereit, dies zu unterstützen. Hier muss die Re-gierungskoalition in den Verhandlungen ansetzen. Nurdurch gezielte Hilfen in den betroffenen Gebieten wirdes möglich sein, die Zerstörung der Natur sowie der Ar-ten- und Pflanzenvielfalt vor Ort zu verringern. Meine Fraktion unterstützt deshalb den Antrag derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie die Vor-haben der Bundesregierung, auch wenn wir in Nuancenanderer Meinung sind. Der Artenschutz ist uns beson-ders wichtig. Wir wollen hier keine bürokratischen Um-setzungen; vielmehr wollen wir den Erfolg des Arten-schutzes. Deshalb unterstützen wir Ihr Vorgehen.
Dass es möglich ist, den Artenschutz zu forcieren, hatschon unsere Regierung gezeigt. Angela Merkel hat inVerhandlungen durchsetzen können, dass der Raubbauan 23 dezimierten Störarten eingeschränkt wurde. DieFischbestände haben sich deutlich vergrößert. Das warein Erfolg der alten Bundesregierung. Auf diesem gutenBeispiel kann man aufbauen. Man muss dafür sorgen,dass es auch in Zukunft in vielen anderen BereichenVerbesserungen gibt. Ich rufe SPD und Grünen zu:Bleiben Sie hartnäckig wie Klaus Töpfer und AngelaMerkel! Wenn Sie das tun, dann sind wir auf der siche-ren Seite und werden erfolgreich sein.
Ziel muss es auch sein, den Erhalt der Wale dauer-haft zu sichern. Hierzu liegen entsprechende Forderun-gen vor. Die CDU/CSU-Fraktion möchte nicht die Ein-stufung in den Anhang II des Artenschutzübereinkom-mens, sondern in den Anhang I. Wir sind für einen Län-der übergreifenden Artenschutz, der die gesamte Le-bensgemeinschaft umfasst. Einzelinteressen gilt es hint-anzustellen. Wir müssen für wissenschaftliche Untersu-chungen, Erfahrungsaustausch und insbesondere fürModellvorhaben vor Ort sorgen. Dies werden wir unter-stützen. Hier werden wir uns einbringen. Es ist wichtig,auch die diplomatischen Möglichkeiten nicht nur beimErhalt der Elefanten und Wale, sondern auch beim ge-samten Artenschutz zu nutzen. Setzen Sie sich bei unseren Partnern Japan und Nor-wegen für eine Beendigung des Walfangs ein. Wenn Siedas tun, dann haben Sie meine Fraktion, die Natur-schutzverbände und auch die Bürger auf Ihrer Seite. Wirwollen Sie in diesem Fall gerne unterstützen. Es gehthier um den Schutz der Natur und nicht darum, dass sichder eine oder andere politisch möglichst positiv darstel-len kann.
Herr Bundesumweltminister, sorgen Sie dafür, dass inder EU ebenfalls Kompensationsgelder zur Verfügungstehen. Das ist natürlich nur möglich, wenn Sie mit posi-tivem Beispiel voranschreiten. Sie sollten Ihre Haus-haltsansätze noch einmal dringend überdenken, damit esim Sinne eines vernünftigen Umweltschutzes möglichsein wird, etwas voranzubringen.Nicht Holzhammermethoden sind gefragt, sondernder Dialog ist gefragt. Nur dann, wenn wir im Dialogmit unseren Partnern erfolgreich sind, werden wir imSinne des Erhalts der biologischen Vielfalt etwas bewe-gen können. Das gilt international, aber auch national.Wenn wir in diesem Sinne vorangehen, dann werden wirauch erfolgreich sein.Es geht darum, ökologische, ökonomische und sozia-le Gegebenheiten sinnvoll miteinander zu verbinden.Nur wenn wir dies schaffen, wird es uns gelingen, aucham Ende positiv dazustehen. Wir müssen die Verant-wortung wahrnehmen, die wir auch für die zukünftigenGenerationen haben. Das gilt nicht nur für das eigeneLand und die EU, sondern auch weltweit; denn Natur-schutz lässt sich nur Länder übergreifend verwirklichen.Heute handeln für ein gemeinsames Morgen! Das ist dasMotto der CDU/CSU-Fraktion und besonders meines.Herzlichen Dank.
Für die SPD-
Fraktion spricht nun die Kollegin Anke Hartnagel.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Herr Caesar, ich bin na-türlich höchst erfreut über das, was Sie eben gesagt ha-ben, insbesondere darüber, dass Sie unsere Anträge undunsere Politik unterstützen. Dennoch möchte ich zweikleine Anmerkungen machen. Zum einen: Wir wollendie Latte keineswegs heruntersetzen, das müssten Sieanhand der Anträge eigentlich gesehen haben. Zum an-deren: Gerade in diesem Zusammenhang ist Geld nichtalles und schon gar kein Allheilmittel.
Lassen Sie mich jetzt zum Thema Wale kommen, zudem ich sprechen will: Wenn man an Wale denkt, dannsieht man immer die Greenpeace-Aktivisten vor sich,zum Beispiel im Einsatz gegen japanische Walfänger.Cajus Caesar
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Ich glaube, die Bilder kennen fast alle. Sie sind natürlichsehr beeindruckend. Um es gleich ganz klar zu sagen:Der Walfang, den die Japaner vornehmen, ist illegal. Dieso genannten Forschungszwecke dienen hier lediglichals Alibi. Das Problem ist zudem, dass die Japaner imantarktischen Schutzgebiet jagen und damit auch gegendas Moratorium der Internationalen Walfangkommissi-on verstoßen. Deshalb habe ich volles Verständnis fürdie Aktionen der Walschützer. Zumindest für die SPD-Fraktion, aber, so denke ich, auch für einen Großteil die-ses Hauses, möchte ich an dieser Stelle den Greenpeace-Aktivisten ausdrücklich Respekt zollen.
Sie kämpfen vor Ort, wie wir wissen, einen fast aus-sichtslosen Kampf gegen die industrielle Walfangma-schinerie Japans und Norwegens. Die Walfangmethoden sind inzwischen hoch effek-tiv geworden und haben nichts mehr mit dem Walfangzu Moby Dicks Zeiten zu tun. Der industrielle und hocheffektive Walfang ist wesentlich dafür verantwortlich,dass viele Walarten stark dezimiert sind. Einige stehensogar vor der Ausrottung. – Der Sprachgebrauch der Jä-ger ist hier bezeichnend: Sie sprechen davon, dass „ab-geerntet“ worden sei. – Insbesondere gilt dies für dieGroßwale. Hierzu gehört zum Beispiel der Buckelwal.Von ihm existieren weltweit nur noch 13 Prozent des ur-sprünglichen Bestands. Auch wenn es grotesk klingt: ImVergleich zu anderen Großwalarten ist dies schon fasteine traumhafte Bilanz. Andere Walarten existieren nurnoch in Restbeständen. Einige sind schon gänzlich vonder Bildfläche verschwunden. Hierzu zählt vor allem derNordatlantische Grauwal, der schon im 17. Jahrhundertausgerottet wurde. Mit weniger als 2 Prozent des Ur-sprungsbestandes droht nun auch dem Nordkaper – demBlau- und dem Finnwal das gleiche Schicksal. MeineDamen und Herren, wir müssen alles tun, um zu verhin-dern, dass hier weitergemacht wird. Das Schicksal der Wale wäre wohl längst besiegelt,wenn es in den 80er-Jahren nicht eine Kehrtwende inder Walfangpolitik gegeben hätte. Aufgrund desDrucks der Weltöffentlichkeit musste das sprichwörtli-che Mordsgeschäft mit Großwalen eingestellt werden.Seitdem gilt für alle Mitgliedstaaten der InternationalenWalfangkommission ein völliges Fangverbot. Gleichzei-tig haben die Mitgliedstaaten des Washingtoner Arten-schutzabkommens jeglichen Handel mit Großwalpro-dukten untersagt. Wale sind jedoch nur ein – besonders populäres –Beispiel. Ihre Situation ist symptomatisch für den Um-gang mit geschützten Tierarten. Deshalb ist die Wa-shingtoner Artenschutzkonferenz auch für viele andereArten eine wichtige Institution. Sie haben schon daraufhingewiesen, Herr Caesar, Herr Trittin. Herr Minister,ich bin sehr froh, dass auch Sie voll mit unserem Antragübereinstimmen. Aktuell liegen der CITES-Konferenz in Nairobi60 Anträge vor. Unterschiedliche Tierarten sind hiervonbetroffen. Neben den Walen geht es zum Beispiel umdas Steppenschaf, die Scharnierschildkröte, den Quit-tenwaran usw. Die Interessen der Mitgliedstaaten sindhierbei sehr unterschiedlich; Herr Minister Trittin hatdarauf schon hingewiesen. Wir müssen verhindern, dassauf der Konferenz Beschlüsse zulasten bedrohter Tier-und Pflanzenarten gefasst werden. Die Gefahr ist näm-lich groß, dass Tauschgeschäfte zulasten des Arten-schutzes stattfinden. Schon im Vorfeld haben sich einigeStaaten hier nicht mit Ruhm bekleckert. Im Stile „Gibdu mir meine Elefanten oder Schildkröten, dann stimmeich auch deinem Walfang zu“ wird da über Schicksalevon Tieren entschieden. Ich denke, dass ich für uns allespreche, meine Damen und Herren, wenn ich diese Artvon Kuhhandel ablehne.
Zurück zu den Walen: Die Geschichte des Walfangsbleibt eine Katastrophe. Leider gilt dies – trotz allerBemühungen der Internationalen Walfangkommission –auch für die Geschichte der geregelten Bewirtschaftung.Gerade die wichtigsten Länder halten sich nämlich nichtan die Beschlüsse. Die aktuelle japanische Wilderei in der Antarktiszeigt, dass selbst internationale Vereinbarungen denWalfang nicht beenden konnten. Paradoxerweise fühlensich gerade die hoch industrialisierten Staaten Japanund Norwegen nicht an das Walfangmoratorium gebun-den. Mehr als 1 000 Wale pro Jahr werden trotz Morato-riums aus Tradition – auch kulinarischer – abgeschlach-tet. Aber wie wir wissen, kommt die Welt auch ohneMockturtlesuppe aus. Also wird es auch ohne Wal-fleisch gehen.Dies alles wird noch absurder, wenn man bedenkt,dass es für diese Länder überhaupt keine wirtschaftlicheAbhängigkeit oder Notwendigkeit gibt, den Walfangweiter zu betreiben. Diese hoch industrialisierten Länderkönnen in diesem Punkt zum Beispiel nicht mit Ländernin Afrika verglichen werden, die mit dem Handel mitbedrohten Tierarten oder deren Produkten eine notwen-dige Einnahmequelle sichern wollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, internationale Ver-einbarungen machen aber nur dann Sinn, wenn sichnicht jeder Staat nur die Rosinen herauspickt. Wir for-dern daher Japan und Norwegen auf, endlich die interna-tionalen Übereinkommen mitzutragen. Kehren Sie zuminternationalen Konsens zurück! Dies ist dringend erfor-derlich, denn es ist wohl kein Geheimnis mehr, dass aufden japanischen Märkten trotz schärfster Fang- undHandelsbeschränkungen Fleisch der bedrohten Walartengehandelt wird. Für das Kilo werden zum Teil etwa700 DM gezahlt. Man kann sich vorstellen, dass auf-grund solcher Summen die Versuchung groß ist.In diesem Zusammenhang kurz ein besonders grotes-kes Beispiel dafür, wohin blinde Profitgier führen kann:Anfang der 80er-Jahre überschätzten norwegische Wal-fänger ihre Möglichkeiten. Den 15 000-Dollar-Scheckvor Augen, erschossen sie einen 25-Meter-Finnwal. Alsder Wal an Bord war, versank leider das Schiff. Die Lastdes Tieres war einfach zu schwer. So kann es gehen.Anke Hartnagel
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Nun aber wieder ernsthaft: Das Jagen der Wale unddie inländische Verwertung reichen Norwegen und Ja-pan nicht. Sie wollen Walfleisch endlich wieder interna-tional handeln können. Insbesondere Norwegen hat gro-ßes Interesse daran, Walfleisch auf den Märkten anzu-bieten; denn die Lager sind voll. Genau hierum geht es auf der bevorstehenden Arten-schutzkonferenz in Kenia. Zum wiederholten Mal set-zen sich Japan und Norwegen für eine Revision desHandelsverbotes ein. Die Gefahr ist groß, dass sie dabeierfolgreich sind. Bei der letzten Konferenz fehlten be-reits nur wenige Stimmen. Fällt aber das Handelsverbot,müssen wir davon ausgehen, dass nicht nur für Piraten-walfänger, sondern auch für ehemalige Walfangnationenwie Russland und Korea die Jagd wieder lukrativ wer-den könnte. Meine Damen und Herren, es muss klar sein: Fälltdas jetzige Handelsverbot, ist dies das Ende vieler Wal-arten. Deshalb wollen wir jetzt und heute nochmals dieeinmütige Haltung des Deutschen Bundestages und derBundesregierung bekräftigen. Die deutsche und die in-ternationale Öffentlichkeit sollen wissen, dass wir auchweiterhin nicht bereit sind, eine immer noch bedrohteTierart zum Abschuss freizugeben.
Ich weiß mich und uns hier in guter Gesellschaft mit un-serem Bundeskanzler, der ebenfalls klargemacht hat,dass er zu diesem Walfangverbot steht.
Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir die Bun-desregierung auf, alle ihr zur Verfügung stehenden di-plomatischen Mittel einzusetzen. Das Handelsverbotmuss unangetastet bleiben! Herr Minister, wir gehen da-von aus, dass die Bundesregierung schon jetzt alle Hebelin Bewegung gesetzt hat, um auch die übrigen Vertrags-staaten – nicht nur die europäischen Länder – davon zuüberzeugen, dass hier keine Herabstufung stattfindendarf. Das Ziel ist klar; wir haben es hier schon mehrfachgenannt. Ich will nicht Dinge wiederholen, die hier schon ge-sagt worden sind, sondern möchte nur noch eines klar-stellen: Wir Menschen sind es, die Walen ihre Lebens-grundlage rauben. Die gesamte Meeresökologie ist inGefahr. Ein uraltes Gleichgewicht gerät massiv insWanken. Überfischung, Überdüngung und Erwärmungder Meere sind hierfür nur einige Beispiele. Hinzukommen noch die zahllosen Einleitungen von Giftstof-fen. Im Körper der Meeressäuger lagern sie sich in ho-her Konzentration ab. Die Ozeane verkommen zurMüllkippe und die Wale sind quasi die größten Müll-schlucker der Ozeane.Selbst in Japan – das finde ich in diesem Zusammen-hang sehr wichtig – warnen einige Toxikologen bereitsvor dem Verzehr von Walfleisch. Angesichts hoher Do-sen von PCB, DDT, Dioxin, Quecksilber und dem be-rüchtigten TBT hoffe ich, dass den Gourmets der Ge-schmack vergeht. Auch bei den Walfängern sollte daherendlich ein Umdenken stattfinden. Immer mehr wird –hoffentlich – klar, dass Whale-Watching eine Alternati-ve zum Walfang sein könnte.
Wir alle wissen, dass die großen Wale in den fernenOzeanen leben. Wir haben aber auch einige in unserenHeimatmeeren, zum Beispiel die Schweinswale, auchkleine Tümmler genannt. Ihre Kinderstube befindet sichvor den Inseln Sylt und Amrum. Sie genießen keinenSchutz, der dem für Großwale vergleichbar wäre, aberauch sie sind erheblichen Gefahren ausgesetzt.
Mehr als 7 000 von ihnen verenden jedes Jahr kläglichin den Stellnetzen der Nordsee. Weitere Tümmler kre-pieren unnötig als Beifang der Hochseefischerei.Nach allem, was man bisher weiß, kann dieser Ver-lust nicht durch die natürliche Fortpflanzung ausgegli-chen werden. Deshalb ist die Einrichtung von Schutzge-bieten dringend notwendig. Schleswig-Holstein hat ei-nen guten Anfang gemacht. Ende letzten Jahres wurdeein Kleinwalschutzgebiet eingerichtet. Genau hier müs-sen wir weitermachen.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht Kollegin Ulrike Flach.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Im Vorfeld der 11. Konferenz der Vertrags-staaten zum Washingtoner Artenschutzabkommen brau-chen wir vor allem eine sachliche Auseinandersetzung.Ich hatte eigentlich erwartet, dass ich an dieser Stellemeine üblichen Klagen über Minister Trittin loswerdenkann; ich kann es nicht. Ich danke Ihnen für die sachli-che und abgewogene Art, mit der Sie dieses Thema an-gegangen sind.
– Man kann doch seitens der Opposition ruhig mal etwasPositives sagen.Es ist absolut nicht angebracht, dass wir Deutsche unsals Hüter des Artenschutzes aufspielen und gegenüberder so genannten Dritten Welt schulmeisterlich auftre-ten. Es sind nämlich – das wissen wir alle – in hohemMaße deutsche Touristen, die gegen das Artenschutz-recht verstoßen.Die Anhörung „Tourismus und Artenschutz“ im Fe-bruar ergab eine dramatische Steigerung der registriertenAnke Hartnagel
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8770 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Verstöße. Von 1993 bis 1999 hatten wir einen Anstiegum immerhin 350 Prozent auf 2 941 Fälle zu verzeich-nen. Am Frankfurter Flughafen haben wir täglich 40 bis60 Fälle, in denen der Zoll geschmuggelte Tiere undPflanzen sicherstellen muss. Das ist kein Kavaliersde-likt, meine Damen und Herren! Die Entnahme von Ko-rallen, Muscheln, Pflanzen und Tieren aus der Lebens-umwelt der Entwicklungsländer raubt diesen Menschenim Süden eine wichtige Ressource, manchmal die einzi-ge, die sie haben: eine wunderschöne Fauna und Flora.Lassen Sie mich jetzt zu drei Themenkomplexen ausden immerhin 62 vorliegenden Anträgen der Konferenzkommen.Zunächst zum Thema Walschutz: Norwegen und Ja-pan beantragen eine Herabstufung der Bestände – da-rüber haben wir eben gesprochen – und eine geordnetewirtschaftliche Nutzung unter wissenschaftlicher Kon-trolle.Bei den Grau- und Zwergwalen haben wir seit 1986eine Nullquote, was den kommerziellen Walfang angeht.Der Antrag von SPD und Grünen fordert die Beibehal-tung des Walfangverbots. Die F.D.P. stimmt, genausowie die , diesem Antrag inhaltlich zu, hältaber – um das ganz klar zu sagen – die Begründung fürunangemessen; aber über Begründung stimmen wir janicht ab.Das entscheidende Problem ist nicht der Mangel anNahrung durch Überfischung oder die Überdüngungdurch den Eintrag von Schadstoffen oder die Schwä-chung des Immunsystems der Wale, wenngleich dasauch Gesichtspunkte sind, die hier ein Rolle spielen. –Im Übrigen: Sie führen das Argument der Überfischungan, Frau Hartnagel. Ich stelle mit Erstaunen fest, dassSie das in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt ha-ben. –
Nein das entscheidende Argument gegen den begrenztenWalfang ist – darüber sind wir uns mit den Experten desWWF absolut einig –, dass bei einer Herabstufung inAnhang II jeder Staat Wale jagen könnte. Jeder Staatkönnte auch entsprechende Genehmigungen für andereStaaten ausstellen. Vor einer Herabstufung müssten an-gemessene Kontrollmechanismen stehen, zum BeispielDNA-Registrierungen. Diese sind aber ganz offensicht-lich von Japan und Norwegen nur geplant und keines-wegs umgesetzt. Andere Staaten, die dann fangberech-tigt werden, planen solche Kontrollmechanismen über-haupt nicht. Wir sind also mit Ihnen der Meinung, dasseine Herabstufung eine Schleuse öffnen würde, die wirnicht wieder schließen können. Deshalb ist auch dieF.D.P. wie schon in der Vergangenheit konsequent ge-gen jede Zulassung des Walfanges.Meine Damen und Herren, der zweite Punkt, der heu-te hier zur Abstimmung steht, betrifft den Afrikani-schen Elefanten. Südafrika – das haben wir eben in al-len Details gehört – möchte eine Herabstufung, Botswa-na, Simbabwe und Namibia haben eine Beibehaltung inAnhang II beantragt. Kenia und Indien möchten eine ge-nerelle Hochstufung in Anhang I. Hintergrund ist, dassdie Länder des südlichen Afrikas inzwischen auf nichtunerheblichen Bergen von Elfenbein sitzen, Herr Caesar, das von verstorbenen Tieren oder so genanntenProblemtieren stammt. Solche Problemtiere sind zumBeispiel Elefanten, die gelernt haben, sich von Dorffel-dern zu ernähren, und so eine Gefahr für die dort leben-den Menschen darstellen.Die Elefantenpopulationen in Südafrika und Botswa-na haben sich deutlich vergrößert. Das erklärt übrigensauch die Zahlen, die Sie eben anführten. Wer sich mitder Materie auskennt, weiß, dass Elefanten einen erheb-lichen und auch negativen Einfluss auf die Natur haben.Wo einmal eine Herde durchgezogen ist, wächst buch-stäblich kein Gras mehr. Da Geld für Umsiedlungs-programme fehlt, werden zum Beispiel in Südafrika ge-zielt Elefanten geschossen. Zurzeit sind circa600 Tonnen legales Elfenbein vorhanden, das die afri-kanischen Staaten verkaufen möchten. Der Erlös soll –darauf lege ich besonderen Wert, damit keine falscheNuance hier in die Diskussion kommt – dem Natur-schutz im Rahmen einer Stiftung zugute kommen, FrauGriefahn.Das ist eine schwierige Abwägung, die sich nicht mitPlattitüden erledigen lässt. Einerseits müssen wir sehen,dass der begrenzte Verkauf von Elfenbein die Wildereianheizen könnte. Andererseits ist klar, dass der Natur-schutz im südlichen Afrika von den Ländern selbst nichtbezahlt werden kann. Der kontrollierte Handel könnteeine zusätzliche Einnahmequelle sein, wenn diese Ein-nahmen zweckgebunden verwendet würden. Auch ent-wicklungspolitische Ziele, zum Beispiel die Einbezie-hung der Bevölkerung, könnten damit verknüpft werden.Daher appelliere ich an die Entwicklungspolitiker derKoalition: Sie kennen doch diese Thematik, die man eben nicht nur umweltpolitisch betrachten darf.Meine Damen und Herren, laut Vertragswerk wirdjeder von den Vertragsstaaten bewilligte Handel mit El-fenbein sofort eingestellt, sollte sich zeigen, dass Wilde-rei oder Schmuggel angeheizt werden. Daher brauchenwir die von Ihnen angeführten Instrumente, um Wildereiund illegalen Handel aufzuspüren und zu überwachen.Ich weiß, dass dies teuer ist; aber der Gedanke, diesesGeld durch eine Hochstufung zu sparen und den betrof-fenen Ländern als Ausgleich für entgangenen Handelzuzuführen, geht doch am Kern der Existenzproblemedieser Länder vorbei. Hier herrscht sehr oft nackte Not.Ein Teil der Wilderei hat nicht den Elfenbeinhandel zumAnlass, sondern schlichtweg Nahrungsmangel der Be-völkerung. In Simbabwe, das gegenwärtig eine dramati-sche Entwicklung durchmacht, ist das definitiv der Fall.Meine Damen und Herren, wir sollten uns hüten, mitunserer europäischen Sichtweise den Oberlehrer spielenzu wollen. Nach Abwägung des Für und Wider sind wirvon der F.D.P. deshalb der Meinung, dass ein kontrol-lierter, begrenzter Handel mit Elfenbein dem Natur-schutz mehr helfen als schaden könnte. Aus diesemGrunde lehnen wir Ihren Antrag ab.
Ulrike Flach
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8771
Meine Damen und Herren, im Rahmen der11. Vertragsstaatenkonferenz werden insgesamt 62 An-träge behandelt, von denen wenige so spektakulär wiedie gerade besprochenen sind.
Trotzdem möchte ich noch kurz auf den Antrag In-diens und Nepals zum Handelsverbot in Bezug auf Mo-schustiere eingehen.Wir sollten diesen Antrag sehr dezidiert unterstützenund uns nicht mit der Teufelskralle aufhalten, Herr Trittin. Die EU hat ja bereits 1999 ein Einfuhrverbot fürRohmoschus aus Russland erlassen, weil die Beständedramatisch zurückgingen. Es kann nicht angehen, dassTierpopulationen in ihrem Bestand gefährdet werden,weil wir Europäer durch den Geruch hirschähnlicherPaarhufer unser Liebesleben angenehmer gestalten wol-len.
– Was Sie heute alles so lernen, nicht wahr?
– Darüber können wir uns gleich einmal unterhalten.
Es geht eben auch darum, welchen Stellenwert wir inDeutschland dem Tierschutz beimessen. Die F.D.P. hatbereits 1992 eine Ergänzung der Verfassung vorge-schlagen. Wir wollen dem Tierschutz durch die Auf-nahme ins Grundgesetz als Staatsziel zu mehr Gewichtverhelfen. Nach langen Verhandlungen kommen wirnun – das wissen wir alle hier – zu einem gemeinsamenAntrag von SPD, Grünen und F.D.P. Ich möchte einmal ausdrücklich an die Kollegen vonder CDU/CSU appellieren:
Wenn, wie Sie hier gesagt haben, der Schutz der Tiereein so großes Anliegen ist, dann sperren Sie sich bittenicht länger gegen eine Ergänzung des Grundgesetzes.
Sie haben in den CDU-regierten Ländern und sogar imCSU-regierten Bayern den Tierschutz in den Landesver-fassungen verankert. Herr Paziorek, der Landesvorstandin Nordrhein-Westfalen hält das zwar noch etwas unterder Decke; aber Sie haben einen entsprechenden Be-schluss gefasst.
Also, was soll die Taktiererei? Machen Sie endlich Nä-gel mit Köpfen und schließen Sie sich unserem Antragzum Nutzen des Tierschutzes an!
Ich möchte übrigens nicht unerwähnt lassen – alsNordrhein-Westfale liegt mir das naturgemäß sehr amHerzen –, dass wir Liberalen die Aufwertung desUNO-Standortes Bonn durch die geplante Ansiedlungdes Sekretariats zum Schutz der wandernden Wasservö-gel begrüßen. In diesem Punkt ist die Bundesregierungeinmal ausdrücklich zu loben. Es war nicht leicht, denUmzug von Den Haag nach Bonn zu erreichen.
Ich freue mich für die Bonner, dass es klappt. Nach denFledermäusen, den Kleinwalen und dem Wüstensekreta-riat – würden Sie unserem Antrag folgen, käme auchnoch der Bodenschutz dazu – hat Bonn endlich einmalwieder Boden gewonnen.
Herr Trittin, das versöhnt mich zwar nicht mit IhrenVersuchen, das Umweltministerium schrittweise vonBonn nach Berlin umzusiedeln, aber es ist zumindest einSchritt in die richtige Richtung.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich habe eben den
Kollegen Schmidt angesehen, weil ich dachte, er wolle
sich jetzt verabreden. Tun Sie das aber bitte erst nach
der Kernzeit.
Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
die Kollegin Sylvia Voß.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wir sprechen heute erstmalig in einer so ausge-dehnten Diskussion über Artenschutz. Ich denke, das istüberfällig. Ich bin Frau Flach dafür insofern dankbar, alssie den Blick von den Entwicklungsländern verstärkt aufuns zurückgelenkt hat.Vielleicht erinnern sich manche von uns noch anFrühlingstage in der Kindheit, in denen das Gelb derSumpfdotterblumen überall leuchtete, als man ganz vieleFeldlerchen und den Ruf des Kiebitzes hören konnte.Man konnte beim Wandern zufällig auch einmal einpaar Rebhühner aufscheuchen. Auch bei uns sterben Ar-ten – tausendfach. Die Vernichtung ihres Lebensraumesnimmt immer stärkere Formen an; dem müssen wir sehrviel entgegensetzen. Ulrike Flach
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8772 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Mancher aus den alten Bundesländern hat zum erstenMal nach der so genannten Wende Störche und Krani-che bei uns in Brandenburg oder in Mecklenburg gese-hen. Neben den Säugetieren sind dies die wirklich auf-fälligen Arten. Wer bemerkt schon den rapiden Verlust –auch bei uns – an Fischen, Insekten, Lurchen und Pil-zen?Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind alseigene Art Homo – die so wenig sapiens ist – untrennbarmit allen Lebewesen dieser Erde verbunden. Jede Art er-füllt auf ihre eigene Weise eine Funktion in diesemKosmos. Zerstören wir diese Beziehungen, vernichtenwir Stück für Stück unsere eigenen Lebensgrundlagen.Bisher ist nicht einmal genau bekannt, wie viele Ar-ten auf unserem Planeten leben. Eigentlich wäre dasauch gar nicht wichtig, wären wir in unserem Denkenund Handeln in Harmonie mit der Natur und würden wirdem Leben mit Ehrfurcht begegnen. Da das aber nichtso ist und das monetäre Denken die Welt beherrscht, ha-ben wir seit den 50er-Jahren ein explosionsartiges Ar-tensterben verursacht, welches in der Millionen Jahrezählenden Erdgeschichte schrecklich und einmalig ist.Es hat noch nie zuvor einen solchen Verlust an geneti-scher Vielfalt gegeben.Es gibt seit dem Beginn unseres Jahrhunderts in denLändern der alten Welt Bestrebungen des Schutzes. Dortist eine Naturschutzbewegung entstanden. Zunächst wa-ren Vögel der Anlass dafür, dass man zu dem Ergebniskam, so nicht weitermachen zu können. Inzwischen gibtes glücklicherweise weltweit Nationalparke, nationaleSchutzprogramme und internationale Abkommen.Einer der jüngsten Sprosse ist die Biodiversitätskon-vention, die sich den Erhalt der Artenvielfalt, die wirnoch haben, zum Ziel gesetzt hat. Aber auch die BonnerKonvention zum Schutz der wandernden Arten oder dieRamsar-Konvention zum Schutz der Feuchtgebiete ge-hören in diese Linie. CITES, das Washingtoner Artenschutzabkommen,hat einen anderen Ansatz. Weil der Mensch eines Tagesmerkte, dass durch den maßlosen Handel mit Elfenbein,mit Schildpatt, mit Rhinohorn, mit Vögeln, Krokodil-leder, Tigerpenissen, mit den Knochen des Schneeleo-parden, mit Jagdtrophäen aller Art, mit Waltran undWalfleisch – diese Aufzählung ließe sich unendlich lan-ge fortsetzen – die Bestände derart dezimiert wurden,dass viele der Tierarten bereits am Rande des Ausster-bens standen und somit auch keinen Profit mehr ver-sprachen, beschloss man, den Handel zu begrenzen, damit man irgendwann in der Zukunft wieder auf Be-stände zurückgreifen kann, mit denen man handeln undetwas verdienen kann. Hierbei waren damals gerade dieBilder aus Afrika maßgeblich, und zwar die Bilder vonden vielen Elefanten, denen man die Stoßzähne heraus-gebrochen hatte, oder die von den Nashörnern, denenman einfach das Horn entfernt hatte. Das Problem der Ausrottung von Arten ist ein welt-weites Problem. Es ist keineswegs, wie immer wiederund auch vorhin – ich nenne den erhobenen Zeigefinger– gesagt wird, ein Spezifikum der Entwicklungsländer.Ehrlicherweise muss nämlich immer wieder betont wer-den: Erst durch die Begehrlichkeiten des europäischen,japanischen und amerikanischen Marktes hat die Ausrot-tungswüterei in den damaligen Kolonien, den heutigenEntwicklungsländern, begonnen. Noch heute ist Japanwegen des Nationalgerichtes Walfleisch eindeutigHauptabnehmer – oft auch von der eigenen Flotte – ge-wilderter Wale. Es gibt ein sehr erschreckendes neuesBeispiel für diese Ausrottungswüterei, und zwar bei derTibetantilope. Weil reiche Europäer und Adlige dieserWelt gerne federleichte, wollige Schals, die man durcheinen Ring fädeln kann, auf ihre Schultern legen, wirdim Moment die Tibetantilope – Shatoosh ist in diesemZusammenhang das Stichwort – derart bejagt, dass sieschon jetzt am Rande der Ausrottung steht. Was geht uns das an?, könnte man fragen. Die Ele-fanten sind doch ein Problem der Afrikaner, und die Stö-re und die Schildkröten ein Problem der Länder, in de-nen sie vorkommen. Weit gefehlt! Wir müssen beden-ken, dass der europäische Markt der größte geschlosseneVerbrauchermarkt der Welt ist. Das hat dazu geführt,dass die EU bis heute noch immer der weltweit größteMarkt für wild gefangene Vögel ist. Circa ein Dritteldieser Vögel kommt nachweislich bereits auf demTransport qualvoll ums Leben; der weit größere Teilstirbt dann in der Quarantäne. Weil diese bestialischen Quälereien, die mit diesemHandel verbunden sind, inzwischen immer mehr vor al-len Dingen durch NGOs in die Öffentlichkeit getragenwerden, weigern sich bereits über 40 Fluggesellschaftenin ihrer Verantwortung für den Artenschutz, solcheFracht überhaupt noch zu befördern. Auf einer Anhörung des Bundestagsausschusses fürTourismus zur Artenschutzproblematik im Februar die-ses Jahres – Frau Flach, Sie haben schon darauf hinge-wiesen – haben sich uns Abgründe aufgrund all der Zah-len und Fakten, die uns von den Experten geschildertwurden, aufgetan. Ich möchte jetzt nicht wiederholen,was Frau Flach schon dargestellt hat. Es war aber wirk-lich so erschreckend, dass wir uns gesagt haben: Wirmüssen hier in nächster Zeit fraktionsübergreifend etwastun. Ich denke, dass das auch erfolgen wird.Dabei kann gerade ein maßvoller, gelenkter Touris-mus zum Erhalt der Arten und der Nationalparke beitra-gen. Ein Beispiel möchte ich in diesem Zusammenhangnennen: Vor der Insel Madeira entstand der erste Mee-resnationalpark der Welt. Ehemalige Walfänger sinddort jetzt Naturschützer. Dank dieser Maßnahme kannman dort wieder Pottwale erleben und hat ein Aus-kommen, das beiden die Zukunft sichert: dem Menschenund dem Tier. Das Maßvolle ist dabei das Wichtige. Auch „whalewatching“ kann, im Übermaß betrieben, zu Schäden füh-ren. Negative Beispiele gibt es inzwischen auf der gan-zen Welt. Ähnliches widerfährt gerade den Manatis vorFlorida. Sie werden zu Tode geliebt.Durch regelmäßige Touren für Touristen zu Nashör-nern nahm zum Beispiel die Wilderei auf die hoch be-drohten Panzernashörner im Kaziranga-Nationalpark inSylvia Voß
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Indien rapide ab. Die häufige Präsenz von Touristen mitihren Führern in diesem Nationalpark führte dazu, dasssich die Wilderer permanent gestört fühlten und sich zu-rückzogen. Ähnlich verhält es sich mit dem Schutz der Berggoril-las in Ruanda und Ostzaire. Der Schutz wurde erst dannvon der einheimischen Bevölkerung akzeptiert und un-terstützt, nachdem die Einheimischen selbst als Führerdiesen Schutz aktiv betreiben konnten und dadurch eineEinnahmequelle bekamen.1997 haben die Staaten in Harare beschlossen, für dieLänder des südlichen Afrikas die Elefantenpopulationenweniger streng zu schützen und einen begrenzten Handelmit Elfenbein zuzulassen. Gleichzeitig wurde aber auchbeschlossen, dass für den Fall deutlich zunehmenderWilderei diese Regelung rückgängig gemacht werdenmuss. Diesen Antrag auf Rückstufung aller Elefanten inden streng geschützten Anhang I haben Kenia und In-dien – Herr Caesar sagte es vorhin – aufgrund der nach-weislich massiv zunehmenden Wilderei für die im Aprilstattfindende CITES-Konferenz in Nairobi gestellt.Es gilt daher, diese Bemühungen Kenias und Indiens,den Handel mit Elfenbein wieder zu verbieten, zu unter-stützen. Es geht bei diesen Anträgen in keiner Weise umdie Beschränkung des Rechts auf eine eigene maßvolleNutzung der Elefantenbestände zum Beispiel durch Ein-geborene oder durch Stämme. Es ist ganz klar, dass die-se Völker mit den Tieren leben. Sie müssen daher aucheinen Nutzen von diesen Tieren haben dürfen.Ich möchte noch einem anderen Argument begegnen.Am Beispiel des Krüger-Nationalparks in Südafrikalässt sich sehr anschaulich schildern, dass das Argumentder Überpopulation inzwischen durch neue Studienentkräftet werden konnte. Viele Jahre – man kann fastsagen: Jahrzehnte – vertrat man dort die Meinung, dieserNationalpark vertrage nur circa 7 000 Elefanten. Inzwi-schen weiß man über die Wanderwege und über die Po-pulationen vieles mehr. Man ist zu dem Schluss ge-kommen, dass bis zu 20 000 Elefanten dort leben kön-nen. Inzwischen liegt der Bestand bei 9 100 Tieren. Mankann daher nicht mehr von einer Überpopulation spre-chen. Auch dort gilt: Einheimische, die jetzt in die Nati-onalparke zurückkehren dürfen – man darf dieses Kapi-tel nicht außer Acht lassen; sie wurden zum Teil ver-drängt und aus diesen Gebieten ausgesiedelt –, müssenvon etwas leben. Auch dort müssen wir Unterstützungleisten.Im Interesse aller Staaten mit Elefanten muss es we-gen der leidvollen Erfahrung mit der Wilderei um desElfenbeins willen, für das der Markt leider weiter be-steht – das ist genau der Punkt: Wir müssen die Märkteaustrocknen und dafür sorgen, dass auch auf dieser Seiteetwas geschieht –, zu einer Einhaltung der CITES-Beschlüsse kommen. Wir wollen als Deutscher Bundes-tag auf jeden Fall unsere Sympathie, Anerkennung undUnterstützung der kenianischen und indischen Schutz-bemühungen zum Ausdruck bringen und die deutscheDelegation, die im April zur Vertragsstaatenkonferenznach Nairobi reisen wird, beauftragen, diesen Punkt dortzu dokumentieren.Über diese Artenschutzanträge wird die für den Er-halt der Artenvielfalt so dringend notwendige internati-onale Solidarität eingefordert und, was die Elefanten be-trifft, speziell die Solidarität der Nutzerländer des südli-chen Afrikas, die darin besteht, so lange mit der be-grenzten Verwertung ihres Elfenbeins zu warten, bis dieErhaltungsbemühungen für die Elefantenbestände inWest-, Zentral- und Ostafrika wirklich Früchte zeigen.Die Hilfe dafür soll auch unsererseits verstärkt werden.CITES und auch die Bonner Konvention geben uns einegute Basis dafür.Vergessen wir dabei jedoch nie, dass es im eigenenLand und überall auf der Welt Tausende von kleinenund großen nicht „gewinnbringenden“ Arten gibt, dieüber CITES nicht erfasst werden und über die wir unsnur selten unterhalten. Ich möchte nur drei Beispiele ausunserer eigenen Heimat nennen, nämlich die kleine Huf-eisennase, die blauflügelige Ödlandschrecke und denLaubfrosch, die aber genauso zu der schicksalhaft von-einander abhängigen Gemeinschaft allen Lebens, vonder auch wir nur ein Teil sind, gehören wie die Elefan-ten, Schildkröten, Wale und all die großen Arten, vondenen wir heute sprechen.Danke schön.
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Eva Bulling-Schröter.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Anträge unddie Position der deutschen Regierung zur Artenschutz-konferenz in Nairobi bewerten, dann kommen wir zudem Schluss, dass diesen uneingeschränkt zuzustimmenist. Das gilt auch für die beiden Koalitionsanträge.Die Bundesrepublik unterstützt auch die drei Anträgeanderer Staaten zum Schutze des Weißen Hais sowie desRiesen- und Walhais. Soweit wir informiert sind, gibt esallerdings keine Unterstützung vonseiten der EU. Ichdenke, hier muss Deutschland seinen Einfluss auf dieGemeinschaft geltend machen. Der Schutz der Haie, vondenen inzwischen viele Arten gefährdet sind, weil dieTiere zu Tausenden abgeschlachtet werden, ist eine Auf-gabe aller Staaten.
Dass Riesen- und Walhaie lediglich auf Anhang IIgesetzt werden, also nur einem kontrollierten Handelund nicht, wie im Anhang I, einem Handelsverbot unter-liegen, sagt im Übrigen nichts über ihre tatsächliche Ge-fährdung aus. Man weiß einfach zu wenig über dieseseltenen und spektakulären Räuber, nicht einmal, wo siesich den größten Teil des Jahres aufhalten. Die akuteGefährdung kann also nicht nachgewiesen werden, ob-wohl sie sehr wahrscheinlich besteht. Wir denken, dass Anhang II nur ein Anfang seinkann. Wie das Beispiel der letzten Herabstufung der Ele-fanten Simbabwes, Botswanas und Namibias aufSylvia Voß
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Anhang II zeigt, bietet diese Kategorie offenere Türen fürden illegalen Handel und gefährdet somit die Beständeund Schutzbemühungen. Nicht zuletzt deshalb beantra-gen Kenia und Indien wieder das totale Handelsverbot.An dem Beispiel der Elefanten zeigt sich, dass diedeutschen Behörden durchaus janusköpfig sein können,wenn es um die Interessen bestimmter Lobbyorganisati-onen von Tierhaltern und Zoos geht. Der eindeutig ge-gen die CITES-Abkommen verstoßende illegale Importvon vier in der freien Wildbahn gefangenen jungen Ele-fanten für die Zoos in Dresden und Erfurt erfolgte nachunseren Informationen mit nachdrücklichem Dulden desBfN und des BMU. Der Einspruch der Zoos gegen dasvom BMU erst nach Protesten von Tierschutzorga-nisationen verhängte Importverbot ist noch wirksam.Die Tiere sind also weiterhin hier im Land.Gehen wir ein Stück weg von den Großtieren, so wirdnoch deutlicher, wie groß die Differenz zwischen denauf internationalen Konferenzen mit breiter Brust undhehrer Stimme verkündeten Ansprüchen und der hefti-gen Zurückhaltung bezüglich der jämmerlichen Realitäthier im Lande ist.Die Antwort auf unsere Kleine Anfrage zum Importvon exotischen Wildtieren nach Deutschland zeigt, dassaus dem wild wuchernden Handel dieser Tiere für denHeimtiermarkt kaum Konsequenzen gezogen werden.Deutschland ist hier einer der weltweit größten Verbrau-cher.Während heimische Wildtiere in Deutschland durchdas Bundesnaturschutzgesetz umfassend geschützt sind,lässt es die deutsche Gesetzeslage zu, dass durch dieNachfrage von Tierhaltern hierzulande die Natur in ent-fernten Gebieten der Welt, vor allem in den armen Län-dern Asiens, Afrikas und Südamerikas, geplündert wer-den kann. Dies ist nicht nur eine klare Absage an dasVorsorgeprinzip, sondern auch eine zynische Abschie-bung der Verantwortung auf die Herkunftsländer, diemit den Problemen des Artenschutzes und der Folgender Naturzerstörung allein gelassen werden.Millionen von seltenen, exotischen Fischen, Korallen,Reptilien und Vögeln werden jedes Jahr legal einge-führt.Obwohl die Entwicklung des Washingtoner Arten-schutzabkommens deutlich zeigt, dass immer wieder Ar-ten, die ursprünglich auf Anhang II gesetzt wurden, we-nig später auf Anhang I, mit seinem totalen Handelsver-bot, landen, ist die Bundesregierung nicht in der Lage,dem Handel mit Anhang-II-Exemplaren einen Riegelvorzuschieben. Der ist zwar laut Washingtoner Arten-schutzabkommen nicht verboten, wäre aber trotzdem imSinne der Nachhaltigkeit in den meisten Fällen zu ver-bieten. Das Washingtoner Artenschutzabkommen istschließlich nichts anderes als ein sehr bescheidener klei-ner gemeinsamer Nenner.Durchschnittlich sind beispielsweise 88 Prozent allerImporte von Anhang-II-Vögeln und praktisch alle An-hang-III-Vögel Wildentnahmen.Vor diesem Hintergrund ist es doch irgendwie para-dox, dass die ach so aufgeklärte Bundesrepublik erst dienachhaltige Plünderung der Natur duldet, um dann spä-ter, wenn die akute Gefährdung für jeden sichtbar aufder Hand liegt, für internationale Handelsverbote einzu-treten. Wir denken, genau hier sind nationale Alleingän-ge notwendig, auch juristisch möglich.
Die längst überfällige Novelle des Bundesnatur-schutzgesetzes bietet dafür Raum. Dass das BMU dieNotwendigkeit einer Überarbeitung des entsprechendenAbschnittes nicht einmal sieht, wie die Antwort derBundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zeigt, machtallerdings wenig Hoffnung auf eine Änderung.Verstöße gegen die vorhandenen gesetzlichen Be-stimmungen werden in Deutschland kaum sanktioniert.Es sind eben Kavaliersdelikte. So sind 1997 sage undschreibe 85 Prozent der entsprechenden Verfahren durchdas BfN eingestellt worden.Wen wundert’s, wenn dies als Aufforderung anSchmuggler verstanden wird. Die Zahl der Aufgriffe andeutschen Grenzen nimmt nämlich weiterhin er-schreckend zu. Waren es 1996 noch 1 799 Aufgriffe mit 21 297 Tie-ren oder Pflanzen, so stieg die Anzahl 1998 auf2 550 Aufgriffe mit 78 401 Exemplaren.Die Bundesregierung betont in ihrer Antwort, die Le-bensraumzerstörung sei eine viel größere Gefahr für dieArtenvielfalt als der Handel. Dem kann man zwar for-mal zustimmen, aber hinsichtlich einer Reihenfolgebeißt sich die Katze irgendwie in den Schwanz; denn diegefährdeten Arten kommen ja fast immer aus den letztenverbliebenen Refugien der biologischen Vielfalt. Derentsprechende Fang- oder Sammeldruck für den interna-tionalen Mark konzentriert sich auf sie und stellt somiteine besondere Gefährdung dar. Das Thema Lebensraumzerstörung ist zudem nichtnur ein Problem der jeweiligen Staaten. „Land unter!“soll es beispielsweise für die letzten wirklich urwüchsi-gen und extrem artenreichen Urwälder Ostboliviensheißen. Ein riesiges Staudammprojekt zur Stromerzeu-gung bedroht den Nationalpark Madidi. So sollen Ex-porteinnahmen gesichert, der Staatshaushalt saniert undinternationale Gläubiger wie IWF und Weltbank bedientwerden. Das ist ein Trauerspiel. Bolivien, eines derärmsten Länder der Erde, hat jahrhundertelang mit sei-nem Silber und Zinn den Luxus des spanischen Hoch-adels finanziert und dessen Gläubiger in Holland,Deutschland und Italien reich gemacht. Allein der le-gendäre Silberberg von Potosi hat dabei Hunderttausen-de Tote gekostet. Boliviens unter menschenunwürdigenBedingungen geförderte Kohle sichert Europa und denUSA noch heute billig Licht und Wärme. Nun soll Boli-vien seine Schulden abbezahlen – Bolivien, nicht Spa-nien, nicht Deutschland oder die USA. Wenn also irgendwann die Urwaldtäler geflutet wer-den, tragen diese Länder mindestens eine Mitschuld amunwiederbringlichen Verlust von Tausenden Tier- undPflanzenarten und an dem der Menschen vom Silberbergsowieso. Eva Bulling-Schröter
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Für die SPD-
Fraktion spricht nun die Kollegin Marga Elser.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! „Dem Artenschutz sind keineGrenzen gesetzt“ – so der „General-Anzeiger“ zum Jubi-läum der Bonner Konvention CMS. Schön wär’s!Was wir derzeit erleben, ist der weltweit größte Ar-tenschwund seit Bestehen der Menschheit. Nach Anga-ben von Wissenschaftlern sterben täglich bis zu 150 Ar-ten. Unsere Erde wird in absehbarer Zeit einen großenTeil ihrer biologischen Vielfalt verloren haben, wennsich nichts ändert – und das, obwohl man schon seit100 Jahren versucht, gefährdete Arten unter Vollschutzzu stellen. Deshalb ist es wichtig, dass sich nicht nur die Wis-senschaft, die Umweltverbände, einzelne Institute dieserProblematik zuwenden, sondern wir alle. Die Bundesre-publik ist als erster EU-Staat dem Washingtoner Arten-schutzabkommen beigetreten. Sie hat bei der Umsetzungin nationales Recht strikte Artenschutzbestimmungen er-lassen. Dennoch kam der Wissenschaftliche Beirat imJahresgutachten 1994 zu dem Schluss: „Hierzulande istder globale Artenschutz weder ein zentrales Handlungs-feld noch ein wichtiger Forschungsbereich.“Unsere Zeit ist von den Herausforderungen der Glo-balisierung geprägt. Eine Antwort auf drängende Fragen ist das Leitziel ei-ner nachhaltigen Entwicklung. Es waren die großeneuropäischen Sozialdemokraten Willy Brandt, OlofPalme und Gro Harlem Brundtland, die einen Prozess inGang gesetzt haben, der den Erdgipfel in Rio 1992 zurFolge hatte.Gründe für den Verlust der biologischen Vielfalt gibtes genug. Da sind die Ausbreitung der Besiedelung, dieAusweitung der Wüsten, Umweltverschmutzung undWassermangel, die Landwirtschaft und der Einsatz vonDüngemitteln und Pestiziden, das Bejagen und Einfan-gen wild lebender Tiere, der Abbau der Ozonschicht undKlimaveränderungen. Alles zusammen sorgt für einenständigen Rückgang der Arten sowohl bei Pflanzen alsauch bei Tieren.Wir haben aber auch eine Reihe von Schutzmecha-nismen zur Verfügung, von denen ich nur einige nenne:das Washingtoner Artenschutzübereinkommen, die Bio-diversitäts-Konvention, die Bonner Konvention zur Er-haltung der wandernden wild lebenden Tierarten, die eu-ropäische Vogelschutz- und die FFH-Richtlinie sowiedas europäische Schutzgebietssystem NATURA 2000.Die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes stehtan. Wir wollen ein großflächiges Biotopverbundsystemmit etwa 10 Prozent der Landesfläche schaffen. Schließ-lich sollen die Artenvielfalt geschützt und die Verpflich-tung zu einer flächendeckenden Landschaftsplanungaufgenommen werden.In den „Daten zur Natur 1999“ des BfN wird aufge-zeigt, dass für Pflanzen- und Tierarten und ihre Lebens-räume weiterhin erhebliche Gefährdungen bestehen.Zwar sind die Belastungen durch Umweltschutzmaß-nahmen in Teilbereichen zurückgegangen. Für die Naturinsgesamt besteht jedoch weiterhin Alarmstufe. Die ro-ten Listen zeigen den Umfang der Bedrohung von Faunaund Flora. Danach sind beispielsweise 36 Prozent allerbewerteten Tierarten im Bestand gefährdet. Erheblich istnach wie vor auch der Landschaftsverbrauch durch Zer-siedelung und Zerschneidung der Flächen. Bundesweitsind es über 100 Hektar täglich. Dieser Artenverlust istein deutlicher Hinweis auf die Belastung unserer Um-welt.
Das Netz NATURA 2000 umfasst 553 Vogelschutz-gebiete. Die Meldungen zur Umsetzung der FFH-Richt-linie in Deutschland gehen sehr zögernd ein. Unsere fö-derale Struktur erschwert die Umsetzung. Mein„Musterländle“ ist dabei nicht gerade sehr mustergültig.Baden-Württemberg hat gerade einmal 1,5 Prozent An-teil an der Landesfläche in 151 Gebieten gemeldet. DieVielzahl der Gebiete sagt eben auch aus, dass die Stü-ckelung sehr groß ist und eine Vernetzung und Zusam-menlegung nicht stattgefunden haben.Ein Ziel muss es sein, die Tier- und Pflanzenarten inihrer genetischen Vielfalt, ihrer natürlichen Häufigkeitund ihrer natürlichen geographischen und ökologischenVerbreitung zu schützen. Das bedeutet umfassendenSchutz und Pflege wild lebender Tier- und Pflanzenartenmit klar umrissenen Aufgaben für den Arten- und Bio-topschutz.Wir brauchen eine Renaturierung unserer Flüsse. DerErhalt natürlicher Flussläufe und Auwälder dient abernicht nur dem Artenschutz, sondern ist auch der besteHochwasserschutz.
Giftige Einträge in Flüsse zerstören die Gesundheit derMenschen, die Nahrung und Wasser dem Fluss entneh-men. Auch Flora und Fauna erleiden irreparable Schä-den.Im Oktober 1999 ist die neue Bundesartenschutz-verordnung in Kraft getreten. Die Novelle enthält eineRegelung zur Kennzeichnung bestimmter lebender Säu-getiere, Vögel und Reptilien. Mit ihr wird die Zuord-nung geschützter Tiere zu bestimmten amtlichen Papie-ren sichergestellt. Damit soll der illegale Handel mit ge-schützten Tieren weiter erschwert werden. Das Überein-kommen über die biologische Vielfalt, 1992 in Rio ge-schlossen, hat zum Ziel, die biologische Vielfalt zuschützen und nachhaltig zu nutzen sowie die Vorteile,die sich aus ihrer Nutzung ergeben, gerecht aufzuteilen.175 Staaten sind der Konvention seitdem beigetretenund unterstreichen damit die globale Bedeutung, die die-sem Übereinkommen weltweit zukommt.Deutschland spielt bei der Umsetzung eine wichti-ge Rolle. Wir sind Impulsgeber bei der Frage desEva Bulling-Schröter
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nachhaltigen Tourismus oder bei den Zugangsregelungenbei genetischen Ressourcen.
Schätzungen zufolge wurden im Zeitraum von 1990bis 1995 jährlich 13,5 Millionen Hektar Tropenwaldvernichtet. Obwohl die Tropenwälder lediglich 7 Pro-zent der weltweiten Landflächen bedecken, beher-bergen sie wahrscheinlich die Hälfte aller bekanntenPflanzen- und Tierarten. Eine große Artenvielfalt ist je-doch durch menschliche Eingriffe bedroht. Die interna-tionale Gemeinschaft hat sich dazu verpflichtet, die Ar-tenvielfalt für die künftigen Generationen zu bewahren.Das lässt sich jedoch nur erreichen, wenn es gelingt, die-se Verpflichtung mit den Bedürfnissen und Prioritätender Menschen und der Wirtschaft in den Entwicklungs-ländern in Übereinstimmung zu bringen. Tourismus und Artenschutz – wir haben das schongehört – war das Thema einer hochinteressanten Anhö-rung vor wenigen Wochen. Dabei hat sich herausge-stellt, dass in rund 90 Prozent der Verstöße gegen dasArtenschutzgesetz Touristen die Täter sind. Eine explo-sive Zunahme: Um 350 Prozent ist die Zahl der Fällegestiegen. Tiere und Pflanzen werden vor allem aus be-liebten Feriengebieten eingeschmuggelt. Die Zollver-waltung reagiert natürlich schon mit Öffentlich-keitsarbeit. Die Naturschutzorganisationen unter-stützen sie dabei. Den Reiseveranstaltern kommt beim Schutz der Le-bensräume eine hohe Verantwortung zu: zum einen beider Nutzung der Lebensräume, zum anderen aber bei derAufklärung und Information der Touristen über naturge-rechtes Verhalten und die geltenden Artenschutzbe-stimmungen. Wir brauchen einen Verhaltenskodex fürReiseveranstalter und Touristen. Es ist nicht einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen,die Herzen der Menschen zu erreichen, wenn es sich umeine aussterbende Käferart, ein seltenes Moos oder ir-gendein relativ unbekanntes, möglicherweise sogar„hässliches“ Tier handelt. Viel erfolgreicher sind dieFund-Raiser großer Umweltorganisationen, wenn es umWale, den Sibirischen Tiger, Nashörner oder Elefantengeht. Die Berichte über die Robbenjagd in Kanada ha-ben wahrscheinlich mehr für eine gewisse Ächtung vonPelzkleidung getan als das Leiden der Felltiere in Zucht-anlagen. Nicht zuletzt deshalb hat wohl die Einfuhr junger Ele-fanten in Zoos in Deutschland im vergangenen Jahr inder Öffentlichkeit und auch im Deutschen Bundestag er-hebliche Wellen geschlagen. Der Afrikanische Ele-fant – damit komme ich zu unserem Antrag – stand An-fang der 90er-Jahre kurz vor seiner Ausrottung. Deshalbunterliegt er dem Schutz des Washingtoner Artenschutz-übereinkommens. Wenn im südlichen Afrika in den letz-ten Jahren die Elefantenbestände wieder deutlich zuge-nommen haben, ist den dortigen Regierungen für ihrewirksamen Schutzmaßnahmen ausdrücklich zu danken. Leider hat aber die daraufhin erfolgte Lockerung desstrikten Verbotes des Handels mit Elfenbein zu einerverstärkten Wilderei und einem erhöhten Schmuggel mitElfenbein geführt. Einige Länder wollen nun auf derKonferenz in Nairobi durchsetzen, dass das Handelsver-bot für Elfenbein noch weiter gelockert wird. Arten-schutzorganisationen fürchten daher zusammen mit denStaaten Ost- und Zentralafrikas und Indien um die Ele-fantenbestände. Die Wiederhochstufung der Elefanten aus Anhang IIin Anhang I und ein Handelsverbot für Elfenbein bedeu-ten nicht – darauf lege ich Wert –, dass in den betroffe-nen Ländern nichts gegen Überpopulationen und damitdie Bedrohung der Felder und Ernten getan werden darf.Es sind nun eben aus Savannen Kulturlandschaften ge-worden. Deshalb ist der Lebensraum, auch jener der Ele-fanten, entscheidend eingeschränkt worden. Aber esmuss auch ein Weg gefunden werden, den betroffenenLändern Kompensationen und Hilfen zu verschaffen.
Es ist keine Frage: Ein wirksamer Natur- und Arten-schutz ist nur möglich, wenn die Bevölkerung mitmacht.Dazu gehören umfassende Information, Aufklärung undUmweltbildung sowie viel bürgerschaftliches Engage-ment. Die Politik kann zwar die Rahmenbedingungensetzen, zur Beachtung einer gesunden und intakten Na-tur brauchen wir aber alle. Viele Bürgerinnen und Bür-ger tragen dazu in vielfältiger Weise in den Natur-schutzverbänden, bei der Biotoppflege, dem Kröten-schutz und in Agenda-21-Gruppen bei. Dafür bedankenwir uns.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Georg
Girisch.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Das WashingtonerArtenschutzübereinkommen wird am 1. Juli dieses Jah-res sein In-Kraft-Treten vor 25 Jahren feiern können.Seither sind 150 Staaten dem Vertrag beigetreten; indiesem Jahr Island, Kasachstan und Slowenien. Seit1990 sind sogar 47 Staaten beigetreten, darunter vieleLänder des ehemaligen Ostblocks. Sie erkennen damitdie Bedeutung der Vielfalt von Tier- und Pflanzenartenan und arbeiten zum Schutz gefährdeter Arten zusam-men. Dabei steht der zwischenstaatliche Handel imMittelpunkt. Das Schicksal gefährdeter Arten in ihrerHeimat hängt nur mittelbar, aber doch in starkem Maßedavon ab. So beruht zum Beispiel die Gefährdung derNashörner und Tiger zum großen Teil auf der finanz-kräftigen Nachfrage chinesischstämmiger Einwohner inden verschiedensten Staaten Asiens. Leider ist eines derLänder mit einer großen Nachfrage nach Nashorn- undTigerknochenpulver – Taiwan – nicht Mitglied diesesAbkommens. Im Zusammenhang mit diesem Abkommen hat nochdie unionsgeführte Bundesregierung für den Handel mitMarga Elser
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geschützten Arten eine Strafandrohung eingeführt. DasBundesnaturschutzgesetz sieht für derartige Verstöße biszu fünf Jahre Freiheitsentzug vor. Die Öffentlichkeitwird sich der Bedeutung des Artenschutzübereinkom-mens immer mehr bewusst. So weisen zum Beispielauch in Deutschland schon Anzeigenblätter Inserentenauf die Liste zum Artenschutzübereinkommen hin. Abernicht nur der zwischenstaatliche Handel, sondern auchdas Einbringen von in internationalen Gewässern gefan-genen Tieren wird von dem Abkommen erfasst. Hier be-steht eine Überschneidung mit den internationalen Kon-ventionen zur Regelung des Walfanges, auf die ich spä-ter noch eingehen werde. Die nächste der Folgekonferenzen der Mitgliedstaa-ten des WA findet vom 10. bis 20. April dieses Jahres inKenia statt. Dabei stehen 61 Anträge auf der Tagesord-nung, ein Teil davon fordert die Reduzierung des Schut-zes von betroffenen Arten. Betroffen davon sind dieGrau- und Zwergwale, der Afrikanische Elefant, eineLamaart, eine südamerikanische Straußenart sowie dreiweitere Tier- und drei weitere Pflanzenarten. Die Viel-falt der betroffenen Arten scheint den Koalitionsfraktio-nen bei der Formulierung ihres erst kurzfristig bekanntgegebenen Antrages entgangen zu sein. Dabei bestehtdoch gerade bei nicht so populären Tier- und Pflan-zenarten die Gefahr, dass sie aus dem öffentlichen Be-wusstsein verdrängt werden. Dem deutschen Vertreter sollten besser allgemeineHinweise für die Verhandlungsführung auf der bevor-stehenden Konferenz mit auf den Weg gegeben werden.Das wird besonders dann wichtig, wenn durch die Be-mühungen einflussreicher Einzelstaaten als sicher zuerwartende Beschlüsse plötzlich infrage gestellt werden.So hat Japan 1998 zum Beispiel bei einer der letztenWalfangkonferenzen die Unterbringungskosten für meh-rere Delegationen übernommen, die daraufhin überra-schend abstimmten; das heißt, das Stimmverhalten wur-de beeinflusst. Möglicherweise muss auch in Nairobitaktisch agiert werden, um eine Koalition aus Ländern,in denen der Walfang Bedeutung hat, mit Ländern, diemit Elefantenstoßzähnen handeln, zu verhindern. Das bisherige internationale Auftreten von MinisterTrittin weckt bei mir aber leider keine großen Erwartun-gen auf deutsches Verhandlungsgeschick.
Die Interessen dieser zwei Landesgruppen darf mannicht in einen Topf werfen. So kann das Argument„Kriminell nutzen, die Situation aus“ – hier aus demVerkauf von Stoßzähnen – nicht allein das Verbot einerHandlung begründen. Sonst müsste man aufgrund desMissbrauchs – ich sage das ganz drastisch – auch dieNutzung von Eurochequekarten in Deutschland verbie-ten. In den vier Staaten aus dem Bereich des südlichenAfrika werden nun einmal, und zwar nur zur Aufrecht-erhaltung der öffentlichen Sicherheit, Elefanten abge-schossen, die in der Nähe von Dörfern Felder verwüsten.Die dabei anfallenden Stoßzähne werden von den Regie-rungen gelagert und können dann nur verwertet odervernichtet werden.Auf der letzten Konferenz wurde deshalb drei Staatender einmalige Verkauf von 5 446 Stoßzähnen zu je900 Dollar gestattet, der dann an Japan erfolgte. Es istfür mich nicht nachvollziehbar, dass der staatliche Ver-kauf eine verstärkte Wilderei von Elefanten hervorgeru-fen haben soll. Im Gegenteil, den Schmugglern wurdendadurch die Preise für gewilderte Stoßzähne verdorben. Im Gegensatz dazu soll nach den Vorstellungen Ja-pans und Norwegens die Jagd von Grau- und Zwerg-walen gestattet werden. Sie stellen aber in keiner Weiseeine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit dar. Dies hatja schon die ehemalige Umweltministerin, Frau Dr.Merkel, auf der letzten Konferenz angeprangert. Hiergeht es nur um die kommerzielle Verwertung dieser Tie-re. Die ist aber seit 1986 durch den Beschluss der inter-nationalen Walfangkommission ohnehin verboten. Da-bei ist noch darauf hinzuweisen, dass diese zwei Staatenunter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Notwen-digkeit seit Jahren die Regelung des Artikel 3 Abs. 5 cdes Artenschutzabkommens unterlaufen, um die Wale inder Nahrungsmittelindustrie zu verwerten. Aufgrund derWirtschaftskraft dieser zwei Staaten ist es keinesfalls so,dass die Versorgung der Bevölkerung ohne die Jagd aufWale gefährdet wäre. Für Staaten, die wirtschaftlich we-niger gut dastehen, ist dies ein schlechtes Vorbild.Grauwale sind im Übrigen genau die Tiere, die sich vorden Küsten Kaliforniens bei den Beobachtern so hoherBeliebtheit erfreuen. An dieser Gegenüberstellung ist zu erkennen, dass dieKoalitionsfraktionen in ihren Anträgen wichtige Detailsvernachlässigt haben. Zudem erschweren sie dem deut-schen Vertreter in Nairobi eine effektive Verhandlungs-taktik. Der Schutz der Elefanten ist sicherlich wichtig,meine Damen und Herren. Wenn man aber im konkretenFall zu einem Kompromiss gezwungen wird, muss mandoch eine Gewichtung vornehmen. Zudem zeigen dieseAnträge in ihrer Beschränkung auf nur zwei Tiergattun-gen die verengte Sicht der Koalitionsfraktionen mit gro-ßer Deutlichkeit. Beispielhaft möchte ich hier auf einen Antrag derUSA und anderer eingehen, mehrere Haiarten unterSchutz zu stellen. Wie der sprichwörtliche Hecht imKarpfenteich, den es zum Beispiel in den Fischteichenmeiner Oberpfälzer Heimat wirklich gibt, ist der Hai imMeer von großer Bedeutung. Als letztes Glied in einerNahrungskette sorgt er für die Gesundheit aller Meeres-bewohner und Arten, indem er kranke und verletzte Tie-re frisst. Er verhindert so, dass sich untüchtige Fehlbil-dungen bei der Entwicklung der Arten ausbreiten. DerHai, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat keineLobby und ist daher den Koalitionsfraktionen keinenAntrag wert.Auch Pflanzen interessieren Sie anscheinend wenig.Während hierzulande viel Wind um die Ökosteuer ge-macht wird, wurde ein Antrag auf Aufnahme einigerPflanzenarten nicht eingereicht. Es sollten aber zumin-dest einige Arten, die das so genannte Tropenholz lie-fern, geschützt werden. Dabei ist doch gerade der tropische Regenwald derwichtigste Sauerstoffproduzent und das größte natürlicheGeorg Girisch
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Genvorkommen auf unserem Planeten. Auch der Holz-einschlag, der zur Gewinnung von Tropenholz er-folgt, gefährdet den Regenwald in erheblichem Umfang.Vielleicht hätte man bei zu großem Widerstand der be-troffenen Exportstaaten eine eigene Regelung zum An-hang III zum Artenschutzabkommen anmelden können.Hier herrscht bei den Koalitionsfraktionen Schweigenim Walde.Ein weiterer Punkt. Das Washingtoner Artenschutz-übereinkommen sieht in jedem Mitgliedstaat die Über-wachung des Artenschutzes vor. Dies soll durch eineBehörde der Wirtschaftsverwaltung sowie eine wissen-schaftliche Behörde sichergestellt werden. Leider istdiese Überwachung oft lückenhaft, teils wegen fehlenderAusbildung der Mitarbeiter, teils wegen mangelhafterBezahlung. Die schlechte Bezahlung führt oft zu Be-stechlichkeit des Personals.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Computer-unterstützung ist wichtig für die Effizienz der Verwal-tung. Wenn dies so ist, dann darf man aus diesen Län-dern nicht die Computerfachleute abwerben und gleich-zeitig erwarten, dass dort die Verwaltung verbessertwird. Der beste und effektivste Umweltschutz ist derjenige,der im Einvernehmen mit der Bevölkerung durchgeführtwird. Dies darf bei den Bemühungen um eine bessereÜberwachung in den betroffenen Ländern nicht aus denAugen verloren werden. Dies gilt besonders für denTierschutz. So gibt es im südlichen Afrika Projekte, beidenen das Eigentum und somit das Verwertungsrecht anbestimmten Wildtieren der lokalen Bevölkerung zuge-sprochen wird. Damit ist das Interesse der Bevölkerunggewährleistet und die Wilderei hat kaum mehr eineChance. Der Abschuss und die Verwertung einerbegrenzten Anzahl der betroffenen Tiere unterBegleitung von Wissenschaftlern kann dann gestattetwerden. Dass dies mit Augenmaß geschehen würde,verdeutlicht das Sprichwort: Die Kuh, die man melkt,schlachtet man nicht. In diesem Rahmen ist auch eine touristische Nutzungdenkbar. Auch bei uns funktioniert dieses Konzept, wiezum Beispiel der bayerische Vertragsnaturschutz belegt.Niemand kann erwarten, dass man die Bevölkerung dessüdlichen Afrika oder anderer wirtschaftlich schwacherGebiete ohne finanzielle Anreize überzeugen kann. Vondiesen finanziellen Anreizen müssen allerdings die klei-nen und mittleren, namentlich die Familienunternehmenprofitieren können.Artenschutz ist nur dann erfolgreich durchzusetzen,wenn auch die Entwicklungschancen, die sich aus einernachhaltigen Nutzung ergeben, Bestandteil der Schutz-konzepte werden. Es ist deshalb unbestritten, dass wirdie Bevölkerung vor Ort verstärkt einbeziehen und mitHilfe zur Selbsthilfe unterstützen müssen. Dies habenwir in der Vergangenheit auch getan. Ich kann deshalbnicht verstehen, dass gerade diese Bundesregierung dieMittel der Entwicklungshilfe um 8,7 Prozent gesenkthat, zumal man erwarten muss, dass sie auch künftigweiter sinken.Wenn man dann noch das ökologische Verhalten po-sitiv verstärkt, haben wir einen wichtigen Schritt zumSchutz dieser einen Welt getan. Ich freue mich deshalbfür den deutschen Vertreter in Nairobi, den Bundesum-weltminister, dass er einmal hinauskommt und an etwasanderes denken kann als an Atomausstieg in Deutsch-land. Hoffentlich bekommt er diesmal keine Schramme,wenn ihm der Kanzler aller Safariautos an den Karrenfährt. Ich wünsche uns, dass er die von Frau Merkel aufder letzten Konferenz gelegte hohe Latte erreichen kannund die deutschen Interessen in Nairobi würdig undwirksam vertritt.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehrverehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! MeinVorredner hat eben lang und breit beklagt, dass die Koa-litionsfraktionen nicht zu allen 60 auf der kommendenCITES-Konferenz vorgelegten Anträgen hier Initiativeneingebracht haben. Ich frage mich, ob Sie wirklich ver-suchen wollen, jedes Thema in die Parteienauseinander-setzung zu ziehen. Das ist völlig unnötig, weil wir in derSache, in der Diskussion um den Artenschutz, in vielenPunkten einig sind. Gott sei Dank haben einige Vorred-ner Ihrer Fraktion diese Gemeinsamkeiten auch betont.Ich müsste ansonsten aus Ihren Nichtaktivitäten schlie-ßen, dass Ihnen auch der Schutz der Wale und der Ele-fanten egal ist. Artenschutz ist ein Thema, das große Aufmerksam-keit in der Öffentlichkeit erfährt, zumal dann, wenn esum große Säugetierarten geht, die bei jedem Einzelnenvon uns einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ichnenne exemplarisch die Elefanten als größte Landsäugerund die Wale als größte Meeressäuger. Ihr Lebensraumund ihre Population sind gerade durch ihre Lebensweisegefährdet: Sie leben in sozialen Gruppen und nehmensehr großflächige Lebensräume für sich in Anspruch.Deshalb sind sie besonders darauf angewiesen, dass wirden nachhaltigen Schutz ihrer Lebensräume gewährleis-ten.
Mit dem Washingtoner Artenschutzübereinkommenwurde vor über 25 Jahren ein Instrument geschaffen, daseinen weltweiten Verhaltenskodex für den Umgang mitwild lebenden Tier- und Pflanzenarten festlegt. Durchdie Einbindung von über 140 Staaten ist es tatsächlichgelungen, eine globale Steuerungsfunktion beim Arten-schutz auszuüben. Das ist ein großer Erfolg, auch wenndieses Instrument bisher nicht in allen Details greifenkonnte. Für viele Arten, insbesondere für die Meeressäuger,kam das Washingtoner ArtenschutzübereinkommenGeorg Girisch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8779
buchstäblich als Rettung in letzter Minute. Die Blauwalewurden bis zu ihrer fast vollständigen Ausrottung ver-folgt. Selbst nach 30 Jahren Jagdverbot und nach22 Jahren Handelsverbot haben sich die Bestände nichterholt. Von ursprünglich 250 000 Exemplaren lebenheute noch maximal 3 000. Genau wissen wir das nicht.Die Bestände haben sich jedenfalls bisher nicht regene-riert. Trotzdem scheiden sich beim Thema Wale auchheute wieder die Geister daran, wie stark diese Meeres-säuger tatsächlich gefährdet seien. Seit 1986 gilt das von der Internationalen Walfang-kommission verkündete weltweite Moratorium für denkommerziellen Walfang. Lediglich für wissenschaftlicheZwecke dürfen Wale noch gejagt werden. Das Morato-rium basiert auf der Grundlage eines konservierendenArtenschutzes, also Schutz durch Unterlassung jeglicherNutzung. Trotzdem umgehen einzelne Staaten unter demDeckmantel des wissenschaftlichen Walfangs oderdurch Austritt aus der IWC das Moratorium. Das heißt,dass auch dieses Moratorium bisher keinen vollständi-gen Schutz bieten konnte. Wir diskutieren deshalb da-rüber, inwieweit sich Nutzung und vorsorgender Schutzvon gefährdeten Arten miteinander verbinden lassen.Die Grundlagen dafür müssen eindeutig sein. Wenn jetzt auf der 11. Vertragsstaatenkonferenz übereine Aufhebung des Moratoriums diskutiert wird – dieZurückstufung der Wale von Anhang I in Anhang IIwürde in letzter Konsequenz nichts anderes bedeuten –,dann können wir das nicht unterstützen, weil die wissen-schaftlichen Grundlagen für eine solch weitreichendeEntscheidung nicht ausreichen.Für den Zwiespalt zwischen dem Erhalt unserer natürli-chen Umwelt und der kommerziellen Nutzung – seien esBodenschätze, Pflanzen oder Tiere – gilt seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992 eineFormel, die die Nutzung ohne Gefährdung der Art er-laubt: Diese Formel heißt „Nachhaltigkeit“. NachhaltigeEntwicklung soll durch nachhaltige Nutzung ermöglichtwerden. Auch die Internationale Walfangkommissionhat an die Aufhebung ihres Fangmoratoriums eine Be-dingung geknüpft: Der Walfang bleibt so lange verbo-ten, bis die Kriterien für eine nachhaltige Jagd auf Waleerarbeitet und bis die Instrumente zur Überprüfung einerdann erfolgenden nachhaltigen Nutzung entwickelt sind.
An diesem Maßstab muss die IWC festhalten und auchCITES darf diesen Maßstab auf keinen Fall aufbrechen. Das Washingtoner Artenschutzübereinkommen hatsich in Bezug auf die Wale bisher eng an die Vorgabender Internationalen Walfangkommission angelehnt, dasheißt, die Schutzinteressen haben bislang Vorrang vorden Nutzinteressen, eben weil wir nicht wissen, ob dieBestände schon wieder eine kommerzielle Nutzung ver-kraften können. Und solange wir das nicht wissen, solange ist aus meiner Sicht eine kommerzielle Nutzungselbst dann, wenn sie nachhaltig gestaltet ist, nicht mög-lich.
Eines ist in die Betrachtung bisher kaum eingeflos-sen. Frau Flach, da möchte ich auf Sie zurückkommen;denn Sie haben unseren Antrag an diesem Punkt offen-sichtlich nicht gründlich gelesen. Es geht um die zu-nehmende Gefährdung der Ozeane. Sie hatten in diesemZusammenhang gesagt, dass die Wale nicht primär da-durch gefährdet sind. Da würde ich Ihnen zustimmen:Wale sind hauptsächlich durch die kommerzielle Nut-zung in ihrer Existenz bedroht – auch noch heute. Aberich denke, wir müssen in Zukunft sehr wohl den Blickauf die Gefährdung der marinen Ökosysteme richten. Globale Umweltveränderungen bedrohen die Popu-lationen – insbesondere bei den Walen können wir diesbeobachten – inzwischen in erheblichem Ausmaße. Dieverschiedenen Faktoren wurden bisher isoliert betrach-tet. Wir wollen, dass in Zukunft beim Schutz der wildlebenden Arten die Gefährdungsfaktoren in ihrer Ge-samtheit berücksichtigt werden.
Die marinen Ökosysteme werden durch den verstärktenTreibhauseffekt, die zunehmende UV-Einstrahlung,Eutrophierung und dadurch gestörte Produktion vonPhytoplankton sowie die Überfischung der Meere ge-fährdet. Das Zusammenspiel dieser Faktoren wirkt sich inzwi-schen auch auf die Population der Wale aus und bedrohtihre Existenz. Wenn, wie heute kurz ausgeführt wurde,im Walfleisch inzwischen Schadstoffe wie Dioxin oderPCB in einer solchen Menge angereichert sind, dass da-vor gewarnt wird, dieses Fleisch zu verzehren, dannkönnen wir nicht davon sprechen, dass die Wale nichtauch durch die Gefährdung des Ökosystems bedroht wä-ren. Ich möchte nicht, dass wir einen effektiven Wal-schutz erst erreichen können, wenn das Fleisch über-haupt nicht mehr verzehrt werden kann. Das ist nichtunser Ziel.
Die Schlussfolgerung aus diesen inzwischen wissen-schaftlich fundierten Erkenntnissen kann nur lauten: Esgenügt nicht, über den Schutz einzelner gefährdeter Ar-ten zu sprechen. Vielmehr müssen wir zukünftig den ge-samten Lebensraum der betroffenen Art mitbetrachten.Gerade hier klafft aber immer noch eine Riesenlückezwischen Anspruch und Wirklichkeit. Nachhaltigkeits-rhetorik reicht nicht aus. Die Vereinten Nationen hatten das Jahr 1998 zum In-ternationalen Jahr des Ozeans erklärt, um die zentraleBedeutung der Weltmeere für Klima, Artenvielfalt undErnährungssicherung stärker in das allgemeine Bewusst-sein zu bringen. Fakt ist, dass die Weltmeere bis auf den heutigen Tagnicht nachhaltig genutzt werden, dass wir immer nochmit einer dramatischen Überfischung einzelner Fischar-ten zu tun haben, die die Bestände in ihrer ExistenzSteffi Lemke
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8780 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
bedroht, und dass hieran auch die Europäische Union be-teiligt ist. Artenschutz ist ein Themenfeld, dem man mit einerisolierten Betrachtung nicht gerecht wird. Hier kann tat-sächliche Nachhaltigkeit nur erreicht werden, wenn wirüber Zuständigkeitsgrenzen hinweg denken und han-deln.
Zielstellung muss sein, die wirtschaftlichen Interessen sozu lenken, dass dadurch Ökosysteme und ihre Artennicht gefährdet werden. Hierzu gibt es eine Reihe ermutigender Ansätze. Ichmöchte als Beispiel die Zertifizierung anführen. Insbe-sondere beim Schutz des tropischen Regenwaldes gibt espositive Ansätze im Rahmen des FSC zu einer Kenn-zeichnung von Holz aus nachhaltiger Tropenwaldbe-wirtschaftung, die wir – gerade hier in Mitteleuropa – al-lerdings viel stärker unterstützen müssen, wenn sie tat-sächlich zum Tragen kommen sollen. Ein ähnlicher An-satz wird auch für den Schutz der Meere diskutiert. Einweiterer Vorschlag ist die Einführung des Vorsorgeprin-zips bei CITES. Ich denke, das ist der richtige Weg, umden Vorrang des Artenschutzes zu gewährleisten undtrotzdem eine Nutzung in der Zukunft wieder zu ermög-lichen. Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Reinhold Hemker für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Bei der Debatte über Ar-tenschutz, Schutz von Tieren und Pflanzen, vergisst mansehr oft – das ist auch heute wieder deutlich geworden –,dass es die Menschen sind, die sich in der Welt einge-richtet haben. Ihr Bestreben richtete und richtet sich aufMacht und Einfluss. Mächtige sammelten und sammelnim wahrsten Sinne des Wortes ihre Truppen, um dieWelt oder zumindest Teile der Welt zu unterwerfen. Noch in diesem Jahrhundert war dieses Bestrebenvon Menschen – und das nicht nur einiger weniger Dik-taturen – nach Lebensraum, wie es genannt wurde,Grund millionenfachen Mordes, von Krieg, den ichMassenmord nenne, zumindest wenn er diesen Hinter-grund hat. Wir lesen in den Geschichtsbüchern davon:Dieses Bestreben richtete und richtet sich gegen Men-schen, die sich meistens nicht wehren können. Die Stär-keren setzen sich durch. In den Geschichtsbüchern lesen wir aber wenig da-von, was im Zusammenhang mit den Handlungen desRaubtieres Mensch, durch das Eingreifen der Menschenüberall auf der Welt, mit den anderen Geschöpfen aufdieser Erde geschah und geschieht. Das ist sehr be-dauerlich.Der in der Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bi-bel, im Alten Testament, reflektierte Vorgang der Ent-stehung der anorganischen und organischen Kreatur amdritten und fünften Tag des auf eine Woche konzentrier-ten Schöpfungsprozesses durch den Schöpfer Gott nenntsehr knapp und genau die Bedeutung der Kreatur mitseinen vielfältigen Arten. Die Geschichte von der ArcheNoah malt das später noch einmal aus und das ist gut so. Kurz: Die Welt, die Mutter Erde – wie es in der indi-anischen Tradition heißt –, ist auf alle Arten, die es inder Natur gibt, angewiesen. Die Entwicklung der Ar-tenvielfalt hat eine lebenserhaltende und lebensgestal-tende Funktion für die gesamte Menschheit. Aber auch das ist klar: Populationen wie bei Elefan-ten, Walen oder bestimmten Pflanzenarten werden trotzdes Wissens der Menschen um die Bedeutung der Ar-tenvielfalt und der Notwendigkeit ihrer Erhaltung dezi-miert. Darauf ist heute mehrfach hingewiesen worden.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur be-dauerlich. Denn fällt etwas weg, wird etwas davon vonMenschen vernichtet, wird das Gleichgewicht gestört.Die Kollegin Voß hat das sehr anschaulich beschrieben. Der Oikos, der Hausstand der Menschen, die Ge-meinschaft, muss global verstanden werden. Wenn ihmdas Verbindende und das Ausgleichende fehlt, wird derMensch immer mehr von den Erlebnisbereichen isoliert,die die Natur bietet. Es ist die Gesamtheit der Welt, diedem Menschen als Existenzgrundlage dient und von derer sich entfremdet, wenn er seine Umwelt künstlich neuerschafft: Technokratie statt Ökologie.Aber liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, es gabund gibt immer wieder auch die Bemühungen von Men-schen, dem Prozess der Zerstörung entgegenzuwirken.Die Organisationen, deren Aufgaben und Ziele mitdem Artenschutzübereinkommen im Grunde mit globa-ler Orientierung auf den Punkt gebracht werden, sindvor diesem Hintergrund entstanden. Ihnen ist für ihr En-gagement zu danken.
Ich nenne als Beispiele die Naturfreunde, den Natur-schutzbund, den Bund für Umwelt und NaturschutzDeutschland, Greenpeace, Tierschutzvereine, Natur-schutzgruppen in den Heimatvereinen und weltweit dieverschiedenen Organisationen, die Workcamps für Wie-deraufforstung und Rekultivierung von Räumen organi-sieren, in die sich bedrohte Tierarten zurückziehen. Ichbin auch der Auffassung, der WWF, der World WideFund for Nature, wäre ohne solche vielfältig engagiertenOrganisationen nicht denkbar.Artenschutz hat viel mit Ressourcenschutz und miteiner Art von Ressourcennutzung zu tun, die seit derWeltkonferenz für Umwelt und Entwicklung – MinisterTrittin hat darauf hingewiesen – als „sustainable“ be-zeichnet wird: langfristig, dauerhaft tragfähig. Mit denschon inflationär gebrauchten Begriffen „nachhaltig“und „Nachhaltigkeit“ – der Minister hat einen nachhaltigenSteffi Lemke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8781
Eindruck hinterlassen – habe ich manchmal meineSchwierigkeiten.Wer global das Gleichgewicht der GrundelementeWasser, Feuer, Erde und Luft zerstört, die Grundlagenund Grundsätze des Oikos nicht berücksichtigt, zerstörtdie Lebensgrundlagen vieler Tiere und Pflanzen. DieWechselbeziehung von organischer und anorganischerKreatur funktioniert dann nicht mehr. Es ist wichtig, dass überall die internationalen Ver-einbarungen, Artenschutzübereinkommen, die FFH-Richtlinie, die Kennzeichnung von Naturräumen alsWeltkulturerbe, auch durch nationale politische Ent-scheidungen und Rahmenpläne begleitet werden.Hier muss uns als politisch Verantwortlichen im Nor-den der Welt klar sein: In armen Ländern vorwiegendder südlichen Halbkugel dieser Welt kann das nur unterBeteiligung der Völkergemeinschaft mit großen finan-ziellen Anstrengungen gelingen.
Weltumwelt-, Weltkultur-, Weltsozialpolitik und eindie Politikbereiche tragender Weltethos dürfen nicht infloskelbehafteten Vereinbarungen ohne substanzielleKonsequenzen stecken bleiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in allen Hochkultu-ren hat es ein Management im Sinne regulierender Ein-griffe in Tier- und Pflanzenbestände der Natur gegeben.Bis heute können deren Bewirtschaftung und derennachhaltige, auf die Zukunft ausgerichtete tragfähigeNutzung durchaus geeignete Maßnahmen sein. In gepflegten und somit kulturell geprägten Wälderngibt es eben viele Schutzräume für die gefährdete Faunaund Flora, gibt es Rückzugsräume für Tiere wie zumBeispiel die Gorillas in den Bergen Ruandas oder imöstlichen Kongo, für Nashörner im Matopos-Naturparkim Süden Simbabwes, die Nilpferde am Ufer des Sam-besi in Sambia oder Mosambik, die Brachvögel in denFeuchtgebieten in Deutschland.Die biologische Vielfalt im Tropenwald als Gott seiDank noch nicht total erschlossene Quelle von Grund-stoffen für die Medizin bleibt nur erhalten, wenn dieNutzung mit den notwendigen artenerhaltenden Maß-nahmen erfolgt.
Hier geht es um qualitativ abgesicherte Programme, dieinternational abgestimmt sind.In der Vergangenheit ist viel Geld auch für immerwieder ähnliche Forschungsprojekte ausgegeben wor-den. Wir brauchen ergebnisorientierte Projekte. Dabeigeht es um Qualität statt Quantität, lieber Kollege Caesar. Das von Minister Trittin in der Regierungserklä-rung genannte Beispiel der Förderung einer langfristigtragfähigen Nutzung der Teufelskralle, einer Trocken-gebietspflanze mit einer kostbaren Wurzel, eines wichti-gen Rohstoffes für Anti-Rheumamittel, zeigt die richtigeRichtung.Artenschutz geschieht auch dadurch, dass in unserenarten- und naturnah geführten zoologischen und botani-schen Gärten bedrohte Tier- und Pflanzenarten betreutund gepflegt werden. Viele Erkenntnisse, die dabei ge-wonnen werden, helfen heute schon mit, die Maßnah-men im Rahmen des Artenschutzes zu verbessern.Eine Fülle von direkten und indirekten Maßnahmenist nötig und möglich, damit die Eingriffe des Menschenin Naturprozesse nicht zu einer Zerstörung der Lebens-grundlagen und -räume vieler Arten führen. IntensiveLandwirtschaft und chemische Schädlingsbekämpfungbringen natürliche Kreisläufe aus dem Gleichgewicht.Bautätigkeit und Verkehr führen nicht nur oft zur weite-ren Trockenlegung von Feuchtgebieten, sondern lassenden Menschen immer weiter in intakte Lebensräumeeindringen, die tief greifend verändert oder gar zerstörtwerden. Dazu kommt die mit der Ausbreitung des Zivilisati-onsraumes einhergehende Faunenverfälschung. Haus-tiere werden zur Konkurrenz und schleppen Krankheits-erreger ein. Fehlgeleitete und profitgetriebene Sammler,die vielleicht auch nur um ihr Überleben kämpfen, plün-dern Nester und stellen aus Tieren Souvenirs und obsku-re Heilmittel her, wenn sie nicht sowieso nur auf delika-tes Fleisch und exotische Felle aus sind.Wir müssen uns nur immer wieder klarmachen: Werdie Einnahmen zum Beispiel aus dem Elfenbeinhandelin einzelnen armen Ländern aus Artenschutzgründeneinschränken will, muss dafür Sorge tragen, dass dieEntschädigungsfrage ernst genommen wird.
Wer ökologisch wertvolle Gebiete als Kulturerbe derWeltgemeinschaft begreift und entsprechende Beschlüs-se fasst, muss auch die ökonomische Seite der Medailleberücksichtigen.Wer den Tropenwald weltweit als Lunge für die rei-chen Industierländer erhalten will, muss auch die Kos-tenseite für die Sauerstoffbehandlung ins Auge fassen.Ich bestärke daher die Bundesregierung und auch dieengagierten Akteure in den Nichtregierungsorganisatio-nen, sich weiterhin für Maßnahmen zur Erhaltung derArtenvielfalt einzusetzen, wie es im Falle des Schutzesder Elefanten auch schon wieder geschehen ist, wieMinister Trittin bereits angedeutet hat.Es müssen auch gesetzliche Maßnahmen ergriffenwerden, um die Jagd zu kontrollieren, die Lebensräumezu schützen, den Handel mit bedrohten Arten zu unter-binden. Dazu gehören natürlich auch Rahmenbestim-mungen für eine ökologisch verträgliche Landwirtschaftund Umweltrichtlinien, die die Erhaltung der Artenviel-falt berücksichtigen. Gleichzeitig müssen die Aktivitätenunterstützt werden, die die Pflege einzelner Beständezum Ziel haben.Artenschutz, liebe Kolleginnen und Kollegen, kannnur funktionieren, wenn vor Ort konkrete Schritte unter-nommen werden. Wir können unsere Lebensgrundlagennur dann erhalten, wenn wir auch in armen undden ärmsten Ländern Anreize schaffen, behutsam mitReinhold Hemker
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8782 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Lebensraum umzugehen. Dazu ist das Artenschutzüberein-kommen ein Rahmen. Die Implementierung muss gera-de auf der Ebene nationaler Gesetzgebung erfolgen, dienur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn die Rücksicht-nahme auf den Garten, den Oikos, der ganzen Mensch-heit nicht durch das Leiden eines Teils der Menschheitbezahlt werden muss.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dem von derStiftung Entwicklung und Frieden herausgegebenenBand „Globale Trends“ verweisen Tanja Brühl und UdoErnst Simonis auf die besondere Bedeutung des Arten-schutzes im Rahmen anderer wichtiger Bausteine wieOzon, Klima, Biodiversität, Wüste und Meere für eineglobale Weltumweltpolitik:Zukünftig gilt es daher, die bestehenden Instrumen-te auszubauen, neue Institutionen zu schaffen und insbesondere die Interaktion der verschiedenenEbenen zu verstärken und besser zu koordinieren.Der Artenschutz ist Teil einer wichtigen weltökologi-schen Orientierung und hat, auch wenn manche es nichtwahrhaben wollen, eine große ökonomische Bedeutung.Vorgeschlagen wird dafür eine Weltorganisation fürUmwelt und Entwicklung als Sonderorganisation derVereinten Nationen. Diese neue Institution soll zumin-dest das UN-Umweltprogramm, die Kommission fürNachhaltige Entwicklung und die relevanten Konventi-onssekretariate, also auch das für Artenschutz, integrie-ren. Wir merken also, liebe Kolleginnen und Kollegen,dass die heutige Debatte in einen größeren, einen globa-len Zusammenhang hineingehört. Ich gehe davon aus,dass sie wichtige Anregungen gegeben hat und nochgibt.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache. Wir kommen zur Abstimmung.Zunächst stimmen wir über den Antrag der Fraktio-nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur dauerhaf-ten Sicherstellung des Schutzes der Wale auf Drucksa-che 14/2985 ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig ange-nommen.Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Wiederherstellungdes Verbots des Elfenbeinhandels auf Drucksa-che 14/2986. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist ge-gen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis c und 14sowie Zusatzpunkt 4 auf – es handelt sich um Überwei-sungen im vereinfachten Verfahren – ohne Debatte –:22 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten RolfKutzmutz, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luftund der Fraktion der PDS eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Um-satzsteuergesetzes – Drucksache 14/2386 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demRotterdamer Übereinkommen über das Ver-fahren der vorherigen Zustimmung nach In-kenntnissetzung für bestimmte gefährlicheChemikalien sowie Pflanzenschutz- undSchädlingsbekämpfungsmittel im internatio-nalen Handel vom 10. September 1998 – Drucksache 14/2919 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten c) Beratung des Antrags der Präsidentin des Bun-desrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für dasHaushaltsjahr 1999 – Einzelplan 20 – – Drucksache 14/2868 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss14. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überprüfungskonferenz zum Nichtverbrei-tungsvertrag zum Erfolg führen – Drucksache 14/2908 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger AusschussZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlLamers, Peter Weiß , Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU Den Stabilitätspakt Südosteuropa mit Lebenerfüllen – Drucksache 14/2768 – Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen, wobei die Vorlage auf Drucksache 14/2386
zusätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden soll.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Die Vorlage auf Drucksache 14/2768 soll zurfederführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschussund zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuss,den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hil-fe, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung und den Ausschuss für die Angelegen-heiten der Europäischen Union überwiesen werden. Gibtes dazu weitere Vorschläge? – Das ist offensichtlichnicht der Fall.Damit sind sämtliche Überweisungen so beschlossen.Reinhold Hemker
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8783
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis i auf. Eshandelt sich um abschließende Beratungen ohne Aus-sprache.Tagesordnungspunkt 23 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 4. August 1995 zur Durchführung der Bestim-mungen des Seerechtsübereinkommens derVereinten Nationen vom 10. Dezember 1982über die Erhaltung und Bewirtschaftung vongebietsübergreifenden Fischbeständen undBeständen weit wandernder Fische – Drucksache 14/2421 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
– Drucksache 14/2815 – Berichterstattung: Abgeordneter Holger OrtelDer Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undForsten empfiehlt auf Drucksache 14/2815, den Gesetz-entwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 23 b: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabili-sierung des Mitgliederkreises von Bundes-knappschaft und See-Krankenkasse – Drucksache 14/2764 –
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktionder CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreisesvon Bundesknappschaft und See-Kranken-kasse – Drucksache 14/2904 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 14/2997 – Berichterstattung: Abgeordneter Eike HovermannDer Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Druck-sache 14/2997, die gleich lautenden Gesetzentwürfe zu-sammenzuführen und unverändert anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf aufDrucksachen 14/2764 und 14/2904 zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 23 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Pass- und Personalausweis-rechts – Drucksachen 14/2726, 14/2888 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/2993 – Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Erwin Marschewski
Cem Özdemir Dr. Max Stadler Petra PauIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegen-stimmen der PDS-Fraktion angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ange-nommen.Tagesordnungspunkt 23 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union zu demEntschließungsantrag der Fraktion der PDS zuder Abgabe einer Erklärung der Bundesregie-rung zu den Ergebnissen der Sondertagungdes Europäischen Rates in Tampere am15./16. Oktober 1999 – Drucksachen 14/1854, 14/2702 – Berichterstattung: Abgeordnete Hedi Wegener Michael Stübgen Peter Altmaier Claudia Roth
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Manfred Müller
Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantragauf Drucksache 14/2702 abzulehnen. Wer stimmt fürVizepräsidentin Petra Bläss
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8784 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen dieStimmen der PDS-Fraktion angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 23 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 135 zu Petitionen – Drucksache 14/2923 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 135 ist bei Enthaltungder PDS-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 23 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 136 zu Petitionen – Drucksache 14/2924 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 136 mit denStimmen des gesamten Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 23 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 137 zu Petitionen – Drucksache 14/2925 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 137 gegen dieStimmen der PDS-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 23 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 138 zu Petitionen – Drucksache 14/2926 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 138 ist gegen die Stim-men der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. ange-nommen.Tagesordnungspunkt 23 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 139 zu Petitionen – Drucksache 14/2927 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 139 gegen dieStimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zur Fusion vonDeutscher Bank und Dresdner Bank und zuden öffentlichen Diskussionen über die Folgendieser FusionIch eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für dieFraktion der PDS ist die Kollegin Ursula Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnenund Kollegen! „Was ist der Überfall auf eine Bank ge-gen die Gründung einer Bank?“, so Bertolt Brecht. Waswürde er wohl zur Fusion der Deutschen Bank mit derDresdner Bank sagen? 6 Milliarden DM an Fusionsge-winnen pro Jahr stehen 16 000 abzubauenden Arbeits-plätzen gegenüber. Die Beschäftigten der Dresdner Bank und der Deut-schen Bank sind nicht die Einzigen, die um ihre Ar-beitsplätze zittern. Diese Fusion leitet eine weitere Ver-schärfung der Konkurrenz in der gesamten Branche ein.Auch bei den anderen Banken ist mit Fusionen, Rationa-lisierungen, Schließungen von Filialen und Personalab-bau zu rechnen.Die Gewerkschaften HBV und DAG stellen zu Rechtfest, dass die alten Instrumente wie Sozialplan gegen-über diesem Strukturwandel unzureichend sind. Sie wol-len die Interessen der Beschäftigten in einem Fusionsta-rifvertrag mit Standortsicherung, systematischen Quali-fizierungen, Outplacementmaßnahmen und Beschäfti-gungsgesellschaften sichern.
Angesichts der Gewinne der Bank sollten wir hiergemeinsam die Bankenvorstände auffordern, ihrer ge-sellschaftspolitischen Verantwortung gerecht zu werdenund unverzüglich die Verhandlungen aufzunehmen. Auch die Politik muss neue Wege gehen. Eine Erneu-erung wirtschaftlicher Strukturen muss durch Maßnah-men zur Erneuerung der sozialen Demokratie begleitetwerden, damit diese dabei nicht untergeht. Bundeskanzler Schröder hat den Beschäftigten Hilfeversprochen. Die Teilnehmer der Kanzlerrunde zu einergesetzlichen Regelung von Übernahmen haben erklärt,die Interessen der Beschäftigten in angemessener Weisezu berücksichtigen.
Insbesondere bekräftigten sie die besondere Bedeutungder Mitbestimmung. Dies ist ein erfreulicher Fortschrittim Vergleich zu Ihrer Antwort auf unsere Anfrage nachFusionen, in der Sie keinen Anlass sahen, im Rahmenvon Fusionen besondere Maßnahmen zum Schutz derBeschäftigten zu treffen. Nehmen Sie die Verpflichtung zum Abschluss einesFusionstarifvertrages in eine gesetzliche Übernahmere-gelung auf, damit über die Fragen des Arbeitsplatzerhalts,Vizepräsidentin Petra Bläss
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der notwendigen Qualifizierung und des Erhalts sozi-aler Leistungen verhandelt werden kann!
Die betrieblichen Interessenvertretungen, die in denÜbernahmeverhandlungen sehr dringend gebraucht wer-den, müssen auch bei Auslagerungen erhalten bleiben.Und wenn das alles nicht erfolgreich verläuft, soll Ge-werkschaften und Betriebsräten ein Vetorecht einge-räumt werden.Fusionen vollziehen sich international. Deshalb müs-sen auch internationale Regeln vereinbart werden. EineInformation der Betriebsräte, wie sie in der europäischenÜbernahmerichtlinie vorgesehen ist, reicht meinerAuffassung nach absolut nicht aus. Schritte zur Er-neuerung der sozialen Demokratie kämen jedenfalls meinem Verständnis von einem aktivierenden Sozialstaat nahe. An eines möchte ich Sie und alle diejenigen, die nurnoch die Shareholder im Kopf haben, erinnern: Ohne dieBeschäftigten ist keine Aktie auch nur einen Pfifferlingwert.
Doch die Fusion von Deutscher Bank und DresdnerBank geht in ihrer Bedeutung darüber hinaus. Van Miertwarnt aus diesem Anlass vor einer Machtwirtschaft. Über Finanzspekulation, Fondsverwaltung und Investiti-onen wird die gesellschaftliche Entwicklung entschie-den. Mit ihrem Anteilbesitz, ihrem Depotstimmrechtund ihren Aufsichtsratsmandaten kontrollieren dieseBanken viele Betriebe. Die Fusion von Thyssen undKrupp wäre, wie viele andere auch, ohne die DeutscheBank nicht möglich gewesen. Durch die Fusion mit derDresdner Bank steigt die Deutsche Bank endgültig inden Kreis derer auf, die eine Fusionspolitik rund um denGlobus betreiben.
Nach der Bilanzsumme die größte Bank der Welt undnach dem Börsenwert auf Platz drei nimmt die DeutscheBank Abschied von der so genannten Deutschland AG.Der weltweite Konkurrenzkampf im Bankenbereichkonzentriere sich auf den Kampf USA kontra Europa, soNorbert Walter. Weitere Übernahmen sind da nur eineFrage der Zeit.
Hier entsteht Macht über die Lebenschancen von Milli-onen von Menschen, Macht, die sich demokratischerRegulierung weitgehend entzieht. Der Vertreter des DGB-Vorstands, Herr Putzhammer,erklärte, es sei höchste Zeit, die Frage nach einer Ein-schränkung der Bankenmacht in unserem Wirtschafts-system zu stellen. Dazu gehören die Begrenzung derAufsichtsratsmandate, die Überprüfung des Depot-stimmrechts oder die Beschränkung von Beteiligungs-möglichkeiten. Ein Wettbewerbsrecht, das Fusionen nur im Hinblickauf deren Wettbewerbsbehinderung prüft, vernachlässigtdie Aspekte der Machtstellung völlig. Wer sich auf dieFörderung der Wettbewerbsfähigkeit beschränkt – auchwenn dadurch die Demokratie gefährdet wird –, wirdseiner Verantwortung nicht gerecht. Die Diskussion übereine nationale und internationale Fusionskontrolle istdaher dringend erforderlich.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Klaus Lennartz.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die angekündigteMammutfusion zwischen Deutscher Bank und DresdnerBank ist die zeitgemäße und richtige deutsche Antwortauf die Globalisierung der Finanzmärkte. Durch diesenZusammenschluss steigt das Deutsche-Bank-Unterneh-men zum Tabellenführer in der europäischen und welt-weiten Liga auf. Wer darin etwas Schlechtes sehen will,verkennt, dass Großfusionen in einer weltumspannendenWirtschaft unvermeidbarer Bestandteil eines notwendi-gen Strukturwandels sind. Insofern zeugt der laute Ruf der PDS nach „Schrankenfür Banken“ nicht nur von Unkenntnis wirtschaftlicherZusammenhänge, sondern auch von einem fast marxis-tisch geprägten Weltbild, das sich beim Stichwort „Ka-pitalisierung“ geradezu reflexartig gegen Globalisierungund Internationalisierung stemmt.
„Fusionen statt Illusionen“ kann ich Ihnen da nur ant-worten; denn Sie kämpfen wie der Ritter von der trauri-gen Gestalt gegen Windmühlen. Vor lauter Schwarzse-herei bleiben Ihnen die Chancen, die mit solchen Fusio-nen für den Finanzplatz Deutschland verbunden sind,absolut verborgen.
Die deutsche Wirtschafts- und Finanzbranche befin-det sich in ihrem größten Umstrukturierungsprozess seitdem Jahre 1948. Zum einen befinden wir uns weltweitam Anfang einer langen, technologieorientierten Auf-schwungphase, wobei das Internet, die Nano- und dieBiotechnologie die Schlüsseltechnologien sind. Hierverdrängt das Neue massiv das Bestehende. Zum ande-ren setzen sich jetzt kapitalmarktgetriebene Wirtschafts-formen durch, die die Unternehmen zu einer gnadenlo-sen Restrukturierung ihrer Geschäfte zwingen.Die Stichworte lauten: Produktivität, Effizienz, Inno-vation, Wachstumsstärke und globale Wettbewerbsfä-higkeit. Wir befinden uns inmitten einer organisato-rischen Evolution. Dabei dürfen wir uns nicht vom in-ternationalen Kapitalmarkt abschotten. Dieser Marktachtet gnadenlos auf Rendite und wachsende Kurse. Da-bei sind für mich und für uns Kapital und Gewinn keineSchimpfwörter. Mit der Fusion haben sich beide Bankenzu Führern und nicht zu Getriebenen einer unvermeidli-chen Bewegung gemacht.Ursula Lötzer
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Es ist doch natürlich, wenn sich historisch gewachse-ne Systeme immer wieder durch Wettbewerb auf ihreZukunftsfähigkeit prüfen lassen müssen. Hierbei ist esfür uns beruhigend zu wissen, dass Deutschland – wie indiesem Falle – über große und exzellente Leistungsträ-ger verfügt. Die Bankenverschmelzung stärkt den Fi-nanzplatz Deutschland, was ich ausdrücklich begrüße.Aber die Rationalisierungsmaßnahmen – in diesemPunkt gebe ich Ihnen mehr als Recht – sind der Wer-mutstropfen. Rund 14 500 Arbeitsplätze sind betroffen.Das Gebot der Stunde muss daher lauten: Stellenumbaustatt Stellenabbau. Dies müssen sich die Vorstände derBanken merken; auch das ist ein Gebot der Stunde. Ne-ben der Gewinnorientierung gibt es noch die sozialeVerpflichtung.
– Das ist Ihre Auffassung. Ablehnung allein reicht nichtaus. Wir müssen kreativ mitgestalten und mitwirken.Dabei hilft das Übernahmegesetz.
Wir wissen doch alle, dass es gerade im Bankgewer-be mehr als genug gut ausgebildete und qualifizierte Ar-beitskräfte gibt. Es gibt viele neue, unbesetzte Stellen inder Branche, sei es im expandierenden Internet-Bankingoder auch im Investmentfondsbereich. Hinzu kommt:Die neue Größe schützt beide Banken vor Übernahmenund gibt der neuen Bank wiederum bessere Chancen,andere Banken zu übernehmen. Die neue Größe bedeu-tet aber auch einen Sicherheitsfaktor für die Arbeitneh-mer, da dadurch das Unternehmen seine Wettbewerbs-fähigkeit verbessern und Marktchancen ausbauen kann.Für die Sparkassen und Genossenschaftsbanken be-deutet der Zusammenschluss der Großbanken eine großeChance, sich noch stärker als bisher den Privatkundenund der mittelständischen Wirtschaft zu widmen. DieStellung der Sparkassen- und Genossenschaftsorganisa-tionen wird im Wettbewerb unseres Bankensystemsdurch die Fusion wichtiger denn je.Fusionen sind grundsätzlich nicht zu beanstanden, so-fern der Wettbewerb nicht leidet. Es müssen aber Rege-lungen hinsichtlich der Transparenz für die Aktionäreund hinsichtlich eines fairen Verfahrens für die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen werden. DieBundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfrakti-onen werden dabei sicherstellen, dass es bei der Formu-lierung des Übernahmegesetzes zu keiner Beeinträchti-gung der bestehenden Vorschriften für Arbeitnehmer-rechte insbesondere zur Mitbestimmung und zum Kün-digungsschutz geben wird. Bei Bankenfusionen dieser Größenordnung ist es un-vermeidlich, dass eine qualitative Bankenaufsicht einge-führt wird –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
– das mache ich –, die nicht
nur vom Schreibtisch aus die Eigenkapitalquote kontrol-
liert. Sie muss in der Lage sein, diesen neuartigen Risi-
ken entgegenzusteuern. Daher ist es zu begrüßen, dass
die Verhandlungen zu den Basler Beschlüssen die quali-
tative Bankenaufsicht vorantreiben. Die Basler Be-
schlüsse dürfen aber nicht dazu führen, dass sich die
Kreditfinanzierung des Mittelstandes gegenüber Groß-
unternehmen verschlechtert. Der Mittelstand ist der Mo-
tor für Investitionen und Innovationen in Deutschland.
Vor diesem Hintergrund sind Pläne des Basler Aus-
schusses für Bankenaufsicht abzulehnen, die Eigenkapi-
talunterlegung unserer mittelständischen Unternehmen
nur durch ein internes Rating zu bewerten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, wir
sind in der Aktuellen Stunde. Ich muss Sie noch einmal
an Ihre Redezeit erinnern.
Ich bin sofort fertig.
Meine Damen und Herren, die Fusion von Deutscher
Bank und Dresdner Bank ist ein wichtiges Signal für
Deutschland. Der sich dabei abzeichnende Wandel ist
unumgänglich und birgt viele Chancen. Wer in Tradition
und Skepsis verharrt, überlässt der ausländischen Kon-
kurrenz kampflos das Feld. Denn, meine Damen und
Herren, wer nicht innoviert, verliert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Lennartz!
Ist es nicht gerecht, ist es
schlecht.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte noch
einmal alle Kolleginnen und Kollegen bitten, in der Ak-
tuellen Stunde auf die Redezeit zu achten. Ich finde es
unfair, wenn Sie immer wieder neu ansetzen. Sie selbst
wissen, dass es schwer ist, zum Ende zu kommen, wenn
man im Redefluss ist. Ich denke aber, wir sollten Rück-
sicht aufeinander nehmen.
Der nächste Redner ist Friedhelm Ost für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Frau KolleginLötzer, ich verstehe gut, dass Sie die Aktuelle Stundebenutzt haben, um noch einmal Steinzeitargumente zuservieren: Macht der Banken, Macht des Kapitals. WennSie Karl Marx richtig gelesen hätten, dann hätten Sieauch nachsehen können, wem die Banken heute gehö-ren. Da hätte er eine große Freude bei so vielen Hundert-tausend Aktionären, auch Kleinaktionären, die Renditesehen wollen. Als Vertreterin der HBV, die Sie seit langerKlaus Lennartz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8787
Zeit sind – ich habe das gerade nachgesehen –, hät-ten Sie einmal das Bankenabenteuer der BfG nachvoll-ziehen können. Das heißt, wer nicht rechtzeitig schaltet,kommt rasch unter die Räder. Sie hätten vielleicht sagenkönnen, dass man bei der BfG froh war, dass sie von ei-ner schwedischen Bank übernommen wurde. Ich selber glaube – Kollege Lennartz hat dies zuRecht gesagt –, dass die Globalisierung, der technischeFortschritt und die neuen Technologien es erforderlichmachen, dass wir in der Wirtschaft insgesamt und damitin der Kreditwirtschaft zu neuen Formen kommen, na-türlich zu großen Fusionen. Ich will das nicht kleinschreiben. Die Fusion der Deutschen Bank und derDresdner Bank ist schon eine Megafusion, die viele überrascht hat. Ich glaube, wir werden noch mancheÜberraschung erleben. Ich hoffe, dass sie so positiv sindwie hier.Es ist richtig, dass wir auch politisch mahnen müssen,dass beim Abbau von Filialen und damit von Arbeits-plätzen möglichst soziale Verfahren gewählt werden.Wenn Sie sich einmal den Katalog ansehen, den IhreKolleginnen und Kollegen der HBV mit den Bankvor-ständen von Deutscher Bank und Dresdner Bank ausge-handelt haben, dann stellen Sie fest, dass sogar jemand,der noch eine neue Lehre machen will – nachdem erBankkaufmann gelernt hat und Schreiner werden will –,dies finanziert bekommt. Wenn ein Viertel der 14 500Arbeitnehmer, die freigesetzt werden, IT-Spezialistensind, dann können wir sogar noch über eine Reduzierungder Zahl der Green Cards sprechen. Wenn Sie sich ein-mal erkundigen – Sie wollen immer Anwalt des Proleta-riats sein –, zum Beispiel beim Arbeitsamt, und arbeits-lose Bankangestellte suchen, so stellen Sie fest, dassman sie gar nicht findet. Sie werden nicht vermittelt,weil es sie gar nicht gibt. Ein gut qualifizierter Bankan-gestellter ist in mittelständischen Betrieben willkom-men, zum Beispiel in der Kreditabteilung oder der Fi-nanzierung. Da habe ich gar keine Sorgen. Wenn Sie sich einmal mit dem Megamarkt des Gel-des – allein in Deutschland gibt es ein privates Geld-vermögen von 6 Billionen DM – und mit ernsthaftenStudien beschäftigen, zum Beispiel des FERI-Institutesaus Bad Homburg, das sich für Debis, damals die Toch-ter von Daimler-Benz, mit dem Schwerpunkt der Dienst-leistung beschäftigte, dann stellen Sie fest: Bis zum Jah-re 2010 werden rund 200 000 neue Mitarbeiterinnen undMitarbeiter im Bereich der Finanzdienstleistungen, derprivaten Vermögensberatung gesucht. Wahrscheinlichmuss die Zahl angesichts der Misere im Rentensystemnoch erhöht werden. Deshalb sollte man hier sehen, dassriesige Chancen bestehen, dass wir durch die Fusion einFinanzinstitut bekommen, das auf dem globalen Fi-nanzmarkt mithalten kann, gerade auch zum Nutzendeutscher Unternehmen, großer Transaktionen, die wirerleben wollen. Mir selber wäre nicht so wohl gewesen, wenn etwadie Deutsche Bank von einer amerikanischen Bank ge-schluckt worden wäre. Dann hätten Sie wahrscheinlichnoch einmal eine Aktuelle Stunde beantragt, aber da hät-ten wir gar nichts machen können.Es ist mir also schon lieb, wenn die Deutsche Bankmit der Dresdner Bank zusammengeht und hier ja auchein geordnetes Verfahren im Auge hat. In den nächstendrei Jahren wird es zur Zusammenlegung von Filialenkommen. In den nächsten drei Jahren will man die Sy-nergieeffekte erzielen, die notwendig sind, weil die Leu-te sonst kein Kapital geben. Auch Kleinaktionäre wolleneine Rendite für ihr eingesetztes Kapital sehen. Ich weißnicht, inwieweit Sie von der PDS da schon Aktien ha-ben, aber wahrscheinlich setzen Sie auch auf Verzinsungund wollen nicht sozusagen einen Sozialbeitrag leisten.
Deswegen glaube ich, dass das Ganze sowohl für un-sere Volkswirtschaft gut ist als auch für den FinanzplatzDeutschland oder auch für den Finanzplatz Europa; esist gut für Wachstum und Beschäftigung. Die Versor-gung mit Bankdienstleistungen wird gut bleiben. Wirhaben das dichteste Bankennetz überhaupt in der Welt.Ich glaube, nur in Spanien gibt es – pro Kopf gerech-net – mehr Bankenstellen. Aber sonst sind wir hier füh-rend.Es wird auch weiter einen harten Wettbewerb geben.Wir haben im Kreditgewerbe ein ideales System mit denBanken: mit den privaten Banken, mit den öffentlich-rechtlichen Landesbanken, die teilweise recht groß oderzu groß geworden sind, mit den Sparkassen, mit denGenossenschaftsbanken und mit den vielen freien Fi-nanzdienstleistern und Vermögensberatern, sodass Siesehr gut versorgt sind. Ich glaube, Sie werden keine Nothaben. Außerdem kommen neue Technologien wie etwadas Internet, das Online-Banking und Ähnliches.Ich stimme dem Kollegen Lennartz zu, was die Kon-trolle anbetrifft. Wir müssen sehen, dass die nationaleKontrolle ausgedient hat. Die europäische Kontrollemuss so schnell wie möglich kommen. Ich selber binauch der Meinung, wir müssen über neue Formen derBankenkontrolle international nachdenken. Das kann ei-ne wichtige Aufgabe unseres neuen Mannes beim IWF,von Horst Köhler, sein, der darin viel Erfahrung hat.Vielen herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Margareta Wolf.Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kol-leginnen und Kollegen! Herr Ost, nichts gegen KarlMarx. Karl Marx hat gesagt: Das Kapital ist ein scheuesReh. Ich glaube, vor diesem Hintergrund muss man dieFusion als eine ganz normale, eine natürliche Anpassungan wechselnde Strukturen der Märkte verstehen. Fusionen, Frau Kollegin Lötzer, bieten in der Regelviele Chancen für Beschäftigung und Innovation und siestärken die Wettbewerbsposition auch des MarktesDeutschland.Friedhelm Ost
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8788 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Es war schon immer eine Forderung der Linken indiesem Land – wenn ich das so sagen darf –, dieDeutschland AG mit entsprechenden Instrumenten aus-einander brechen zu wollen. Nun hat der Gesetzentwurfdes Finanzministers der rot-grünen Koalition offensicht-lich dazu geführt, dass dieses Auseinanderbrechen derDeutschland AG in den Köpfen, schon bevor eine steu-erliche Entlastung in Aussicht steht – wie das bei Dresd-ner Bank und Deutscher Bank der Fall ist –, tatsächlichvollzogen wird. Von daher finde ich diese Klas-senkampfparolen, die Sie hier heute präsentiert haben,wenig hilfreich. Ich glaube, wir als Politiker müssenauch der Tatsache begegnen, dass natürlich viele Men-schen in diesem Land Angst vor Fusionen haben, Angstvor Arbeitsplatzverlust.
Da finde ich es nicht hilfreich, verehrte Kollegin, wennSie hier den Fusionstarifvertrag einführen. Sie wissen,dass wir im Bündnis für Arbeit im Bundeskanzleramtüber ein Übernahmegesetz geredet haben, dass derDGB, dass der Europäische Gewerkschaftsbund dorteingebunden ist, dass wir den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern gleiche Rechte geben wollen wie auchden Kleinaktionären. Sagen Sie, dass Sie keine Bünd-nispartner für Ihre Position haben! Sie machen den Leu-ten etwas vor und ich glaube, gerade in diesen schwieri-gen Zeiten brauchen wir Vertrauen in diese Entwick-lung. Wir müssen auch einen Teil der Verantwortung fürdiese Entwicklung übernehmen, meine Damen und Her-ren.Frau Kollegin Lötzer, wenn ich einmal den HerrnKlotz von der IG Metall zitieren darf – ich bitte Sie, sichdas genau anzuhören –, der sagt: „Die Arbeit von immermehr Menschen wird es sein, Daten in Wissen zu ver-wandeln. ... Das Management des Faktors Wissen wirdviel bedeutsamer als pure Firmengröße.“ Das heißt, Sie sind genauso wie wir alle in diesemHause gefordert, die Menschen in diesem Land fit fürdie Zukunft zu machen, fit für die Innovationen zu ma-chen, fit für die Herausforderungen der Globalisierungzu machen und nicht so zu tun, als wollten wir zurück inunseren Nationalstaat, zu seinen Handlungsmöglich-keiten und als wollten wir um Deutschland einen Gar-tenzaun ziehen.
Genau dies ist überhaupt keine Lösung und zeigt nur,wie strukturkonservativ Sie tatsächlich sind.Es geht um einen Innovationswettbewerb, einen Wis-senswettbewerb und einen Qualifikationswettbewerb indiesem Land. Die Menschen in diesem Land sind dafürfit. Wir müssen sie nur noch etwas fitter machen. Ichhätte mir auch von der HBV und der DAG gewünscht,dass sie den Faktor Qualifikation nicht erst jetzt in demHaustarifvertrag, sondern schon sehr viel früher einge-führt hätten. Dann wären wir jetzt etwas besser gerüstetund bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wä-re nicht so viel Misstrauen entstanden. Aber ich glaube, man kann in der Tat sagen, dass die-se Bankenfusion in vielerlei Hinsicht revolutionär ist.Die Tatsache, dass sich mit der Allianz, der größtenVersicherung in Deutschland, der Münchner Rück, derDeutschen Bank und der Dresdner Bank die vier größtenPlayer der Finanzbrache offensichtlich bereit erklärt ha-ben, Unternehmensbeteiligung abzugeben und sich zuentflechten, um sich auf ihre eigentlichen Geschäfte zukonzentrieren, bedeutet für uns einen wesentlichenSchritt weg von der Deutschland AG hin zu mehr Wett-bewerb, perspektivisch zu mehr Arbeitsplätzen und zumehr marktwirtschaftlichen Prinzipien. Das wurde auchschon von Herrn Lennartz und Herrn Ost gesagt. Ichglaube, wir sind uns in der Analyse relativ einig. Eswerden neue Arbeitsplätze entstehen, im Internet-Ban-king, im Direct-Banking und auch in der Beratung. Esgibt erhebliche Qualifikationsmängel im Bereich der Fi-nanzdienstleister, der Wirtschaftsprüfer; das wissen Siealle. Hier muss ausgebildet werden. Ich denke, wir soll-ten diese Debatte konstruktiv und nicht destruktiv füh-ren.
Lassen Sie mich in dieser Debatte noch einen letztenAspekt erwähnen, den ich für maßgeblich halte. Ichglaube, dass die Fusion der Deutschen Bank und derDresdner Bank auch die Bedeutung des Filialnetzes derSparkassen und der Genossenschaftsbanken in der Flä-che unterstreicht. Wir gehen davon aus, dass die Europä-ische Kommission die Beschwerde der Bankenvereini-gung der EG gegen die Gewährträgerhaftung bei den öf-fentlich-rechtlichen Kreditinstituten nunmehr sehr zu-rückhaltend verfolgen wird. Ich glaube, dass durch dieFusion der beiden großen Banken ein Trend verstärktwird, der sich schon in den letzten Jahren ablesen ließ,nämlich dass das Mittelstandsgeschäft und das Geschäftder Privatkunden in der Zukunft bei den öffentlich-rechtlichen Banken geführt werden wird. Das ist eineChance für die Öffentlich-Rechtlichen, eine Chance fürden Mittelstand in Deutschland, eine Chance für ver-stärkte Beratung in der Fläche in Deutschland. Ich glau-be, dass man sagen kann, dass die Öffentlich-Recht-lichen somit wieder viel mehr in die Nähe eines öffentli-chen Auftrages rücken und sich insofern die Klage dereuropäischen Privatbanken bei der Kommission in Brüs-sel quasi ad absurdum führt. Ich würde mir das wün-schen. Ich glaube, dass es gerade im Beratungsbereichder öffentlich-rechtlichen Banken ein Arbeitsplatzange-bot geben wird.Zusammengefasst: Ich würde mir wünschen, dass wirfraktionsübergreifend keine Angstmacherei betreiben,sondern zusammen mit den Gewerkschaften und denArbeitgebern überlegen, wie man Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer fit für diese Herausforderung, vor dieuns die Globalisierung stellt, machen kann, anstatt hierganz billige Polemik zu betreiben und noch mehr Angstin diesem Land zu produzieren, als schon vorhanden ist.Danke schön.
Margareta Wolf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8789
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die Fusion der beiden Großbankenund das, was wohl noch an weiteren Zusammenschlüs-sen in dieser Branche folgen könnte, verunsichert Kun-den, vor allem kleine und mittlere Unternehmen. Weildas Konzept des neuen Finanzriesen nun einmal vor al-lem auf internationales Investment-Banking und dieBetreuung großer Vermögen setzt – Privatkunden ab200 000 DM, Geschäftskunden ab 5 Millionen DM; dieanderen werden quasi auf die Billigschiene verwiesen –,bleiben einige Fragen offen.
– Das ist eine Zweiklassenstruktur.
– Das ist Ihre Auffassung! Oder sprechen Sie hier fürdie Deutsche Bank?Wie viele Filialen, wie viele Kundenberater werdenwegfallen? Wer berät in Zukunft die Privatkunden? Werübernimmt die Beratung und Finanzierung kleiner undmittlerer Unternehmen? Die absehbare Schließung vonFilialen in der Fläche bringt den mittelständischen Un-ternehmen Schwierigkeiten. Der Existenzgründer, derzusätzliche Kredite braucht, der Bäckermeister, der eineneue Filiale aufmachen will, oder der Fuhrunternehmer,der seinen Fuhrpark erweitern möchte, alle verlierenmöglicherweise ihre vertrauten Ansprechpartner vor Ort.Es ist ein Problem, dass es vor Ort den betreuendenPartner nicht mehr gibt, sondern dass irgendwo in Düs-seldorf oder Frankfurt in der 84. Etage jemand nachBranchenanalysen, standardisierten Bewertungen dannzu einem Vorhaben entweder Ja oder Nein sagt.
Auch der Wegfall eines Wettbewerbers stärkt die Po-sition des mächtigen Kreditgebers gegenüber den klei-nen Unternehmern. Es ist leicht vorhersehbar: Kredit-verhandlungen werden eher schwieriger und die Finan-zierungskosten werden eher steigen. Das ist die eine Sei-te der Medaille.Auf der anderen Seite liegt hier eine große Chancefür Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Dank ihresflächendeckenden Filialnetzes und des Vorhandenseinskompetenter Berater vor Ort können sie stärker ins Pri-vatkundengeschäft und in die Mittelstandsfinanzierungeinsteigen.Die Sparkassen können aber ihre Rolle nur finden,wenn endlich das Problem der Landesbanken, die mitt-lerweile eine ähnliche Strategie wie die großen Ge-schäftsbanken verfolgen, gelöst wird. Zu Recht sind dieLandesbanken für Brüssel ein wettbewerbspolitischerStein des Anstoßes. Deren Rolle muss endlich von derder Sparkassen bei der Versorgung der Fläche getrenntwerden. Die Sparkassen müssen von einer belastendenDiskussion befreit werden. Dann erst können sie ihreUnternehmensstrategie voll auf die neuen Chancen aus-richten. Hier müssen noch einige Landesfürsten über ihreSchatten springen. Die lokale Drohung von Ministerprä-sidenten aus Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist hier nicht hilfreich.
Das Schnüren großer Pakete durch die Politik verhin-dert die notwendige Anpassung der Bankenlandschaftund gefährdet die Kreditversorgung des Mittelstandes.Nicht die Sparkassenlandschaft steht zur Disposition,sondern die Politisierung der Landesbanken.Es muss sich im Wettbewerb zeigen, ob die mittel-ständischen Kunden das Angebot an Direktbanken bzw.das klassische Filialkonzept von Genossenschaftsbankenoder Sparkassen mehr annehmen. Ohne das Thema wei-ter zu vertiefen: Der konsequente Weg führt zu einerPrivatisierung der Landesbanken. Dies ist eine Diskus-sion, die gerade durch die besonders enge Verquickungzwischen einer Landesbank und einer Landesregierungganz neuen Auftrieb gefunden hat; denn mit jeder Priva-tisierung senken wir das politische Unfugpotenzial, dasin öffentlichen Unternehmen steckt. Man muss denFunktionären ihr Spielzeug wegnehmen.
Mit der Megafusion der beiden deutschen Bankenrie-sen entsteht die größte Geschäftsbank der Welt mit einerBilanzsumme von 2,1 Billionen Euro. Die gesamten Zu-sammenschlüsse aller Unternehmen im Jahre 1998 hat-ten einen Wert von 2,1 Billionen Dollar, um nur einmaldie Dimension zu verdeutlichen, um die es hier geht. Eines vorweg: Der Wettbewerb wird nach meinerEinschätzung durch den Zusammenschluss zwischenDresdner Bank und Deutscher Bank weder national nochinternational gefährdet. Aber das Ganze macht dochdeutlich: Wenn zwei Marmeladenfabriken in Deutsch-land fusionieren, gilt ein relativ gut funktionierendesKartellrecht und das Wort der Kartellbehörde. Auf euro-päischer Ebene ist dieses Recht schon wesentlich weiter.Weltweit gibt es gar nichts. Hier ist der Bundeswirt-schaftsminister gefordert, tätig zu werden und nicht nurLudwig Erhard zu zitieren, sondern das alles konkret zupraktizieren.
Ich habe immer die mahnenden Worte des ausge-schiedenen Kartellamtspräsidenten Wolf im Ohr, dereinmal sagte, die gemeinschaftliche Kontrolle des Welt-marktes durch wenige Konzerne sei nicht mehr fern.Man muss dies bei der ordnungspolitischen Begleitungdieser Prozesse mit beachten. Hier haben wir eine Asymmetrie: je größer, je internationaler, desto wenigerpräventiver Wettbewerbsschutz. Das kann so auf Dauernicht bleiben. Hier besteht Handlungsbedarf.Positiv sehe ich dabei, dass sich die Anteilseigner auf5 Prozent wechselseitiger Beteiligung begrenzen. Eswar immer meine Auffassung, dass dies eine ungute
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8790 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Vermengung ist: hohe Anteile an Unternehmen und Indus-triebesitz und eben die Funktion der Bank. 5 Prozent isteine vertretbare Größenordnung und eine erste Reaktionauf die politische Diskussion. Aber ich halte es weiterhin für erforderlich, dass wirprüfen, ob Kontrollfunktionen von Aufsichtsräten nichtnoch einer besseren Handhabung bedürfen. Der Holz-mann-Fall hat deutlich gemacht, dass es nicht in Ord-nung ist, wenn eine Institution gleichzeitig Kontrolleurund Kreditgeber ist, Depotstimmrecht besitzt und nochKontrolleur im Aufsichtsrat ist. Das ist eine Verqui-ckung von Funktionen, die nicht in Ordnung ist. Deshalbsind wir für wirksame Fusionskontrolle, Transparenz,Schutz von Minderheitsaktionären und fairen Umgangmit den Mitarbeitern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium
für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
S
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein-mal muss man sagen, Frau Kollegin Lötzer, wir helfenweder den Kunden noch den Beschäftigten mit Muse-umsstrukturen. Wir müssen uns auf leistungsfähige Ein-heiten einstellen. Deshalb sieht die Bundesregierung indieser Fusion insgesamt eine Chance, den Finanz- undBankenplatz Deutschland im weltweiten Vergleich zustärken. Das möchte ich vorweg sagen, damit darüberKlarheit herrscht. Ich glaube, dass wir mit alten Struktu-ren bzw. mit Strukturkonservatismus in Zeiten funda-mentaler Veränderungen niemandem helfen, weder denBeschäftigten noch den Kunden, noch denjenigen, diemittelbar mit den Banken zu tun haben.Meine Damen und Herren, dies ist ohne Zweifel eineder bedeutendsten Fusionen überhaupt. Wenn man siesich ein wenig genauer anschaut, erkennt man, dass auchdie Banken selber Erkenntnisse gewonnen haben, die sievor Jahren vielleicht noch nicht hatten. Ich kommegleich noch auf die Themen Wettbewerb und Beteili-gung zu sprechen. Wenn nämlich die beiden Bankenvor-stände in einer gemeinsamen Erklärung sagen, dass dieneue Deutsche Bank mit der Fusion eine aktive Rolle ander Spitze der Konsolidierungsbewegung in der Ban-kenbranche wahrnimmt, zeigt das, dass es offensichtlichStrukturen gibt, die konsolidierungsbedürftig sind. Es istganz eindeutig: Wenn man auf dem Weltmarkt eine Rol-le spielen will, dann braucht man eine internationalhandlungsfähige Bank. Deshalb sehen wir in dieser Fu-sion eine Chance, den Banken- und FinanzplatzDeutschland zu stärken. Es gibt drei Aspekte, die wir sehr genau im Auge be-halten werden. Der erste ist die Frage, wie mit den Men-schen verfahren wird. Es sind ja sehr viele Menschenbetroffen. Herr Brüderle hat eben von einem fairen Um-gang gesprochen. Die Bundesregierung hält einen fairenUmgang in dieser speziellen Situation für dringend ge-boten. Es gibt nämlich auch Möglichkeiten, sich recht-zeitig auf einen Strukturwandel einzustellen, beispiels-weise indem man bereits im Unternehmen durch Um-schulungen und Weiterbildung aktiven Strukturwandelbetreibt. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn mansich sehr viel früher und schneller auf Online-Bankingund andere Herausforderungen eingestellt hätte, auchwenn das Tempo sehr hoch ist. HBV und DAG haben inden letzten Jahren übrigens durchaus auf Qualifikatio-nen, Weiterbildung und Umschulungen gedrängt. Dasheißt, wir hoffen sehr, dass dieser Strukturwandel sozialgestaltet wird, die Menschen mitgenommen werden undman ernsthaft über neue Arbeitsplätze, Umschulungenund Weiterbildung im Unternehmen nachdenkt. An dieser Stelle möchte ich gerade auch nach Ge-sprächen mit der HBV sagen, dass sie nicht grundsätz-lich gegen Fusionen ist, vielmehr erst die genauen Plänekennen lernen und auch gerne am Integrationsprozessbeteiligt werden möchte, um betriebsbedingte Kündi-gungen zu verhindern. Erste Integrationsteams sind be-reits gebildet worden, an denen auch DAG und HBV be-teiligt sind. Die Gewerkschaften sind also nicht dieStrukturkonservativen. Es geht vielmehr darum, dassman einen fairen Umgang mit den 16 000 betroffenenMenschen organisiert und dabei auch dafür sorgt, dasseine sozial akzeptable Lösung gefunden wird. Hierfür istPrävention gefordert.Ich komme auf einen zweiten Punkt zu sprechen: denMittelstand. Wir werden ihn sehr genau im Auge behal-ten. Es ist doch völlig klar, dass die Mittelstandsfragefür uns eine Schlüsselfrage ist. Man muss nämlich wis-sen, dass der Mittelstand heute ein zentrales Problemhat, nämlich das Finanzierungsproblem. Deshalb haltenwir die Basler Richtlinien sehr genau im Auge. Wirwerden darauf drängen, dass internes Rating möglich istund nicht allein externes Rating verlangt wird. Das istteuer und für den Mittelstand kaum darstellbar. Wirwerden darauf drängen und im April im Wirtschaftsaus-schuss darüber ja auch ausführlich reden, denn das isteine Schlüsselfrage für den Erfolg des Mittelstandes. Man muss allerdings auch wissen, dass die Privat-banken überhaupt nur einen Anteil von 8 Prozent beiHandwerkskrediten haben.
– Hören Sie einmal eine Sekunde zu. – Die Großbankensollte eigentlich alarmieren, dass sie nur einen Anteilvon 12 Prozent an Existenzgründungen haben.
Es gibt natürlich viele Genossenschaftsbanken, Sparkas-sen und andere Institute auf dem Finanzmarkt. Es zeugtvon einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft –das finde ich gut –, dass genau in diese Lücke hineinjetzt auch Genossenschaftsbanken und Sparkassen vor-stoßen.
Rainer Brüderle
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8791
Genau dies muss auch passieren. Wir brauchen nämlicheine aktive Unterstützung des Mittelstandes in Finanzie-rungsfragen. Dafür sind Sparkassen, öffentlich-recht-liche Banken und Genossenschaftsbanken genau dierichtigen Partner. Ich halte es nicht für glücklich, wennheute kommuniziert wird, dass man Private, die unter200 000 DM auf dem Konto haben, oder Geschäftskun-den mit weniger als 4 Millionen DM herausnimmt. Diesmüssen die Banken mit sich selber ausmachen. Ich kannnur sagen: Wer so kommuniziert, der wird den andereneine große Steilvorlage geben.
Die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken werdengenau in diesen Bereich hineingehen. Ich komme zu einem dritten Punkt. Das ist die Frage,die auch wichtig ist, nämlich die Wettbewerbskontrolle.Herr Brüderle, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen,dass das, wenn man sich den relevanten Markt anschaut,im nationalen Markt keine dramatische Frage in Bezugauf diese Fusion ist, weil die beiden nur einen 10-Prozent-Anteil haben. Aber es ist wahr: Wir stellenuns auf eine globale Weltwirtschaft ein. Also müssenwir den relevanten Markt in einem größeren Zusam-menhang sehen. Deshalb stellt sich die Frage: Wie können wir es ord-nungsrechtlich hinbekommen, dass Wettbewerbskon-trolle in unserem Sinne, im Sinne der sozialen Markt-wirtschaft, auch in Europa funktioniert? Wie können wirWettbewerbskontrolle organisieren, die dann auchweltweit funktioniert? Ich bin kein Anhänger einesWeltkartellamtes, weil ich glaube, dass zusätzlichetransnationale Organisationen nicht unbedingt hilfreichsind. Was wir aber zumindest brauchen, sind internatio-nal abgestimmte Konventionen, die zwischen verschie-denen Kartellämtern kooperativ angegangen werdenmüssen.
Da haben wir bisher noch nichts oder doch zu wenig.Deshalb ist das ohne Zweifel eine der wichtigsten Zu-kunftsfragen überhaupt. Wenn sich die soziale Markt-wirtschaft sozusagen weltweit etabliert, in einem welt-wirtschaftlichen Zusammenhang agiert, brauchen wirdafür einen angemessenen Ordnungsrahmen. Der fehltheute noch. Deshalb werden wir nicht nachlassen, indiesem Sektor besonders aktiv zu sein.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss kommen. Ich glaube, dass wir keinen Anlasshaben, auf solche Fusionen ängstlich oder mit Angst-kommunikation zu reagieren. Denken Sie einmal eineSekunde darüber nach – auch Frau Lötzer –, was pas-siert wäre, wenn dieser Strukturwandel nicht aktiv ange-gangen worden wäre. Was wäre eigentlich aus derDresdner Bank geworden? Das wäre doch der klassischeÜbernahmekandidat für andere gewesen. Es ist wirklichso: Wer zu spät kommt, den bestrafen die Märkte. Des-halb sind aktives Handeln, aktiver Strukturwandel, eineVorwärtsstrategie allemal besser. Ich persönlich habesogar den Eindruck, dass es eher ein bisschen spät ist,wie im Bankensektor operiert wird, wie man sich hiernational auf den Weltmarkt einstellt. Da hätte man sichetwas Früheres vorstellen können. Deshalb noch einmal: Wenn wir keine alten Schlach-ten schlagen wollen, sondern den Menschen ernsthafthelfen wollen und uns als Politik nicht überheben wol-len, muss man sagen: Es gibt eine große Chance. Wirdrängen auf Fairness. Wir wollen, dass die Menschen indiesem Prozess des Strukturwandels nicht untergehen.Deshalb drängen wir auf Fairness. Wir drängen auchdarauf, dass man bei diesem Strukturwandel die Arbeit-nehmer mitnimmt und sie in den Integrationsteams ge-stalten lässt. Wir werden natürlich dafür sorgen, dass wireinen Ordnungsrahmen bekommen, der den neuen He-rausforderungen der Weltwirtschaft gerecht wird.Ein letzter Satz: Herr Brüderle, Sie können sich erin-nern. Sie hatten in einer anderen Funktion, noch alsWirtschaftsminister des schönen Landes Rheinland-Pfalz, eine Bundesratsinitiative zur Begrenzung der Be-teiligungen gestartet. Sie ist damals leider von der altenBundesregierung abgelehnt worden. Offensichtlich sinddie Akteure heute klüger als die alte Bundesregierung,denn heute ist bei der Allianz und der Deutschen Bankeine 5-Prozent-Begrenzung vorgenommen worden. Ichfinde, es ist der richtige Weg, diese Begrenzung vorzu-nehmen. Ich kann nicht verstehen, warum man damalsHerrn Brüderle so hat im Regen stehen lassen. Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Hans Michelbach für die Fraktion der
CDU/CSU.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Die CDU/CSU-Fraktion steht für eine Stärkung undFortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft. In diesemSinne begleiten wir die aktuellen Entwicklungen unsererWirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Hierzu gehörtdie Globalisierung der Märkte, die mehr Chancen undVorteile als Risiken und Nachteile entwickeln kann.Allerdings: Mit diesem Prozess der Globalisierungverbinden viele Bürger Probleme und Sorgen, insbeson-dere die Sorge über die Zukunft des Mittelstandes. Mei-ne Damen und Herren, diese Sorgen und Probleme müs-sen wir ernst nehmen. Die Politik hat dabei die Aufgabe,einen funktionierenden Wettbewerb
und vor allem Chancengerechtigkeit
zu garantieren. Probleme, Herr Kollege Lennartz, dürfennicht zugekleistert werden.Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
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8792 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Welche Ausgangslage haben wir? Die immer engereVerflechtung der Märkte ist ja zunächst das Ergebnisenormer Innovationsschübe, resultierend aus der Ent-wicklung der Informations- und Kommunikationstech-nik. Dabei hat der globale Wettbewerb die Suche nachneuen und besseren Lösungen sicher ungeheuer be-schleunigt. Dieser Wettbewerb kann ein gigantischerMotor für Fortschritt und Wohlstand sein. In diesemSinne ist auch diese Megafusion sicher zu akzeptieren.Sie ist ein Reflex auf die veränderten Standort- undStrukturbedingungen. Angesichts der Größenordnung istEuphorie aber sicher fehl am Platze. Dabei muss es dasRollenverständnis der Politik sein, auf die Einhaltungder sozialen Marktwirtschaft, die Wettbewerbsgleichheitund die Auswirkungen auf unsere demokratische Gesell-schaft zu achten.Folgende Kriterien halte ich deshalb für wichtig:Chancengleichheit am Markt, keine einseitige direkteEinflussnahme auf die Politik, Überprüfung der Indus-triebeteiligungen auf eine marktbeherrschende Stellung,kartellrechtliche Überprüfung des deutschen Finanz-marktes durch die bundesdeutsche Kartellbehörde, Überprüfung der Auswirkungen auf die Finanzierungmittelständischer Unternehmen, der gemeinschaftswei-ten Bedeutung durch die Fusionskontrollbehörden derEuropäischen Kommission, der sozialen Verantwortunggegenüber den Arbeitnehmern und nicht zuletzt – das istfür mich eine Kernfrage – der Frage, ob für die Megafu-sion Finanz- und Steuergeschenke des Staates benötigtwerden. Weder die wettbewerbsverzerrenden Subventionenfür Philipp Holzmann noch einseitige Steuergeschenkefür große Kapitalgesellschaften sind gerecht und dienender Akzeptanz unserer sozialen Marktwirtschaft. Dieeinseitige Begünstigung durch die rot-grüne Regierungin der Steuerpolitik darf eben nicht zum Fusionsfieberund zur angeheizten Konzentrationsförderung
zulasten anderer Marktteilnehmer, insbesondere desMittelstandes führen.
So ist durch die Bundesregierung vorgesehen, den Ver-äußerungsgewinn von Kapitalgesellschaften steuerfreizu stellen, jedoch den – meist mittelständischen – Perso-nengesellschaften den vollen Steuersatz zuzumuten. Istdas chancengerecht?
Das ist ein willkürlicher und ungerechter Eingriff in dieMarktbedingungen, der zu ökonomischen und wett-bewerbsrechtlichen Verzerrungen führt. Es kann dochnicht sein, Herr Lennartz, dass Herr Großbank in Frank-furt seine Veräußerungsgewinne unversteuert verein-nahmt und Herr Handwerker in Frankfurt seinen Veräu-ßerungsgewinn voll versteuern muss.
Auch die einseitige Begünstigung des nicht entnom-menen Gewinns wird eine weitere Konzentrationswellenach sich ziehen. Die Kapitalgesellschaften, die ihrenGewinn nicht ausschütten, werden weitere Beteiligun-gen erwerben, um eine steuerschädliche Ausschüttungzu vermeiden. Eine solche Ungleichbehandlung undChancenungerechtigkeit lehnen wir von der Unionsfrak-tion ab.Zur Rückbesinnung auf die Grundlagen der sozialenMarktwirtschaft gehört für uns eben auch die Rückbe-sinnung auf die ethischen Grundlagen. Die sozialeMarktwirtschaft lebt von den Werten, Überzeugungenund Grundeinstellungen jedes Einzelnen.
– Wenn Sie an dieser Stelle dazwischenrufen, liebe Kol-leginnen und Kollegen von Rot-Grün, muss ich Ihnensagen: Seit Ihrer Regierungsbeteiligung haben Sie IhreSensibilität für die wichtigen Fragen der Marktwirt-schaft offenbar an der Garderobe abgegeben.
War früher ein normaler wirtschaftspolitischer Vorgangfür Sie absolutes Teufelszeug, verantworten Sie heute inder Steuerpolitik eine einseitige Förderung zugunstender Konzentration der Wirtschaft, die eine ganzheitlicheKonzeption der Ordnungspolitik vermissen lässt. Rot-Grün geht den wirtschaftspolitischen Weg vom Teufels-zeug zum vorauseilenden Gehorsam.Eine dauerhafte Verbeugung Ihres Bundeskanzlersvor den Konzernpalästen ist absolut kontraproduktiv fürdie soziale Marktwirtschaft.
Wir haben die Auffassung, dass die Väter der Markt-wirtschaft stets gegen eine Konzentration der Wirtschaftwaren. Damit haben sie letzten Endes mehr Wettbewerb,mehr Mittelstand und eine breite Förderung aller Markt-teilnehmer erwirkt. Das einseitige Faible Ihres Kanzlersfür Großbetriebe als „Genosse der Bosse“
dient nicht der Unternehmenskultur und der Erhaltungdes Wettbewerbs in Deutschland. Er sucht den Glanz derGröße. Dagegen sind wir nicht für die Diskriminierungdes Mittelstandes, sondern für die Förderung aller Un-ternehmen gleichermaßen sowie für Wettbewerbs- undChancengerechtigkeit in unserer Marktwirtschaft.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8793
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mehrere Dinge sind heute hier angesprochen worden.Ich möchte mit der Bankenfusion anfangen. Ich glaubewirklich, Frau Lötzer, wir alle tun weder den betroffe-nen Mitarbeitern der jetzt fusionierenden Banken nochanderen Banken und Firmen am WirtschaftsstandortDeutschland einen Gefallen, wenn wir die Entscheidung,vor der beide Banken objektiv gestanden haben, in derArt und Weise abqualifizieren, wie Sie es tun, und wennwir einseitig Ängste wecken. Ich persönlich denkedurchaus – deshalb fange ich damit an –, dass die 16 000Stellen, die abgebaut werden sollen, ein sehr ernstesThema sind. Es ist auch ein sehr ernstes Thema, wennBanken in Deutschland meinen, sie könnten ihre Kunden in zwei Klassen einteilen: Die einen sind bei derDeutschen Bank oder bei einer anderen gern geseheneKunden; die anderen Kunden möchte man nach Mög-lichkeit loswerden bzw. bei einer „Bank light“ oder beieiner Retail-Bank unterbringen. Mir bereitet die Art undWeise, wie das diskutiert wird, schon Probleme und Un-behagen. Das andere Thema bereitet mir aber noch mehr Un-behagen, nämlich dass sich eine Reihe von Menschen,die gerade einmal im Alter von 40 bis 45 Jahren sind,mit ihren Familien sehr ernsthafte Sorgen darüber ma-chen, was sie am Ende der Fusion eigentlich gewinnenoder verlieren. Das ist nach Einschätzung der Bundesre-gierung einer der Hauptpunkte, über den wir uns Ge-danken machen müssen. Es geht nicht, dass man die beiuns ablädt, frei nach dem Motto: Die Großbanken ma-chen die Fusion und die Politik kümmert sich um dieVerlierer.
– Genau, das geht nicht. Das muss an dieser Stelle klargesagt werden.
Es kommt darauf an, dass sich die neue DeutscheBank in dem Fusionsprozess zukunftsgewandt verhält.Die Deutschen werden immer älter: In 20 Jahren ist dieHälfte aller Arbeitnehmer älter als 40 Jahre. Es ist alsoeine Herausforderung für ein Unternehmen wie dieDeutsche Bank, für die Mitarbeiter, die man an einer be-stimmten Stelle nicht mehr braucht, andere Angebote zuschaffen und dafür zu sorgen, dass sie so ausgebildetsind, dass sie am neuen Markt eine Chance haben. Ichglaube auch, dass die meisten Bankmitarbeiter nicht dieabsoluten Verlierer auf dem Arbeitsmarkt sein werden.Aber es ist die Aufgabe der Unternehmen, dafür zu sor-gen, dass das auch eintritt.
Dennoch werden für den Standort Deutschland weite-re Fusionen nach dem Vorbild der jetzigen Fusion un-abwendbar sein. Das hängt damit zusammen, dass dieFiletstücke der beiden jetzt fusionierenden deutschenBanken aufgekauft worden wären, wenn sie nicht selberfusioniert hätten. Die Dresdner Bank war ein klassischerÜbernahmekandidat. Es gibt noch weitere klassischeÜbernahmekandidaten unter den deutschen Banken,Stichwort „Commerzbank“. Wenn Sie sich die Kapital-renditen anderer großer Banken der Welt anschauen –nehmen Sie TS Lloyds als Paradebeispiel –, dann wissenSie, dass auch solche Banken verlieren, wenn sie sichnicht neu ordnen. Wenn es keine Neuordnung gibt, dannläuft die wirtschaftliche Entwicklung – das ist in ande-ren Branchen schon passiert; ich sage nur IT – amStandort Deutschland vorbei.
Wir brauchen in Deutschland, insbesondere in Frank-furt, starke Banken. Ohne diese starken Banken wirdFrankfurt nicht der zentrale Finanzplatz in Deutschlandbleiben können. Wir haben eine Riesenchance, weil dieEngländer der Meinung sind, dass sie den Euro nichtbrauchen. Deutschland hat mit dem Bankenplatz Frank-furt eine Stärke. Aber diese Stärke bleibt nur erhalten,wenn auch die deutschen Banken bereit sind, sich derneuen Entwicklung anzupassen. Insoweit ist der Schrittrichtig, den man mit der jetzigen Fusion geht. Es wurde auch schon das Thema der Entflechtungangesprochen. Wir sind uns alle einig darüber, dass esvernünftig ist, dass Allianz, Deutsche Bank und Dresd-ner Bank nicht verworren miteinander verflochten sindund dass man versucht, unterhalb einer 5-prozentigenBeteiligung zu bleiben. Ich weiß nicht, ob sich die Deut-sche Bank einen Gefallen damit getan hat, ausgerechnetso ein Filetstück wie DWS an die Allianz abzugeben.Der Aktienkurs scheint zu zeigen, dass diese Entschei-dung nicht so toll war. Aber der entscheidende Punkt ist:Diese Entflechtung ist richtig. Die Bundesregierungsorgt mit ihren Vorschlägen zur Steuerreform dafür,dass das Geld nicht irgendwo liegen bleibt und dass sichdie Unternehmen auf das Geschäft konzentrieren, vondem sie eine Ahnung haben.
– Herr Michelbach, es nützt weder mir noch dem Stand-ort Deutschland etwas, wenn die deutschen Unterneh-men ihre alten Beteiligungen behalten, weil sie fürchten,bei einem Verkauf Steuern zahlen zu müssen, und ihrKapital nicht in die neuen Märkte investieren.
Es geht nicht nur um die Frage, inwieweit sich Deut-sche Bank und andere große deutsche Banken an mittel-ständischen Unternehmen beteiligen, sondern auch da-rum, wann sie bereit sind, in den neuen Markt in einervernünftigen Form zu investieren. Hier ist Deutschlandhintendran.
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8794 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Ich kann Ihnen zu Herrn Rüttgers und zur CSU nureines sagen: Ihre Politik der Angst- und Panikmache gegen die von uns beabsichtigte Einführung einerGreen Card, die wesentlich wichtiger als viele andereMaßnahmen ist, auch wichtiger als ein bisschen niedri-gere Steuern für die Entwicklung des neuen Marktes,führt genau dazu, dass Deutschland an dieser Stelle zumVerlierer wird. Ich wünschte mir, dass Herr Rüttgers im Wahlkampfdas sagt, was er als Minister auch mir persönlich gesagthat, nämlich dass er für die Einführung der Green Cardist. Als so genannter Zukunftsminister war er überhauptnicht dagegen, sondern hat eine völlig andere Politikgemacht. Ich wünschte mir von der CSU, die sich hinge-stellt hat und gesagt hat, sie wolle Laptop und Lederhosemiteinander in Verbindung bringen, dass sie endlichaufhört, bei den Menschen Ängste zu wecken.
Der Standort Deutschland braucht eine kompletteNeuordnung. Dazu gehört, dass die Banken sich neuordnen. Dazu gehört auch, dass wir am neuen Markt ei-ne Chance haben und somit nicht die Verlierer sind.Ferner gehört dazu, dass die Europäer insgesamt einSelbstbewusstsein entwickeln, und dazu gehört vor al-lem, dass die Opposition aufhört, bestimmte politischeHandlungen der Bundesregierung in kleinkarierter Wei-se derart kaputtzureden, wie Sie das tun.
CSU]: Da hat doch niemand etwas dagegen!Dazu brauchen wir aber keine Steuergeschen-ke zu machen!)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als nächste Rednerin
hat das Wort die Kollegin Dr. Christa Luft, PDS.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Der Vorgang, den wir hierdebattieren, ist nicht nur spektakulär, sondern von seinengesellschaftsverändernden und insbesondere sozialenKonsequenzen her höchster politischer Aufmerksamkeitwert.
Da kann man, Herr Kollege Lennartz, nicht einfachsagen: „Unter Globalisierungsbedingungen ist das mitden Fusionen nun einmal so!“ Dann könnte sich die Po-litik gleich abmelden,
wenn sie immer nur das nachvollziehen würde, was inder Wirtschaft und auf den Märkten vorgegeben wurde.
Natürlich, Frau Kollegin Wolf, ist es wichtig, dass Poli-tik Mut macht. Aber bevor Politik Mut machen kann,muss sie die Fakten zur Kenntnis nehmen. Dies hat nochnichts damit zu tun, dass man Strukturkonservatismusbetreibt oder Ängste schürt. Ich will hier nur zwei Fakten ansprechen. Erstens. Esist doch unübersehbar, dass eine Finanzweltmacht imEntstehen ist. Nun können die einen sagen: Das ist dochschön für den Standort Deutschland. Aber ich sage: Wirmüssen doch zumindest ein anderes Faktum zur Kennt-nis nehmen, nämlich dass die Größe eines Unterneh-mens zugleich politische Macht bedeutet. Was passiertdenn eigentlich, wenn ein solcher Koloss ins Schleuderngerät? Dann entstehen offenbar viele neue „Holzmän-ner“, nur im Großformat. Dies wird weiter zulasten vonkleinen und mittleren Wettbewerbern gehen.
„Die Zeit“ aus Hamburg hat kürzlich gefragt: Welcher Bundeskanzler geht nicht ans Telefon,wenn ihn der Vorstandsvorsitzende der größtenBank der Welt nur mal so anruft?
Welcher Finanzminister greift nicht zum Hörer,wenn der Vorstandsvorsitzende einer großen Bankdie Politik des Bundes mit einem Fragezeichen ver-sieht? Geht der Bundeskanzler auch ans Telefon, frage ich,wenn ein Sparkassenchef anruft? Geht der Bundeskanz-ler auch ans Telefon, wenn ein Mittelständler anruft?Im Übrigen: Wenn hier ein solches Hohelied auf dieSparkassen gesungen wird – ich stimme in dieses Hohe-lied ein –, frage ich mich, ob es zu der Einsicht hinsicht-lich der Rolle der Sparkassen und der öffentlich-rechtlichen Banken erst dieser Großfusion bedurfte.
Ich kann mich daran erinnern, dass in Sachsen diePrivatisierung der Sparkassen läuft. Dies hat in der Poli-tik bisher keinerlei Aufsehen erregt.
Ich bin schon dafür, dass wir uns darauf einigen, dieRolle der Sparkassen zu festigen. Dazu bedurfte es abernicht dieser Großfusionierung.
Zweitens. Wir dürfen ein weiteres Faktum, wie eshier bereits anklang, nicht außer Acht lassen. Wir habenim deutschen Bankensystem eine bis dato unvorstellbareVeränderung zur Kenntnis zu nehmen. Das neue Institutwird sich auf das internationale Investment-Bankingkonzentrieren und den Sparern mit Einlagen von weni-ger als 200 000 DM über kurz oder lang den Stuhl vordie Tür setzen. Künftig soll man einen Sparer, der übergewisse finanzielle Ressourcen verfügt, daran erkennen,welche Scheckkarte er in der Hand hat. Wohin sind wirMatthias Berninger
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denn gekommen? Muss das nicht politische Aufmerk-samkeit erfahren?
Das sind doch unwägbare Entwicklungen. Ich mussmich dagegen wehren, dass Sie immer alles gleich alsChance und nur als Chance betrachten. Es gibt auch an-dere Tendenzen und denen muss ich politisch begegnen.Die Chancen setzen sich von alleine durch, indem dieMenschen die Chancen ergreifen. Die Politik dagegenhat die Aufgabe, vor den Risiken nicht nur zu warnen,sondern die Weichen so zu stellen, dass sich die Chan-cen tatsächlich für alle entwickeln können.
Um diesen unwägbaren Entwicklungen einen sozial-verträglichen Ausweg zu bahnen, fordert die PDS – ei-nige dieser Forderungen sind zu meinem Erstaunen auchvon der rechten Seite dieses Hauses gekommen – ge-setzliche Maßnahmen, damit Fusionen nicht zu Arbeits-platzvernichtungsprogrammen werden. Die Interessender Beschäftigten sind stärker zum Maßstab zu machen,wenn Großkonzerne entstehen. Der Mensch darf – dasmuss man doch einmal sagen dürfen – nicht auf eineHumanressource schrumpfen, die ersetzt wird, wenn siesich nicht mehr rechnet.Wir fordern, darauf hinzuwirken, dass im Bankenwe-sen freigesetzte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmermit informations- und telekommunikationsnahen Beru-fen für die IT-Branche nachqualifiziert werden. Wir for-dern, die Existenzberechtigung des öffentlich-recht-lichen Bankensektors, also auch der Sparkassen, zu ak-zeptieren. Die Politik muss sich dazu öffentlich beken-nen, damit der Mittelstand und die Fläche auch künftigangemessen mit Finanzdienstleistungen versorgt werdenkönnen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Pläne zurSteuerbefreiung bei der Veräußerung von Beteiligungs-paketen der Banken und Versicherungen zu korrigieren.Wir fordern, dass in der Europäischen Union durch dieBundesregierung Initiativen zur Schaffung eines europä-ischen Kartellrechts ergriffen werden.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Rainer Wend für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!Herr Ost, natürlich haben Sie Recht, wenn Sie der PDSvorwerfen, dass sie nur eine Angstkampagne schürenwill, um Wählerstimmen zu gewinnen. Natürlich habenSie Recht, wenn Sie ihr Vulgärmarxismus vorwerfen.Dazu muss ich Ihnen aber Folgendes sagen: Wenn Sieschon der PDS Vulgärmarxismus vorwerfen, müssen SieIhren geschätzten Kollegen Michelbach mit seinenVorwürfen, Schröder sei der Genosse der Bosse oder
unser Steuerrecht würde die Monopolisierung der Wirt-schaft fördern, als einen lupenreinen Vertreter der Kritikam staatsmonopolistischen Kapitalismus bezeichnen.
Ich glaube, dann werden die Positionen von PDS undHerrn Michelbach deutlich. Aber auch in der Sache, Herr Michelbach, liegen IhreÄußerungen daneben. Sie sagen, durch unsere Steuerre-form würden die Großbetriebe begünstigt. Das Gegenteilist richtig, Herr Michelbach. Richtig ist: Wir wollen,dass der Eingangsteuersatz von 24,9 auf 19,9 Prozentgesenkt wird. Wir wollen, dass der Steuerfreibetrag er-höht wird. Das sind Maßnahmen, die vor allen Dingenkleinen Handwerksbetrieben helfen, die zum großen Teilzu versteuernde Gewinne von weniger als 50 000 DMpro Jahr erzielen.
Sie konzentrieren sich auf den Spitzensteuersatz, ver-ehrter Herr Michelbach. Dessen Senkung hilft ebennicht den Handwerksbetrieben. Sie hilft den Vermögen-den. Deswegen ist unsere Steuerreform an den kleinenLeuten orientiert, sehr geehrter Herr Michelbach.
Herr Brüderle, ich bin Ihnen für Ihren differenziertenBeitrag sehr dankbar, dem ich in ganz großen Teilenfolgen kann. In einem Punkt kann ich ihm nicht folgen.Darin geht es um die Landesbanken. Das wird Sie abernicht sonderlich überraschen, Herr Brüderle. Ich sageIhnen eines: Mittelstandsorientierung ist wichtig. Aberwie viele mittelständische Betriebe, wie viele Arbeits-plätze in mittelständischen Betrieben gäbe es heuteschon lange nicht mehr, wenn nicht die Landesbankendie Verantwortung wahrgenommen hätten, der Wirt-schaft Strukturhilfen zu geben, um Arbeitsplätze im Mit-telstand zu retten? Deswegen brauchen wir auch in Zu-kunft starke Landesbanken, Herr Brüderle.
Ich teile die Auffassung der Bundesregierung undhoffe, dass wir Recht bekommen, dass die Chancen ge-genüber den Risiken dieser Operation im Wesentlichenüberwiegen. Auf die Arbeitsplätze wurde hingewiesen.Ich möchte nur noch eines hinzufügen: Auch nach Auf-fassung von HBV und DAG ist es so, dass unabhängigvon dieser Fusion etwa 200 000 von 700 000 Arbeits-plätzen im Bankengewerbe verloren gehen werden. Dasist schmerzhaft. In anderen Ländern ist dieser Prozessbereits vollzogen worden. Wir verlangen, dass dieserArbeitsplatzabbau, der kommen wird, nicht nur sozialverträglich gemacht wird, sondern dass er entwederdurch tarifvertragliche Regelungen, Frau Lötzer, oderDr. Christa Luft
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8796 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
mindestens durch Betriebsvereinbarungen begleitetwird. Nur so sind die Interessen der Beschäftigten an-gemessen zu schützen.
Wenn ich über Risiken spreche, möchte ich noch et-was anderes sagen: Größe allein ist noch keine Erfolgs-garantie; manchmal ganz im Gegenteil, wenn man sichBMW/Rover oder andere ansieht. Nur am großen Radmitdrehen zu wollen ist noch kein Konzept. Je größerein Unternehmen wird – die neue Deutsche Bank wirdriesengroß –, umso größer werden die Anforderungen anden Vorstand, strategische Konzepte heranzuziehen, umsich auf dem Weltmarkt zu behaupten. Das ist eineschwierige Aufgabe.Lassen Sie mich noch einmal etwas zu den Chancensagen:Ein erster Punkt: Die neue Deutsche Bank nimmt inder Tat Abschied vom Charakter einer Universalbank. InZukunft wird das Thema Investmentbank im Vorder-grund stehen, das heißt der Handel mit Aktien, mit fest-verzinslichen Wertpapieren, mit Devisen, ebenso dieBeratung von Firmen bei Börsengängen, Verkäufen oderFusionen.In diesem Investmentbanking-Bereich geben ameri-kanische Großbanken weltweit den Ton an und sogarauf dem heimischen Markt haben sie klare Vorsprüngevor den deutschen Banken. Deswegen glaube ich, dieseFusion ist eine Chance, dass eine deutsche Großbank aufAugenhöhe mit den amerikanischen Investmentbankenin den Wettbewerb gehen kann und das ist gut so.Ein zweiter Punkt zu den Chancen: Weltweit neueGeschäftsfelder, E-Commerce, also der globale Handelüber den weltweiten Daten-Highway, erfordern ver-dammt hohe Investitionen, für die dieses fusionierteGeldinstitut besser gerüstet ist.
Ich glaube, dass im globalen Wettbewerb die neue Deut-sche Bank eben kein Übernahmekandidat ist, sondernihrerseits international Übernahmen mitgestalten kannund auch das ist gut so.Ein dritter Punkt. Es wurden Chancen für Sparkassenund Volksbanken angesprochen. Wir sollten es positivsehen. Wenn unseren Sparkassen und Volksbanken neueGeschäftsfelder im Privatkundenbereich und auch imBereich der mittelständischen und der kleinen Wirt-schaft erschlossen werden – dort sind sie kompetent –,dann ist es gut so, wenn sie auf diesem Weg weiter ge-stärkt werden. Wenn es um Existenzgründungen geht,dann war es nie die Deutsche Bank, die im Vordergrundstand – da hat der Staatssekretär völlig Recht –, sonderndann waren es unsere Sparkassen und Volksbanken. Wirgewinnen also nicht nur einen neuen Global Player, son-dern auch neue Chancen für Volksbanken und Sparkas-sen.Ich fasse zusammen: Die Fusion der Deutschen Bankbildet einen Prozess, den letztlich die Politik gar nichtaufhalten kann und auch nicht aufhalten sollte. Ich hof-fe, unsere Bewertung und auch die Bewertung der Re-gierung ist richtig, dass die Chancen die Risiken über-wiegen und dass der Wirtschaft- und FinanzstandortDeutschland durch diese Fusion gestärkt wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Kolle-
ge Thomas Strobl, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine sozi-alpolitische Fragestellung an den Beginn meiner Aus-führungen stellen.Sind 16 000 wegfallende Arbeitsplätze nicht ein zuhoher Preis für die Hochzeit zwischen Deutscher undDresdner Bank? Allein bei der Deutschen Bank 24 ste-hen mehr als ein Viertel der Jobs auf dem Spiel. Betriebsräte, Gewerkschaften, Sozialdemokratenmüssten eigentlich entsetzt aufschreien.
Indessen: Es zeichnet sich auch heute eine erstaunlichsachliche Auseinandersetzung ab. Das muss ja offen-sichtlich seine Gründe haben.Erstens. Das Bankgewerbe kann es sich leisten, denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern großzügig ent-gegenzukommen. Aber ist es nicht auch so, dass die Be-schäftigten schon seit langer Zeit wissen, dass die Struk-turen im Bankgewerbe wie auch anderswo bereinigtwerden müssen?800 von 2 500 Filialen sollen in den nächsten dreiJahren geschlossen werden. Die Frage ist: Wie viele wä-ren geschlossen worden, wenn die Fusion nicht gekom-men wäre? Wer sagt eigentlich, dass nicht ohne die Fu-sion langfristig mehr Arbeitsplätze auf dem Spiel ge-standen hätten?Bill Gates hat schon vor längerem gesagt:Banking is necessary, banks are not.Also: Das Bankgeschäft ist auch in Zukunft notwendig;die Banken brauchen wir aber nicht mehr. Finanzdienst-leistungen stehen bei dem Gebrauch des Internet inzwi-schen an zweiter Stelle. Damit, ursprünglich auf das In-ternet, erst später auf die Globalisierung zurückgehend,ist die Umstrukturierung auch im Bankenwesen zwin-gend determiniert. Wenn dies wahr ist, ergeben sich andere Fragestel-lungen. Was ist uns lieber, eine globale, internationalhandlungsfähige Investmentbank mit deutschem Namenauf deutschem Boden oder dasselbe mit ausländischemNamen in Amerika mit einer Filiale in Deutschland?Dr. Rainer Wend
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8797
Aber zur Haltung der rot-grünen Bundesregierungmöchte ich schon eine Bemerkung machen. Kollege Michelbach hat richtigerweise darauf hingewiesen, dassdie Großfusionitis durch die Bundesregierung ja außer-ordentlich gefördert wird.Sie müssen schon erklären, warum Sie Veräuße-rungsgewinne nur bei Kapitalgesellschaften und nichtbei Personengesellschaften ab dem Jahr 2001 freistellenwollen.
90 Prozent der Handwerksbetriebe sind eben keineKapitalgesellschaften. Diese werden dadurch, dass Siedie Kapitalgesellschaften ungerechterweise privi-legieren, benachteiligt. Hier sagen wir im Interessekleiner Unternehmen, des Mittelstandes, des Handwerksund letztlich von Arbeitsplätzen: So geht es nicht!
Die rot-grüne Bundesregierung benachteiligt dieKleinen, privilegiert die Großen und begünstigt steuer-lich die Kapitalgesellschaften bei Anteilsverkäufen undwundert sich dann, wenn die Großen immer größer wer-den und die Kleinen und die Mittleren an den Schwie-rigkeiten fast ersticken.
Das können wir Ihnen im Interesse des Mittelstandesnicht durchgehen lassen.
Auf der anderen Seite hat die Frau ParlamentarischeStaatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen aufmeine Frage in der letzten Woche hier im Plenum desDeutschen Bundestages ein Unternehmensübernahmere-gelungsgesetz angekündigt. Herzlichen Glückwunsch!Damit wurde Folgendes angekündigt: Steuergeschenkefür die Kapitalgesellschaften, nichts übrig für den Mit-telstand,
aber weiße Salbe für die Arbeitnehmervertreter, die Lin-ken und die Gewerkschaften und ein neues bürokrati-sches Monstrum. Ich kann Ihnen hier und heute sagen:Ein solches Gesetz im nationalen Alleingang zu machenist ziemlich unvernünftig, ähnlich unsinnig wie die Ein-führung der Ökosteuer im nationalen Alleingang.
Das Ergebnis ist nämlich, dass Deutschland im Ver-gleich zu den Nachbarländern wieder einmal Wettbe-werbsnachteile erleidet. Eine erneute staatliche Regle-mentierung dieser Art gefährdet den Standort Deutsch-land und die Arbeitsplätze in Deutschland.Herr Staatssekretär Mosdorf, Sie haben gesagt, dassman mehr für Kreissparkassen und Volksbanken tunsollte. Ich gebe Ihnen Recht. Sie sollten das aber nichtnur beobachten – auch Frau Wolf hat von Beobachtengesprochen –, sondern angesichts der Tatsache, dass denSparkassen schreckliches Ungemach aus Europa droht,aktiv für unsere Sparkassen eintreten.
Sie sollten ferner dafür sorgen, dass die Gefahren, dieder Mittelstandsfinanzierung drohen, auch dadurch ein-gedämmt werden, dass wir zu einer großen und leis-tungsstarken bundesweiten Förderbank kommen.Zum Schluss möchte ich der Bundesregierung sagen:Hören Sie mit der einseitigen Privilegierung und Bevor-zugung von Großunternehmen und Kapitalgesellschaf-ten auf! Unterstützen Sie die mittelständischen und klei-neren Betriebe im Interesse auch der Arbeitsplätze! Dasist das beste Rezept für mehr Wettbewerb und gegenungute Marktkonzentrationen. Es ist letztlich auch dasrichtige Rezept für mehr Arbeitsplätze. Daran wolltesich der Herr Bundeskanzler jederzeit messen lassen.Allerdings ist zu keinem Zeitpunkt, seitdem die rot-grüne Bundesregierung im Amt ist, hier etwas bessergeworden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Hubertus Heil, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Strobl, esist immer wieder interessant, Ihr Weltbild kennen zulernen. Es war auch heute wieder der gesamte Ge-mischtwarenladen dabei.
Aber was Sie zum Übernahmegesetz erzählt haben,zeugt, mit Verlaub, schlicht und einfach von Unkenntnisder Regelungen, die es in anderen europäischen Länderngibt. Im Übrigen bestehen europaweit Harmonisierungs-bestrebungen. Sowohl Frankreich als auch andere euro-päische Staaten – in Großbritannien gibt es zwar keinGesetz, aber Regelungen – wollen einen breiten Orien-tierungsrahmen, um Übernahmen rechtlich abzusichern.Ich komme darauf gleich zurück.Meine Damen und Herren, die Fusion von Deutscherund Dresdner Bank bewegt die Gemüter nicht nur anden Börsen, sondern auch heute hier. Wir wollen einerealistische Sicht auf die Dinge haben. Wir wollen so-wohl die bestehenden Sorgen ernst nehmen als auch denBlick auf die Chancen nicht verlieren. Das heißt für unsPolitiker, dass wir aufgrund einer solchen AnalyseSchlüsse ziehen müssen und auch Anforderungen an dieneuen Vorstände der fusionierten Bank zu stellen haben.Lassen Sie mich einige Ausführungen zu den Ängs-ten machen, die durch die Fusion entstanden sind. FrauKollegin Lötzer, Frau Dr. Luft, ich bin nicht der Über-Thomas Strobl
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8798 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
zeugung, dass es besonders gut ist, hier Ängste zu schü-ren und ein billiges Süppchen zu kochen. Als diese Fu-sion öffentlich wurde, dachte ich mir schon, dass wir ei-ne Aktuelle Stunde bekommen und die PDS so reagierenwird, wie man es eben erwartet: mit einem pawlowschenReflex, mit dem Sie sozusagen den Untergang des Abendlandes beschreiben. Das zu tun ist natürlich Un-sinn.Trotzdem gibt es bei den Beschäftigten Ängste.
– Sie müssen sich einmal selbst zuhören, dann würdenSie das in Ihren Zwischenrufen feststellen können.
– Ich kann lesen; ich kann aber vor allen Dingen hörenund ich habe vorhin ganz genau zugehört, Frau Kolle-gin. Sie haben das offensichtlich nicht getan.Wie gesagt, die Ängste der Beschäftigten und auchdie der Bankkunden sind ernst zu nehmen; das ist voll-kommen richtig. Privatkunden mit geringen Einlagenbefürchten eine Ausdünnung des Kundennetzes und die – das ist mehrfach gesagt worden – mittelständischenUnternehmen die befürchten zurückgehende Möglich-keiten der Kreditfinanzierung.Zwei andere ordnungspolitische Bedenken sollte mannicht vom Tisch wischen; vielmehr sollte man sich mitihnen auseinander setzen. Es gibt natürlich das Beden-ken, dass durch stärkere Konfrontation auf den Finanz-märkten eine Wettbewerbsgefährdung stattfinden könn-te. Es gibt auch die Befürchtung, dass sich durch stärke-re Verflechtungen Geschäftsrisiken einzelner Bankenzukünftig bis hin zu internationalen Krisen auswachsenkönnen. Diese Bedenken sind tatsächlich vorhanden.Nur, die Alternative ist nicht, einfach „njet“ zu sagen,meine Damen und Herren von der PDS, sondern daraufzu achten, dass man mit diesen Bedenken vernünftigumgeht und Regelungen schafft, mit denen Chancen ge-nutzt und Risiken minimiert werden.
Lassen Sie mich etwas zu den Chancen sagen. Ichhabe von der PDS keinen einzigen Satz zum Thema„Perspektiven und Chancen“ gehört, auch wenn es sie indieser Geschichte offensichtlich gibt. Demgegenübermüssen wir sehen, dass für den Finanzplatz DeutschlandVorteile entstanden sind, die diese Fusion und der Struk-turwandel im Bankenbereich insgesamt mit sich bringt.Deutschland hat durch diese Fusion einen „First Player“auf dem europäischen und auf dem globalen Finanz-markt, der für den internationalen Wettbewerb gutpositioniert ist. Es ist auch nicht zu vernachlässigen,dass der Finanzplatz Frankfurt am Main vor allenDingen gegenüber der Konkurrenz der City of Londongestärkt wird. Was kann man eigentlich dagegen haben?Für den Standort Deutschland ist es auch wichtig,dass mit der neuen Deutschen Bank im Bereich derVermögensverwaltung eine schlagkräftige Assetmana-gement-Bank entsteht. Da die Kollegin Wolf es vorhinschon sehr deutlich gesagt hat, möchte ich nur kurz an-deuten: Es ist auch so, dass die so genannte DeutschlandAG in der Struktur ihrer Querbeteiligungen und Quer-verstrebungen, die wir jahrelang beklagt haben, endlichaufgebrochen wird.Meine Herren von der CDU, uns geht es eben nichtdarum, diese Beteiligungen zu konservieren; vielmehrmüssen wir uns darüber unterhalten, wie man die Struk-turen aufbricht. Die Unternehmensteuerreform ist ein In-strument, um verkrustete, ordnungspolitisch bedenklicheund innovationshemmende Querbeteiligungen aufzubre-chen.
– Herr Kollege Michelbach, Sie haben vorhin so einenUnsinn geredet; deshalb reagiere ich jetzt nicht auf IhrenZwischenruf, zumal mir die Zeit wegläuft. Ich glaube, meine Uhr läuft hier vorne ab. Ist dasrichtig?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben noch ein
bisschen Zeit; aber Sie müssen langsam zum Ende
kommen.
Wir haben an das neu entste-hende Unternehmen bestimmte Erwartungen. Wir er-warten eine partnerschaftliche Steuerung der Fusion, sowie sie angekündigt wurde, wobei die Beschäftigten deskleineren Partners nicht zum Verlierer werden dürfen.Wir erwarten eine sozialverträgliche Umsetzung der Fu-sion. Auch das ist angekündigt. Wir werden da sehr ge-nau hinschauen.
Dazu gehört, dass – wo immer möglich – betriebs- undfusionsbedingte Kündigungen vermieden werden bzw.Möglichkeiten für Beschäftigungszugänge geschaffenwerden. Die Sicherung von Mitbestimmung, Tariftreue unddie Einhaltung der Anforderungen des Betriebsverfas-sungsgesetzes sind für uns ebenfalls unerlässlich.Ich muss deutlich sagen: Wir als Vertreter der Politikhaben natürlich Aufträge aus solchen Entwicklungenmitzunehmen. Dazu gehört, dass wir uns über einen in-ternationalen Ordnungsrahmen Gedanken machen müs-sen.
– Da haben Sie ja einmal etwas Vernünftiges gesagt,Herr Michelbach. Ausnahmsweise: herzlichen Glück-wunsch!Hubertus Heil
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8799
Wir brauchen auf jeden Fall eine bessere Zusammen-arbeit der Kreditaufsichten. Wir müssen uns im Hinblickauf die Bank-Assecurance, die durch die Zusammenar-beit von Allianz und Bank 24 entsteht, darüber unterhal-ten, wie wir Versicherungsaufsicht und Kreditaufsichtbesser miteinander verzahnen. Ich halte das für unerläss-lich.
– Was heißt hier „Hört! Hört?“ Was haben Sie denn inden letzten Jahren in diesem Bereich gemacht? Fehlan-zeige!Zum Schluss, meine Damen und Herren von derPDS: In der wirtschaftlichen Globalisierung, auch in derGlobalisierung der Finanzmärkte, stecken ungeheureChancen für Wachstum und Beschäftigung. Nur wennPolitik für einen neuen Ordnungsrahmen sorgt, dannkönnen wir diese Chancen nutzen. Was Sie machen wol-len, ist, sich vor einen fahrenden Zug zu stellen.
Das ist nicht gesund. Es geht darum, die Weichen fürdiesen Zug vernünftig zu stellen und dafür zu sorgen,dass wir die Chancen der Globalisierung nutzen.
Wir tun das und dabei könnten Sie uns eigentlich unter-stützen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für den Kollegen
Heil und alle anderen Kolleginnen und Kollegen stelle
ich fest: Die Uhr läuft immer ab.
Herr Kollege Gunnar Uldall, Sie sind jetzt der nächs-
te Redner für die CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Das eigentlich Erstaunliche andieser Fusion ist, dass, wenn ich von den Beiträgen vonFrau Lötzer und Frau Luft sowie von kleinen Nuancenabsehe,
im Grunde genommen alle diese Fusion begrüßt haben.Das ist völlig neu. Ich stelle mir vor, was Frau Wolf ge-sagt hätte, wenn sie ihre Rede vor einigen Jahren gehal-ten hätte. Liebe Frau Wolf, damals waren die Großban-ken Ihre Lieblingsgegner.
– Genau, da wären Sie auf die Straße gegangen und hät-ten dagegen gekämpft. Zu erinnern ist auch daran, welche Attacken der heu-tige Staatsminister im Bundeskanzleramt, Herr Bury,hier im Parlament gegen die Verflechtung von Finanz-dienstleistern geritten hat.
Er hätte es damals gar nicht verkraftet, dass es, wie jetztgeschehen, nicht nur zu einer Verflechtung, sondern so-gar zu einer Fusion kommt.
Man sieht: Wenn man einen Dienstwagen erhält, dannsieht die Welt in vielen Bereichen etwas anders aus.
Man kann sich nicht gegen die Entwicklung auf denMärkten und in der Welt stemmen. Es gibt zwei Gründe,weswegen diese Fusion von unserer Fraktion begrüßtwird: Sie ist eine Antwort zum einen auf die zusammen-gewachsenen Weltmärkte und zum anderen auf ein völ-lig anderes Kundenverhalten. Zunächst zu den Weltmärkten. Von meinem KollegenOst ist schon ausführlich geschildert worden, wie sichdie Situation auf den Weltmärkten strukturell veränderthat. Man kann in diesem Zusammenhang sagen: DieseFusion ist keine Aktion, um die Macht der Banken aus-zubauen, sondern eine Reaktion, um deren Position iminternationalen Finanzgeschäft zu sichern. Gegen einesolche vernünftige Reaktion können wir uns vonseitender Politik nicht wenden. Zum Kundenverhalten. Wir können die Kunden nichtveranlassen, sich anders zu verhalten. Heute holt mansich sein Geld nicht mehr am Kassenschalter der Bank,sondern am Automaten. Es gibt das Homebanking, umper Internet Überweisungen vorzunehmen.
Bei Direktbanken kann man seine Wertpapiere kaufen,Herr Kollege Dr. Rössel.
Schecks sind aus dem deutschen Wirtschaftsleben fastverschwunden. Wenn ein solch tief greifender Wandel des Kunden-verhaltens eintritt, dann muss eine verantwortungsvolleUnternehmensleitung natürlich darauf antworten. Das istdurch Zusammenschluss dieser beiden Banken gesche-hen. Nur, eines darf nicht geschehen, nämlich dass diePolitik solche Wandlungen des Verhaltens der Kunden,das zu betriebswirtschaftlichen Konsequenzen führt,versucht zu unterlaufen und zu verbieten.Frau Luft, an diesem Fehler ist damals die Wirtschaftder DDR, gescheitert. Sie haben keinen Strukturwandelzugelassen. Das Ergebnis waren eine hohe Arbeitslosig-keit
Hubertus Heil
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8800 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
und das Fehlen von Konkurrenz sowie die Unfähigkeitder Betriebe der früheren DDR, damit umzugehen. Ei-nen ähnlichen Fehler vermeiden wir nur dadurch, dasswir eine angemessene Reaktion rechtzeitig zulassen.Mehrfach ist der Aspekt des Wettbewerbs angespro-chen worden. Dazu ist festzustellen: Der Wettbewerbauf den Finanzmärkten wird durch diese Fusion nichteingeengt, sondern in den nächsten Monaten und Jahrennoch schärfer werden. Wir haben ein sehr leistungsfähi-ges Sparkassen-, Volksbanken- und Raiffeisenbanken-wesen.
Es gibt Auslandsbanken, die in diesem Wettbewerb mit-halten. Der Marktanteil dieser neuen großen Finanzinsti-tution wird unter 10 Prozent liegen. Das ist ein geringe-rer Marktanteil, als ihn zum Beispiel VW oder Opel ha-ben.
Kein Mensch würde sagen: Weil es in Deutschland einUnternehmen wie VW oder Opel gibt, ist plötzlich derWettbewerb in Deutschland beeinträchtigt. Ich mache mir also hinsichtlich des Wettbewerbesüberhaupt keine Sorgen. Ich glaube, dass der Wettbe-werb weiter an Intensität gewinnen wird, und zwar ineinem solchen Maße, dass es für die Kunden und letzt-lich auch für die Mitarbeiter zu positiven Auswirkungenkommt. Ich meine, dass die Geschäftsführung dieser neuengroßen Bank gut beraten ist, wenn sie versucht, die not-wendige enorme Änderung der Unternehmenskulturzweier gewachsener Unternehmen nicht gegen die Mit-arbeiter, sondern mit den Mitarbeitern durchzuführen.Das wäre positiv für das Unternehmen; es wäre aberauch positiv für die wirtschaftliche Entwicklung inDeutschland insgesamt. Wenn man nämlich zu abruptden Strukturwandel zulässt und durchführt, dann führtdies zu mangelnder Akzeptanz für einen solchen Struk-turwandel. Deswegen liegt es im Interesse der Banken-landschaft insgesamt, dass dieser Strukturwandel in denbetreffenden Unternehmen in einer angemessenen Formdurchgeführt wird.Wir haben jetzt in Deutschland mit Frankfurt den füh-renden Finanzplatz Europas; darauf können wir stolzsein. Dort ist bereits die Europäische Zentralbank. Auchdas größte Bankinstitut der Welt wird dort ansässig sein,was sich nicht nur positiv auf den Finanzmarkt, sondernauch auf alle Unternehmen in Deutschland auswirkt.Deswegen begrüßen wir diese Entwicklung.Ich möchte als Schlusssatz Jürgen Jeske, Mitheraus-geber der „FAZ“, zitieren. Er hat die Situation so zu-sammengefasst: Die neue Bank ist eine europäischeAntwort auf die globalen Herausforderungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Christian Lange
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke,die Aktuelle Stunde zeigt: Das Koordinatensystem vonCDU und CSU ist etwas aus den Fugen geraten. DieDebatte eignet sich offensichtlich nicht mehr so richtigfür Klassenkampf – weder von links noch von rechts.
Auch das ist ein Ergebnis dieser Fusion. Am 1. Juli 2000ist es so weit. Die Fusion ist dann, wie gesagt, eine ge-machte Sache.Der Zusammenschluss der beiden Banken bietet gro-ße Chancen für die deutsche Wirtschaft. Die fusionierteBank wird nun eine starke Rolle auf den internationalenFinanzmärkten spielen. Das, Herr Uldall, können wir inder Tat nur begrüßen. Ich denke, dass dieser Schritt an-gesichts der Entwicklung der Bankenwelt in Asien, inden USA und in Frankreich notwendig war, um mittel-bis langfristig die Wettbewerbsfähigkeit unserer Institutezu sichern. Letztlich wird dieser Zusammenschluss auchzu einer Sicherung des Standortes Deutschland insge-samt beitragen.Die Fusion hat – auf diesen Punkt wurde schon mehr-fach hingewiesen – allerdings auch eine beschäftigungs-politische Dimension. Die beiden Banken beabsichtigen,weltweit 16 000 Arbeitsplätze zu streichen, davon rund14 000 in der Bundesrepublik. Unsere Sorge gilt deshalb– ich sage das an dieser Stelle ganz betont – auch den14 000 Beschäftigten und ihren Familien. Ich appellieredeshalb an die Banken, sich ihrer Verantwortung zu stel-len. Als Sozialdemokrat sage ich den Beschäftigten: Wirsind an Ihrer Seite.
Als einen Schritt in die richtige Richtung werte ichdeshalb die gemeinsame Erklärung der Vorstände beiderBanken gegenüber den Betriebsräten, die Fusion und In-tegration nur partnerschaftlich und letztlich sozialver-träglich voranbringen zu wollen, das heißt: entwederdurch tarifvertragliche Regelungen oder durch Betriebs-vereinbarungen. Auch das ist eine Tatsache, die man bit-te einmal zur Kenntnis nehmen sollte.
Die Banken – ich hoffe: wir alle – haben aus derHolzmann-Affäre gelernt. Auch die Banken müssen sichihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung stellen.Wenn sie das nicht tun sollten, werden wir dafür Sorgetragen. Das zeigt sich darin, dass der Bundeskanzler dieSuche nach einem „Code of Best Practice“ in Form vonCorporate-Governance-Grundsätzen – das Übernahme-gesetz haben Sie selbst schon erwähnt – unterstützt.
Gunnar Uldall
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8801
All dies befindet sich auf dem Weg. Das ist ein Grundzur Freude und ein Grund, die Arbeit der Bundesregie-rung anzuerkennen.
Daran können Sie im Übrigen ersehen, dass wir bei derFusion nicht einfach zuschauen. Wir wollen sie vielmehrzum Wohle der Beschäftigten und zum Wohle einer flo-rierenden Wirtschaft gestalten.
Deshalb ist es wichtig, dass man nicht Horrorszena-rien entwirft, sondern bei der Wirklichkeit bleibt. Diegeplante Expansion der neuen Großbank wird vielehochqualifizierte Arbeitsplätze entstehen lassen, die ei-nen Teil der abgebauten Stellen wieder wettmachen.Konkurrierende Kreditinstitute, die sich stärker demKundengeschäft widmen, werden von diesem Zusam-menschluss profitieren. Heute Morgen gab es hierzu ei-ne „dpa“-Meldung. Ich zitiere:Nach der Fusion von Deutscher und Dresdner Bankwill die Hypo-Vereinsbank Marktführer im Privat-kundengeschäft werden. Wer heute den Kundenvernachlässigt, kann sich morgen aus dem Marktverabschieden, sagte Hypo-Vereinsbank-Chef ...
Sie sehen also, die Hypo-Vereinsbank, aber auch dieSparkassen, die Volks- und Raiffeisenbanken, die tradi-tionell sehr stark in diesem Sektor sind, werden den Zu-sammenschluss nutzen, um ihre Marktstellung zu stär-ken.Natürlich kann man auch zukünftig mit qualifizierten,kundenorientierten Bankdienstleistungen Geld verdie-nen. Ich bin sicher, dass sehr viele Menschen großenWert auf eine persönliche und individuelle Betreuunglegen.Ein Großteil der Mitarbeiter wird deshalb durch die Fu-sion verloren gehen, aber diese werden an anderer Stelleeinen Arbeitsplatz finden.Lassen Sie mich noch ein Wort zum Handwerk undzu den kleinen und mittleren Unternehmen sagen, weilzur Zeit eine Anhörung im Finanzausschuss dazu statt-findet. Wenn es richtig ist, dass 70 Prozent der Hand-werksbetriebe bis zu 50 000 DM Gewinn vor Steuernhaben, dann werden sie von der Senkung des Ein-gangsteuersatzes in einer Art und Weise profitieren, wiees noch nie in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland der Fall war.
Sie schauen immer nur auf den Spitzensteuersatz, undder wird bei Singles ab einem Einkommen von200 000 DM und bei Verheirateten ab 400 000 DMzugrunde gelegt.
In diesem Bereich finden Sie aber leider so gut wie kei-nen Handwerksbetrieb. Deshalb handelt es sich um diegrößte Steuersenkung gerade für Handwerksbetriebe undkleine und mittlere Unternehmen. Auch das gehört zuWahrheit; das muss an dieser Stelle einmal gesagt wer-den.
Die Betreuung durch die kleinen und mittleren Unter-nehmen wird deshalb nicht verloren gehen. Im Gegen-teil: Den Marktanteil von acht Prozent, den es im Bank-geschäft zu verteilen gibt, wird man entsprechend nut-zen. Die Chancen von Expansion und Sicherung derWettbewerbsfähigkeit sind also keine leeren Worte, wieman an dem Beispiel sehen kann, das ich bereits er-wähnt habe, nämlich der Fusion von Bayerischer Hypo-theken- und Wechselbank mit der Vereinsbank. DieseFusion hat zunächst Stellen gekostet, aber dies ist wett-gemacht worden. Mittlerweile ist die Hypo-Vereinsbankmit mehr Neueinstellungen auf dem Markt. Das zeigt:Wer eine hochqualifizierte Ausbildung hat, ist bestensgerüstet und kann sich den kommenden Herausforderun-gen stellen.Eine solche Perspektive wünsche ich allen Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern von Deutscher Bank undDresdner Bank.Herzlichen Dank.
Ich dankeauch. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung Tourismuspolitischer Bericht der Bundesre-gierung– Drucksache 14/2473 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus
Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungChristian Lange
Metadaten/Kopzeile:
8802 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sieeinverstanden? – Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.S
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich zu Beginn dieser Debatte zum Jahresbericht des
Tourismus in Deutschland die besten Grüße an unseren
Kollegen Ernst Hinsken – ich glaube, in aller Namen –,
übermitteln. Wir wünschen ihm eine baldige Genesung,
damit er bald wieder bei uns sein kann.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung misst
dem Tourismus eine besondere Bedeutung bei. Wir
glauben, dass die Tourismusbranche unter dem Aspekt
des Wachstums, vor allem auch des Beschäftigungs-
wachstums, eine sehr wichtige Branche ist. Heute sind
2,8 Millionen Menschen in dieser Branche beschäftigt.
Es werden etwa 280 Milliarden DM an Umsatz, an
Wertschöpfung erzielt. 91 000 Auszubildende sind in
diesem Bereich tätig. Das sind wichtige Kennziffern, die
zeigen, dass die Branche für unsere Volkswirtschaft ei-
nen hohen Stellenwert hat. Das soll auch so bleiben.
Wer auf der ITB war und sich die Entwicklung in der
Tourismusbranche vor Augen führt, der weiß, dass wir
eine enorme Veränderung erleben, die sehr stark geprägt
ist durch die Informations- und Kommunikationstech-
nik, und zugleich eine Wachstumsrate, die auch für
Deutschland von großer Bedeutung ist.
Ich darf daran erinnern, dass im Jahre 1999 die Daten
ausgesprochen gut waren. Wir sollten uns gemeinsam
darüber freuen, dass der Tourismusmarkt Deutschland
einen besonderen Stellenwert gewonnen hat. Erstmals
kamen über 100 Millionen Gäste in deutsche Beherber-
gungsunternehmen; das sind 5,6 Prozent mehr als 1998.
Es gab 308 Millionen Übernachtungen; das sind
13,5 Millionen mehr als 1998. Der Inlandstourismus, der
1998 nur um 2,5 Prozent zugenommen hatte, stieg 1999
um 4,7 Prozent. Dabei ist besonders bemerkenswert,
dass die neuen Bundesländer einen enormen Anstieg
zu verzeichnen haben; sie weisen sehr positive Zahlen
auf. Mecklenburg-Vorpommern hat hohe Wachstumsra-
ten zu verzeichnen. Auch Thüringen weist sehr gute
Zahlen auf. Das zeigt, dass die Menschen langsam die
Juwelen entdecken, die wir in diesem Land haben.
Ich finde, wir können uns darüber freuen, dass die
Wachstumsraten so hoch sind. Das hilft den Menschen
vor Ort. Das hilft auch bei dem großen Engagement in
dieser Branche, – das stellen wir alle fest –; denn es
handelt sich um eine Servicebranche, bei der es darum
geht, dass man nichts abspult, sondern die Menschen
entsprechend behandelt.
Das schlägt sich dann auch in positiven Werten nieder.
Meine Damen und Herren, es gibt ohne Zweifel gera-
de bei einem hoch entwickelten Standort wie der Bun-
desrepublik Deutschland Spezialfragen, die man im Au-
ge behalten muss. Wir glauben, dass insbesondere der
Kombinationstourismus in Zukunft eine der wichtigs-
ten und interessantesten Plattformen für Deutschland
sein wird, also die Verbindung von Geschäftsreisen mit
Urlaub. Das machen auch schon viele Unternehmen.
Wenn man das entsprechend kombiniert, hat Deutsch-
land davon nicht nur als Industriestandort, als
Dienstleistungsstandort etwas, sondern eben auch unter
dem Tourismusaspekt.
Wir glauben, dass wir sehr viel zu bieten haben, wenn
wir Kultur und Tourismus kombinieren. Deshalb hat es
bereits im letzten Jahr, bereits im Goethe-Jahr, große
Anstrengungen gegeben; auch dieses Jahr gibt es große
Anstrengungen in Bezug auf Bach und Gutenberg. Ich
glaube, es ist richtig, diesen Weg des Kombinationstou-
rismus zu gehen, bei dem man versucht, das, was wir an
Diamanten haben, auch an kulturellen Diamanten, mit
dem zu verbinden, was die Menschen an Erholung brau-
chen.
Etwas Ähnliches könnte man zum Bereich des Ge-
sundheitstourismus sagen. Auch hier gibt es Kombina-
tionsmöglichkeiten von Urlaub und Rehabilitation, von
Gesundheitsstandorten. Es gibt dort eine ganze Menge
Möglichkeiten, die wir nutzen wollen und auch nutzen
müssen, weil der Tourismus für uns ein Wirtschaftsfak-
tor ist, eher an Bedeutung gewinnen wird und der auch
besonders beschäftigungsintensiv ist.
Herr Staats-
sekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Holetschek?
S
Gern, ja.
Herr Staatssekretär,da Sie das Stichwort „Gesundheitstourismus“ genannthaben, möchte ich sagen, dass ich gerade mit Interessegelesen habe, dass Sie Beratung für Kurorte in Estland,in Litauen und in Lettland machen, dass Sie sich aberwohl nicht in der Lage sehen, die Kur- und Heilbäder imInland mehr zu unterstützen – zum Beispiel durch einebreite Kampagne, die auch den Menschen hier begreif-lich macht, dass sie etwas für ihre Gesundheit tun müs-sen.
Die Kampagnen, die Sie im Ausland starten – so zumin-dest der Deutsche Bäderverband –, haben bis jetzt wenigErfolge gezeitigt, zumindest gibt es keine konkretenZahlen, wie sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis tatsäch-lich darstellt.Vizepräsidentin Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8803
S
Lieber Herr
Kollege, ich glaube, das war ein Eigentor.
Sie müssten sich einmal mit Ihrem Kollegen Seehofer
darüber unterhalten, was er in den letzten Jahren in den
Kurstädten angerichtet hat.
Wir sind jetzt mühselig dabei, das wieder aufzubauen;
die Kurstädte merken das auch. Wir sind in intensiven
Gesprächen, um die Kurstädte selber auch in geeigneter
Weise zu präsentieren, aber das, was Sie hier vortragen,
zeigt, dass Sie von der Materie relativ wenig verstehen.
Es tut mir Leid, das sagen zu müssen: Das war ein ech-
tes Eigentor. Wir werden natürlich alles Mögliche tun,
weil wir glauben, dass die Kurstädte – das haben Sie al-
lerdings richtig erkannt – unter dem Aspekt des Kombi-
nationstourismus wirklich eine interessante Adresse
weltweit sind. Wir haben auf diesem Gebiet sehr viel zu
bieten und werden das auch in Zukunft weiter tun.
Herr Staats-
sekretär, Herr Holetschek möchte noch eine zweite
Nachfrage stellen, auch eine Ihrer Kolleginnen hat eine
Frage.
S
Ladies
first!
Gut, dann bitte
der Reihe nach.
Herr Staatssekretär,
stimmen Sie mir zu, dass vor dem Hintergrund der
Spargesetze der letzten Bundesregierung im Ge-
sundheitswesen die Zahl der Übernachtungen in den
Heilbädern 1997 um 18 Prozent gesunken ist, in den Sa-
natorien und Kurkliniken sogar um 26,2 Prozent, und
dass nach Einschätzungen des Deutschen Bäderverban-
des in diesem Bereich zirka 40 000 bis 50 000 Arbeits-
plätze aufgrund der Gesundheitsreform schlicht und er-
greifend weggefallen sind?
S
Ja, ich
stimme Ihnen zu; die Zahlen kann ich bestätigen, Frau
Kollegin.
Ich habe mich nur gewundert, dass der Kollege nicht
weiß,
dass es eine solche Problematik gegeben hat. Ich weiß
aus den Kurorten in Deutschland, dass sie jetzt mühselig
dabei sind, das wieder in Ordnung zu bringen und sich
auch international aufzustellen. Wir werden dabei hel-
fen. Wir hoffen sehr, dass wir Sie bei dieser Frage auch
in Zukunft an unserer Seite sehen können.
Herr Staatssekretär,
ich komme selber aus einem Kurort, aus Bad Wörisho-
fen, und kenne die Problematik sehr wohl.
Stimmen Sie mir zu, dass Sie sich auch in diesem Be-
reich an Ihren Wahlversprechen messen lassen müssen
und Ihre Taten weit hinter dem zurückgeblieben sind,
was Sie zu Oppositionszeiten vollmundig angekündigt
haben? Das ist eine Tatsache, der Sie sich kaum werden
entziehen können.
S
Können Sie
mir ein Beispiel nennen?
Zum Beispiel die
offene Badekur – aber das ist jetzt eine gesundheitspoli-
tische Diskussion –, die völlige Flexibilisierung der Re-
gelzeiten und einiges andere. Die Abschaffung des Wor-
tes „Kur“ hat auch nicht dazu beigetragen, dass sich viel
getan hat.
S
Lieber HerrKollege, ich glaube, das hat keinen Zweck. Wir brau-chen das jetzt nicht zu vertiefen. Jeder hat gemerkt, dasses da einen Stellfehler gegeben hat. Es ist einfach so: Esgab dort erhebliche Zerstörungen, die die Kurstädte ge-troffen haben. Das wissen Sie wahrscheinlich aus eige-ner Erfahrung. Wir sind jetzt dabei, das mühselig zu kit-ten.Sie wissen, dass es jetzt eine nächste Dimension gibt:Viele internationale Gäste sind an deutschen Kurstäd-ten interessiert. Deshalb werden wir den StandortDeutschland für Rehabilitation und Kur internationalvorstellen. Sie wissen, dass die ITB die wichtigste Tou-rismusmesse der Welt ist. Auf dieser Messe hat dieBundesregierung sich sehr engagiert. Wir haben ge-merkt, dass das Interesse gerade an deutschen Kur- undHeilbädern sehr groß ist. Ich hoffe sehr, dass damit derTotalschaden wieder korrigiert werden kann.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Tou-rismusbericht zurückkommen: Wir wollen alles tun, umdie Rahmenbedingungen für die Zukunft positiv zugestalten. Sie wissen, dass unsere Steuerreform nicht nurdie Unternehmen, vor allem die mittelständischen Un-ternehmen, entlasten wird – mit der Steuerreform ist
Metadaten/Kopzeile:
8804 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
eine Entlastung um 75 Milliarden DM verbunden, davon18 Milliarden DM für den Mittelstand –, sondern geradeauch die Arbeitnehmer und ihre Familien, sodass sie net-to mehr im Geldbeutel haben. Das ist eine wichtige Vor-aussetzung dafür, dass man Inlandsurlaub machen kann,und wirkt sich damit unmittelbar auf die Tourismus-branche aus. Ich weiß, dass die Branche das aufmerksambeobachtet.Lassen Sie mich nun noch auf ein paar Punkte desFörderinstrumentariums eingehen: Aus dem ERP-Programm wurden 1999 Kredite für Existenzgründun-gen und für den Ausbau von Betrieben im Tourismus inHöhe von 900 Millionen DM zugesagt. 1998 waren esnur 640 Millionen DM.Auch von der Regionalförderung hat der Tourismusüberdurchschnittlich profitiert. Die für die Tourismus-wirtschaft bewilligten GA-Mittel lagen 1999 bei382 Millionen DM und damit erheblich höher als imVorjahr. Obwohl die Mittelbereitstellung insgesamt von6,8 auf 5,1 Milliarden DM gesenkt worden ist, habenwir insbesondere in touristischen Orten große Anstren-gungen unternommen. Außerdem wurden 1999 mehr als322 Millionen DM GA-Mittel für touristische Infra-strukturmaßnahmen zugesagt.
Das sind wichtige Maßnahmen, die im allgemeinenWirtschaftshaushalt ein bisschen versteckt sind, die aberdirekt wirken. Das wissen wir auch von vielen Kollegen,die in solchen Gebieten wohnen. Diese wissen, dass esrichtig war, diese Entscheidungen zu treffen.
Herr Staats-
sekretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
S
Ja.
Aber dann
möchte ich die Kollegen doch bitten, bei einem so kur-
zen Beitrag nicht noch weitere Zwischenfragen zu stel-
len. Wenn man wegen der vielen Fragen die dreifache
Redezeit braucht, kommen wir mit dem Programm nicht
durch.
Das GA-Förderpro-
gramm ist ein Bund-Länder-Programm. Meine Bitte an
Sie: Würden Sie sich dafür einsetzen, dass der Touris-
mus in den nächsten Jahren ein Schwerpunkt der För-
derung in den 16 Bundesländern bleibt?
S
Herr
Brähmig, das ist eine gute Frage. Ich glaube, es ist sehr
wichtig, dass wir die Länder dafür gewinnen, genau die-
sen Weg mitzugehen. Wir haben mehr als 22 Prozent
der Infrastrukturmittel an den Tourismus gegeben. Das
geht natürlich nur, wenn die Länder Komplementärmit-
tel geben. Insofern haben Sie Recht. Wir werden diese
Anstrengungen unternehmen und hoffen sehr, dass Sie
uns in den Ländern dabei behilflich sind. Das kann man
nur gemeinsam hinbekommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch un-
ser wichtigstes Instrument ansprechen: die Deutsche
Zentrale für Tourismus, die eine sehr gute Arbeit
macht. Ich möchte in diesem Haus der Tourismuszentra-
le für ihre Arbeit herzlich danken. – Ich glaube, da kann
ich Einvernehmen unterstellen.
Sie ist unsere Visitenkarte im Ausland. Sie macht ein
hervorragendes Marketing. Sie hat jetzt die Kombination
von mit Kultur und Natur aufgenommen, also solche
Fragestellungen, bei denen wir am Standort etwas zu
bieten haben. Deshalb hat die Bundesregierung alles un-
ternommen, um die Tourismuszentrale, die ihre Arbeit
ausgebaut hat, weiterhin zu stärken.
Herr Brähmig, ich weiß, dass Sie sich immer für die-
se Einrichtung eingesetzt haben. Nur die nüchternen
Zahlen belegen, dass in der Finanzplanung der alten
Bundesregierung für das Jahr 2000 lediglich
29 Millionen DM für die Tourismuszentrale vorgesehen
waren. Wir haben aufgestockt und liegen jetzt bei knapp
40 Millionen DM. Wir wollen im Jahr 2001 noch einmal
eine Anstrengung unternehmen, weil wir glauben, dass
wir alles tun müssen, um uns international entsprechend
zu präsentieren. Deshalb ist es wichtig, dass Sie das mit
unterstützen und dass wir dabei alle gemeinsam an ei-
nem Strang ziehen.
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir
helfen der Branche besonders bei der Umstellung auf
die Informationsgesellschaft von morgen. Unser im
Kabinett verabschiedetes „Aktionsprogramm für Inno-
vation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft
des 21. Jahrhunderts“ sieht vor, dass wir für den Mit-
telstand 24 Kompetenzcenter einrichten, damit sich der
Mittelstand auf diese neue Entwicklung einstellen kann.
Wir sind dabei, dies zu tun, und machen das sehr aktiv.
Wir hoffen sehr, dass wir dabei auch vom Haus unter-
stützt werden.
Die Tourismusbranche ist eine der wichtigsten Zu-
kunftsbranchen überhaupt. Sie stellt qualitativ sehr hohe
Ansprüche. Wir sollten deshalb vermeiden, diese Unter-
stützungen im Parteienstreit zu zerreiben, und alle An-
strengungen unternehmen, damit Deutschland von dieser
Entwicklung etwas hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hatjetzt der Kollege Klaus Brähmig.Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8805
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ichmöchte die Gelegenheit nutzen, unserem erkranktenKollegen Ernst Hinsken von dieser Stelle aus die bestenGenesungswünsche seitens der Arbeitsgruppe und –auch dies sei mir gestattet – seitens des Ausschusses zuübermitteln.
Die heutige Debatte über den Tourismusbericht derBundesregierung gibt uns Gelegenheit, die vergangenenanderthalb Jahre Tourismuspolitik der rot-grünen Bun-desregierung zu analysieren und die Frage zu stellen:Wo stehen wir? Wohin geht die Reise? Ist es eine Reisemit oder ohne unseren Wirtschaftsminister Müller? HerrMosdorf, Sie sind anwesend. Ich möchte daher die Ge-legenheit nutzen, seitens der Arbeitsgruppe einen Dankfür die konstruktive Zusammenarbeit mit der Abteilungvon Dr. Homann auszusprechen. Dieser Bericht zeigt allerdings erneut, dass die Bun-desregierung dem Tourismus immer noch nicht den Stel-lenwert einräumt, der ihm aufgrund seiner gesamtwirt-schaftlichen Bedeutung eigentlich gebührt. Für unsereFraktion ist dabei wichtig, mit der SPD nicht in einenWettbewerb um nicht erfüllbare Versprechungen gegen-über der deutschen Tourismusbranche einzutreten, wiedies vonseiten der SPD vor der Bundestagswahl erfolg-te.
Hier möchte ich nur auf das Beispiel der Trinkgeldbe-steuerung verweisen. Meine sehr verehrten Damen undHerren von der SPD-Fraktion, Sie haben in IhremWahlprogramm die Abschaffung der Trinkgeldbesteue-rung angekündigt. Jetzt, da es zum Schwur kommt, ent-halten Sie sich der Stimme. Ihre Kollegen im Finanzaus-schuss werden den Antrag der F.D.P. auf Abschaffungder Trinkgeldbesteuerung hinwegfegen. Das nenne ichSymbolpolitik und Wählertäuschung. Einleitend werde ich einige grundsätzliche Schwach-stellen dieses Berichtes und der bisherigen Tourismus-politik herausarbeiten und einige Forderungen für dieErstellung der noch folgenden Berichte definieren. Die mangelnde Aussagekraft und der geringe Umfangdes nun vorliegenden Berichtes verdeutlichen meinesErachtens die Notwendigkeit, nach österreichischemVorbild einen Staatssekretär für Tourismus beimBundeswirtschaftsministerium zu installieren. Verbun-den mit einer Personalaufstockung in der AbteilungTourismus soll das Bundesministerium für Wirtschaftund Technologie damit in die Lage versetzt werden, demParlament jährlich einen umfassenden und aussagekräf-tigen Tourismusbericht vorzulegen, der neben reinerStatistik auch echte Handlungsstrategien für die touristi-schen Entscheidungsträger auf Bundes-, Landes- undkommunaler Ebene aufzeigt.Als vorbildlich ist hier der dem Parlament präsentier-te TAB-Bericht und das auf der diesjährigen ITB zumdritten Mal vorgestellte Tourismusbarometer des Ost-deutschen Sparkassen- und Giroverbandes zu nennen,das eine statistisch exzellente Grundlagenarbeit leistetund diese mit strategischen Handlungsanweisungen zuverbinden weiß. Eine Zusammenarbeit von Bundeswirt-schaftsministerium und gesamtdeutschem Sparkassen-und Giroverband auf diesem Gebiet könnte den effizien-ten Einsatz von Steuermitteln befördern. Die CDU/CSU-Fraktion fordert zudem eine Novel-lierung des Statistikgesetzes, durch die gewährleistetwerden soll, dass alle Übernachtungen – nicht nur die inBetrieben mit neun oder mehr Betten – unbürokratischund zeitnah erfasst und den politischen und fachlichenVerantwortungsträgern zugänglich gemacht werdenkönnen. Meine Damen und Herren, der Tourismusbeiratbeim Bundesministerium für Wirtschaft und Technolo-gie muss zu einem Spitzengremium und zum Plenumder deutschen Tourismusbranche werden. Die vielen po-pulistischen Hinterzimmerzirkel mit personeller Mehr-fachbesetzung bringen die Tourismusbranche nicht vor-an. Weiterhin sollte von der jeweiligen Bundesregierungjährlich, im Februar, ein Tourismusbericht vorgelegtwerden. Dies würde gewährleisten, dass wir alsParlamentarier die Möglichkeit erhalten, vor bzw. aufder ITB öffentlich über die Erfolge und Defizite imTourismus zu diskutieren. Neben diesen grundsätzlichen Problemen müssenheute zwei Hauptkomplexe des Tourismusberichtes ge-nauer erörtert werden. Angesichts der Redebeiträgemeiner nachfolgenden Kollegen beschränke ich michauf die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen undden Deutschlandtourismus. Ein alter römischer Rechtsgrundsatz besagt: WerPflichten hat, der hat auch Rechte. Die rot-grüne Bun-desregierung verpflichtet die Unternehmer mit Recht zusozial verantwortlichem Handeln gegenüber der Beleg-schaft. Also kann die Wirtschaft im Gegenzug auch gu-te, international abgestimmte Rahmenbedingungenverlangen. Wo bleibt diese Gegenleistung? Die Steuer-reform, die ausbleibende Reform der sozialen Siche-rungssysteme, die Neuregelung geringfügiger Beschäfti-gungsverhältnisse und die Ökosteuer sind allerdingsBeweise dafür, dass die rot-grüne Bundesregierung zwarviel fordert, faktisch aber wenig zu einer Gesundungbzw. Expansion der Wirtschaft auch und gerade im Tou-rismusbereich beisteuert.
Dies festzustellen, Herr Mosdorf, macht mir keine Freu-de. Und ich füge hinzu: Seit der Übernahme der Regie-rung durch die Koalition aus SPD und Bündnis 90/dieGrünen hat sich auf dem Arbeitsmarkt praktisch nichtsbewegt; in den neuen Bundesländern ist die Situation inBezug auf die Arbeitsplätze sogar schlechter geworden.
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8806 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Einen wichtigen Gesichtspunkt möchte ich hier nochhervorheben: Deutschland muss zu einem leistungsfähi-gen europäischen Verkehrsdrehkreuz ausgebaut wer-den. 50 Prozent des aktuellen Verkehrsaufkommenswerden durch Freizeit und Tourismus induziert. Der Fi-nanzminister muss wie der Verkehrsminister endlich be-greifen: Verkehrspolitik ist Infrastrukturpolitik und da-mit Zukunftspolitik für den Standort Deutschland.
Daher fordern wir, meine Damen und Herren, dass ausden Einnahmen der Mineralöl- und Kfz-Steuer mehrMittel in den Ausbau des Straßenverkehrsnetzes und derSchienenwege investiert werden.
Wenn dies nicht erfolgt, werden die weltweiten Touris-musströme an Deutschland vorbeifließen und somit kei-ne Arbeitsplätze geschaffen bzw. bestehende vernichtet.Zu loben ist hier vor allen Dingen das Engagement desFreistaates Sachsen beim Ausbau des Flughafens Hal-le/Leipzig; dort erfolgt ja am morgigen Tag die Einwei-hung der neuen, interkontinentalen Start- und Lande-bahn. Hier werden Zeichen gesetzt.
– Noch nicht, Kollegin Irber. – Das Angebot diesesFlughafens steht Touristen 365 Tage im Jahr 24 Stundentäglich zur Verfügung.Meine Damen und Herren, der zweite Hauptkomplex,der Deutschlandtourismus, zeigt folgende Entwick-lungstendenzen: Aus der Bilanz für 1999 ergibt sich einedeutliche Konsolidierung der Branche. Da stimme ichIhnen zu, Herr Staatssekretär Mosdorf. Nur, wie setztsich diese Konsolidierungsbewegung zusammen?Nachweislich ist die Landkarte auch hier sehr differen-ziert. Nach meinen Recherchen sind die Wachstumszah-len im Wesentlichen durch die Erhöhung der Kapazitätvor allem im hochpreisigen Hotelsegment entstanden.Der Prozess wird sich weiter dramatisch fortsetzen. Ichempfehle hierzu als Lektüre die „Wirtschaftswoche“vom 2. März 2000. Für den Deutschlandtourismus uner-lässlich ist aber die Erhöhung der Verweildauer und derAuslastungsquote im Betten- bzw. Zimmerbereich. Weiterhin ist für die Beurteilung des Deutschlandtou-rismus die Entwicklung des Incoming-Tourismus imVerhältnis zum Outgoing-Tourismus von fundamenta-ler Bedeutung. Umsätze von 87,5 Milliarden DM imOutgoing-Tourismus abzüglich der Einnahmen von30,6 Milliarden DM aus dem Incoming-Tourismus erge-ben ein Defizit beim touristischen Reiseverkehr von cir-ca 57 Milliarden DM. Dies ist mit einem massiven Ex-port von Arbeitsplätzen gleichzusetzen. Bei einem an-genommenen Durchschnittsumsatz von 80 000 DM proArbeitsplatz könnten also rechnerisch in Deutschland450 000 bis 500 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wer-den. Wie ist das zu erreichen? – Durch mehr Gäste ausdem Ausland und mehr Urlaub unserer Bevölkerung ineinheimischen Gefilden. Es ist Aufgabe der Politik, dieser mittelständisch ge-prägten Branche, allen voran den Hotels und der Gastro-nomie, bei ihren Bemühungen um Auslastung ihrerKapazitäten finanziell beizustehen, etwa im BereichMarketing, Marktzugang und E-Commerce. Nur so hatsie im globalen Wettbewerb eine echte Chance. Geradefür Ostdeutschland ist dieses Thema von existenziellerBedeutung. Nur etwa 4 bis 5 Prozent des Gästeaufkom-mens werden dort von kaufkraftstarken Ausländern ge-stellt; dem gegenüber stehen 10 bis 12 Prozent in West-deutschland.Die Deutsche Zentrale für Tourismus hat eine gro-ße Verantwortung bei der Erreichung dieser Zielstel-lung. Meine Damen und Herren, für das operative Mar-keting so interessanter Quellmärkte wie Kanada und denUSA stehen der DZT nur 120 000 DM bzw.1,2 Millionen DM zur Verfügung. Eine Marktdurch-dringung ist mit diesem Budget unmöglich. Der Bun-deshaushalt sieht im Jahr 2000 40 Millionen DM für dieDZT und – einmalig – 40 Millionen DM im Haushalt fürdie Werbung der EXPO 2000 im Ausland vor. LassenSie uns der DZT für ihre Aufgaben die sich ergebendeSumme von 80 Millionen DM ab 2001 gemeinschaftlichzur Verfügung stellen.Meine Damen und Herren, wer zwischen Frühstückund Gänsebraten als Weihnachtsmann für einige Tau-send Arbeitsplätze bei der Philipp Holzmann AG
mit 250 Millionen DM Bürgschaft sofort Gewehr beiFuss steht, wird doch wohl für die Sicherung der Ar-beitsplätze der 2,8 Millionen im Tourismus Beschäftig-ten 40 Millionen DM zusätzliche Mittel im Haushalteinsetzen können.
Herr Kollege,
haben Sie bitte die Uhr im Auge.
Ich bin sofort fertig. –
Es wird Zeit, dass wir alle zusammen in Deutschland
endlich diese fatale Industriegläubigkeit überwinden.
Veränderungen bedürfen eines neuen Bewusstseins und
eines gesamtgesellschaftlichen Dialogs. Tourismus ist
die Leitökonomie des 21. Jahrhunderts. Um diese drin-
gend notwendige Diskussion in Gang zu setzen, richte
ich von dieser Stelle aus erneut meinen Appell an die
Bundesregierung: Rufen Sie 2001 zum Jahr des Touris-
mus in Deutschland aus! Mein Appell an die Mitglieder
der SPD-Fraktion lautet: Verlassen Sie endlich Ihr
Bremserhäuschen und steigen Sie zu uns auf die Loko-
motive um! Lassen Sie uns in Zukunft gemeinsam die
Jobmaschine Tourismus unter Dampf setzen.
Jetzt hat die
Abgeordnete Sylvia Voß das Wort.
Sehrverehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKlaus Brähmig
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8807
Kollegen! Herr Brähmig, auf die Lokomotive wollenwir lieber nicht steigen.
Wir wollen deshalb nicht aufsteigen, weil Sie den Sei-tenzahlen eines Berichtes offensichtlich mehr Bedeutungbeimessen als seinem Inhalt. Da kann ich nicht mitge-hen. Ich denke, der Inhalt sollte wichtiger sein. Mankann manchmal in kurzer Form, wenn man es prägnanttut, mehr ausdrücken, als wenn man lange Berichteschreibt.
Der Kollege Hinsken, Vorsitzender unseres Aus-schusses, dem auch ich von dieser Stelle aus natürlichgute Genesung wünsche, hat die diesjährige ITB zu ei-ner Pressekonferenz genutzt, auf der er sehr selbstkri-tisch reflektierte, dass „der Tourismus als Teil der mit-telständischen Wirtschaft ... von 5 000 Gesetzen und85 000 Verordnungen gegängelt“ wird.
Die alte Bundesregierung hat es nicht vermocht, die La-ge hier wirklich zu verbessern. Eine späte Einsicht –doch lieber spät als nie.
Die rot-grüne Bündnisregierung hat – der vorliegendeBericht zeigt das überzeugend auf – entschieden Maß-nahmen ergriffen, um im Bereich des Tourismus zunachhaltigen Fortschritten zu kommen. Diese sind –Herr Staatssekretär Mosdorf hat darauf umfassend ver-wiesen – nicht zu übersehen. Die Perspektiven für denDeutschlandtourismus sind gut. Die Zahl der Übernach-tungen sowohl ausländischer als auch inländischer Gästein Deutschland konnte deutlich gesteigert werden.
– Ja, vor allen Dingen, wenn man nett zu den Leuten ist.
Dass einige Daten der Tourismusentwicklung unbe-friedigend sind, kann nicht der Arbeit der Bundesregie-rung angelastet werden. Ich möchte Ihnen ein Beispielnennen: Die geringe und sinkende Auslastung der Bet-tenkapazitäten gerade in den fünf neuen Ländern – ichweiß, wovon ich spreche; ich komme aus einem derneuen Länder – beruht auf einer nachgerade abenteuer-lich zu nennenden Erweiterung der Bettenkapazitätenam Markt vorbei. Die Unternehmen sind sicherlich gutberaten, dort vor allem Investitionen in die Qualität vor-zunehmen.Die Tourismuspolitik der Bundesregierung orientiertsich am Prinzip der Nachhaltigkeit, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Diese Politik wird das Bundesumweltministerium unteranderem dadurch unterstützen, dass ein einheitlichesUmweltkennzeichen auf den Weg gebracht wird. Diesessoll durch eine Klassifizierung touristischer Produkteden Erfüllungsgrad des Anspruchs einer nachhaltigenWirtschaftsentwicklung bewerten. Die derzeitige Klein-räumigkeit und Heterogenität der Kennzeichen und Sie-gel, die sich inzwischen überall etabliert haben, sind ausSicht sowohl der Anbieter als auch der Verbraucher, dieda gar nicht mehr durchblicken können, nicht wün-schenswert. Die theoretischen Vorarbeiten und bisheri-gen praktischen Erfahrungen lassen es zu, die Entwick-lung eines gemeinsamen touristischen Umweltzeichensjetzt energisch anzugehen. Es wird den Anbietern einen Image- und Wettbewerbs-vorteil verschaffen und ökologische Innovationen in dergesamten Branche fördern.
Das touristische Umweltzeichen wird damit zu einemunverzichtbaren Instrument einer überprüfbar nachhalti-gen Tourismusentwicklung.Positiv, liebe Kolleginnen und Kollegen, bewertenwir die Arbeit der Deutschen Zentrale für Tourismus.Ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Es hat sich ge-lohnt, dass die Koalition – und es war die Koalition! –die finanzielle Ausstattung gesichert und verbessert hat.Mit ihrer Fokussierung auf kulturelle Themenjahre er-schließt die DZT neue Zielgruppen. Wie Sie alle wissen– aus den Ausschüssen und all den Veranstaltungen, diewir schon gemeinsam bestritten haben –, setze ich michganz besonders für die Verknüpfung von Naturschutzund Tourismus ein. Umso erfreuter bin ich deshalb, dasssich die DZT nun offensichtlich entschieden hat, dieThemen Natur und Umwelt in den Mittelpunkt einerneuen Marketingkampagne zu stellen. Insbesondere un-sere Nationalparke können und sollten endlich auch zueinem Magneten für Erholungssuchende aus dem In-und Ausland werden.
Wir müssen die Menschen für die kulturellen und dieNaturschönheiten unseres Landes einfach begeistern .Meine Fraktion begrüßt es ausdrücklich, dass dieMarketingmaßnahmen der DZT im In- und Auslandnoch stärker als bisher genutzt werden, um den Be-kanntheitsgrad der ostdeutschen Tourismusgebiete zuerhöhen und dort ein positives Image aufzubauen. Eintourismusfreundliches Image ist aber nicht nur eine Fra-ge des Marketings oder eine Frage des Services. Es istauch Ergebnis einer weltoffenen Haltung in der gastge-benden Bevölkerung. Fremdenfeindliche Vorfälle schä-digen immer noch das Image vor allem ostdeutscher Ur-laubsziele
Sylvia Voß
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8808 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
und sind ein Armutszeugnis für unsere Demokratie.Über Fraktions- und Parteigrenzen hinweg müssen wir al-len Anfängen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeitentgegentreten. Ich glaube, auch da sind wir uns alle ei-nig.
Die positive Entwicklung des Tourismus ist auch einErgebnis der steuerpolitischen Trendwende von Rot-Grün. Auch das ist eine Lokomotive. Mit der Steuerre-form 2000 erfassen die im Jahr 1999 begonnenen Re-formen die mittelständische Wirtschaft. Der Eingang-steuersatz wird in wenigen Jahren von 26 auf 15 Prozentgesenkt. Damit wird die finanzpolitisch gewonnene Ver-fügungsmasse gezielt zur Mittelstandsförderung einge-setzt. Das ist eine großartige Leistung, auf die die klei-nen und mittleren Unternehmen ziemlich lange wartenmussten, Herr Brähmig.
Einige Anmerkungen möchte ich auch zum großenThema der diesjährigen ITB, der Internationalen Tou-rismus-Börse, machen, zum E-Commerce. Entgegenmanch landläufiger Meinung erschöpft sich ElectronicCommerce nämlich nicht in der Webpräsentation einesUnternehmens oder im Internetshopping. DurchE-Commerce wird die gesamte Wirtschaft grundlegendverändert. Geographische Grenzen und zeitliche Be-schränkungen verlieren dramatisch an Bedeutung. DieMarkttransparenz und die Intensität des globalen Wett-bewerbs erhöhen sich; vielfältige neue Geschäftsmög-lichkeiten entstehen. Unternehmen, die frühzeitig diesesneue Medium nutzen, haben gute Chancen, ihre Markt-anteile zu halten und auszubauen.Für mittelständische Reisebüros stellt die Entwick-lung des E-Commerce aber eine große Herausforderungdar. Er ist nämlich Risiko und Chance zugleich. Wir alsrot-grüne Bundesregierung wollen die Voraussetzungendafür schaffen, dass die kleinen und mittleren Unter-nehmen E-Commerce breit anwenden können. SolcheVoraussetzungen sind: der kostengünstige Netzzugangfür Unternehmen und Haushalte sowie die Sicherheit imNetz, insbesondere Rechtssicherheit bei Transaktionenim Netz. Die Bundesregierung engagiert sich hier stark,nicht zuletzt durch die Klärung der zivilrechtlichen Fra-gen des elektronischen Handels. Hier dürfen die Fehlerder alten Bundesregierung nicht wiederholt werden,Entwicklungen regelrecht zu verschlafen und damit denWirtschaftsstandort Deutschland zur Aufholjagd zu ver-dammen.
Ich möchte die Gelegenheit dazu nutzen, noch einigeAnmerkungen zum Tourismus im ländlichen Raum zumachen. Die Bundesregierung setzt sich – im Berichtnachlesbar – für zeitgerechtere Vermarktungswege fürden Urlaub auf dem Bauernhof und den Urlaub auf demLande ein. Damit unterstützt sie den Beitrag des Tou-rismus zur Sicherung unserer Landwirtschaft. DerTourismus kann und muss Wegbereiter einesökologischen Landbaus und eines naturgemäßenWaldbaus werden. Diesen Beitrag leistet er dann, wenner im Bereich der Infrastruktur und landwirtschaftlicherErzeugnisse regionale Produkte verwendet. So werdenden ländlichen Räumen entscheidende Überle-bensimpulse gegeben. Hier liegt sicherlich auch derwirkungsvollste Beitrag des Tourismus zur Sicherungunserer gewachsenen Kulturlandschaften.
Man möchte es kaum glauben: Der Anteil regionalerProdukte an den Produkten, die in den Küchen unsererHotellerie und Gastronomie verarbeitet wurden, lag1997 im Bundesdurchschnitt unter 3 Prozent. Fachleutegehen davon aus, dass mindestens 25 Prozent erreichtwerden können. Das sollten wir auch gemeinsam anpa-cken.
Abschließend möchte ich einen Bogen zur Arten-schutzdebatte schlagen, die am heutigen Vormittag inunserem Hause stattfand. Die Gefährdung vieler Artenresultiert leider aus dem zunehmenden Tourismus. Wildlebende Tiere und Pflanzen werden durch Souvenirhan-del und Freizeitaktivitäten in den Zielgebieten gestörtund gefährdet, auch in dem Bericht der Bundesregierungwird darauf hingewiesen. Jährlich werden 40 000 Prima-ten, über 10 Millionen Orchideen, 4 Millionen Vögel,10 Millionen Reptilienhäute, 15 Millionen Pelze, über350 000 tropische Fische und viele andere Arten welt-weit gehandelt. Dieser illegale Handel mit bedrohtenTierarten erreicht nach Schätzungen des WWF einenjährlichen Wert von 2 Milliarden bis 3 Milliarden Dol-lar. 90 Prozent der illegal ausgeführten Tiere und Pflan-zen – diese Zahlen sind heute Morgen und auch in derAnhörung des Tourismusausschusses schon erwähntworden – werden von Touristen geschmuggelt. Touris-muswirtschaft und Tourismuspolitik – das ist auch einErgebnis der Anhörung des Tourismusausschusses zumThema „Tourismus und Artenschutz“ – müssen einennoch viel größeren Beitrag als bisher zum Erhalt der bio-logischen Vielfalt leisten, die gerade die Attraktivitätvieler touristischer Zielorte ausmacht. Der ungezügel-te Tourismus – ich glaube, auch darüber sind wir uns ei-nig – zerstört genau das, was die Menschen dazu veran-lasst, in Urlaub zu fahren, um schöne Dinge zu erleben.Ungezügelter Tourismus ist Selbstzerstörung.Bei der Beseitigung vieler Hemmnisse und Probleme,die der Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus inDeutschland noch entgegenstehen und die uns die alteRegierung hinterlassen hat, ist noch so manches zu tun.Aber Sie können sich darauf verlassen: Wir werden estun! Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass Men-schen aus der ganzen Welt begeistert nach Deutschlandreisen, um hier Urlaub zu machen, und dass auch unsereLandsleute ihr eigenes Land noch besser kennen lernen. Schönen Dank.Sylvia Voß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8809
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Über eines bestehtin diesem Hause sicherlich Konsens: Neben denelektronischen Medien und der Biotechnologie istTourismus wohl die Branche mit den höchstenWachstumsraten in den nächsten Jahren. 2,2 bis2,3 Millionen neue Arbeitsplätze weltweit werdenprognostiziert, 400 000 immerhin für Deutschland.Deshalb hat die F.D.P.-Bundestagsfraktion ganz bewusstihr neues Konzept zum Tourismus unter den Titel „Libe-rale Offensive für mehr Arbeitsplätze“ gestellt.
Auf der Internationalen Tourismus-Börse, die immerwieder angesprochen wurde, waren zwei große Trendssichtbar. Diese beiden Trends müssen auch in der heuti-gen Diskussion im Mittelpunkt stehen. Es gab zum einenden Trend zur weiteren Konzentration. Es wird im Be-reich des Tourismus nur noch wenige große Unterneh-men geben, die einen großen Teil des Marktes beherr-schen. Aber dennoch werden kleine Anbieter ihre Chan-ce haben, wenn sie Marktnischen nutzen und Zielgrup-pen ganz konkret ansprechen. Die deutschen Touris-musdestinationen – ob nun die Nordsee, die Ostsee, derBayerische Wald oder der Schwarzwald – werden um-denken müssen, werden beim Marketing anders agierenmüssen und auch mit großen Anbietern kooperierenmüssen. Der zweite große Trend, der die ITB beherrscht hat,waren Internet und E-Commerce. Frau Kollegin Voß,natürlich stellt dieser Trend die Branche vor riesengroßeHerausforderungen. Nur, man sollte nicht immer nur über die Risiken, sondern vor allem auch über die Chan-cen reden. Internet und E-Commerce bieten riesengroßeChancen für die Tourismusbranche. Die Reisebürosmüssen diese Chancen nutzen und als Erste ins Interneteinsteigen. Die kleinen Destinationen haben plötzlichdie Chance, zu sehr geringen Kosten weltweit auf sichaufmerksam zu machen.
Deshalb stelle ich fest: Es wird niemand daran vorbei-kommen, diese Chancen zu nutzen. Die Politik ist vorallem gefordert, wenn es darum geht, kleinen und mittle-ren Anbietern zu ermöglichen, die entsprechenden Mög-lichkeiten zu nutzen, ins Netz zu gehen und dort tätig zuwerden. Das können viele nicht alleine und dort mussdie Politik unterstützend wirken. Es wurde die DZT angesprochen. Auch ich bin derAnsicht, dass die DZT hervorragende Arbeit leistet. Ichglaube, in diesem Punkt sind wir uns alle einig. HerrStaatssekretär Mosdorf, ich begrüße ausdrücklich IhreAnkündigung, die Mittel für die DZT zu erhöhen. Ichsage aber auch: Wir werden wachsam sein und beobach-ten, ob dies nächstes Jahr auch so erfolgen wird. Sie sprechen in Ihrem Tourismusbericht von demAbbau bürokratischer Hemmnisse, der Senkung vonSteuerlasten und der Beseitigung von Wettbewerbsver-zerrungen. Die Ziele sind richtig und wir unterschreibensie auch. Aber was tut die Regierung eigentlich? Tat-sächlich hat die Regierung die Rahmenbedingungenverschlechtert. Sie hat weitere bürokratische Hemmnisseaufgebaut und zusätzlich finanzielle Belastungen einge-führt. Das ist heute Fakt. Wir haben über 630-DM-Jobs, Ökosteuer und anderekonkrete Maßnahmen wie die Abschaffung des Vorsteu-erabzugs und die Neuregelung der Provisionsbesteue-rung genügend geredet. Herr Staatssekretär, Sie spre-chen von der Steuerreform. Wir wissen doch alle, dassdie betroffenen Betriebe zunächst mehr belastet wurdenund dass es äußerst fragwürdig ist, ob es unter demStrich eine Entlastung gibt.
Wir setzen dagegen und fordern Bürokratieabbaudurch Überprüfung von Gesetzen, Standards und Rege-lungen im europäischen Vergleich. Im Zeitalter des Euroist dies angesagt und dringend notwendig. Wir forderndas Durchforsten des Wildwuchses touristischer Ver-bandsstrukturen, die Liberalisierung der Ladenöffnungs-zeiten und der Sperrstundenregelung
sowie die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung, wor-auf ich später noch näher zu sprechen komme. Wir for-dern auch eine stärkere Verzahnung mehrerer Bereiche. Ich erinnere daran: Es waren Liberale, die erste Vor-schläge und Initiativen unterbreitet haben, um den Kur-und Heilbädern den Einstieg in den Gesundheitstouris-mus zu ermöglichen. Es sind auch Liberale, die in denletzten Wochen neue Konzepte für den Behindertentou-rismus – ein bisher noch völlig unterschätztes Feld –vorgelegt haben.
Herr Staatssekretär Mosdorf, ich wollte jetzt eigent-lich den Wirtschaftsminister ansprechen. Ich bedaureaußerordentlich, dass sich der Wirtschaftsminister mitAusnahme von zwei oder drei Kurzbesuchen im Aus-schuss aus dem Tourismusbereich heraushält. Herr Wirt-schaftsminister Müller hat versprochen, sich für den re-duzierten Mehrwertsteuersatz einzusetzen. Er hat jetztgesagt, er habe sich bei Eichel nicht durchsetzen kön-nen. Wirtschaftsminister Müller – übrigens auch derKanzler – hat versprochen, sich für die Abschaffung derTrinkgeldbesteuerung einzusetzen.
Ich frage mich: Wie sieht eigentlich eine Regierungaus, in der Kanzler und Wirtschaftsminister zusammennicht in der Lage sind, sich gegen den Finanzministerdurchzusetzen?Sylvia Voß
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8810 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Ich nehme dem Minister durchaus ab, dass seine Absichtehrlich war. Aber die Tourismuswirtschaft wartet nichtauf einen Wirtschaftsminister, der redet, sondern auf ei-nen, der handelt und sich wenigstens im eigenen Lagerdurchsetzt.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Mosdorf?
Es ist mir eine Ehre,
Herr Abgeordneter.
Herr Kollege, ich wollte
Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu neh-
men, dass der Bundeswirtschaftsminister heute in Nürn-
berg – eine schwierige Region mit negativen Arbeits-
marktentwicklungen – ist und dort einen runden Tisch
mit den Vorstandsvorsitzenden der wichtigsten Unter-
nehmen organisiert hat. Es geht dort um Arbeitsplätze
und die Zukunft der Region.
Sie wissen auch, dass wir unsere Anstrengungen im
Tourismus insgesamt in den letzten 15 Monaten erhöht
haben. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Sehr geehrter Herr Ab-
geordneter Mosdorf, ich bin wirklich bereit, vieles zu
entschuldigen. Aber ich bin nicht mehr bereit, zu ent-
schuldigen, dass der Wirtschaftsminister – ich wiederho-
le dies – nur zwei- oder dreimal zu Kurzbesuchen im
Ausschuss war und dabei jedes Mal vorzeitig wieder ge-
hen musste. Er hat sich, wenn ich micht recht erinnere,
noch nie bei einer Debatte sehen lassen. Ich denke, dies
zeigt, welchen Stellenwert die Tourismuspolitik für ihn
hat.
Zu Ihrer zweiten Frage. Ich weiß, dass Sie verschie-
dene Maßnahmen getroffen haben. Ich habe auch das
mit der DZT angeführt. Nur: Unter dem Strich sind die
Belastungen der Branche erheblich höher als die Entlas-
tungen, von denen Sie so gerne reden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch et-
was zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung sagen.
Wir haben diesen Antrag eingebracht. Ich habe schon
darauf hingewiesen: Schröder und Müller haben ver-
sprochen, sich dafür einzusetzen. Ich war sehr ent-
täuscht, dass sich die SPD bei der Abstimmung darüber
in der Regel enthalten hat und dass die CDU/CSU dage-
gen gestimmt hat. Im Wirtschaftsausschuss haben offen-
bar einige dafür gestimmt, was ich sehr begrüße. Ich ap-
pelliere noch einmal an Sie: Es hat sich hier etwas ge-
ändert. Die Finanzämter prüfen mehr. Die BfA bekommt
die Bescheide und verdonnert die Betreffenden zu
Nachzahlungen. So kann die Branche nicht arbeiten.
Deshalb müssen wir aus solchen Veränderungen endlich
Konsequenzen ziehen. Ich bitte sie wirklich, über Ihren
Schatten zu springen und den Schritt doch noch zu ma-
chen.
Vor dieser Debatte hatten wir eine Aktuelle Stunde
zur Fusion von Deutscher und Dresdner Bank. In diesem
Zusammenhang bewegt uns schon sehr stark die Frage
nach der kreditmäßigen Versorgung –
Herr Kollege,
Ihre Redezeit ist leider vorbei.
Da waren doch Zwi-
schenfragen.
Währenddes-
sen habe ich die Uhr auch angehalten.
– ich komme gleich
zum Schluss, lassen Sie mich den einen Punkt noch an-
sprechen – der mittelständisch geprägten Tourismus-
wirtschaft. Jetzt wird deutlich, wie wichtig die Struktur
der Genossenschaftsbanken und Sparkassen ist. Deshalb
fordere ich die Regierung auf, alles dafür zu tun, um
diese Wettbewerbssituation zu verbessern, um insbeson-
dere das vom Basler Ausschuss intendierte externe Ra-
ting zu verhindern. Denn dies wäre tödlich für diese
Branche.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Es gibt auf dem Weg zu dem gemeinsamen Ziel, über
das Konsens herrscht, rot-grüne Wegmarken, die in die
falsche Richtung führen, und blau-gelbe Wegmarken,
die heißen: weniger Steuern und Abgaben, Bürokratie-
abbau, Deregulierung. Die führen in die richtige Rich-
tung.
Herr Kollege,
bitte.
Ich hoffe, dass sich die
Wirtschafts- und Tourismuspolitiker in der SPD doch
noch gegen Eichel durchsetzen und mit uns den richti-
gen Weg gehen. Sonst wird das Potenzial von 400 000
Arbeitsplätzen –
Herr Kollege,
ich muss Sie jetzt wirklich bitten, nicht noch einen und
noch einen Satz zu sagen, sondern auch wirklich Schluss
zu machen.
– nicht genutzt. DieVerantwortung dafür müssen dann allerdings Sie tragen. Ernst Burbacher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8811
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Es ist schon etwas kompliziert mitder knappen Redezeit. Ich kann mir das vorstellen, aberich muss mich noch kürzer fassen, Herr Burgbacher.
Insofern kann ich viele Fragen, bei denen es sich lohnt,dass sie ausführlich diskutiert werden, auch nur thesen-förmig ansprechen. Ich denke, die Diskussion darüberkönnen wir dann im Ausschuss alle gemeinsam führen.Vor gut anderthalb Wochen ist die ITB zu Ende ge-gangen. Wir haben schon erfahren, welche Ergebnissesie gebracht hat. Ich möchte auch auf die positiven Ent-wicklungen besonders in den neuen Bundesländern, inMecklenburg-Vorpommern und auch in Thüringen,verweisen. Das hat Herr Mosdorf schon ausführlich dar-gelegt. Der uns heute vorliegende Tourismuspolitische Be-richt der Bundesregierung ist eine Bestandsaufnahmeder rot-grünen Regierung zu wesentlichen Dimensionendes Tourismus in Deutschland. Er enthält eine Reihegrundsätzlicher, absoluter und prozentualer Aussagen zuden wirtschaftlichen Strukturen und steigenden Ergeb-niszahlen der Branche, zu Trends und Aufgaben sowiezu Formen zukünftiger Förderpraxis. Neben der Ver-vollkommnung der Darstellung zum Nachweis der wirt-schaftlichen Bedeutung des Tourismus wäre einegleichwertige Darstellung der sozialen Bedeutung desTourismus erforderlich.
Thesenförmig möchte ich deshalb auf einige Punkteaufmerksam machen: Mit einer Bruttowertschöpfungvon rund 270 Milliarden DM hat die Tourismuswirt-schaft einen Anteil am Bruttoinlandsprodukt von rund8 Prozent. Aber, so positiv der Fakt an sich ist, stellensich mir dennoch Fragen, auf die der Bericht keine Ant-wort gibt: Warum hat zum Beispiel der Tages- und Ge-schäftstourismus in Deutschland einen höheren Anteilam Bruttoinlandsprodukt als die Individualreisen? Wa-rum liegt der Tagestourismus mit einem Anteil von fast45 Prozent am von der Tourismuswirtschaft erwirtschaf-teten Bruttoinlandsprodukt vor allen anderen Touris-musarten? Wenn – so wird es im Bericht festgestellt – die klei-nen und mittelständischen Unternehmen auch der Tou-rismuswirtschaft in strukturschwachen Regionen derMotor für Wachstum und Beschäftigung sind, dann sindvöllig neue konzeptionelle Überlegungen hinsichtlicheines regionen- und länderübergreifenden Inlandmarke-tings, aber auch hinsichtlich der Angebote, die auch an-dere Reiseformen ermöglichen, erforderlich.Das Reiseziel Deutschland braucht dringend die sys-tematische, gemeinsame und überregional touristischnutzbare Erschließung von Kultur, Brauchtum undGeschichte. Herr Mosdorf hat das vorhin mit „Kombi-nationstourismus“ umschrieben. Das heißt, bei allemFöderalismus in der Tourismusentwicklung in Deutsch-land muss über Ländergrenzen hinweg ein Hauptau-genmerk auf die Gestaltung adäquater Förderprogrammegelegt werden, wenn man will, dass die zur Verfügungstehenden Mittel effektiver und sinnvoller zum Einsatzkommen.Die Tourismusbranche beschäftigt bundesweit circa2,8 Millionen Menschen in direkten bzw. in indirektenArbeitsverhältnissen. Auch das ist vorhin schon einmalangesprochen worden. Für die neuen Bundesländer mussich an dieser Stelle wiederholt auf die Besonderheitenaufmerksam machen, die auf eine Schattenseite derBranche hinweisen. Ein Großteil der touristischen Ein-richtungen funktioniert bis zu 50 Prozent auf der Basisdes zweiten Arbeitsmarktes. Das liegt weit über denVergleichszahlen in den alten Bundesländern. Es schafftsowohl sozial als auch in puncto Dienstleistung manchesProblem; denn Personen in befristeten und prekären Ar-beitsbeschaffungsmaßnahmen sind auf Dauer keine Lö-sung. Für den Tourismus – ich denke, das gibt nicht nurin der Tourismusbranche – bedeutet Kontinuität in derBeschäftigung auch immer Sach- und Fachkenntnis unddamit Qualität in dieser Branche.
Deshalb sollten aus meiner Sicht zukünftig Förderkrite-rien im Tourismus wesentlich die nachgewiesene, bilan-zierte und dauerhafte Arbeitsplatzbeschaffung beinhal-ten.Es ist sicher, dass für die Tourismuswirtschaft E-Commerce völlig neue Wege eröffnet. Auch das istschon angesprochen worden. Die Möglichkeit schnellzugänglicher Informationen und Buchungen via Internetbringt aber auch Nachteile. Es ist nicht zu leugnen, dasses durch die technologische Entwicklung letztlich zu Ra-tionalisierungen in allen Bereichen und damit zum Ar-beitsplatzabbau kommt. Ich sehe die Zukunft des Reise-büros in einer Kombination von Information über dasInternet, Telefon und Fernsehen sowie von Direktmarke-ting und von der Möglichkeit des Gespräches vor Ort.Bei allem Wachstum in der Tourismuswirtschaftmuss aber davon ausgegangen werden, dass, solange dieGeschwindigkeit der touristischen Entwicklung anhält,Wege gefunden werden müssen, um auch Natur undLandschaft zu erhalten. Die negativen Folgen für dievom Tourismus betroffenen Regionen und Menschen imHinblick auf eine nachhaltige Entwicklung liegen aufder Hand: die Zunahme der Verkehrsbelastungen durchEmissionen, die Übernutzung traditioneller Tourismus-gebiete, die Beeinträchtigung des Landschaftsbildes, derFlächenverbrauch und die Versiegelung des Bodens, derArtenrückgang und die Bedrohung der Pflanzenwelt.Realistische Chancen hat nachhaltiger und sanfterTourismus nur, wenn er nicht neben den bisherigenTourismusformen besteht, sondern die alleinige Touris-musform ist, eine Form, die nicht nur lebt, sondern auchErnst Burgbacher
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8812 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
leben lässt. Hinsichtlich der Umweltfolgen wird im Be-richt der Bundesregierung noch unzureichend und füruns noch nicht weit genug auf alternative Lösungen be-züglich des Ressourcenverbrauchs eingegangen. Wirfordern eindeutige Verbindlichkeiten für die Touris-muswirtschaft in Deutschland hinsichtlich ihrer Auswir-kungen auf die Umwelt. Ansätze dazu gibt es schon.Ein Katalog von Maßnahmen, die das Bedingungsge-füge des Bundes im Verein von Ländern und Kommu-nen umreißt, ist dringend geboten. Wir fordern nach wievor einen nationalen Umweltplan.
Frau Kollegin,
auch Sie muss ich darauf hinweisen, dass Sie nicht mehr
alle Ihre Blätter schaffen werden.
Ich sehe ja, dass die Kollegen Tourismuspolitiker nicht
allzu viel Gelegenheit haben, im Plenum zu sprechen.
Ich bin aber schon großzügig.
Dann lassen Sie mich nur
noch ganz kurz auf ein Problem hinweisen: Eine wichti-
ge Aufgabe im Bereich des Tourismus betrifft die Kin-
der- und Jugendreisen. Es stimmt mich schon nach-
denklich, wenn das Bundesministerium für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend vordergründig das Jugend-
herbergswerk berücksichtigt, nicht aber die in den neuen
Bundesländern geschaffenen Strukturen, wie zum Bei-
spiel die Kindererholungszentren. Ich denke, dass es an
der Zeit ist, dass diese Strukturen, die gewachsen sind
und die auch erhaltenswürdig sind, die entsprechende
Förderung erhalten.
Zum Thema der barrierefreien Mobilität von Men-
schen mit Behinderungen ist schon ausreichend gespro-
chen worden.
Ich wünsche uns für die Beratungen des Tourismus-
politischen Berichts der Bundesregierung eine inhaltlich
orientierte Diskussion. Ich denke, dass wir dann auch zu
Schlussfolgerungen kommen werden.
Schönen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Brunhilde Irber.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! LieberHerr Brähmig, es ist schön, dass Politik bei Ihnen bere-chenbar ist. Sie legen seit Jahren immer dieselbe Platteauf und wir wissen schon, womit Sie kommen.Herr Burgbacher, Ihr liberales Tourismuskonzept„21 Punkte für das 21. Jahrhundert“
stellt eine lange Liste der Versäumnisse Ihrer Regie-rungszeit dar.
Das gilt auch für Sie, Herr Brähmig: 16 Jahre haben Sienichts gemacht, aber jetzt treten Sie hier mit Forderun-gen auf. Haben Sie schon einmal ausgerechnet, was dieForderungen, die Sie in allen Bereichen – Verkehr, Tou-rismus usw. – aufstellen, an Kosten im Bundeshaushaltverursachen? Das ist doch ein Witz.
Lassen Sie uns zu den Tatsachen zurückkehren unduns mit dem Bericht auseinandersetzen. Nur eines noch:Sie sind 16 Jahre lang im Bummelzug gefahren, was denTourismus anbelangt. Wir aber sitzen im Transrapid.
– Zwischen München und dem Flughafen.Aber nun zur Sache: Die Forderung der Oppositionfür die DZT ist verständlich, aber, Herr Brähmig, in derHöhe unangemessen. Das Problem im Deutschlandtou-rismus ist doch nicht, dass wir im Marketingbereich zuwenig Mittel hätten,
sondern dass die Produktaufbereitung und die Produkt-gestaltung noch in den Kinderschuhen stecken. Ichnenne Ihnen ein Beispiel aus der Automobilbranche:BMW hat eine Menge Geld ausgegeben und intensiveMarketinganstrengungen unternommen, um die MarkeRover auf dem deutschen Markt zu positionieren. Dassdies nicht gelang, war keine Frage des Geldes, sonderndes Images des Produktes. Wir müssen also vermehrtAnstrengungen unternehmen, um die Produkte imDeutschlandtourismus vermarktungsfähig zu machen.
Hierin sehen wir auch die Aufgabe für den DeutschenTourismusverband.Herr Minister Dr. Müller hat im Ausschuss bereitsdarauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Finanzie-rung der DZT im nächsten Haushaltsjahr deutlich aufzu-stocken; das hat der Herr Staatssekretär bestätigt.
– Das hat der Herr Staatssekretär schon gesagt. – Dafürmöchte ich dem Minister ausdrücklich danken; denn ersetzt damit die seit Anbeginn dieser RegierungskoalitionRosel Neuhäuser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8813
entwickelte Strategie fort. Wir werden die DZT kontinu-ierlich in ihrer Leistungsfähigkeit stärken.
Aber es hapert noch, wie gesagt, am Produkt. Wir ha-ben in Deutschland Ferienregionen mit wunderschönenLandschaften – zum Beispiel die Sächsische Schweiz –,
in denen aber kein Hotel existiert, vor dem ein Bus Sta-tion machen könnte. Es gibt Ferienorte, in denen durch-gängig alle Betriebe am selben Tag Ruhetag haben. Wirhaben Ferienorte, in denen die Hälfte der Zimmer ohneBad ausgestattet ist. Wir haben Ferienregionen, die inPublikationen bunt inserieren, ohne eine Vorstellungvon ihrer Zielgruppe zu haben. Wir haben Regionen inDeutschland, die mit Spaßbädern so dicht gepflastertsind, dass man zwischen ihnen im Zehnminutentakt hin-und herpendeln könnte.
– Das könnte ich Ihnen schon sagen.
– Da ist in den letzten 16 Jahren viel Geld planlos hin-eingeflossen. – Schließlich haben wir Regionen, dienoch nicht einmal erkannt haben, dass sie in Gestalt vonLandschaft und Natur ein vermarktungsfähiges Pfundfür ihre Wirtschaftsstruktur haben.Dies auf Vordermann zu bringen ist nicht die Aufga-be der DZT. Wir brauchen in den Regionen vermark-tungsfähige Produkte. Das bedeutet, die Leistungsträgermüssen in einen Angebotsverbund gebracht werden, ihreAngebote aufeinander abstimmen und ein zielgruppen-orientiertes Angebot erstellen. Sie müssen in Kooperati-on mit den Nachbarregionen Begleitprogramme entwi-ckeln, zentrale Events organisieren und Highlights in dieRegionen bringen. Kurz gesagt, sie müssen sich für denUrlaub 2000 fit machen.
Deutschland hat sehr wohl eine Chance gegenüberden sonnenverwöhnten Südländern. Unsere Chance liegtin der Qualität des Produktes. Ich danke der Bundesre-gierung ausdrücklich für den geänderten politischenSchwerpunkt in diesem Tourismuspolitischen Bericht.„Politischer Bericht“, der Name ist Programm: keineAneinanderreihung von bloßen Statistiken, wie wir es inden Tourismusberichten der alten Regierung erlebt ha-ben, sondern konkrete politische Aussagen zu den Inhal-ten und auch zu den Defiziten des Tourismus.
Die Umweltpolitik und die Nachhaltigkeit im Tou-rismus – das sind neue Schwerpunkte – sind die Schlüs-selbegriffe für die Zukunft des Deutschlandtourismus.Der Deutschlandtourismus wird nachhaltig sein oder erwird nicht sein. Aufgabe ist es, die Qualität im Umwelt-bereich zu steigern, Lust auf Natur zu machen und daszu einem herausragenden Qualitätsmerkmal im Deutsch-landtourismus werden zu lassen.
Meine Kollegin, Frau Voß, ist bereits auf diesen Punkteingegangen. Naturschönheit und Naturverbundenheit, Erholungund Abwechslung, Familien- und Kinderfreundlichkeitsind unsere Pluspunkte, die wir noch stärker herausstel-len müssen.
Auch ein Pauschalurlauber kann in Deutschland gut auf-gehoben sein.Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten. Der Anteilder ausländischen Gäste an der Gesamtzahl der Über-nachtungen ist in den neuen Bundesländern auffallendgering. Die neuen Bundesländer haben im Ausland of-fensichtlich noch mit dem Image der vergangenen Jahrezu kämpfen. Ich rege an, eine gesonderte Vermarktungs-initiative für die neuen Bundesländer und ihr insgesamtpositives Image über die DZT zu starten. Herr Brähmig,das wird Sie freuen: Let‘s go east!
Wie ich sehe, lacht Herr Brähmig nicht einmal.Ansonsten kann der Deutschlandtourismus aufgrundder hervorragenden Wachstumszahlen rundweg begeis-tern. Dies hat der Herr Staatssekretär ausgeführt. Er hatverschwiegen, dass die Ursachen hierfür in der Politikder Bundesregierung liegen und dass ein ausgezeichne-tes Konjunkturklima geschaffen worden ist. Davon pro-fitiert die Branche bei weitem mehr als von den Forde-rungen der Opposition.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen
Brähmig?
Aber selbstverständlich.
Frau Kollegin Irber,zu dem „Let’s go east!“ vielleicht so viel: Nicht reden,sondern machen!Sie haben mich in Ihrer Einführung vorhin so charmant angesprochen. In diesem Jahr findet die EXPO 2000 in Deutschland statt. Das Land Nieder-sachsen hat den Transrapid als ein weltweites Projekt,als Zukunftstechnologie angemeldet. Könnten Sie sichvorstellen, dass die Bundesregierung und vielleicht so-gar Bundeskanzler die EXPO zum Anlass nehmen könn-ten, um dort den Spatenstich für dieses Hightech- undInnovationsprojekt zum Wohle Deutschlands vorzu-nehmen?Brunhilde Irber
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8814 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Herr Brähmig, wenn ich
Bundeskanzler wäre, dann würde ich das machen; aber
ich bin es nicht. Da müssen Sie ihn schon selber fragen.
Ich möchte Ihnen das Wachstum des Tourismus ge-
rade in den neuen Ländern darstellen. 17,8 Mil-
lionen Gäste sind in Ostdeutschland 1999 gezählt wor-
den. Das ist eine Steigerung gegenüber 1998 um
10,3 Prozent bei den Ankünften und es bedeutet 54 Mil-
lionen Übernachtungen – ein Plus von 10,9 Prozent.
Das führt das, was Sie vorher sagten, ein bisschen ad
absurdum. Die Kapazitätsauslastung ist in den alten
Ländern auf 35,3 Prozent und in den neuen Ländern auf
32,5 Prozent gestiegen. Der Zuwachs liegt etwa bei
3 Prozent.
– Nein, nicht Bettenzuwachs. Die Verweildauer hat sich
erhöht. Gerade die neuen Länder haben wegen dieses
Zuwachses ein hohes Wirtschaftswachstum. Es ist höher
als das des Westens im gesamten wirtschaftlichen Be-
reich. Da ist der Tourismus federführend.
Dies zeigt, dass die Leitfunktion dieser Branche im
Osten wirkt. Der Tourismus ist das Zugpferd der ost-
deutschen Konjunktur. Ich möchte an dieser Stelle auch
einmal sagen: Anerkennung den ostdeutschen Ländern –
Anerkennung, wem Anerkennung gebührt.
Ich möchte etwas auslassen; denn ich bin schon über
der Zeit.
Das ist auch
bei Ihren Kollegen die Regel.
Ich möchte nur noch ein
paar Worte sagen. Der Kollege Holetschek hat hier eine
Frage bezüglich des Kur- und Gesundheitstourismus
gestellt. Dazu muss ich Ihnen schon sagen: Die Heilbä-
der haben im letzten Jahr mit einem Plus von
3,3 Prozent wieder einen spürbaren Zuwachs erzielen
können. Dies ist natürlich nicht das Niveau von
1995/1996 oder der Zeit davor. Daran sind aber Sie von
der Opposition mit Ihrer unsäglichen Gesundheitsreform
von damals schuld.
– Ja, natürlich. Da ist doch ein Einbruch gewesen.
– Ja, eben. Darüber haben wir uns doch hier auseinander
gesetzt.
Auch der Städtetourismus verbuchte Steigerungen,
und zwar in den Großstädten in Höhe von 6,3 Prozent.
Das ist deutlich höher als die durchschnittlichen Steige-
rungen in den übrigen Gemeinden. Dies ist eine gute Bi-
lanz für den Geschäftsreiseverkehr.
Wir sind auf einem guten Weg. Deswegen sollte die
Opposition ihre Aussage, es habe sich nicht viel bewegt,
zurücknehmen, die erfolgreiche Politik der Bundesregie-
rung anerkennen und konstruktive Vorschläge machen,
wie der Deutschlandtourismus gefördert werden kann.
Wir wünschen uns keine überzogenen Selbstdarstellun-
gen im Tourismusbeirat. Dies ist vielmehr ein Forum für
Fachleute und sollte nicht der Fortsetzung der Aus-
schusspolitik dienen.
Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in
den zuständigen Ministerien sowie den Haushältern und
den Vertretern der Branche und der Verbände. Ihr Bei-
trag ist die Grundlage zum Erfolg.
In diesem Sinne wünsche ich der Bundesregierung
eine weiterhin glückliche Hand im Umgang mit der
Branche und uns allen eine Fortsetzung der Erfolgsstory
„Tourismus in Deutschland“.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Anita Schäfer.
Die gab es aber nicht imSonderangebot. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-ten Kolleginnen und Kollegen! Der TourismuspolitischeBericht der Bundesregierung ist eine schöne Statistik, inder ich leider keine innovativen Ansätze für die Ent-wicklung des Tourismusstandortes Deutschland erken-nen kann.
– Ja.
Die Bundesregierung verzichtet nicht nur auf jeglicheprogrammatischen Aussagen, sondern äußert sich auchnicht zu so wichtigen Fragen wie zum Beispiel die derkünftigen Rolle des Autoverkehrs im Rahmen der Ver-kehrsträgerentwicklung.Die deutsche Wirtschaft ist von Globalisierung undArbeitsteilung geprägt. Dies gilt auch für den Touris-mus. Somit ist Mobilität für die zukünftige Entwicklungdes Standortes Deutschland ein Schlüsselfaktor. Engpäs-se im Verkehrssystem blockieren die Entwicklung derTourismuswirtschaft. Deutschland muss sich zu einemwichtigen touristischen Verkehrsdrehkreuz in EuropaKlaus Brähmig
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8815
entwickeln, und zwar zu Wasser, in der Luft, auf derSchiene und auf der Straße. Tatsächlich aber bewirkt die Politik der Bundesregie-rung das genaue Gegenteil: Überall werden Mittel an derfalschen Stelle gestrichen. In meinem Wahlkreis stehtzurzeit eine Bahnlinie zur Disposition, die das 60 000Einwohner zählende Mittelzentrum Pirmasens mit demOberzentrum Kaiserslautern und seinen 100 000 Men-schen verbindet. Obwohl diese Strecke für viele Men-schen unentbehrlich ist, werden Mittel gekürzt und we-gen der schlechten Haushaltslage die Schienenfahrwegenicht mehr in Ordnung gehalten.
Das ist geradezu signifikant für die kurzsichtige undengstirnige Politik von Rot-Grün.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollege Faße?
Nein. Ich möchte mitmeiner Rede fortfahren.Bei einer solchen Politik kann es uns nicht verwun-dern, wenn gleichzeitig die Straßen überfüllt sind. Esdrängt sich geradezu der Verdacht auf, dass Rot-Gründie Bahn vernachlässigt, um auf der Straße umso mehrdie so genannte Ökosteuer abkassieren zu können.
Wie widersprüchlich die Politik der Regierung ist,möchte ich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen:Das kurpfälzische Oberzentrum Mannheim soll von derneuen ICE-Verbindung Frankfurt–Stuttgart abgehängtwerden. Somit hätte die gesamte Pfalz erheblicheNachteile, was nicht ohne Folgen bliebe.
– In der Tat, auch das Saarland. – Welchen Sinn hättenoch der Ausbau der Schnellbahnstrecke Paris–Mann-heim auf französischer Seite, wenn es in Mannheim kei-ne Verknüpfung mit dem deutschen Schnellbahnnetzgäbe? Ich fordere daher die Bundesregierung auf, die Inves-titionen für die Verkehrsinfrastruktur zukunftsorientiertzu erhöhen, was auch heißen soll, dass Knoten undSchnittstellen unter Berücksichtigung von Zubringernvorangebracht werden. Auch bei den Flughäfen müssenwir darauf achten, dass sich neben den oftmals überlas-teten Großflughäfen auch kleine Flugplätze behauptenkönnen, wie zum Beispiel mein Heimatflugplatz Zwei-brücken, der ein innovatives Konversionsprojekt dar-stellt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht ist aberauch in anderer Hinsicht unvollständig, da er einen we-sentlichen Teil der Branche, nämlich die mittelständi-schen Reisevermittlungen und Reiseveranstalter, garnicht berücksichtigt. Vor der Bundestagswahl hieß es noch, der Mittelstandwürde zur Kanzlersache. Aber in diesem Bericht werdendie Probleme des Mittelstandes gänzlich totgeschwie-gen.
Das kann nur zweierlei bedeuten: Entweder kennt dieBundesregierung die Probleme des Mittelstandes garnicht oder aber sie ist nicht willens, diese Probleme zulösen. Das eine ist so schlimm wie das andere.In diesem Zusammenhang hätte ich mir eine Stel-lungnahme der Bundesregierung auch zu den gewaltigenProvisionsabsenkungen in der Branche gewünscht. Mitbis zu 45 Prozent Absenkung gefährden sie die Existenzder eigentümergeführten Reisebüros, die einen wichti-gen Bestandteil der mittelständischen Unternehmenskul-tur ausmachen.Welche innovative und ideologiefreie Lenkfunktionhat die Ökosteuer? Ich denke, keine. Für das Gastge-werbe hat sich die Ökosteuer nach einem Jahr Erpro-bung als Mogelpackung erster Güte entwickelt. Wenndie durchschnittliche Nettobelastung eines Betriebesmehr als 10 000 DM ausmacht, dann ist das nicht nurarbeitsplatzfeindlich, nein, es ist auch für den Touris-musstandort Deutschland extrem wettbewerbshemmend.Die Beitragssenkung um 0,4 Prozentpunkte in der Ren-tenversicherung macht diesen Schaden nicht wett, zumalviele Familienbetriebe im mittelständischen Gastgewer-be davon überhaupt nicht profitieren.Meine Damen und Herren von der Grünen-Bundes-tagsfraktion, können Sie es mit Ihrem Gewissen verein-baren, dass Betrieben in der Hotellerie durch Ökoauditbesondere Energieeffizienz bescheinigt wird, dass abergenau solche Betriebe immer noch jährliche Mehrbelas-tungen durch die Ökosteuer von durchschnittlich5 000 DM zu tragen haben? Ich denke, Sie werden mirdarauf keine befriedigende Antwort geben können.Es ist für uns von der CDU/CSU auch heute noch einRätsel, wie sich die SPD-Fraktion in dieser Frage vonihrem Koalitionspartner hat über den Tisch ziehen las-sen. Gerade die ökologisch und ökonomisch sinnvollenVerkehrsträger Bus und Bahn werden durch die Öko-steuer in stärkerem Maße belastet als der Individualver-kehr. Nach Berechnungen der Deutschen Bahn AG ent-stehen alleine durch die erste Stufe der Ökosteuer jährli-che Mehrkosten von circa 284 Millionen DM.
Den Omnibusunternehmern entstehen laut eigenen An-gaben Mehrkosten in Höhe von circa 42 Millionen DM.Somit wird Urlaub in Deutschland noch weiter verteuert.Wann begreift endlich die Bundesregierung, dass siemit ihrem Handeln die internationale Wertbewerbsfä-higkeit des deutschen Tourismus beschneidet? Die Re-gierung geht in ihrem Bericht nicht auf die für dieBranche wichtige und heiß diskutierte Frage derAnita Schäfer
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8816 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Mehrwertsteuersenkung im Beherbergungsgewerbe ein.Das kann ich nachvollziehen, denn gerade die SPD hatteeine solche Senkung im letzten Wahlkampf versprochenund wird nun nur ungern einräumen, dass sie auch hierein Versprechen nicht gehalten hat.
Bundeswirtschaftsminister Müller hatte schon bei derEröffnung der vorletzten Internationalen Tourismusbör-se in Berlin am 6. März 1999 auf die zum Teil gewalti-gen Unterschiede bei den Mehrwertsteuersätzen in derEU hingewiesen und dies als ein großes Handicap be-zeichnet. Er sagte darüber hinaus, dass deutsche Hotel-und Gaststättenbetriebe mit 16 Prozent relativ hoch be-lastet seien. Diesen speziellen tourismuspolitischen As-pekt habe er besonders im Auge, denn er sei ein hand-fester Wettbewerbsnachteil für das deutsche Geschäft.Wer für mehr Urlaub in unserem Lande eintritt, so derMinister weiter, müsse diesen Nachteil zu beseitigenversuchen. Des Weiteren gab er zu, noch nicht erfolg-reich gewesen zu sein. Er wolle aber beim Bundesfi-nanzminister für eine deutsche Zwischenregelung amBall bleiben, bis die Sätze in Europa vereinheitlichtwürden. Doch offensichtlich ist der Ball nicht mehr imSpielfeld. Erfolge jedenfalls sind ausgeblieben.Da meine Redezeit zu Ende geht, kann ich auf dennächsten Teil meiner Rede nicht mehr eingehen. Viel-leicht wird meine Kollegin dies tun.Ich komme zum Schluss. Für meine Fraktion fordereich die sofortige Rücknahme der so genannten ökologi-schen Steuerreform, die Harmonisierung der gastge-werblichen Mehrwertsteuersätze in der EU sowie diezügige Realisierung der beschlossenen Bundesverkehrs-wegeplanung. Wenn Sie das tun, dann wird uns die Re-gierung vielleicht bereits im nächsten Jahr einen innova-tiven und effektiven tourismuspolitischen Bericht vorle-gen können, der diesen Namen dann auch verdient.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Birgit Roth.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Offen gestan-den, Frau Schäfer, bin ich über Ihre Aussagen sehr ver-wundert. Sie kritisieren wieder einmal die Ökosteuer.Doch das simple Wiederholen einer Kritik heißt nochlange nicht, dass sie auch zutrifft.
Sie kritisieren die zu geringen Mittel der DZT, sie kriti-sieren die Verkehrspolitik. Wenn Ihre Kritik zutreffenwürde, dann müsste es doch ziemlich schlecht um dieTourismusbranche bestellt sein, oder nicht?
Schauen Sie sich doch einmal die Tatsachen an!Staatssekretär Mosdorf hat es bereits erwähnt. Wir ge-hen davon aus, dass der Tourismusbereich mittlerweileeinen Anteil von 8 Prozent am Bruttosozialprodukt hat.
Das ist ein Umsatz von ungefähr 275 bis 300 Milliar-den DM. Wir gehen davon aus, dass dort ungefähr2,8 Millionen Arbeitsplätze bereit gestellt werden, abge-sehen von circa 90 000 Ausbildungsplätzen.
Wenn Sie diese Kritik einmal reflektieren, dann werdenSie sehen, dass sie schlicht und einfach nicht berechtigtist.
So viel dazu.Lassen Sie mich zum Tourismusbericht der Bundes-regierung zurückkommen. Trotz Sparpaket – wir allewissen, wie prekär die Haushaltssituation ist; denn wirwissen ganz genau, welche Finanzlöcher wir von Ihnenübernommen haben –
haben wir es geschafft, die Mittel für die DZT stabil zuhalten. Herr Brähmig, ich möchte noch einmal daraufhinweisen, dass Sie die Mittel für die DZT auf29 Millionen DM abgesenkt haben. Auf Grund unsererIntervention ist es gelungen, dass die Mittel stabil blei-ben. Staatssekretär Mosdorf hat bereits angedeutet, dassdiese in den nächsten Jahren sogar noch erhöht werden.Aus den ERP-Programmen wurden 1998 insgesamt460 Millionen DM für Existenzgründungen und vor al-lem auch für den Ausbau von Betrieben im Hotel- undGaststättengewerbe bereit gestellt. So viel zur Mittel-standsförderung, die die Regierung auch realisiert.
Hinzu kommen Mittel von ungefähr 3,8 MilliardenEuro im Bereich der europäischen Sozialfonds, die –Frau Schäfer, ich bitte Sie, zuzuhören – in Maßnahmenim Bereich der Infrastruktur geflossen sind. Sie wissenganz genau, dass ein gut ausgebauter infrastrukturellerBereich natürlich auch dem Tourismus zugute kommt.Es hat ein Antistauprogramm gegeben, das Verkehrs-minister Klimmt bereits vorgestellt hat.
Anita Schäfer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8817
Da werden 7,4 Milliarden DM eingestellt, um wiederumVerbesserungen für den Infrastrukturbereich zu errei-chen. Auch das hat einen direkten Einfluss auf den Tou-rismus.
Auch mit den Zuschüssen im Rahmen der Gemein-schaftsausgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“ wurden in den letzten Jahren im Gast-gewerbe Investitionen von insgesamt 15 Milliarden DMausgelöst. Das heißt, es wurden ungefähr 33 000 zusätz-liche Dauerarbeitsplätze geschaffen. Genau dahin wol-len wir, dass wir sozialversicherungspflichtige Ar-beitsplätze realisieren und eben nicht 630-DM-Jobs, wievorhin von Ihnen angesprochen, Herr Brähmig.
Hinzu kommen vielfältige Qualifizierungsmaßnahmen,Schulungs- und Beratungsprogramme des Bundes. Wiebereits erwähnt, wurden 24 Kompetenzzentren in deneinzelnen Bundesländern neu eingerichtet.Ein Wort noch zu den Konzentrationstendenzen imTourismusbereich, die bereits angesprochen wordensind. Diese hat das Bundeskartellamt – mit Auflagenwohlgemerkt – genehmigt. Das heißt, wir begleiten die-se Entwicklung in diesem Bereich sehr verantwortungs-voll. Hinzu kommt, dass die Betriebe durch die Steuer-reform je nach Umsatz bzw. durch die Unternehmens-teuerreform ganz klar entlastet werden. Hierbei solltedie Ökosteuer, Frau Schäfer, nicht vergessen werden,denn die Ökosteuer trägt zu einer Reduzierung derLohnnebenkosten bei, wie Sie bereits erwähnt haben.
Durch weitere flankierende Maßnahmen, wie einenAktionsplan „Innovation und Arbeitsplätze in der In-formationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“, wird dieNutzung von modernen Informationstechniken weiterverbessert. Denn die Tourismusbranche ist ohne denE-Commerce überhaupt nicht mehr vorstellbar.Abschließend wäre zu sagen: Aufgrund der veränder-ten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind die Per-spektiven in der Tourismuswirtschaft ganz klar durchdie Bundesregierung positiv verbessert worden.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ilse Aigner.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! DerTourismus hat unter wirtschaftlichen Gesichtspunktenein besonders gutes Image. Er wird als eine der Boom-branchen mit fest programmierten Wachstumsraten ge-handelt und gilt als Hoffnungsträger für neue Arbeits-plätze. Die Tourismusbranche liegt, wie wir schon ge-hört haben, bei 8 Prozent des Bruttoinlandsproduktesund hat ein Volumen von 275 Milliarden DM. Dies isteine ganze Menge.Leider muss ich hier anmerken, dass der von Ihnenvorgelegte Bericht weder vom Umfang her noch in in-haltlicher Weise den Stellenwert erfährt, der der Tou-rismusindustrie aufgrund ihrer Wirtschaftskraft eigent-lich zukäme. Sinnvoll wäre zum Beispiel ein Kapitel über die Auswirkungen des Euro gewesen. Wir strebenschließlich einen juristischen „big-bang“ an; das heißt,ab dem 1. Januar 2002 sollen ausschließlich Euro-Bank-noten und -münzen gesetzliches Zahlungsmittel sein.Hier wäre ein Kapitel zu den Perspektiven für die Bran-che wichtig gewesen.Für die deutsche Tourismuswirtschaft wird die Ein-führung des Euro ein Meilenstein sein. Für die Bürgerwird der Wegfall des lästigen und kostspieligen Geld-umtausches bei Auslandsreisen der offensichtlichsteVorteil sein. Die einheitliche Währung macht auch dieumständlichen Umrechnungen überflüssig. Zusammenmit der höheren Preistransparenz ist deshalb von einerdeutlichen Zunahme des Reiseverkehrs nicht nur inner-halb Europas zu rechnen, sondern auch für Touristen ausÜbersee werden Anreize geschaffen, nach Europa undnach Deutschland zu reisen. Schon jetzt hat die Touris-muswirtschaft in besonderem Maße von den festenWechselkursen innerhalb der Währungsunion profitiert.Die betriebliche Kalkulation, die Abrechnungen mit dentouristischen Leistungsträgern im Ausland und auch dieBuchhaltung werden vereinfacht. Dies wird die Wettbe-werbsfähigkeit deutscher Reiseveranstalter steigern undvielleicht helfen, unseren Ruf als teures Urlaubsland ab-zustreifen.Wir sind uns über die Parteigrenzen hinweg darin ei-nig, dass der Wirtschaftsfaktor Tourismus weiter geför-dert werden muss.
Die großen Chancen der besonders personalintensivenWachstumsbranche Tourismus müssen bei der Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit konsequent genutzt werden. Ineinem hart umkämpften internationalen Markt benötigtdie Tourismusbranche daher auch Korrekturen in derSteuer-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik.Betrachten wir einmal die Beschäftigten- und Ar-beitsmarktsituation. Im gesamten Bereich des Reise-verkehrs arbeiten rund 2,8 Millionen Erwerbstätige; dieZahl der Ausbildungsplätze beläuft sich – Sie haben esschon angesprochen – auf 91 000. Für Deutschland be-deutet dies, das etwa 5 Prozent der Arbeitsplätze direktund 13 Prozent indirekt vom Tourismus abhängen. Da-bei sind die Chancen für Berufsanfänger und Seitenein-steiger wie auch für hoch qualifizierte Führungskräftegroß. Die Bereitschaft der Tourismusbranche, ihrenNachwuchs zu schulen, ist dabei äußerst lobenswert.Birgit Roth
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8818 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Lassen Sie mich etwas zur Ausbildungssituation sa-gen. Als typischem Dienstleistungssektor kommt derBranche durch ihre zahlreichen Beschäftigungs- undAusbildungsmöglichkeiten eine besondere Bedeutungzu. Sie leistet einen Beitrag zur Sicherung und Schaf-fung von Arbeitsplätzen. Dies ist nicht zuletzt ein positi-ves Ergebnis einer Neuordnung und Modernisierung derAusbildungsberufe in der Tourismuswirtschaft. Sehr ge-e
Diese sind von der alten Bundesregierung auf den
Weg gebracht worden, genauso wie die IT-Berufe, zu
denen Sie letztes Mal in der Sendung „Sabine
Christiansen“, so glaube ich, gesagt haben, dass Sie die
eingeführt hätten. Sie haben die Ausbildungsordnungen
in Kraft gesetzt, aber konzipiert wurden sie natürlich
noch von der alten Regierung. Das nur einmal zur Rich-
tigstellung.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Irber?
Aber immer.
Weil Sie gerade die Ausbil-
dungsplätze angesprochen haben: Stimmen Sie mir darin
zu, dass in der letzten Legislaturperiode auf Antrag der
SPD der neue Beruf des Systemgastronomen/der Sys-
temgastronomin geschaffen wurde und dass in diesem
Bereich zurzeit 395 Ausbildungsverhältnisse gemeldet
sind?
Sehr geehrte Frau Irber, es
ist nicht nur ein Beruf neu konzipiert worden, sondern es
sind eine Reihe von Ausbildungsberufen modernisiert
worden. Da hat man gemeinsam an einem Strang ge-
zogen – ich glaube, da sind wir uns auch einig –, in dem
Bemühen, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Aber
dies ist in der letzten Legislaturperiode geschehen.
In den zwölf bestehenden Ausbildungsberufen der
Tourismusbranche bestanden Ende 1998, wie gesagt,
91 000 Ausbildungsverträge. Aufbauend auf einer fun-
dierten Erstausbildung bietet dieser Bereich hervorra-
gende Fort- und Weiterbildungsangebote. Die Förderung
der Aufstiegswilligen durch das noch von uns eingeführ-
te so genannte Meister-BAföG ist dabei ein wirksames
und erfolgreiches Instrument zur Weiterqualifizierung
junger Menschen. Ich möchte Sie schon heute auffor-
dern, mit uns weiter daran zu arbeiten, es zu intensivie-
ren und weitere Förderungsmaßnahmen ins Meister-
BAföG einzuführen.
Eine positive Entwicklung für Deutschland erwarten
wir auch von der Weltausstellung EXPO 2000 vom
1. Juni bis zum 31. Oktober in Hannover. Hier bietet
sich eine einmalige Chance, das Reiseland Deutschland
als modernes und attraktives Land darzustellen. Die Zu-
sammenarbeit zwischen der EXPO und der Tourismus-
wirtschaft hat leider erst etwas spät eingesetzt. Es be-
durfte erst zweier intensiver Gespräche des Ausschusses
mit der Geschäftsführung der EXPO, bis hier Bewegung
in die Sache kam. Ende Januar 2000 haben die Verant-
wortlichen der EXPO dann zum dritten Mal über den
Stand der Vorbereitungen im Ausschuss berichtet.
Eine Forderung des Tourismusausschusses war, ein
kundenfreundliches und unkompliziertes Buchungssys-
tem für ein flächendeckendes touristisches Angebot in
ganz Deutschland bzw. zum Besuch der EXPO zur Ver-
fügung zu stellen. Wichtig ist dafür eine Vernetzung der
Reservierungssysteme sowie die Bündelung der Einzel-
leistungen wie des Verkaufs der Eintrittskarten, der
Übernachtungen und der An- und Abreise zum Beispiel
mit der Bahn möglichst bei einer zentralen Stelle. Dieses
Problem scheint dem Vernehmen nach gelöst zu sein.
Nach monatelanger Diskussion tritt die EXPO 2000 jetzt
doch als Anbieter von Pauschalangeboten für die Welt-
ausstellung auf. Mit dem EXPO-2000-Erlebnisplaner
sind ab jetzt auch komplette Pakete inklusive Bahnreise
und reserviertem Parkplatz buchbar.
Der Bedeutung des Ereignisses völlig unangemessen,
handelt der Tourismuspolitische Bericht der Bundesre-
gierung das Ereignis EXPO lediglich auf einer halben
Seite ab. Das ist meines Erachtens nicht ausreichend.
Ich möchte darauf hinweisen, dass schon jetzt die touris-
tische Nachbereitung der EXPO für das nächste Jahr be-
ginnen sollte. Diese Anregung möchte ich gleich an Sie
weitergeben.
Ziel unserer Tourismuspolitik muss es auch weiterhin
sein, ein qualitatives und nicht ein quantitatives Wachs-
tum zu erreichen. Es müssen insbesondere die kleinen
und mittleren Anbieter gestärkt werden. Lassen Sie uns
gemeinsam die notwendigen Maßnahmen für den Tou-
rismusstandort Deutschland treffen.
Vielen Dank.
Ich schließedamit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/2473 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKlaus Riegert, Friedrich Bohl, Peter Letzgus,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU Doping im Spitzensport und Fitnessbereich – Drucksachen 14/1032, 14/1867 –Ilse Aigner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8819
Es liegen Entschließungsanträge der Fraktion derCDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – KeinWiderspruch. Dann ist auch so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Abgeordnete Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Der Fall Baumannund seine mediale Überbewertung haben den Spit-zensport mit Doping in Verbindung und damit in negati-ve Schlagzeilen gebracht. Dabei ist Doping kein auf denSpitzensport einzugrenzendes Phänomen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihre Große Anfrage zumDoping bewusst auf den Fitnessbereich erweitert. Hierzuwird mein Kollege Norbert Barthle nähere Ausführun-gen machen.Der Fall Baumann ist leider von höherem öffentli-chen Interesse als gesundheitliche Dauerschäden undTodesfälle durch Medikamentenmissbrauch im Fitness-bereich. Wir wollten durch unsere Anfrage von der Bun-desregierung wissen, ob sie in der Kontinuität der sehrerfolgreichen Dopingpolitik ihrer Vorgängerregierungsteht, wie sie dem Dopingproblem im Freizeitsport wir-kungsvoll begegnen will und wie sie zu den zahlreichenvollmundigen Ankündigungen des Bundesministers desInnern steht, jetzt gehe es mit der Dopingbekämpfungerst richtig los.
Herr Minister, Ihr Elan zu Beginn Ihrer Amtstätigkeitwar enorm. Konferenzen, Presseverlautbarungen, EU-Erklärungen, Treffen mit Sportlern und natürlich auchDrohungen mit Boykott und Entzug von Fördermittelnließen ein neues Zeitalter der Dopingbekämpfung erwar-ten.Ihren Aktionismus hat Martin Lauer treffend bewer-tet: „Schily macht dicke Backen“ und „Das Ergebniswird so mager sein, dass man besser schon jetzt vergisst,wer sich da so weit aus dem Fenster gelehnt hat“. Sostand es in der „Welt“ vom 4. Juni 1999.
Die Antwort der Bundesregierung entspricht dieserErwartung: ausweichend, offen lassend, behutsame Dis-tanzierung von den eigenen Ankündigungen. Eine zwei-jährige Mindeststrafe für Ersttäter wird es nicht geben,auch keine internationale Anti-Doping-Agentur à laSchily. Von ihrer Drohung mit einem Olympiaboykott,verbreitet in den Medien, distanziert sich die Bundesre-gierung. Bei der Bekämpfung des Dopings haben Sie unsereUnterstützung. Aber Sie müssen realistisch bleiben.Nehmen Sie Ihre Person zurück und stellen Sie die Sa-che in den Vordergrund!
Wir sind uns in diesem Hause einig, dass der erfolg-reichen Bekämpfung des Dopings im Spitzensport eineentscheidende Bedeutung zukommt. Spitzensport setztentscheidende Impulse für die Akzeptanz und Entwick-lung des gesamten Sports und hat insbesondere für diejungen Menschen eine hohe Vorbildfunktion. Spit-zensport besitzt eine hohe Popularität und eine weite öf-fentliche Verbreitung. Deshalb brauchen wir einen sau-beren, manipulationsfreien Spitzensport. Es wäre dasEnde des Spitzensports, würden wir in der Bekämpfungdes Dopings nachlassen. Deutschland hat bei der Bekämpfung des Dopings iminternationalen Vergleich ein hohes Niveau. Dies ist ohne Zweifel ein Verdienst des Sports, desSportausschusses, aber auch der alten Bundesregierung.Bei den unangemeldeten Trainingskontrollen etwaliegen wir weltweit vorn. Wir kontrollieren fünfmal soviel wie in Frankreich. Was nützt den Franzosen einstaatliches Anti-Doping-Gesetz, wenn sie kaumkontrollieren? Die Sachverständigen bei unserer An-hörung lehnten ein Anti-Doping-Gesetz klar ab. Bekämpfung des Dopings im Spitzensport ist in ersterLinie Sache des Sports. Wir dürfen den Sport nicht ausseiner Verantwortung entlassen. In ihrer Antwort distan-ziert sich die Bundesregierung von der Forderung eini-ger Koalitionspolitiker, in Deutschland ein Anti-Doping-Gesetz nach französischem Muster einzuführen. Siemacht dies zwar sehr behutsam, aber sehr akzentuiert.Wir brauchen keinen staatlichen Zugriff auf Verbändeund Vereine. Die Organisation der Dopingbekämpfung muss ge-strafft werden. Die Sachverständigen, der Bundesminis-ter des Innern, auch Koalitionspolitiker fordern einerechtlich eigenständige und unabhängige nationale Anti-Doping-Agentur. Auch wir fordern dies. Wir brauchen eine solche unabhängige Anti-Doping-Agentur. Diese ist aber nicht umsonst zu haben. HerrMinister, dies wussten Sie, als Sie die Forderung erho-ben. Was Sie für den internationalen Bereich von ande-ren fordern, erfüllen Sie bitte zunächst im nationalen Be-reich. Stellen Sie die erforderlichen Mittel zur Verfü-gung! Der Präsident des Deutschen Sportbundes hat sieangemahnt. Diese nationale Anti-Doping-Agentur sollte auch dieSchiedsgerichtsbarkeit ausüben. Nichts ist für den Sportschädlicher als lange Verfahren, die in der Öffentlichkeitimmer wieder den Eindruck hervorheben, dass Spit-zensport durch Doping belastet ist. Eine wirksame Do-pingbekämpfung kommt ohne abschreckende Sanktio-nen nicht aus. Es nützt aber nichts, öffentliche Erklärungen und Be-schlüsse der EU-Sportminister herbeizuführen, wenn dierechtlichen Möglichkeiten fehlen. Herr Schily, Sie ha-ben eine zweijährige Mindestsperre gefordert. Der Kon-stanzer Arbeitskreis für Sportrecht und der Richter desBundesverfassungsgerichts Professor Dr. Udo Steinerwidersprechen Ihrer These, Herr Minister. Eine zweijäh-rige Mindestsperre bei Erstvergehen ist nach Ansicht al-ler Rechtsexperten nicht haltbar. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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8820 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Sie werden jetzt sicher gespannt sein, was dieCDU/CSU außer der Anti-Doping-Agentur noch fordert:Erstens. Erhöhen Sie, Herr Minister, die Zahl der Trai-ningskontrollen! 6 000 statt 4 000 Trainingskontrollen:Das Abschreckungspotenzial ist heute nur bei den Top-athleten groß. Sie werden bis zu zehnmal im Jahr unan-gemeldet kontrolliert. Nur 0,5 Prozent von über 4 000unangemeldeten Trainingskontrollen waren positiv. Beiden B-, C- und D-Kadern wird theoretisch einmal inzwei Jahren kontrolliert.Geben Sie dem Sport die zusätzlichen Mittel! Dieseshilft einer ernsthaften und präventiven Dopingbekämp-fung mehr als öffentliche Bekundungen.
Zweitens. Wir brauchen – auch dies hat die Anhörungergeben – ein Dopingforschungsprogramm, abgestimmtauf internationaler Ebene.Drittens. Wir nehmen den Hinweis des Aktivenspre-chers bei der Anhörung sehr ernst. Herr Minister, ichempfehle Ihnen, das Statement nachzulesen. Der Akti-vensprecher betonte, dass eine gute Infrastruktur vonTrainings- und Wettkampfeinrichtungen verbunden mitsportmedizinischer, trainingswissenschaftlicher und so-zialer Betreuung Spitzenleistungen auf international ho-hem Niveau sichert, ohne auf illegale Methoden zurück-greifen zu müssen. Was aber macht die Bundesregie-rung? Sie kürzt bei den zentralen Maßnahmen und denInvestitionsmaßnahmen für den Spitzensport. NehmenSie diese Kürzungen zurück! Auch das gehört zu einerpräventiven Dopingbekämpfung.
Der Sport wird das bisherige Leistungspaket in denOlympiastützpunkten und Bundesleistungszentren ange-sichts der jetzigen Kürzungen nicht halten können. Siesprechen immer von Übereinstimmung mit dem DSB. InWirklichkeit diktieren Sie Kürzungen und verlangenUmsetzung. Dies verstehen wir nicht unter fairem part-nerschaftlichen Verhalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Do-pingkontrollsystem wollen wir beibehalten und ausbau-en. Wir müssen die Verbände ermutigen, mehr Druckauf internationale Verbände auszuüben, um zur größt-möglichen internationalen Übereinstimmung bei der Be-kämpfung des Dopings zu kommen. Dies wird umsoglaubwürdiger sein, wenn wir unsere Anstrengungen imnationalen Bereich, also bei uns zu Hause, verstärken.Herr Minister, es gibt für die Dopingbekämpfung ei-nen ausgewiesenen Sachverstand. Wir stimmen mit denSachverständigen überein. Setzen Sie die Ergebnisse derAnhörung in praktische Politik um! Dies macht sieglaubwürdig, nicht lautstarke öffentliche Ankündigun-gen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dagmar Freitag.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heutemit der Antwort der Bundesregierung auf die Große An-frage der CDU/CSU-Fraktion zu Doping im Spit-zensport und im Fitnessbereich. Der sportpolitischeSprecher der größten Oppositionsfraktion hat uns bereitsper Pressemitteilung wissen lassen, was er von der Be-antwortung seiner Fragen durch die Bundesregierunghält: nämlich nichts. Es wird Sie, Herr Kollege Riegert,nicht überraschen, dass wir Ihre Einschätzung nicht tei-len. Im Gegenteil: Ich bin verwundert, wie gut die Ant-worten der Regierung auf Ihre teilweise etwas unglück-lich formulierten Fragen – ich vermeide das Wort „dilet-tantisch“ – sind.
Als Anschauungsbeispiel empfehle ich, einmal die Fra-ge 19 nachzulesen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun-desregierung hat eine umfassende, verständliche Dar-stellung der Sachlage gegeben, neue Akzente beschrie-ben und deutlich gemacht, dass sie sich aktiv und erfolg-reich in diese schwierige Diskussion einschaltet. Ihnenist offensichtlich mehr daran gelegen, den Bundesminis-ter des Innern – neuerdings auch den Kanzler – zu atta-ckieren, als sich mit Argumenten zu befassen.
Es drängt sich einmal mehr der Eindruck auf, dass nichtdie Sache, sondern schlichter vordergründiger Aktio-nismus Ihr Handeln bestimmt.
Nur so, Herr Kollege, sind Ihre Angriffe, Vorwürfe undHalbwahrheiten überhaupt erklärbar. Ich bemühe als nur ein Beispiel Ihrer verklärten Dar-stellungsweise die Historie der Verschärfung des Arz-neimittelgesetzes. Im November 1999 behaupteten Siein einer Presseerklärung wörtlich:Wir begrüßen deshalb die Einsicht, die Auswirkun-gen des 1998 auf Initiative der damaligen Bundes-regierung geänderten Arzneimittelgesetzes abzu-warten und dort eventuelle Verschärfungen vorzu-nehmen.Lieber Herr Kollege, „auf Initiative der damaligen Bun-desregierung“! Darf ich Sie einmal daran erinnern –Kollegin Janz, die auch hier sitzt und schon eine Wahl-periode länger als ich im Parlament ist, hat schon dieersten Initiativen damals im Sportausschuss mitgetra-gen –, Klaus Riegert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8821
wie viele Jahre Ihre Fraktion sich gegen alle Verände-rungen gewehrt hat? Haben Sie vergessen, dass wir – und nicht nur einmal –entsprechende Anträge, entsprechende Gesetzesinitiati-ven formuliert und eingebracht haben? Haben Sie auchvergessen, wie Sie uns dafür beschimpft haben? „SPDstellt den deutschen Sport in die Dopingecke“, so sahenIhre Beiträge zur Dopingbekämpfung aus. Allein um derSache willen haben wir zugestimmt, dass die Änderungim Rahmen des damals ohnehin anstehenden Novellie-rungsverfahrens des AMG in den Gesetzentwurf aufge-nommen wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Änderungwird – das hat die öffentliche Anhörung am 26. Januardieses Jahres eindeutig belegt – als wichtiger und unver-zichtbarer Bestandteil einer wirksamen Dopingbekämp-fung angesehen. Das darf uns jedoch nicht davon abhal-ten, uns mit den neuen Problemen, Entwicklungen undFragestellungen auseinander zu setzen. Eine dieser Fra-gestellungen wird die Struktur und das Anforderungs-profil der zu gründenden nationalen Antidopingagen-tur sein.
Eindeutige Zielvorgabe muss die Verbesserung der der-zeitigen Situation sein. Die Partner in Sport und Politik sind aufgerufen, kon-sequent und zielgerichtet an einer kurzfristigen Umset-zung zu arbeiten. Meine Damen und Herren, diese Frageist ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit einer effektivenBekämpfung des Doping.
Meine Damen und Herren, es ist unverzichtbar, dasssich der Sportausschuss in einer zweiten Anhörung mitdem Problem des Medikamentenmissbrauchs imDunstkreis von Fitness- und Bodybuildingstudios be-fasst. Im Vorfeld dieser Anhörung begrüßen wir die kla-re Aussage der Bundesregierung, sich dieses Problem-feldes anzunehmen und damit jahrelange Versäumnisseder Vorgängerregierung aufzuarbeiten. Wir sollten im Rahmen dieser Anhörung durchausauch Hinweise zum Medikamentenmissbrauch im leis-tungsorientierten Breitensport hinterfragen und diskutie-ren.
Ich gebe diese Anregung, wohl wissend, dass uns nunmorgen vermutlich die christdemokratische Schlagzeiledroht: „SPD stellt Breitensport in die Dopingecke!“ HerrKollege, das liegt uns völlig fern. Dennoch dürfen wirentsprechende Hinweise nicht übersehen.
1998 ist in der Schweiz beim Marathon in Interla-ken an 130 Läufern eine Studie vorgenommen worden –mit einem Ergebnis, das mehr als nachdenklich stimmt:2,4 Prozent der Befragten gaben an, täglich oder mehr-mals wöchentlich Schmerzmittel zu nehmen. Und34,6 Prozent hatten vor oder während des Laufes nach-weislich Schmerzmittel zu sich genommen – sicherlichkein Doping im klassischen Sinn, ganz sicher aber aucheine Form von Medikamentenmissbrauch mit dem ein-deutigen Ziel, im Wettkampf die Leistung zu steigern.Zur Einordnung der Ergebnisse dieser Untersuchungbleibt festzuhalten: Die Teilnehmerinnen und Teilneh-mer einer solchen Veranstaltung sind Freizeitsportler,die jedoch den Sport nicht allein unter gesundheitlichenAspekten betreiben. Bei ihnen spielt der Wettkampfge-danke eine wichtige Rolle, wenngleich auch klar ist,dass keine Hochleistungssportler am Werk sind.Unter Würdigung solcher Erkenntnisse sind in derVergangenheit folgende Bereiche geradezu sträflichvernachlässigt worden: Aufklärung und Prävention. Esgibt viel zu viele Schulkinder, für die der Griff zur Vi-tamin-, Kopfschmerz-, Aufputsch- und Beruhigungstab-lette zum morgendlichen Ritual gehört –, im Übrigen oftgenug auf Geheiß oder zumindest mit Duldung ihrer El-tern; schließlich soll das Kind in der Schule ja etwasleisten.Wer die Einnahme von leistungsfördernden Mittelnschon als Kind als legitimes und damit unproblemati-sches Verhaltensmuster kennen lernt, wird im Fitness-studio kaum Nein sagen, wenn die Einnahme von klei-nen bunten Pillen schnelle und vor allen Dingen sichtba-re Erfolge verspricht.
Meine Damen und Herren, Kinder und Jugendlichemüssen frühzeitig und drastisch über die vielfältigen Ge-fahren eines Medikamentenmissbrauches aufgeklärtwerden. Es muss ihnen ganz deutlich werden, dass Do-ping die eigene Gesundheit massiv und dauerhaft schä-digt, im schlimmsten Fall zum Tod führen kann. Esmuss genauso deutlich werden, dass Doping Manipula-tion und Betrug ist, dass der Gedanke des Fairplay mitFüßen getreten wird.Ich rege an dieser Stelle einmal an, die Bundeszentralefür gesundheitliche Aufklärung prüfen zu lassen, ob einekonkrete Kampagne zu diesem Thema erarbeitet werdenkönnte,
eventuell in Kooperation mit dem Deutschen Sportbund,eventuell auch zusammen mit den Bundesländern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle verfolgenmit großer Betroffenheit die aktuellen Prozesse um denstaatlich gelenkten Einsatz gesundheitsgefährdenderDopingmittel bei Minderjährigen in der DDR. Diesejungen Sportlerinnen und Sportler waren nicht über dieVerabreichung und Wirkung dieser Mittel unterrichtetDagmar Freitag
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8822 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
worden. Heute leiden sie unter erheblichen gesundheitli-chen Störungen. Wir begrüßen ausdrücklich das Urteildes Bundesgerichtshofes, das die Rechtmäßigkeit derStrafverfolgung bis zum Einsetzen der Verjährung nachdem 3. Oktober 2000 bestätigt hat.
Allerdings: Bis zu diesem Termin müssen erstinstanzli-che Urteile vorliegen.Meine Fraktion wird sich auch in Zukunft aktiv in dieDiskussion um die Bekämpfung des Dopings einschal-ten. Dabei wissen wir viele Mitstreiter im politischenRaum und weit darüber hinaus an unserer Seite. DerSport ist – wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Be-reich – ein globalisiertes Phänomen. Eine effektive nati-onale Bekämpfung des Dopings ist die Grundlage, umauf internationaler Ebene einen höheren Standard durch-setzen zu können. Gegenwärtig noch vorhandeneSchwachpunkte müssen analysiert und mit Lösungenentsprechend vorangetrieben werden.Um der Sache willen fordere ich die Sportpolitikeraus den Reihen der Union auf, sich konstruktiv an dieserDiskussion zu beteiligen. Ständige verbale Rundum-schläge schaden diesem wichtigen Anliegen und Ihremdoch sicherlich noch vorhandenen Anspruch, in dieserFrage ernst genommen zu werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Klaus Kinkel, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Immer höher, immer weiter,immer schneller – und das um jeden Preis im wahrstenSinne des Wortes? Die Antwort kann doch wohl nurNein lauten. Sonst werden wir in der Tat bald einen sehrhohen Preis zahlen für einen falsch verstandenenHöchstleistungsfetischismus.Sport will, soll, muss Spiel, Bewegung, Freude, ge-sunder Vergleich und Wettbewerb sein. Der Leistungs-sport mit seiner Vorbildfunktion im Breitensport ist aber leider inzwischen in weiten Bereichen denaturiert,und zwar: durch immer höhere Leistungserwartungenbei den Zuschauern, dem Sportpublikum, durch immerhöhere Leistungserwartungen bei den Sportlern selber,durch immer stärkere Wettbewerbsverzerrungen mit Hil-fe des Einsatzes unerlaubter Hilfsmittel – sprich: desDopings – und durch eine kaum noch steuerbare Kom-merzialisierung. Das Ganze findet in einer Medienlandschaft statt, die„panem et circenses“ fordert und fördert – ein Eskalati-onskarussell, das nur noch sehr schwer zu stoppen seinwird, leider! Wo natürliche Grenzen im Weg stehen,wird eben zum Doping gegriffen. Wer mithalten will,wer mehr Geld verdienen will, wer beim Geldverdienenweiter dabei sein will, wer sich im Licht der Öffent-lichkeit sonnen will, glaubt, nur noch mithilfe des Do-pings bestehen zu können.Das Schlimme ist ja, dass unsere Gesellschaft denBoden für solche Entwicklungen bietet. Die Denaturie-rung des Sports durch Doping – ich benutze bewusstdieses Wort – und Kommerzialisierung treiben die ur-sprünglich schönste Nebensache der Welt in gefährlicheRegionen und vor allem in die Hände des Staates. Dasist genau das, was wir ja eigentlich nicht wollen. Wirwollen doch, dass die Autonomie, die Unabhängigkeitdes Sports als wichtiges Gut erhalten bleibt.Also: Wie bekommen wir – den Ausdruck, den ichjetzt benutze, gebrauche ich bewusst – dieses Drecks-zeug in den Griff? Deutschland steht – die KolleginFreitag und auch der Kollege von der CDU haben esschon gesagt – mit besonders strengen Kontrollen im in-ternationalen Vergleich wahrhaft nicht schlecht da, trotzder aktuellen Probleme, auf die einzugehen es mich na-türlich schon aus landsmannschaftlichen Gründen be-sonders reizen würde. Aber es muss dabei bleiben: Beider Bekämpfung der Selbstverstümmelung der Sportlerund des Sports durch Doping kann und sollte – das istmeine tiefe Überzeugung – der Staat nur subsidiär tätigwerden.
Der Staat sollte also Gesetze nur dort erlassen, wo sieunbedingt notwendig sind. Die eigentliche Verantwor-tung muss bei den Selbstheilungskräften des Sports undseiner Spitzenverbände bleiben. Der Staat kann und soll-te nur unterstützend tätig sein. Wie bekommen wir das Ganze in den Griff? Meinepersönliche Überzeugung ist, dass wir einen rundenTisch, Herr Minister Schily, fordern und auch installie-ren sollten. Alle, die zur Lösung des Dopingproblemsbeitragen können, sollten zusammenkommen, um sichzu überlegen, wie wir das – ich benutze nochmals be-wusst dieses Wort – Dreckszeug in den Griff bekom-men. Wir brauchen eine nationale Anti-Doping-Agentur, die im Wesentlichen von den Sportverbändenmitfinanziert werden sollte. Sie würde die Sanktionie-rung von Dopingverstößen aus der Hand ehrenamtlichgeführter Verbände nehmen. Damit würde die Sanktio-nierung auf eine professionelle Ebene gestellt. Das wäreangesichts der hohen Verantwortung etwa aufgrundmöglicher Regressansprüche wichtig. Die Harmonisierung der Dopingbekämpfung auf eu-ropäischer und internationaler Ebene bleibt besonderswichtig. Die Empfehlung der europäischen Sportminis-ter, bei Erstvergehen eine Mindestsperre von zwei Jah-ren auszusprechen, sollte möglichst bald national und in-ternational umgesetzt werden. Ich persönlich bin derÜberzeugung, dass die Verhängung einer Zweijahres-sperre richtig ist.
Kompliziert ist und bleibt die Beweislastfrage. Wirbrauchen Forschungsarbeiten zur Dopingprävention undDagmar Freitag
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8823
auch zur Dopingkontrolle, und zwar auch auf europä-ischer Ebene. Die Bekämpfung des illegalen Handelsmit Dopingprodukten muss genauso unbedingt zu denAufgaben von Polizei und Zoll auf europäischer Ebenegehören. Wir müssen auch überlegen, wie wir mit derInternetproblematik fertig werden. Weitere Unterstützungsmaßnahmen – ich kann inder Kürze der Zeit nur ein paar nennen – sind: erstensEinführung eines Ernährungspasses für Sportlerinnenund Sportler; zweitens Einrichtung einer zentralenAuskunfts- und Bekämpfungsstelle für Rechtsfragen imDopingbereich bei der Justiz; drittens Ausweitung vonDopingkontrollen im Training und im Wettkampf; vier-tens Ausschluss von für Dopingvergehen verantwortli-chen Trainern, Betreuern und Funktionären; fünftens er-höhte finanzielle Unterstützung für die Dopingforschungund - analytik – wir haben während der Anhörung erfah-ren, dass hier noch vieles im Argen liegt und dass wirlängst noch nicht alles wissen –; sechstens Aufklärung –besonders wichtig; denn sie bleibt beim Thema Dopingeine absolut zentrale Frage –, und zwar Aufklärung so-wohl als Nachweis von Dopingvergehen als auch alsHinweis auf Dopinggefahren. Eine nationale Aufklä-rungskampagne über Dopinggefahren wäre nach meinerAuffassung zwingend notwendig.
Zum Schluss: Wir sind uns alle im Sportausschussdarüber einig, dass Doping nicht nur ein Problem desLeistungssports, sondern auch ein Problem des Brei-tensports ist. Das, was heute in den Fitnessstudios pas-siert, ist eine schlimme Sache. Nun kann man sagen:Das geht uns alles nichts an und ist kein Problem, solan-ge alles im arzneimittelrechtlichen Bereich bleibt. Er-wachsene Menschen sollten selber wissen, wie sie mitder Frage des Dopings umgehen. Bei Kindern ist das al-lerdings ein anderes Problem. Ich möchte zusammenfassend feststellen – das ist imSportausschuss Gott sei Dank unser gemeinsames Cre-do –: Kampf dem Doping! Medikamente gehören insKrankenzimmer und nicht ins Sportstudio oder in Leis-tungszentren. Überführte Dopingsünder gehören nichtauf das Siegertreppchen; vielmehr sollten sie gesperrtwerden, und zwar für relativ lange Zeit.
Ich freue mich im-
mer, wenn die Kolleginnen und Kollegen am Ende ihrer
Redezeit versuchen, zum Schluss zu kommen. Aber
meistens dauert es dann noch überproportional lang.
Diese Anmerkung mache ich, damit mehr auf die Ein-
haltung der Redezeit geachtet wird.
Nun hat das Wort der Kollege Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Ich möchte ausdrücklich an den Beitrag von HerrnKollegen Kinkel anknüpfen, der auf der einen Seitedeutlich gemacht hat, dass wir als Politikerinnen und Po-litiker uns immer dann verantwortungsvoll in den Sporteinmischen müssen, wenn Bedarf besteht, der aber aufder anderen Seite deutlich gemacht hat, dass wir nicht sotun sollten, als könnten wir alleine die Probleme desSports lösen.
Das ist auch die Begründung dafür, dass wir uns jetzteinmischen. Es gibt immer mehr Stimmen aus dem Be-reich des Sports, die sagen: Es gibt Bereiche, in denenauch die Politik Verantwortung übernehmen muss unduns unterstützen muss. Lassen Sie mich zu Beginn meines Beitrages HerrnProfessor Digel, der in Tübingen Sportwissenschaft lehrtund der, wie Sie alle wissen, Präsident des Leichtathle-tik-Verbandes ist, erwähnen. Er hat in einem, wie ichmeine, interessanten Beitrag versucht zu begründen, wa-rum er aus sportwissenschaftlicher Sicht und als politi-scher Präsident meint, dass sich Politik einmischen müs-se. Er sagt, der Sport sei, kurz definiert, ein besonderesSystem mit besonderen Regeln und besonderen Prinzi-pien. Man könnte sogar sagen: Der Sport wird durch dreiPrinzipien konstituiert: erstens die Anerkennung desWettbewerbsgedankens, zweitens das Fairplayprinzipund drittens die Achtung der Unversehrtheit des Men-schen, und zwar sowohl in Bezug auf sich selbst alsauch auf den Gegner. Genau diese Prinzipien müssenvom Sport und von jedem einzelnen Sportler anerkanntwerden. Wenn das nicht der Fall ist, ist der Sport als sol-cher sozusagen infrage gestellt.
Das bedeutet als Regel für die Sportler im Wettbe-werb – im Imperativ formuliert –: Jeder Sportler mussdavon ausgehen, dass seine Partner ebenso aufrichtigbemüht sind, die eben genannten konstitutiven Regelndes Sports in gleicher Weise wie sie selbst einzuhalten.Im Doping werden diese essenziellen Regeln verletzt: Eswerden das Fairplayprinzip verletzt, der Wettbewerb un-tergraben und außerdem die Unversehrtheit des Men-schen angegriffen. Auf diese Weise wird die eigentlicheBedrohung des Sports durch das Doping sichtbar. Das bedeutet: Sowohl der Sport selbst als auch dieInstitutionen, die Mittel für den Sport bereitstellen, müs-sen dafür sorgen, dass diese prinzipiellen Regeln desSports insgesamt akzeptiert und Regelverstöße konse-quent sanktioniert werden. Diese Stellen müssen auchdafür sorgen, dass man das System des Sports kritischbeobachtet und klarstellt: Wir verfolgen diese Sanktio-nen anhand eines eigenen Regelwerkes. Ich glaube, dassmit der Dopingüberprüfung durch Kontrollen und Pro-ben ein solches System gefunden ist. Dr. Klaus Kinkel
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8824 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Dieses System ist jedoch, streng genommen, rechts-staatlich problematisch. Das haben wir zuletzt im FallBaumann gesehen und kritisch beurteilt. Ich bin derMeinung, dass Dieter Baumann sehr viel im Antido-pingkampf geleistet hat und ein ausgesprochen glaub-würdiger Sportler ist. Es kann aber nicht sein, dass manhier Ausnahmen macht. Vielmehr muss das System derpositiven Probe für alle gelten. Dies kann im Einzelfallauch eine persönliche Schärfe bedeuten. Ich glaube, hiergibt es ein Dilemma: Der Sport muss seine Regeln hartverfolgen und sanktionieren und gleichzeitig kann ernicht das klassische Rechtsstaatsprinzip der Unschulds-vermutung anwenden. Das muss im kriminellen Einzel-fall, der hier eventuell ansteht, anders geregelt werden.Der Sport kann deswegen aber nicht auf dieses Regel-system verzichten, wenn er sein System insgesamt erhal-ten will.
Ich komme nun zu dem Bereich der Anfrage, den ichfür besonders wichtig halte und über den wir lange nichtgesprochen haben: Doping im Fitnessbereich. Ich glau-be, hier sollten wir uns wirklich ernsthaft Sorgen ma-chen, weil die Zahlen, um die es hier geht, weit höhersind als im Höchstleistungssport. Dort geht es um eherwenige Sportler, die im Übrigen scharf kontrolliert wer-den und auf diese Weise viel geringere Chancen haben,das System zu überwinden. Im Breitensport dagegenexistieren faktisch keine Kontrollen. Es gibt erste Studien, die auf dramatische Miss-brauchszahlen hinweisen. Diese Zahlen sind aber nochnicht valide genug, um daraus richtige Schlüsse ziehenzu können. Es wird aber erkennbar, dass viele Menschenund vor allem viele junge Menschen Doping betreiben.Bis zu einem Fünftel der Fitnessstudiobesucher machenes und nehmen dabei Mittel, die ihre Muskeln wachsenlassen. Sie versuchen, durch den Einfluss von Chemika-lien den eigenen Körper zu verändern. Sie tun dies oft,obwohl sie wissen, dass diese Mittel auch schädlicheNebenwirkungen haben. Dies finde ich besonders fatal.Man weiß inzwischen auch, dass sie diese Mittel mithil-fe von Apothekern und Ärzten bekommen und dieseMittel aus europäischen Ländern, zum Beispiel Spanien,zu uns gelangen. Das muss uns zu denken geben; daskönnen wir so nicht lassen. Wir müssen Wege finden,um das zu verhindern. Das heißt, wir müssen vermutlich in einem erstenSchritt dafür Sorge tragen, dass empirisch genauernachgewiesen wird, wie dort Doping stattfindet. Wirsollten in einem zweiten Schritt dafür sorgen, dass mehr,als es bisher der Fall ist, aufgeklärt wird, und zwar auchin Schulen und bei Jugendlichen, die darüber vielleichtnoch nicht genügend wissen.Ich komme nun zu den Anträgen der CDU und derF.D.P.. Aus meiner Sicht haben Sie in zahlreichen Punk-ten vernünftige Vorschläge gemacht, die auch unsererAuffassung entsprechen. Es gibt in einzelnen PunktenDifferenzen, etwa bei der Einschätzung der Notwendig-keit eines Anti-Doping-Gesetzes. Ich glaube aber, dasswir im Sportausschuss zumindest im Großen und Gan-zen eine gemeinsame Position finden können. Aus unserer, aus grüner Sicht gilt es in einem solchengemeinsamen Antrag festzuhalten: Erstens. Die Wah-rung des Sports als autonomes System ist selbstverständ-lich, aber wir unterstützen den Sport im Kampf gegenDoping. Zweitens. Wir wollen ein hochwirksames Kon-trollsystem sichern und auch noch ausbauen. Ich glaubetatsächlich, dass man die Nachwuchskader noch mehruntersuchen muss. Hier müssen wir mehr tun, müssenwir das hohe Niveau noch erhöhen und dürfen uns nichtausruhen, dürfen wir uns keine Selbstgerechtigkeit leis-ten.Wir müssen außerdem – das habe ich aus der Do-pinganhörung herausgehört – dafür Sorge tragen, dass esim Bereich der Exekutive Verbesserungen gibt. Offen-sichtlich werden die Gesetzesverstöße nicht in allerKonsequenz verfolgt. Man braucht auf Länderebene si-cherlich auch Staatsanwaltschaften, die schwerpunktmä-ßig Dopingschmuggel und Dopinganwendung bekämp-fen. Ich glaube, dass die Einrichtung einer nationalenAnti-Doping-Agentur unbedingt und schnell notwendigist, die mit internationalen Agenturen vernetzt ist.Aus meiner Sicht ist es auch zwingend notwendig,die Wirkung des bisherigen gesetzlichen Regelwerkskritisch dahin gehend zu überprüfen, ob es ausreicht.Aber wenn wir ein wirklich anspruchsvolles Anti-Doping-Programm fahren wollen, brauchen wir vermut-lich eine neue gesetzliche Grundlage, ein Anti-Doping-Gesetz mit Regelungen zur Aufklärung, zur Einrichtungund vielleicht auch Bezuschussung einer unabhängigennationalen Anti-Doping-Agentur und auch mit Regelun-gen für den Breitensport, zum Beispiel für den Fitness-studiobereich. All dies sind Punkte, von denen ich glau-be, dass sie uns im Kampf gegen Doping weiter voran-bringen können.
Herr Kollege, kom-
men Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, für den Sport ist es
ausgesprochen wichtig, dass die Politik im Bereich des
Dopings ein klares, einheitliches Wort spricht, dass wir
gemeinsam mit denen im Sport, die konsequent gegen
Doping sind, kämpfen und alles tun, um sie dabei zu un-
terstützen.
Vielen Dank.
Ich erteile nun demKollegen Gustav Schur, PDS-Fraktion, das Wort.Winfried Hermann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8825
Frau Präsidentin! Wer-
te Kolleginnen und Kollegen! Potenziellen Zwischenru-
fern, die eventuell schon in den Startlöchern sitzen, weil
jetzt ein Ex-Weltmeister aus der Ex-DDR das Wort zum
Thema Doping ergreift,
möchte ich einen Tipp geben, Herr Riegert: Neulich
schrieb eine Zeitung, ich sei 1972 in München gedopt
zur Medaille gekommen. Zu Ihrer Information: Ich habe
meine Laufbahn bereits 1964 beendet.
Im Übrigen ist hier zur Kontrolle im Hochleistungssport
zur Genüge gesprochen worden ist. Ich brauche dazu
keine Ausführungen mehr zu machen.
Doch vom schwarzen Humor zur aktuellen Doping-
bekämpfung: Die Große Anfrage der CDU/CSU wurde
sehr umfangreich beantwortet. Zu den Fragen 18 und 19
stellte der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bun-
destages bereits 1992 – ich wiederhole: 1992 – fest:
Verurteilungen wegen Verstoßes gegen das Arzneimit-
telgesetz sind selten, sie wirken zudem nicht genügend
abschreckend, zahlreiche Ermittlungsverfahren werden
eingestellt, die Gefährlichkeit des Dopingmittelhandels
sei von der deutschen Justiz noch nicht erkannt worden.
Heute, acht Jahre später, bittet die heutige Bundesre-
gierung die Bundesländer, zu prüfen, wie die Strafver-
folgung verbessert werden kann. Sie hält es für
erwägenswert, die Einrichtung einer Staatsanwaltschaft
mit dem Schwerpunkt der Bekämpfung des
Arzneimittelmissbrauchs ähnlich der Zentralstelle für
die Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität zu
prüfen. Ich meine, es besteht dringlicher Handlungs-
bedarf der Bundesregierung.
Zur Beantwortung der Frage 20 musste ich lesen,
dass der Deutsche Bodybuilding- und Fitnessverband
1998 insgesamt 24 Dopingkontrollen durchgeführt hat –
das heißt, in jedem Monat zwei. Ich habe das für einen
Druckfehler gehalten. Es gibt in Deutschland Tausende
von Fitnesscentern, und insgesamt wurden in diesem
Bereich 24 Kontrollen durchgeführt. Das bedeutet im
Klartext: Wenn schon die alte Regierung nur begleitend
tätig war, also ganz gemütlich neben diesem Tatbestand
daherradelte, dann ist von der neuen Bundesregierung
ein ganz energischer Zwischenspurt verlangt.
Eine exzellente Amtshilfe erhält sie hierbei durch
Herrn Dr. Boos von der Medizinischen Universität Lü-
beck; ich verweise auf Ausschussdrucksache 117. Er
ermittelte zunächst, dass der fatale Anabolikamissbrauch
in deutschen Fitnessstudios bisher noch nicht einmal
systematisch untersucht wurde. Nach einer Fragebogen-
aktion, die allerdings lückenhaft genannt werden muss,
weil nur 34 Prozent der ausgegebenen Fragebögen be-
antwortet wurden, musste folgende Aussage getroffen
werden – ich zitiere –:
Sollten die vorliegenden Zahlen auch nur zur Hälfte
stimmen, ist bei derzeit 3,5 Millionen registrierten
Sportlern in Fitnessstudios von 350 000 Anabolika-
konsumenten auszugehen.
Bliebe man bei den 24 Dopingkontrollen pro Jahr, könn-
te man diese Zahl frühestens im Jahr 16000 bestätigen,
falls ich richtig gerechnet habe.
Alessandro Donati, führender italienischer Antido-
pingfachmann, wusste in einem „Spiegel“-Interview zu
berichten, dass Carabinieri in Mailand mit einem Schlag
35 Kilogramm Testosteron beschlagnahmt haben. Mit
dieser Menge können 600 Leute – ich sage bewusst
nicht Sportler – über einen Zeitraum von 1 000 Tagen
ihre Leistungsfähigkeit nach oben manipulieren. Donati
weiter: In Nikosia wurden im vergangenen Mai 4 Mil-
lionen Ampullen Epo gestohlen. Es steht definitiv fest,
dass diese Fläschchen in Europa im Umlauf sind.
Derart ausgeleuchtet, versteht man den oben zitierten
Lübecker Mediziner Dr. Boos noch deutlicher, wenn er
signalisiert, dass 93 Prozent aller Fitnesssportler keiner-
lei Beschaffungsprobleme für Dopingmittel jeglicher Art
kennen. Wenn deutsche Zollfahndungsämter einräumen,
dass sie bei der Anabolikaeinfuhr zur systematischen
Kontrolle gar nicht fähig sind, und wenn Oberstaatsan-
walt Dr. Körner bei der Dopinganhörung im Sportaus-
schuss die Zufallstrefferquote mit 5 Prozent bezifferte,
dann bedeutet das hochgerechnet: Jährlich werden über
11 Millionen Tabletten, knapp 150 000 Ampullen und
gut 410 Kilogramm anabolikahaltiger Dopingmittel auf
den deutschen Markt geschleust – übrigens nachzulesen
im letzten NOK-Report.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich halte es wie der
hochverehrte Professor Dr. Wildor Hollmann, der schon
vor Jahren für sich festschrieb – ich zitiere –:
Den Irrglauben, dass man das Dopingproblem in
den Griff bekommen könnte, hatte ich nie.
Aber gerade deshalb müssen wir es mit ganzer Kraft be-
kämpfen. Vor allem sollten uns die schockierenden Zah-
len der kontrolllos Gedopten in den Fitnessstudios beun-
ruhigen – und noch viel mehr als uns die Bundesregie-
rung, damit sie notwendige Schritte dagegen unternimmt
und nicht nur für erwägenswert hält.
Ich bedanke mich.
Ich erteile nun das
Wort dem Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Für dieseBundesregierung gehört die Bekämpfung von Dopingim Sport zum Kernelement ihrer Sportpolitik.
Nach der von der Verfassung vorgegebenen Zuständig-keitsverteilung konzentriert sich die Bundesregierung
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8826 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
auf die Dopingbekämpfung im Spitzensport sowie aufden Gesundheitsschutz der Sportlerinnen und Sportler.Die Bundesregierung – das stelle ich mit großem Selbst-bewusstsein fest – hat dabei nachhaltige Erfolge erzielt,obwohl Herr Riegert das partout nicht wahrhaben will.Selbstverständlich ist bei diesem Thema zu berück-sichtigen – ich freue mich, dass das hier die allgemeineMeinung ist; das wurde von Herrn Kinkel auch beson-ders hervorgehoben und ich teile seine Auffassung –,dass die im Grundgesetz garantierte Autonomie desSports den Sportverbänden auf nationaler wie auf inter-nationaler Ebene die zentrale Verantwortung zur Do-pingbekämpfung zuweist.Dass in Deutschland die Dopingbekämpfung ein Niveauerreicht hat, wie es von anderen Staaten erst angestrebtwird, beweist, wie verantwortlich das Problem bei unsangegangen wird. Dabei ist allen Beteiligten bewusst,dass ein sauberer, manipulationsfreier Sport auf allenEbenen Grundvoraussetzung für die Sportförderung desStaates ist und sein muss.Mehrfach wurde bereits erwähnt, dass wir bei den be-sonders effektiven Trainingskontrollen weltweit führendsind. Im Jahr 1999 wurden mit rund 7 600 Trainings-und Wettkampfkontrollen etwa 800 Kontrollen mehr alsim Vorjahr vorgenommen. Das ist eine deutliche Steige-rung, Herr Riegert.Die Sportpolitik der Bundesregierung hat diese posi-tive Entwicklung maßgeblich mitbestimmt. So wurde1999 die Bundesförderung für die beiden deutschenDopingkontrolllabore für Analytik und Forschung um400 000 DM aufgestockt.
Gegenüber dem Haushaltsentwurf der früheren Bundes-regierung wurden insgesamt sogar 500 000 DM mehrveranschlagt. Allein in den Jahren 1999 und 2000 wer-den rund 1 Million DM für Forschungen auf den Gebie-ten Wachstumshormone und EPO bereitgestellt.
Ich danke den Kollegen des Haushaltsausschusses –auch den Kollegen aus der Opposition –, die das unter-stützt haben.Herr Riegert, Ihre Ausführungen hinsichtlich der Mit-telbereitstellung haben unsere Erfahrungen der letzteneineinhalb Jahre bestätigt: In der Opposition sind Sieaußerordentlich freigiebig mit Steuergeldern. Als Sie inder Regierung waren, war eher das Gegenteil der Fall.
Auch der Vorwurf der Fragesteller im Vorwort derGroßen Anfrage, dem deutschen Sport würden zusätzli-che Mittel für Dopingkontrollen und -analysen verwei-gert und sogar bisher gewährte Mittel gekürzt, ist falschund beweist nur ein schlechtes Gedächtnis; denn es wareben die frühere Bundesregierung, die im Entwurf desBundeshaushalts für das vergangene Jahr die fürDopingkontrolllabore veranschlagten Mittel um100 000 DM reduzieren wollte. Auch der Vorwurf derFragesteller, die Bundesregierung setze den deutschenSport ständigen Verdächtigungen aus und drohe mitOlympiaboykott – Herr Riegert, Sie haben das heute be-dauerlicherweise wiederholt –, ist der ebenso krampfhaf-te wie untaugliche Versuch, zwischen Bundesregierungund Sportverbänden Unfrieden zu entdecken.
Es gibt keine solchen Verdächtigungen und es gibt keineDrohung mit dem Boykott der Olympischen Spiele.Zwischen Bundesregierung einerseits und dem Deut-schen Sportbund und dem NOK andererseits bestehtbreites Einvernehmen in der Frage einer striktenBekämpfung des Dopings. Mit Ihrer Polemik blamiertsich der Sprecher der CDU/CSU. Eigentlich haben Sieim Moment keinen Bedarf an zusätzlichen Blamagen.
– Aber doch nur formal.Bisher ging ich stets davon aus – eigentlich ist dasauch der Grundtenor dessen, was heute gesagt wordenist –, dass es in der Zielsetzung eines humanen, doping-freien Sports einen Grundkonsens zwischen allen imDeutschen Bundestag vertretenen Parteien und ebensomit allen Bundesländern gibt. Deshalb bitte ich Sie, sichdoch wieder eher mit konstruktiven Beiträgen an dieserDebatte zu beteiligen.
Es gibt nämlich keinen Grund, sich mit Blick auf dasErreichte zufrieden zurückzulehnen. In der Dopingbe-kämpfung ist noch längst nicht alles getan, wie alleinschon Verzerrungen bei Sanktionen im internationalenVergleich zeigen. Mit dem Deutschen Sportbund unddem Nationalen Olympischen Komitee weiß ich michauch hierin einig.Die Planungen von DSB und NOK, die GemeinsameAnti-Doping-Kommission möglichst rasch in eine ei-genständige Nationale Anti-Doping-Agentur zu über-führen, wird von mir ausdrücklich unterstützt. Auf Ein-ladung des Deutschen Sportbundes und des NOK wirddas BMI in der NADA mit einem ständigen Vertretermitwirken.
Wir sind sehr stolz darauf, dass es gelungen ist, dieWelt-Anti-Doping-Agentur einzusetzen, die mit ihrerArbeit begonnen hat. Sie wird hoffentlich sehr bald einweltweit einheitliches Kontrollniveau etablieren und dieTeilnahme an Olympischen Spielen von einem Min-destmaß an Kontrollen abhängig machen.Selbstverständlich müssen wir auch auf dem Gebietder Forschung vorankommen. Die vom Bund geförder-ten erfolgreichen Forschungsvorhaben der ArbeitsgruppeBundesminister Otto Schily
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8827
pe Strasburger bei der Analyse künstlich zugeführterWachstumshormone stimmen uns zuversichtlich. DieForschungen auf den Gebieten Wachstumshormone undEPO erreichen jedoch Dimensionen, die stärker als bis-her der internationalen Kooperation bedürfen.Die Bundesregierung wird nicht nachlassen, sich füreine gezielte Dopingbekämpfung einzusetzen, wo immerDefizite erkennbar sind. Mit der von der SPD-Bundestagsfraktion veranlassten und im September 1998in Kraft getretenen Verschärfung des Arzneimittelge-setzes wurde hierfür eine wichtige Grundlage geschaf-fen. Damit das gesetzliche Dopingverbot für das Umfeldder Sportlerinnen und Sportler, für den Arzt, den Traineroder die sonstigen Betreuer wirksam durchgesetzt wer-den kann, müssen den Ermittlungsbehörden die einenAnfangsverdacht begründenden Tatsachen bekannt wer-den; denn aus einer gesetzlichen Vorschrift lässt sichkein Nutzen ziehen, wenn kein Anfangsverdacht be-kannt wird, der Ermittlungen ermöglicht. Ich bin dem Deutschen Sportbund deshalb dafürdankbar, dass er die Sportfachverbände verpflichtet hat,bei Verdacht einer verbotenen Weitergabe von Doping-mitteln durch Trainer oder Mediziner eine Anzeige beider Staatsanwaltschaft zu erstatten.Im Übrigen muss noch die bevorstehende gründlicheAuswertung der mit dem novellierten Arzneimittelgesetzgewonnenen Erfahrungen abgeschlossen werden. Erstdann wird klar sein, ob noch Handlungsbedarf besteht.Hinweise für denkbare Ansatzpunkte hat die Anhörungim Sportausschuss des Deutschen Bundestages im Janu-ar dieses Jahres ergeben. Die dort unterbreiteten Vor-schläge werden in meinem Haus sorgfältig geprüft.
Die Große Anfrage sowie die Antwort der Bundesre-gierung, aber auch die erwähnte Anhörung im Sportaus-schuss lassen keinen Zweifel daran, dass es im Fitness-und Freizeitbereich ein Dopingproblem gibt. Hier gehtes vor allem um Aufklärung und Erziehung sowie umProbleme des Gesetzesvollzugs. Wir können schließlichnicht alle Fitnesscenter mit Dopingkontrollen überzie-hen.Ich begrüße es, dass die Sportministerkonferenz inder Sitzung vom Dezember 1999 auch die Verantwort-lichkeit der Länder bekräftigt hat. Die in diesem Zu-sammenhang von der Sportministerkonferenz unter an-derem geforderte verbesserte Strafverfolgung durch Po-lizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte, die Forderun-gen zur Einrichtung einer Schwerpunktstaatsanwalt-schaft für die Bekämpfung von Dopingstraftaten – einealte Forderung auch von mir – sowie zur Bildung unab-hängiger Expertengruppen für die Dopingbekämpfungauf Länderebene beschreiben den richtigen Weg.Doping gefährdet den Sport. Auch Sponsoren könnenes sich nicht leisten, mit dopenden Sportlerinnen undSportlern identifiziert zu werden. Bei der Dopingbe-kämpfung im Spitzensport sind wir erheblich vorange-kommen. Von der Welt-Anti-Doping-Agentur und derkünftigen Nationalen Anti-Doping-Agentur erwarte ichweitere Verbesserungen, vor allem bei der Harmonisie-rung auf internationaler Ebene. Doping im Freizeit- undFitnessbereich ist ein ernsthaftes gesellschaftliches Pro-blem. Hierbei sind besonders die Länder zuständig undgefordert. Die Möglichkeiten des Bundes sind in diesemBereich leider begrenzt.Das Thema Dopingbekämpfung – das ist auch einAppell an die Opposition – sollte uns nicht entzweien;vielmehr sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass dieGrundprinzipien des Sports, Fairness und Ehrlichkeit,weiterhin Gültigkeit behalten. Das sind wir zuallererstden Sportlerinnen und Sportlern selbst, aber auch denSportbegeisterten in der ganzen Welt, einschließlich derSponsoren, zu denen übrigens auch die Steuerzahlerin-nen und Steuerzahler gehören, schuldig.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort
der Kollege Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Rede vonHerrn Minister Schily hat mir gezeigt, dass es tatsäch-lich wichtig war, diese Anfrage zu stellen und über die-ses Thema zu debattieren.
Zwei Dinge zeigte mir Ihre Rede im Besonderen: Sie lo-ben erstens die Maßnahmen, die es bereits zur Bekämp-fung von Doping gibt. Das ist eine Bestätigung der Leis-tungen der Vorgängerregierung. Dafür bedanke ich michganz herzlich.
Dadurch dass Sie erst zum Schluss Ihrer Rede in zwei,drei Sätzen auf einen wichtigen Schwerpunkt dieser De-batte, auf das Doping im Fitnessbereich, eingehen, wirdzweitens deutlich, wie wichtig es ist, über das ThemaDoping zu debattieren. Denn Doping im Fitnessbereichist Teil unseres heutigen Themas. Nicht nur die öffent-liche Wahrnehmung, sondern auch Ihre Ausführungenzeigen, dass Doping derzeit immer noch viel zu sehr aufden Bereich des Spitzensports reduziert wird.
Das wird der Sachlage nicht gerecht. Dies ist falsch undletztlich sogar gefährlich. Ich bin dankbar, dass KollegeHermann von den Grünen dieses Thema entsprechendgewürdigt hat. Ein wichtiges Anliegen unserer Anfrage ist es näm-lich, gerade Doping und Medikamentenmissbrauch imFitnessbereich sowie im Freizeit- und Breitensportbesser in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Wes-halb ist das so wichtig? Aus der Sportwissenschaft wis-sen wir, dass es zwischen dem Spitzen- und dem Brei-tensport nicht scharfe, sondern fließende Grenzen gibt.Im Freizeit- und Breitensport sowie im FitnessbereichBundesminister Otto Schily
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8828 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
wird häufig mit ähnlichen Intensitäten und Ausmaßensowie vergleichbarer Leistungsmotivation und Anstren-gungsbereitschaft trainiert wie im Spitzensport. EinBlick in einen Kraftraum eines Fitnessstudios wird mei-ne Ausführungen bestätigen. Übrigens gibt es mittlerweile in Deutschland mehr als6 000 Fitnessstudios mit rund 4,7 Millionen Mitgliedern.Im Jahre 2005 sollen es schon 7 000 Fitnessstudios mit6 Millionen Mitgliedern sein. Der Umsatz liegt derzeitbei rund 4,5 Milliarden DM. Es handelt sich um eine ab-solut boomende Branche, und das ist auch gut so. Aber die Kehrseite der Medaille muss man eben auchim Blick haben. Dazu, was die Kehrseite anbelangt, fehltuns leider – das wurde bereits angesprochen – eine ver-lässliche Datenbasis. Es gibt lediglich eine Umfrage derUniversität Lübeck, die allerdings erschreckende Zahlenzutage fördert: 35 Prozent der Befragten aus der Alters-stufe der 21- bis 25-Jährigen räumen einen Anabolika-missbrauch ein. Das heißt, es handelt sich um ein ech-tes Massenphänomen. Wenn wir über Doping sprechen, sprechen wir nichtüber Vitaminpräparate. Die in erster Linie verwendetenanabolen Steroide führen zu schweren Schäden im Herz-Kreislauf-System und an der Leber. Die Auswirkungenauf Geschlecht und Psyche sind dramatisch. Es gab be-reits Todesfälle, und die sind der Bundesregierung aus-weislich ihrer Antwort bekannt. Deshalb frage ich Sie,Herr Minister Schily: Was muss eigentlich noch gesche-hen, bevor Sie in diesem Bereich handeln?
– Die Antwort enthält zwar schöne Rhetorik, aber nurwenig im Hinblick auf zukünftiges Handeln. Mich erschreckt vor allem, dass – auch das zeigt dieUntersuchung der Universität Lübeck – bereits 8 Prozentder unter 21-Jährigen zu Anabolika greifen. Die gesund-heitlichen Folgen sind kaum abschätzbar. So mancheDopingkarriere beginnt schon im zarten Jugendalter. Auch der Aspekt der Beschaffung wurde schon an-gesprochen. Dies ist eigentlich gar kein Problem; dennman bekommt die entsprechenden Mittel über denSchwarzmarkt, das Internet und viele andere Stellen. Worin liegt das Problem? Das Problem liegt darin,dass aus dieser Erkenntnis keine Konsequenzen gezogenwerden. Denn offensichtlich wird die Tragweite diesesProblems nicht richtig erkannt. Herr Minister Schily, dieVerantwortlichkeit für diesen Bereich einfach auf dieLänder abzuschieben, das, meine ich, wird der Sachenicht gerecht. Das ist nicht angemessen.
Herr Minister, ich fordere Sie deshalb im Namen derCDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Folgendem auf: Sor-gen Sie erstens für eine sichere Datenbasis über Do-pingmissbrauch auch im Fitnessbereich; denn das ist einMassenphänomen. Wenn wir dieses Phänomen nicht be-kämpfen, dann wird der gesamte Sport gefährdet unddas gesamte Koordinatensystem des Sports infrage ge-stellt.Ich fordere Sie zweitens auf: Gehen Sie auf die Län-der zu und prüfen Sie, welche Maßnahmen zur Doping-prävention ergriffen werden können, ohne die Verant-wortlichkeit abzuschieben! Wenn nur 25 Prozent allerSportler, die solche Mittel benutzen, über die gesund-heitlichen Risiken informiert sind, dann heißt das, dass75 Prozent aller Anabolikakonsumenten dopen, ohnesich der gesundheitlichen Gefahren bewusst zu sein.Deshalb führt der Appell an die Eigenverantwortlichkeitnicht sehr viel weiter, Herr Kollege Kinkel. Wir sind ge-fordert, hier entsprechend einzugreifen.Ich fordere Sie deshalb drittens auf: Prüfen Sie zu-sammen mit den Ländern, ob es nicht auch Möglichkei-ten gibt, in Fitnessstudios Dopingkontrollen durchzufüh-ren, um diesem Problem Herr zu werden! Ich meine, wirmüssen diesen Sumpf trockenlegen.
Eine weitere Aufgabe wäre, die Möglichkeiten zu be-seitigen, die Mittel auf einfache Weise über das Internetzu beziehen. Deshalb halten wir es für notwendig, HerrMinister Schily, dass Sie den Internethandel und die il-legale Einfuhr von Dopingmitteln bekämpfen. Die Ant-wort der Bundesregierung auf unsere Anfrage zeigt, dassSie zwar in der Analyse zu zutreffenden Ergebnissengekommen sind, dass aber die Taten noch auf sich war-ten lassen.In der vergangenen Woche gab es eine Pressekonfe-renz, auf der die Bundesregierung gemeinsam mit demDSB die Suchtprävention im Sport vorgestellt und – dasfinde ich gut – sie lobend erwähnt hat. „Kinder starkmachen“ ist eine prima Aktion. Für diese Aktion gibt dieBundesregierung 12,9 Millionen DM aus.Herr Minister Schily, ich fordere Sie auf: Geben Sieein bisschen Geld auch für die Bekämpfung des Dopingsim Fitnessbereich aus! Handeln Sie schnell! Angesichtsder Pressemitteilungen, in denen Sie bereits das Ende Ih-rer politischen Laufbahn angekündigt haben, sollten Sieschnell handeln, um nicht Gefahr zu laufen, dass manSie womöglich als „lame duck“ bezeichnen könnte.Danke.
Ich schließe dieAussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Entschlie-ßungsanträge auf Drucksachen 14/2769 und 14/2918 zurfederführenden Beratung an den Sportausschuss und zurMitberatung an den Rechtsausschuss, den Haushaltsaus-schuss und den Ausschuss für Gesundheit zu überwei-sen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Norbert Barthle
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8829
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ViertenGesetzes zur Änderung des Gesetzes über dieFestlegung eines vorläufigen Wohnortes fürSpätaussiedler – Drucksache 14/2675 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/2956 – Berichterstattung:Abgeordnete Günter Graf
Hartmut KoschykMarieluise Beck
Dr. Max StadlerUlla JelpkeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hö-re keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demBeauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen,dem Kollegen Jochen Welt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung ist sichihrer Verantwortung für die deutsche Minderheit in Ost-europa und insbesondere in den Nachfolgestaaten derehemaligen Sowjetunion bewusst. Russlanddeutsche ha-ben am längsten unter Vertreibung und Verfolgung so-wie den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten. Fürdie konkrete Politik heißt das, dass für all diejenigenMitglieder der deutschen Minderheit, die die gesetzli-chen Voraussetzungen erfüllen, die Möglichkeit besteht,nach Deutschland zuzuwandern.Nur zwei Prämissen müssen in diesem Zusammen-hang klar sein: Erstens. Der Zuzug muss sozialverträg-lich organisiert sein. Zweitens. Für diejenigen, die ge-kommen sind, muss die Integration die absolute Prioritäthaben. Es genügt also nicht, zu sagen: „Das Tor ist offenund jeder kann kommen“, wenn danach die Menschenallein gelassen werden. Für uns ist wichtig, dass diejeni-gen, die gekommen sind, und dass diejenigen, die kom-men, die Möglichkeit haben, sich hier einzubringen,teilzuhaben, gute Nachbarn zu sein und hier auch guteNachbarn zu finden.
Ein wichtiger Teil der sozialverträglichen Zuwande-rung ist eine zahlenmäßige Begrenzung. Wir haben dieQuote von ehemals 200 000 auf 100 000 Personen ab-gesenkt, sie also der erkennbaren Entwicklung ange-passt. Wir haben somit Planungssicherheit für die Be-troffenen, für die Gemeinden und Aufnahmeein-richtungen sowie für die Sozialorganisationen und dieFinanzpolitik geschaffen.Sozial verträgliche Zuwanderung bedeutet aber aucheine gleichmäßige Verteilung der Spätaussiedler und derdamit zweifelsohne verbundenen Aufgabenverteilungzwischen Bund, Ländern und Gemeinden.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden nichtzulassen, dass Gemeinden, wie in der Vergangenheit,mit einem Spätaussiedleranteil von bis zu 40 Prozent fi-nanziell, vor allen Dingen aber auch sozial überfordertsind. Das bereits in der letzten Legislaturperiode ge-meinsam verabschiedete Wohnortzuweisungsgesetz hatin diesem Zusammenhang sicherlich eine wertvolle Hil-fe geleistet. Dieses Gesetz ist allerdings bis zum 15. Julidieses Jahres befristet. Die Eingliederung ist trotz der zurückgegangenenZuzugszahlen wesentlich schwieriger geworden. DieGründe liegen sicherlich auf der Hand: die schwierigewirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Lage in denvergangenen Jahren. Sie liegen aber auch darin, dass dieGruppe derjenigen, die seit Mitte der 90er-Jahre ge-kommen sind, wesentlich schwierigere Voraussetzungenmit sich bringen. Es handelt sich verstärkt um gemischt-nationale Familien, bei denen die deutschen Sprach-kenntnisse mehr und mehr gegen null tendieren. Aberdie schwierigere Situation, verehrte Kolleginnen undKollegen, resultiert auch zweifelsohne aus einer – vor-sichtig formuliert – sehr zurückhaltenden Integra-tionspolitik der Vorgängerregierung. Deshalb müssenwir das Wohnortzuweisungsgesetz, das sich vom Ansatzbewährt hat, verlängern und in einigen wesentlichenPunkten weiter entwickeln.Wir wollen, dass jeder Spätaussiedler mit seiner Fa-milie drei Jahre an seinen zugewiesenen Wohnort ge-bunden ist und auch dort seine Integrationsleistung undauch dort seine Unterhaltsleistung erhält. Eine Befris-tung des Gesetzes bis zum Jahre 2009, wie durch denInnenausschuss beschlossen, wird von mir durchaus be-fürwortet. Es geht in erster Linie darum, denke ich, dienotwendigen Instrumentarien für die kommenden Jahrezu haben. Dies ist damit sehr wohl gewährleistet.Wir haben in den vergangenen Monaten zu der Mög-lichkeit der Verlängerung unzählige Diskussionen ge-führt: mit Betreuungsorganisationen, Betroffenen, Ver-bänden, Städten und Gemeinden. Wir haben in einemSpannungsverhältnis zwischen einer weitestgehendenFreizügigkeit auf der einen Seite und der Sicherung dessozialen Friedens in Gemeinden, Stadtteilen und Wohn-quartieren auf der anderen Seite abzuwägen. Wir habentrotz sicherlich verständlicher Wünsche von Betreu-ungsorganisationen und Verbandsvertretern viel Ver-ständnis für das Anliegen einer sozialverträglichen Steu-erung durch die Wohnortzuweisung erhalten.Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf stellt einen ver-nünftigen und ausgewogenen Kompromiss dar. Die Ent-stehung neuer Ballungsgebiete wird durch dieses Gesetzvermieden. Bestehende Ballungsräume sind auch künf-tig von der Zuwanderung ausgenommen und können da-durch entlastet werden. Auf der Grundlage des erkenn-baren Zuzugs können die Kommunalverwaltungen ihrePlanungen im Hinblick auf Wohnraum, auf SprachkurseVizepräsidentin Anke Fuchs
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8830 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
und auf sonstige Integrationshilfen treffen. Davon profi-tieren nicht zuletzt auch die Spätaussiedler selbst.Im bisherigen Gesetz, verehrte Kolleginnen und Kol-legen, war die Arbeitsplatzsuche ein Problem, wennder Aufenthaltsort, der zugewiesene Wohnort, von demmöglichen Arbeitsort abwich. Durch diesen Gesetz-entwurf ist das zufriedenstellend gelöst. Die Bindungsoll zum Zwecke der Arbeitsplatzsuche gelockert wer-den. Wir werden keinen Spätaussiedler mehr an einenzugewiesenen Wohnort binden, wenn er die Chance hat,an einem anderen Ort einen gesicherten Arbeitsplatz zufinden. Die Berufstätigkeit, die Eingliederung in denArbeitsmarkt, ist einer der wesentlichen Bestandteile füreine erfolgreiche Integration.Wir wollen die gesteuerte, sozialverträgliche Zuwan-derung mit den notwendigen Integrationshilfen beglei-ten. Deshalb werden wir in den kommenden Jahren inunserer aktiven Integrationsförderungspolitik nichtnachlassen. Bei den Integrationsmitteln des BMI habenwir eine deutliche Erhöhung durchgesetzt. 1999 wurdendie Mittel von 32 Millionen DM auf 42 Millionen DM,also um 30 Prozent, aufgestockt.Für dieses Jahr ist trotz aller Sparzwänge eine weitereMittelerhöhung auf 45 Millionen DM erfolgt. Das ist ei-ne Verbesserung der Integrationsmöglichkeiten in denStädten und Gemeinden und das ist, verehrte Kollegin-nen und Kollegen, vor allen Dingen ein gesellschaftspo-litisch wichtiges und richtiges Zeichen.
Wir sollten, denke ich, auch alle aus der Vergangenheitgelernt haben. Es macht einfach keinen Sinn, jetzt beider Integrationshilfe zu sparen und sich morgen überKonflikte in den Stadtteilen und über soziale Auffällig-keiten bei den Jugendlichen zu beklagen.
Aber es geht nicht nur um Finanzmittel. Es geht auchum das stärkere Einbinden bürgerschaftlichen, gesell-schaftlichen Engagements in die Integrationsarbeit. Ichwill bei dieser Gelegenheit all den vielen Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern in den Betreuungsorganisationenund vor allem den vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern danken, die sich seit Jahren in fan-tastischer Weise in der Integrationsarbeit mühen. Ohnesie wäre die Situation wesentlich dramatischer. Sie ha-ben Dank und auch Anerkennung verdient.
Aber es gilt, verehrte Kolleginnen und Kollegen,noch stärker darauf hinzuarbeiten, dass diese Arbeitnicht nur als Aufgabe für Aussiedler- und Betreuungs-organisationen verstanden wird. Eingliederungsarbeit fürZuwanderer darf keine soziale Randgruppenarbeit sein,sondern sie muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabebegriffen werden.Deshalb initiieren und unterstützen wir Netzwerkefür Integration in den Städten und Gemeinden. An die-sen sollen alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen,aber auch die betroffenen Spätaussiedlerinnen und Spät-aussiedler beteiligt sein. Hier gilt es, auf örtliche Be-dürfnisse zugeschnittene Projekte vorzubereiten und siedann auch gemeinsam zu realisieren. Bei diesen Projek-ten hat für uns insbesondere die Integration der jugend-lichen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler eine abso-lute Priorität.
Das gilt ebenso für die Sprachförderung. Sprache istja bekanntlich der Schlüssel zur Integration. Dabei kannes angesichts der finanziellen Situation der öffentlichenHaushalte nicht um eine generelle Verlängerung derSprachförderung gehen. Wir haben schließlich und letzt-lich im Jahre 1999 einschließlich der Eingliederungshil-fe für die Sprachförderung rund 1 Milliarde DM ausge-geben. Wir arbeiten zurzeit daran, dass mit diesen be-trächtlichen Mitteln mehr erreicht wird als bisher. Wirmüssen sicherstellen, dass die Kurse qualitativ ver-bessert werden, dass es vor Ort keine Konkurrenz umTeilnehmer für unterschiedlich finanzierte Kurse gibt.Und wir müssen erreichen, dass alle Familienmitgliederder Spätaussiedlerfamilien auch einen Sprachkurs erhal-ten. Also mehr Effizienz in der Sprachförderung! Dassind wir den Betroffenen, aber auch dem Steuerzahlerschuldig.
Der Erfolg unserer Integrationsbemühungen hängtentscheidend von der Akzeptanz von Zuwanderungab. Akzeptanz werden wir erreichen, wenn sich alle en-gagieren, wenn sich alle einbringen, aber auch dann,wenn übermäßige Belastungen in Städten und Gemein-den vermieden werden. Dazu leistet das jetzt fortge-schriebene Wohnortzuweisungsgesetz einen wirklichwichtigen Beitrag.Ich darf Sie ganz herzlich um Unterstützung für die-ses Gesetzgebungsvorhaben bitten.
Ich erteile dem Kol-
legen Harmut Koschyk von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heu-te – der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung,Herr Kollege Welt, hat bereits darauf hingewiesen – ei-nen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der das zurzeitnoch in Kraft befindliche Wohnortzuweisungsgesetzergänzen soll. Ich darf daran erinnern, dass diesesWohnortzuweisungsgesetz unter einer unionsgeführtenBundesregierung – damals zumindest auch mit Zustim-mung der SPD; Bündnis 90/Die Grünen hatten funda-mentale Bedenken gegen dieses Gesetz – zustande ge-kommen ist.
Jochen Welt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8831
Sehr geehrter Herr Welt, wir verschließen die Augennicht davor, dass wir dann, wenn dieses Gesetz im Julidieses Jahres ausläuft, das Problem haben, dass wir in-nerhalb Deutschlands möglicherweise wieder eine ge-wisse Bewegung in Ballungsgebiete, in denen wir schoneine sehr hohe Aussiedlerkonzentration haben, bekom-men könnten. Deshalb sind wir als CDU/CSU-Fraktiongrundsätzlich konstruktiv an die Frage, wie wir zu die-sem Gesetz stehen, herangegangen.Wir sehen eine gewisse Problematik darin, dass die-ses Gesetz nicht nur für die Aussiedler gelten wird, dieab dem 15. Juli 2000 – nach Auslaufen des jetzigen Ge-setzes – nach Deutschland kommen, sondern auch fürdiejenigen Aussiedler, die seit dem 15. Juli 1997 nachDeutschland gekommen sind.Neu ist auch die Bestimmung in dem jetzt von derBundesregierung vorgelegten Gesetz, die Spätaussiedlerzur Registrierung in einer Erstaufnahmeeinrichtung desBundes rechtlich verpflichtet. Solange sich Spätaussied-ler nicht registrieren lassen, erhalten sie grundsätzlichkeine Integrationshilfen und sonstigen staatlichen Leis-tungen. Bislang gab es dadurch lediglich einen fakti-schen Zwang zur Registrierung.Wir begrüßen – das will ich ausdrücklich sagen –,dass mit dem vorgelegten Gesetz durch eine zusätzlicheRegelung den arbeitsfähigen Aussiedlern ein zeitlichbegrenzter Aufenthalt in einer anderen Region mit bes-seren Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt er-möglicht werden soll, ohne dass die diese Möglichkeitnutzenden Aussiedler den Anspruch auf staatliche Leis-tungen verlieren.Wir haben uns die Prüfung und Bewertung des Ge-setzentwurfes nicht leicht gemacht. Für uns war ganzentscheidend, dass die Koalitionsfraktionen bei der Be-ratung im federführenden Innenausschuss einem Antragder CDU/CSU-Fraktion gefolgt sind, das neue Gesetznicht unbefristet in Kraft treten zu lassen, sondern es miteiner zeitlichen Befristung zu versehen und es am31. Dezember 2009 außer Kraft treten zu lassen. DieseÄnderung war für uns bedeutsam, sodass wir als CDU/CSU-Fraktion dem Gesetz bei allen Vorbehalten, die esin unserer Fraktion gibt – bis hin zur Ablehnung –,grundsätzlich zustimmen werden. Auch wir haben natürlich den Kontakt mit den Län-dern und den Kommunen gesucht. Wir haben zurKenntnis genommen, dass auch die unionsregiertenLänder ein neues Gesetz dieser Art begrüßen. Deshalbhat bei der Behandlung im Bundesrat kein Land Ein-wendungen gegen dieses Gesetz erhoben.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dasswir als CDU/CSU-Fraktion damit auch in der Oppositi-on deutlich machen, dass wir uns vernünftigen Regelun-gen in der Aussiedlerpolitik, die insgesamt die Akzep-tanz für die zu uns kommenden Aussiedler fördern,nicht verschließen. Aber ich möchte diese Debatte dochauch dazu nutzen, deutlich zu machen, dass es eine gan-ze Reihe von Punkten in der Aussiedlerpolitik der jetzi-gen Bundesregierung gibt, gegen die wir Vorbehalte ha-ben und die nicht unsere Zustimmung finden können.Sehr geehrter Herr Kollege Welt, wir nehmen erfreutzur Kenntnis, dass Sie den noch unter der unionsgeführ-ten Bundesregierung beim Bundesverwaltungsamt ein-gerichteten Integrationsfonds zur Lösung von Schwer-punktproblemen sehr schätzen. Aber ich will doch deut-lich machen, dass er nicht von der jetzigen Bundesregie-rung erfunden worden ist. Sie haben diesen Integrations-fonds, der 1998 noch 32 Millionen DM betragen hat –Sie haben davon gesprochen –, im vergangenen Jahr auf42 Millionen DM erhöht. Er soll in diesem Jahr auf45 Millionen DM ansteigen.Aber, Herr Kollege Welt, Sie sollten schon deutlichsagen, wie es sich insgesamt mit den Haushaltsmittelnfür die Aufnahme und Integration von Aussiedlern inder Bundesrepublik Deutschland seit Amtsantritt derneuen Bundesregierung verhält. 1998 standen hierfür imBundeshaushalt noch circa 2 Milliarden DM zur Verfü-gung. Im laufenden Haushalt sind die Gesamtleistungenauf unter 1,5 Milliarden DM abgesenkt worden. Manmuss in einer solchen Debatte schon einmal deutlichmachen, was die Einsparungen in einem bestimmten Be-reich humanitär bedeuten. Sie sparen nämlich bei denRückführungskosten für die zu uns kommenden Aus-siedler die Hälfte ein. Sie senken die Mittel von50 Millionen DM im Jahr 1998 auf 26 Millionen DM indiesem Jahr ab. Dies führt vor allem dazu, dass diejeni-gen Aussiedler, die das ganze schwierige Verfahren mitSprachtest und Aufnahmebescheid durchlaufen habenund dann zu uns in die Bundesrepublik Deutschlandkommen, ab sofort darauf angewiesen sind, die Modali-täten ihrer schwierigen Ausreise – wenn ich beispiels-weise an die mittelasiatischen Republiken Kasachstanund Kirgistan oder auch an die heutige Lebens-wirklichkeit in der Russischen Föderation denke – selberzu organisieren.
Sie dürfen nicht mehr auf dem Luftwege kommen. Siemüssen das Ganze selbst im Voraus finanzieren und er-halten dann, wenn sie in der Bundesrepublik Deutsch-land sind, eine Reisekostenpauschale von 200 DM. In den mittelasiatischen Republiken spielen sich heu-te teilweise dramatische Szenen ab, bis die Leute ihreAusreise organisiert haben. Alte und kranke Menschensowie Familien mit vielen Kindern sind gezwungen, sichtagelang unter teilweise menschenunwürdigen Bedin-gungen auf die schwierigen Eisenbahnwege zu begeben.Sie sollten die Anhebung des Integrationsfonds nicht alsgroße Tat preisen, wenn Sie den Menschen zumuten, un-ter wirklich inhumanen Bedingungen den Weg in dieBundesrepublik Deutschland anzutreten.
Lassen Sie mich noch einige Worte dazu sagen, dassSie die Höchstzahl für den Aussiedlerzugang reduzierthaben. Sie haben Recht, Herr Welt – das sollte niemandleugnen –, dass es insgesamt gelungen ist, den Zuzugder Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland zuverstetigen. Als das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz1993 in Kraft trat, lagen die Zugangszahlen bei weit mehr als 200 000 jährlich. Die Zahlen haben sichHartmut Koschyk
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inzwischen der 100 000-Grenze angenähert und sie wer-den weiter zurückgehen.Herr Welt, wir haben schon ein Problem mit dieserKorrektur der Zahlen gehabt; denn wir glauben, dass dieauf gesetzlichem Wege herbeigeführte Veränderung beiden Zugangszahlen bei denjenigen, die bereits einenAufnahmebescheid in der Tasche haben, wieder einStück Unsicherheit und Panik ausgelöst hat. Dass dieZahlen seit Ende des vergangenen Jahres wieder anstei-gen, führe ich auch darauf zurück, dass sich ein Teil derAussiedler, die einen Aufnahmebescheid besitzen, durchdiese neuerlichen Veränderungen aufgerufen fühlt, die-sen Bescheid zu nutzen und in die BundesrepublikDeutschland zu kommen.Lassen Sie mich auf ein Weiteres eingehen. Wirnehmen mit Besorgnis zur Kenntnis, dass die Bundesre-gierung die Haushaltsmittel zur Förderung deutscherMinderheiten in den Staaten Mittel- und Osteuropasund in der GUS erheblich kürzt, und zwar nicht nur imGeschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern,sondern auch im Geschäftsbereich des Auswärtigen Am-tes. Die Bundesregierung hat mir dieser Tage bestätigt,dass die Zahl deutscher Lehrer vor allem in den StaatenMittel- und Osteuropas bereits im Haushaltsjahr 2000drastisch zurückgefahren wird.Wissen Sie, Herr Welt, da passt etwas nicht zusam-men. Wir können uns gerne darüber unterhalten, wo esauch in unserer Politik bei den Integrationsmaßnahmenin der Bundesrepublik Deutschland Defizite gegebenhat. Ich kann mich noch daran erinnern, dass Sie als Op-position uns in der Zeit, in der die Politik von einer uni-onsgeführten Regierung verantwortet wurde, dafür kriti-siert haben, dass der Umfang der Sprachförderung zu-rückgeführt worden ist. Angesichts dessen haben wir dieErwartung gehabt, dass Sie die Mittel für die Sprachför-derung erhöhen würden. Sie aber haben über die sechs-monatige Sprachförderung hinaus überhaupt keine zu-sätzlichen Möglichkeiten geschaffen.
Das, was Sie über die Arbeitsverwaltung aus Mitteln desEuropäischen Sozialfonds zur Verfügung stellen, hat esauch zu unserer Zeit gegeben. Sie haben gesagt, dass Sie die Integrationsanstren-gungen verstärken wollen. Sie verstärken sie aber nurminimal und kürzen gleichzeitig die Mittel für deutscheMinderheiten in ihrer angestammten Heimat, in Mittel-und Osteuropa sowie in der GUS, und zwar nicht nur inIhrem Bereich, sondern sehr gravierend auch im Bereichdes Auswärtigen Amtes. Auf den in den letzten Jahrenzustande gekommenen Wiedererwerb der deutschenMuttersprache bei den deutschen Minderheiten werdensich die Kürzungen bei den dafür zuständigen Lehrernund Bildungseinrichtungen in diesem Jahr und im nächs-ten Jahr sehr negativ auswirken. Wir glauben, dass da-durch ein Stück neue Verunsicherung bei den Deutschenin den Staaten Mittel- und Osteuropas und in der ehema-ligen Sowjetunion entsteht.
Ich will hier noch einmal sehr deutlich sagen: Wirversagen uns nicht notwendige Maßnahmen, die einerFörderung der Akzeptanz von Aussiedlern, die zu uns indie Bundesrepublik Deutschland kommen, dienen. Wirsehen dazu in diesem Gesetz trotz aller Vorbehalte einenWeg. Deshalb wird die CDU/CSU-Fraktion diesem Ge-setz auch mehrheitlich zustimmen. Wir fordern Sie aberauf, nicht ständig nur neue Akzepte und Wohltaten derIntegrationspolitik dieser Bundesregierung zu verkün-den,
sondern auch wirklich konkret zu handeln. Herr Welt, wir würden uns freuen – das sage ich ausSicht unserer Fraktion, denn Ihr Vorgänger, KollegeWaffenschmidt, war sehr oft und regelmäßig im Innen-ausschuss des Bundestages und hat mit uns als federfüh-rendem Ausschuss die Probleme erörtert –, wenn Sie mitdem Innenausschuss als federführendem Ausschuss dieProbleme erörterten und wir auch mit Ihnen über all dieFragen, die ich heute angesprochen habe, in Zukunft ei-nen Dialog führen könnten, um manche Maßnahmendurch gemeinsame Anstrengungen zu verbessern und sonoch mehr Konsens zu erreichen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nundie Ausländerbeauftrage der Bundesregierung, die Kol-legin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich höre, es gibt Unruhe, weil ich als Auslän-derbeauftragte angekündigt worden bin. Ich rede hier alsAbgeordnete Beck.
Aber wir reden über Zuwanderung. Insofern ist es garnicht so schlecht, wenn auch die Ausländerbeauftragte –ich habe ja sozusagen zwei Hüte auf – hier über eineZuwanderergruppe redet, für die sich auch Fragen derIntegration stellen.
Es ist ja spannend, dass draußen überall eine aufge-regte Einwanderungsdebatte geführt wird, während wirhier ganz konkret über politisch gewollte und gesteuerteEinwanderung, über Gesetze und dazugehörige Teilge-setze reden. Wir befassen uns heute mit einem Aspektvon Einwanderungspolitik, Hartmut Koschyk
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die eigentlich nichts Neues darstellt, sondern bereits un-ter der alten Regierung politisch beschlossen und be-gonnen wurde und von uns jetzt weitergeführt wird. In diesem Zusammenhang geht es also um dasWohnortzuweisungsgesetz. Es läuft am 15. Juli 2000aus. Der vorliegende Gesetzantrag stellt eine Anschluss-regelung dar, da die Geltungsdauer auf Antrag der Union bis zum 31. Dezember 2009 verlängert wird. Die-ser vernünftige Vorschlag ist während der Aus-schussberatungen aufgegriffen worden. Die Wohnort-bindung von bisher vier Jahren soll nunmehr bei neueinreisenden Spätaussiedlern, die auf Sozialhilfe ange-wiesen sind, auf drei Jahre verkürzt werden. In dasWohnortzuweisungsgesetz wird eine Klausel eingefügt,wonach die Sozialhilfe weiter gezahlt werden kann,wenn der zugewiesene Wohnort vorübergehend zur Ar-beitssuche verlassen wird. Diese Neuerung, die jetzteingeführt wird, halte ich für vernünftig. Spätaussiedler werden verpflichtet, sich nach der Ein-reise registrieren zu lassen, andernfalls erhalten sie we-der Sozial- noch Eingliederungshilfe. Die Anschluss-regelung soll somit einerseits dem Interesse der Spätaus-siedler an freier Wahl des Wohnortes Rechnung tragen,andererseits soll aber auch Planungssicherheit beim Ein-satz von Integrationsmitteln berücksichtigt werden. Es stimmt und wurde vorhin auch schon bemerkt:Meine Fraktion hat in der vergangenen Legislaturperio-de gegen dieses Gesetz gestimmt. Es bestanden Beden-ken wegen der Einschränkung der Freizügigkeit. Manmuss gute Gründe haben, wenn man das Recht aufFreizügigkeit einschränkt. Damit haben Sie vollkom-men Recht. Es ist allerdings nicht von der Hand zu wei-sen, dass eine zeitlich begrenzte Wohnortzuweisung dieIntegrationsmöglichkeiten für die neu einreisendenSpätaussiedler und ihre Familien in der Tat verbessert.Das wurde hier schon von allen Seiten angeführt; insbe-sondere aufgrund der Erfahrungen vonseiten der Kom-munen und der Länder konnte sehr deutlich gezeigtwerden, dass mit dieser Form von Planungssicherheit ih-re Integrationsansätze besser gesteuert werden können,
als wenn es keine Wohnortzuweisung gibt. Das hat auchder Aussiedlerbeauftragte Jochen Welt in seinen Berich-ten sehr eindeutig belegt. Er belegt auch, dass es schwie-riger geworden ist, die heute zu uns kommenden Aus-siedler zu integrieren.Im Jahre 1999 kamen 104 916 Personen als Spätaus-siedler in die Bundesrepublik Deutschland. 90 Prozentstammen aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. DerAnteil derer, die ausschließlich der deutschen Volkszu-gehörigkeit zuzurechnen sind, ist in den letzten Jahrenimmer geringer geworden. Ein großer Teil der Spätaus-siedler stammt jetzt aus gemischt-nationalen Familien.Damit sind die Integrationsangebote oder -notwen-digkeiten auf dem Weg in unsere Gesellschaft dringen-der denn je. Es gibt außerdem Probleme, die bei dem Wechselvon einem Gesellschaftssystem in ein anderes, in unserLand entstehen. Oft kommen die Menschen aus demländlichen Raum, aus Regionen mit sehr überschauba-ren, einfachen Strukturen, und tun sich sehr schwer, sichin unserer industrialisierten, hochkomplexen Gesell-schaft zu orientieren.Hinzu kommen unzureichende Sprachkenntnisse beiden neu einreisenden Spätaussiedlern. Während wir beider älteren Generation in der Regel Deutschkenntnissevorgefunden haben, kommen nun mit den jungen Men-schen und gerade mit den mitausreisenden Familienmit-gliedern immer mehr Menschen, die fast keine oder garkeine Deutschkenntnisse haben.Die Beratungsstellen für Spätaussiedler stellen bereitsseit vielen Jahren fest, dass sich die Beratungsangebotefür ihre Klientel – das ist das Spannende – kaum mehrvon der Integrationsarbeit für andere Migrantinnen undMigranten unterscheiden: fehlende Sprachkenntnisse,nur noch schwer erkennbare kulturelle Bezüge zu unse-rem Land. Wir marschieren im Grunde genommen in ei-ne Zeit hinein, in der wir politisch gut beraten wären, dieZusammenfassung der Zuwanderergruppen anzusteuern,nämlich Spätaussiedler und andere Migranten, die jetztnoch getrennt werden, nicht mehr zu trennen, sondernunsere Integrationsansätze so zu konzipieren, dass siegleichermaßen für beide Gruppen gestrickt werden.
Wegen dieser schwierigen Entwicklungen, die icheben beschrieben habe, sind Integrationsangebote, diemöglichst rasch nach der Einreise der Spätaussiedlergreifen, sinnvoll. Übrigens ist dieses Prinzip der frühzei-tigen Intervention wiederum für andere Zuwanderer-gruppen genauso gültig. Wir haben also immer ähnlicheErscheinungen. Da Integrationsarbeit vor allem in den Kommunengeleistet wird, bietet der vorliegende Gesetzentwurf eineGrundlage dafür, um Ressourcen möglichst effizienteinzusetzen. Deswegen stimmen wir ihm zu.
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
– Wenn Sie heute Geburtstag haben, möchte ich Ihnen
im Namen des ganzen Hauses herzlich zu Ihrem Ge-
burtstag gratulieren.
Frau Präsidentin, ich be-danke mich sehr herzlich. Ich befürchte freilich, dassdas, was ich vorzutragen habe, nicht allen gefallen wird.Marieluise Beck
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8834 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Meine Damen und Herren, es ist unstreitig, dass esbei der Eingliederung von Spätaussiedlern Problemegibt. Also muss man ihnen bei dieser Eingliederung hel-fen. Zu Recht stellt daher der Aussiedlerbeauftragte derBundesregierung, unser Kollege Jochen Welt, dieSprachförderung und die Idee des „Netzwerks für Inte-gration“ in den Mittelpunkt seiner Politik. Ich finde, dass auch der Vorschlag von Jochen Weltzu unterstützen ist, gleich nach der Einreise einen so ge-nannten Eingliederungskontrakt zu erarbeiten. Hierinsoll je nach den vorhandenen beruflichen und sozialenKompetenzen ein individueller Förderplan definiertwerden und zwischen dem Leistungsempfänger und denLeistungsträgern vereinbart werden. Eine so organisierteIntegrationsarbeit soll mehr Effizienz und Nachhaltig-keit bei der Integration von Spätaussiedlern entfalten.Diese offensive Integrationspolitik ist zu begrüßen.Dagegen wirkt das Gesetz zur Wohnortzuweisungwie ein Relikt aus dem bürokratischen Obrigkeitsstaat.
Einem Menschen vorzuschreiben, wo er seinen Wohn-sitz zu nehmen hat, passt nicht zu einer freiheitlichenGesellschaft.
Integrationsprobleme können damit nicht dauerhaft ge-löst werden. Ein solcher Eingriff in die persönliche Frei-heit ist daher nur für eine vorübergehende Zeit vertret-bar, wenn eine aktuelle Notlage nicht anders behobenwerden kann. So hat sich die Situation 1996 dargestellt,als die damalige Koalition aus CDU/CSU und F.D.P.mit Zustimmung der Sozialdemokraten ein befristetesWohnortzuweisungsgesetz erlassen hat. Die Gettobil-dung unter Aussiedlern mit ihren negativen Begleiter-scheinungen hat damals eine hinreichende Begründunggeliefert. Bei der Verlängerung dieses Gesetzes um weiterezwei Jahre im Jahr 1998 hat der damalige Aussiedlerbe-auftragte der Bundesregierung, Horst Waffenschmidt,der diese Verlängerung betrieben hat, aber schon klarge-stellt, dass diese Notmaßnahme im Jahr 2000 endgültigauslaufen wird.
Waffenschmidt hat im November 1997 wörtlich erklärt,dass bei sinkenden Aussiedlerzahlen die Integrationauch ohne gesetzliche Wohnortfestlegung erreicht wer-den wird. Er hat versprochen, das Wohnortzuweisungs-gesetz könne im Jahr 2000 auslaufen, weil die Zuzugs-zahlen zurückgehen würden und sich die Bun-desregierung – auch schon die damalige Bundesregie-rung – verstärkt um eine verbesserte Integration, insbe-sondere um die Verbesserung der Sprachkenntnisse vorder Einreise bemühen werde. Die F.D.P.-Fraktion hält sich an das damals gegebeneVersprechen.
Alle von Waffenschmidt genannten Voraussetzungenliegen nämlich vor.
Die Integrationsmaßnahmen – dass wir das anerkennen,darauf legt Herr Welt ja besonderen Wert; und wir tundies – sind deutlich verbessert worden. Die Aussiedler-zahlen sind jetzt rückläufig. Im Februar 2000 sind5 045 Spätaussiedler – einschließlich der Familienange-hörigen – in der Bundesrepublik registriert worden. Diesliegt weit unter der Größenordnung von über 10 000Personen der Vormonate. Dennoch will die SPD das Wohnortzuweisungsgesetzsogar auf Dauer verlängern – das war der ursprünglicheEntwurf – und tritt die Union für eine zehnjährige Wei-tergeltung ein. Dies ist für uns Freie Demokraten nichtakzeptabel.
Denn – davon war in den bisherigen Debattenbeiträgennoch nicht die Rede – die Zuweisung eines Wohnortesbeschränkt, zwar nur indirekt, aber dennoch in sehr mas-siver Weise, das Grundrecht des Art. 11, nämlich dasGrundrecht auf Freizügigkeit.
Darüber hinaus stellt die Zuweisung unter dem Aspektdes Art. 3 eine Ungleichbehandlung von Spätaussiedlernmit anderen Bevölkerungsgruppen dar,
die wir ebenfalls sehr bedenklich finden. Ich habe beiden Ausführungen der verehrten Frau Ausländerbeauf-tragten nicht gehört – das sei nur nebenbei bemerkt –,dass sie die Wohnortzuweisung für alle Migrantinnenund Migranten gutheißen würde.
Meine Damen und Herren, wir bleiben bei unsererLinie: Für einen befristeten Zeitraum haben wir dieseNotmaßnahme mitgetragen. Wir halten aber an dem da-mals gegebenen Versprechen fest, das Gesetz nunmehrauslaufen zu lassen.Ich hätte mir dabei schon Unterstützung von derFraktion der Bündnisgrünen erwartet.
Denn noch in der Plenardebatte vom 13. November1997 hat diese Fraktion dem damaligen Wohnortzuwei-sungsgesetz die Zustimmung versagt.
Kollege Özdemir hat wörtlich ausgeführt – ich zitiere –:Wir können dem Wohnortzuweisungsgesetz nichtzustimmen, weil dieses Gesetz, wenn man es ab-wägt, einen schwerwiegenden Eingriff ins Grund-gesetz darstellt.Dr. Max Stadler
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Meine Damen und Herren, ich kann keine überzeu-gende Begründung dafür erkennen, warum die Grünenim Jahr 1997 ein lediglich befristet geltendes Wohnort-zuweisungsgesetz abgelehnt haben, jetzt aber bereit wa-ren, sogar einem auf unbestimmte Zeit verlängerten ent-sprechenden Gesetzentwurf zuzustimmen,
das nach der Änderung im Innenausschuss immerhin aufzehn Jahre, also für einen reichlich bemessenen Zeit-raum, gelten soll.Ich bin der Meinung, dass die Grünen damit einmalmehr ihren eigenen Anspruch und ihre eigene rechts-staatliche Überzeugung der Koalitionsräson geopfert ha-ben.
Über den eigentlichen Anlass hinaus ist diese Kehrt-wendung der Grünen der bemerkenswerteste Vorgangder heutigen Beschlussfassung.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Günter Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich etwas zum eigent-lichen Thema sage, möchte ich auf Herrn Koschyk ein-gehen. Ich glaube, es war ein Versprecher, als Sie wäh-rend Ihres Vortrags sagten, die Wohnortbindung geltesechs Jahre. Nach dem Wohnortzuweisungsgesetz, dasam 15. Juli 2000 ausläuft, beträgt die Bindung maximalviereinhalb Jahre; denn seit 1996 gilt das Gesetz. Daswar sicherlich ein Versprecher, auf den ich nur hinwei-sen wollte.Ich danke Ihnen an dieser Stelle dafür, dass Sie sichim Innenausschuss so massiv für einen Konsens einge-setzt haben, weil wir mit ihm den Bedürfnissen be-stimmter Kommunen in unserem Lande gerecht werden.Herr Koschyk, zu den Haushaltszahlen möchte ichnichts sagen. Ich habe vorhin mit dem Kollegen JochenWelt gesprochen und er hat mir zugesagt: Wenn wir dasGesetz verabschiedet haben, wird er an einer Sitzung desInnenausschusses teilnehmen, damit wir uns über diepraktischen Auswirkungen des Gesetzes informierenlassen und uns darüber austauschen können, was bessergemacht werden kann. Die Haushaltszahlen haben sich natürlich in Gänzeverändert. Aber dass wir mehr Geld für Integration aus-geben, ist nachlesbar. Wir haben die Mittel für die Her-kunftsgebiete erhöht, nicht zuletzt deshalb, weil dieMittel, die wir früher zur Verfügung gestellt haben, oftnicht dort angekommen sind, wo sie ankommen sollten.Sie kennen den Bericht des Bundesrechnungshofs. Dannkennen Sie auch das Beispiel der Ziegelei, die errichtetwerden sollte, um Arbeitsplätze zu schaffen und umHäuser bauen zu können. Für die Errichtung dieser Zie-gelei wurden ursprünglich 2 Millionen DM veran-schlagt. Am Ende waren es 7 Millionen DM.Sie wissen, wie viel Geld wir für den Bau von Woh-nungen für Deutsche in den Herkunftsgebieten ausgege-ben haben. Die heutige Situation sieht so aus, dass40 Prozent der Wohnungen, die mit deutschem Geld ge-fördert wurden, mit Deutschen belegt sind, aber60 Prozent der Wohnungen leer stehen, weil die Eigen-tumsverhältnisse nicht geklärt sind. Insofern war es einguter und richtiger Schritt der Bundesregierung, dieVergabe der Mittel auf die Herkunftsgebiete dort zukonzentrieren, wo sie benötigt werden.
Ich möchte Sie, geschätzter Kollege Stadler, ganzpersönlich beglückwünschen. Sagen möchte ich Ihnenaber: Wenn man regiert, dann unterliegt man bestimm-ten Zwängen und gelangt auch zu anderen Einsichten.Das war auch zu Ihrer Zeit so, als Sie dem Gesetz zu-stimmten und die Freizügigkeit für maximal viereinhalbJahre eingeschränkt haben. Nun wird durch das neueGesetz die maximale Wohnortbindung auf drei Jahrebegrenzt.Ich möchte noch etwas sagen, damit das deutlichwird, weil es oft falsch verstanden wird: Mit dem vor-liegenden Gesetz regeln wir auf der einen Seite den Zu-zug von circa 100 000 Menschen, die innerhalb einesJahres zu uns kommen. Aber wir erfassen auch die Alt-fälle, und zwar in der Gestalt, dass diejenigen, die biszum 14. Juli 2000 noch keine drei Jahre der Wohnort-bindung unterliegen, die Restzeit an dem ihnen zuge-wiesenen Wohnort – so muss man es wohl sagen – ab-wohnen müssen. Warum soll das so sein? Wenn wir alldie Menschen, für die noch die alte Wohnortbindunggilt, am 15. Juli 2000 aus der Bindung entlassen würden,dann würde es in Deutschland eine kleine Völkerwande-rung geben; denn es sind über eine halbe Million Men-schen, die heute in anderen Gebieten leben. Das Wohn-ortzuweisungsgesetz hat ja gewirkt. Sie alle wissen, dass ich aus dem Landkreis Cloppen-burg stamme, der in der Vergangenheit – Frau KolleginKors, Sie werden das bestätigen können – zu den Gebie-ten gehörte, in denen es einen sehr extremen Zuzug gab,in denen in den Jahren 1995 und 1996 Spannungen inder Bevölkerung auftraten, sodass in bestimmtem Ortenüber die Aufstellung von Bürgerwehren gesprochenwurde, um sich vor den „Russen“ – so hat es derVolksmund manchmal formuliert – zu schützen. Gott seiDank konnten wir gemeinsam mäßigend einwirken undmit diesem Gesetz dazu beitragen, dass sich die Situati-on massiv entspannte. Das merken wir heute.Würden wir das vorliegende Gesetz nicht beschlie-ßen, dann würde zwangsläufig Folgendes eintreten – dieBürgermeister und Landräte meines Wahlkreises sind indiesem Sinne an mich herangetreten –: Natürlich habendie Menschen, die in den letzten Jahren den neuen Bun-desländern zugewiesen wurden, dort zum Teil unter we-sentlich schlechteren Bedingungen bezüglich Wohnsitu-ation und Arbeitsplatzmöglichkeiten gelebt als diejenigen,Dr. Max Stadler
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die damals den alten Bundesländern zugewiesen wor-den sind und die ständig Kontakte zu ihren Ver-wandten und Bekannten gehalten haben. Ich weiß es ausmeinem Umfeld: Diese Personen würden sich, wenn siedort nicht integriert worden sind, auf den Weg in dieBallungsgebiete machen. Das würde das gesamte Integ-rationsbemühen, das jetzt zu fruchten beginnt, zunichtemachen. Deswegen ist dieses Gesetz notwendig. Ich denke, in diesem Hause macht es sich keinerleicht, ein Gesetz zu verabschieden, in dem es darumgeht, das Grundrecht der Freizügigkeit einzuschränken.Aber wir sind alle gefordert, mit offenen Augen durchdas Land zu gehen und uns vor Ort über die Situationkundig zu machen. Und wenn eine wir entsprechendeSituationen vorfinden, dann müssen wir auch handeln,dann muss jede Ideologie beiseite geschoben werden.Denen, die die Situation in meinem Wahlkreis nichtkennen, will ich sie erklären: Es gibt einen Schlüssel,nach dem die Zuteilung auf die einzelnen Bundesländererfolgt. Für das schöne Land Niedersachen, aus dem ichkomme, beträgt die Zuteilung 9,2 Prozent. Bei der da-mals im Rahmen des Asylkompromisses beschlossenenGrößenordnung von 220 000 Menschen hätte das bedeu-tet, dass pro Jahr etwa 20 000 Menschen nach Nieder-sachsen gekommen wären. Wenn ich das nun für meinenLandkreis herunterrechne, wären uns jährlich circa450 Spätaussiedler zugewiesen worden. In der Realitätwaren es jährlich circa 2 000, 2 500 oder3 000 Menschen.
– Das ist eine ganz schlaue Bemerkung von Ihnen.Kümmern Sie sich einmal bei sich darum. Auch Sie ha-ben diese Probleme vor Ort.
– Lassen Sie mich das einmal zu Ende erzählen, damitSie wissen, wovon wir reden.
Wenn man diese Zahlen hört, so ist das um ein Erhebli-ches mehr. Es ist von allen darauf hingewiesen worden, dass dieMenschen, die in den letzten Jahren gekommen sind,hinsichtlich der Sprache nicht mit denen zu vergleichensind, die in den 80er-Jahren kamen.
Es ist völlig klar, dass diese Menschen auf dem Ar-beitsmarkt benachteiligt sind. Wenn sie die deutscheSprache nicht beherrschen, finden sie auch wesentlichschlechter Arbeit. Dies hat dazu geführt, dass sie in den vergangenenJahren überwiegend Sozialhilfeleistungen in Anspruchnehmen mussten. Ich sage Ihnen einmal beispielhaft,was das im Klartext für den Kreis Cloppenburg bedeutethat: In den Jahren 1992/93 gab der Landkreis eineSumme von etwa 17 Millionen DM an Sozialhilfe aus.Diese schnellte im Haushaltsansatz 1996 auf einen Be-trag von annähernd 60 Millionen DM hoch. Somit tratbei mir im Landkreis zum ersten Mal die Situation ein,dass Haushalte nicht mehr ausgeglichen werden konn-ten. Dies wurde ganz überwiegend durch die hohe Kon-zentration aufgrund verwandtschaftlicher oder nachbar-schaftlicher Bindungen ausgelöst. Deshalb ist es not-wendig, dass wir die entsprechenden Maßnahmen er-greifen. Im Übrigen hat es den Kommunen auch einiges mehrabverlangt, was man gar nicht so zur Kenntnis nimmt.Allein der verstärkte Aussiedlerzuzug hat dazu geführt,dass wir in den eben genannten Jahren in die Schulenund Kindertagesstätten 75 bis 80 Millionen DM zusätz-lich investieren mussten. Wäre die Situation die gleiche geblieben, wäre in denFolgejahren in etwa die gleiche Summe dazugekommen. Das sind Probleme, die sich vor Ort darstellen. Wirhaben zu handeln, auch wenn es schwer fällt. Das habenwir in der Vergangenheit, glücklicherweise mit breiterMehrheit getan. Ich hoffe, dass wir es auch heute mitbreiter Mehrheit, tun können.An die F.D.P.-Fraktion gerichtet will ich sagen:Wenn man die Freizügigkeit in der Vergangenheit fürviereinhalb Jahre einschränken konnte, dann sollte mandarüber nachdenken, ob es nicht zur Erreichung einesbreiten Konsenses möglich wäre, dies jetzt für einenZeitraum von drei Jahren zu tun. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der
Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Wir sollten uns vergegen-wärtigen, dass die Aussiedler, die zu uns kommen, in einLand kommen, das ihnen zunächst fremd ist, obwohl sieDeutsche sind. Sie haben ihre gesamte Sozialisation hin-ter sich gelassen, sie sind praktisch entwurzelt. Es liegtin ihrem Interesse und sollte auch in unserem liegen,dass sie hier so schnell wie möglich eine neue Heimatfinden.Heimat ist für mich nicht Boden, Heimat ist Sprache,ist Glaube, ist Familie. Dass die neu Ankommenden be-strebt sind, dorthin zu gehen, wo sich bereits Personenaus ihrem verwandtschaftlichen Umfeld befinden, liegtauf der Hand. Das würde jeder von uns genauso tun.Außerdem haben sie nach aller Erfahrung so noch diebesten Chancen, eine Erwerbstätigkeit zu finden. Demsteht aber das Wohnortzuweisungsgesetz entgegen. Ich kann durchaus das Interesse der Bundesregierungund ebenso der Länder verstehen, Aussiedler möglichstGünter Graf
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gleichmäßig aufzuteilen. Doch kann dieser Wunsch kei-nen höheren Rang als das eigentliche Ziel besitzen. Daseigentliche Ziel ist eine schnellstmögliche Integration.
Es erfüllt mich mit Genugtuung, dass die zu unskommenden Aussiedler volle staatsbürgerliche Rechteerhalten. Dazu gehört auch das Recht auf Freizügigkeit,die allerdings mit diesem Gesetz massiv eingeschränktwürde. Schon deshalb kann die PDS dem vorliegendenGesetzentwurf nicht zustimmen. Doch es gibt noch schwerwiegendere Gründe dafür.Gleich im Eingangssatz des Gesetzentwurfes heißt es,das Gesetz habe sich bewährt. Daran habe ich starkeZweifel.
Ich muss angesichts der Tatsache, dass sich die Zahl de-rer, die unser Land enttäuscht wieder verlassen, zu-nimmt, zumindest fragen, für wen es sich bewährt hat.
Es spräche prinzipiell nichts dagegen, Aussiedler ent-sprechend dem Bevölkerungsproporz auch auf die neuenLänder aufzuteilen, aber doch nur, wenn sie damit auchgleiche Startchancen hätten. Sie alle wissen doch, dassdas nicht so ist. Wenn die Arbeitslosigkeit in einemLand wie Sachsen-Anhalt mehr als doppelt so hoch istwie in Baden-Württemberg oder Bayern, sind kaumMöglichkeiten gegeben, aus der Sozialhilfe herauszu-kommen.
Wem nützt es also, dies weiterhin gesetzlich festzu-schreiben? Die rechtsradikale Losung – „Deutsche Ar-beitsplätze für deutsche Arbeiter“ – ist vorprogrammiert.
In der Zielsetzung des Gesetzentwurfes heißt es wei-ter, dass mit ihm nicht nur Integration, sondern sogar ei-ne bessere Integration erreicht werden soll. Das ist aberschon deswegen nicht möglich, weil die Bundesregie-rung die Rahmenbedingungen dafür erheblich ver-schlechtert hat. Obwohl bekannt ist, dass die jetzt zuzie-hende Aussiedlergeneration wesentlich geringere Kennt-nisse der deutschen Sprache mitbringt als Aussiedlerfrüherer Jahre, wurden die Sprachkurse – das nochimmer erste und wichtigste Mittel für Integration – voneinem auf ein halbes Jahr verkürzt.
Der „Info-Dienst Deutsche Aussiedler“ spricht fürdas Land Brandenburg sogar von einer katastrophalenLage. Es gebe monatelange Wartezeiten. Auch danachwerde die Sprachkompetenz der Teilnehmer bei der Zu-sammensetzung der Kurse oft nicht gebührend berück-sichtigt. Die Erfolgsquote dürfte bei derart seelenlosemAngehen dieser Aufgabe sehr mäßig sein. Die so mehrschlecht als recht vorbereiteten Aussiedler haben aufdem ohnehin kaum vorhandenen Arbeitsmarkt in Bran-denburg keine Chance. Sie dürfen trotzdem nicht vorAblauf von drei Jahren in ein anderes Bundesland wech-seln; ansonsten würden Ihnen aufgrund dieses Gesetzesdie Zuwendungen gestrichen. Folgen wie Resignation,Gettoisierung und eine erhöhte Kriminalitätsrate unterAussiedlern können da niemanden verwundern. Das Ge-setz ist wirklichkeitsfremd und steht dem hehren An-spruch der Integration diametral entgegen.
Solange also in den Bundesländern nicht annäherndgleiche Lebensverhältnisse hinsichtlich des Zugangs zurErwerbsarbeit bestehen und solange nicht die tatsächlichnotwendigen Integrationshilfen zur Verfügung gestelltwerden, ist dieses Gesetz nicht hilfreich.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. – Es behindert die In-
tegration, es behindert ihr Leben in Deutschland, das
viele gewählt haben, um dorthin zurückzukehren, von
wo ihre Großeltern und Urgroßeltern ausgewandert sind.
Wir nennen diese Menschen Heimkehrer.
Ich komme aus einer Familie von Heimkehrern.
Meine Familie stammt aus Moldawien. Alles, was ich
hier sage, ist gedeckt.
– Das ist absolut nicht meine These.
Meine Botschaft ist, dass die Art. 3 und Art. 12 des
Grundgesetzes nicht weiter verletzt werden dürfen.
Für die PDS sage ich daher Nein zum vorliegenden Ge-
setzentwurf.
Ich schließe dieAussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Bundesregierung zur Änderung des Gesetzesüber die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes fürSpätaussiedler in der Ausschussfassung, DrucksachenDr. Heinrich Fink
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8838 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
14/2675 und 14/2956. Wer stimmt für den Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung? – Die Gegenprobe! –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist gegen die Stim-men der PDS, der F.D.P. und einiger Kolleginnen undKollegen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.Wir kommen nun zur dritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Jetzt mögen sich diejenigen, die dagegen sind, erheben. –Der Gesetzentwurf ist angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der AbgeordnetenHildebrecht, Braun , Günter Nolting,Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P. Bekämpfung jeder Art von Diskriminierung inder Bundeswehr – Drucksache 14/1870 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieF.D.P. fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeHildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. hat dendieser Debatte zugrunde liegenden Antrag gestellt. Siewill nicht mehr länger mit ansehen, wie das Bundesver-teidigungsministerium die Diskriminierung von Solda-ten in unserem Lande nicht nur weiterhin duldet, son-dern auch noch rechtfertigt. Wir haben darauf bestanden,dass der Minister heute selbst erscheint und sich nichtvertreten lässt; denn wir erwarten heute eine öffentlicheErklärung, die den unsäglichen Zustand beendet, dasseine besonders wichtige Institution unseres Staatesgrundgesetzwidrig und menschenrechtswidrig jungeMenschen, die unserem Lande dienen, diskriminiert.
Das Jahr 2000 muss in diesem Punkt den grundlegendenWandel bringen.
Herr Scharping, es fällt außerordentlich schwer, da-mit umzugehen, dass viele junge Menschen die SPD alsPartei der Freiheit wahrgenommen haben, die sich aberjetzt als eine Partei herausstellt, die das Denken vonvorgestern ausgerechnet im Grundrechtsbereich fort-setzt. Sie selbst betonen im Gespräch, dass Sie gar nichtsgegen Homosexuelle hätten, nur bei der Bundeswehrseien sie ein Problem. Welch groteske Bewertung!
Der Europäische Gerichtshof hat bereits entschie-den, dass die Diskriminierung von homosexuellen Sol-daten gegen die Menschenrechte verstößt. Zwar ergingdie Entscheidung aufgrund der Klage eines englischenSoldaten; es ist aber sonnenklar, dass diese Entschei-dung ohne weiteres auf die deutsche Bundeswehr zu übertragen ist.Herr Scharping, nach protestantischer Lehre werdenSünden – auch schwere Sünden – vom gütigen Herrgottvergeben. Nur Sünden wider den Heiligen Geist führenzu ewiger Verdammnis. Eine solche Sünde liegt vor,wenn man verstockt ist. Als Kind wusste ich nie sorecht, was das ist.
Jetzt weiß ich es: Wer trotz einer klaren Entscheidungdes Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sotut, als könne man weitermachen wie bisher, der ist ver-stockt. Kurz: Herr Minister, Sie riskieren die Chance,doch noch in den Himmel zu kommen, wenn Sie nichtendlich Ihre unselige Praxis aufgeben.Da hilft Ihnen auch nicht die überraschende Nähezum ultrakonservativen Bischof Dyba aus Fulda, dersich bisher als Bastion wider die Aufgabe der Diskrimi-nierung von Menschen erwiesen hat, die der Herrgottetwas anders als die Mehrzahl der Menschen geprägthat. Dyba bewegt sich nämlich; er hat kürzlich erklärt,dass er sich sogar homosexuelle Priester vorstellen kön-ne, allerdings nur, wenn sie das Zeug zum Familienvaterhätten, was immer das sein mag.
Nehmen Sie doch endlich zur Kenntnis, dass zu Got-tes Schöpfung Linkshänder und Rechtshänder, aber ebenauch Heterosexuelle und Homosexuelle gehören. Viel-falt statt Einfalt!
Wenn Sie durch Ihr Haus verkünden lassen, dass einHomosexueller zum Vorgesetzten untauglich sei, dannunterstellen Sie, dass homosexuell veranlagte Menschendazu neigten, ihre Vorgesetztenposition zur Gewinnungvon sexuellen Vorteilen zu nutzen. Sie behaupten damitzugleich, dass derartige Tendenzen zwar bei homosexu-ell Veranlagten gegeben seien, nicht aber bei heterose-xuell Veranlagten. Welch eine groteske Verkennung derRealität! Oder ist Ihnen ein Erfahrungssatz bekannt, wo-nach Homosexuelle zu derartigem Fehlverhalten neig-ten, während Heterosexuelle dies nicht täten?Gerade auch deswegen, weil in Zukunft viele Frauenin der Bundeswehr Dienst tun werden, soll hier un-missverständlich klargestellt werden: Jede Ausnutzungder Vorgesetztenstellung für sexuelle Vorteile muss hartVizepräsidentin Anke Fuchs
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8839
bestraft werden. Dies gilt aber für Heterosexuelle undfür Homosexuelle gleichermaßen.
Warten Sie nicht, Herr Scharping, bis Ihnen das Bundes-verfassungsgericht den Weg weist. Wir erwarten vomVorgesetzten aller Soldaten Mut, nicht Zögerlichkeit.Die Mehrheit der Deutschen verabscheut die Diskrimi-nierung in jeder Form, gleichgültig, ob sie rassistisch,religiös oder sexuell motiviert ist.Die Bundeswehr ist ein wichtiger Teil unserer Gesell-schaft. Junge Wehrpflichtige lernen dort, wie der demo-kratische Staat mit Menschen, auch wie er mit Minder-heiten umgeht. Die Bundeswehr hat Vorbildfunktion.Gerade deshalb ist es so unerträglich, dass die Bundes-wehr bis heute Vorurteile verfestigt und bestätigt, stattsie zu bekämpfen.
Dieser Staat und seine Regierung müssen endlich dieScheinheiligkeit beenden, die zum Beispiel darin liegt,dass Homosexuelle zwar alle Positionen des öffentlichenLebens – inklusive die von Ministern einer Bundesregie-rung – einnehmen können, aber nicht von Gruppenfüh-rern der Bundeswehr.Herr Scharping, bis heute waren Sie in der Frage desUmgangs mit homosexuellen Soldaten auf dem Holz-weg. Es gibt hier keine kleinen Korrekturen, sondern nurschlichte Umkehr. Gehen Sie in die andere Richtung!Dann liegen Sie richtig.
Das Wort hat nun
der Kollege Johannes Kahrs, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter KollegeBraun, ich war etwas erstaunt, als ich Ihre Rede hörte.Ich hätte nicht gedacht, dass der Vertreter einer Partei,die während der letzten 16 Jahre an der Regierung warund rein gar nichts gemacht hat,
sich jetzt erdreistet, eine Rede zu halten, als sei seinePartei zum ersten Mal im Bundestag.
Herr Braun, Sie reden vom Denken von vorgestern.Wer hat denn bitte schön vorgestern die Regierung ge-stellt?
Es ist ein wunderschöner Satz, wenn Sie ein Ende derScheinheiligkeit fordern. Herr Braun, das könnte dieÜberschrift für Ihre Rede sein: ein Ende der Scheinhei-ligkeit.
Das stört mich nun wirklich, denn inhaltlich habe ich anIhrem Antrag gar nichts auszusetzen.
Aber die Rede, die Sie hier dazu gehalten haben, war ei-ne Beleidigung Ihrer eigenen Regierungszeit. Man merktwieder einmal: Opposition verleiht Flügel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen!
Art. 2 und Art. 3 des Grundgesetzes – auch Sie solltensie kennen – garantieren jedermann die freie Entfaltungseiner Persönlichkeit und verbieten es, Menschen ihresGeschlechtes, ihrer Abstammung und ihrer Rasse wegenzu diskriminieren. Dies gilt selbstverständlich auch inder Bundeswehr.
Im Soldatengesetz steht: Der Zusammenhalt der Bundeswehr beruht im We-sentlichen auf Kameradschaft. Sie verpflichtet alle Soldaten, die Würde, die Ehre unddie Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Notund Gefahr beizustehen. Das schließt gegenseitige An-erkennung, Rücksicht und Achtung fremder Anschau-ungen ein. Das hat nichts mit Theorie, sondern mit Pra-xis zu tun, meine Herren von der F.D.P. Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen ausdem Jahre 1998 heißt es:Niemand darf wegen seiner sexuellen Orientierungdiskriminiert werden.
Dessen ungeachtet sind wir uns aber alle darüber imKlaren, dass es wie in der Gesellschaft auch in der Bun-deswehr leider noch Vorbehalte gegenüber Homosexuel-len gibt. Ihre 16-jährige Regierungspraxis hat das ja ge-zeigt. Die von CDU/CSU und F.D.P. getragene alteBundesregierung hat nichts unternommen, um dieseVorurteile zu überwinden. Im Gegenteil: Ihre Verset-zungs-, Beförderungs- und Übernahmepraxis in den Sta-tus eines Zeit- oder Berufssoldaten hat Homosexuellebenachteiligt und die bestehenden Vorurteile bestätigtund zementiert.
– Wenn Sie jetzt so laut herumbrüllen, dann zeigt daseinmal mehr, wie schuldig Sie sich fühlen.Hildebrecht Braun
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8840 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Mit uns würde es dies nämlich nicht geben. In meiner Zeit bei der Bundeswehr und den sich an-schließenden Wehrübungen als Zugführer und Kompa-niechef
habe ich gelernt, dass es Situationen gibt, in denen manmit dem Grundsatz von Befehl und Gehorsam nicht wei-terkommt. Als junger Leutnant bei der Panzergrenadier-truppe gibt man manchmal einen schneidigen Befehl,dann gibt es eine kernige Antwort und anschließendspritzt die Erde. Aber das klappt eben nicht immer;vielmehr gibt es Situationen, in denen man manchmalim Interesse der Sache und der Betroffenen –
– das kann nicht falsch sein – darauf angewiesen ist,mehr zu tun, als nur etwas zu befehlen.
Man muss diejenigen für sein Anliegen gewinnen, dieinnerhalb der Bundeswehr Führungsverantwortung aus-üben. Man muss die Menschen bei ihrem Standpunktabholen, man muss sie mitnehmen und überzeugen. Mandarf nicht nur laut brüllen. Nur so kommen wir im All-tag der Truppe zu wirklichen Veränderungen.
Genau hier, mitten in dem notwendigen und weitfortgeschrittenen Umdenkungsprozess über Homose-xualität und ihre Akzeptanz in der Bundeswehr, befindetsich die politische Leitung des Hauses mit der Füh-rungsebene des Ministeriums und der Truppe. Wer ge-nau hinhört, der kann das auch merken. Dieser Prozessist naturgemäß langwierig, er kann nur im gegenseitigenVertrauen erfolgen, muss für alle Beteiligten gesichts-wahrend sein und hat deshalb außerhalb des öffentlichenMedienspektakels stattzufinden. Ihr Trara, meine Herrenvon der F.D.P., verdeckt nur Ihr 16-jähriges Nichtstun.
Umso mehr habe ich es bedauert – auch das muss ichsagen –, dass das Verteidigungsministerium bisher beider Beantwortung der verschiedenen öffentlichen An-fragen im Kern die Meinung der ehemaligen CDU/CSU-und F.D.P.-geführten Regierung vorgetragen hat. Es warauch die Meinung Ihrer Regierung, meine Herren vonder F.D.P. Ich hätte es vorgezogen, wenn der aktuelleDiskussionsstand dargestellt worden wäre. Dies wäre einSignal in Richtung Reform gewesen und hätte auch dieDebatte in der Truppe beflügelt.
Ziel muss es sein, dass die Soldaten nur nach Eig-nung und Leistung beurteilt werden. Wer zum Beispieldie Qualifikation zum Offizier errungen hat, dem trautdie Bundeswehr körperliche, geistige, charakterliche,fachliche und moralische Eignung zu. Das gilt dannauch für alle Soldaten – ohne Ausnahme.
Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Her-kunft, Religion oder sexueller Orientierung muss auchinnerhalb der Bundeswehr erkannt, offen angesprochenund abgebaut werden.
– Von der PDS muss man sich nun wirklich nicht beleh-ren lassen. Machen Sie erst einmal ein bisschen Ge-schichtsunterricht und überlegen Sie sich, wo Sie her-kommen!
Ein Kernelement der inneren Führung ist, dass jederMensch einen Anspruch auf Toleranz, Respekt undAchtung hat.
Jeder Angehörige der Bundeswehr, der andere diskrimi-niert, hat mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen. Wirwissen aber auch, dass wir unsere angestrebten Zielenoch nicht erreicht haben. Meine Herren von der F.D.P.,das ist uns klar. Wir arbeiten aber seit anderthalb Jahrenan diesem Problem, während Sie 16 Jahre lang nichtsgemacht haben und jetzt zu geistigen Höhenflügen auf-brechen.
– Wer viel brüllt, der hat nicht immer Recht.Wir erwarten, dass im Zuge der anstehenden Ent-scheidungen noch in diesem Jahr konkrete Maßnahmenumgesetzt werden. Zum einen wollen wir von einergrundsätzlichen Ablehnung homosexueller Soldaten inder Funktion des Ausbilders und Vorgesetzten hin zu ei-ner grundsätzlichen Annahme der Eignung und zu ei-ner Einzelfallprüfung kommen. Dies würde bedeuten,dass alle anhängigen gerichtlichen Auseinandersetzun-gen im Sinne obiger Grundsatzentscheidung beendetwerden.
Zum anderen fordern wir, dass die gemäß § 3 desSoldatengesetzes und § 1 der Laufbahnverordnung be-reits bestehenden Verbote der Diskriminierung entwedermit einer verbindlichen zeitgemäßen Erläuterung verse-hen oder um das Verbot der Diskriminierung wegen dersexuellen Orientierung ergänzt werden.
Letztendlich soll dieser Umlenkungsprozess in derTruppe auf allen Ebenen im Rahmen von Grundsatzun-terrichten und Weiterbildungen gefördert werden. Dennwenn man weiterkommen will, muss man die MenschenJohannes Kahrs
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8841
mitnehmen. Dann sollte man nicht laut brüllen, sondernargumentieren und mitnehmen, meine Herren von derF.D.P.
In den anderthalb Jahren seiner Amtszeit hat unserVerteidigungsminister gezeigt,
dass er mit Sorgfalt und Augenmaß vorgehen kann. Wirwerden ihn dabei unterstützen und die soeben aufgeführ-ten Ziele umsetzen.
Der Antrag der F.D.P. wird nun an die zuständigenAusschüsse überwiesen. Ich freue mich darauf, dass wirbei diesem sensiblen Thema mit der hoffentlich sensib-leren Argumentationsweise der F.D.P. rechnen können.
Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam zu einem für alle be-friedigenden Ergebnis kommen. Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat nun
der Kollege Werner Siemann, CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehr verehrtePräsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!Die heute zu debattierende parlamentarische Initiativeder F.D.P.-Fraktion trägt den Titel „Bekämpfung jederArt von Diskriminierung in der Bundeswehr“.
Sie behandelt ein sensibles Thema. Entsprechend gilt esdamit zu verfahren. Mir geht es nicht um Trara und auchnicht um vordergründige parteipolitische Polemik.
Während der Antrag noch mit einem umfassend klin-genden Titel überschrieben ist, wird in dessen Begrün-dung nur eine Art der tatsächlichen oder vermeintlichenDiskriminierung thematisiert: die Benachteiligung auf-grund von Homosexualität. Der Begriff der Diskriminie-rung im Zusammenhang mit homosexuellen Soldatensuggeriert dabei eine gezielte, planvolle und systemati-sche Herabsetzung von Soldaten durch die Bundeswehraufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Neigungen. Davon kann meines Erachtens in Bezug auf die Bun-deswehr nicht die Rede sein. Nach höchstrichterlich be-stätigter Auffassung der CDU/CSU-Fraktion war diebisherige Verfahrensweise nicht zuletzt im Hinblick aufdie gesellschaftliche Entwicklung der Vergangenheit ge-rechtfertigt, zweckdienlich und sachgerecht.
– Warten Sie doch erst einmal ab. – Die homosexuelleVeranlagung eines Soldaten als solche zieht grundsätz-lich keine nachhaltigen Konsequenzen nach sich. Inso-fern kann nicht pauschal von Diskriminierung gespro-chen werden und ich empfinde es als unangebracht, dieszu tun. Bei Grundwehrdienstleistenden ist die Frage der se-xuellen Orientierung für die Vergabe des Tauglichkeits-grades ohnehin nicht von Relevanz. Die Situation beiSoldaten auf Zeit und Berufssoldaten unterscheidet sichjedoch insofern, als ein militärischer Vorgesetzter, dersich zu seiner Homosexualität bekennt, nach der derzei-tigen Verfahrensweise nicht in einer Verwendung ein-gesetzt wird, in der er unmittelbar mit der Aufgabe derFührung, Erziehung und Ausbildung von unterstelltenSoldaten beauftragt ist. Die Homosexualität eines Soldaten als solche stelltalso keinen Eignungsmangel dar. Dieser wird vielmehraus der Akzeptanzproblematik abgeleitet und veranlasstwiederum die Bundeswehr zum Handeln.
Somit besteht nur ein mittelbarer Zusammenhang zwi-schen der Homosexualität und einer eventuellen Verset-zung. Die Rechtsprechung des 1. Wehrsenats des Bun-desverwaltungsgerichts hat diese Auffassung im Übri-gen bestätigt. Ich gehe davon aus, dass Ihnen dieseRechtsprechung bekannt ist. Von 1982 bis 1998 haben die Unionsfraktionen diegeltende Praxis mitverantwortet. Seit dem Regierungs-wechsel wird sie von der Union mitgetragen. Die hieraufgezählten Argumente würden eine Fortführung derjetzigen Verfahrensweise ohne weiteres rechtfertigen,obwohl – daraus mache ich heute keinen Hehl – zumin-dest vorsichtige Zweifel an der Verfassungsgemäßheitder jetzt geübten Praxis angezeigt sind.
Während es aber gleichwohl gute Gründe für eine Fort-führung der geschilderten Verfahrensweise gibt, legenandere, sehr beachtliche Gründe eine Revision nahe,zumal eine Umstrukturierung und einschneidende Ver-änderungen der Bundeswehr geplant bzw. unumgänglichsind.Des Weiteren wird die Problematik auch aufgrundder umfassenden Öffnung der Bundeswehr für Frau-en neu bewertet werden müssen. Eine demokratischeGesellschaft ist insbesondere von Pluralismus und Tole-ranz geprägt. Diese Werte sollten auch in den Streitkräf-ten zum Tragen kommen und nicht am Kasernentor ihreGültigkeit verlieren,
Johannes Kahrs
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8842 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
zumal Armeen in Demokratien zum Schutze dieser Wer-te aufgerufen sind.Die derzeitige Regelung ist nach meiner persönlichenMeinung überprüfungsbedürftig, da sich die gesell-schaftlichen Gegebenheiten unzweifelhaft verändert ha-ben. Von der fortschreitenden sexuellen Liberalisie-rung der Gesellschaft bleibt nach meinen Beobachtun-gen eben auch die Bundeswehr nicht unberührt. Insofernwäre es wenig hilfreich, vor dieser Erosion der Ableh-nung von Homosexualität im Allgemeinen und von ho-mosexueller Veranlagung von Soldaten im Besonderendie Augen zu verschließen. Die gesellschaftliche Ein-stellung zur Homosexualität hat sich geändert. Dahersollte auch die jahrelang praktizierte Verfahrensweiseder Bundeswehr im Umgang mit homosexuellen Solda-ten den gesellschaftlichen Realitäten angepasst werden,da auch sie ein Spiegelbild dieser Gesellschaft sind.
Am 23. Februar dieses Jahres, also vor genau einemMo
Der Soldat bekennt sich zu seiner sexuellen Orien-tierung und wird damit als Soldat zu einem be-stimmten Problem, was das Führen und Ausbildenangeht.Diese Position ist nach meiner Auffassung für die Zu-kunft so nicht mehr haltbar. Stattdessen sollten wir dieGelegenheit, die der Antrag der F.D.P. uns bietet, nutzenund in den Ausschüssen in eine ausführliche Diskussion,in Beratungen über den Umgang mit homosexuellenSoldaten in der Bundeswehr eintreten.Die derzeitige Praxis wird zudem nach meiner Ein-schätzung den Ansprüchen des Europäischen Gerichts-hofes für Menschenrechte, des Europarates in Strassburgund des EuGH in Luxemburg nicht mehr lange standhal-ten. Fraglich ist auch, ob das höchste deutsche Gericht,das sich noch in diesem Jahr mit einem solchen Fall be-schäftigen wird, das derzeit praktizierte Verfahren nichtzuvor verwirft.Zurzeit wird schließlich vom Rat der EuropäischenUnion eine Richtlinie „Zur Festlegung eines allgemei-nen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehand-lung in Beschäftigung und Beruf“ vorbereitet. Der vor-liegende Entwurf sieht in Art. 1 unter anderem vor, dassder Rat in die Lage versetzt werden kann, geeigneteVorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen ausGründen der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. AlsBegründung wird nachhaltig angeführt, dass eine Dis-kriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung dieVerwirklichung der im Vertrag über die EuropäischeUnion festgelegten Ziele unterminieren könnte.
Nach Einschätzung des Rates liegt eine zumindest mit-telbare Diskriminierung dann vor, wenn dem Anscheinnach neutrale Vorschriften oder Verfahren unbegründeteine Person oder Personengruppe auch aufgrund der se-xuellen Ausrichtung benachteiligen können.Noch besteht für uns, für den Deutschen Bundestag,ein Handlungsspielraum, eine Regelung in Bezug aufden Umgang mit homosexuellen Soldaten in den Streit-kräften zu schaffen, die nicht im Widerspruch zu den zuerwartenden europäischen Rechtsnormen und zum gel-tenden Verfassungsrecht steht. Meine Anregung beruhtnun nicht auf populistisch vorauseilendem Gehorsam –das werden Sie mittlerweile gemerkt haben –, sondernvielmehr auf der Auffassung, dass eine verantwortungs-volle Politik zukunftsgestaltend und weitsichtig sein undeben nicht nur auf gesellschaftliche Umstände reagierensollte. Sie sollte dazu beitragen, oftmals unbegründeteVorbehalte gegenüber Minderheiten abzubauen. Derdeutsche Schriftsteller Karl Gutzow drückte dies Mittedes 19. Jahrhunderts mit den Worten aus: „Bitter ist es,heute das zu müssen, was man gestern noch wollenkonnte.“ Künftig sollte der Automatismus, der die Versetzungeines homosexuellen Soldaten mit Führungsverantwor-tung in der Truppe vorsieht, entfallen. Ich halte es fürnicht mehr zulässig, einen Eignungsmangel allein ausder allgemeinen, aber nicht spezifizierten Gefahr für Au-torität, Disziplin der Truppe und Vertrauen herzuleiten.Stattdessen sollten die allgemeinen Verwendungs-grundsätze uneingeschränkt zur Wirkung kommen. Da-nach besitzt der Soldat den Anspruch, nach Eignung,Leistung und Befähigung verwendet und befördert zuwerden. Der Homosexualität sollte keine eigenständigeBedeutung mehr beigemessen werden und nicht automa-tisch eine Eignungseinschränkung nach sich ziehen.
Wenn sich allerdings ein Vorgesetzter Verfehlungenzuschulden kommen lässt, die im Zusammenhang mitseiner Homosexualität stehen, ist er für die Truppe un-tragbar und unter Umständen aus dem Dienst zu entfer-nen.
Dies gilt für heterosexuelle Soldaten gleichermaßen undist nicht zu beanstanden. Auch bei festgestelltem Autori-tätsverlust wird es im Einzelfall zu Handlungsbedarfkommen.
– Selbstverständlich, das gilt für alle.Die jetzigen Regelungen scheinen von dem gesell-schaftlichen Entwicklungsprozess eingeholt worden zusein. Was in der Vergangenheit noch sachdienlich war,wirkt heute unzeitgemäß und korrekturbedürftig,
nicht zuletzt auch aufgrund der Bildung von multinatio-nalen Korps. So sind in den Niederlanden homosexuelleSoldaten als Vorgesetzte mit Führungsverantwortung inder Truppe eingesetzt. Nach der derzeit noch gültigenWerner Siemann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8843
deutschen ministeriellen Regelung wäre dies aus europa-rechtlicher Sicht eine Ungleichbehandlung. Auch aus vielen persönlichen Gesprächen mit derTruppe weiß ich, dass unsere jungen Soldaten mit derProblematik heute viel unbefangener umgehen, als wiruns das vielleicht vorstellen und dies aus früherer Zeitkennen. Es geht – unabhängig von der sexuellen Aus-richtung – einzig und allein darum, ob ein Vorgesetzteretwas leistet oder nicht. Daher sollten wir uns zu einerModernisierung der zurzeit noch angewendeten Verfah-rensweise entschließen, da die ministerielle Begründungeben auf diese jungen Soldaten abhebt. Nicht die be-kannt gewordene homosexuelle Veranlagung untermi-niert die Autorität und das Vertrauen in homosexuelleVorgesetzte, sondern die gesellschaftliche Bewertungdieser Veranlagung.
Hier ist der Deutsche Bundestag gefordert, an einerzeitgemäßen und zukunftsfähigen Regelung mitzu-wirken. Die Politik sollte wieder mehr vom Parlamentgestaltet werden. Es kann nicht Aufgabe des Parlamen-tes sein, Fragen von erheblicher Bedeutung vom Bun-desverfassungsgericht klären zu lassen, weil es sich sel-ber dazu außerstande sieht. Es kann auch nicht in unse-rem Interesse sein, dass die normative Urteilskraft euro-päischer Gerichtshöfe die Arbeit des Parlaments ersetzt. Bei dem heute diskutierten Thema sehe ich – zugege-benermaßen – noch Diskussionsbedarf. Vielleicht ge-lingt es aber den hier anwesenden Fraktionen, eine ein-vernehmliche Lösung auf diesem sensiblen Gebiet her-beizuführen. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt –er scheint unverdächtig zu sein – schrieb einmal:Gerade wer das Bewahrenswerte bewahren will,muss verändern, was der Erneuerung bedarf.
Ein wahrhaft konservativer Ansatz, dem ich mich an-schließe.In diesem Sinne bitte ich Sie, meine Damen und Her-ren, einer Überweisung des Antrags an die Ausschüssezuzustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Siemann, ich bin Ihnen für Ihre nachdenkliche Redewirklich dankbar; denn wir können am Ende der Debattefeststellen, dass Redner aller Fraktionen für eine Ände-rung der Praxis plädiert haben. Für diese Thematik istdas wirklich ein großer Fortschritt in der Sache. Ich binfroh, dass sich damit andeutet, dass wir bei einer Verän-derung der bisherigen Praxis keinen Kulturkampf in die-ser Frage haben werden, sondern dass die notwendigeRegelung im Deutschen Bundestag im Konsens getrof-fen werden kann.Wie ist die Situation heute? Homosexuelle dürfen beider Bundeswehr Befehle empfangen, sie dürfen aberkeine Befehle geben. Ich weiß nicht, wie man einen sol-chen Sachverhalt anders nennen sollte als schlicht undeinfach „Diskriminierung“.
Bei der Bundeswehr werden derzeit Menschen alleinwegen ihrer homosexuellen Orientierung von Führungs-aufgaben und Ausbildungstätigkeiten ausgeschlossen.Das verträgt sich meiner Auffassung nach nicht mit demfreiheitlichen Menschenbild unseres Grundgesetzes.Am 27. September 1999 hat der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte im Fall von Großbritan-nien geurteilt: Ein Ausschluss Homosexueller aus denStreitkräften ist ein Verstoß gegen die EuropäischeMenschenrechtskonvention. Damit wird das Recht aufPrivatleben verletzt. – Die britische Regierung hatte da-mals argumentiert, die Integration Homosexueller beein-trächtige die moralische und militärische Effektivität derArmee. Der Menschenrechtsgerichtshof hat darauf einebemerkenswerte Antwort gegeben. Er hat festgestellt:Solche Befürchtungen haben keinerlei empirischeGrundlage. Hier handelt es sich lediglich um die Vorur-teile Heterosexueller gegen Homosexuelle. – Ja, so istes! Herr Kollege Siemann, in einem Punkt muss ich Ih-nen widersprechen: Höchstrichterlich wurde der Bun-deswehr in der Vergangenheit in der Tat ein gewissesRecht auf Diskriminierung von Bundeswehrangehörigenzugestanden – aus sehr zweifelhaften Gründen. Aberdass diese Diskriminierung sachgerecht oder gar erfor-derlich wäre, hat kein oberstes Gericht jemals festge-stellt, es hat die Hardthöhe lediglich gewähren lassen.Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Claire Marienfeld, hat in ihrem Jahresbericht letzte Wochefestgestellt: Die gesellschaftliche Haltung gegenüber Homose-xualität hat sich in Bezug auf Männer wie auf Frau-en verändert.Sie konstatierte eine größer gewordene Toleranz undplädierte für die Zukunft für einen veränderten Umgangmit Homosexualität in der Bundeswehr. Jüngste demo-skopische Erhebungen geben ihr Recht. Die großeMehrheit der Bundesbürger hat keine Vorbehalte gegenSchwule in der Bundeswehr. 77 Prozent befürworten,dass Homosexuelle als Soldaten tätig sein dürfen,91 Prozent der Befürworter votieren auch dafür, dassHomosexuelle als Ausbilder und Vorgesetzte tätig seindürfen.Wenn nun behauptet werden sollte, dass man in derArmee anders empfände, wäre das – so empfinde ich es – eine Beleidigung für die Truppe und widersprächeWerner Siemann
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8844 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
auch meinen Erfahrungen, die ich in Gesprächen mitvielen jungen Soldaten gemacht habe. Die sind ganzAngehörige ihrer Generation und genauso aufgeklärtoder unaufgeklärt wie der Rest der Gesellschaft. In einerReihe anderer NATO-Staaten stellen schwule Offiziereund Ausbilder kein Problem dar. Selbst in einem Landwie Israel, das sehr religiös geprägt ist, ist dies eineSelbstverständlichkeit.Meine Damen und Herren, in nächster Zeit stehen ei-nige Gerichtsentscheidungen an. Schwule Bundes-wehrangehörige haben gegen ihre Diskriminierung ge-klagt. Ein Fall ist bereits beim Bundesverfassungsgerichtanhängig. Ich meine, es wäre ein Armutszeugnis, wenndie Bundesrepublik erst durch Gerichtsentscheid dazugezwungen werden müsste, die Diskriminierung vonSchwulen in der Bundeswehr zu beenden.
Das ist Aufgabe der Politik.Übrigens, eines sollte man nicht vergessen: Die Sol-daten, die derzeit auf dem Klageweg sind, wurden vonHerrn Rühe geschasst. Es wäre schön gewesen, meineDamen und Herren von der F.D.P., wenn Sie schon da-mals, als Sie noch in Regierungsverantwortung waren,einen solchen Eifer wie heute an den Tag gelegt hätten.
Aber es sei Ihnen nachgesehen: besser spät als nie!Ich fasse zusammen: Es gibt kein rationales Argu-ment, warum Schwule in der Bundeswehr von bestimm-ten Funktionen ausgegrenzt bleiben sollen. Im Gegen-teil: Das Grundgesetz gebietet aus unserer Sicht zwin-gend das Ende der Diskriminierung. Die Geltung derGrundrechte für Homosexuelle darf nicht am Kasernen-tor Halt machen.
Die bisherige Haltung des Verteidigungsministeriums istunverständlich und für uns nicht akzeptabel. Herr Scharping, es ist Zeit für einen Politikwechsel. Ichmöchte Sie fragen: Wann beenden Sie die Praxis IhresVorgängers? Die Diskriminierung Homosexueller in derBundeswehr dauert schon viel zu lange; sie muss in die-ser Wahlperiode ein Ende finden. Dafür stehen wirBündnisgrüne, dafür setzen wir uns in der Koalition ein.Ich bin optimistisch, dass wir bald zu einer Lösungkommen werden.
Das Wort hatjetzt Herr Bundesminister Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Sie wissen, dass bisher aus der gleichge-schlechtlichen Orientierung von Angehörigen derBundeswehr Schlussfolgerungen hinsichtlich ihrer Eig-nung und Befähigung auf den Gebieten der Ausbildungund der Führung gezogen worden sind. Richtig wäre es,allenfalls aus dem Umgang mit einer sexuellen Orientie-rung – sei sie heterosexuell, sei sie homosexuell – eineSchlussfolgerung zu ziehen, nicht aber aus der Orien-tierung selbst.
Es ist richtig, dass die bisherige Praxis in der Bun-deswehr von höchsten Gerichten gebilligt worden ist.Um es in aller Ruhe und ohne jede Ablenkung zu sagen:Der Fall, der in Sachen Großbritannien entschieden wor-den ist, ist ein anderer und könnte nicht automatisch aufdie Bundesrepublik Deutschland übertragen werden. Nebenbei bemerkt: Angesichts mancher Kritik ausden Reihen der CDU/CSU am Urteil des EuropäischenGerichtshofes, den Zugang von Frauen zum Beruf desSoldaten betreffend, hat es mich trotz des Ernstes derSache leicht amüsiert, dass jetzt Vertreter derselbenFraktion mit noch nicht verabschiedeten Richtlinien derEuropäischen Union und möglichen Urteilen des Euro-päischen Gerichtshofes argumentieren – nun aber an-dersherum.
Aber das nur nebenbei.Ich will im Übrigen den Deutschen Bundestag daraufaufmerksam machen, dass es in meiner Amtszeit – ichsage ausdrücklich: in meiner Amtszeit – keinen einzigenFall mehr gegeben hat, in dem aus der sexuellen Orien-tierung eines Soldaten automatisch Schlussfolgerungengezogen worden wären.
Die Fälle, an denen sich die öffentliche Debatte entzün-det hat, sind in der Zeit meines Amtsvorgängers entstan-den.
Vor diesem Hintergrund will ich auch noch eine Ne-benbemerkung in Richtung F.D.P. machen. Ich kann Ih-re Ungeduld bei der Regelung des Problems gut verste-hen, vor allen Dingen, weil Sie dem bisherigen Zustandüber Jahre hinweg entweder schweigend oder unterstüt-zend zugeschaut haben.
Jedenfalls haben Sie, lieber Herr Kollege Braun, hier ei-ne in der Wortwahl sehr übertriebene Rede gehalten, dienicht bemänteln kann, dass Sie in den Jahren zuvor zueinem solchen Antrag, wie er jetzt im DeutschenVolker Beck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8845
Bundestag vorliegt nicht fähig waren. Das ist einfacheine Tatsache.
Vor diesem Hintergrund will ich noch hinzufügen,dass Sie mit Ihrem Antrag in einer gewissen Hinsicht –ich sage ausdrücklich: in einer gewissen Hinsicht – beimir völlig offene Türen einrennen.
Erstens bin ich – das wissen Sie ganz genau – mit dermilitärischen Führung über diese Fragen seit langer Zeitim Gespräch.
Es ist aber auch ein Gebot kluger Führung, eine fürrichtig gehaltene Auffassung auf vernünftige Weise er-träglich, verträglich und verständlich zu machen, undzwar innerhalb der Truppe gegenüber den Untergebenenund auch – was man insbesondere bei Ausbildung undFührung unter den Bedingungen von Befehl und Gehor-sam angesichts mancher in meinen Augen überholterVorurteile oder Vorbehalte nicht vergessen darf – ge-genüber den Eltern von Wehrpflichtigen. Man darf dasnicht einfach so dekretieren. Man muss Toleranz ver-stehbar, erwerbbar und in diesem Sinne erlernbar ma-chen.
Zweitens habe ich – ich nenne das bewusst zumSchluss; Sie in der Öffentlichkeit und im Parlament ver-stehen das bitte nicht falsch – aus genau diesen Überle-gungen heraus nicht nur mit der militärischen Führunggesprochen, sondern auch abgewartet, was der Wehr-senat des Bundesverwaltungsgerichtes in dem konkretanstehenden Fall entscheiden würde, und danach – übri-gens schon vor Wochen – das Bundesverfassungsgerichtgebeten, die Frist für die Stellungnahme der Bundesre-gierung zu verlängern und mir damit die Möglichkeit zugeben, eine streitfreie Beilegung des konkreten Falls zuversuchen.
Ich bin sicher, ich werde das erreichen.Schließlich will ich Ihnen sagen, welche Konsequen-zen ich dann zu ziehen gedenke.
Herr Bundes-
minister, ich muss Sie fragen: Gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Abgeordneten Nolting?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Bitte.
Herr Minister,
stimmen Sie mir zu, dass es besser wäre, hier im Deut-
schen Bundestag eine politische Entscheidung zu tref-
fen,
und zwar jetzt?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Sie sind etwas ungeduldig.
– Stimmen Sie
mir weiter zu, dass wir uns nicht immer von Gerichten
treiben lassen sollten, wie es zum Beispiel auch bei dem
EuGH-Urteil, was Frauen anbelangt, der Fall gewesen
ist?
– Doch, ich habe sehr gut zugehört.
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Aus der Sicht des Fragestellers sind Fragen immer
sehr gut.
– Eben! Allerdings hätte sich die Frage erübrigt, wenn
Sie noch zwei Minuten Geduld gehabt hätten.
– Danke. Ich lege in dem Fall gar keinen Wert darauf.
Aber ich bittedoch, dass Sie auf Ihre Redezeit achten.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Ich wollte Ihnen gerade erläutern, was ich überdie – hoffentlich gelingende – streitfreie Beilegung deskonkreten Falls hinaus noch zu tun gedenke. Ich beab-sichtige, danach einen Verhaltenskodex zu erlassen, derjeden Automatismus aufgrund der bloßen Tatsache einersexuellen Orientierung ausschließt, der jede Form vonDiskriminierung wegen einer sexuellen Orientierungsanktioniert. Dies soll dann übrigens auch für jede Formder sexuellen Belästigung gelten.
Wir müssen damit aufhören, aus der bloßen Tatsacheeiner sexuellen Orientierung Schlussfolgerungen zu zie-hen. Ich sage noch einmal: Ob ein Mann eine Frau, einMann mit gleichgeschlechtlicher Orientierung einenBundesminister Rudolf Scharping
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8846 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
anderen Mann oder eine Frau mit einer solchen Orientie-rung eine andere Frau belästigt – es ist immer dasselbezu missbilligende Verhalten, aus dem dann im konkretenFall auch Schlussfolgerungen hinsichtlich Eignung undBefähigung gezogen werden können, im Zweifel auchgezogen werden müssen.Ich sehe den Antrag der F.D.P. und den Willen desParlaments – so haben sich die meisten hier geäußert –,diesen Antrag an den Verteidigungsausschuss zu über-weisen als eine gute Gelegenheit an, über diese Fragenin Ruhe miteinander zu reden und nicht zu versuchen,die Dinge auf der Grundlage einer irgendwie geartetenAufgeregtheit zu lösen. Vielmehr sollten wir, wie ich esversuche – ich hoffe, es gelingt mir auch –, umfassend,gründlich überlegt, ruhig und dann auch konsequent ent-scheiden, und zwar so, dass möglichst viele in denStreitkräften mitgehen können und sich niemand davonuntergebuttert oder düpiert fühlen müsste. Auch das hal-te ich für innere Führung und für einen Teil kluger poli-tischer Fürsorge.
Das Wort hat
die Abgeordnete Christina Schenk.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der Grund für die heutige Debatteist ein handfester Skandal. Noch immer werden in derBundeswehr Führungskräfte und Ausbilder von ihrerFunktion entbunden bzw. als Berufssoldaten nicht über-nommen, wenn bekannt wird, dass sie homosexuell sind.
Herr Bundesminister Scharping, Ihr Hinweis, dass dieseFälle nicht in Ihre Amtszeit fallen, hilft insofern nichtweiter, als das Fortbestehen dieses unerträglichen Zu-standes sehr wohl in Ihrer Verantwortung liegt.
Ich habe im vergangenen Jahr, genauer gesagt: An-fang Juni 1999, die Bundesregierung nach einer Be-gründung für diese Diskriminierung gefragt. Bundes-minister Scharping ließ fabulieren – im Übrigen brauch-te er für die Antwort statt der üblichen einen Woche fünfWochen Zeit –, Homosexualität begründe erheblicheZweifel an der Eignung und schließe eine Verwendungin Funktionen aus,
die mit Führung, Erziehung und Ausbildung von Solda-ten zu tun hätten.
Begründet wurde das selbstverständlich nicht, son-dern es wurden Mutmaßungen und Spekulationen übereventuelle Autoritätsprobleme angeführt, die entstehenkönnten. Im Übrigen war das in keinem der durch diePresse öffentlich gewordenen Fälle so. In keinem derFälle gab es Autoritätsprobleme. Das ist völlig aus derLuft gegriffen.
– Herr Kahrs, stellen Sie eine Frage, wenn Sie mit mirreden wollen.Tatsachen, die das Vorkommen solcher Autoritäts-probleme nahe legen, gibt es selbstverständlich nicht.Seriöse Studien gibt es ebenfalls nicht. Das heißt, es gibt de facto ein Berufsverbot für Ho-mosexuelle, obwohl in der Koalitionsvereinbarung derrot-grünen Bundesregierung – das will ich in Erinnerungrufen – das Versprechen enthalten ist, dafür einzutreten,dass niemand wegen seiner sexuellen Orientierung dis-kriminiert werden darf. Tatsächlich aber legitimiert dieBundesregierung die Diskriminierung und schürt damitVorurteile gegen Homosexuelle. Die streitfreie Beile-gung von Fällen, wie es hier angekündigt worden ist,mag ja für die Betroffenen gut und schön sein. Aber dasist keine generelle und auch keine politische Lösung. Siesind, Herr Bundesminister, nicht gehindert, bereits jetztden Verhaltenskodex einzuführen, von dem Sie gespro-chen haben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatEnde 1999 ganz eindeutig gesagt, dass ein Tätigkeits-verbot für Homosexuelle in der Armee eine Men-schenrechtsverletzung ist und gegen das Grundrechtauf Privatleben verstößt. Er hat mit derselben KlarheitAuffassungen zurückgewiesen, dass die Anwesenheitvon Homosexuellen in der Armee deren Qualität – wasauch immer man darunter versteht – vermindern würde.Die Straßburger Richter haben auch sehr klar gemacht,wie mit etwaigen Problemen, die die Präsenz von Ho-mosexuellen in der Armee aufwerfen könnte, umzuge-hen sei: Es sei eben nicht mit Ausgrenzung darauf zu re-agieren, sondern mit einem Verhaltenskodex und mitstrikten disziplinarischen Vorschriften bei Zuwiderhand-lung. Vielleicht helfen ja auch Trainingskurse weiter.Man kann sich darüber bei der niederländischen Armeeerkundigen. Dort gibt es solche Trainingsprogrammezum Umgang mit Minderheiten. Einmal mehr bestätigt sich also, dass die Bundesre-gierung in der Europäischen Union zu den Schlusslich-tern in Bezug auf die Rechte von Lesben und Schwulengehört. Es sieht bislang leider so aus, als ob sich auchunter einer rot-grünen Bundesregierung daran nichts än-dern wird.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8847
Jetzt möchte
der Abgeordnete Rudolf Scharping eine Kurzinterventi-
on machen. Bitte.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich wollte die Kollegin Schenk darauf aufmerksam ma-
chen, dass ich als Bundesminister der Verteidigung
durch den Amtseid verpflichtet bin, Gesetz und Recht-
sprechung exakt so lange zu beachten, wie sie oder ihre
Grundlagen sich nicht geändert haben. Im Übrigen woll-
te ich die Kollegen von der F.D.P. darauf aufmerksam
machen – –
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Ich habe Ihnen
doch gerade angekündigt, das tun zu wollen. Sie haben
dann gefragt: ab wann? Diese Frage wollte ich Ihnen mit
dem Hinweis beantworten: wenn irgend möglich, vor
den Sommerferien. Bis dahin wird es keine automati-
schen Schlussfolgerungen geben.
Danke schön.
Möchten Sie antworten? – Bitte.
Herr Bundesminister
Scharping, ich möchte nicht nur Sie, sondern auch das
Auditorium darauf hinweisen, dass ich in meinen
schriftlichen Fragen vom Juni vergangenen Jahres nicht
nach geltendem Recht und nach der Rechtsprechung ge-
fragt habe, sondern nach der Auffassung des Bundesver-
teidigungsministeriums zu den vorgekommenen Diskri-
minierungsfällen. Insofern führt Ihr Hinweis hier nicht
weiter.
Dann kann ichjetzt die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunktschließen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/1870 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und derFraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz-buches – Graffiti-Bekämpfungsgesetz – – Drucksache 14/546 –
Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Dr.Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zum verbesserten Schutz desEigentums – Drucksache 14/569 –
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsän-derungsgesetzes – Graffiti-Bekämpfungsge-setz –
– Drucksache 14/872 –
Beschlussempfehlung und Bericht desRechtsausschusses – Drucksache14/2941 – Berichterstattung: Abgeordnete Hermann Bachmaier Dr. Wolfgang Götzer Jörg van EssenChristina Schenk
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8848 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer.
Frau Präsiden-tin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! DerRespekt vor fremdem Eigentum gehört zu den Funda-menten unseres Staates. Der Schutz des Eigentums istein Eckpfeiler unserer Rechtsordnung. Der heutige Tagallerdings ist ein schwarzer Tag für den Eigentums-schutz.
Mit ihrer Mehrheit will die rot-grüne Koalition heuteverhindern, dass effektiv gegen den Spraydosen-Vandalismus vorgegangen werden kann.
Die heute zur Abstimmung stehenden Initiativen derCDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion sowie desBundesrates haben alle dasselbe Ziel, nämlich eineStrafbarkeitslücke zu schließen
und damit den strafrechtlichen Schutz vor Graffiti-schmierereien zu verbessern. Pikanterweise fand die Bundesratsinitiative, die aufeinen Antrag Bayerns zurückgeht, im Rechtsausschussdes Bundesrates eine überwältigende Mehrheit. Auchdie meisten SPD-regierten Länder stimmten zu –
mit zwei Ausnahmen. Das damals noch rot-grün regierteHessen und Nordrhein-Westfalen waren dagegen. Dassim Übrigen gerade aus Berlin der Wunsch nach effekti-verem Vorgehen gegen das Sprayerunwesen kommt, istmehr als verständlich, denn mindestens 40 Millio-nen DM Schaden entstehen allein hier in der deutschen Hauptstadt jährlich durch Graffiti-schmierereien. Wer mit offenen Augen durch dieseStadt geht, kann sich selbst ein Bild vom Ausmaß derBeschädigungen machen.
Bundesweit liegen die jährlichen Schäden nachSchätzung des Zentralverbands der Deutschen Haus-,Wohnungs- und Grundeigentümer allein bei den Haus-eigentümern im dreistelligen Millionenbereich. Die An-zahl der Tatverdächtigen belief sich allein in Berlin imJahr 1998 auf über 1 500 .
– Wir reden also hier, Herr Kollege Ströbele, nicht vonBagatellkriminalität. Wir reden auch nicht von Kunstund künstlerischer Freiheit.
Es geht vielmehr um den Schutz des Eigentums. Die-ser beinhaltet, dass niemandem eine rechtswidrige Ver-änderung seiner Sache aufgezwungen werden darf, auchnicht eine so genannte Verschönerung. Denn auf ästheti-sche Gesichtspunkte kommt es hierbei überhaupt nichtan.Mit den derzeitigen strafrechtlichen Mitteln kann denGraffitischmierereien nicht wirksam genug entgegenge-wirkt werden.
Denn nach der Rechtsprechung des BGH ist der Tat-stand der Sachbeschädigung nur gegeben, wenn eineSubstanzverletzung vorliegt. Es muss also in jedem Ein-zelfall mit hohem Ermittlungsaufwand
und teuren Gutachten festgestellt werden, dass durch dieSchmiererei oder deren Entfernung die Sache selbst be-schädigt worden ist.
Nicht ausreichend ist nach der Rechtsprechung, dass derInstandsetzungsaufwand erheblich ist. – Herr KollegeStröbele, ich weiß nicht, was Sie unter rechtsstaatlichenGesichtspunkten zu der Debatte beitragen können. Abervielleicht wollen Sie ein paar Anekdoten aus Ihrer Ju-gendzeit zum Besten geben, in der Sie möglicherweiseein aktiver Sprayer waren.
Ich weiß nicht, ob das zur Bereicherung beiträgt.
– Einige outen sich hier jetzt offensichtlich. Das ist sehrinteressant.
Nur, meine Damen und Herren, leider können die be-troffenen Hauseigentümer über die Verunstaltung ihrerHauswände nicht lachen.Weil die Rechtslage so ist, sieht unser Gesetzentwurfvor, die §§ 303 und 304 StGB jeweils um das Merkmaldes Verunstaltens zu ergänzen.Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8849
Dieses Merkmal des Verunstaltens erfasst Veränderun-gen des äußeren Erscheinungsbildes der Sache. Dieses Vorhaben wurde übrigens bei der Anhörungdes Rechtsausschusses im Herbst vergangenen Jahresvon der deutlichen Mehrheit der Sachverständigen be-grüsst.
Aufschlussreich war übrigens der Hinweis einesSachverständigen, dass die Sprayerszene geradezu damitprahle, dass strafrechtlich de facto keine Verfolgung zuerwarten sei.
Ein anderer Sachverständiger legte überzeugend dar,dass die Gerichte in Österreich, wo das Verunstalten imRahmen der Sachbeschädigung schon lange strafbar ist,
mit der Definition und der Anwendung des Begriffes„Verunstalten“ keine Probleme haben. Das kümmert dierot-grüne Koalition freilich wenig.
Sie setzt sich, wie so oft, über den Sachverstand hinweg
und stimmt, wie im Rechtsausschuss geschehen, mit ih-rer Mehrheit sinnvolle Vorschläge nieder. Leider ist esso, Herr Kollege Bachmaier. Das ist die traurige Wahr-heit. Wen sollte es wundern, dass bei diesem Thema, vorallem bei manchem Grünen, auch immer eine gehörigePortion Ideologie im Spiel ist, sodass mancher, der viel-leicht in der 68-er Kampfzeit selbst Parolen an dieHauswände gesprüht hat oder sonst mit dem Rechtsstaatin Konflikt gekommen ist,
Kollege Ströbele, auch heute wenig Bereitschaft zeigt,
das Eigentum zu schützen?
Wer aber verhindert, dass gegen den Spraydosen-vandalismus wirksam vorgegangen werden kann, derleistet der Rechtlosigkeit Vorschub. Dies wird in derSprayerszene wie ein Signal verstanden werden, prak-tisch unbehelligt wie bisher weitermachen zu können,und wird jegliches Unrechtsbewusstsein dieser Täter be-seitigen.
– Herr Ströbele, Sie haben noch nie ein Unrechtsbe-wusstsein gehabt. Das ist mir klar.Bei den rechtstreuen Bürgern führt Ihre Verweige-rungshaltung, meine Damen und Herren von der Regie-rungskoalition, dazu, dass das Vertrauen in den Rechts-staat schwindet.
Deshalb appelliere ich an die Regierungskoalition,einen Beitrag zum besseren Schutz des Eigentums zuleisten, rechtsstaatlich Flagge zu zeigen und sich denErkenntnissen aus der Anhörung nicht zu verschließen.Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu und Sie tun et-was für den Rechtsstaat.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Herr Götzer, es ist schon in-teressant, wo Sie plötzlich den Rechtsstaat entdeckenund an welchen Stellen Sie einen relativ großen Bogendarum machen.
Bei der heutigen abschließenden Beratung der demBundestag vorliegenden Gesetzentwürfe geht es nichtum die Frage, ob und wie stark wir entschlossen sind,den Auswüchsen der Graffitisprühereien Einhalt zu ge-bieten.
Es geht ausschließlich um die Frage, ob eine Ergän-zung der Sachbeschädigungsvorschriften des Strafge-setzbuches ein geeignetes Mittel ist, mit dem das Be-schmieren von Hauswänden, Fassaden, Eisenbahn- undStraßenbahnwaggons und anderer privater und öffentli-cher Flächen eingedämmt werden kann. Darum geht esund um sonst nichts.Immer dann nämlich, wenn wir ein öffentliches Är-gernis zu beklagen haben und niemand so recht weiß,auf welchem Wege derartige Provokationen eingegrenztwerden können, hat es sich bei uns eingebürgert, nacheiner Verschärfung der Strafnormen zu rufen, ungeach-tet der Frage, ob wir dadurch Abhilfe schaffen könnenoder nicht.Dr. Wolfgang Götzer
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8850 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
– Herr Geis, beruhigen Sie sich. Ich habe nachher nochein schönes Zitat für Sie.
Es wird dann in aller Regel gar nicht weiter gefragt,ob die bisherigen Strafvorschriften eine geeignete undhinreichende Antwort auf die Herausforderungen gebenoder nicht. Im vorliegenden Fall wäre außerdem zu fra-gen, ob eine Verschärfung und Ergänzung des § 303 desStrafgesetzbuches letztlich zu einem Rückgang der un-erwünschten Graffitisprühereien führen kann.
– Das Strafrecht ist nicht zum Probieren da, Herr Geis.
Dabei wird immer suggeriert, dass die bisherige, klarkonturierte Fassung des § 303 des Strafgesetzbuches imAnwendungsbereich von Graffitischmierereien einstumpfes Schwert sei. So suggerieren Sie es.
Das Gegenteil ist richtig. Die vom Rechtsausschussdurchgeführte Sachverständigenanhörung hat ergeben,dass auch im Lichte der sich herausbildenden oberge-richtlichen Rechtsprechung Graffitisprühereien in allerRegel zu einer Substanzverletzung der betroffenen Häu-serwände oder Flächen führen
und damit als Sachbeschädigung schon heute im Sinneder geltenden Fassung des § 303 StGB anzusehen sind.
Bei den relativ wenigen verbleibenden und nichtdurch die geltende Fassung des Strafgesetzbuches er-fassten Fällen handelt es sich häufig um leicht und fol-genlos beseitigbare bzw. abwaschbare Farbaufträge, dieschon wegen ihrer praktisch nicht vorhandenen weiterenFolgen kaum als strafrechtlich relevante Sachbeschädi-gung anzusehen sind.
So ist die sich herausbildende obergerichtliche Recht-sprechung.
Praktisch alle einen oft erheblichen Schaden hervor-rufenden Graffiti-Sprühereien, die die Öffentlichkeit zuRecht verärgern, sind schon heute durch den Sachbe-schädigungstatbestand des Strafgesetzbuches erfasst.
Der Straftatbestand ist also völlig ausreichend.
Auch ist es nicht so, dass die Strafverfolger demTreiben tatenlos zusehen würden. Das Gegenteil ist derFall. In der Sachverständigenanhörung wurde uns überdie Arbeit der „Gemeinsamen Einsatzgruppe Graffiti“ inBerlin berichtet. Jetzt hören Sie einmal genau zu. 1999wurden dort im Zusammenhang mit Graffiti 7 500 Straf-taten – das ist zugegebenermaßen viel – festgestellt
und circa 1 500 verdächtige Personen ermittelt. Dasspricht für eine beachtliche Aufklärungsquote. Auch über die Arbeit der in Karlsruhe tätigen Ar-beitsgruppe Graffiti wurde uns berichtet, die sehr inte-ressante Ansätze verfolgt, sowohl repressiv als auchpräventiv. Manchmal müssen Sie eben mehr an das Ver-hüten von Vergehen als an die Strafverfolgung denken.Verhüten ist immer besser, als dem Verbrechen hinter-herzulaufen.
Zum repressiven Bereich: In 75 Prozent aller Fälle vonangezeigter Sachbeschädigung werden die Straftäter er-mittelt. Das ist eine erstaunlich gute Bilanz. Das Gegen-teil will man uns immer weismachen. Noch etwas: Falls wirklich in einigen wenigen Ein-zelfällen der Sprayer straflos davonkommt, weil keineSubstanzverletzung vorliegt, so bleibt er zivilrechtlichselbstverständlich haftbar. Auch das sollten Sie der Öf-fentlichkeit nicht vorenthalten.
Allein von dieser zivilrechtlichen Haftung hat der Ge-schädigte etwas. Von der Bestrafung hat er nämlichherzlich wenig.
Ich halte also fest: Die derzeitige Fassung des § 303des Strafgesetzbuches ist ausreichend und angemessen. Was würde also eine Erweiterung des Straftatbe-standes der Sachbeschädigung bringen? Auch darübersollte man sich Gedanken machen. Vor allem würde eine Erweiterung des Sachbeschädigungstatbestan-des – darauf hat insbesondere ein renommierter Strafver-teidiger in der Anhörung des Rechtsausschusses hinge-wiesen – um den Begriff der Verunstaltung zu oftschwierigen Auseinandersetzungen bei den StrafrichternHermann Bachmaier
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8851
unserer Amtsgerichte und bei den Rechtsmittelinstanzenführen. Es kann unschwer vorhergesehen werden – HerrGeis, das wissen Sie auch –, dass man sich bei Gerichtmit kontroversen Sachverständigengutachten darüberstreiten müsste, ob im Einzelfall das sehr schillernde undauslegungsbedürftige Tatbestandsmerkmal der Ver-unstaltung gegeben ist oder nicht.
– Hören Sie genau zu! Jetzt kommt gleich ein schönesZitat von Ihnen. – Noch Mitte der 80er-Jahre, als wiruns mit einem ähnlichen Vorstoß der damaligen Koaliti-on im Ordnungswidrigkeitenrecht befasst haben
– ich weiß, das gefällt Ihnen nicht –, haben Sie sich,meine Damen und Herren von der CDU/CSU, selbst da-von überzeugen lassen, dass der Begriff der Ver-unstaltung erhebliche und kaum zu lösende Auslegungs-probleme schon im Bußgeldrecht mit sich bringen wür-de. Im abschließenden Bericht des damaligen Rechts-ausschusses heißt es: Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. ließensich bei ihrer Entscheidung … von den Bedenkenleiten, dass der Begriff des ‚sonstigen Verunstal-tens‘ nicht eindeutig auszulegen sei. Vor allem aberhält man die zivilrechtlichen Ansprüche des durcheine Verunstaltung Betroffenen und das Satzungs-gebungsrecht der Kommunen für ausreichend,– so war Ihre Position Mitte der 80er-Jahre –
um diejenigen Verunstaltungen zu bekämpfen, dienicht mehr unter die Tatbestandsvoraussetzungeneiner Sachbeschädigung fallen. Wenn Sie damals schon – mit Recht – Bedenken gegeneinen derart schillernden und unkonturierten Begriff wieden der Verunstaltung im Bußgeldrecht hatten, danngilt dies doch erst recht für das Strafrecht, das die Auf-gabe hat, kriminelles Fehlverhalten klar und deutlich imStraftatbestand festzulegen.
– Es gefällt Ihnen nicht; darum versuchen Sie, mich zuüberschreien. Aber das nützt Ihnen nichts.Wir sollten – sehr geehrter Herr Geis, darauf habe ichbereits in der ersten Lesung hingewiesen – ein gemein-sames Interesse daran haben, das Strafgesetzbuch nichtimmer weiter mit unbestimmten Rechtsbegriffen zu überladen, die unabsehbare Auslegungsprobleme mitsich bringen und in hohem Maße Rechtsunsicherheit zurFolge haben.
Herr Kollege
Bachmaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Geis?
Ich bin zwar gerade
am Ende, aber bitte, wenn Sie meinen.
Ich stoppe
auch die Zeit.
Gut.
Herr Kollege Bachmaier,
Sie wissen so gut wie ich, dass der Begriff „Verunstal-
ten“ bereits jetzt in einer anderen Norm des Strafgesetz-
buchs enthalten ist. Sie wissen auch, dass der Begriff
„Verunstalten“ im österreichischen Strafgesetzbuch ent-
halten ist, gerade bezogen auf Graffiti, und dass dies,
wie uns der Sachverständige, der übrigens von Ihrer Par-
tei benannt worden ist und der aus Österreich kommt,
bei der Anhörung sagte, ausgezeichnet funktioniert und
dieser Begriff keine Probleme bei der Rechtsprechung
macht. Was sagen Sie dazu?
Herr Geis, wenn ichdas richtig sehe, bewegen wir uns im Rahmen des deut-schen Strafgesetzbuches
und haben darüber zu entscheiden, welche Auslegungs-probleme sich bei uns ergeben.Der von Ihnen herangezogene Straftatbestand derUrkundenverunstaltung hat einen völlig anderen Hin-tergrund. Dort geht es darum, dass Urkunden unbrauch-bar und nicht mehr zu ihrem Zweck benutzbar sind. Dasist ein völlig anderer Rahmen und es ist eine Irreführungder Öffentlichkeit, wenn Sie diesen Vergleich hier he-ranziehen.
– Herr Geis, Sie sind ein viel zu guter Jurist, als dass Sienicht wüssten, dass Sie hier Irreführendes vorbringen.
Ich bleibe dabei: Das Strafrecht ist kein Allheilmittelzur Bewältigung von Problemen, bei denen es keineschnell wirksamen und ins Auge springenden Lösungengibt. Unser Bedarf an lediglich symbolischem Strafrechtist gedeckt. Wir sollten bei der Tradition bleiben, dasStrafrecht nur für die Fälle zu nehmen, in denen es un-ausweichlich und vorhersehbar zu strafbarem Verhaltenkommt. Im Übrigen ist die Rechtsprechung bei diesenProblemen auf einem guten Wege. Hier gilt es, Verhin-derungsstrategien zu entwickeln und nicht ständig nachHermann Bachmaier
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8852 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
weiteren Scheinlösungen zu rufen, die uns nicht weiter-helfen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
– Lieber Herr Kollege Tauss, ich habe jetzt dem Kolle-
gen Funke das Wort gegeben, dabei bleibt es auch.
Nein, ich höre Ihnen zu,weil ich Sie nicht gerne unterbrechen möchte. Ich bin,wie Sie wissen, ein höflicher Mensch. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ehrlichgesagt verstehe ich die ganze Aufregung nicht. Das istein schönes populistisches Thema. Es ist aber unstreitig,dass das Besprühen von privaten Gebäuden, öffentlichenGebäuden, Anlagen, Eisenbahnzügen und vielem ande-ren im Grunde genommen zu einer Plage geworden ist,und dies nicht nur aus ästhetischen Gründen. Die Besei-tigung dieser Schmierereien verursacht der öffentlichenHand und damit auch dem Steuerzahler riesige Kosten. Dennoch werden die Abgeordneten der Regierungs-koalition – das ist voraussehbar – gegen den Gesetzent-wurf meiner Fraktion, und zwar wider besseres Wissenund wider die eigene Überzeugung, stimmen.
– Ja, das geschieht wider die eigene Überzeugung. Dasweiß ich sehr wohl. Denn Sie haben ja im Bundesrat
zum großen Teil unseren Gesetzentwürfen zugestimmt.
Das Schlimme ist: Sie zeigen überhaupt keine Alter-native auf. Sie haben, Herr Bachmaier, soeben zu Rechtdarauf hingewiesen, dass weder im präventiven noch imrepressiven Bereich etwas geschehen ist. Sie meinen, eswäre besser, etwas im präventiven Bereich zu tun. AberSie haben überhaupt nicht aufgezeigt, wie im präventi-ven Bereich diesen Schmierereien begegnet werdenkann. Wir sehen, dass diese Schmierereien in der Öf-fentlichkeit weiter zunehmen. Dabei beinhaltet der Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion, in dem das Verunstalten durch Graffitisprühenunter Strafe gestellt wird, lediglich eine Klarstellungzum Begriff der Sachbeschädigung. Sie haben zu Rechtauf die Rechtsprechung hingewiesen. In Einzelfällenwird durchaus von einigen Gerichten – sie sind etwa inder knappen Mehrheit – dieses Besprühen strafrechtlichgeahndet.
Aber wir müssen eine Klarstellung für die Gerichtevornehmen, die dieser Rechtsauffassung bislang nichtgefolgt sind.
Aus diesem Grunde haben wir dieses Wort „verun-stalten“ in § 303 StGB aufgenommen. Ich halte das auchfür richtig. Sie haben zu Recht auf § 134 StGB hinge-wiesen. Von § 134 StGB sind natürlich auch Urkundenbetroffen, aber auch Veröffentlichungen der öffentlichenHand. Wenn zum Beispiel Litfasssäulen besprüht wür-den, wäre das eine Straftat nach § 134 StGB. Somit er-fasst § 134 StGB nicht nur Urkunden. Auch in diesemFall hat die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf, dassöffentliche Bekanntmachungen nicht besprüht werden.
Dies ist durchaus mit den Tatbeständen vergleichbar,die von § 303 StGB betroffen sind. Auch die Länder ha-ben im Bundesrat diesen Begriff gewählt und im Übri-gen Herrn Bürgermeister Diepgen
damit beauftragt – insoweit ist es schade, dass er heutenicht da ist –, mit dem Bundestag darüber zu verhan-deln. Offensichtlich ist Herr Bürgermeister Diepgen, derauch Justizsenator ist, dieser Aufgabe nicht ganz gerechtgeworden.
Die sozialdemokratischen Rechtspolitiker weisen all-gemein darauf hin, dass gesellschaftswidriges Verhaltenauch durch strafrechtliche Bestimmungen und Sanktio-nen begleitet werden müsse. Sie sprechen insoweit voneiner erzieherischen Wirkung des Strafrechts auf dieGesellschaft. Das habe ich schon allzu häufig von Ihnengehört. Aber gerade dort, wo der Gesellschaft tagtäglichdurch die Schmierereien an Häusern, Wänden und öf-fentlichen Einrichtungen die Missachtung des Eigen-tums vor Augen geführt und deutlich gemacht wird, dassSachbeschädigungen ungeahndet bleiben können,Hermann Bachmaier
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8853
verweigert sich die SPD dieser edukativen Regelung, dieausdrücklich nur eine Klarstellung und Verdeutlichungder Rechtsprechung darstellt.
Denn durch eine einheitliche Rechtsprechung kann dererzieherische Charakter auch und gerade gegenüber Ju-gendlichen verdeutlicht werden.Wir dürfen als Parlament nicht tatenlos zusehen, wiedurch die Schmierereien tagtäglich gegen Recht und Ge-setz verstoßen wird. Unterschätzen Sie nicht, welcheWirkung eine Untätigkeit des Parlaments auf die betrof-fenen Eigentümer,
aber auch auf die Mehrheit der Gesellschaft hat, die die-se Schmierereien so langsam leid ist. Vielen Dank.
Herr Kollege
Funke, gestatten Sie noch eine Nachfrage des Kollegen
Tauss?
Ja, natürlich.
Nachdem Sie, Herr Kollege, er-
neut den Eindruck erweckt haben, als ob Schmierereien
heute überhaupt nicht strafbewehrt seien, frage ich Sie:
Wie erklären Sie beispielsweise mir als – im Gegensatz
zu Ihnen – Laien, dass in der Stadt, in der ich wohne,
vor einiger Zeit ein Polizeiwagen vorfuhr, drei Polizis-
ten herausstürmten, eine Wohnung durchsuchten und bei
der Gelegenheit die Hobbywerkstatt des Vaters be-
schlagnahmten, weil der Sohn im Verdacht stand, ein
Sprayer zu sein? Auf welcher Rechtsgrundlage erfolgen
solche Polizeieinsätze, wenn – wie Sie das hier vorgau-
keln – es dafür überhaupt keine gesetzliche Grundlage
gibt? Ich bin nachgerade empört.
Verehrter Herr Kollege
Tauss, Ihre Empörung können Sie sich sparen, Sie hät-
ten einfach nur zuhören sollen.
Ich habe ausdrücklich gesagt, dass es nach meiner Auf-
fassung auch heute schon ein strafbewehrter Tatbestand
ist.
Aber nicht alle Gerichte fassen dies unter den strafbe-
wehrten Tatbestand des § 303 StGB so wie ich mir das
vorstelle.
Es gibt vielmehr eine Reihe von Gerichten, die sagen:
Eine Sachbeschädigung liegt nur dann vor, wenn in die
Substanz eines Gebäudes eingegriffen wird. Sie wissen,
wie schwer es ist, dies im Einzelfall nachzuweisen.
Im Übrigen erfolgt die Strafverfolgung nicht immer so,
wie Sie und ich uns das vorstellen.
Vielen Dank.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele.
Kollegen!
Wir erleben hier gerade wieder einmal einen etwas un-lauteren Versuch der Irreführung des Parlaments und derZuhörer.
Ich kann nur sagen: Sollte jemand hier im Saal sein –dort oben oder hier unten –, der vorhat, irgendwo einen„Tag“ an die Wand zu sprayen und sich nun nach denReden der Vertreter der CDU in Sicherheit wiegt, der al-so meint, bei der gegenwärtigen Gesetzeslage könne ernicht bestraft werden, muss ich ihn leider enttäuschen.
Hier wird ein völlig falscher Eindruck erweckt. Ichhabe schon im Rechtsausschuss erwähnt, dass ich in un-zähligen Verfahren verteidigt habe. In keinem einzigenFall ist eine Verurteilung daran gescheitert, dass derBegriff der Verunstaltung nicht im Gesetz gestandenhat. In aller Regel haben Verurteilungen stattgefunden.Wenn sie nicht stattgefunden haben, dann
deswegen, weil der Tatnachweis nicht geführt werdenkonnte, aber nicht, weil das Gesetz unvollkommen ge-wesen ist.Ich bin dem Kollegen Tauss dankbar, dass er daraufhingewiesen hat, mit welchen Überreaktionen aufSprayen reagiert worden ist. Trotzdem beschweren Siesich, der Staat und der Bundestag würden nicht reagie-ren. In Berlin ist eine ganze Sonderkommission gegen or-ganisierte Kriminalität mit dem alleinigen Ziel einge-richtet worden, das Sprayen aufzuklären. In BerlinRainer Funke
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8854 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
wurden an einem Tag über 50 Wohnungsdurchsuchungengleichzeitig durchgeführt, um bei Schülern und Lehrlin-gen Spraywerkzeug sicherzustellen und dann die Straf-verfahren einzuleiten und durchzuführen.Ich habe hier einen Zeitungsausschnitt aus der „Ham-burger Morgenpost“.
Danach hat der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von dreiJahren gegen einen unbelehrbaren Sprayer, der immerwieder seine „Tags“ in der Stadt angebracht hat, gefor-dert. Es ist also gar nicht wahr, was Sie behaupten.Ich habe Sie im Rechtsausschuss aufgefordert, mireinmal eine Statistik zu nennen, in wie vielen Fällen ei-ne Verurteilung gescheitert ist, weil der Straftatbestanddes § 303 StGB nicht erfüllt gewesen sein soll.
Das hätte ich gerne und dann können wir weiter disku-tieren.
Der Begriff der Verunstaltung führt nicht zur Klarheit,sondern zur zusätzlichen Verunklarung.
Verehrte Kollegin und Kollegen, machen Sie sichdoch einmal Gedanken darüber, was alles dabei heraus-kommt, wenn wir Juristen, vor allem die Gerichte, daskünstlerische Urteil über einen „Tag“ abgeben sollen, obes nun eine Verunstaltung oder eine Verschönerung ist.Das wird doch kabarettreif,
vor allem in Deutschland. Aber auch das kann uns nichtdavon überzeugen, dass wir einen solchen Begriff insGesetz aufnehmen müssen, denn die Rechtsprechungsagt heute schon, dass jegliche Substanzverletzungstrafbar ist.
Eine Substanzverletzung liegt nicht nur dann vor,wenn das Gebäude einfällt oder ein Ziegel herausfälltoder ein Stück aus dem Betonmauerwerk herausbricht,sondern Verunstaltung ist – , seit der Bundesgerichtshofdas 1979 entschieden hat –, eben auch beispielsweise dieBeschädigung von Lack oder von Anstrich. Das heißt,immer dann, wenn eine Lackbeschädigung gegeben ist,
liegt eine Sachbeschädigung vor. Herr Kollege, es ist auch einfach nicht zutreffend,dass das immer mit Sachverständigengutachten festge-stellt werden muss. In keinem einzigen Verfahren, dasich hier in Berlin kenne, ist ein Sachverständiger zuge-zogen worden, weil – das mag in Berlin vielleicht anderssein als in anderen Städten – in keinem einzigen Fall derAmtsrichter, der Jugendrichter, die darüber entschiedenhaben, sich nicht in der Lage gesehen haben, selber zuentscheiden, ob es sich im jeweils vorliegenden Fall umeine Sachbeschädigung handelt oder nicht.In allen Fällen, in denen der Tatnachweis geführtworden ist, hat in den Verfahren, an denen ich beteiligtgewesen bin, eine Verurteilung stattgefunden, weil na-türlich die für das Vorliegen des Tatbestandes einerSachbeschädigung notwendigen Voraussetzungen in-zwischen so gering sind, dass der Tatbestand dann im-mer erfüllt ist. Ich sage Ihnen: Wenn er nicht erfüllt ist, wenn Sie al-so eine Farbe, einen „Tag“, wenn er mit Wasserfarbeangebracht ist, einfach mit einem feuchten Lappen ab-wischen können, so ist es doch ganz einfach nicht mehrgerechtfertigt, von Kriminalität und von Kriminalstrafezu sprechen.
Wenn es genügt, den Täter oder die Täterin, die dabeierwischt worden sind, ein „Tag“ angebracht zu haben,dazu zu verurteilen oder besser: dazu anzuhalten, mit ei-nem Lappen dort hinzugehen und das abzuwischen, undwenn die Wand danach wieder hergestellt ist, wenn siewieder sauber ist und man nicht mehr sehen kann, dassdort vorher ein „Tag“ war,
dann wäre es doch unsinnig und völlig unverhältnismä-ßig, mit einer Kriminalstrafe zu drohen oder eine solcheKriminalstrafe zu verhängen.
Ich denke, alle Gesetzentwürfe, die sich ja voneinan-der nicht unterscheiden – einmal steht da „Verunstal-ten“, im anderen Fall steht da: „Wer eine Verunstaltungvornimmt“; das ist der Unterschied zwischen dem Ge-setzentwurf der CDU/CSU und dem der F.D.P. –, kom-men nicht in Betracht, weil beide weit über das Ziel hi-nausschießen.
Was Sie hier wollen, ist die Fortsetzung Ihrer altenPolitik. Immer dann, wenn Sie auf gesellschaftlicheProbleme treffen,
dann haben Sie nur eins im Sinn: Die strafrechtlicheDrohgebärde muss her.
Damit wollen Sie Politik machen, damit wollen SieGesellschaftspolitik machen.Hans-Christian Ströbele
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8855
Das ist das falsche Mittel, um die meist jugendlichenTäterinnen und Täter zu beeindrucken. Da folgen wirIhnen nicht. Ich sage Ihnen: Das Strafrecht ist nicht dazuda, um solchen Zwecken zu dienen. Wir geben uns nichtdafür her,
solchen Gesetzesanträgen hier im Deutschen Bundestagzur Mehrheit zu verhelfen. Deshalb lehnen wir alle dreiGesetzesvorlagen ab.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sabine Jünger.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren!
Ich denke, ich kann dieses Thema mit zwei Sätzen
abhandeln. Satz eins: Sehr geehrte Damen und Her-
ren der Wohnungsbaugesellschaften, der Polizei
und der Sozialarbeit, sosehr Sie sich auch den Kopf
zerbrechen werden, den Kampf werden Sie verlie-
ren. Satz zwei: Betrachten Sie Graffiti als Demo-
kratisierung der Stadtplanung und -gestaltung und
wenden Sie sich wichtigeren Aufgaben zu.
– Herr Dr. Kansy, diese beiden Sätze sind nicht von mir,
sondern wurden von Eberhard Seidel-Pielen auf einer
Tagung der Landeskommission „Berlin gegen Gewalt“
gesprochen. Ich werde ihnen noch einige Sätze hinzufü-
gen.
Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen über
30 Jahre Graffiti eklatant anders sehen
und bewerten als Menschen unter 30. Die heute hier zur
abschließenden Beratung vorliegenden Entwürfe doku-
mentieren also in allererster Linie das Durchschnittsalter
der Einreicherinnen und Einreicher. Ich freue mich al-
lerdings, dass die Mehrheit des Hohen Hauses heute ihre
jugendliche Einstellung demonstrieren und alle drei Ge-
setzentwürfe ablehnen wird.
Sprayer sind größtenteils männliche Jugendliche zwi-
schen 12 und 18 Jahren. Wenn sie beim Sprühen er-
wischt werden, dann hat das auch jetzt schon Folgen:
Wem ein oder mehrere Graffiti nachgewiesen werden
können, der muss auch heute schon mit Konsequenzen
rechnen. Das bedeutet in der Regel richterliche Ermah-
nung, Freizeitarbeiten oder Freizeitarrest.
Hinzu kommen Verhöre, Hausdurchsuchungen und der
vorprogrammierte Ärger mit den Eltern, Beseitigung der
Graffiti, persönliche Haftung für den Schaden und damit
ein Schuldenberg, je nach Sachlage auch noch Anklage
wegen Sachbeschädigung. Das wissen die Sprayer natür-
lich; so etwas spricht sich halt herum. Die Konsequenz
daraus ist aber, sich nicht erwischen zu lassen.
Was also wollen Sie mit der Erfindung eines dubio-
sen Straftatbestandes „Verunstaltung“ erreichen? Dass
die jährlichen Zahlen der Jugendkriminalität steigen und
Sie wieder einmal den Verfall von Recht und Ordnung
anprangern und Jugendliche als kleine Monster darstel-
len können?
Sprayer sehen Graffiti als eine Antwort auf unsere
oftmals gesichtslosen Städte. Sie sind eine Antwort auf
die fantasielose Stadtplanung und Stadtentwicklung.
Selbst in den wenigen Fällen, in denen Bürgerinnen und
Bürger einbezogen werden, bringt diese Planung zum
Ausdruck, was sie in der Praxis vom kreativen Potenzial
und den Anregungen von Kindern und Jugendlichen
hält, nämlich nichts. Darüber sollten wir hier nachden-
ken, statt immer nur nach Gesetzesverschärfung zu ru-
fen.
Es ist doch ein ernsthaftes Problem, dass Kinder und
Jugendliche – und nicht nur sie – nicht in die Gestaltung
ihrer Umwelt und in andere Entscheidungen einbezogen
werden, die auch sie betreffen. Das Problem ist auch,
dass Jugendkulturen von weiten Teilen der Gesellschaft
immer als Bedrohung und nicht als spezieller Ausdruck
einer Bevölkerungsgruppe und damit als Bereicherung
empfunden werden.
Meine Damen und Herren von der rechten Seite, set-
zen Sie ruhig weiter auf Ihre kulturelle und politische
Dominanz! Behelfen Sie sich in Ihrer Hilflosigkeit ge-
gen Jugendphänomene weiter mit der Gesetzeskeule!
Aber ich sage Ihnen, Sie werden verlieren, und das ist
gut so. Solange Sie Jugendlichen keine besseren Ange-
bote machen, ihre Kreativität und ihr Lebensgefühl aus-
zudrücken, müssen Sie sich wohl damit abfinden, dass
Sie der Attraktivität einer Spraydose nichts entgegenset-
zen können.
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Pick.
D
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ich werde jetzt nicht versuchen, in dieAktionen der so genannten Graffitikünstlerinnen und -künstler etwas hineinzugeheimnissen. Es soll verschie-dene Kategorien geben, habe ich mir sagen lassen. Aberich stimme doch mit der Mehrheit des Hauses darin überein, dass man das insgesamt ein Unwesen nennenmuss und dass auch die Empörung der Bürgerinnen undHans-Christian Ströbele
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8856 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Bürger verständlich ist, wenn sie ein frisch saniertesHaus plötzlich mit einer solchen „Verschönerung“ be-trachten müssen.
Die Frage ist aber, ob tatsächlich ein Mehr an Strafbar-keit erforderlich ist, um diesem Unwesen wirksamer alsbisher begegnen zu können und ob andere Wege be-schritten werden müssen.Es ist schon gesagt worden: Die Rechtsprechung tutsich gelegentlich mit dem Tatbestandsmerkmal derSachbeschädigung etwas schwer. Allerdings ist dieRechtsprechung, auch die des BGH, ziemlich eindeutig;denn nicht nur bei Substanzverletzungen – davon warschon die Rede –, sondern auch bei Beeinträchtigungdes bestimmungsmäßigen Gebrauchs der Sache – daskann in dem einen oder anderen Fall so sein – liegt eineSachbeschädigung vor.
– Vor allen Dingen – lieber Herr Geis, das wissen auchSie – in den Fällen, in denen eine Reinigung zwangsläu-fig zu einer Beschädigung zum Beispiel der Fassadeführt, bejaht die Rechtsprechung in großer Eintracht eineSachbeschädigung.
– Es gibt dazu natürlich Kommentare, wie zu allem imrechtlichen Bereich.
Die vorliegenden Gesetzentwürfe schlagen nunmehrvor, die Tatbestände der Sachbeschädigung und der ge-meinschädlichen Sachbeschädigung um das Merkmaldes Verunstaltens zu erweitern. Ich denke, dass wir beider Auslegung dieses Begriffs große Schwierigkeitenhaben werden. Herr Geis, wir können nicht ohne weite-res auf die Rechtsprechung zurückgreifen.
Es gibt auch eine historische Seite der Rechtsprechung.Gerade dieser Begriff beinhaltet eine sehr subjektiveWertung. Die Sachverständigen, insbesondere die Straf-rechtswissenschaftler, haben auf diese Problematik inder Anhörung am 27. Oktober hingewiesen. DiesemBegriff ist eine ästhetische Bewertung immanent. Inso-fern handelt es sich um eine ganz schwierige Ausle-gungsfrage, die wir uns zusätzlich einhandeln würden.Es ist nicht damit getan, über diese Frage zu diskutie-ren; vielmehr dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren,dass erhebliche zivilrechtliche Konsequenzen mit derGraffitiproblematik verbunden sind; denn die Schaden-ersatzansprüche können zum Teil sehr weitgehend sein.Die Frage stellt sich in der Tat eher so, ob man derSprayer habhaft werden kann und ob eine wirksameSchadenswiedergutmachung zu erreichen ist.Ich möchte noch auf einen anderen Gesichtspunkteingehen, der bisher kaum angesprochen worden ist. DiePolizeiliche Kriminalstatistik und die Strafverfolgungs-statistik enthalten zwar keine gesonderten Angaben zuden Graffitisprayern als Tatverdächtigen bzw. Verurteil-ten; aber wir können auf Erkenntnisse aus den Ländernzurückgreifen.Es gibt gerade hier in Berlin einen Aktionsplan„Graffiti“. Diesem ist zum Beispiel zu entnehmen, dassdie durch die Polizei im Zusammenhang mit Graffiti-schmierereien festgestellten Tatverdächtigen in der Re-gel zwischen 12 und 21 Jahre alt sind. Bei diesem Täter-kreis erscheint das Bekämpfen des Phänomens der Farb-sprühaktionen vorrangig mit Mitteln des Strafrechtsnicht befriedigend;
vielmehr kommt der Prävention besondere Bedeutungzu.Wir wissen, dass die Länder und auch die Gemeindenim Bereich der Prävention schon sehr aktiv sind. Es existiert eine Vielzahl von Projekten, die das Probleminterdisziplinär und mit großem Engagement angehen.Neben diesem Berliner Aktionsplan „Graffiti“ gibt eszum Beispiel in Schleswig-Holstein einen Bericht desRates für Kriminalitätsverhütung zu dem Thema „Kon-zepte zur Kriminalitätsverhütung im Zusammenhang mitGraffiti“.Es scheint auch besonders wirkungsvoll zu sein,wenn Täter ihre eigenen oder auch fremde Graffiti undFarbschmierereien selbst beseitigen müssen.
Hiermit ist ein Feld gerade für den so genannten Täter-Opfer-Ausgleich aufgezeigt. Die Täter könnten sozusa-gen am eigenen Leib erfahren, wie schwierig es im Ein-zelfall sein kann, die Schäden zu beseitigen.
Auch Aufklärungsaktionen in Schulen über die Straf-barkeit und die Gefahr erheblicher Schadensersatzforde-rungen zeigen Wirkungen. Ich denke, dass wir die Präventionsanstrengungen derLänder und Kommunen mit großem Interesse zu beglei-ten haben. Die Bundesregierung prüft, ob neben demschon bestehenden umfangreichen Angebot auch Projek-te der Bundesregierung erforderlich sind, um weiterzu-kommen. Im Ergebnis stimmt die Bundesregierung mitall denjenigen überein, die eine weitere Verschärfungdes Strafrechts um einen neuen Straftatbestand für nichtnotwendig halten.
Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8857
Der Bundesrat kann eine eigene Sicht der Dinge ha-ben. Auch der Bundestag hat dieses Recht. Sie sagten jaselber, dass Sie vor einigen Jahren noch einer anderenAuffassung gewesen sind. Man kann das auch so aus-drücken: Damals waren Sie aus meiner Sicht klüger. Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Pofalla.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in ei-ner Art überschaubarem strafrechtlichen Symposium diedrei vorliegenden Gesetzentwürfe, unter anderem auchden von der Union eingebrachten Entwurf eines Geset-zes zur Änderung des Strafgesetzbuches, das Graffiti-Bekämpfungsgesetz. Was mich an dieser Debatte stört, sind zwei Dinge:Erstens. Es hat bisher eine Reihe von Beratungen undauch eine Anhörung gegeben, die eigentlich auf beidenSeiten – ich betone ausdrücklich: auf beiden – zu neuenErkenntnissen hätten führen können. Ich habe mir dieMühe gemacht, noch einmal das Protokoll der ersten Le-sung nachzulesen. Daher bin ich erstaunt, dass zumin-dest im Hinblick auf Ihre ablehnende Sicht ausschließ-lich Argumente vorgetragen werden, die Sie bereits inder ersten Lesung vorgebracht haben, was ich wirklichfür falsch halte.
– Herr Ströbele, zu Ihnen komme ich gleich –, denn inder entsprechenden Anhörung sind eine Reihe von gutenund neuen Argumenten angeführt worden. Zweitens. Wenn Herr Ströbele hier unter anderemsagt, es gebe in diesem Zusammenhang keine Gerichts-urteile
– Herr Ströbele, dann sagen Sie so etwas nicht –, dannist das nicht richtig. Ich könnte Ihnen hier seitenweiseGerichtsurteile vorlesen, in denen im Zusammenhangmit Graffiti eine Sachbeschädigung abgelehnt wordenist,
weil man die bestehende Rechtslage nicht für ausrei-chend gehalten hat. Das geht unter anderem aus einemUrteil des Amtsgerichtes Tiergarten vom 24. September1998
und des Landgerichtes Itzehoe vom 3. Juli 1997 hervor.
– Herr Ströbele, ich habe nicht vor, Ihnen Nachhilfeun-terricht über Rechtsprechung in Berlin zu geben. Aberwenn Sie hier behaupten, es gebe keine Urteile,
in denen im Zusammenhang mit Graffiti eine Sachbe-schädigung abgelehnt worden ist,
dann haben Sie, so muss ich schlicht und ergreifend sa-gen, die Rechtsprechung eines nicht unerheblichen Teilsder Bundesrepublik Deutschland leider nicht zur Kennt-nis genommen.
Die Wahrheit ist, dass das bestehende Gesetz mit denbeiden Begriffen „zerstört“ und „beschädigt“ nicht alleFälle von Graffiti erfasst.
Folgenden Punkt verstehe ich angesichts dessen, dassSie in jeder Debatte Gerechtigkeitsargumente vortra-gen, in Ihrer Argumentation wirklich nicht: Ein Teil derSprayer kann nicht verurteilt werden,
weil bestimmte Farben verwandt werden bzw. auf einenbestimmten Untergrund aufgesprüht wird. Beides istzum Teil rein zufällig. Jetzt müssen Sie mir einmal er-klären, warum der eine wegen Sachbeschädigung verur-teilt wird und der andere, der nicht einmal wusste, aufwelchen Untergrund er sprüht, nicht.
Was das mit Gleichbehandlung bei der Strafjustiz zu tunhat, will uns nicht einleuchten.
Deshalb liegen uns heute – übrigens auch aufgrundvon Beschlüssen von SPD-Landesregierungen; sonstwäre es zu diesem Gesetzentwurf des Bundesrates nichtgekommen – drei Entwürfe vor, die im Kern dasselbeaussagen.Ich kann sogar verstehen, dass es Argumente gibt –ich will sie gar nicht ignorieren –, die darauf hinauslau-fen, dass man Ihre Position durchaus vertreten kann.Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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8858 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Ich sage Ihnen aber, Herr Ströbele: Was Sie in Ihrer un-vorbereiteten Rede vorgetragen haben, hat mit einer dif-ferenzierten Argumentation in der Sache nichts mehr zutun.
Sie haben einen Teil der Rechtsprechung nicht zurKenntnis genommen
und behaupten, es gebe eine solche nicht.
Wir sind der Auffassung, dass es höchste Zeit ist, derständig zunehmenden Verschandelung ganzer Stadt-viertel und anderer öffentlich zugänglicher Bereiche ent-schieden entgegenzutreten. Wer sich einmal in den Städ-ten umschaut, Herr Ströbele – zum Beispiel in Berlin alsder Hauptstadt des Graffiti –,
der kann nicht die besprühten Hauswände, Mauern undGaragentore sowie graffitiübersäte Eisenbahnwaggons,U-Bahn-Wagen und Straßenbahnen übersehen. Kurz:Nichts ist mehr vor Graffitisprühern sicher. Sie habenselber in Ihrer kurzen Rede deutlich gemacht, dass Sieganz offensichtlich in diesem Bereich häufig Mandantenvertreten. Also bestreiten Sie den Umstand als solchennicht.
Nach unserer Auffassung ist die bisherige Gesetzes-lage insbesondere in strafrechtlicher Hinsicht offensicht-lich nicht ausreichend, um die vorhandenen Fälle tat-sächlich unter dem Gesichtspunkt der Sachbeschädigungeiner hinreichenden Bestrafung und Verurteilung zuzu-führen. Die in anderen Zusammenhängen von Ihnenaufgeführten möglichen Folgen, die im Falle einer Ver-urteilung auferlegt werden können – beispielsweise ge-meinnützige Arbeit und andere Maßnahmen, die vonden Gerichten auferlegt werden können –, können ebennicht auferlegt werden, wenn es entweder gar nicht erstzur Anklage oder nicht zur Verurteilung kommt.Wir halten diese Entwicklung für falsch. Wir sindvielmehr der Auffassung, dass vor allem den jungenMenschen, die sprayen, aufgezeigt werden soll, dass essich um eine Straftat handelt, die zu einer entsprechen-den Verurteilung führt. Die bloße zivilrechtliche Ahn-dung führt zu überhaupt nichts. Wenn ein Sprayer einGaragentor zusprüht und nur zivilrechtlich verfolgt wird,dann muss er am Ende ein paar hundert Mark aufbrin-gen, die zu einem großen Teil wahrscheinlich von denEltern oder Großeltern bezahlt werden. Nach unsererAuffassung reicht die zivilrechtliche Seite nicht aus, umeine spürbare Reaktion zu erzeugen, sodass das Fehlver-halten eingesehen werden kann. Scheinbar glauben eini-ge Sozialdemokraten, dass jeder, der in der Lage ist, ei-ne Spraydose unfallfrei richtig herum zu halten, bereitsein kleiner Picasso ist. Ihnen muss gesagt werden – dasist unsere Überzeugung –: Schmutzfink bleibt Schmutz-fink. So einfach ist das, Herr Schmidt.
Zur Kunstfreiheit, Herr Ströbele, gehört aber auch,dass kein Eigentümer gezwungen werden darf, als Mä-zen wider Willen zu fungieren. Der Eigentumsschutz be-inhaltet, dass niemandem eine Verschönerung einer Sa-che aufgezwungen werden darf. Unsere Rechtsordnunggibt nach unserer Überzeugung auf der strafrechtlichenSeite dafür nicht den hinreichenden Schutz. Schließlichlernt schon jedes Kleinkind, dass die Eltern zumeistnicht überglücklich reagieren, wenn weiße Wohnzim-merwände eigenmächtig künstlerisch mit bunter Farbeumgestaltet werden.
Es ist, so glaube ich, unstreitig, dass es auf der staat-lichen Ebene andere Reaktionen geben sollte.Die Sozialdemokraten blocken bei diesem Themamöglicherweise auch deshalb ab, weil viele Grüne mei-nen, dass Graffitisprayer einen natürlichen Rechtsan-spruch auf Teilnahme am Wettbewerb „Unser Dorf sollschöner werden“ haben. Sie sollten sich vielleicht selberdaran beteiligen, aber vielleicht nicht als Graffitisprayer.Der Staatssekretär hat eigentlich gerade die richtigeErkenntnis gehabt, indem er deutlich gemacht hat, dasser im Namen der Bundesregierung Graffitisprayereienfür falsch hält und verurteilt. Herr Staatssekretär, wennSie jetzt diese Erkenntnis noch in strafrechtliche Maß-nahmen umsetzten, dann würden Sie von unserer Seitesogar die Zustimmung dafür bekommen.Herzlichen Dank.
Jetzt erhält der
Kollege Hartenbach das Wort.
Verehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute ist nebenjuristischem Sachverstand noch einiges anderes gefragt,nämlich die richtige Einordnung dessen, was Sie wollen.
Ich gehe davon aus, dass Sie mit guten Absichten ge-handelt haben. Aber auf Sie trifft das Wort von GoethesFaust zu:Ronald Pofalla
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8859
Ihr seid die „Kraft, die stets das Gute will und stets dasBöse schafft.“
Wenn man Ihnen folgt, so kann ich Ihnen nur sagen,dass die Christenheit wahrscheinlich ausgestorben wäre.Denn die Christen im alten Rom haben nur dadurch überlebt, dass sie sich mit Graffiti Hinweise gegebenhaben, wo sie in den Katakomben unterkommen können.
Wenn man Ihr Wort „verunstaltet“ nimmt, so sind wirwieder bei einer urchristlichen Angelegenheit. NehmenSie doch einmal die Sternsinger, die teilweise auch ohneEinwilligung der Hausbesitzer an die Wand malen. Fra-gen Sie einmal, ob sie wegen „Verunstaltung“ belangtwerden sollten!
Lassen Sie doch die Kirche im Dorf oder die Sprüh-dose im Regal! Entscheidend ist doch, dass die Tätersauber ermittelt werden und zur Anzeige gebracht wer-den.
Wir wollen einmal sehen, wie es geht. Wir wissen ausder eigenen praktischen Erfahrung, dass in jedem Fall,in dem es eine saubere Täterermittlung gab, eine Verur-teilung oder, wenn Milde angebracht ist, eine Einstel-lung des Verfahrens erfolgte. Das, was Herr Pofalla ge-macht hat, war eine juristische Taschenspielerei.
Er hält ein Blättchen nach dem anderen hoch und zitiertdas Amtsgericht Itzehoe und das Amtsgericht Tiergar-ten,
sagt aber nicht, warum sie möglicherweise freigespro-chen haben.
– Passen Sie auf, dass Sie Ihr Gebiss nicht verschlucken,Herr Geis! – Hier gibt es eine ganze Menge Möglichkei-ten. Wir sind der festen Überzeugung, dass Sie mit demWort „verunstaltet“ nur Unfrieden in der Szene schaffenwürden.
Sie würden Unfrieden bei den Gerichten schaffen, weilSie die Richter überfordern würden.
Dann haben wir plötzlich keine Sachverständigen fürSachbeschädigung mehr, sondern wir haben Sachver-ständige für Verunstaltung. Dafür bieten Sie sich abergeradezu an.
Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wirhaben bei der Anhörung erfahren, dass jedes Besprüheneiner Fläche eine Sachbeschädigung ist, egal ob es eineraue Fläche ist –
die raue Fläche muss zerstört werden, weil sie abge-schliffen werden muss – egal ob es eine glatte Fläche ist,wie zum Beispiel bei Eisenbahnwaggons. Man kann esnur beseitigen, indem man die glatte Fläche beschädigt.Wir haben also den Tatbestand der Sachbeschädigungvoll erfüllt. Mehr brauchen wir nicht. Wir brauchen kei-ne „Verunstaltung“.
Wir brauchen die ganz, ganz wenigen Richter, die sichmit der Sache einmal richtig befassen müssten. Die gro-ße Mehrheit der Staatsanwälte, die große Mehrheit derRichter weiß, wie sie zu entscheiden hat. Darauf ver-trauen wir.
– Herr Götzer, Sie reizen mich gerade, noch etwas zusagen. Natürlich weiß ich, um was es geht. Natürlichweiß ich, dass der vorhandene Tatbestand ausreicht. Wirbrauchen keinen zusätzlichen „Verunstaltungs“-Begriff.
Ein letztes Wort. Österreich ist ein wunderschönesLand. Die österreichischen Menschen gefallen mir sehrgut.
Aber wir müssen nicht unbedingt auch noch österreichi-sche Rechtsbegriffe importieren.
Das haben wir nicht nötig.Vielen Dank.
Damit schließeich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung überden Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Än-derung des Strafgesetzbuches, also zum Graffiti-Alfred Hartenbach
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8860 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Bekämpfungsgesetz. Der Rechtsausschuss empfiehlt aufDrucksache 14/2941 unter Buchstabe a, den Gesetzent-wurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf derFraktion der CDU/CSU abstimmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stim-men der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. abgelehntworden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnungdie weitere Beratung. Jetzt folgt die Abstimmung überden Gesetzentwurf der Fraktion der F.D.P. zum verbes-serten Schutz des Eigentums. Der Rechtsausschuss emp-fiehlt auf Drucksache 14/2941 unter Buchstabe b, auchdiesen Gesetzentwurf abzulehnen.Ich lasse jetzt über diesen Gesetzentwurf der Fraktionder F.D.P. abstimmen. Ich bitte Sie um das Handzei-chen, wenn Sie dem zustimmen wollen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetz-entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen sowie der PDS und diesmal gegendie Stimmen der F.D.P. und der CDU/CSU abgelehntworden. Damit entfällt die weitere Beratung.Wir kommen nun zur Abstimmung über den vomBundesrat eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsände-rungsgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt aufDrucksache 14/2941 unter Buchstabe c, den Gesetzent-wurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf desBundesrates abstimmen und bitte Sie, die Hand zu erhe-ben, wenn Sie dem Gesetzentwurf des Bundesrates zu-stimmen wollen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Auch dieser Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS ge-gen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung derF.D.P. abgelehnt worden. Die weitere Beratung entfällt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a und 6b sowieZusatzpunkt 6 auf: 6. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten.
ten und der Fraktion der CDU/CSU einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Wohnungsbindungsgesetzes unddes Altschuldenhilfe-Gesetzes – Drucksache 14/2763 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristine Ostrowski, Heidemarie Ehlert, Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS Aufhebung der Privatisierungspflicht imAltschuldenhilfegesetz und der Sanktionenbei Nichterfüllung – Drucksache 14/2804 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
– Drucksache 14/2983 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Kein Wider-spruch! Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe dem KollegenKansy das Wort.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damenund Herren! Ich freue mich, dass sich die Rechtspoliti-ker in der ersten Reihe auch sehr intensiv mit der Woh-nungspolitik befassen. Das ist zu dieser Stunde immerein gutes Zeichen. Meine Damen und Herren, noch nie hat eine Bundes-regierung bei ihrer Machtübernahme so günstige woh-nungspolitische Rahmenbedingungen vorgefunden wiediese Regierung.
Millionen neue Wohnungen und die daraus resultierendeEntspannung auf den Wohnungsmärkten führten zu im-mer geringeren Steigerungsraten des Mietenindexes, derdie Entwicklung der Mieten und Betriebskosten wider-spiegelt: 1998 schon auf 1,8 – fast ein historischerTiefstwert –, ein Jahr später 1 Prozent. Das war der ge-ringste Mietenanstieg seit Einführung des Mietenindexesim Jahre 1962.
Meine Damen und Herren, leider hat diese Koalitionaus den heute schon angesprochenen günstigen Aus-gangsbedingungen falsche Schlüsse gezogen. Statt derVorlage einer von der CDU/CSU-Bundestagsfraktionschon vor Jahr und Tag geforderten neuen Bedarfspro-gnose und einer Bestandsaufnahme erleben wir ein un-abgestimmtes Eingreifen der Bundesregierung in fast al-le Steuerungsinstrumente der Wohnungspolitik mit demErgebnis, dass im Mietenbereich wieder erste Steige-rungstendenzen festzustellen sind. Dies stellt nicht nurder Ring Deutscher Makler fest, sondern zum Beispielauch der Mieterbund, dem man nicht gerade SPD-Fernebescheinigen kann. Meine Damen und Herren, die Haushaltsmittel fürden sozialen Wohnungsbau wurden radikal herunterge-fahren. Durch verschiedene Änderungen im Steuerrechtwird die Bereitschaft privater Investoren, Geld in denfrei finanzierten Wohnungsbau zu stecken, massiv ge-mindert. Unsicherheit und Attentismus greifen dort umsich. Gleichzeitig wurden am EigenheimzulagengesetzAbstriche vorgenommen, obwohl gerade dieser BereichVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8861
die Wohnungsproduktion der letzten Jahre wesentlichgetragen hat.Dazu kommen die beabsichtigten Änderungen imMietrecht, die ebenfalls zulasten der Investoren gehenund das mühselig hergestellte Gleichgewicht zwischenVermietern und Mietern zulasten der Vermieter ver-schieben.Meine Damen und Herren, den sozialen Wohnungs-bau fortzuführen, aber dabei grundlegend zu reformie-ren war schon ein Ziel der CDU/CSU-F.D.P.-Koalitionin der letzten Legislaturperiode. Wie bekannt, wurdedies zu Zeiten der lafontaineschen Blockadepolitikdurch die SPD-Mehrheit im Bundesrat verhindert. Aberstatt wenigstens jetzt zügig auf die seit Jahren vorlie-genden Vorarbeiten der Regierung Kohl zurückzugrei-fen und die Reform des sozialen Wohnungsbaus endlichvoranzutreiben, wird erneut eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe nach dem Motto gebildet: Wenn ichnicht mehr weiter weiß, bild ich einen Arbeitskreis.
– Liebe Kollegen der SPD, wenn Sie schon bei einersolchen Binsenweisheit die Contenance verlieren, wirdes gleich noch schlimmer.
Dieses Auf-die-lange-Bank-Schieben blockiert aberauch dringende Lösungen anstehender Detailprobleme.So haben wir aus allen Verbänden und allen Diskussio-nen den Ruf nach schnellen Lösungen im Rahmen derFörderung einer nachhaltigen Stadtentwicklung in be-stimmten Ortsteilen und Stadtteilen mit besonderen so-zialen und gesellschaftlichen Problemen und zur Ver-hinderung einseitiger Belegungsstrukturen vernommen.Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, bedarfes unseres Erachtens jetzt – und nicht irgendwann imJahre 2002 nach Vorliegen der Kommissionsergebnisseund dem anschließenden Gesetzgebungsprozess – einerErweiterung des gesetzlichen Handlungsinstrumentari-ums um die so genannte mittelbare Belegung.
Das ist der Kernpunkt unserer Änderungswünsche indiesem Gesetzgebungsverfahren.Meine Damen und Herren, dies hat auch die Woh-nungswirtschaft – ich habe es bereits erwähnt – nicht zu-letzt in der Diskussion über die überforderten Nachbar-schaften dringend eingefordert. Selbst wenn es jetzt füreine Wohnungsbaudebatte ein bisschen juristisch wird:Der heutige § 7 Wohnungsbindungsgesetz lässt zwar dieFreistellung von der Belegungsbindung zu, nicht aberdie Freistellung von der Mietpreisbindung, auch Kos-tenmiete genannt. Deshalb haben wir diesen Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung des Wohnungsbindungsgesetzes und des Alt-schuldenhilfe-Gesetzes vorgelegt, den ich jetzt in eini-gen Detailpunkten noch einmal begründen will. ZumThema Altschuldenhilfe generell und zum Gesetzent-wurf der Koalition dazu wird anschließend mein KollegeNorbert Otto Stellung nehmen.Unser Entwurf sieht vor, das Wohnungsbindungsge-setz so zu ändern, dass für im ersten Förderweg geför-derte Sozialmietwohnungen die mittelbare Belegung imWege einer Vereinbarung zwischen der zuständigenStelle und dem Verfügungsberechtigten zugelassenwird. Erhält der Investor beispielsweise beim Bau neuerMietwohnungen Wohnungsbauförderungsmittel, könnendie damit verbundenen Mietpreis- und Belegungsbin-dungen des Wohnungsbindungsgesetzes vertraglich aufungebundene, über die Stadt verteilte Wohnungen ausdem Bestand des Investors oder auch auf an andererStelle neu errichtete Mietwohnungen übertragen werden.Dieses Instrument der mittelbaren Belegung soll fürdiejenigen Wohnungsunternehmen auf die jeweiligenlandesrechtlichen Vorschriften über Belegungsbindungübertragbar sein, denen Altschuldenhilfe gewährt wur-de. Das hat jetzt nicht direkt mit dem wichtigen Problemder Bewältigung des Altschuldenhilfeproblems in denneuen Ländern zu tun, bietet aber mit der von uns vor-geschlagenen Novellierung des Altschuldenhilfe-Ge-setzes eine zusätzliche Erleichterung.Angesichts der in vielen Städten und Gemeinden vor-handenen dramatischen Lage ist es nicht mehr verant-wortbar, auf die angesprochene Reform des Wohnungs-baurechts zu warten, die, wenn wir seriöse Zeitvorstel-lungen beachten, nach dem Vorbereitungsstand inner-halb der Bundesregierung frühestens im Jahre 2002 inKraft treten könnte.Unser Antrag könnte eigentlich die Zustimmung desganzen Hauses finden; denn alle Fraktionen dieses Hau-ses befürworten zum Beispiel das in den letzten Jahrenvon der Arbeitsgemeinschaft des Bundes und der Län-der, ARGE Bau genannt, erarbeitete Programm „Die so-ziale Stadt“. Darum wird zurzeit viel Luft gemacht. Aber wenn man die Ziele dieses Programms ernst nimmt– die Bundesregierung schmückt sich derzeit mit dem inlangen Vorbereitungen erarbeiteten Programm –, mussman natürlich auch die gesetzlichen Rahmenbedin-gungen schnellstens kompatibel machen.In diesem Zusammenhang ist besonders die im Auf-trag des Bundesverbandes Deutscher Wohnungsunter-nehmen erstellte Impirica-Studie aus dem Jahre 1998„Überforderte Nachbarschaften – Soziale und ökonomi-sche Erosion in Großsiedlungen“ hervorzuheben. DieseStudie kommt zu folgendem Schluss – ich zitiere –:Der soziale Wohnungsbau ist bis heute durch großeWohngebiete mit einheitlicher Verwaltung undeinheitlicher Belegung charakterisiert. Eine sozialeWohnungspolitik muss über räumlich weniger kon-zentrierte Belegungsmöglichkeiten verfügen. DasZiel ist grundsätzlich dadurch erreichbar, dass diebestehenden Belegungsrechte räumlich entzerrtwerden.Meine Damen und Herren, genau das ist der Kern un-seres Gesetzentwurfs. Unser Ziel ist es, den zuständigenStellen für die im ersten Förderweg des sozialenDr.-Ing. Dietmar Kansy
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Wohnungsbaus geförderten Wohnungen – neben den Frei-stellungsmöglichkeiten nach § 7 – mit der mittelbarenBelegung ein weiteres Instrument zur Schaffung und Er-haltung ausgewogener Bewohnerstrukturen an die Handzu geben. Da § 7 zwar die Freistellung von der Bele-gungsbindung – ich wiederhole das, weil es oft ver-wechselt wird –, aber keine Freistellung von der Miet-preisbindung, sprich: Kostenmiete zulässt, ist die mittel-bare Belegung im ersten Förderweg bisher nicht zuläs-sig.In diesem entspannten Wohnungsmarkt gibt es über-all schon ein Quartier, das sozial problematisch ist. Indiesem Zusammenhang gibt es ein weiteres Thema, mitdem wir noch auf Sie zukommen werden, nämlich derFrage: Ist es heute überhaupt noch vernünftig, im Bun-desgesetz eine Fehlbelegungsabgabe vorzuschreiben,wenn diese zu Segregationserscheinungen führt?
– Lassen Sie mich mein Thema doch selber festlegen,Frau Kollegin.
– Dies hat alles damit zu tun. Ihre Reaktion zeigt IhreDickfälligkeit gegenüber Problemen, deren Lösung vorOrt nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Kom-munen und die Wohnungsunternehmen wichtig ist. Stattsich dieser Probleme anzunehmen, tragen Sie dauerndIhre aufgeblasenen Luftballons von der „sozialen Stadt“vor sich her, was dazu führt, weil nur geringe Mittel da-für zur Verfügung stehen, dass Sie an die Problemenicht herankommen. Das ist das Problem.
Mieter ziehen in zunehmendem Maße, und zwar ohnedass die Unternehmen reagieren und ihre Belegungsbin-dung streuen können, aus und ein Quartier nach dem an-deren kippt um. Die SPD-Fraktion ruft „Thema“, wennman das in diesem Zusammenhang erwähnt.
Wir hatten bereits in der letzten Legislaturperiode imRahmen unserer Vorschläge zur Reform des sozialenWohnungsbaus die mittelbare Belegung angeregt. Zwi-schenzeitlich ist die Situation wesentlich kritischer ge-worden.Bei allem Respekt vor Kommissionen und trotz derschon erwähnten zeitlichen Perspektive bis zum Jahre2002 sage ich: Es muss schnell und sofort gehandeltwerden. Wir bitten Sie deshalb – das ist wirklich keineideologische Frage, in der man sich verrennen muss –,den vorgelegten Gesetzentwurf in den Ausschüssen zü-gig zu beraten und möglichst auch schnell zu verab-schieden. Wegen der Bedeutung des Instrumentes dermittelbaren Belegung als Lösungsansatz für den dringli-chen Problemkreis „Soziale Brennpunkte in unserenStädten“ sollten diese Änderungen nämlich möglichstschnell und möglichst früh in Kraft treten. Vielen Dank.
Jetzt spricht
die Abgeordnete Christine Lucyga.
Guten Abend, FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kol-lege Kansy, als ich Ihnen zuhörte, habe ich mich gefragt,was denn eigentlich die Botschaft sein sollte, die Sie unsübermitteln wollten.
Zunächst beklagen Sie die dramatische Lage derStädte und Gemeinden, fordern uns aber gleichzeitigauf, auf den Vorarbeiten der Regierung Kohl aufzubau-en. Dabei sind es doch die Vorarbeiten der RegierungKohl, die diese dramatische Lage verursacht haben. Wirwerden uns also davor hüten müssen.
Dan werfen Sie uns vor, wir würden die Contenanceverlieren. Wenn jemand etwas verloren hat, dann Sie,und zwar die soziale Balance. Wir werden dafür sorgen,dass sie wieder hergestellt wird
Mit der Reform des Altschuldenhilfe-Gesetzes, diewir jetzt vorgelegt haben, räumen wir eine Altlast derfrüheren Bundesregierung ab. Ich will die Diskussionen,die wir dazu in diesem Hause in den vergangenen Jahrengeführt haben, nicht erneut aufrollen, sondern nur fest-stellen: Unser Gesetzentwurf beendet konsequent dievon diversen Ministerinnen und Ministern der ehemali-gen christlich-liberalen Koalition jahrelang betriebeneFlickschusterei. Die ostdeutschen Wohnungsunterneh-men bekommen Rechtssicherheit und können sich ihreneigentlichen Aufgaben widmen. Wenn ich noch einmal an die Beschäftigung mit demProblem der Altschulden in den vergangenen sieben Jah-re zurückdenke, erinnere ich mich, dass der damit zu-sammenhängende Prozess nach einer fehlerhaften Initi-alzündung schon eine gewisse Eigendynamik entwickelthatte, nachdem anfängliche Fehlentscheidungen und vorallen Dingen ein unverantwortlich langes Zuwarten biszu einem ersten halbherzigen Lösungsansatz der Woh-nungswirtschaft im Osten ganz besondere Schwierigkei-ten auferlegt hatten. Nachbesserungen waren zwingend notwendig undsind, wie vor allen Dingen 1995 geschehen, durch akti-ven Druck vonseiten der SPD in Bund und Länderndurchgesetzt worden. Dabei stand für uns von vornhe-rein fest, dass sowohl der Prozess der Altschuldenhilfe-gesetzgebung als auch die Umsetzung dieser Gesetzge-Dr.-Ing. Dietmar Kansy
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bung über längere Zeit parlamentarische Begleitung undauch weiter gehende Hilfen für die ostdeutsche Woh-nungswirtschaft erfordern würden. Deshalb haben wirsofort nach Regierungsübernahme gehandelt. Bereits Bauminister Müntefering hatte sich diesesProblems im März des vergangenen Jahres erfolgreichangenommen. Durch einen Beschluss des Lenkungsaus-schusses erhielt eine große Zahl der Wohnungsunter-nehmen greifbare Entlastungen und Sicherheit durchSchlussbescheide. Die Unternehmen wurden zudem vonder jährlichen Berichtspflicht freigestellt. Gleichzeitigwurde die Ausnahmeregelung zur vorzeitigen Befreiungvon der Privatisierungspflicht erweitert, sodass weitereUnternehmen sofort aus der Privatisierungspflicht ent-lassen werden konnten.
Das betraf im Wesentlichen Unternehmen in struktur-schwachen Gebieten, die aufgrund ihrer hohen Leer-stände – auch eine Erblast Ihrer Politik –
außerstande waren, die Pflicht zur Privatisierung von15 Prozent ihres Bestandes zu erfüllen. Durch die we-sentlich verbesserten Kriterien sind über die Hälfte derWohnungsunternehmen bereits heute von der Privatisie-rungspflicht befreit. Das haben wir, nicht Sie geschafft.
Wir waren uns aber schon seinerzeit darüber im Kla-ren, dass mit diesen Erleichterungen allein nicht allenUnternehmen geholfen werden konnte. So haben wirauch keinen Zweifel daran gelassen, dass weitere Schrit-te folgen müssen und die ostdeutsche Wohnungswirt-schaft durch weitere Maßnahmen und eine abschließen-de Gesetzgebung endlich verlässliche Bedingungen be-kommen muss. Deshalb legen wir heute einen Gesetz-entwurf vor, der die ostdeutsche Wohnungswirtschaft ef-fektiv entlastet.
– Wir können uns anschließend gern unterhalten.
– Das habe ich getan, Herr Kansy, und zwar dort, wo estatsächlich um diese Probleme geht.
Da wir gerade von den Wohnungsunternehmen spre-chen, möchte ich hier etwas Notwendiges ergänzen. DerWohnungswirtschaft in den neuen Ländern ist an dieserStelle einmal ganz nachdrücklich für das bisher Geleis-tete zu danken.
Wir begehen in diesem Jahr so manches Zehnerjubiläumund damit auch das zehnjährige Bestehen der ostdeut-schen Wohnungswirtschaft. Dem Verband kann wirk-lich mit vollem Recht bescheinigt werden, dass er unterschwierigen Bedingungen Großes geleistet hat. Ichmöchte zum Beispiel daran erinnern, dass die ostdeut-sche Wohnungswirtschaft einen immensen Struktur-wandel zu bestehen hatte, dass sie unglaubliche Kraftan-strengungen zur Modernisierung und Instandsetzung ei-nes überwiegend unattraktiven Wohnungsbestandes zuleisten hatte,
dass sie sich auf einem schwierigen Markt zu behauptenhatte und dass sie ihren entsprechenden Anteil daran hat,dass die Wohnung in Ostdeutschland heute nicht nurWirtschaftsgut, sondern eben auch Sozialgut ist. Für die-sen Beitrag sei dem GdW an dieser Stelle noch einmalnachdrücklich gedankt.
Ich glaube, das gehört hierher.Jetzt möchte ich Sie zu der heutigen Debatte zurück-führen.
– Lassen Sie mich doch bitte mal reden! Hören Sie zu!Anschließend unterhalten wir uns über die offen geblie-benen Fragen.
Zurück zum Hauptanliegen der heutigen Debatte: Ge-rade angesichts der Leistungen, die die Wohnungswirt-schaft erbracht hat und von denen ich eben gesprochenhabe, müssen wir uns auf eine abschließende Regelungdes Altschuldenproblems mit Augenmaß verständigen.Wir machen es uns dabei weder so einfach wie Sie nochwie die PDS, denn wir wollen das Kind auch nicht mitdem Bade ausschütten.Es war zum Beispiel naiv oder verantwortungslos oder beides, immer wieder zu fordern, eine Rückabwick-lung des Altschuldenhilfe-Gesetzes vorzunehmen. DieBemühungen der überwiegenden Zahl der Wohnungsun-ternehmen würden damit entwertet, was schlicht undeinfach neue Disparitäten und Ungerechtigkeitenschafft. Das kann schließlich niemand wollen. Nun zu unserem Gesetzentwurf, der sicherlich auchnoch vom Ministerium dargestellt wird: Der Termin, biszu dem die Privatisierungspflicht erfüllt sein muss, wirdvon uns drastisch auf das Ende des Jahres 1999 vorge-zogen. Damit ist klar: Den Wohnungsunternehmen, dieihre Privatisierungspflicht bisher unverschuldet nichtDr. Christine Lucyga
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vollständig erfüllen konnten, ist endlich der Klotz vomBein genommen worden. Für Unternehmen, die sich an-ders entschieden haben, gibt es bis 2003 einen Vertrau-ensschutz. Unternehmen, die bisher keine Wohnungen privati-siert haben, erhalten die Möglichkeit, ersatzweise Zah-lungen an den Erblastentilgungsfonds zu leisten. Ichmöchte jetzt nicht kolportiert hören, dass diese Unter-nehmen zu einem Freikauf gezwungen würden. Daswird der Sache nicht gerecht. Gerechtigkeit bedeutet füruns, dass Unternehmen, die sich ihrer Privatisierungs-pflicht ohne Begründung entzogen haben, jetzt nicht be-lohnt werden dürfen. Wenn die betroffenen Unterneh-men finanziell annähernd den Unternehmen gleichge-stellt werden, die Erlösanteile abgeführt haben, kann ichdaran keine Ungerechtigkeit erkennen. Aber wir müssenund wir werden auch in der parlamentarischen Beratungdie Möglichkeit von Härtefallprüfungen im Auge be-halten. Schließlich: Wir lösen das Problem der „negativenRestitution“, indem wir auch hier einen Schlussstrichziehen. Ab dem 31. Dezember 1999 – so sieht es derEntwurf bis jetzt vor – wird der Teilentlastungsbescheiddann auch nicht mehr geändert. Übrigens besteht geradefür diese Wohnungen ein erhöhter Sanierungsbedarf.Denn wo Eigentumsverhältnisse nicht geklärt sind – eineweitere Erblast Ihrer Regierung –, da wird auch nichtinvestiert. Dies werden wir in der parlamentarischen Be-ratung berücksichtigen müssen.Alles in allem sehen wir uns mit unserem Gesetzent-wurf auf einem guten Weg – ebenso wie mit der Einset-zung der Expertenkommission „Wohnungswirtschaft-licher Strukturwandel“. Auch das sehen wir anders alsSie, Herr Kansy. Diese Kommission soll regional diffe-renzierte und finanzierbare Lösungsvorschläge vor allenDingen für die Leerstandsproblematik erarbeiten. DieseStrukturaufgaben können nicht durch eine abschließendeAltschuldenhilfegesetzgebung allein gelöst werden,
sondern nur durch ein Bündel von Maßnahmen, in demstädtebauliche, soziale, raumordnerische Gesichtspunkteund Gesichtspunkte einer effektiven Förderpolitik zuWort kommen. Es sind alle Ebenen – Bund, Länder undGemeinden bis hin zur EU – gleichermaßen gefragt. Al-lein schon deshalb werden die Beratungen weitergehenmüssen.Ich danke Ihnen.
Es spricht jetzt
der Abgeordnete Dr. Karlheinz Guttmacher.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das vorsieben Jahren eingebrachte Altschuldenhilfe-Gesetzsieht in § 5 vor, dass sich die Kommunen bzw. Woh-nungsunternehmen, die einen Antrag auf Teilentlastungder Altschulden stellen, gleichzeitig verpflichten,15 Prozent ihrer Wohnungen mit den 15 Prozent ihrerGesamtwohnfläche mieternah zu privatisieren. Über denErfolg der Privatisierung entscheidet nach geltendemGesetz die Kreditanstalt für Wiederaufbau Ende 2003durch einen Schlussbescheid.Noch im Februar 1998, liebe Frau Lucyga, hat derBundestag in einer Entschließung auch den so genanntenschwierigen Fällen Rechnung getragen und die Bundes-regierung aufgefordert, dass vor allen Dingen die kleine-ren Wohnungsunternehmen und Genossenschaften aufAntrag eine vorgezogene Bestätigung erhalten, wonachsie die absehbare Nichterfüllung der Privatisierungsauf-lage nicht vertreten müssen. Eine Anerkennung desNicht-Vertreten-Müssens der Privatisierungsauflage soll-te dabei nach Auffassung der F.D.P. unter weitaus mo-derateren Gesichtspunkten erfolgen als nur durch einKumulieren von Arbeitslosigkeit, Leerstand und Bevöl-kerungsrückgang, so wie es der Lenkungsausschuss vor-gegeben hat.
Es ist zu berücksichtigen, dass es bereits heute beiden Kommunen und Genossenschaften zu Härtefällenkommt, da nicht selten 15 Prozent der Wohnungen, abernicht 15 Prozent der Gesamtfläche der Wohnungseinhei-ten verkauft werden konnten. Ebenso muss die Ände-rung des Altenschuldenhilfe-Gesetzes die Reduzierungvon strukturellem Leerstand im Rahmen von Ord-nungsmaßnahmen zur Beseitigung städtebaulicher Miss-stände, wie Rückbau von altschuldenbelasteten Block-und Plattenbauten sowie Maßnahmen zur Wohnungsum-feldverbesserung berücksichtigen.Mehrfach haben wir in den letzten wohnungspoliti-schen Debatten darauf hingewiesen, dass der Rückbausowohl mit Städtebaufördermitteln, aber in besonderemMaße auch durch die Befreiung von der Altschuldenlastfür die Wohnfläche der abgerissenen Objekte unterstütztwerden muss. Die Forderung der F.D.P. an ein Altschul-denhilfe-Änderungsgesetz ist daher die Regelung zurStreichung der Altschulden für dauerhaft leer stehendeWohnungen.
Bis Ende 1999 wurden von 362 000 Wohnungen etwa275 400 Wohnungen privatisiert. Von den 2 080 Woh-nungsunternehmen, die die Altschuldenhilfe in An-spruch genommen haben, konnten bis Ende 1999 838 Wohnungsgesellschaften die vollständige Erfüllungder Privatisierungspflicht durch die KfW feststellen las-sen und einen Schlussbescheid erhalten. Einen Antragauf Nicht-Vertreten-Müssens einer Nichterfüllung derPrivatisierungspflicht haben bis Ende 1999 etwa 330Wohnungsunternehmen gestellt.Die ursprüngliche Zielsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes war und ist, die Investitionsfähigkeit der Woh-nungsunternehmen zu stärken. Dies ist beileibe nochnicht durchgängig der Fall. In zunehmendem Maßemussten die Wohnungsgesellschaften die nach demVermögensgesetz restitutionsbehafteten Altbaubestände,Dr. Christine Lucyga
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die nicht zurückgeführt werden konnten, übernehmen.Diese Negativrestitution muss dringend stärkere Be-rücksichtigung bei der Novellierung des Altenschulden-hilfe-Gesetzes finden.Die meisten dieser Objekte befinden sich in einemsolch desolaten Zustand, dass sie entweder gar nichtoder nur zum Teil vermietet werden können. Zu denKosten der Bewirtschaftung für die leer stehenden Woh-nungen kommt durch die Korrektur der Teilentlastungebenfalls der Kapitaldienst auf die Altschulden hinzu,der sich pro Wohnung und Jahr auf 270 DM berechnet.Nach Vorstellung der F.D.P. sollten die leer stehen-den Wohnungen in den vor dem 31. Dezember 1999 ne-gativ restituierten Objekten nicht für eine Änderung derTeilentlastungsbescheide der KfW herangezogen wer-den. Eine Belastung mit Altschulden sollte nur für ver-mietete Wohnungen erfolgen. Um Rechts- und Bilanzsicherheit in den Wohnungs-unternehmen zu erreichen, sollte der Schlussbescheidzur Erfüllung der Privatisierungsauflagen bis zum30. Juni 2000 erteilt werden.
Um in klaren, entscheidungsreifen Fällen Schnellent-scheidungen zu ermöglichen, sollten die Unternehmengenerell bereits mit In-Kraft-Treten des Zweiten Alt-schuldenhilfe-Änderungsgesetzes die Möglichkeit erhal-ten, die Erteilung eines Schlussbescheides zu beantra-gen. Die KfW könnte so auf der Grundlage der jährli-chen Berichterstattung der Wohnungsunternehmen eineentsprechende Prüfung der eingereichten Berichte bisEnde 1999 vornehmen. Die Wohnungsunternehmen sollten sich umgehendentscheiden, ob sie Antrag auf Schlussbescheid aufgrunddes Nicht-Vertreten-Müssens stellen, den Freikauf aufder Basis von 150 DM pro Quadratmeter nicht veräußer-ter Wohnfläche beantragen oder die Nachfrist zur Erfül-lung der Privatisierungspflicht beanspruchen. Die Möglichkeit der Ablösung soll besonders denWohnungsunternehmen dienen, die bisher keine Woh-nungen veräußert haben. Sie haben so die Chance, diedrohende Rücknahme der Teilentlastung für den Fall zuvermeiden, dass sie die Nichterfüllung der Privatisie-rungs- bzw. Veräußerungspflicht zu vertreten haben. Der Freikauf kann jedoch für kleine Unternehmenunzumutbar sein. Es sollte daher nach Ansicht derF.D.P. noch vor Einbringung des Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes geprüft wer-den, ob eine Bagatellregelung für kleine Wohnungsun-ternehmen mit weniger als 500 Wohnungen beschlossenwerden kann.
Die F.D.P.-Fraktion wird in den nächsten zwei Wo-chen den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Altschuldenhilfe-Gesetzes einbringen, der den vo-rangestellten Novellierungsanforderungen gerecht wird. Ich danke Ihnen.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Kollegen! Damit Herr Kansy nicht zu kurz kommt,möchte ich erst die „kleine“ Tagesordnung abfeiern,nämlich Ihren Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desWohnungsbindungsgesetzes und des Altschuldenhilfe-Gesetzes.
– Wir sind eben fix. Da staunen Sie! – Wir haben ver-standen, dass Sie gerne eine allgemeine wohnungspoliti-sche Debatte gehabt hätten. Eine solche Debatte wollenwir auch gerne und werden wir sicherlich zu gegebenerZeit führen. Zu Ihrem Tagesordnungspunkt: Nach meiner Mei-nung greift Ihr Gesetzentwurf ein bisschen zu kurz, weilfür Westdeutschland Befreiungsregelungen eingeführtwürden, für die es zu wenige Gegenleistungen gibt. Da-rin besteht die Gefahr. Das sollte man sehr ernsthaft dis-kutieren. Hinsichtlich Ostdeutschland ist Ihr Antragschlicht obsolet. Angesichts des dort herrschenden Leer-standes, über den wir eigentlich diskutieren, müssen dieWohnungseigentümer inzwischen jeden Mieter nehmen,der bereit ist, in eine leer stehende Wohnung zu ziehen.Daher ist die Diskussion über Belegung und Belegungs-tausch schlicht überflüssig. Das Thema zieht nicht.Die Arbeitsgruppe, die eingerichtet worden ist undüber die Sie gerade gespottet haben, arbeitet sehr gutund sehr solide. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir ei-nen guten Vorschlag zur Novellierung des ZweitenWohnungsbaugesetzes bekommen werden. Ich würde esgut finden, wenn in diesem Zusammenhang Ihr Gesetz-entwurf noch einmal diskutiert und eingehend geprüftwird. Jetzt zum eigentlichen Tagesordnungspunkt Alt-schuldenhilfe-Gesetz.
– Wieso ist das arrogant? Es ist korrekt, dass wir imRahmen des Gesetzgebungsverfahrens das ganze Gesetznovellieren wollen.
– Nein, da irren Sie sich, Herr Kollege Kansy. – Ichfreue mich sehr, dass wir das Altschuldenhilfe-Gesetzjetzt einbringen können. Die Vorarbeiten und die Ab-stimmung mit den ostdeutschen Ländern waren zwarlange und mühselig, aber wir sind einen deutlichenSchritt vorangekommen. Dr. Karlheinz Guttmacher
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Die Kollegin Lucyga hat die wichtigsten Aspekteschon genannt: Wohnungsunternehmen, die nach demLenkungsausschussbeschluss vom März 1999 – Sie ha-ben es also in den letzten vier Jahren Ihrer Legislaturpe-riode nicht geschafft – von der Privatisierungspflicht be-freit worden sind, können schon Ende 1999 einenrechtskräftigen Schlussbescheid erhalten. Das ist sehrwichtig, weil sie dann bilanzrechtlich endlich Klarheithaben und über die weiteren Kredite selbstbewusst mitden Banken verhandeln können.
Ich habe es so verstanden, dass Sie das letztlich begrü-ßen. Die anderen Wohnungsunternehmen, die noch Pri-vatisierungspflichten haben, in deren Gebieten aber kei-ne nachweisbaren Probleme mit Leerstand, Arbeitslo-sigkeit und Bevölkerungsrückgang bestehen, könnensich freikaufen. Als letzter Punkt ist für uns auch sehr wichtig, dassdas berühmte Problem mit der Negativrestitution jetztauf Ende 1999 vorgezogen ist. Das bedeutet, dass derPrivatisierung nach dem Vermögensrecht unterworfeneWohnungsunternehmen, die eine Reihe von Altbautenzurückbekommen, die oftmals leer stehen und sehr he-runtergewirtschaftet sind, nach dem 1. Januar 2000 nichtnoch nachträglich mit Schulden belastet werden. Auchdies ist ein sehr wichtiger Schritt. Dabei ist uns klar,dass sich die Wohnungswirtschaft noch weitere Erleich-terungen für andere Wohnungsbestände wünschen wür-de.
Ich möchte eines noch deutlich sagen und habe das andieser Stelle auch getan: Wir dürfen uns keiner Illusionhingeben. Dieses Gesetz löst erst einmal nicht die gro-ßen Leerstandsprobleme. Ich würde das hier auch nichtbehaupten. Ich möchte nur noch eines klar in Ihre Rich-tung, Herr Guttmacher und Herr Kansy, sagen, auchwenn es in dem Redebeitrag von Herrn Kansy keineRolle spielte: Sie vergießen über die Wohnungsproble-me Ost große Krokodilstränen. Ich würde nicht so weitgehen wie Frau Lucyga und behaupten, der Leerstandsei ausschließlich ein Problem der letzten zehn Jahre. Esist auch ein Problem der Wohnungswirtschaft der DDR.Man muss sehen, wie und in welcher Qualität sie gebauthat. Die schlechte Bausubstanz leugnet hier niemand. Sie aber haben praktisch bis Ende des letzten Jahresund – wenn man die Übergangsfristen sieht – bis heutedie städtische Wohnungswirtschaft und die Genossen-schaften über die wahnwitzigen SonderabschreibungenOst in eine gnadenlose Konkurrenz getrieben, die unteranderem zu diesen Leerstandsproblemen geführt hat. Siehat auch zu Leerständen in Gründerzeitwohnungen ge-führt. Die Stadt Leipzig hat 40 Prozent Leerstand inGründerzeitwohnungen. Dies muss man sich einmalklarmachen. Andere haben in ihren Großsiedlungen biszu 30 Prozent Leerstand.Da müssen Sie sich schon Ihre Mitverantwortung fürdiese Hyperinvestitionen in kürzester Zeit, anstatt über-wiegend in Bestandserneuerungen zu investieren, vorAugen führen. Hätte es gleich Anfang der 90er-Jahre ei-ne achtsamere Regelung für das eigentumsrechtlicheProblem gegeben, beispielsweise durch Vergabe vonErbbaurechten, und hätten Sie nicht einfach im steuer-rechtlichen Bereich in konkurrierender Weise immerden Neubau statt Instandsetzung und Erneuerung geför-dert, dann hätten wir nur einen Teil der Probleme, vordenen wir heute mit dem Leerstand Ost stehen.
Von daher sollten Sie an dieser Stelle nicht so tun, alswären Sie diejenigen, die die ostdeutschen Probleme inSachen Leerstand lösen wollten. Sie sollten nicht so tun,als wären Sie die Retter der ostdeutschen Wohnungs-wirtschaft. Hier ziehen Sie sich einen Schuh an, der Ih-nen nicht so richtig passt. Der klemmt ganz schön!Ich freue mich, dass Bauminister Klimmt eine Exper-tenkommission zu dem Leerstandsproblem eingerichtethat. Ich hoffe, dass diese relativ zügig zu Ergebnissenkommt und Handlungsstrategien erarbeitet. Sie wird dassehr differenziert tun und nicht pauschal. Wir müssenuns aber alle darüber im Klaren sein, dass es für diesesProblem keine einfachen Lösungen gibt, dass Bund,Länder, Gemeinden, Wohnungswirtschaft und Bankenalle ihren Beitrag werden leisten müssen und wir in die-sem Hause noch intensiv über das Problem werden re-den müssen. Wir dürfen nicht die Erwartung wecken, dieses Pro-blem sei schnell zu lösen. Aus meiner Sicht ist das Ersteund Wichtigste, dass die Kommunen das Thema end-lich ernst nehmen und eine konkrete Planung aufstellen,nach der feststeht, in welchen Stadtteilen Rückbautenund Abrisse vollzogen werden müssen und in welchenStadtteilen die Positiventwicklung wirklich vorangetrie-ben wird. Wird das nicht gemacht, besteht die Gefahr,dass weiterhin – wie in den vergangenen Jahren – Fehl-investitionen getätigt werden, dass morgen Häuser abge-rissen werden müssen, in die wir heute noch Instandset-zungs- und Modernisierungsmittel hineinstecken. Es istegal, ob es sich dabei um Mittel nach dem Investitions-zulagengesetz oder um Mittel aus den KfW-Kreditenhandelt. Das können wir uns nicht weiter leisten. Insofern ist meine erste Forderung – ich sage das hierganz deutlich und laut; ich werde demnächst auch einenentsprechenden Antrag stellen –
– Moment, das ist bisher hier nicht diskutiert worden –,dass KfW-Kredite nur noch vergeben werden, wenn dieKommune einen Stempel gibt, dass das jeweilige Hauslangfristig stehen bleiben soll. Das gehört mit zu unse-rem Positiv-Konzept. – Ich bin mir ziemlich sicher, dassin fast 50 Prozent der Häuser, die über kurz oder langabgerissen werden, so oder so öffentliche Mittel hinein-geflossen sind. Daher müssen wir uns diesem Themastellen und werden dies auch tun. Ich freue mich erst einmal darauf, dass Sie mit Ihremangekündigten kleinen neuen Gesetzentwurf zumFranziska Eichstädt-Bohlig
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schuldenhilfe-Gesetz alle Daten noch ein klein bisschenanders, als sie jetzt zwischen der Koalition vereinbartsind, haben wollen. Ich freue mich auf die Diskussion.
Jetzt hat
die Kollegin Heidemarie Ehlert von der PDS-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! In meiner Heimatstadt Halle stehen14 Prozent der Wohnungen leer. In meinem WahlkreisDessau sieht es nicht besser aus: Wohnungsleerstand inHöhe von mehr als 10 Prozent.
– Ja, das ist sehr günstig. Von dort sind noch nicht soviele weggezogen. – Die Mietausfälle in Dessau habensich von 1996 bis 1998 mehr als verdreifacht. Wohersollen also die Wohnungsgesellschaften das Geld neh-men, um Altschulden zu tilgen? Die Mieter hatten in allden Jahren das Geld zum Kauf der Wohnungen nichtund der Umweg über die Zwischenerwerber hat sichauch erledigt. Doch Ihr Gesetzentwurf zur Änderung des Altschul-denhilfe-Gesetzes, meine Damen und Herren von derKoalition, ist kein Schlussstrich. Die Erteilung desSchlussbescheides wird nach wie vor vom Vertreten-oder Nicht-Vertreten-Müssen der Privatisierung abhän-gig gemacht. Die in ihm enthaltene Freikaufsregelung istkeine Lösung; denn die Ablösesumme in Höhe von200 DM je Quadratmeter Wohnfläche ist in Anbetrachtder wirtschaftlichen Lage der Unternehmen so was vonrealitätsfremd, dass mir einfach die Spucke wegbleibt.
Er berücksichtigt in keiner Weise die regionalen und lo-kalen Besonderheiten der Wohnungsmärkte. Nein, Grund zum Feiern gibt es heute nicht. Ihr Vor-schlag, den Sie wohl in höchster Eile vom Regierungs-entwurf abgeschrieben haben, enthält auch keine neuenIdeen. Dass er heute überhaupt auf der Tagesordnungsteht, haben Sie der Hartnäckigkeit der PDS zu verdan-ken.
Sie fühlten sich unter Druck gesetzt – und das eigentlichzu Recht. Unsere aktuellen Vorschläge liegen Ihnen al-lerdings schon seit anderthalb Jahren vor. Sie haben sichsehr viel Zeit gelassen, um überhaupt zu Potte zu kom-men. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir bereits seit1993 Jahr für Jahr die Aufhebung der Altschuldenver-pflichtung, der Zwangsprivatisierung und der Erlösab-führung gefordert haben. Jawohl, wir haben Sie genervt,aber das nicht ohne Grund. Leider haben auch Sie unse-re Warnungen und unsere Anträge in den Wind geschla-gen. Aber unsere Einschätzungen haben sich nun leiderbestätigt. Uns erreichen jeden Tag Briefe von Bürgermeistern,Kommunen, Wohnungsgesellschaften und -genossen-schaften, die uns ihre prekäre Lage schildern. Der Bür-germeister von Lauchhammer hat uns erst in den letz-ten Tagen darüber informiert, dass für die kommunaleWohnungsgesellschaft der Insolvenzverwalter bestelltwerden musste. Diese Stadt hat nur 21 000 Einwohnerund 1 600 Wohnungen stehen leer. Er bittet den Deut-schen Bundestag inständig um Hilfe und Unterstützung.Bitte lassen Sie ihn nicht im Stich. Wir wollten dieseBitte hier heute an Sie weitergeben.
Lauchhammer ist beileibe kein Einzelfall. Sie wissengenauso gut wie ich, dass ein Wohnungsleerstand vonmehr als 10 Prozent auf Dauer die Existenz der Woh-nungsunternehmen gefährdet. Davon gibt es im Ostennoch viele. Die Lage ist also ernst, auch wenn der HerrStaatsminister meint, dass ihm kein Wohnungsunter-nehmen bekannt ist, das konkursgefährdet sei. Ich kannmir überhaupt nicht vorstellen, dass er die Situationnicht kennt. Aber er verdrängt offensichtlich wider bes-seres Wissen. Da nützt meines Erachtens auch eine Kommissionnichts, die bis Ende dieses Jahres den strukturellenWohnungsleerstand im Osten untersuchen soll. Die Fak-ten sind doch bekannt. Nach all dem, was ich heute vonIhnen gehört habe, kann ich nur sagen: Der Lobeswortesind genug gewechselt, lassen Sie uns endlich Taten se-hen!
Dem Problem der Altschulden ist mit den vorgese-henen Maßnahmen nicht mehr beizukommen. Deshalb,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, sei-en Sie mutig und konsequent und folgen Sie unserenVorschlägen.Erstens. Der Schlussstrich unter die Privatisierungmuss endgültig und uneingeschränkt zum Stichtag31. Dezember 1999 erfolgen, ohne weitere Erlösabfüh-rungen.
Zweitens. Streichen Sie die Altschulden auf leer ste-henden Wohnraum.Drittens. Befreien Sie die Wohnungsunternehmenvon Altschulden für den Wohnraum ehemals restituti-onsbehafteter Objekte, und das von Anfang an undnicht, wie Sie es vorschlagen, erst zum Stichtag 31. De-zember 1999.Viertens. Heben Sie endlich die Sanktionen auf, dieden Unternehmen bei Nichterfüllung der Privatisie-rungspflicht drohen.Treiben Sie die Wohnungsunternehmen bitte nicht inden Ruin. Das darf und sollte nicht die Absicht IhresFranziska Eichstädt-Bohlig
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Gesetzentwurfes sein. Deshalb sehen wir dringendenÄnderungsbedarf. Nur eine sofortige endgültige Lösungbringt den Wohnungsunternehmen eine Chance zu über-leben.Lassen Sie uns die unendliche Geschichte des Alt-schuldenhilfe-Gesetzes endlich zu einem verträglichenEnde bringen. Das wird von uns allen verlangt und Siekönnen dazu beitragen.Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat Kollege Peter Danckert von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren Kollegen! Frau Ehlert, ich weißnicht, den wievielten Versuch Sie heute unternommenhaben, mit Ihren Anträgen alles auf den Kopf zu stellenund eine zugegebenermaßen nicht sehr praktikable Re-gelung, das Altschuldenhilfe-Gesetz, nun mit einem Fe-derstrich aus den Angeln heben zu wollen. Das gehtnicht. Sie können nicht eine gesetzliche Regelung, dieSie nicht zufrieden stellt und die auch mich nicht zufrie-den gestellt hat, nun mit einem Federstrich beseitigenwollen und damit neues Unrecht und unendliche vieleProbleme schaffen, über die wir ja schon geredet haben.Deshalb verzichte ich darauf, auf diesen Vorschlag wei-ter einzugehen.Verehrter Herr Kollege Kansy, nehmen Sie es mirheute an diesem Abend nicht übel, wenn ich auf IhreIdee der mittelbaren Belegung nicht eingehe. Das ist fürmich nicht das Thema.
– Für mich ist es nicht das Thema. Für mich als einenAbgeordneten aus den neuen Ländern ist das ohne jedeRelevanz. Für mich ist heute die zentrale Frage: Wie können wirdie vielen Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten, dieim Zusammenhang mit dem Altschuldenhilfe-Gesetznun einmal in den letzten Jahren auf den Weg gebrachtworden sind, reparieren?Wie ist die Situation beispielsweise in meinem Wahl-kreis? Ich kann das besser beurteilen; Sie kommen ausNiedersachsen. In meinem Wahlkreis herrscht durchwegeine hohe Arbeitslosigkeit, in der Kreisstadt von fast25 Prozent. In dem Wohnungsunternehmen, das in derKreisstadt ansässig ist, besteht ein Leerstand von über35 Prozent. Es handelt sich um strukturschwache Gebie-te.Das ist die Situation, und deshalb müssen wir – ichbin sehr froh, dass Staatsminister Rolf Schwanitz heutehier anwesend ist – auch unter dem Stichwort „AufbauOst“ an dieser Stelle noch einmal ansetzen; denn dasGanze hat etwas mit dem Aufbau Ost zu tun. Vielleichtist es nicht das allerletzte Mal, aber ich hoffe, dass wirmit dem von den Koalitionsfraktionen eingebrachtenGesetzentwurf einen wesentlichen Schritt weiterkom-men.
Weshalb kommen wir weiter? Weil der Schlussbe-scheid auf den 31. Dezember 1999 vorgezogen wird unddamit für viele, viele Fälle Rechtssicherheit geschaffenworden ist und wir in der Lage sind, den Wohnungsun-ternehmen zu sagen: Jetzt seid ihr in einer besseren Situ-ation und könnt an dieser Stelle neu beginnen. – Das istdoch das Wesentliche an der Sache.
Es geht darum, neu zu beginnen, um endlich aus dieserSituation herauszukommen. Ich kann mir nicht vorstellen, Herr KollegeGuttmacher, dass Sie an dieser Stelle irgendetwas Bes-seres werden entwickeln können. Ich bin sehr gespannt,wenn Sie mit Ihrem Entwurf kommen.
– Da sind wir uns offensichtlich einig, und dann könnenSie ja in diesem Punkt zustimmen.Wir haben also den Schlussbescheid vorgezogen. Wirhaben im Laufe der nächsten Woche – ich sage das ausmeiner ganz persönlichen Anschauung – vor Ort nocheinige zusätzliche Probleme zu diskutieren. Ich bin sehrfroh, dass wir eine Sachverständigenanhörung habenwerden. Dann werden wir sehen, welche ganz konkretenProbleme den Wohnungsunternehmen in den neuenLändern auf den Nägeln brennen und wie sie unsereVorschläge bewerten. Dann werden Sie sehen, dass un-sere Vorschläge weitgehend auf Zustimmung stoßenwerden.Ohne jeden Zweifel haben wir das Problem zu lösen,ob die Unternehmen nicht erfüllte Privatisierungsquo-ten zu vertreten haben oder nicht. Ich hoffe sehr stark,dass es im Rahmen der Beratung in den Ausschüssenhier zu einer sehr praktikablen Lösung kommen wird. Eskann nicht sein, dass wir einerseits den Schlussbescheidvorziehen und andererseits in endlose Auseinanderset-zungen mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau darübergeraten, ob es von den Wohnungsunternehmen in derkonkreten Situation zu vertreten war, dass sie ihre Priva-tisierungsquote nicht erreicht haben. Hier denke ich zumBeispiel daran – darüber sollten wir dann gemeinsamnachdenken –, dass es zu einer Umkehr der Beweislastkommt: Wenn die Unternehmen vortragen, was sie un-ternommen haben, dann muss die Kreditanstalt für Wie-deraufbau belegen, dass sie ihrer Verpflichtung schuld-haft nicht nachgekommen sind. So herum muss es ge-hen; das schafft dann schneller Rechtssicherheit. Viel-leicht fällt uns im Rahmen der Beratung auch noch et-was noch Vernünftigeres und Praktikableres ein, damitwir an dieser Stelle wirklich Klarheit bekommen.
Heidemarie Ehlert
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Ein weiteres Problem, meine Damen und Herren, se-he ich im Zusammenhang mit dem Ablösungsbetrag.Im Moment sind 200 DM im Gespräch. Wir sollten unseinmal von den Betroffenen anhören, ob das wirklich ei-ne realistische Größe ist.
– Ich danke für den Zuspruch. – Wir werden prüfenmüssen, ob der Betrag unter wirtschaftlichen Gesichts-punkten vertretbar ist; denn es hat ja keinen Zweck, dasswir eine Summe ins Gesetz hineinschreiben, die dannentweder neue wirtschaftliche Probleme schafft oderüberhaupt nicht zu realisieren ist. Auch an dieser Stellesind wir alle gemeinsam gut beraten, im Interesse derWohnungsunternehmen in den neuen Ländern nocheinmal darüber nachzudenken, ob das der richtige Wegist.
Insgesamt sind die verschiedenen Maßnahmen, diewir hier vorgeschlagen haben, wirklich gut geeignet, umnach vielen Jahren der Mühe für den Rest der Woh-nungsunternehmen eine vernünftige Lösung zu schaffen.Unter dem Strich bleibt aber immer noch das ThemaLeerstand. Wir werden es mit unserem Entwurf nichtlösen können. Dieses Themas nimmt sich eine Struktur-kommission an und ich kann nur hoffen, dass dieseKommission sich nicht allzu viel Zeit nimmt; denn die-ses Problem muss in den neuen Ländern dringend ge-klärt werden. Bekämen wir das gemeinsam hin, wäreauch das ein Beitrag zum Aufbau Ost.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Norbert Otto von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Herr Danckert, erlauben Siemir eine Vorbemerkung: Wenn Herr Kansy über dasWohnungsbindungsgesetz redet, dann ist das völlig le-gitim und nicht am Thema vorbei. Natürlich liegt mir alsOstdeutscher das Altschuldenhilfe-Gesetz näher. Aberdas von Herrn Kansy angesprochene Thema stand eherauf der Tagesordnung als Ihre Gesetzesnovelle. WennHerr Kansy darüber redet, dann kann man es nicht so ab-tun, als gehörte es nicht zum Thema.
– Nein, Sie haben das hier so abgetan, als hätte HerrKansy am Thema vorbeigeredet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach wiederholtenAnkündigungen liegt endlich ein Entwurf der Koalitionzur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes vor. Zu-sammengefasst lässt sich das Prozedere kurz vielleichtso beschreiben: langen Anlauf genommen, zu kurz ge-sprungen, aber wenigstens in die richtige Richtung.Frau Eichstädt-Bohlig, Sie haben gesagt, es habe so lan-ge gedauert, weil es so schwierig war, den Konsens mitden Ländern zu finden. Der Konsens mit den Ländern istnicht vorhanden. Ich erinnere Sie an die gestrige Bun-desratssitzung. Dabei ist ganz deutlich geworden, wieviel Arbeit noch zu leisten ist, um einen Konsens mitden Ländern herbeizuführen.
Wir beschäftigen uns aus gutem Grund mit diesemGesetz zum wiederholten Male. Das 1993 verabschiede-te Altschuldenhilfe-Gesetz hat sich in seinen Grundzü-gen bewährt. Liebe Kollegen von der Koalition, auchSie haben das in Ihrem Entwurf zum Ausdruck gebracht.Der Regierungsentwurf zieht doch eine positive Bilanzdes Altschuldenhilfe-Gesetzes.Demnach wurden Wohnungsunternehmen in denneuen Ländern mit 28 Milliarden DM entlastet plus5 Milliarden DM Zinsdienst. Die Wohnungsunterneh-men bekamen so den Spielraum für dringend notwendi-ge Modernisierungs- und Instandsetzungsmaßnah-men. Insgesamt – das ist eine Zahl aus Ihrem Entwurf;das müssen wir doch nicht verstecken, das können wirdoch einmal sagen – sind 90 Milliarden DM für Instand-setzungs- und Modernisierungsmaßnahmen per annumeingesetzt und realisiert worden. Das ist eine Zahl, dieohne die Entschuldung der Wohnungsunternehmen nichtzu verwirklichen gewesen wäre. Das erkennen auch Siean. Das ist ja in Ordnung.
Die Wohnungswirtschaft schätzt, dass 80 Prozent derPrivatisierungsauflage erfüllt worden sind. Was gab eshier nicht alles für Aufschreie, das sei niemals realisier-bar. Die 20 Prozent, die übrig sind, sind unser Problem.Damit müssen wir uns wirklich ernsthaft beschäftigenund das tun wir auch.Der Lenkungsausschuss hat sehr praxisnah das Alt-schuldenhilfe-Gesetz begleitet und wir haben die Ent-scheidung des Lenkungsausschusses in unserem Aus-schuss unterstützt und zum Teil auch angeregt. Manmuss ebenfalls sagen: Das Gesetz ist nicht als starreEinheit betrachtet worden; vielmehr haben wir uns ander Wirklichkeit entlanggehangelt und dieses Gesetzesflexibel gestaltet.Bereits 1998 wurde jedoch deutlich, dass eine erneuteNovellierung des Gesetzes notwendig wird. In diesemZusammenhang möchte ich auf eine Debatte vom April1998 zum Thema Altschuldenhilfe verweisen. WennSie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koaliti-on, sämtliche Forderungen, die Sie damals als Oppositi-on gestellt haben, in den heutigen RegierungsentwurfDr. Peter Danckert
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hineingepackt hätten, dann, glaube ich, könnten wir die-sen Entwurf fast unisono heute verabschieden.
Sie haben damals Forderungen aufgestellt, die wir sonicht mittragen wollten. Heute sind diese Forderungenin Ihrem Entwurf nicht mehr enthalten. Lesen Sie einmaldas Protokoll der Debatte vom April 1998 nach! WennSie das tun, dann finden Sie alles, was wir heute nochanmahnen werden.
Sie bleiben mit Ihrem heutigen Entwurf hinter Ihrenselbst gesteckten Forderungen zurück.
– Sie sind aber heute Regierungskoalition. Wir sind ab-gewählt worden, weil Sie besser sein wollten.In Ihrem Entwurf ist zu begrüßen – das gebe ich ger-ne zu, weil es auch unseren Forderungen entspricht –,dass die Erteilung des Endbescheides für erfolgreichePrivatisierung um vier Jahre vorgezogen wird. Dadurcherhalten die Wohnungsunternehmen Planungssicherheit;sie müssen keine Rücklagen mehr bilden und sie habenmehr Bewegungsfreiheit in ihren baulichen Aktivitäten.Auch die ersatzweise Zahlung an den Erblastentil-gungsfonds für die Ablösung von Privatisierungspflich-ten ist positiv zu beurteilen. In dieser Frage stimme ichHerrn Danckert aber darin zu, dass die Größenordnungder abzuführenden Ersatzbeiträge – auch darüber soll-ten wir noch einmal reden; dazu haben wir im Aus-schuss sicherlich ausreichend Zeit – noch einmal über-dacht werden sollte.Die seit zwei Jahren zu verzeichnende Situation warseinerzeit nicht absehbar. Wir haben es mit einem höhe-ren Bevölkerungsrückgang, einer hohen Arbeitslosig-keit, großen Leerständen und der Nichtinanspruchnahmevon Restitutionen zu tun. Das hat die Situation derWohnungsunternehmen dramatisch verschlechtert.Das Beispiel der Stadt Lauchhammer ist ja bereitsangeführt worden. Auch uns und nicht nur der PDS hatder Bürgermeister dieser Stadt geschrieben.
Diese Stadt war vom Braunkohlentagebau der DDRgeprägt. Der Braunkohlentagebau ist ja bekanntermaßensehr zurückgegangen. Lauchhammer hat heute infolgeeines Wohnungsleerstandes von circa 17 Prozent, einesBevölkerungsrückganges von 18 Prozent und einer ex-trem hohen Arbeitslosigkeit ein großes Problem.Meine Damen und Herren, auf einer Konferenz mit Wohnungsunternehmen in Auerbach am18. März dieses Jahres sind Ihnen, Herr StaatsministerSchwanitz – Sie waren ja anwesend –, eine ganze Reihevon Problemen der Wohnungsunternehmen geschildertworden. Sie haben zugesagt, dass Sie einige dieser Prob-leme in die jetzt anstehende Diskussion über den vorlie-genden Gesetzentwurf einbringen werden. Zudem habenSie entsprechende Nachbesserungen in Aussicht gestellt.Ich halte das für richtig und denke, dass wir uns auf demrichtigen Weg befinden. Gestern haben die neuen Länder im Bundesrat deut-lich gemacht, dass der von den Fraktionen der SPD unddes Bündnisses 90/Die Grünen vorgelegte Entwurf einerNovellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes nicht aus-reicht. Vielmehr seien nach ihrer Meinung weitere Än-derungen notwendig. Auch hier besteht, so denke ich,Konsens und die von der Koalition ausgesandten positi-ven Signale sind so zu verstehen, dass wir im Ausschusseinen weit gehenden Konsens finden werden. Zum Schluss möchte ich feststellen: Selbst wenn wirim Rahmen der Nachbesserung dieses Gesetzentwurfeszu einem allumfassenden Konsens kommen, fließt denWohnungsunternehmen nicht eine Mark mehr für Bau-maßnahmen zu. Alles muss durch Eigenvermögen, überKredite und letztendlich über Mieten finanziert werden.Deshalb brauchen wir für die Unternehmen geeigneteHärtefallregelungen,
um bezahlbare Mieten zu sichern und die Unternehmenvor einem drohenden Konkurs zu schützen. Deshalbhoffen wir auf eine zügige und konstruktive Beratung. Vielen Dank.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
A
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchtemit dem Antrag der CDU/CSU beginnen. Wenn HerrKansy mir zuhört, erhält er heute sogar noch eine Ant-wort auf den mit seiner Unterstützung vorgelegten An-trag. Denn wir sollten so fair sein, alle eingebrachtenAnträge zu würdigen. Dazu gehört eben auch der An-trag, eine Änderung im Wohnungsbindungsgesetz her-beizuführen mit dem Ziel, eine mittelbare Belegung zu-stande zu bringen. Der Antrag der CDU/CSU ist inhaltsgleich mit einemAntrag des Landes Bayern im Bundesrat.
Der Bundesrat hat aber im Januar dieses Jahres imWohnungsausschuss des Bundesrates mit den StimmenBayerns, Herr Oswald, zugestimmt, diesen Antrag zu-nächst einmal aufgrund eines Reformvorschlages, überden die Bundesregierung mit den Ländern verhandelt,Norbert Otto
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zurückzustellen. Das heißt, auch vonseiten des Bundes-rates wird die Dringlichkeit einer Änderung gesehen.Aber man sagt, es mache mehr Sinn, diesen Bausteinähnlich wie andere – weitere Bundesländer haben zudemAnträge zur Änderung des Zweiten Wohnungsbauge-setzes eingebracht – zurückzustellen und an einer Ge-samtreform zu arbeiten. Deshalb möchte ich Ihnen mitwenigen Sätzen darstellen, wie die Vorarbeiten für dieseReform verlaufen sind.Herr Kansy, Sie haben soeben mit dem Spruch„Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bilde ich einen Ar-beitskreis“ – dieser Spruch hat ja einen überaus langenBart; man braucht schon fast eine Bartaufwickelmaschi-ne im Keller, Sie kennen das ja – versucht, die Arbeitder in diesem Zusammenhang eingerichteten Arbeits-gruppe ein wenig lächerlich zu machen. Ich kann Ihnenheute nur sagen, dass ich vor den Männern und Frauen,die in dieser Arbeitsgruppe gesessen haben und gesternmit ihrer Arbeit fertig geworden sind, große Hoch-achtung habe.
Das heißt, es gibt hinsichtlich der Eckwerte einer Re-form des sozialen Wohnungsbaus Konsens. In dem Pa-pier, das der Bauministerkonferenz Ende Mai diesesJahres vorgelegt wird, steht kein völlig strittiger Punktmehr. Es enthält nach dem Motto „Dieses und jenesmüssen wir noch einmal prüfen“ einige salvatorischeKlauseln. Aber ich glaube, wir haben einen Durchbrucherzielt. Ich habe aus den Reihen der Beteiligten gehört, sie hät-ten es noch nie erlebt, dass eine Bundesregierung in ei-nem so konstruktiven Umfang mit den Ländern an einerReform gearbeitet hat.
Sie haben noch folgenden Punkt angesprochen, aufden es auch eine Antwort geben soll: Wir haben weitest-gehend nicht auf die Vorschläge der alten Bundesregie-rung eingehen können. Wir haben eine neue Definitionder Zielgruppen und eine andere Regelung für die Ein-kommensgrenzen erarbeitet. Wir haben außerdem eineandere Lösung für die Instrumente der zukünftigen För-derung gefunden. Wir haben ein Baukastensystem undwerden Klauseln einführen, die den Bestand sichern.Was die Mietpreisbindung anbelangt, war das damalseiner der Knackpunkte, warum Herr Beckstein in einemwenig freundlichen Brief Herrn Töpfer geschrieben hat,man solle eine Wohnungsreform nicht damit beginnen,die Mieten für 2,5 Millionen Wohnungen anzuheben.Alle diese Fehler werden wir nicht machen.
Die Reform des sozialen Wohnungsbaus – wir wollensie soziale Wohnraumförderung nennen, weil sie auchfür den Bestand gültig sein wird – ist auf gutem Wege.Deshalb können wir das Problem der mittelbaren Bele-gung in der nächsten Zeit anpacken.Ich komme zum Altschuldenhilfe-Gesetz. In derKoalitionsvereinbarung steht, dass wir besondere Pro-bleme der ostdeutschen Wohnungswirtschaft wie Leer-stände und Fehler im Altschuldenhilfe-Gesetz lösenwerden. Auch diesen Punkt der Koalitionsvereinbarungwerden wir wie bereits andere zuvor umsetzen. Ich freuemich auf eine wohnungspolitische Debatte. Wir könnendann die Koalitionsvereinbarung durchdeklinieren undsehen, was wir schon auf den Weg gebracht haben. Indem Zustandsbericht von Herrn Kansy hat man nur eini-ge wenige freundliche Worte über den Zustand undnichts über den Reformstau gehört. Er hat auch keinWort zum Wohngeldgesetz gesagt. Das alles werden wiraber noch nachholen können.
Bezüglich des Altschuldenhilfe-Gesetzes und derLeerstände haben wir uns in der Koalitionsvereinbarungvorgenommen, die in diesem Gesetz offensichtlich ent-haltenen Fehler, die jahrelang aufgezeigt worden sind,abzubauen. Herr Otto, bei Ihrer Vergangenheit – Sie ha-ben ja praktisch alles abgelehnt, was wir an Änderungs-vorschlägen zum Altschuldenhilfe-Gesetz im DeutschenBundestag vorgelegt haben – sollte man wenig Kritiküben. Sie haben beispielsweise gesagt: langer Anlauf,kurzer Sprung. – Wir haben einen kurzen Anlauf ge-nommen und machen einen langen Sprung. Das ist dieRealität.
Als wir an die Regierung gekommen sind, haben wirfestgestellt, dass von den 2 100 Wohnungsunternehmen,die die Altschuldenhilfe in Anspruch genommen haben,lediglich 100 einen Schlussbescheid bekommen haben.2 000 Wohnungsunternehmen mussten sozusagen unterdem Fallbeil leben und damit rechnen, einen Teil derTeilentschuldung zurückzahlen zu müssen. Inzwischenhaben schon 1 200 Unternehmen einen Schlussbescheid.Uns ist es also in weniger als einem Jahr gelungen,1 100 Wohnungsunternehmen einen Schlussbescheidzuzuleiten und somit Rechtssicherheit und Planungssi-cherheit zu geben.
Die Novelle – wir haben das schon gehört – hat dreiSchwerpunkte:Erstens. Wir werden die Laufzeit des Gesetzes vonetwas mehr als zehn Jahren radikal um vier Jahre ver-kürzen. De facto hätte sich die Laufzeit nach dem altenGesetz sogar bis zum Jahre 2004 oder 2005 erstreckt.Bis Ende 2003 wäre nämlich das Gesetz gültig gewesen.Dann hätte man Berichte erstellen müssen und es hätteeine sehr umfangreiche Prüfung von der KfW beginnenParl. Staatssekretär Achim Großmann
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müssen, sodass die Wohnungsunternehmen weitere an-derthalb Jahre verloren hätten. Deshalb macht es Sinn,dass wir das Ende auf den 31. Dezember 1999 vorgezo-gen haben.Wir wissen: Fast alles, das privatisierbar war, ist pri-vatisiert worden. Deshalb müssen wir die Unternehmenaus der Warteschleife herausholen, die zu unerträglichenEinschränkungen führt. Die Folge wäre sonst: SolangeSchlussbescheide fehlen, gäbe es Drohverlustrückstel-lungen, Probleme bei der Kreditgewährung, Liquiditäts-einschränkungen und Investitionshemmnisse sowie nichtzuletzt den bürokratischen Aufwand, dass ständig Be-richte zunächst verfasst und dann von der KfW geprüftwerden müssen. Deshalb ist es gut, dass wir den31. Dezember 1999 als Schlussdatum gewählt haben.Zweitens. Wir haben eine Ablöseregelung für die,die nicht verkaufen wollen. Der Betrag von 200 DM –Herr Otto, Frau Ehlert und Herr Danckert, Sie habendarüber gesprochen – orientiert sich nicht an der Wirt-schaftlichkeitsfrage, sondern an der Gerechtigkeitsfrage.Wir können denen, die sich jetzt freikaufen, keinen deut-lich niedrigeren Kaufpreis zugestehen als denen, die or-dentlich privatisiert haben. Das würde einen Aufschreiin der Wohnungswirtschaft geben.
Deshalb definiert sich der Betrag, den wir in das Gesetzhineinschreiben, an dem Betrag, der im Durchschnitt anAblösung geleistet worden ist. Davon sind nur wenigeWohnungsunternehmen betroffen. Deshalb bitte ich Sieherzlichst, diesen Gerechtigkeitsgesichtspunkt in derDebatte zu beachten.
Drittens. Wir haben eine Situation der negativen Res-titutionen, die sich in den letzten Jahren verschärft hat.Mit der Lösung – ich greife jetzt auf Zahlen des GdWzurück – packen wir 20 Prozent der gesamten Restituti-onsfälle. Diese letzten 20 Prozent fassen wir unter dieSchlussregelung zum 31. Dezember 1999. Das wird da-zu führen, dass nur noch wenige Unternehmen in Kala-mitäten kommen. Wir befinden uns in der Diskussion,wie man unter Umständen zu Lösungen kommt, die imEinzelfall Härtefälle vermeiden. Aber auch das wird zugewichten sein.Herr Otto, hinsichtlich der im Bundesrat gestartetenInitiative haben Sie ausgeführt, wie die Entscheidunggestern war. Heute hat das Land Sachsen im Finanzaus-schuss des Bundesrates nicht über den Antrag abstim-men lassen, sondern ihn nur zu Protokoll gegeben. Ichdenke, das ist ein Hinweis darauf, dass man erkannt hat:Das, was man einbringt, muss auch finanzierbar sein.Wir wollen also ein Gesetz vorlegen, das mehrRechtssicherheit, mehr Planungssicherheit schafft, daserhebliche Entlastungen für die Wohnungswirtschaft mitsich bringt und das damit zur Verbesserung der Investi-tionskraft und zu mehr Investitionen führt. Wir sind aufeinem sehr guten Weg.Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2763 und 14/2804 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/2983 soll zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Aus-
schuss für Angelegenheiten der neuen Länder und den
Haushaltsausschuss überwiesen werden. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit
dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen
– Drucksache 14/2958 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Horst Schmidbauer von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte mit einem Zitat aus der „Gehei-men Verschlusssache der Staatssicherheit Nr. 32/81“beginnen. Da heißt es:Das sozialistische Gesundheitswesen wurde in sei-ner Zuverlässigkeit erschüttert.Weiter heißt es:Der gesellschaftspolitische Schaden muss hocheingeschätzt werden.Und:Die folgerichtige Anerkennung der Hepatitis-erkrankungen als Impfschaden in Verbindung mitder staatlichen Haftung machte hohe finanzielleAnforderungen für die Geschädigten erforderlich.Man kann nur feststellen: wie Recht die Mitarbeiter desMinisteriums für Staatssicherheit hatten! Diese Frauen und Mütter haben erst 16 Jahre später,nach der deutschen Einheit, erfahren, dass sie durch einArzneimittel mit Hepatitis C infiziert wurden. Das warParl. Staatssekretär Achim Großmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8873
der größte Arzneimittelskandal der DDR. Alles hatperfekt geklappt. In einem Protokoll von 1979 heißt es:Die Hauptverhandlung wird unter Ausschluss derÖffentlichkeit geführt.Und weiter:Allen anwesenden Personen wird zur Pflicht ge-macht, über die Problematik dieses Verfahrensnicht zu sprechen.Was auch perfekt geklappt hat: Im Verfahren selbst trittkein Opfer auf. Heute sind die Umstände anders. Ich freue mich sehr,dass eine Delegation der beiden Selbsthilfeverbände beiuns im Bundestag ist. Wir wollen das heute im Beiseinder Opfer behandeln.
6 773 Frauen wurden mit Chargen dieses Arzneimit-tels behandelt, das aufgrund strafrechtlich relevanterVorgänge bei der Herstellung und Überwachung mitHepatitis C verseucht war. Heute möchten wir aber nichtdie Vergangenheit in den Mittelpunkt stellen, sondernheute stehen die Menschen – besser gesagt: steht dasSchicksal von 2 300 Frauen – im Mittelpunkt. Es ist dasSchicksal von 2 300 Müttern und deren Kindern, weilnicht verkannt werden darf, dass der Kinderwunsch dieeigentliche – im weitesten Sinne – Ursache dafür war,dass die Frauen dieser Zwangsimpfung ausgesetzt wa-ren, die im Herbst 1978 durchgeführt worden ist.Wenn wir das heute sehen, dann steckt hinter demLeidensweg eine 20-jährige Entwicklung; der Leidens-weg dauerte 20 Jahre. Aber heute können wir mit gutemRecht sagen, es ist Licht am Ende des Tunnels sichtbar.Deswegen ist es auch ganz klar, dass wir als sozial-demokratische Bundestagsfraktion diesen Gesetzentwurfder Regierung sehr begrüßen. Wir sind sehr froh da-rüber, dass nach dieser langen Phase diese Regierungjetzt endlich in einer kurzen Phase das umgesetzt hat,was wir bei der Vorgängerregierung über viele Jahrevermisst und bei ihr kritisiert haben.
Ich möchte auch ein ausdrückliches Dankeschön andie Ministerin und an die Staatssekretärin, Frau Nickels,sagen, dass sie die Federführung für dieses Gesetz über-nommen haben;
denn wir haben miterlebt, dass sich die Bundesländer,die in einer hohen Verantwortung gewesen sind, dieserAufgabe nicht vorrangig angenommen haben, sondernfroh waren, als seinerzeit in der Gesundheitsmi-nisterkonferenz der Beschluss ergangen ist, doch dieBundesministerin zu bitten, die Federführung zu über-nehmen. Ich glaube, wir waren darin gut beraten, weilwir jetzt ein ganz erhebliches Stück weiter sind.Aber ich denke, wir dürfen nicht vergessen, dass dieFrauen letztlich zweimal geschädigt wurden: zum einendurch die kriminellen Machenschaften dieser Institutionin Halle, die seinerzeit dieses Serum herstellte und dieseArzneimittelstraftat zu verantworten hat, zum anderenim Zuge des Übergangs in die deutsche Einheit. DerSachverhalt war so, dass es ja zu DDR-Zeiten keinenArzneimittelskandal geben durfte. Also hat man dieFrauen als Impfgeschädigte eingestuft. Mit dieser Ein-stufung sind die Frauen nach der deutschen Einheit auchin unser Rechtssystem übernommen worden. Wir wissennatürlich, dass in der Bundesrepublik die Rechtslagevöllig unterschiedlich ist, ob ich einen Impfschaden er-litten oder durch ein Arzneimittel einen Schaden zuge-fügt bekommen habe. Deswegen ist eine doppelte Schä-digung eingetreten.Jetzt ist es wichtig, dass nach zehn Jahren deutscheEinheit die Benachteiligung ein Ende hat. Es ist auchganz wichtig, dass wir dabei sehen, dass es bei den be-troffenen Frauen nicht um Fürsorgefälle geht, sonderndass sie einen gesetzlichen Anspruch auf eine Entschä-digung haben.
Ich darf nicht verschweigen, dass die Versorgungssitua-tion der Frauen zu Zeiten der DDR unberührt blieb, weildas GüK – das ist das Gesetz zur Verhütung und Be-kämpfung übertragbarer Krankheiten bei Menschen inder DDR gewesen – keinen Unterschied machte, ob da-hinter ein Straftatbestand steckte oder ob es tatsächlichnur ein Impfschaden war. Warum? – Weil dieses Gesetzdafür gesorgt hat, dass die betroffenen Frauen den vollenAusgleich der krankheitsbedingten Nettolohnausfälle er-stattet bekommen haben. Das heißt, für sie waren ihrLebensstandard und ihre Lebenssituation gesichert.Heute, in der Zeit der deutschen Einheit, ist das wirk-lich anders geworden, weil die Frauen zurzeit für einenachgewiesene medizinisch bestätigte Erwerbsminde-rung von 30 Prozent 191 DM bekommen. Eine nachge-wiesene Erwerbsminderung von 30 Prozent ist 191 DMwert! Das hat Verpflichtungen ausgelöst. Erste Verpflich-tung war, dass die sozialdemokratische Bundestagsfrak-tion bei Professor Goerlich in Leipzig ein Gutachten inAuftrag gegeben hat, weil er der Fachmann ist, der sichin diesen beiden Rechtssystemen gut auskennt. Er hatbestätigt, dass es zum einen eine Handlungspflicht gibtund zum anderen eine Gleichbehandlungspflicht. Die-se Gleichbehandlungspflicht bezieht sich auf die HCV-Infizierten und die HIV-Infizierten.Die Handlungspflicht hat heute die Bundesregierungmit der Einbringung des Gesetzentwurfs erfüllt. Damithaben wir die erste Stufe erreicht. In einer zweiten Stufeist nun dem Gleichbehandlungsgrundsatz Rechnung zutragen, der für uns gewissermaßen noch als Prüfsteingelten muss.Um dem Gleichbehandlungsgrundsatz Rechnung zutragen, war parlamentarisches Handeln notwendig, undHorst Schmidbauer
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8874 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
ich denke, es ist auch in der nächsten Stufe parla-mentarisches Handeln angezeigt. Die Gleichbehandlungspflicht hat unsere Bundestags-fraktion im Dezember veranlasst, dafür zu sorgen unddas Gesundheitsministerium dabei zu unterstützen, dassder finanzielle Rahmen geschaffen wurde. In einemKraftakt, der vor allem auf die Unterstützung von HerrnDr. Struck zurückzuführen ist, ist es dann gelungen, inder Haushaltsbereinigungssitzung zusätzlich 15 Mil-lionen DM unterzubringen. Dadurch haben wir die Re-gierung gestärkt und unterstützt, sodass sie aus diesen15 Millionen DM heraus nun die Einmalzahlung nachdiesem Gesetz leisten kann. Ich denke, das war wichtig;denn das war die Voraussetzung dafür, dass die zur Ver-fügung stehenden 10 Millionen DM für die laufendenZahlungen benutzt werden können. In den nächsten par-lamentarischen Schritten wollen wir darauf hinarbeiten,dass die Frauen tatsächlich einen Anspruch auf monatli-che Zahlungen innerhalb des vom Parlament beschlos-senen Finanzrahmens erhalten.Ein weiteres Problem mit dem Gleichbehandlungs-grundsatz besteht darin, dass im HIV-Hilfegesetz keineAnrechnung der Leistungen auf die Sozialhilfe vorgese-hen ist. Wir müssen deshalb im weiteren Verfahren prü-fen, ob wir bei diesem Gesetz ähnlich verfahren wollen.Ein dritter Gleichbehandlungsgrundsatz betrifft dieFrauen, die noch keine Erwerbsminderung von 25 oder30 Prozent nachgewiesen haben. Es kommt immer derEindruck auf, dass diese Frauen keine Entwicklung hin-ter sich hätten. Aber auch die Frauen, die heute nochkeinen entsprechenden Schädigungsgrad nachgewiesenhaben, haben die akute HCV-Erkrankung hinter sich,haben die Zwangseinweisung zur stationären Behand-lung von sechs Wochen bis zu 18 Monaten hinter sich,haben die politischen Repressalien hinter sich, habenArbeitsunfähigkeit hinter sich und haben medizinischeEingriffe bis hin zu Biopsien hinter sich. Auch dieseFrauen haben also Belastungen hinter sich. Zudem sindihre Altersversorgungsansprüche nicht geregelt. Es istnotwendig, diesen Frauen aus den 15 Millionen DM, diedas Parlament bereitgestellt hat, zumindest einen Aner-kennungsbetrag zu zahlen. Ich denke, in dieser Weisemüssen wir in das Verfahren hineingehen.Am Ende meiner Rede möchte ich noch anmerken:Vielfach ist der Eindruck entstanden, es gehe um einVersorgungsgesetz. Ich hoffe, dass jetzt in Deutschlanddamit Schluss ist. Hier geht es um einen Arznei-mittelschaden, der durch Vorsatz, durch einen kriminel-len Akt entstanden ist und den es jetzt zu entschädigengilt. Die Bundesrepublik hat dreimal in solchen Fällenstaatlich handeln müssen. Ich hoffe, dass dies der letzteFall ist, bei dem wir staatliches Handeln brauchen, weilunsere Haftungsgesetze im Arzneimittelbereich nichtausreichend greifen. Wir sollten deutlich machen: Hier geht es nicht umein Versorgungsgesetz, sondern um ein Haftungsgesetz.Es ist an der Zeit, es in die Tat umsetzen. Das Leid derMütter, Kinder und Hinterbliebenen kann dadurch zwarnicht gelindert werden; aber das Leben der Betroffenenkönnte damit wesentlich erleichtert werden.
Das
Wort hat jetzt der Kollege Dr. Harald Kahl von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Vorsitzender!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allem: liebe Ver-treter der Opferverbände, die heute an unserer ersten Be-ratung zu diesem Gesetzentwurf teilnehmen! Zum wie-derholten Male befasst sich der Deutsche Bundestag miteinem Thema, das aus der traurigen Hinterlassenschaftder ehemaligen DDR resultiert. Nicht zum ersten Mal debattieren wir das Schicksalvon Tausenden Frauen aus der ehemaligen DDR.Diese hatten in der Zeit zwischen 1978 und 1979 Im-munglobulin erhalten, von denen einige Chargen mitdem Hepatitis-C-Virus verseucht waren. Die Gabe desImmunglobulins erfolgte im Rahmen einer Pflichtimp-fung in solchen Fällen, in denen Rhesus-Unverträglichkeiten verhindert werden sollten. Das ge-schah nach dem DDR-Gesetz zur Verhütung und Be-kämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen.Obwohl der verantwortlichen Behörde, dem Bezirks-institut für Blutspende- und Transfusionswesen des Be-zirks Halle, die Kontamination mit dem Hepatitis-C-Virus durchaus bekannt war, wurden die Immunglobuli-ne an die Frauen verabreicht. Das ist ein Skandal, unterdessen Folgen mehrere Tausend Frauen bis heute zu lei-den haben. Nach dem Stand vom 30. Juli 1999 sind das2 227 Frauen, 57 Kinder und acht Kontaktpersonen, beidenen die Krankheit Hepatitis C als Folge der Infektionanerkannt wurde. Dieser Vorgang ist ein Fall für das Staatshaftungs-recht; denn es handelte sich hierbei um eine staatlichverordnete Impfung. Zum Glück, sage ich, gibt es diesenStaat DDR nicht mehr. Aber – das bedrückt uns allequer durch die Fraktionen – die Opfer, die wir noch heu-te beklagen, haben unverschuldet schweres persönlichesLeid mit schlimmen gesundheitlichen, psychischen undsozialen Folgen ertragen.Zivilrechtliche Ansprüche oder Ansprüche aus Amts-haftung aus dieser Zeit sind nicht realisierbar. Für Impf-schäden greift bisher das Bundesversorgungsgesetz imZusammenhang mit dem Bundesseuchengesetz. Ansprü-che daraus und die den Geschädigten zustehenden Leis-tungen sind allerdings eher bescheiden und werden derSituation der Opfer nicht ausreichend gerecht. DieMehrheit der Betroffenen erhält monatliche Leistungenin Höhe von 191 DM bis circa 440 DM. Nur ein gerin-ger Anteil der Opfer erhält eine darüber liegende Leis-tung. Für Betroffene, deren Erwerbsminderung unter-halb 30 Prozent liegt, gibt es überhaupt keine Entschädi-gung. Meine Damen und Herren, wir sind uns in diesemHause einig, dass dies ein nicht zu tolerierender Zustandist. Den Opfern in den alten und in den neuen Bundes-Horst Schmidbauer
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ländern ist es letztlich egal, wie das Gesetz heißt, nachdem sie entschädigt werden. Nur muss es eine gerechte,dem Gleichheitsprinzip folgende Leistung sein.Bedauerlicherweise war in der vergangenen Legisla-turperiode eine akzeptable Lösung für die Hepatitis-C-Opfer parteiübergreifend nicht zu erreichen. SPD undBündnis 90/Die Grünen forderten seinerzeit die unions-geführte Bundesregierung auf, ein Gesetz auf den Wegzu bringen, das allein den Bund in der vollen und damitauch finanziellen Verantwortung sehen sollte.
– Hören Sie schön zu! – In einer am 8. November 1996von der SPD verbreiteten Presseerklärung heißt es wört-lich:Auch ein Schwarzer-Peter-Spiel aufseiten der Koa-lition führt nicht zum Ziel, wenn die Bundesregie-rung jetzt versucht, die Länder in Mithaftung zunehmen.Tatsache aber ist, dass sich der damalige Gesund-heitsminister Horst Seehofer und die ParlamentarischeStaatssekretärin Frau Dr. Bergmann-Pohl immer wiederum eine Entschädigungslösung bemüht haben. Um einerLegendenbildung vorzubeugen, zitiere ich aus demSchreiben von Horst Seehofer vom 21. März 1997 andie Bundesländer wie folgt:Ich bin bereit, über eine entsprechende Initiativeder Bundesregierung zu diskutieren, vorausgesetzt,dass alle Länder, insbesondere die alten Länder, be-reit sind, entsprechend ihrer Größe und Finanzkraftdie Kosten mit zu übernehmen.Für diese Lösung aber war eine finanzielle Beteili-gung der Bundesländer nicht zu erreichen. Auch das ge-hört zur Wahrheit: Diese Beteiligung haben mehrheitlichdie SPD-geführten alten Bundesländer stets verweigert.
Der schwarze Peter, von dem Sie, Herr KollegeSchmidbauer, sprachen, ist demnach nicht bei der ehe-maligen Bundesregierung, sondern in den Reihen derSPD zu suchen.
Tatsache ist auch, dass trotz Einsetzung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe das Thema bis zu den letztenBundestagswahlen verschleppt wurde. Nach nahe lie-genden Gründen zu suchen fällt nicht schwer.Nun hat die Bundesregierung einen Entwurf für einAnti-D-Hilfegesetz vorgelegt. Wir begrüßen das undnehmen mit einiger Genugtuung zur Kenntnis, dassnunmehr ein Gesetzentwurf vorliegt, der genau das be-inhaltet, was seinerzeit von uns vorgeschlagen wurde,nämlich die finanzielle Beteiligung aller Bundesländerbei der Lösung dieses Problems.
Auch eine späte Einsicht ist immer willkommen. Keinerwird sich mehr darüber freuen als die Betroffenen, dieheute hier anwesend sind. Nicht neu an diesem Gesetz ist also, um HerrnSchmidbauer zu zitieren, die Mithaftung der Länder.Neu aber ist, dass Sie sich nun dazu bekennen. DieMehrheitsverhältnisse im Bundesrat haben sich ein we-nig verschoben. Plötzlich ist der Weg für ein Gesetz frei.Das macht deutlich, dass die unionsgeführten Ländereben nicht die Blockadepolitik der SPD fortsetzen,
sondern konstruktiv an einer Lösung mitzuarbeiten be-reit sind, die der Situation der Betroffenen Rechnungträgt.
Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir heute in ers-ter Lesung behandeln, geht von einer hälftigen Finanzie-rung von Bund und Ländern aus. Ausgehend von diesem50-prozentigen Länderanteil entfallen auf die alten Bun-desländer 12,4 Prozent und auf die neuen Bundesländer37,6 Prozent der Gesamtkosten. Das Gesetz sieht imEinzelnen monatliche Renten in Höhe von 500 DM bis2 000 DM, Einmalzahlungen in Höhe von 7 000 DM bis30 000 DM je nach Grad der Einschränkung der Er-werbsfähigkeit und schließlich auch eine Hinterbliebe-nenversorgung vor. Zur Ergänzung und Absicherung derHilfe sieht das Gesetz für diese Rentenleistungen einejährliche Dynamisierung vor, die an die Dynamisierungder gesetzlichen Rentenversicherung geknüpft ist. InAnbetracht der nebulösen Rentenpläne der Bundesregie-rung ist mir allerdings schleierhaft, wie diese Dynami-sierung tatsächlich funktionieren soll.Meine Damen und Herren, wir als Opposition werdenuns einer konstruktiven und zügigen Beratung nicht ent-ziehen, weil auch wir der Meinung sind, dass nunmehrendlich gehandelt werden muss. Man könnte meinen,damit sei alles in Ordnung. Dem ist allerdings nicht so.Zu dieser Erkenntnis muss man kommen, wenn mansich den Antrag des Bundeslandes Niedersachsens zuTagesordnungspunkt 7 auf der heutigen 729. Sitzung desFinanzausschusses des Bundesrates ansieht, in dessenBegründung ausgeführt wird, dass die Zuständigkeit fürdie Durchführung des Gesetzes und damit die anteiligeKostentragungspflicht ausschließlich bei den neuenLändern liegt. Weiter heißt es: Davon abgesehen ist der vorgesehene Beteiligungs-satz von 12,4 % für die alten Länder sowie der Ver-teilungsschlüssel unter den alten Ländern nichtnachvollziehbar.
Das ist mehr als nur merkwürdig. Will man jetzt aufeinmal wieder zurückrudern? Einerseits begrüßt manden Gesetzentwurf; wenn es aber andererseits darumgeht, sich an den finanziellen Konsequenzen zu beteiligen,Dr. Harald Kahl
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8876 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
möchte man sich aus der Verantwortung stehlen. Sankt Florian lässt grüßen, meine Damen und Herren.
Obwohl das Schicksal der HCV-geschädigten Frauen,Kinder und Familienangehörigen nicht direkt mit demdes Schicksals von HIV-Geschädigten in den alten Bun-desländern vergleichbar ist, scheint es dennoch nur rechtund billig, dass für die Hepatitis-C-Opfer eine Lösunggefunden wird, die sich an das HIV-Hilfegesetz anlehnt. Um in Zukunft Fälle wie die Skandale um HIV- undHCV-Infektionen zu vermeiden, ist es an der Zeit, dasArzneimittelhaftungsrecht so auszugestalten, dass diemöglicherweise von gesundheitsschädigenden Arznei-mitteln Betroffenen in Zukunft eine echte Chance erhal-ten, ihre berechtigten Forderungen durchzusetzen. In dervergangenen Legislaturperiode haben sich SPD undGrüne vehement für ein entsprechendes Gesetz ausge-sprochen. Die Bundesregierung ist nunmehr in derPflicht, es auf den Weg zu bringen. Ich danke Ihnen.
Als
nächste Rednerin hat die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Christa Nickels das Wort.
C
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Bereits mehrals 20 Jahre liegt der größte Arzneimittelskandal in derehemaligen DDR zurück, bei dem mehrere Tausend, vorallem Frauen, mit Hepatitis C infiziert worden sind. Seitmehr als zehn Jahren wird über eine bessere Entschädi-gung der im Rahmen einer Anti-D-Immunprophylaxemit Hepatitis C infizierten Frauen diskutiert. Ich bin sehr froh, dass es in einer gemeinsamenKraftanstrengung von Bund und Ländern nun endlichgelungen ist, eine gesetzliche Grundlage für die mate-rielle Absicherung der Betroffenen vorzulegen. Die be-troffenen Frauen haben nicht nur großes Leid durchge-macht und machen es nach wie vor durch, sie habenauch eine lange Zeit hinter sich, in der sie dafür kämpfenmussten, dass überhaupt anerkannt wurde, dass sie Op-fer einer Straftat wurden und ihnen deshalb Entschädi-gungsleistungen zustehen. Die rot-grüne Bundesregierung hat versprochen, diematerielle Situation der Opfer zu verbessern. Sie hat sichsofort nach der Regierungsübernahme an die Arbeit ge-macht und sie hat ihr Versprechen gehalten.
Das jahrelange unerfreuliche Hin und Her zwischenBund und Ländern wurde endlich zum Abschluss ge-bracht. Das ist nicht zuletzt auch dem unermüdlichenEinsatz von Bundesgesundheitsministerin AndreaFischer zu verdanken. Herr Kollege Kahl, wir sind ja nun in der Situation,sämtliche Akten und Unterlagen zu sehen. Es ist nichtso, dass das an den Ländern gescheitert wäre. Es ist sogewesen, dass der Kollege Seehofer, der frühere Minis-ter, bei seinem Kollegen Waigel nicht durchgedrungenist, den Anteil, den der Bund tragen sollte, überhauptetatisiert zu erhalten. Er hat immer wieder darum gebe-ten und keine definitive Zustimmung erhalten. Das ge-hört auch zu dieser traurigen Geschichte. Dazu sollteman redlicherweise stehen. Ich hatte nicht vor, das hieranzumerken, aber ich muss das jetzt sagen.
Vonseiten der rot-grünen Bundesregierung haben wirden Bundesanteil frühzeitig etatisiert, und zwar unmit-telbar nach Antritt von Minister Eichel. Vorher war esauch zugesagt – aber, wie gesagt, es ist im April pas-siert. Damit haben wir Rückenwind für die zuständigenMinister in den alten wie auch in den neuen Ländern er-zeugen können, sodass am Ende auch die Landesfi-nanzminister ihre Zustimmung zu diesem Gesetz signa-lisiert haben. Es waren die Länder, auch die neuen Bundesländer,die die Bundesregierung und Ministerin Fischer gebetenhaben, das Gesetzgebungsverfahren zu übernehmen. DieBundesgesundheitsministerin hat das vor der Gesund-heitsministerkonferenz im Juni 1999 zugesagt, damit daslange Warten der Frauen endlich ein Ende hat.Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Betroffenenwerden nun eine monatliche Rentenzahlung, die nachdem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit gestaf-felt ist, zwischen 500 und 2 000 DM erhalten. Die Be-träge werden jährlich dynamisiert. Die Rentenhöhe stellteine deutliche Verbesserung zum Status quo dar, beidem die Grundrenten lediglich zwischen 191 und996 DM liegen.Darüber hinaus ist eine Einmalzahlung vorgesehen,die auch die Geschädigten mit einer Minderung der Er-werbsfähigkeit zwischen 10 und 20 Prozent umfasst.Diese zusätzliche Leistung trägt sowohl dem humanitä-ren Aspekt als auch dem SchmerzensgeldgedankenRechnung. Die Finanzierung der Renten erfolgt hälftig durchBund und Länder. Der Bund trägt die Einmalzahlung al-lein. Der Betrag von 15 Millionen DM für die Einmal-zahlung ist auf Initiative des Haushaltsausschusses fürden Bundeshaushalt 2000 zur Verfügung gestellt wor-den. Meine Damen und Herren, das Leid, das den Frauenzugefügt worden ist, ist mit Geld sicherlich nicht aufzu-wiegen. Deshalb habe ich großes Verständnis dafür,wenn die Betroffenen für weitere Verbesserungen kämp-fen. Wir haben inzwischen jedoch auch Rückmeldungenaus dem Kreis der Betroffenen erhalten, dass es Einver-ständnis mit dem vorgelegten Gesetzentwurf gibt. Siehaben vor allem den Wunsch, dass das Gesetz schnell inKraft tritt, damit sie die Leistungen endlich in Anspruchnehmen können. Dr. Harald Kahl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8877
Jeder, der diese Leistungen – gut gemeint – weiteraufstocken will, läuft Gefahr, dass die ausgewogene Ba-lance dieses sehr komplexen Systems von Hilfe und Fi-nanzierung erneut ins Wanken gerät. Der mühsam her-gestellte Konsens zwischen den verschiedenen zu betei-ligenden Akteuren, zwischen den alten und den neuenBundesländern und zwischen den verschiedenen zustän-digen Bundesministerien, könnte sonst zerbrechen. Dennman muss wissen, dass der Hauptgrund für die langeDauer des Verfahrens eben gerade in dieser Komplexitätliegt. Die alte Regierung ist an dieser Aufgabe geschei-tert mit der Folge, dass die Frauen nunmehr seit zehnJahren auf eine Verbesserung ihrer Situation wartenmüssen. Auch eine andere Forderung der Betroffenen, dieRentenzahlungen – so wie das bei den Einmalzahlungender Fall ist – von der Anrechnung bei Sozialleistungenfreizustellen, ist aus der Sicht der Einzelnen absolutnachvollziehbar und wurde vom Gesundheitsministeri-um unterstützt. Nach Auffassung der Länder – und zwaraller Länder – und der anderen zuständigen Ministerienhätte dies jedoch eine Privilegierung gegenüber anderenRentenempfängern bedeutet und war deshalb nichtdurchsetzbar. Immerhin haben wir erreicht, dass dieLeistungen nur zur Hälfte angerechnet werden. Auch die Forderung, diejenigen, die zwar Hepatitis-C-infiziert, aber nicht manifest erkrankt und damit ebennoch nicht erwerbsgemindert sind, an der Einmalzah-lung zu beteiligen, ist intensivst erörtert worden. Dabeiist jedoch zu berücksichtigen, dass der Haushaltsaus-schuss des Bundestages die 15 Millionen DM als ein-deutige Obergrenze für die Einmalzahlung festgelegthat. Verbesserungen zugunsten einer bislang nicht ein-bezogenen Gruppe müssten also zu Verschlechterungenbei allen Übrigen führen.Außerdem hat sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe –und zwar alle Bundesländer, die neuen und die alten,unabhängig von der Farbe der Partei, die regiert – striktgegen diese Regelung ausgesprochen. Das Arbeits-ministerium sprach sich ebenfalls dagegen aus mit demHinweis auf das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz; denndanach werde den ehemals Gefangenen bei einer Min-derung der Erwerbsfähigkeit von Null auch keine Leis-tung gewährt. Im Übrigen sei eine derartige Regelungim Vergleich zu den anderen Gesetzen unsystematisch,da keine manifeste Erkrankung vorliege.Nach langen Jahren zermürbenden Kämpfens undWartens für die betroffenen Frauen sind wir nun endlichmit einem Gesetz auf der Zielgeraden, das den Betroffe-nen eine schnelle und erhebliche Verbesserung ihrer ma-teriellen Situation bringen kann. Das hängt von der zü-gigen Beratung in Bundestag und Bundesrat ab, aber vorallem davon, dass sich keiner der Beteiligten nunklammheimlich aus der gemeinsamen Verantwortungstiehlt.Deswegen bin ich über das Ergebnis der Probeab-stimmung im Unterausschuss, Herr Kollege Kahl, desFinanzausschusses des Bundesrates von vorgesternalarmiert, das ein Ausscheren aus der gemeinsamenZahlungsverpflichtung bedeutet hätte. Erfreulicherweiseaber hat das Land Niedersachsen diesen Antrag heute imFinanzausschuss des Bundesrates nicht eingebracht.
Dies geschah allerdings mit der Begründung:Die verfassungsrechtlichen Bedenken werden imInteresse der vom Gesetzentwurf Betroffenen undim Hinblick auf die vergleichsweise geringfügigenfinanziellen Auswirkungen für die Länder zurück-gestellt.Der Finanzausschuss entschied einstimmig, im Bundes-rat keine Einwände zu erheben.Es gilt nun, dieses Einvernehmen zu erhalten. Jetztmuss alles getan werden, damit das Gesetz zügig, sicherund mit Erfolg ins Ziel kommt.Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Dieter Thomae von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass
dieses Problem nun endlich gelöst worden ist. Wir hat-
ten in der alten Bundesregierung ausgesprochen große
Schwierigkeiten mit den einzelnen Bundesländern, diese
Fälle zu lösen. Das wissen Sie alle. Es gab eine Anzahl
von Bundesländern, die nicht bereit waren, auf unsere
Vorschläge einzugehen.
Daher ist es gut, dass diese Entscheidung jetzt gefal-
len ist. Ich wünsche mir, dass alle Bundesländer auch in
Zukunft diese Entscheidung mittragen werden und nicht
auf die Idee kommen, wieder auszuscheren.
Ich bin dem Haushaltsausschuss ausgesprochen
dankbar, dass er bereit ist, auch aus menschlichen Grün-
den, die dringend notwendig waren, die
15 Millionen DM zur Verfügung zu stellen, damit diese
Thematik endlich richtig organisiert und den Betroffe-
nen geholfen werden kann. Von daher freue ich mich,
über diese Entscheidung.
Herzlichen Dank.
Als letz-
te Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kol-
legin Dr. Ruth Fuchs von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Infolge schuldhaf-ten Verhaltens leitender Mitarbeiter eines Blut-spendeinstitutes erkrankte in der DDR in den Jahren1978/79 eine große Zahl von Frauen an Hepatitis C. SieParl. Staatssekretärin Christa Nickels
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8878 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
hatten zur Vorbeugung der Neugeborenengelbsucht vi-renverseuchte Immunglobuline erhalten.Die Betroffenen wurden nach den akuten medizini-schen Behandlungen in eine fachärztliche Langzeit-betreuung aufgenommen. Sie erhielten Entschädi-gungsleistungen, die auf einen vollen Nettolohnaus-gleich bei krankheitsbedingten Ausfällen und unge-schmälerte Rentenansprüche zielten. Die gesund-heitlichen und sozialen Folgen waren und sind für dieFrauen schwerwiegend. Einige stehen vor unmittelbarlebensbedrohlichen Auswirkungen der erlittenen Schä-digung.Mit den Verhandlungen über den Einigungsvertragwurde diese spezielle Problematik in die Obhut derBundesregierung übergeben, die sie als Impfschäden inbundesdeutsches Recht überführte. Es zeigt sich jedoch,dass die damit verbundenen Entschädigungsregelungender Situation der Frauen nicht gerecht wurden. Zu be-grüßen war deshalb, dass sich schließlich alle Fraktionendieses Hauses dafür aussprachen, die Entschädigungs-leistungen deutlich zu verbessern und ein spezielles Hil-fegesetz als eigenständige Rechtsgrundlage zu schaffen.Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Dr. Kahl, möchte ich Fol-gendes betonen: Gerade die SPD-Fraktion hat sich umdas Zustandekommen dieses Gesetzes große Verdiensteerworben. In Anbetracht der Situation der BetroffenenParteipolemik zu betreiben finde ich beschämend.
Trotz meines Lobes: Ich finde es sehr bedauerlich –ich glaube, das gilt auch für die Betroffenen –, dass derjetzt vorliegende Kabinettsentwurf erneut große Enttäu-schung bei den Frauen ausgelöst hat. In Gesprächen, dieich mit den betroffenen Frauen geführt habe, ist mir dasbestätigt worden; denn viele Regelungen des Kabinetts-entwurfs beruhen noch immer auf der Fassung von1998, die bereits – das ist schon erwähnt worden – zuZeiten der Vorgängerregierung erarbeitet wurde. Damalshaben SPD und Bündnisgrüne genauso wie wir dieseFassung als nicht ausreichend und unannehmbar be-zeichnet.Der Beschluss des Haushaltsausschusses vom Herbstdes vorigen Jahres brachte ohne Frage einen wesentli-chen Fortschritt. Auf seiner Grundlage konnten die Ein-malzahlungen erhöht werden. Aber das wichtigste Zielist mit der Kabinettsvorlage eben nicht umgesetztworden. Dieses Ziel besteht darin, die bisher als nichtangemessen betrachteten monatlichen Zahlungen im un-teren Bereich entsprechend anzuheben. Gerade dieseForm der Hilfe ist für die Frauen und ihre Familien be-sonders wichtig. Darüber hinaus ist auch unverständlich, dass dieFrauen künftig keinen Anspruch mehr auf die gesund-heitlichen und pflegerischen Leistungen haben sollen,die ihnen bisher nach dem Bundesversorgungsgesetz zu-stehen. Damit wären deutliche Schlechterstellungen beiKuren und Pflegeleistungen nach Dauer und Höhe sowieanderes mehr verbunden.Ebenfalls nicht nachvollziehbar ist für die Betroffe-nen die Tatsache, dass die monatlichen Rentenzahlun-gen hälftig auf die Sozialhilfe oder andere Sozialleistun-gen angerechnet werden sollen. Angesichts der für Bundund Länder nun wahrlich nicht sehr großen Gesamt-summe – das ist hier auch schon gesagt worden – müs-sen solche Einschränkungen nicht nur als unangemes-sen, sondern auch als unnötig erscheinen.
Wir wollen – auch das haben alle Vorredner betont;darüber sind wir uns einig – dafür sorgen, dass die Frau-en die Entschädigungen, die ihnen zustehen, auch be-kommen. Ich hoffe, dass es im Rahmen der Ausschuss-beratung eine Anhörung geben wird. Ich hoffe auch imInteresse der Betroffenen, dass die notwendigen Nach-besserungen eingearbeitet werden und wir dann ein Ge-setz verabschieden können, das dafür sorgt, dass dieUngerechtigkeit aus den kriminellen Handlungen derehemaligen DDR die betroffenen Frauen nicht bis an ihrLebensende verfolgt. Ich danke Ihnen.
Ichschließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-entwurfs auf Drucksache 14/2958 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Fraktion der PDS Aufhebung der Sanktionen gegen die Bundes-republik Jugoslawien – zu dem Antrag der Fraktion der PDS Schiffbarmachung der Donau und Wieder-aufbau der zerstörten Donaubrücken – zu dem Antrag der Fraktion der PDS Aufhebung des Ölembargos gegen Jugosla-wien – Drucksachen 14/2387, 14/2388, 14/2573,14/2996 –Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Helmut Lippelt Dr. Helmut Haussmann Wolfgang GehrckeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Mit Ausnahme des Kollegen Wolfgang Gehrcke vonder PDS-Fraktion wünschen alle Redner, ihre Reden zuDr. Ruth Fuchs
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8879
Protokoll zu geben.*) Ist das Haus damit einverstanden?– Das ist der Fall. Dann gebe ich das Wort dem Kollegen WolfgangGehrcke von der PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will es nicht so missver-
stehen, dass ich jetzt die ganze halbe Stunde reden kann,
die mir freundlicherweise von den Kolleginnen und Kol-
legen eingeräumt worden ist.
Nein, es
stehen Ihnen nur 5 Minuten zur Verfügung. Damit das
klar ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe es schon ge-ahnt. – Aber ich möchte erklären, warum ich meine Re-de nicht zu Protokoll gegeben habe, warum ich der Mei-nung bin, dass wir diese Debatte führen müssen, undwarum ich es bedauere, dass sich die Kolleginnen undKollegen dieser Debatte nicht live stellen: Wir diskutie-ren am Vorabend des Jahrestages des Beginns desNATO-Luftkrieges über unsere Anträge, die natürlich einenZusammenhang mit dem Kosovokrieg haben. Ich finde,es wäre eine Verpflichtung gewesen, im deutschen Par-lament diesen Anlass zu nutzen, sich in Rede und Ge-genrede damit auseinander zu setzen. Dass Sie das nichtmachen, bedauere ich außerordentlich.
Es führt aber kein Weg daran vorbei, noch einmalüber den Krieg zu reden. Ich finde, dass es – zumindestnehme ich das für mich in Anspruch – nach gründlicherPrüfung und Selbstprüfung keine moralische, politische,geschweige denn völkerrechtliche Legitimation fürdiesen Krieg gibt. Die Bundesregierung hatte diesenKrieg mit dem moralischen Argument begründet, Mord,systematische Vertreibung und ethnische Säuberung zubeenden. Eine Schlüsselstellung – auch das muss hierausgesprochen werden – nahmen dabei das Massakervon Racak und der so genannte Hufeisenplan ein. Erin-nern Sie sich an den unwürdigen Vergleich mit Ausch-witz und den Verteidigungsminister mit seinen Schau-bildern im Bundestag? Nun wird quer durch die Presse berichtet – ich zitierehier nureinmal das „Hamburger Abendblatt“ –, es gebe„viele Anzeichen, der Hufeisenplan sei nicht in Belgrad,sondern in Bonn entstanden“. Sie werden mir, liebe Kol-leginnen und Kollegen, jetzt nicht antworten können;das ist Ihr Problem. Aber was denken Sie, wenn Generala. D. Loquai und der Hamburger Friedensforscher Dieter _______*) Anlage 2Lutz zu der Wertung kommen: Der amerikanische OSZE-Missionsleiter Walkerzündete mit seiner unbewiesenen Version von Ra-cak die Lunte zum Krieg gegen Jugoslawien.Scharping löschte mit dem „Hufeisenplan“ die Kri-tik an diesem Krieg. Beide Anschuldigungen wur-den, Zweifel hin oder her, ungeprüft für wahr aus-gegeben und konnten so ihren Zweck erfüllen.Ich will noch den Kollegen Willy Wimmer von derCDU zitieren und hoffe, dass das nicht zu seinem Nach-teil ausgelegt wird.
Wenn ich vom Kollegen Wimmer im Zusammenhangmit den Auseinandersetzungen lese, dass „noch nie sowenige so viele so gründlich belogen“ hätten „wie imZusammenhang mit dem Kosovokrieg“, so ist das einAnlass, über diese Fragen am Vorabend des Jahrestagesdes Krieges zu reden. Sie werden das Thema nicht los-werden.
Für diese Fehler und Falschmeldungen wird sich dieRegierung verantworten müssen. Wir werden das hierim Plenum noch einmal debattieren. Auch hierbei möch-te ich, ohne dass ich mir das jetzt zu Eigen machte, dieWertung des „Hamburger Abendblattes“, das ja einemehr betuliche und nicht links stehende Zeitung ist, vor-tragen:Wäre dem so, käme das einem Betrug an Parlamentund Öffentlichkeit gleich, denn auch für eine ge-rechte Sache bleiben Lügen Lügen. Scharping undFischer müssen Konsequenzen ziehen: Entwederden Verdacht entkräften – oder abtreten. Ich finde, wir werden uns hier über die Fragen ausei-nander setzen müssen, was wahr, was gelogen, was ge-fälscht war und was Bestand hat. Diese Debatte findethier im Parlament statt. Wir müssen uns auch klarmachen, dass sich die Bun-desregierung mit ihrer Balkanpolitik in einer Sackgassebefindet. Die Evangelische Kirche in Deutschland hatheute noch einmal festgestellt, dass es keine Konzeptionzur Lösung der Balkanprobleme gebe. Sie kommen ausder Sackgasse nur heraus, wenn Sie erst einmal zurück-gehen. Dazu bieten Ihnen unsere Anträge, jetzt das Em-bargo und die Sanktionen aufzuheben, somit das Lebender Menschen in Jugoslawien zu verbessern und gleich-zeitig auch Stabilität auf dem Balkan zu schaffen, eineChance.
Ich weiß aus vielen Gesprächen mit den Kolleginnenund Kollegen und über alle Fraktionen hinweg sehr ge-nau, dass hier im Haus nur eine Minderheit ernsthaft be-streitet, dass Sanktionen und Embargos in der durchge-führten Weise, mit Ausnahme von Waffen, keine Pro-bleme gelöst hätten. Aus vielen Debatten weiß ich, dassdie Kolleginnen und Kollegen, wenn es wirklich um dieSache geht, unseren Anträgen zustimmen würden. Ichweiß aber auch, dass ideologische Vorbehalte es schwerVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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8880 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
machen, hier eine richtige politische Entscheidung zutreffen. Trotzdem bitte ich Sie, nicht wegen des Regimes vonMilosevic – das ist mir gleichgültig –, sondern um derMenschen willen: Machen Sie endlich Schluss mit demEmbargo und dem Ölboykott und tragen Sie dazu bei,dass nicht nur die Donau wieder schiffbar wird, sondernauch die Brücken wieder errichtet werden.
Das beantragen wir, darüber haben wir diskutiert. Daswäre ein Akt der Humanität. Diese Fragen sind auch amVorabend des Jahrestages des Krieges zu stellen. Ich finde, dass Sie diese zumindest beantworten müssen,wenn Sie auch nicht dazu reden wollen.Herzlichen Dank.
Die Re-
debeiträge der Kollegen Uta Zapf, Dr. Andreas
Schockenhoff, Dr. Ludger Volmer und Walter Hirche
werden zu Protokoll genommen*). Deswegen schließe
ich jetzt die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung: Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Frak-
tion der PDS zur Schiffbarmachung der Donau und zum
Wiederaufbau der zerstörten Donaubrücken, Drucksache
14/2996. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2388 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU
und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenom-
men.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhebung der
Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien,
Drucksache 14/2996. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/2387 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung
mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhebung des
Ölembargos gegen Jugoslawien, Drucksache 14/2996.
Der Ausschuss empfiehlt wiederum, den Antrag auf
Drucksache 14/2573 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit
dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
________
*) Anlage
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr.
Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Menschenrechte in der Volksrepublik China
– Drucksache 14/2694 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Hermann Gröhe von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen! Zunächst danke ich Ihnen dafür, dassSie bereit sind, zu einer solch späten Zeit noch an dieserDebatte zu den Menschenrechtsverletzungen in Chinateilzunehmen. Ich glaube, dass wir diese nicht zu denAkten legen dürfen.
– Da wird aus besonders berufenem Munde zu Men-schenrechtsverletzungen gesprochen und konsequenter-weise aus dem Saal gegangen. Wer mehr Erfahrung alsTäter denn als Opfer hat, sollte sich vielleicht auch zu-rückhalten.
– Wenn Sie die Zwischenrufe unterlassen, werde ich dassicher tun können. Anlass für den Antrag der Unionsfraktion sind dieanhaltenden Verschlechterungen der Menschenrechtsla-ge in der Volksrepublik China und die in dieser Wochebegonnene 56. Sitzung der UN-Menschenrechtskom-mission in Genf. Unser Antrag nennt besonders bedenk-liche Entwicklungen: die hohe Zahl der oft in jah-relanger Administrativhaft festgehaltenen Personen, diegroße Anzahl von Todesurteilen und die Vielzahl derDelikte, für die diese verhängt werden, die vielfältigenEingriffe in die Meinungs-, Religions- und Versamm-lungsfreiheit, die sich etwa bei den Repressionen gegen-über der Falun-Gong-Bewegung, dem erheblichen staat-lichen Druck auf Rom treue Katholiken, protestantischeHauskirchen oder Muslime in Xinjiang zeigen. DiesesUnrecht muss beim Namen genannt werden. Einem Bericht der UN-Menschenrechtskommis-sarin Mary Robinson zufolge hat sich in den letztenzwölf Monaten die Lage gerade im Hinblick auf dieWolfgang Gehrcke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000 8881
Menschenrechte der Meinungs-, Versammlungs- undReligionsfreiheit weiter verschlechtert. Das ist ein Er-gebnis, zu dem auch der Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums kommt. Daher müssen wir bereitsein, über die Instrumente unserer Menschenrechtspoli-tik gegenüber China zu diskutieren und sie – wo not-wendig – einer kritischen Überprüfung mit der Bereit-schaft zu Veränderungen unterziehen. Wir müssen end-lich zu einer gemeinsamen westlichen Strategie kom-men.Niemand redet dabei dem Versuch das Wort, Chinazu isolieren. Ein solcher Versuch wäre ohnehin zumScheitern verurteilt. Niemand missachtet die großen Er-folge, die China im Hinblick auf die Armutsbekämpfungin diesem bevölkerungsreichsten Land der Erde hat.Aber bei allen Erfolgen dürfen diese sozialen Menschen-rechte nicht gegen die politischen und bürgerlichenFreiheitsrechte ausgespielt werden. Menschenrechte sindunteilbar.
Angesichts der vielfältigen diplomatischen Aktivitä-ten Chinas als Reaktion auf unseren Antrag füge ichhinzu: Nicht die kritischen Worte zu den Menschen-rechtsverletzungen belasten die Beziehungen, sonderndie Menschenrechtsverletzungen, die die Ursache fürdiese Kritik sind.
Wir wollen den Menschenrechtsdialog mit der Volks-republik China. Themen müssen die Rechtsreform, dieRatifizierung der internationalen Pakte und eine kon-struktive Lösung der Tibet-Frage im Rahmen des vomDalai Lama angebotenen konstruktiven Dialogs sein.Mit einem wirklichen Dialog verträgt es sich aber nicht,wenn das chinesische Außenministerium zur Kritik vonMary Robinson anmerkt, einer Ausländerin stehe keinUrteil zur Menschenrechtslage in China zu. Mit Dialog-angeboten, noch dazu, wenn diese bislang nicht zu wirk-lich durchgreifenden Verbesserungen führten, dürfennicht die Mechanismen der UN-Menschenrechts-kommission außer Kraft gesetzt werden. Deshalb musses nach unserer Ansicht zu den Bestandteilen einer ge-meinsamen westlichen Strategie gehören, die Er-folgsaussichten einer gemeinsamen Resolution in derUN-Menschenrechtskommission zu prüfen.Meine Damen und Herren, diese Fragen unsererMenschenrechtspolitik gegenüber China gehören in dasParlament. Deswegen begrüße ich, dass auch die F.D.P.einen entsprechenden Antrag eingebracht hat, auchwenn er heute leider nicht auf der Tagesordnung steht.Die Koalitionsfraktionen dagegen vor allem die Grünen,bleiben nach markigen Sprüchen während der Zeit ihrerOpposition heute merkwürdig stumm.
Sie haben bis heute keinen Antrag zur Chinapolitik bzw.zur Menschenrechtslage in China vorgelegt oder vorle-gen können.
Dieselben Grünen, die noch vor wenigen Jahren – ichfüge hinzu: mit durchaus beachtlichen Argumenten –gegen Hermes-Bürgschaften für ein großes Staudamm-projekt in China Sturm liefen, finden sich heute mit derHermes-Bürgschaft für ein Atomkraftwerk in China ab.
Aber ich bin sicher, dass Fischer seine Grünen davonüberzeugen wird, dass die Lieferung deutscher Kern-technik geradezu die zwingende Voraussetzung dafürist, den Ausstieg aus der deutschen Kerntechnik in30 Jahren zu einem wahrhaft globalen Ereignis werdenzu lassen, und sie werden es ihm abnehmen, denn Regie-ren ist so schön.Meine Damen und Herren, anders als die grünenSprüche vor wenigen Jahren ist unser Antrag kein tak-tisch motivierter Oppositionsantrag, der auf innenpoliti-sche Schwierigkeiten abzielt. Dazu sind die deutsch-chinesischen Beziehungen zu wichtig; dazu fühlen wiruns zu sehr einer vernünftigen Außenpolitik unseresLandes verpflichtet. Unser Antrag stellt daher eine guteGrundlage für die Beratungen in den Fachausschüssendar, in denen wir dann ausloten können, welche Ge-meinsamkeit wir in diesem Haus im Hinblick auf dieMenschenrechtslage in der Volksrepublik China errei-chen können. Die unterdrückten Menschen haben klareund, wenn möglich, gemeinsame Worte von uns ver-dient.Vielen Dank.
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Petra
Ernstberger von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es haben sich schon Erfolgein der Reformpolitik und bei der Öffnung Chinas erge-ben. Trotzdem sind die Menschenrechte im Leben derChinesen immer noch nicht Realität geworden sind. Ichglaube, dass daraus für uns in diesem Parlament, aberauch für die Regierung Aufgabe und Verpflichtung ent-stehen.Ich gebe es ja zu: Auch mich irritiert die späte Stundeetwas, zu der wir dieses Thema behandeln müssen. Ichhätte mir dafür einen etwas früheren Zeitpunkt ge-wünscht.
Hermann Gröhe
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Aber wenn es Aufgabe für uns ist, dann muss mansich auch ein paar Fragen stellen: Müssen wir uns nichteinsetzen für ein Ende der Verfolgung politischer Dissi-denten und die Freilassung von aufgrund ihrer politi-schen und religiösen Überzeugung inhaftierten Men-schen? Müssen wir uns nicht einsetzen für die Abschaf-fung der Todesstrafe? Müssen wir uns nicht einsetzenfür die Beseitigung der rechtsstaatlichen Defizite und so-fort darauf drängen, dass die VN-Menschenrechtspakteendlich ratifiziert werden?
Müssen wir uns nicht einsetzen für religiöse Freiheit?Und vor allem: Müssen wir uns nicht einsetzen für dasEnde der Unterdrückung der tibetischen Kultur und dertibetischen Gesellschaft?
Ich beantworte diese Fragen trotz aller Versuche derEinflussnahme vonseiten Chinas mit einem klaren Ja.Auch wenn es bei uns Meinungsverschiedenheiten überdie Art und Weise gibt, wie wir darauf zu reagieren ha-ben, gibt es doch einen grundsätzlichen Konsens imHause, die Regierung und Parlament auf China dahingehend einwirken müssen, die Menschenrechte zu ach-ten. Es bedarf einer Abstimmung nicht nur in unseremParlament und in der Bundesrepublik Deutschland, son-dern auch mit unseren Partnern in Europa sowie mit denUSA und all den Staaten, die die Menschenrechtskon-ventionen anerkennen und umsetzen.Herr Kollege Gröhe hat bereits die UN-KommissarinMary Robinson zitiert. Ich kann das nur unterstreichen.Auch in anderen Quellen ist nachzulesen, dass sich dieLage der Menschenrechte in China im letzten Jahr ins-besondere in Bezug auf die Rede-, Religions- und Ver-sammlungsfreiheit bedauerlicherweise verschlechterthat. Das drückt sich auch in der Verfolgung Andersden-kender und der Verhaftung von Mitgliedern politischerGruppen sowie in Aktionen gegen Gewerkschaftsorga-nisationen aus.Ganz besonders – auch das hat Herr Kollege Gröheschon angesprochen – ist das Problem der Administra-tivhaft zu kritisieren. Man muss sich das einmal vorstel-len: Personen, die sich nach Ansicht der Regierung undder Polizei unbotmäßig verhalten, können willkürlich„einkassiert“ und ohne Prozess in die berüchtigten Ar-beitslager verbracht werden.Als Beispiel nenne ich den 26-jährigen UighurenAblikim Abdiriyim, der in der Autonomen UighurischenRegion Xinjiang festgenommen und misshandelt wurde.Inzwischen befindet er sich zur „Umerziehung durchArbeit“ in der berüchtigten Haftanstalt Wulabai. Offen-sichtlich reagierten die Behörden darauf, dass seineMutter, eine 51-jährige Geschäftsfrau, sich mit einer De-legation des US-Kongresses getroffen haben soll. Ihrwird vorgeworfen, „Informationen an Ausländer“ bzw.„Personen im Ausland“ weitergegeben zu haben. Auchfür sie und ihren Mitarbeiter besteht äußerste Gefahr,verhaftet zu werden. Dieses Schicksal ereilte bereits denchinesischen Dissidenten Fu Sheng. Nach einem Treffenmit US-Diplomaten wurde er von der Polizei verhaftetund misshandelt. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dieGemeinschaft der freien Staaten kann und darf diese Po-litik der „Umerziehung durch Arbeit“ nicht dulden.
An dieser Stelle komme ich auf das schwerwiegendeProblem der Todesstrafe. Die Zahlen sind erschre-ckend: Allein im Jahre 1998 wurden mindestens 2 701Todesurteile verhängt und mindestens 1 769 Todesurtei-le vollstreckt. Rechnet man das für einen Zeitraum vonacht Jahren, nämlich von 1990 bis 1998, zusammen,kommt man auf mehr als 25 400 Todesurteile und über16 600 Hinrichtungen. Das ist dokumentiert. Darüberhinaus muss man davon ausgehen, dass die Dunkelzifferum vieles höher ist, weil nicht alle Todesurteile undHinrichtungen bekannt werden.Auch wenn man nur von den belegten Zahlen aus-geht, steht als Tatsache fest, dass China das Land ist, indem die meisten Menschen exekutiert werden. Nach derNeufassung des chinesischen Strafgesetzbuches im März1997 ist die Zahl derer, die mit der Todesstrafe belegtwerden können, sogar noch größer geworden, weil manden Katalog der Delikte erweitert hat, bei deren Begehendie Todesstrafe verhängt werden kann.Ich spreche hier auch von der Verfolgung religiöserGruppen wie der Falun Gong, katholischer und protes-tantischer Christen sowie der Moslems und von der ge-waltsamen Unterdrückung ethnischer Minderheiten wieder Uighuren und Tibeter.Die Gefahren, die aus Menschenrechtsverletzungenerwachsen, hat Mary Robinson in einem Satz treffendzusammengefasst:Die Menschenrechtsverletzungen von heute sinddie Kriege von morgen.Ausgesprochen interessant finde ich in diesem Zu-sammenhang die Auslegung der Menschenrechtssituati-on von chinesischer Seite. Die chinesische Führung hatein Weißbuch unter dem Titel „50 Jahre Fortschritt beiChinas Menschenrechten“ veröffentlicht. Darin wird ge-fordert, dass die Welt doch nun endlich einsehen undanerkennen solle, dass die Regierung der VolksrepublikChina schließlich 1,2 Milliarden Menschen ernähre unddass Chinesen in Freiheit und Demokratie lebten. Michirritiert schon, mit welcher Unbefangenheit solche Er-rungenschaften aufgelistet werden.Die chinesische Führung versucht, negativen Einflussauf die USA auszuüben, die angekündigt haben, eineResolution zur Menschenrechtspolitik Pekings bei derKonferenz in Genf einzubringen. Die Führung in Pekingmuss mit allen uns zur Verfügung stehenden politischen,diplomatischen und eventuell auch wirtschaftlichen Mit-teln zur Anerkennung und Befolgung der Menschen-rechte gedrängt werden.Petra Ernstberger
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Ich freue mich, dass unser Außenminister Fischergestern bei der Menschenrechtstagung ganz deutlicheund dezidierte Worte gefunden hat, mit denen er – nebender Lage der Menschenrechte in Tschetschenien und inanderen Gebieten, wo Menschenrechtsverletzungenstattfinden – auch die Situation in China angesprochenhat.
Eines müssen wir aber bei unserer Vorgehensweiseberücksichtigen, um eine wirklich konstruktive Men-schenrechtspolitik gegenüber China betreiben zu kön-nen: die Frage, wie man eigentlich die breite Öffentlich-keit des chinesischen Volkes stärker sensibilisierenkann. Das ist eine ganz schwierige Aufgabe; denn dieChinesen selber sind im Prinzip mit ihrem profanen All-tag – Überleben, Kleidung, Reisanbau und Ähnliches –beschäftigt und haben eigentlich keine Chance, ihreRechte selber einzuklagen. Deswegen ist die Unterstüt-zung von unserer Seite notwendig. Unser Bundeskanzler hat bei seinem Chinabesuch zuRecht gefordert, dass die grundlegenden Rechte derBürger gestärkt werden müssen.
Er hat einen Brief an Herrn Bindig, unseren Sprecherder Arbeitsgruppe Menschenrechte, geschrieben, in demer mitteilt:Es ist nicht möglich, die rechtlichen Grundlagen,die für die weitere wirtschaftliche EntwicklungChinas auszubauen oder noch zu schaffen sind, ge-trennt von den grundlegenden Rechten der Bürgerzu entwickeln, etwa von denen auf Informations-und Meinungsfreiheit oder denen auf Teilhabe anstaatlichen Entscheidungen und unabhängige Kon-trolle des Verwaltungshandels. Beides gehörtzwangsläufig zusammen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir müssenversuchen, im europäischen Konsens, das heißt multila-teral, aber auch bilateral in unseren Beziehungen zuChina einen Weg des Dialoges und eine Weiterentwick-lung ohne Sanktionen zu finden; denn Sanktionen lehneich ab, da sie im Prinzip wenig oder gar nichts gebrachthaben. Wir müssen vielmehr versuchen, auf vielen Fel-dern gemeinsam Einfluss auf die Volksrepublik Chinaauszuüben, die Menschenrechte einzufordern und denWillen unseres Hauses zu zeigen.Es wäre schön gewesen, wenn wir einen Antrag hät-ten vorlegen können, den mehr Fraktionen unterstützthätten. Herr Gröhe, Sie haben gerade ein Angebot ge-macht. Ihr Antrag wird sowieso in die Ausschüsseüberwiesen. Dort können wir uns dann darüber nocheinmal konkret unterhalten. Die Menschenrechte habenes verdient, dass wir alle an einem Strang ziehen.
Ich bitte,die Reden von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger*)und dem Kollegen Carsten Hübner**) zu Protokollnehmen zu dürfen. Findet das Ihr Einverständnis? – Dasist der Fall.Dann gebe ich der Kollegin Claudia Roth vom Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Guten Abend, Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich begrüße es, dass der DeutscheBundestag auch zu dieser späten Stunde angesichts derzurzeit tagenden Menschenrechtskommission in Genfzum Thema „Menschenrechte in China“ eine Debatteführt. Ich begrüße dies erstens, weil zwar viel über Men-schenrechte gesprochen wird, aber selten hier im HohenHause, und zweitens, weil wir – auch zu dieser spätenStunde – ein Zeichen setzen sollten und Reden über dieSituation der Menschenrechte in China nicht zu Proto-koll geben sollten. Da schließe ich mich Hermann Gröhean.
Ich glaube, es ist richtig, die bittere Realität in Chi-na anzusprechen. Ich begrüße den vorliegenden Antragder CDU/CSU-Fraktion und den jetzt zwar noch nichtvorgelegten, aber schon ausgedruckten Antrag derF.D.P.-Fraktion. Ich bin überzeugt, dass wir, wie FrauErnstberger gesagt hat, im federführenden Menschen-rechtsausschuss eine sehr breite, eine interfraktionelleInitiative zustande bekommen. Dass sich die Menschenrechtssituation in China nichtverbessert hat – ganz im Gegenteil –, dass viele Erwar-tungen einen empfindlichen Dämpfer bekommen haben,haben meine Vorrednerin und mein Vorredner schondeutlich gemacht. Die Liste der Menschenrechtsverlet-zungen ist unendlich lang. Ich erinnere in diesem Zu-sammenhang an die exzessive Anwendung der Todes-strafe, an die Ausweitung der Delikte, bei deren Bege-hen die Todesstrafe verhängt wird – allein in China wer-den mehr Todesstrafen vollstreckt als im Rest derWelt –, an die massiven Einschränkungen der politi-schen und bürgerlichen Freiheitsrechte, an die Verbotevon Parteigründungen, an die Kriminalisierung von Op-positionellen, an die drakonischen Strafen gegen Oppo-sitionelle, an die wirklich schlimmen Zustände im Straf-vollzug, an die Einschränkung der freien Religionsausübung,__________*) Anlage 3**) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nochPetra Ernstberger
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und zwar nicht nur im Hinblick auf Falun Gong.Und schließlich erinnere ich – das sollte nicht vergessenwerden, mehr noch: Das sollte immer wieder angespro-chen werden – an die anhaltende Unterdrückung derKultur und Religion der Tibeter. Ich bin überzeugt, dass sich die Glaubwürdigkeitund die Effizienz der internationalen Menschen-rechtspolitik auch daran messen lassen müssen, wie eszum einen gelingt, die Missstände in einem so großenund bedeutenden Land wie China angemessen anzuspre-chen bzw. zu kritisieren, und wie es zum anderen ge-lingt, einen Prozess der Veränderung, einen Prozess derReformen bzw. der Dynamik hin zu politischer Erneue-rung, zu einem Rechtsstaatsdialog mit zu initiieren undmit zu unterstützen.Es geht also nicht darum – auch hier teile ich die Auf-fassung meiner Vorrednerin und meines Vorredners –,zu isolieren oder eine Blockade zu betreiben. Es gehtvielmehr darum, die wirtschaftliche Öffnung notwendi-gerweise mit einer politischen Öffnung zu verbinden.
Es geht darum, klarzumachen, dass Stabilität immer aufeiner gesicherten Lage der Menschenrechte und derRechtsstaatlichkeit beruht und dass das letztendlich imwirtschaftlichen Interesse liegt.In Genf geht es jetzt darum, ein deutliches Zeichen zusetzen. Ich erwarte mir von Genf, dass die EuropäischeUnion eine starke, gemeinsame Position vertritt, dassdie vorliegenden Anträge unterstützt werden und dasseine Menschenrechtsdynamik initiiert wird – FrauErnstberger hat das schon angesprochen –, die daraufhinwirkt, dass internationale Pakte, zum Beispiel diebeiden großen UNO-Pakte im letzten Jahr, nicht nur un-terzeichnet, sondern endlich auch ratifiziert werden.
Dies war heute Abend sicher nicht die letzte Debatte,die wir über die Situation in China geführt haben. Wirwerden uns im Menschenrechtsausschuss mit China be-fassen. Zudem wird der Menschenrechtsausschuss imSeptember dieses Jahres nach China und Tibet fahren. Gestatten Sie mir noch einen Satz zu HermannGröhes fulminanter Rede, die ich in vielen Punkten tei-len kann: Ich bin voll davon überzeugt, dass Sie/du mitmir der Auffassung sind/bist, dass Menschenrechte mitPanzern nicht besonders effizient geschützt werden.Glauben Sie/glaube mir: Ich hätte mir tatsächlich etwasanderes vorstellen können als eine AKW-Bürgschaft. Menschenrechte haben immer etwas mit Hoffnung zutun. Deswegen zu dieser späten Stunde folgender Satz:Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! HeuteMorgen war der Saal voll und das Medieninteresse wargroß, als es um Artenschutz ging. Jetzt geht es um Men-schenschutz. Aber es sind nur 30 Kolleginnen und Kol-legen und eine Hand voll Staatssekretäre anwesend,wenn ich richtig gezählt habe.
Das ist symptomatisch für Ihre vielfältige Unglaubwür-digkeit im Umgang mit dem Thema Menschenrechte.Damit bin ich beim ersten Punkt, der mir wichtig ist.Im November 1984 sprach Joschka Fischer von derHohlwangigkeit der westdeutschen Demokratie undmahnte in der Menschenrechtspolitik eine anständige,moralische politische Kultur an. Das war noch derJoschka Fischer, wie wir ihn – vor allen Dingen Sie –kannten.
Der Bundesaußenminister Joseph Fischer hat noch imJanuar, als er in Moskau war, gesagt: Der Tschetsche-nienkrieg ist eine politische und humanitäre Katastro-phe.
Auch das war noch der Joschka Fischer. Aber im glei-chen Atemzug sagt er – so ist jetzt der Joseph Fischer –:Isoliert mir Russland nicht!
Wir dürfen unser Verhältnis zu Russland nicht aufTschetschenien reduzieren. Dazu ist uns Russland zuwichtig. – So viel zum heutigen Joseph Fischer.Ich würde Ihnen allen, vor allem Rot-Grün, gern zumBeitritt zum Klub der Realisten gratulieren, wenn dieChinapolitik von Joschka Fischer nicht eine gespaltenePolitik wäre. Nach der Rede des Bundesaußenministersvor der Menschenrechtskommission in Genf vorgesternist klar geworden: Die Europäer werden keine chinakri-tische Resolution verabschieden. Stattdessen werden sieeine Resolution gegen die Staaten verabschieden – be-sonders die USA sind damit gemeint –, die die Todes-strafe noch nicht abgeschafft haben. Das ist symptomatisch: Man geht gegen die USA unddie Türkei vor und rügt sie wegen ihrer Menschen-rechtsverletzungen. Man will der Türkei den Leopard 2nicht ausliefern, wohlwissend, dass deutsche Panzer niefür irgendwelche Einsätze gegen Kurden in der Türkeieingesetzt worden sind. Man geht gegen die USA, dieClaudia Roth
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Türkei und andere Verbündete vor. Das scheint Methodezu sein. Wenn es aber um Russland und China geht,dann wird der Schongang eingelegt.
– Ich mache gleich einen Vorschlag. Bitte lassen Sie mirnoch etwas Zeit.Auch Sie wissen, Herr Kollege Ströbele, dass das,was wir Menschenrechte nennen, auf ein Naturrecht zu-rückgeht, das wir im Europa des 17. Jahrhunderts entwi-ckelt haben. Dieser Naturrechtsgedanke ist den Chinesenfremd. Sie haben eine andere Entwicklung genommen,die wir zunächst einmal respektieren müssen. Das heißt:Das Individuum hat in China nach der konfuzianischenRegelgeschichte nicht die Bedeutung wie bei uns. Manmuss also die Vergangenheit einer 5 000 Jahre alten Zi-vilisation verstehen, will man die Gegenwart Chinas be-greifen.Zum Umgang mit den Menschenrechten in China:Wir sollten Menschenrechtsverletzungen in Chinaselbstverständlich anprangern.
Wir sollten hier mit einer Stimme sprechen und unsereStimme erheben. Wir sollten das aber konsequent undvor allem für China berechenbar tun, sodass China gera-de aufgrund seiner Mentalität, das Gesicht wahren zuwollen, nicht unnötigerweise an den Pranger gestelltwird. Wir sollten also den Weg der stillen Diplomatiegehen. Das tut Joschka Fischer in gewisser Weise. Erwill sich nur nicht von Ihnen dabei erwischen lassen.Die janusgesichtige Politik, die AußenministerJoschka Fischer bezüglich der Menschenrechte in Chinaan den Tag gelegt hat, werden die Chinesen natürlichdurchschauen. Sie ist nicht glaubwürdig. Es ist eine Po-litik, die den Respekt vor uns Deutschen nicht erhöht,sondern schmälert, die eher Verachtung und Gering-schätzung auslöst als Bewunderung. Er hat als Außen-minister die Hermes-Bürgschaften genehmigt. Dafüraber die politische Verantwortung lediglich auf IhremParteitag zu übernehmen ist lächerlich.Meine Damen und Herren, wenn einem Außenminis-ter in seinem Geschäftsbereich so etwas passiert, danngibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der betreffendeBeamte wird in einen Bereich versetzt, wo er nie mehrSchaden anrichten kann – man nennt das die Besen-kammer –, oder aber das Ganze ist mit seinem klamm-heimlichen Wissen erfolgt. Dann muss ich mich aberfragen: Hat er Sie auf Ihrem Parteitag belogen oder ist erunfähig, sein Amt als Außenminister auszuüben?
Ich komme zum Schluss: Man kann nicht auf der ei-nen Seite Hermes-Bürgschaften genehmigen und auf deranderen Seite als grüner Minister den chinesischen Au-ßenminister vor Journalisten öffentlich rügen und scharfangreifen. Man kann nicht auf der einen Seite in GenfChina gegenüber eine ganz pragmatische Menschen-rechtspolitik an den Tag legen, ohne auf der anderenSeite dafür zu sorgen, dass es zu einer Resolutionkommt. Das ist unglaubwürdig. Das ist kein richtigerUmgang mit dem Thema Menschenrechte. Deswegenmuss Außenminister Fischer gerügt werden. Das warmeine Aufgabe.
Als letz-
tem Redner gebe ich Staatsminister Dr. Ludger Volmer
das Wort.
D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DieLage der Menschenrechte in der Volksrepublik Chinahat sich gerade im zentralen Bereich der politischenFreiheitsrechte nicht verbessert, sondern – leider – er-neut massiv verschlechtert. Bundesaußenminister Fischer hat das in seiner Rede vor der Menschenrechts-kommission in Genf in aller Deutlichkeit zum Ausdruckgebracht.
Die Verfolgung und Drangsalierung Andersdenkender –seien es politische Dissidenten oder Angehörige derchristlichen Kirchen und Anhänger von Falun Gong,seien es Angehörige ethnischer Minderheiten wie derTibeter und Uighuren – haben im letzten Jahr wieder er-heblich zugenommen. Die Unterdrückung der Mei-nungs- und Versammlungsfreiheit sowie schwere rechts-staatliche Defizite bleiben an der Tagesordnung.Die Bundesregierung bringt die Menschenrechtsdefi-zite in der Volksrepublik China gegenüber ihren chinesi-schen Gesprächspartnern konsequent und auf allen Ebe-nen zur Sprache. Ihr Vorgehen in Genf stimmt die Bun-desregierung eng im EU-Kreis wie auch mit anderenwestlichen Partnern ab. Nur gemeinsam kann es gelin-gen, die Volksrepublik China zu einer substanziellenVerbesserung der Menschenrechtslage zu bewegen.Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein:Solange die KP Chinas nicht bereit ist, auf ihr Macht-monopol zu verzichten, solange es keine Trennung vonPartei und Staat gibt, wird es in China Dissidenten ge-ben. Der weitere Fortgang der Reformpolitik wird ohneeine echte politische Öffnung nicht mehr lange möglichsein. Die chinesische Führung weiß, dass die angestrebteWTO-Mitgliedschaft hier eine Sogwirkung auslösenkann. China braucht nicht nur eine offene Wirtschaft,sondern auch eine offene Gesellschaft, wenn es die fürdie Wahrung seiner inneren Stabilität notwendigen wirt-schaftlichen Zuwachsraten auch in Zukunft sicherstellenwill.
Das bedingt zum Beispiel die weitere Öffnung inRichtung auf eine globale Informationsgesellschaft.Dr. Hans-Peter Uhl
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8886 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 95. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. März 2000
Die Zahl der Internetanschlüsse in der VR China hatsich in den letzten fünf Jahren von 1 Million auf über 10 Millionen verzehnfacht. Der Versuch, durch restrik-tive Vorschriften über Verschlüsselung Kontrolle im In-ternet sicherzustellen, ist fehlgeschlagen: Die chinesi-sche Regierung sah sich genötigt, in einem erläuterndenZirkular die Einschränkungen zu entschärfen – ein in derchinesischen Verwaltungspraxis bisher einmaliger Vor-gang.Diese Prozesse in Richtung auf eine gesellschaftlicheund politische Öffnung zu unterstützen ist ein wichti-ges Element der deutschen Chinapolitik. Hier setzt auchdie Rechtsstaatsinitiative des Bundeskanzlers an. Pekinghat sich bereit erklärt, beim weiteren Aufbau rechtsstaat-licher Strukturen mit Deutschland zusammenzuarbeiten.Die Regierungschefs haben vereinbart, die Fortschrittedieser Zusammenarbeit bei ihren Treffen regelmäßig zuüberprüfen. Wir streben dabei eine Zusammenarbeit aufmöglichst breiter Ebene an. Die Bundesregierung istauch bereit, die chinesische Regierung im Hinblick aufdie baldige Ratifizierung der beiden VN-Menschen-rechtspakte zu beraten.
Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran ge-lassen, dass sie – wie auch die Regierungen unsererPartner – eine Ein-China-Politik verfolgt. Das heißt aber auch, dass wir erwarten, dass Peking – sei es in derTibetfrage, sei es in Bezug auf Taiwan – sich im Wegedes friedlichen Dialogs um konstruktive Lösungen be-müht. In der Tibetfrage setzen wir uns mit Nachdruckdafür ein, dass es endlich zu einem direkten Dialog zwi-schen der chinesischen Regierung und dem Dalai Lamakommt.
Meine Damen und Herren, ich habe in dieser Debattesehr viel Konsens zwischen den Fraktionen gehört. Daes unser Ziel ist, möglichst eine einheitliche Haltung al-ler Europäer herbeizuführen, um politisch schlagkräftigzu sein, würde die Bundesregierung es sehr begrüßen,wenn sich die Fraktionen des Bundestages auf einengemeinsamen Antrag verständigen und wir diesen in derKerndebatte des Bundestages diskutieren könnten.Ich danke Ihnen.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2694 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 24. März 2000,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.