Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Die Sitzung ist eröffnet.
Vor zehn Jahren, am 7. Dezember 1989, trafen sich
zum erstenmal die Teilnehmer des Zentralen Runden
Tisches der DDR im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Ber-
lin. Die Idee des Runden Tisches lag zu diesem Zeit-
punkt gewissermaßen in der Luft; in Polen und in
Ungarn hatte es bereits Monate zuvor solche Runden
Tische gegeben. Auf Verlangen der Bürgerrechtsbewe-
gungen traten auch in der DDR an vielen Orten Runde
Tische zusammen.
Daß diese Runden Tische im Dezember 1989 als
wohl wichtigste Institutionen des Übergangs in Demo-
kratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zusammen-
traten, war neben dem Einsatz für die friedlichen De-
monstrationen in den Monaten zuvor das zweite große
Verdienst der verschiedenen Gruppen der Bürgerbewe-
gung. Dafür gebührt ihren Repräsentanten, die heute
nicht selten in Vergessenheit geraten sind, unser Dank
und unsere Anerkennung.
Durch ihr Drängen und unterstützt durch die Kirchen
entwickelte sich der Zentrale Runde Tisch zu einem
wichtigen öffentlichen Ort der politischen Mitbestim-
mung und Entscheidung, der Kontrolle der von der SED
bzw. SED/PDS geführten Regierung, der Offenlegung
alter Staatspraktiken und der Auseinandersetzung mit
dem Umgang und dem Erbe des Überwachungsstaates
DDR.
Doch die Runden Tische waren für eine kurze Zeit
weit mehr: Viele sich erstmals oder neu engagierende
Bürgerinnen und Bürger, Mitglieder neu entstandener
Gruppen, nutzten oder fanden mit ihnen eine neue politi-
sche Autonomie, erlernten und praktizierten die Kultur
des politischen Streits, der Suche nach dem besten
Argument, der besten Lösung. Sie erlebten die Runden
Tische als Schulen der freien politischen Meinungsbil-
dung auf dem Weg von der Diktatur in die parlamenta-
rische Demokratie.
Als mit den ersten freien Wahlen in der DDR am
18. März 1990 dieser Übergang geschafft, im Laufe des
Jahres 1990 neue demokratische Institutionen gebildet
und funktionsfähig waren, hatten die Runden Tische ihre
wichtigste Aufgabe erfüllt. Geblieben aber ist, daß das
freie Engagement vieler in sozialen und gemeinwohlori-
entierten Projekten mitwirkender Bürgerinnen und Bür-
ger sowie von Abgeordneten in den kommunalen und
Landesparlamenten oder auch hier im Deutschen Bun-
destag in der einen oder anderen Weise 1989/90 an
einem Runden Tisch begann daß oder von dieser Arbeit
ein wichtiger Impuls für das Engagement ausging.
Die Runden Tische der Jahre 1989/90 in der DDR
bedeuteten also auch ein Stück Vorleben von Zivilge-
sellschaft, ein Symbol für Einmischung und Mitgestal-
tung, für die Übernahme von Verantwortung. Hierin
liegt wohl ihr wichtigstes Vermächtnis. Die kurze Ge-
schichte der Runden Tische in der DDR gehört zu den
wichtigen und erinnerungswerten Traditionen der par-
lamentarischen Demokratie in Deutschland. Daran soll
heute erinnert und allen Initiatoren und Beteiligten für
ihre demokratiebildende Arbeit gedankt sein.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir
zu unserer heutigen Tagesordnung.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll das
vom Bundesrat eingebrachte Zweite Eigentumsfristen-
gesetz abweichend von der gestrigen Überweisung
nunmehr dem Rechtsausschuß zur federführenden Be-
ratung und dem Ausschuß für Angelegenheiten der neu-
en Länder zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13a bis g sowie die
Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
13.a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-
deskanzlers
zum bevorstehenden Europäischen Rat in
Helsinki am 10./11. Dezember 1999
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union
7060 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
gemäß § 93a Abs. 4 der Ge-
schäftsordnung zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Zusammensetzung und Arbeitsverfahren
des mit der Ausarbeitung des Entwurfs
einer EU-Charta der Grundrechte zu be-
auftragenden Gremiums und einschlägige
praktische Vorkehrungen
– Drucksachen 14/1579 Nr. 3.1, 14/1819 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer
Peter Altmaier
Claudia Roth
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Manfred Müller
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union
zu der Unterrichtung durch das Europäische
Parlament
Entschließung des Europäischen Parla-
ments zur Ausarbeitung des Entwurfs für
ein Wahlverfahren, das auf gemeinsamen
Grundsätzen für die Wahl der Mitglieder
des Europäischen Parlaments beruht
– Drucksachen 14/74 Nr. 1.9, 14/685 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth
Dr. Gerd Müller
Claudia Roth
Ernst Burgbacher
Manfred Müller
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Festigung und Fortentwicklung der Euro-
päischen Union während der deutschen
Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 1999
– Drucksachen 14/159, 14/845 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek
Peter Hintze
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Manfred Müller
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der
Bundesrepublik Deutschland
– Drucksache 14/1000 –
Schnieber-Jastram, Wolfgang Meckelburg,
Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Umsetzung der Empfehlungen der Europäi-
schen Kommission zur Beschäftigungspoli-
tik durch die Bundesregierung
– Drucksache 14/1955 –
Berichts des Ausschusses für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der
Bundesregierung zur aktuellen Lage im
Kosovo nach dem Eingreifen der NATO
und zu den Ergebnissen der Sondertagung
des Europäischen Rates in Berlin
– Drucksachen 14/675, 14/1288 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek
Peter Hintze
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Manfred Müller
ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Regierungskonferenz 2000 und Osterweite-
rung – Herausforderungen für die Europäi-
sche Union an der Schwelle zum neuen
Millennium
– Drucksache 14/2233 –
ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
und der Fraktion der F.D.P.
Europäischer Rat in Helsinki: EU-Erwei-
terung voranbringen, politische Union vertie-
fen
– Drucksache 14/2246 –
Zur Regierungserklärung liegen verschiedene Ent-
schließungsanträge der Fraktionen von SPD, BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und PDS vor. Nach einer
interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache
nach der Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vor-
gesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so
beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Präsident Wolfgang Thierse
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7061
(C)
(D)
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der näch-
sten Woche wird der Europäische Rat zum Abschluß
der erfolgreichen finnischen Ratspräsidentschaft in
Helsinki zusammentreten. Auch bei diesem Rat, dem
mittlerweile sechsten Treffen der Staats- und Regie-
rungschefs in diesem Jahr, stehen wieder Themen im
Mittelpunkt, die für das künftige Gesicht unseres Konti-
nents von entscheidender Bedeutung sein werden.
Ich begrüße es daher außerordentlich, daß wir uns im
Deutschen Bundestag vor dem Gipfel in Helsinki und
zugleich zum Abschluß eines, wie ich meine, sehr
erfolgreichen Jahres noch einmal intensiv mit den ak-
tuellen Fragen und den Perspektiven des europäischen
Integrationsprozesses befassen.
Die Beratungen in Helsinki werden auf den Beschlüs-
sen und den Impulsen aufbauen, die wir während der
deutschen Präsidentschaft beeinflußt, mitformuliert und
mit erheblichem Einsatz nach vorn gebracht haben. Dies
ist ein weiterer Beleg dafür, daß die Bundesregierung
die Zeit der deutschen Präsidentschaft nicht nur zur er-
folgreichen Bewältigung der aktuellen Herausforderun-
gen genutzt hat, sondern daß es ihr darüber hinaus ge-
lungen ist, gemeinsam mit den Partnern für die weitere
Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses
wichtige und vor allen Dingen zukunftsweisende Orien-
tierungen zu geben.
Ich möchte an dieser Stelle dem finnischen Präsiden-
ten Ahtisaari und Ministerpräsident Lipponen, die an der
Spitze der Ratspräsidentschaft Finnlands standen, für ih-
re sehr zielorientierte und alles in allem auch erfolgrei-
che Arbeit ausdrücklich danken.
Meine Damen und Herren, zur Integration in das ver-
einte Europa und zur konsequenten Fortsetzung des In-
tegrationsweges gibt es keine rationale Alternative.
Auch der Umzug nach Berlin bedeutet übrigens keine
Abkehr von den außenpolitischen Grundorientierungen
der Bundesrepublik Deutschland. Die feste Integration
und Verankerung in Europa, aber eben auch in der At-
lantischen Allianz bleiben die Grundlagen deutscher
Außenpolitik. Europa steht heute mehr denn je als Rah-
men für unser Handeln zur Verfügung. Die Chancen der
Globalisierung können die Europäer nur gemeinsam und
nicht gegeneinander nutzen.
Glaubhafte und wirkungsvolle Interessenvertretung
nach außen ist vor diesem Hintergrund ebenfalls nur auf
europäischer Basis möglich. Die Bundesregierung wird
deshalb auch in Zukunft treibende Kraft der europäi-
schen Einigung sein. Sie wird dabei eng und vertrauens-
voll mit ihren Partnern, allen voran mit Frankreich, zu-
sammenarbeiten. Die tiefe Freundschaft und Partner-
schaft mit Frankreich ist und bleibt Angelpunkt deut-
scher Außenpolitik.
Die deutsch-französische Kooperation ist für Eu-
ropa unverändert von elementarer Bedeutung. Der
deutsch-französische Gipfel vor wenigen Tagen und
meine Begegnung mit der französischen National-
versammlung auf Einladung von Parlamentspräsident
Fabius haben einmal mehr den besonderen Charakter
der deutsch-französischen Beziehungen und die enge
Freundschaft zwischen beiden Völkern unterstrichen.
Das hat gezeigt, daß entgegen dem, was gelegentlich zu
lesen ist, die deutsch-französische Zusammenarbeit
fruchtbar ist und vor allen Dingen gut funktioniert.
Gleichwohl: Hier steckt noch viel Potential, das wir ge-
meinsam für Deutschland, für Frankreich, vor allem aber
für Europa nutzen wollen. Wie schon in den vergange-
nen Monaten werden wir auch in Helsinki in enger Ab-
stimmung auf Fortschritte drängen, die für die weitere
Stärkung der Union unverzichtbar sind.
Im Mittelpunkt des Europäischen Rates wird das
Thema Erweiterung der Europäischen Union stehen.
Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, des Symbols des
kalten Krieges, sind wir heute im Begriff, die letzten
Relikte dieser Epoche beiseite zu räumen und die Spal-
tung des ganzen Kontinentes endgültig zu überwinden.
Mit der absehbaren Aufnahme der mittel- und südost-
europäischen Beitrittskandidaten in die Europäische
Union wird in Europa ein neues Zeitalter beginnen.
Nach Deutschlands Wiedervereinigung steht gleichsam
Europas Wiedervereinigung auf der geschichtlichen
Tagesordnung.
Dieses Ziel möglichst rasch zu erreichen liegt in un-
ser aller Interesse und wird von unseren Partnern in der
Europäischen Union geteilt. In Helsinki wollen wir uns
über die weiteren Schritte zur Vollendung dieser Ent-
wicklung verständigen. Zunächst wird es darum gehen,
die Fortschritte der einzelnen Kandidaten auf ihrem Weg
in die Europäische Union zu prüfen. Hierzu hat die
Europäische Kommission bereits im Oktober Berichte
vorgelegt, die nach Einschätzung der Bundesregierung
eine zutreffende Analyse dessen darstellen, was Realität
ist, und die auch zutreffende politische Folgerungen ent-
halten.
7062 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Wir werden deshalb in Helsinki dafür eintreten, die
Aufnahme der Beitrittsverhandlungen auch mit Lettland,
Litauen, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien zu be-
schließen.
All diese Länder haben in den letzten zwölf Monaten
große Reformschritte unternommen. Dabei ist ganz klar,
daß der Vorbereitungsstand der einzelnen Länder für
einen Beitritt sehr unterschiedlich ist. Dieser Tatsache
muß in den konkreten Verhandlungen ab Anfang näch-
sten Jahres durch eine klare Differenzierung im Ver-
handlungsprozeß Rechnung getragen werden. Wir wol-
len mit einem Beschluß zur Verhandlungsaufnahme mit
diesen Ländern ein klares politisches Signal geben, das
Signal nämlich, daß Reformbemühungen von der Euro-
päischen Union auch honoriert werden.
Darüber hinaus werden wir in Helsinki eine Ent-
scheidung über die Verhandlungsaufnahme mit Malta zu
treffen haben, nachdem die maltesische Regierung den
Beitrittsantrag Maltas erneuert und die Kommission
hierzu positiv Stellung genommen hat.
Europa steht auch gegenüber der Türkei in der Ver-
antwortung. Wir können nicht einerseits die strategische
Bedeutung der Türkei für Europa immer wieder hervor-
streichen, ihr innerhalb der NATO große Lasten aufbür-
den, sie als wichtige Regionalmacht hofieren und sie auf
europäische Standards verpflichten, wenn wir nicht an-
dererseits bereit sind, ihr eine klare europäische Per-
spektive zu eröffnen, die über die Zollunion hinausge-
hen muß.
Die Bundesregierung tritt deshalb mit Nachdruck dafür
ein, der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten für
die Aufnahme in die Europäische Union zu verleihen.
Aber zugleich gilt: Diese Beitrittsperspektive ist – das
habe ich gegenüber Premierminister Ecevit in aller
Deutlichkeit hervorgehoben – kein Blankoscheck. Wie
alle anderen EU-Mitgliedstaaten erwartet die Bundes-
regierung von der Türkei im Gegenzug, daß sie die poli-
tischen Kriterien von Kopenhagen und natürlich den
Art. 6 des Vertrages von Amsterdam über die Europäi-
sche Union erfüllt.
Erst wenn die politischen Kriterien von Kopenhagen und
Art. 6 des EU-Vertrages – das heißt, Wahrung der Men-
schenrechte, Achtung und Schutz von Minderheiten so-
wie eine stabile und rechtsstaatliche Ordnung – erfüllt
sind, stellt sich die Frage nach dem Beginn von tatsäch-
lichen Beitrittsverhandlungen.
Hier kann es keine Abstriche geben, denn wer zur Euro-
päischen Union gehören will, der muß auch den Besitz-
stand dieser Union und vor allen Dingen deren Werte
voll anerkennen.
Die Europäische Union war immer mehr als eine bloße
Wirtschaftsgemeinschaft; sie ist von Anbeginn auch eine
Wertegemeinschaft gewesen. Das gilt umfassend: Schon
im Vorfeld zum Europäischen Rat in Köln habe ich in
einem ausführlichen Briefwechsel mit Premier Ecevit die
Rahmenbedingungen für das künftige Verhältnis zwi-
schen der EU und der Türkei entwickelt. Sie gelten un-
verändert fort. Der türkische Premierminister hat sich mir
gegenüber eindeutig zu den gemeinsamen Werten der
Europäischen Union bekannt. Ich meine, dies muß
Grundlage dafür sein, daß die Europäische Union die
Türkei als Kandidaten für den Beitritt anerkennt und mit
ihr gemeinsam die weiteren Schritte auf dem Weg zur
Konkretisierung der Beitrittsperspektive ausarbeitet. Wir
wollen eine europäische Türkei. Deshalb wollen wir der
Türkei eine glaubhafte europäische Perspektive eröffnen.
In den vergangenen Monaten ist viel darüber gespro-
chen worden, daß es in Helsinki an der Zeit sei, Ziel-
daten für den Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit
ersten Ländern festzulegen oder sich gar schon auf kon-
krete Beitrittstermine zu verständigen. Die Europäische
Union sollte indessen keine Illusionen nähren; wir soll-
ten vielmehr realistisch sein. Als Realisten können wir
uns nur auf das festlegen, was wir selbst auch einlösen
können. Deshalb wollen wir in Helsinki klarstellen,
wann die Europäische Union für die Aufnahme neuer
Mitgliedstaaten bereit ist. Nach dem erfolgreichen Ab-
schluß der Agenda 2000 unter deutscher Präsidentschaft
und nach der Festlegung des Europäischen Rates in
Köln, die Regierungskonferenz zur institutionellen Re-
form bis Ende 2000 abzuschließen, können wir den Bei-
trittsländern jetzt ein deutliches Signal geben: Die Euro-
päische Union wird im Jahre 2003 nach der Ratifizie-
rung der Ergebnisse der Regierungskonferenz zu den in-
stitutionellen Reformen für die Aufnahme neuer Mit-
glieder bereit sein. Das ist eine klare und deutliche Bot-
schaft an die Beitrittsländer, eine Botschaft, daß die EU
zu ihren Worten steht, offen für neue Mitglieder zu sein.
Dies ist aber zugleich ein Zeichen der Ermutigung für
die Beitrittsländer, ihrerseits alles zu tun, um für einen
raschen Beitritt bestehende Hindernisse in ihren Ländern
zu überwinden. Auf diesem Wege wird die EU die Bei-
trittsländer mit aller Kraft und mit vielfältigen Hilfen
unterstützen. Wir wollen das erweiterte Europa, wir
brauchen es, um Frieden, Freiheit, Stabilität und
Wohlstand auf unserem Kontinent auf Dauer zu sichern.
Beim Europäischen Rat in Köln haben wir uns darauf
verständigt, im Jahre 2000 eine Regierungskonferenz
zu den institutionellen Reformen durchzuführen. Mit
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7063
(C)
(D)
Blick auf die angestrebte Erweiterung der Union und auf
die berechtigten Erwartungen der Beitrittsländer auf ei-
nen raschen Beitritt erwarte ich einen Konsens der
Staats- und Regierungschefs für ein begrenztes Mandat
für die kommende Regierungskonferenz. Nur wenn wir
uns auf die wesentlichen Fragen der Stimmgewichtung,
der Größe und Struktur der Kommission, der Auswei-
tung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit so-
wie einige andere wichtige Fragen beschränken, werden
wir die Regierungskonferenz rechtzeitig bis zum Ende
des Jahres 2000 abschließen können.
Zugleich sind wir uns bewußt – darüber war ich mir
mit Präsident Chirac und Premierminister Jospin völlig
einig –, daß wir uns der Frage nach der rechtlichen und
der politischen Gestalt der Europäischen Union in den
nächsten Jahrzehnten verstärkt stellen müssen.
Deutschland und Frankreich werden in diesen Fragen
gemeinsam Definitionen und Ziele entwickeln. Beide
Seiten sind fest entschlossen, auch auf diesem Gebiet
dem vereinten Europa entscheidende Impulse zu geben.
Ich betrachte es in diesem Zusammenhang als ein
gutes Omen, daß sowohl die Konferenz zur institutio-
nellen Reform wie auch die Arbeiten an der Ausgestal-
tung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-
politik und das Projekt „Grundrechtscharta“ den Bogen
von der deutschen zur französischen Präsidentschaft
schlagen. Eindringlicher als dies könnte unsere besonde-
re Verantwortung für die Zukunft Europas, die wir ge-
meinsam wahrzunehmen gewillt sind, nicht zum Aus-
druck gebracht werden.
Die künftige Verfaßtheit Europas wird Thema eines
intensiven Diskussionsprozesses sein, den wir in Köln in
Gang gesetzt haben. Denn der Auftrag an ein eigenstän-
diges Gremium, den Entwurf für die Grundrechtcharta
der EU auszuarbeiten, ist der erste Schritt auf dem Weg
zur Entwicklung stärkerer und damit belastbarer euro-
päischer Verfassungsgrundlagen. Ich freue mich sehr,
daß der Startschuß zu dieser Entwicklung unter deut-
scher Präsidentschaft erfolgt ist.
Meine Damen und Herren, ich freue mich auch, daß
ich mit dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzog
eine ganz herausragende Persönlichkeit als meinen per-
sönlichen Beauftragten für dieses Gremium gewinnen
konnte.
Ich bin sicher, daß Altbundespräsident Herzog mit seiner
außerordentlichen politischen Erfahrung, seiner Persön-
lichkeit und seiner immensen fachlichen Qualifikation die
Arbeit dieses Gremiums prägen wird. Die Bundesregie-
rung jedenfalls würde es sehr begrüßen, wenn das Gremi-
um ihn auch zum Vorsitzenden berufen würde.
Meine Damen und Herren, in Helsinki werden wir
zum weiteren Vorgehen und zu den anstehenden Fragen
der Regierungskonferenz über die institutionellen Re-
formen notwendige Entscheidungen treffen. Für uns gilt
in Helsinki wie in der Regierungskonferenz selbst die
Maxime, daß wir Handlungsfähigkeit und Effizienz,
demokratische Legitimität, Bürgernähe und Transparenz
auch in einer erweiterten Europäischen Union sicher-
stellen müssen. Hierzu ist es unverzichtbar, daß wir zu
klaren und nachvollziehbaren Entscheidungsverfahren
kommen, bei denen eine bessere Ausgewogenheit zwi-
schen dem Stimmengewicht der größeren und der klei-
neren Staaten gewährleistet sein muß.
Darüber hinaus gilt es, eine vernünftige Regelung für
die Struktur und Größe der Europäischen Kommission
zu finden, eine Struktur und Größe, die die Interessen
aller Mitgliedstaaten wahrt und eine sinnvolle Ar-
beitsaufteilung ermöglicht.
Aus der Sicht der Bundesregierung stellt der ver-
mehrte Übergang zu Entscheidungen mit qualifizierter
Mehrheit im Rat unter gleichzeitiger Mitbestimmung
des Europäischen Parlaments einen der Kernpunkte der
anzustrebenden Reform dar.
Natürlich gibt es Bereiche, bei denen das Festhalten
an der Einstimmigkeit unbestritten ist. Das gilt zum Bei-
spiel für Vertragsänderungen und andere ratifizierungs-
bedürftige Entscheidungen. Es gilt auch für Kernfragen
des nationalen Interesses. Ich setze dabei, meine Damen
und Herren, auf die konstruktive Mitarbeit der Länder,
die wir an den Arbeiten nach dem bewährten Verfahren
der letzten Regierungskonferenz beteiligen wollen und
beteiligen werden.
Noch ein Punkt erscheint mir für wichtig für den Er-
folg der Regierungskonferenz: die enge Beteiligung des
Europäischen Parlaments an der Konferenz. Auf seine
Ideen, seinen Sachverstand und auf seine demokratische
Legitimation können und wollen wir nicht verzichten.
Meine Damen und Herren, das Europa der Zukunft
muß weltweit seine Interessen und Werte wirkungsvoll
vertreten können. Dies setzt voraus, daß wir Europäer in
der Welt mit einer Stimme sprechen und unseren Anlie-
gen gemeinsam wirkungsvoll Geltung verschaffen. Mit
der Berufung Javier Solanas zum Hohen Beauftragten für
die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und mit
seiner zusätzlichen Betrauung mit dem Amt des WEU-
Generalsekretärs ist uns ein erster wichtiger Schritt in die-
se Richtung gelungen. In einem nächsten Schritt müssen
wir nun darangehen, die Grundlagen für ein wirksames
europäisches Krisenmanagement und für eine europäi-
sche Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu schaffen.
Unter deutscher Präsidentschaft haben wir beim Euro-
päischen Rat in Köln im Juni die Weichen in diese Rich-
tung gestellt. Nicht zuletzt die Krise im Kosovo, meine
Damen und Herren, hat gezeigt, daß wir Europäer sowohl
im Bereich der Aufklärung als auch beim Lufttransport
Defizite haben. In einem ersten Schritt habe ich mit Präsi-
dent Chirac deshalb eine deutsch-französische Initiative
vereinbart, die die Schaffung eines europäischen Luft-
transportkommandos zum Ziel hat.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
7064 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Beim Europäischen Rat in Helsinki werden wir
wichtige Orientierungen für die weitere Ausgestaltung
der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
geben und erste Entscheidungen treffen. Ziel bleibt es,
die Arbeiten auch auf diesem Feld unter französischer
Präsidentschaft bis Ende 2000 abzuschließen. Dabei
steht neben der Schaffung krisentauglicher Entschei-
dungsmechanismen vor allem die Verbesserung der mi-
litärischen Fähigkeiten der Europäischen Union durch
die Integration der WEU in die Europäische Union
im Vordergrund. In Helsinki geht es auch darum, durch
einen Interimsbeschluß schnellstmöglich die Strukturen
für ein europäisches Krisenmanagement zu schaffen.
Wir brauchen in Brüssel ein ständiges politisches und
sicherheitspolitisches Komitee sowie einen Militäraus-
schuß. Die endgültige Verankerung dieser notwendigen
institutionellen Strukturen könnte dann im Rahmen der
Regierungskonferenz im nächsten Jahr erfolgen.
Ferner ist es wichtig, Zielvorgaben für die Bereit-
stellung der notwendigen Kapazitäten für die militäri-
sche und zivile Krisenbewältigung zu verabschieden.
Die britischen Vorschläge dazu finden unsere ungeteilte
Unterstützung. Außerdem müssen die Grundparameter
für die Einbeziehung der assoziierten WEU-Mitglieder
– also derjenigen europäischen Staaten, die der NATO,
aber nicht der Europäischen Union angehören – verein-
bart werden. Niemand soll sich ausgegrenzt fühlen;
niemand soll Nachteile erleiden.
Nicht weniger wichtig ist natürlich eine enge und
vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Europäi-
schen Union einerseits und der NATO andererseits. Es
kann und es wird hier kein Konkurrenzdenken geben.
Neben der Politik der europäischen Einigung bleibt
die transatlantische Zusammenarbeit im Rahmen der
NATO weiterhin tragender Pfeiler unserer Außenpoli-
tik. Dabei spielen die enge Partnerschaft und Freund-
schaft mit den Vereinigten Staaten und mit Kanada eine
zentrale Rolle. Ihre Mitwirkung in Europa bleibt auch in
Zukunft von entscheidender Bedeutung für Sicherheit
und Stabilität auf unserem Kontinent.
Meine Damen und Herren, in Helsinki müssen wir
uns ebenfalls mit einem aus deutscher Sicht ausgespro-
chen wichtigen Thema befassen, das unter den Mitglied-
staaten schon seit geraumer Zeit diskutiert wird: das
vom Europäischen Rat in Wien vor einem Jahr in Auf-
trag gegebene Steuerpaket zur Eindämmung schädli-
chen Steuerwettbewerbs. Für Europa ist es im globalen
Wettbewerb von großer Bedeutung, daß wir uns nicht
untereinander Nachteile durch unfairen Steuerwettbe-
werb zufügen.
Deshalb halten wir die baldige Einigung auf ein Steu-
erpaket mit folgenden drei Elementen für unverzichtbar:
erstens
dem Richtlinienentwurf zur Besteuerung von Zinserträ-
gen, der die steuerliche Erfassung grenzüberschreitender
Zinszahlungen an natürliche Personen sicherstellen soll,
zweitens dem Verhaltenskodex zur Unternehmensbe-
steuerung, der auf die Vermeidung bzw. Beseitigung un-
fairer Steuerpraktiken abzielt,
sowie drittens dem Richtlinienentwurf zur Zahlung von
Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Un-
ternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, womit die
steuerliche Benachteiligung zwischenstaatlicher Unter-
nehmenszusammenschlüsse gegenüber rein nationalen
Unternehmenszusammenschlüssen verhindert werden
soll.
Während die Beratungen zum Verhaltenskodex und
zur Lizenzrichtlinie weit vorangebracht werden konnten,
sind die Verhandlungen zur Besteuerung von Zinser-
trägen wegen der unnachgiebigen Haltung eines Mit-
gliedsstaates blockiert.
– Herr Glos, ich denke, in den nächsten Tagen und Wo-
chen sollten Sie beim Thema Finanzen etwas zurück-
haltender sein. Das ist sicher nötig.
Ich mache, meine Damen und Herren, keinen Hehl
daraus, daß ich für eine solche Blockadehaltung, die na-
tionale Eigeninteressen über die notwendige europäische
Solidarität stellt, wenig Verständnis habe.
Diese Politik schadet Europa und längerfristig auch den
eigenen nationalen Zielen.
Für die Bundesregierung ist es entscheidend, daß wir
eine Einigung über das Gesamtpaket erzielen, denn alle
drei darin enthaltenen Elemente zielen auf die Eindäm-
mung jeweils unterschiedlicher Aspekte des schädlichen
Steuerwettbewerbs. Sie bilden deshalb eine Einheit, die
wir nicht aufgelöst sehen wollen. Wir müssen und wer-
den aus diesem Grunde hierüber in Helsinki einen inten-
siven Meinungsaustausch führen. Ich hoffe, daß sich
Großbritannien in dieser Frage entscheidend bewegt.
Meine Damen und Herren, ein weiteres wichtiges
Thema in Helsinki wird die Beschäftigungspolitik sein.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7065
(C)
(D)
Grundlage der Beratungen zur Beschäftigungspolitik
bilden die beschäftigungspolitischen Leitlinien 2000, der
gemeinsame Beschäftigungsbericht sowie die Empfeh-
lungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Wir können fest-
stellen: Die europäische Beschäftigungsstrategie beginnt
Früchte zu tragen. Die Arbeitslosenquote in der Euro-
päischen Union ist nach Angaben des Statistischen Am-
tes der Gemeinschaft von 10,8 Prozent Mitte 1997 auf
9,1 Prozent im September 1999 zurückgegangen.
Trotz dieser erfreulichen Entwicklung liegt die Arbeits-
losigkeit auf europäischer Ebene bei weitem zu hoch.
Der Europäische Rat wird deshalb diesem Thema auch
weiterhin besondere Aufmerksamkeit schenken. Die
Bedeutung, die wir der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
und der Schaffung neuer Arbeitsplätze beimessen, macht
auch die Tatsache deutlich, daß wir diese Fragen am 23.
und 24. März 2000 auf einem Sondergipfel in Lissabon
beraten werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der heute
bereits erreichte europäische Integrationsstand und die
anstehende Erweiterungsrunde markieren eine tiefgrei-
fende Zäsur in der Geschichte der europäischen Inte-
gration. Europa wächst über den früheren Eisernen Vor-
hang hinweg zusammen. Europa muß in den kommen-
den Monaten eine große Zahl sehr unterschiedlicher,
aber in jedem Einzelfall wichtiger Aufgaben bewältigen.
Die Bundesregierung wird sich diesen Aufgaben stellen.
Sie wird dabei in enger Abstimmung mit den Partnern,
insbesondere mit Frankreich, nach geeigneten Strategien
und Konzepten suchen, um die Europäische Union zu
festigen und zu stärken. Wir sind der Auffassung, daß es
dazu keine wirklich rationale Alternative gibt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
Edmund Stoiber, Ministerpräsident des Freistaates
Bayern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Der Europäische Rat von Helsinki wird einen
wichtigen Meilenstein setzen. Aus der einst auf Westeu-
ropa beschränkten Gemeinschaft soll ja nun eine ge-
samteuropäische Union werden. Damit wird ein Prozeß
konsequent fortgesetzt, der auf deutscher Seite untrenn-
bar – daran möchte ich heute erinnern – mit der Union
und hier wiederum untrennbar mit den Namen Konrad
Adenauer und Helmut Kohl verbunden ist.
Dieses Werk gilt es zu bewahren.
Ich kann vielen der von Ihnen, Herr Bundeskanzler,
aufgezeigten Positionen zustimmen.
Sie zeigten aber in besonderem Maße nur die schönen
Seiten. Von den Problemen, den Herausforderungen und
den Auswirkungen der Osterweiterung für Deutschland
habe ich wenig, um nicht zu sagen: nichts gehört.
Die Osterweiterung wird nur gelingen, wenn Sie die
Menschen in Deutschland mitnehmen, wenn die Men-
schen in Deutschland diese Erweiterung genauso akzep-
tieren wie die überwältigende Mehrheit in diesem Hohen
Hause.
Der europäische Gipfel wird kein gewöhnlicher Gip-
fel sein. Der frühere Vizepräsident der Europäischen
Kommission, Sir Leon Brittan, hat es sehr treffend for-
muliert: „Die Bedeutung der Osterweiterung ist nur ver-
gleichbar mit dem Abschluß der Römischen Verträge im
Jahre 1957.“ Wir sind uns alle einig – das möchte ich
nachdrücklich unterstreichen –, daß die Osterweiterung
der Europäischen Union politisch, wirtschaftlich, histo-
risch und kulturell notwendig ist. Sie bietet die Chance
zur langfristigen Garantie von Frieden, Freiheit und
Wohlstand in ganz Europa.
Der Kosovo-Konflikt hat die Notwendigkeit einer ge-
nerellen Stabilisierung von Mittel- und Osteuropa ver-
deutlicht. Der Wunsch nach einer Beschleunigung des
Erweiterungsprozesses ist daher verständlich und rich-
tig. Doch machen wir uns nichts vor: Nicht überall – das
wiederhole ich – stößt die Osterweiterung auf helle Be-
geisterung, auch nicht in Deutschland. Deshalb müssen
wir nicht über das „Ob“, sondern über das „Wie“ disku-
tieren. Wir müssen die Akzeptanz der Menschen dafür
gewinnen, und zwar nicht durch Werbesprüche, sondern
durch Aufklärung, Fakten, Konzepte und auch durch
leidenschaftliche Auseinandersetzungen.
So wie wir hier über die Auswirkungen der Globali-
sierung diskutieren, so wie wir um Steuer-, um Sozialre-
formen und um Sparkonzepte ringen, so müssen wir of-
fen über die weitere Integration Europas leidenschaft-
lich diskutieren. Die Lösungen, die wir erarbeiten, die
Entscheidungen, die Sie diesen Monat in Helsinki tref-
fen werden, müssen nicht nur in den nächsten zehn Jah-
ren, sondern auch in den nächsten 20, 30 Jahren stim-
men. Es handelt sich in der Tat um eine enorme Wei-
chenstellung.
Durch den Beitritt von zwölf Staaten entsteht eine
andere Europäische Union: nahezu doppelt so viele Mit-
glieder, Vergrößerung der Fläche um die Hälfte, Anstieg
der Bevölkerung um ein Drittel, 20 und mehr Amtsspra-
chen, ein Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt der beitretenden
Staaten, das teilweise unter 30 Prozent des EU-Durch-
schnittes liegt – wie im Fall von Bulgarien, Lettland und
Rumänien –, Erhöhung des landwirtschaftlichen Pro-
duktionspotentials um 50 Prozent. Von den Auswirkun-
gen werden auch wir Deutsche massiv betroffen sein.
Natürlich gewinnen wir auf der einen Seite neue Ab-
satzmärkte, aber auf der anderen Seite drohen finanzielle
Mehrbelastungen, ein verstärkter Druck auf unseren Ar-
beitsmarkt und Probleme für die Sicherheit an den
Außengrenzen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
7066 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Die geplante Erweiterung um zwölf Staaten über-
steigt bei weitem die Dimension der früheren Süder-
weiterung um Griechenland, Portugal und Spanien. In
Spanien, das noch heute Leistungen aus dem Kohäsions-
fonds bezieht, lag zur Zeit seines EU-Beitritts, im Jahre
1986, das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt bei immerhin
67 Prozent des Durchschnitts der damaligen Zehner-EG.
Im vergleichbar großen Polen liegt es heute bei
39 Prozent, in Rumänien und Bulgarien bei 27 bzw.
23 Prozent.
Meine Damen, meine Herren, um es noch einmal zu
unterstreichen: Wir sind für die Entscheidung, den Kreis
der Beitrittskandidaten von sechs auf zwölf auszuweiten.
Aber die Erweiterung muß solide geplant und durchge-
führt werden. Ansonsten würden wir nicht den Osten
stabilisieren, was wir bewirken wollen, sondern Gefahr
laufen, durch ihn destabilisiert zu werden. Deswegen ist
dies eine ganz entscheidende Weichenstellung.
Deshalb sind die Beitrittskriterien des Kopenhage-
ner Gipfels von 1993 von so entscheidender Bedeutung.
Um sich nicht in ein Abenteuer mit ungewissem Aus-
gang zu stürzen, haben damals alle EU-Mitglieder poli-
tische und wirtschaftliche Voraussetzungen für die EU-
Mitgliedschaft formuliert. Darunter besonders wichtig:
die Garantie – das haben Sie erwähnt – von Demokratie
und Rechtsstaat einschließlich Menschenrechte und
Minderheitenschutz. Aber es gibt noch andere Kriterien,
nämlich eine funktionsfähige Marktwirtschaft, die den
Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der
Union standzuhalten vermag, und die Fähigkeit, die aus
einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu
übernehmen.
Wenn nun Beitrittsverhandlungen auch mit Staaten
aufgenommen werden, die von der Erfüllung dieser
Kriterien noch weit entfernt sind, so darf das nicht dazu
führen, die Kopenhagener Beitrittskriterien „intelligent
zu interpretieren“, wie das Romano Prodi vor kurzem
ausgedrückt hat. Das heißt, die Kriterien, vor allem die
zweiten und dritten Kriterien, die wirtschaftlichen Krite-
rien, will man anscheinend innerhalb der Kommission
lockerer angehen. Das halte ich für außerordentlich ge-
fährlich. Hier erwarte ich auch ein klares Wort, daß das
mit Sicherheit nicht geht. Denn das würde letzten Endes
die europäische Integration nicht fördern, sondern sie
langfristig geradezu schwächen.
Ein Beitritt von Staaten, deren Volkswirtschaften für
den Konkurrenzkampf im Binnenmarkt noch nicht aus-
reichend gerüstet sind, hätte in der Tat dramatische
Schwierigkeiten für diese Staaten zur Folge, aber nicht
nur dort. Er könnte auch das großartige Einigungswerk
in einem Jahrzehnt gefährden. Gerade wir in Deutsch-
land wissen doch, was es bedeutet, wenn völlig unter-
schiedliche Wirtschaftssysteme vereinigt werden sollen.
Zweitens. Bei den Verhandlungen ist Sorgfalt wich-
tiger als Geschwindigkeit. Einen konkreten Beitrittster-
min lehnen auch wir ab. Schon bei den laufenden Bei-
trittsverhandlungen mit den Staaten der sogenannten er-
sten Welle drückt die Kommission zunehmend auf das
Tempo. Zwischen den Vorschlägen der Kommission an
den Rat für eine gemeinsame Verhandlungsposition und
den Verhandlungssitzungen mit den Beitrittskandidaten
liegt oft nicht einmal eine Woche. Da haben die Mit-
gliedstaaten im Rat kaum noch die Gelegenheit, die
Verhandlungsvorschläge der Kommission gründlich zu
prüfen und eigene Interessen einzubringen. Das machen
sie meines Erachtens mit, wenn ich mir die Verhandlun-
gen anschaue. Deswegen stimme ich auch Helmut
Schmidt zu, der vor wenigen Tagen, am 1. Dezember
1999, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen
bemerkenswerten Leserbrief geschrieben hat. Er
schreibt:
Ich sehe mit einer gewissen Sorge, daß der Mi-
nisterrat der Europäischen Union und die Kommis-
sion in Brüssel ziemlich gleichzeitig mit einer gro-
ßen Zahl von beitrittswilligen Ländern verhandeln,
zugleich sehr optimistisch zeitliche Daten anvisie-
ren, ohne sich über die ökonomischen Anpassungs-
probleme ausreichend Klarheit verschafft zu haben.
Wer glaubt, daß nahezu eine Verdopplung der Zahl
der Mitgliedstaaten und eine institutionelle Reform
der Europäischen Union in wenigen Jahren bewäl-
tigt werden kann, der kann für alle Beteiligten
schwere Schäden anrichten.
Ich glaube, daß dies genau den Kern der Sorgen trifft,
die wir haben, um das Ganze zu einem großen Erfolg zu
bringen.
Mich konnten Sie lange Zeit als einen sogenannten
Europagegner darstellen, aber das können Sie jetzt nicht
mehr, weil man sich zunehmend bewußt wird, daß es
gewaltige Anforderungen erfordert, um diese Bewälti-
gung zu erreichen.
Meine Damen, meine Herren, „Zeitplan vor Krite-
rien“ lehnen wir ab. Jeder Beitrittskandidat bestimmt das
Tempo durch die Erfüllung der Kriterien für sich selbst.
Drittens. Wo nötig, brauchen wir Übergangsfristen
für die Beitrittskandidaten, aber auch für uns. Das Deut-
sche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt, daß bis zu
1,2 Millionen Personen in der heutigen Europäischen
Union eine Arbeitsstelle suchen werden. Eine solche
Entwicklung wäre vor allem für unsere Grenzregionen
dramatisch, aber nicht nur für sie. Daher brauchen wir
angemessene Übergangsfristen. Das ist weder anstößig
noch neu. Ich weise darauf hin, daß 1986 beim Beitritt
von Spanien und Portugal immerhin eine siebenjährige
Übergangsfrist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit ver-
einbart worden war.
Das war sicherlich noch eine geringere Problematik, als
wir sie heute haben. Deswegen glaube ich, daß die Bun-
desregierung auch dafür sorgen muß, daß in diesen
Punkten auch deutsche Interessen wirkungsvoll in die
Verhandlungen eingebracht werden.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7067
(C)
(D)
Beherzigen Sie auch das, was Ihnen Ihre neue euro-
papolitische Beraterin, Frau Wulf-Mathies, ins Stamm-
buch schreibt! Sie sagt:
Wir Deutsche treffen vielfach europapolitische Ent-
scheidungen, ohne das deutsche Interesse auch nur
definiert zu haben … Auch der neuen Regierung
fehlt es noch an einem Kompaß.
Wenn das Ihre Beraterin sagt, dann habe ich dem nichts
mehr hinzuzufügen.
Aber nicht nur die Beitrittskandidaten sind gefordert.
Auch die Europäische Union selbst muß sich beitrittsfä-
hig machen. Für eine Erweiterung der Europäischen
Union auf bis zu 27 Staaten brauchen wir substantielle,
institutionelle und inhaltliche Reformen. Da kann man
sich nicht wegen angeblichen Zeitdrucks im wesentli-
chen auf einige institutionelle Fragen beschränken. Sie
haben auch heute wieder gesagt, man könne im Grunde
nur die drei wichtigsten, die „leftovers“, angehen. Le-
diglich eine neue Stimmengewichtung im Rat, eine Än-
derung der Größe der Kommission und verstärkt Mehr-
heitsentscheidungen werden nicht ausreichen, damit die
Europäische Union auch nach der Osterweiterung noch
funktioniert.
Wissen Sie, Sie können sich nicht darum herummo-
geln. Es ist in der Tat ein Problem, wenn man es auf die-
se drei wichtigen Dinge begrenzt und nicht weitergeht.
Das kommt mir so vor wie bei Mika Häkkinen, der bei
einem Rennen mit großer Schnelligkeit an die Boxen
herangefahren und dann auf drei Reifen gestartet ist.
Man hat ja gesehen, was aus ihm in diesem Rennen ge-
worden ist.
Auch die Kommission und das Europäische Parla-
ment treten dafür ein, den Auftrag der Regierungskon-
ferenz auszuweiten. Die von der Kommission befragten
„drei Weisen“ haben eine umfassendere Reform vorge-
schlagen, aber leider in die falsche Richtung. Sie wollen
das EG-Vertragssystem zweiteilen. Im ersten Teil sollen
die Grundsätze niedergelegt werden, im zweiten Teil die
einzelnen Politikbereiche. Dieser zweite Teil, der letzt-
lich die Einzelkompetenzen der Europäischen Union
enthält, soll in einem gemeinschaftsautonomen Verfah-
ren geändert werden können. Das heißt, allein die Ge-
meinschaftsorgane würden dann zum Beispiel mehrheit-
lich bestimmen, ob die Europäische Union gemein-
schaftsweite Steuern erheben darf. Ich glaube, daß das
viel zu wenig debattiert wird. Das wäre in der Tat die
Entmachtung der nationalen Parlamente. Das wäre die
Entmachtung des Deutschen Bundestages. Die Kompe-
tenzkompetenz läge dann bei der Europäischen Union.
Das wäre meines Erachtens ein Stück europäischer Staat
durch die Hintertür.
– Dann müssen Sie auch etwas dazu sagen, ob Sie
akzeptieren, daß künftig in wichtigen Bereichen nur
noch der Ministerrat und das Europäische Parlament
entscheiden. Dann müssen Sie etwas dazu sagen, ob Sie
akzeptieren, was Dehaene will,
nämlich daß es letzten Endes keine Ratifizierungspflicht
der nationalen Parlamente mehr gibt. Dann entledigen
Sie sich großer Aufgaben. Ich halte das in der Tat für ein
Problem.
Eine gewaltig vergrößerte Europäische Union und
eine gleichzeitig fortschreitende Vertiefung hin zu ei-
nem Bundesstaat Europa, das paßt für mich nicht zu-
sammen. Das ist – ich sage das ganz offen –, als ob zwei
Züge mit vollem Tempo aufeinander zurasen, aber leider
auf dem gleichen Gleis. In einer so enorm erweiterten
und so heterogenen Europäischen Union der 27 können
zwangsläufig nicht alle Aufgaben erledigt werden, wie
es in einer Europäischen Union der 6 oder 15 noch
denkbar war.
Die Osterweiterung wird die Europäische Union dazu
zwingen, sich auf die Aufgaben zu konzentrieren, die
nur von Europa erledigt werden können. Sie wird uns
dazu zwingen, das Subsidiaritätsprinzip endlich ernst
zu nehmen.
Der Konflikt zwischen Vertiefung und Erweiterung
läßt sich nur dadurch lösen, daß sich Europa auf die we-
sentlichen Aufgaben beschränkt, für diese aber das not-
wendige Instrumentarium erhält. Das ist für mich der
entscheidende Punkt, Herr Bundeskanzler. Ich bedauere
es außerordentlich, daß in Helsinki nur über die drei in-
stitutionellen Fragen diskutiert und entschieden werden
soll. Denn neben einer Definition der europäischen Auf-
gaben und Interessen brauchen wir zuallererst eine klare
Beschreibung der europäischen Kompetenzen. Wenn
die Mitgliedsstaaten Mehrheitsentscheidungen akzeptie-
ren sollen, dann müssen sie wissen, worüber eigentlich
entschieden werden soll.
Ich möchte einmal ein aktuelles Beispiel nennen:
Hätte sich jemand im Deutschen Bundestag bei der Zu-
stimmung zu den EG-Verträgen vorstellen können, daß
der Europäische Gerichtshof für Europa in Anspruch
nimmt, das nationale Thema „Frauen in der Bundes-
wehr“ allein unter dem Gesichtspunkt der Chancen-
gleichheit von Mann und Frau im Arbeitsleben zu
regeln? Wir würden in dieser Frage hier im Deutschen
Bundestag mit Sicherheit eine leidenschaftliche Debatte
führen. Ich bin mir nicht sicher, ob es dabei verfas-
sungsändernde Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat
gäbe. Aber wenn der Generalanwalt das so vertritt und
der Europäische Gerichtshof das letztlich so entscheidet,
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
7068 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
dann zeigt das, daß Kompetenzen auf Europa überge-
gangen sind – ohne daß man sich groß damit befaßt
hat –, die man so eigentlich nicht auf Europa übertragen
wollte. Denn dies zu entscheiden ist zunächst einmal
eine nationale Aufgabe, die nur vor dem Hintergrund der
Geschichte Deutschlands verständlich ist. Verfassungs-
bestimmungen sollten nicht so ohne weiteres über eine
Vertragsbestimmung auf europäischer Ebene, die sehr
weit ausgelegt wird, ausgehebelt werden. Das ist genau
der Punkt, um den es geht.
Herr Bundeskanzler, Sie loben das Ergebnis des Ber-
liner Gipfels
und verschweigen, was heute schon allgemeine Meinung
ist: daß nachgebessert werden muß, was in Berlin bei
der Verabschiedung der Agenda 2000 versäumt worden
ist, nämlich die gemeinsame Agrarpolitik und die EG-
Strukturpolitik so zu reformieren, daß die Osterweite-
rung kein finanzielles Hasardspiel wird.
Sie vertreten hier mit großer Verve die Osterweite-
rung. Da sind wir nicht auseinander. Aber wie paßt das
zusammen mit dem, was damals in Berlin beschlossen
worden ist? Nach dem Beschluß von Berlin belaufen
sich die Gesamtausgaben für die Europäische Union der
15 im Zeitraum von 2000 bis 2006 auf 682 Milliarden
Euro. Für die Osterweiterung werden demgegenüber nur
68,5 Milliarden Euro angesetzt. Mit diesen Beträgen
können Sie das Ziel einer raschen Erweiterung um zwölf
Staaten sicherlich nicht oder nur unter größten Belastun-
gen erreichen. Es geht aber darum, die Belastungen zu
minimieren, damit das Ziel nicht zerbröselt wird. Das ist
die entscheidende Frage.
Sie haben hier gerade noch einmal angekündigt, in
Helsinki die Schaffung eines wirksamen europäischen
Arms in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik als
bedeutsame Aufgabe Europas in Angriff zu nehmen.
– Das ist richtig. – Aber dieses Ziel steht wiederum in
einem fundamentalen Kontrast zur Realität Ihrer Sicher-
heitspolitik. Sie tragen mit Ihren Milliardenkürzungen
bei den Investitionen der Bundeswehr natürlich die Ver-
antwortung dafür, daß der technologische Rückstand der
Bundeswehr gegenüber anderen NATO-Partnern, vor
allen Dingen den Vereinigten Staaten und Großbritan-
nien, in den nächsten Jahren immer größer wird. Sie
sprechen von neuen Strukturen für ein europäisches Kri-
senmanagement und einer europäischen Eingreiftruppe.
Aber mit Ihrer Sicherheitspolitik werden wir in
20 Jahren immer noch die Amerikaner brauchen, um
deutsche Soldaten aus den Krisenherden wieder heraus-
zuholen.
Es paßt nicht zusammen: hehre Worte in der französi-
schen Nationalversammlung, hehre Worte auf der euro-
päischen Ebene, hehre Worte auf dem Gipfel, aber hier
das Gegenteil zu tun, die technologische Ausrüstung der
Bundeswehr weiter ganz entscheidend zu schwächen.
Zwischen Worten und Taten, zwischen dem, was man
sagt, und dem, was man tut, sollte immer eine Dek-
kungsgleichheit bestehen.
Ich glaube, daß Sie im Grunde genommen ein biß-
chen verkennen, welche Probleme gerade für die natio-
nalen Parlamente entstehen. Ich glaube, daß Mehrheits-
entscheidungen in Europa – ich bleibe dabei –, die wir
brauchen, nur getroffen werden können, wenn man ge-
nau weiß, welche Kompetenz das Europäische Parla-
ment, welche Kompetenz die Europäische Kommission
und welche Kompetenz die nationalen Parlamente
haben.
Hier gibt es gegenwärtig eine sehr wuchernde Ent-
wicklung. Ich glaube, daß ernsthaft darüber debattiert
werden muß, ob es einen Sinn macht, daß im Prinzip
immer mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene
getroffen werden, ohne daß man den Rahmen genau
festgelegt hat, die die Menschen im Grunde genommen
nicht nachvollziehen können.
Ich glaube, daß wir eine genaue Abgrenzung brau-
chen. Das ist für mich der entscheidende Punkt. Auch
Sie wollen ein Europa der Subsidiarität. Aber der Be-
griff der Subsidiarität wird in Europa natürlich unter-
schiedlich ausgelegt. Die Briten und die Franzosen ver-
stehen unter Subsidiarität etwas anderes als wir Deut-
schen. Deswegen können wir den Begriff der Subsidia-
rität letzten Endes nur konkretisieren, wenn wir in Euro-
pa über die „leftovers“ hinaus wirkliche Kompetenzab-
grenzungen erreichen und deutlich machen, welches
eine regionale, welches eine nationale und welches eine
europäische Aufgabe ist. Ich bin für Erweiterungen der
europäischen Kompetenz – ich glaube, darüber gibt es
hier keine Meinungsverschiedenheiten – in der Asyl-
politik, in der Sicherheitspolitik, in der Außenpolitik und
in der Verteidigungspolitik. Hier brauchen wir zwei-
felsohne ein Mehr an Europa. Aber in der Frage des
Katastrophenschutzes und der Fremdenverkehrspolitik
brauchen wir ein Weniger an Europa. Wir brauchen eine
vernünftige Abgrenzung und keinen Mischmasch. Dar-
um geht es.
Es geht um die Frage: Wie bauen wir dieses neue
Europa, das mit viel mehr Staaten eine wuchtige Ebene
sein soll, und zwar eine Ebene, die zusammenwächst
und unsere Interessen über Europa in der Welt deutlich
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7069
(C)
(D)
machen kann? Aber dieses Gebilde muß in sich eini-
germaßen homogen sein. Es muß klar sein, wer was ent-
scheidet. Dies habe ich sehr vermißt. Ich bedaure sehr,
daß Sie all das, was im Parlament und auch im Bundes-
rat von allen Ministerpräsidenten gefordert wird, näm-
lich eine deutliche Kompetenzabgrenzung zu erreichen,
überhaupt nicht angehen.
Ich weiß, daß die Europäische Kommission von einer
Kompetenzabgrenzung überhaupt nichts hält. Ich weiß,
daß die meisten Mitgliedstaaten von einer Kompetenz-
abgrenzung überhaupt nichts halten. Aber ich glaube,
daß eine solche notwendig ist, damit man weiß, was in
diesem Parlament Sache ist, was in diesem Parlament
entschieden wird und was im Europäischen Parlament
entschieden wird.
Dieses Durcheinander ist eine schlechte Ausgangslage
für eine weitere Integration Europas. In diesem Sinne
bitte ich Sie und fordere Sie auf, in Helsinki dafür ein-
zutreten.
Danke schön.
Ich erteile dem Kol-
legen Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wir haben hier heute morgen Herrn Stoiber
in seiner Lieblingsrolle als europapolitische Kassandra
erlebt.
Die heutige Aufführung war nicht überzeugender als die
Aufführung, die wir hier im Deutschen Bundestag schon
erlebt haben. Herr Stoiber, die Presse war sich bei einem
Ihrer letzten Auftritte einig, daß Sie hier, wo Sie sich
nicht auf heimischem Boden befinden, eingegangen
sind. Sie sind mit Ihrer Rede Ihrem Ruf als Vertreter der
Provinzialität wieder voll gerecht geworden. Das muß
man schon deutlich sagen.
So steigen Sie nicht in die Bundesliga auf. Da ist selbst
Herr Schäuble noch überzeugender, der es heute bis jetzt
vorgezogen hat, nicht zu sprechen.
Ich finde es wirklich verwerflich, eine Position zu be-
ziehen, die so schamlos mit den Ressentiments der Men-
schen, ob der Bauern oder von wem auch sonst, spielt
und diese ausnutzt, wie Sie das getan haben.
Mit den Ressentiments zu spielen ist kennzeichnend für
Ihre Art, die noch „konservativ“ genannt wird. So kann
man Europa nicht überzeugend bauen, wenn man auf
diesem Gebiet Fortschritte machen will.
Wenn Sie den Bundeskanzler kritisieren und ihn auf-
fordern, deutsche Interessen zu vertreten, dann frage ich
Sie: Von wem wurde Gerhard Schröder denn hier in die-
sem Parlament kritisiert, daß er vielleicht zu kurzsichtig
deutsche Interessen formuliert? – Das kam doch aus Ih-
ren Reihen, von CDU/CSU. Herr Stoiber, für wen reden
Sie hier eigentlich?
Im Entschließungsantrag Ihrer Fraktion steht doch
etwas von der zügigen Erweiterung.
Mir schien das an dieser Stelle überhaupt nicht konsi-
stent zu sein. Das erinnert mich an dieses Beispiel aus
der Steuerpolitik. Sie fordern an einem Tag eine Netto-
entlastung von 50 Milliarden DM, Herr Schäuble fordert
eine Nettoentlastung von 30 Milliarden DM. Der Unter-
schied beträgt nur 20 Milliarden DM. Sie beweisen also
auf jedem Felde, wie unseriös Sie in der Politik sind,
ob in der Steuerpolitik oder hier in der Europapolitik.
Nein, der Bundeskanzler, die Bundesregierung gehen
richtig vor; sie gehen realistisch vor. Es war eben Ger-
hard Schröder, und es war diese Bundesregierung,
die von den realistischen Konsequenzen ökonomischer
und sozialer Art gesprochen hat und sie nie ausgeblendet
hat.
Das war immer unsere Herangehensweise.
Auch ich schätze Helmut Schmidt. Er muß aber auch
zur Kenntnis nehmen, daß die Fortschrittsberichte der
Beitrittskandidaten schonungslos die ökonomischen
Schwächen aufzeigen, Herr Stoiber. Wir sollten nicht
jetzt schon von Interpretationskünsten zu reden begin-
nen, dieses Zitat von Prodi anführen und damit Verunsi-
cherung in diesen Prozeß hineintragen.
Nein, wir bleiben bei den Kriterien, die wir festgelegt
haben, und lassen daran nicht rütteln.
Meine Damen und Herren, der nächste Europäische
Rat wird an einem Ort stattfinden, an dem vor einem
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
7070 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Vierteljahrhundert europäische Geschichte geschrieben
wurde. Am 1. August 1975 wurde die Schlußakte der
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa verabschiedet. Unter der Schirmherrschaft der
europäischen Flügelmächte – USA und Sowjetunion –
wurde an die Stelle des Konflikts die Kooperation ge-
setzt. Damit wurde auf außenpolitischem Felde das Ende
des Ost-West-Konflikts eingeleitet.
Heute ist Europa zum politischen Subjekt geworden,
schreibt seine Geschichte selbst und hat etwas Neues ge-
schaffen – die politische Union Europas. Darin sind ihre
Mitgliedstaaten bereit, freiwillig und demokratisch legi-
timiert, Souveränität aufzugeben. Dies ist kein Verzicht,
sondern ein Gewinn. Die Staaten Europas schließen sich
mehr und mehr zusammen. So können sie im rauhen
Wind des Weltmarktes bestehen. So wollen sie eine
politische Gegenmacht zu den ökonomischen Mega-
fusionen aufbauen. So schaffen sie die Voraussetzungen
für Frieden und Stabilität über Europa hinaus. So kön-
nen auch grenzüberschreitende Folgen der Globalisie-
rung beherrscht werden.
Geleitet von der Erkenntnis, daß sie Frieden und
weltpolitische Gestaltungsmacht nur noch gemeinsam
erreichen können, wollen die Staaten Europas die Inte-
gration als höchste Form der Kooperation zu einem
Schlüsselinstrument ihrer Europapolitik machen. Das
heißt, Vision und praktische Erfordernisse gehen Hand
in Hand.
Der europäische Binnenmarkt erschloß für alle Be-
teiligten zusätzliche Wachstumspotentiale. Die Einfüh-
rung einer gemeinsamen Währung erleichtert den
grenzüberschreitenden Handel und schützt zugleich vor
den Wechselfällen des internationalen Finanzmarktes.
Ich sage zu der aktuellen Diskussion um den Euro:
Lassen Sie uns sehr vorsichtig damit umgehen und nicht
noch zusätzlich Öl ins Feuer gießen und damit mögli-
cherweise die Schwierigkeiten noch vergrößern.
Im übrigen wäre das eine Debatte für sich, die wir zu
diesem Thema führen müßten.
Mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik wollen die Staaten Europas den
Frieden innerhalb der EU vertiefen und zugleich die
Voraussetzungen schaffen, um einem weiteren „Koso-
vo“ in Europa vorzubeugen.
Der angestrebte europäische Rechtsraum unterstützt
die Herausbildung europäischer Identitäten. Er bietet
gemeinsame Handlungsvollmachten zur Bekämpfung
grenzüberschreitender Kriminalität und ist ein Mittel zur
Heranbildung einer gemeinsamen Migrations- und
Asylpolitik.
Meine Damen und Herren, an all diesen Vorhaben
hatten deutsche Bundesregierungen – ich betone: Bun-
desregierungen! – maßgeblichen Anteil. Aber die deut-
sche Ratspräsidentschaft stand unter dem Vorzeichen
gewachsener Verantwortung des vereinten Deutsch-
lands. Das war eine Bürde und Herausforderung zu-
gleich. Die neue Bundesregierung mußte in einem
außerordentlich schwierigen außen- wie europapoliti-
schen Umfeld Handlungsfähigkeit und unbeirrbaren Ge-
staltungswillen dokumentieren. Wer, meine Damen und
Herren von der Opposition, wollte bezweifeln, daß diese
Bundesregierung – gerade gebildet – diesen Test euro-
papolitischer Zuverlässigkeit und Innovationsfähigkeit
mit großem Erfolg bestanden hat?
Sie hat es mit großem diplomatischen Geschick verstan-
den, nationale und europäische Interessen miteinander
zu verbinden.
Im Gegensatz zu dem, was Herr Stoiber hier sagte,
behaupte ich: Die Verabschiedung der Agenda 2000
brachte Ausgabenstabilität und mehr Beitragsgerechtig-
keit unter den Mitgliedstaaten. Nach Berechnungen des
Europäischen Rechnungshofes wird allein die Absen-
kung des deutschen Anteils in den nächsten Jahren bis
zu 12 Milliarden DM betragen. Bundeskanzler Schröder,
der Außenminister und andere haben eine Trendwende
bei den Nettozahlungen erreicht – ebenso wie wir na-
tional eine Trendwende in der Haushalts- und Steuer-
politik erreicht haben.
Mit den Ergebnissen auf europäischer Ebene ist
gleichzeitig ein Beitrag zum Konsolidierungskurs in der
Bundesrepublik geleistet worden. Erinnern wir uns doch
einmal, wie es in der Vergangenheit war. Helmut Kohl
war zu einem solchen Handeln außerstande. Er sorgte
für hohe Ausgabensteigerungen im europäischen Haus-
halt. Für Einsparungen fühlte er sich nicht besonders zu-
ständig.
Vorhin war Herr Waigel hier noch zu sehen. Wir alle
erinnern uns doch noch, wie Herr Waigel nach jedem
Gipfel von den „Staatsmännern de Luxe“ sprach, die
ihm so große Sorgen bereiteten, und er müsse all das
ausbügeln, was ihm Helmut Kohl zurückgelassen habe.
Das war doch die Realität. – Wir haben eine Trendwen-
de erreicht. Der Bundeskanzler und andere haben erfolg-
reicher als Sie verhandelt.
Diese Bundesregierung hat zusammen mit ihren
europäischen Partnern und gegen den Widerstand der
abgewählten Koalition den europäischen Beschäfti-
gungspakt beschlossen. Die beschäftigungspolitischen
Leitlinien wurden in diesen Tagen festgelegt. Der Be-
wahrung und Vertiefung europäischer Handlungsfä-
higkeit dienten auch weitere Initiativen der Bundesre-
gierung. Ich nenne die Vorschläge für eine gemeinsame
Sicherheits- und Verteidigungsidentität und den Fahr-
plan für institutionelle Reformen.
Der Schlüssel für die Handlungsfähigkeit der Euro-
päischen Union, vor allem in der Weltwirtschaft, ist die
Einigkeit über gemeinsame Regeln für den innereuro-
päischen Standortwettbewerb. Ein Wettlauf um die je-
weils geringsten Steuern führte zu einer ökonomischen
Joachim Poß
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7071
(C)
(D)
Schwächung der EU, an der kein europäischer Mitglied-
staat ein Interesse haben kann. Wir unterstützen daher
ausdrücklich Finanzminister Hans Eichel in seinem Be-
mühen, eine einheitliche Zinsbesteuerung in der Euro-
päischen Union zu erreichen. Eine effektive und gleich-
mäßige Besteuerung der Zinseinkünfte tut not.
Um es mit den Worten des bekannten Verfassungsrich-
ters Paul Kirchhof zu sagen:
Eine unerträgliche Situation ist, dass die Reichen
im Land Einkünfte in Milliardenhöhe am Fiskus
vorbeischleusen können.
Daß das so ist, kann hier niemand ernsthaft bestreiten.
Eine europäische Lösung wäre der Königsweg. Mir
ist bewußt, daß die Chancen für eine Einigung nicht ge-
rade groß sind. Ich bin Finanzminister Eichel deshalb
sehr dankbar, daß er trotz der britischen Blockade nichts
unversucht läßt, hierbei doch noch zum Ziel zu kom-
men.
Bundeskanzler Schröder wünsche ich in Helsinki eine
glückliche Hand – auch für die Vereinbarung des Code
of Conduct, des Maßnahmenpakets gegen unfairen Steu-
erwettbewerb.
All diese Vorhaben dienen nicht nur dem Eigenzweck
der vertieften Zusammenarbeit, um dem Ziel europäi-
scher Vergemeinschaftung näher zu kommen. Sie dienen
zugleich als Voraussetzung für die Erweiterungsfähig-
keit der Europäischen Union, die in Helsinki beraten
wird. Lassen Sie mich daher aus unserer Sicht einige
strategische Grundsätze hervorheben.
Erstens. Um bei einer erweiterungsbedingten Erhö-
hung der Zahl der Mitgliedstaaten entscheidungsfähig zu
bleiben, wird es bei den institutionellen Reformen maß-
geblich darauf ankommen, das Prinzip der Abstimmung
mit Mehrheit auszubauen. Von ebenso großer Bedeu-
tung sind die Größe und die Zusammensetzung der
Europäischen Kommission und die Stimmgewichtung
im Rat. Wir brauchen diese Regierungskonferenz jetzt.
Ihr Abschluß Ende 2000 darf nicht gefährdet werden.
Herr Stoiber, die Vorstellungen der Union gefährden
den Abschluß der Regierungskonferenz 2000. Das wol-
len wir nicht.
Eine Ausweitung des Mandats würde die Zustim-
mungsfähigkeit bei den Mitgliedstaaten enorm er-
schweren. Mit dem erfolgreichen Abschluß der Regie-
rungskonferenz kann die Europäische Union ihre Zu-
sicherung erfüllen, daß sie 2003 in der Lage sein wird,
neue Mitgliedstaaten aufzunehmen. Der Bundeskanzler
hat recht: Diese Botschaft ist klar und muß auch herü-
berkommen.
Zweitens. Hinsichtlich Umfang der Erweitung und
Auswahl der beitrittsuchenden Staaten müssen die Ko-
penhagener Kriterien konsequent angewendet werden.
Dies gilt sowohl für die inneren wirtschaftlichen und
politischen Bedingungen jener Staaten, als auch für den
Erhalt der „Stoßkraft der Integration“. Gründlichkeit
geht hier vor Schnelligkeit.
Drittens. Mit Blick auf die nachlassende Zustimmung
der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten und in den Bei-
trittsländern zum Erweiterungsprozeß bedarf es noch
aktiver Überzeugungsarbeit. Aber ich bin mir ziemlich
sicher, Herr Ministerpräsident Stoiber, daß man diese
Überzeugungsarbeit nicht in dem Geiste leisten kann,
den Sie heute morgen hier an den Tag gelegt haben.
Dies würde geradewegs zum Gegenteil führen.
In der Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit
kann die Charta europäischer Grundrechte von Be-
deutung sein.
Viertens. Die gemeinsame Außen-, Sicherheits-
und Verteidigungspolitik ist neben der Erweiterung
und vor dem Hintergrund europäischer Krisen und Kon-
flikte außerhalb der EU das zweite bedeutende Integrati-
onsvorhaben der EU, aber nicht jenseits der NATO,
sondern als Verstärkung des europäischen Pfeilers in der
Allianz. Eine europäische Verteidigung braucht die
Konzentration und Zusammenlegung militärischer Mit-
tel. Es führt kein Weg daran vorbei – dies hörte sich bei
Ihnen, Herr Stoiber, so an –, daß wir angesichts der Ein-
sparungen in unserem nationalen Haushalt den Verteidi-
gungshaushalt davon nicht ausnehmen können. Dies war
wieder typisch: Ich verstehe ja, bei Ihnen in Bayern gibt
es eine Konzentration der Rüstungsindustrie. Aber man
kann doch nicht ungeprüft deren Interessen hier vertre-
ten. Dies ist doch verantwortungslos. Wir müssen an der
Konsolidierungspolitik festhalten und können deshalb
den Verteidigungshaushalt davon nicht ausklammern.
Dies geht leider nicht anders, Herr Stoiber. Im Grunde
genommen wissen Sie dies auch. Ich möchte Ihnen jetzt
keinen Vortrag über die Erblast halten.
Die europäische Verteidigung braucht also die Kon-
zentration und Zusammenlegung militärischer Mittel,
weil dies langfristig zu einer Einsparung finanzieller
Ressourcen führen kann. Wie Sie sehen, meine Damen
und Herren von der Opposition: Europa ist bei uns, bei
dieser Bundesregierung, aber auch bei dieser Koalition
in besten Händen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun
Kollege Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Joachim Poß
7072 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Der Bundeskanzler hat vor der französischen Assemblée
Nationale zu Recht ausgeführt:
Europa darf im nächsten Jahrhundert nicht passiver
Beobachter sein, sondern muß starker Akteur, muß
bei der Schaffung einer neuen globalen Ordnung
entscheidend mitbestimmen.
Wir von der F.D.P. sind nicht die Besserwisser in der
Opposition. Wir beteiligen uns konstruktiv an einer
Europapolitik, die Europa die Rolle zubilligt, die wir im
nächsten Jahrhundert benötigen. Dies erfordert drei Din-
ge:
Erstens. Europa muß sich kontinental organisieren.
Zur Osterweiterung gibt es keine Alternative.
Auch ich möchte dem verehrten Ministerpräsidenten aus
Bayern zurufen und die Begleitstrategie für die Oster-
weiterung deutlich machen: Wir haben Übergangspro-
bleme. Die Chancen sind größer als die Risiken. Wir
sollten allerdings nicht dieselbe Strategie wie beim Euro
wählen: eine tolle Sache, aber tausend Einwände.
Es darf kein „Ja, aber“ geben. Wir sind für die Oster-
weiterung und erleichtern den beitrittwilligen Staaten
den Weg.
Zweitens. Wir brauchen die Unterstützung der Be-
völkerung.
Drittens. Wir müssen zu einer Stärkung der europäi-
schen Währung zurückkehren, Herr Bundeskanzler.
Die Euroschwäche am heutigen Tag – es mag Zufall
sein – ist kein gutes Testat für die deutsche Wirtschafts-
politik.
Zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist
es an der Zeit, daß sich Europa vereinigt. Es ist und
bleibt strategisches Ziel deutscher Politik, gemeinsam
mit Frankreich an dieser Vereinigung Europas zu ar-
beiten. Wir unterstützen das Ziel, die internen institutio-
nellen Reformen der Europäischen Union in einem sehr
ehrgeizigen Plan bis Ende 2000 abzuschließen, um in
Ruhe das Ratifizierungsverfahren beginnen zu können,
damit das Datum, das ich hier immer eingefordert habe,
eingehalten werden kann: Zum 1. Januar 2003 muß es
reformwilligen osteuropäischen Staaten möglich sein,
beizutreten, meine Damen und Herren.
Das bedarf aber der gemeinsamen Unterstützung. Die
Liberalen im Deutschen Bundestag wie auch die Libe-
ralen im Europäischen Parlament, die ich von hier aus
herzlich grüße, können sich eine erste Beitrittswelle
ohne Polen nicht vorstellen. Deshalb ist es vorrangige
Politik zwischen Deutschland und Frankreich, Polen zu
helfen, den Weg schneller zurückzulegen. Wir müssen
dazu beitragen, daß der Strukturwandel in Polen von der
kleinräumigen Landwirtschaft zum Mittelstand schneller
vollzogen wird, weil wir ansonsten auch zusammen mit
Frankreich nicht erreichen können, daß Polen in der
ersten Beitrittsgruppe dabei ist.
Meine Damen und Herren, die Einräumung eines
Kandidatenstatus für die Türkei, Wirtschaftshilfen für
bedrohte deutsche Bauunternehmen, Proteste in Seattle
zeigen, daß der Strukturwandel, daß die schnelle Oster-
weiterung, daß der Eintritt in die nächste Welle der Glo-
balisierung einer neuen, besseren Kommunikations- und
Begleitstrategie bedürfen. Dies betrifft nicht nur die
Europäische Union, sondern auch die Bundesregierung.
Wir müssen die Menschen aufklären, daß die Osterwei-
terung mehr Chancen durch neue Märkte als Gefahren
durch internen Wettbewerb bietet.
Das ist nicht leicht. Aber es ist von allergrößter
Wichtigkeit. Es ist eine Frage der politischen Führung.
Die Diskussion über die Einführung der europäischen
Währung hat gezeigt: Nur wenn die politische Führung
von Anfang an ein klares Ziel verfolgt, wenn sie auch
gegen anfängliche Widerstände fest bleibt, wird sie am
Schluß auch die Unterstützung der Bevölkerung be-
kommen. Aus der europäischen Begleitstrategie für den
Euro sollten wir lernen, was die schnelle Osterweiterung
angeht.
Dazu paßt nicht – Herr Fischer, mehr möchte ich Ih-
nen heute nicht sagen, weil Sie die Opposition in der
letzten Parlamentsdiskussion nicht sehr kollegial behan-
delt haben; das ist eine Stilfrage –, daß man einerseits
der Türkei im Rahmen der NATO-Zusammenarbeit
mißtraut, andererseits der Türkei aber einen EU-
Kandidatenstatus einräumt. Da muß man sich klar ent-
scheiden; beides paßt nicht zusammen.
Kandidatenstatus ohne Verhandlungen mit der Türkei
bei gleichzeitigen Verhandlungen mit Ländern wie Bul-
garien und Rumänien wird in der Türkei die internen
Reformen nicht beschleunigen.
In der nationalen Diskussion zu sagen, wir wollten
die schnelle Osterweiterung, wir hätten selbst Probleme
in der Bauindustrie und wir wollten, daß die Türkei
Kandidatenstatus bekommt, bringt die Gefahr mit sich,
die Menschen zu überfordern. Vorrangig aus Sicht der
F.D.P. ist die Osterweiterung und nicht die endgültige
Entscheidung, welchen Status die Türkei letztlich in
einem lange andauernden Prozeß erhält. Darüber kann
man trefflich streiten.
Dr. Helmut Haussmann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7073
(C)
(D)
Herr Bundeskanzler, ein Jahr nach Einführung des
wichtigsten europäischen Projektes, des Euro, müssen
wir heute in einer Europa-Debatte Bilanz ziehen. Wir
– Herr Waigel, den ich leider nicht sehe, der seinerzeitige
Bundeskanzler Kohl, Herr Kinkel und die F.D.P. – haben
damals vehement für den Euro gekämpft. Wir haben ihn
immer als starke Währung gepriesen. Ich sage ganz offen,
daß ich mir nie hätte vorstellen können, daß lediglich
nach einem Jahr durch rotgrünes Durcheinander, durch
Reformunfähigkeit in Deutschland und durch Eingriffe in
die Marktwirtschaft, wie etwa bei Holzmann, der Euro auf
einem absoluten Tiefpunkt angekommen ist.
Wer gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika
global eine wichtige Rolle spielen will, dem darf auch
der Kurs der europäischen Einheitswährung nicht
gleichgültig sein.
Die Euro-Schwäche ist die Quittung der Märkte für un-
terlassene Reformen in Deutschland, für Mißachtung
marktwirtschaftlicher Gesetze – siehe Holzmann – und
auch für überholte nationalistische Töne, wie wir sie ja
im Fall Mannesmann gehört haben. Kapital geht nicht in
einen Währungsraum, in dem ausländisches Kapital
– wie im Fall Mannesmann – unerwünscht ist.
Der Fall Holzmann zeigt ja, wie schnell eine Lösung
medienwirksam gestrickt wurde. Inzwischen streiten
sich die Gewerkschaften über den Haustarif. Inzwischen
höre ich von Herrn Monti, daß die Beihilfe noch nicht
gezahlt werden kann, weil die sorgfältige Prüfung der
Hilfen für Holzmann noch aussteht. Inzwischen erleben
wir eine tiefe Frustration des deutschen Mittelstandes,
weil einem bankrotten Unternehmen mit Steuermitteln
des Mittelstandes geholfen wurde. Auch das trägt nicht
zu unserem internationalen Ansehen bei.
Herr Bundeskanzler, wer in der Assemblée Nationale
zu Recht „l'Europe puissance“, also ein starkes und
mächtiges Europa, fordert, der muß zunächst in
Deutschland seine Hausaufgaben erledigen, weil
Deutschland das wichtigste Euro-Land ist. Herr Struck
hatte einmal einen richtigen Einfall, als er das Steuer-
modell der F.D.P. mit Steuersätzen von 15, 25 und
35 Prozent gefordert hat. Danach wurde er von seiner
eigenen Fraktion fast massakriert.
Statt dessen basteln die Sozialdemokraten vor ihrem
Parteitag erneut an einer Neidsteuerdiskussion. Auch das
wird zu einer weiteren Schwächung der europäischen
Währung beitragen.
Die Wahrheit ist: Nur durch eine echte Steuerreform
und durch eine moderne Tarifpolitik, die dem Mit-
telstand Öffnungsklauseln bietet, schafft man neue Ar-
beitsplätze, beseitigt man strukturelle Defizite und stärkt
damit auch die europäische Währung.
Europa ist sehr viel mehr als ein Binnenmarkt mit
einer gemeinsamen Währung. Europa lebt von einer
gemeinsamen Vision. Die Einführung des Euro-
Bargeldes für die Europäer Anfang 2002 wird zur
Vollendung des Binnenmarktes beitragen. Die Politi-
sche Union mit einer Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik und einem einheitlichen Raum für
Freiheit und Recht wird zwar noch etwas auf sich warten
lassen; aber sie wird es zwangsläufig geben.
Eine wirtschaftliche Supermacht wie die Europäische
Union kann aber nicht ohne eine kulturelle und politi-
sche Dimension überleben. Auf die Dauer kann Europa
nur erfolgreich sein, wenn es eben auch in den Herzen
und Köpfen der Menschen stärker als bisher verankert
ist. Dies ist eine Aufgabe, der sich alle Parteien im
Deutschen Bundestag stellen müssen.
Es geht letztlich darum, ein Leitbild vom künftigen
Europa zu entwickeln. Wir brauchen eine breite öffentli-
che Diskussion über Sinn und Zweck dieses Europas.
Ich unterstütze die Meinung des Bundeskanzlers, die er
vor der Assemblée Nationale geäußert hat. Europa leitet
sich heute nicht mehr nur von der Verhinderung von
Kriegen ab. Europa bedarf vielmehr einer neuen Legiti-
mation. Diese liegt vor allem darin, daß Europa die Ebe-
ne zwischen dem Nationalstaat, der in seinen Steue-
rungsmöglichkeiten eingeschränkt ist, und internationa-
len Organisationen, wie WTO und UNO, darstellt, die
aber nur in Ansätzen globale Regelungen anwenden. Die
Europäische Union ist also die mittlere Ebene. Sie gibt
den Weg der nationalen Volkswirtschaften in die globale
Wirtschaft vor. Diese neue und wichtige Bedeutung für
Europa muß insbesondere mit der jungen Generation
stärker diskutiert werden.
Wir Liberalen sind der Auffassung, daß die jetzt be-
gonnene Diskussion über eine europäische Grund-
rechtscharta der erste Schritt auf dem richtigen Weg zu
einer künftigen Verfassung sein kann. Wir setzen zu-
nächst auf die Weiterentwicklung der europäischen
Verträge zu einer späteren Verfassung.
Neben den Freiheits- und Schutzrechten für die Bürger
muß es aber auch zu einer klareren Kompetenzauftei-
lung zwischen den einzelnen Ebenen kommen. Dabei
muß dem Prinzip der Subsidiarität eine entscheidende
Bedeutung zukommen. Subsidiarität ist aus unserer Sicht
Ausdruck des Prinzips der Freiheit. Europa darf nur das
entscheiden, was Nationalstaat, Bundesländer, Kommu-
nen und der Bürger selbst nicht entscheiden können.
Die europäischen Bürger brauchen diese Vision von
Europa. Europa muß bürgernah sein und dem Bürger
den Eindruck verschaffen, daß europäische Lösungen
der richtige Weg sind, um die Herausforderungen der
Globalisierung zu bestehen.
Vielen Dank.
Dr. Helmut Haussmann
7074 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Sterzing, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Tatsache, daß sich Herr Haussmann hier wieder als ein
überzeugter Europäer dargestellt hat, hat uns nicht über-
rascht.
Wir glauben Ihnen das alles. Daß aber Herr Stoiber hier
den Versuch unternommen hat, als „bayerischer Häkki-
nen“ des europäischen Integrationsprozesses aufzutre-
ten, war für uns heute morgen ein neues Erlebnis.
Ich glaube, man muß ihm sagen, daß man Formel-1-
Rennen auch im schnellsten Auto nicht gewinnen kann,
wenn man ständig auf der Bremse steht. Das hat er
nämlich wieder sehr deutlich dokumentiert.
In den letzten Jahren zehrte die CDU/CSU von dem
guten europapolitischen Ruf ihres Altkanzlers. Aber
seitdem dieser Lotse von Bord gegangen ist – nach der
Spendenaffäre muß man vielleicht sagen: über Bord ge-
gangen ist –, wird deutlich, daß sich hinter diesen voll-
mundigen Bekenntnissen zur europäischen Integration
doch ein ziemliches konzeptionelles Durcheinander und
konzeptionelle Widersprüche verbergen.
Dies wird sehr deutlich, wenn man sich genauer an-
schaut, was hier zur Osterweiterung und zu den institu-
tionellen Reformen gesagt worden ist.
Helsinki wird ein Erweiterungsgipfel sein. Ich glau-
be, wir sind uns durch die Bank darin einig, daß diese
Entscheidung, den Kreis der Beitrittsländer, mit denen
jetzt konkret verhandelt werden soll, zu erweitern, eine
gute Entscheidung sein wird. Damit wird nicht zuletzt
ein Beschluß des Luxemburger Gipfels von 1997 kor-
rigiert. Denn dieser Beschluß hat dazu geführt, daß sich
viele Länder der sogenannten zweiten Gruppe diskrimi-
niert fühlten.
Natürlich wird es notwendig sein, auch in Zukunft im
Beitrittsprozeß zu differenzieren, je nach den Fort-
schritten, die die einzelnen Länder im Reformprozeß bei
der Übernahme des Acquit machen. Es muß jedoch
deutlicher als bisher sein, daß das Leitmotiv lauten muß:
differenzieren, aber nicht diskriminieren.
Was sich jetzt an Beschlüssen in Helsinki abzeichnet,
wird, so hoffen wir, die Länder der sogenannten zweiten
Gruppe motivieren, sich in diesem schwierigen Prozeß
der Heranführung an die Europäische Union weiterhin
anzustrengen. Sie haben sogar die Chance, andere Län-
der zu überholen.
Natürlich gibt es keine Rückkehr zum alten Start-
linienmodell. Die Länder der ersten Gruppe stehen nicht
mehr an der Startlinie, sie sind gestartet. Die sechs neu-
en Länder haben jetzt die Chance, auch loszurennen, die
anderen Länder einzuholen, ja vielleicht sogar zu über-
holen. Dafür verdienen sie alle unsere Unterstützung.
Aber man muß deutlich sehen: Sie haben das Handi-
cap eines Verhandlungsrückstandes von fast zwei Jah-
ren. Vielleicht ergibt sich aber die Chance, daß sie von
den Erfahrungen, die bisher gesammelt worden sind,
profitieren können und diese Erfahrungen in ihren Her-
anführungsprozeß einbringen.
Die Widersprüchlichkeit dessen, was Herr Stoiber ge-
sagt hat, besteht darin, daß das Bekenntnis zum Erweite-
rungsprozeß zwar immer wieder erfolgt, danach aber im
Grunde nur noch die Mängel, die Fehler, die Risiken
und die Gefahren aufgezählt wurden. Man muß sich fra-
gen, warum Herr Stoiber nicht deutlich sagt, von welch
fundamentaler Bedeutung diese Erweiterung gerade
auch für Deutschland ist.
Man sollte nicht nur vor den Gefahren drohender Mi-
gration, billiger Arbeitskräfte, billiger Waren und ähnli-
chem warnen, sondern sollte hier auch erwähnen, daß
dieser Beitrittsprozeß schon heute dazu beiträgt, daß in
Bayern und auch in den neuen Ländern viele Arbeits-
plätze gesichert werden.
Wir erwarten vom Europäischen Rat in Helsinki die
Aufwertung des Status der Türkei. Ich glaube, daß wir
hier einen sehr wichtigen Schritt tun. Er ist auch eine
Korrektur der Beschlüsse von Luxemburg, die zu einer
verheerenden Verschlechterung im europäisch-türki-
schen Verhältnis geführt haben.
Wir haben die Hoffnung, daß die Türkei durch diese
glaubwürdige Beitrittsperspektive einen Anstoß erhält,
die dringend notwendigen inneren Reformen durchzu-
führen. Wir wollen damit gerade die Kräfte in der Tür-
kei unterstützen, die diese Orientierung hin auf Europa
durchführen und in der Türkei dafür kämpfen.
Wir machen damit Schluß mit einer sehr doppelbödi-
gen, ja teilweise verlogenen Politik gegenüber der Tür-
kei, wie wir sie in den letzten Jahren beobachtet haben.
Wir wissen, daß diese doppelbödige Politik der letzten
Jahre in der Türkei eben nichts an Reformen bewirkt
hat, die wir alle so sehr gewünscht haben. Natürlich ist
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7075
(C)
(D)
nicht sicher, ob wir mit unserer neuen Politik das ansto-
ßen können, was wir uns erhoffen. Wir geben aber doch
ein sehr deutliches Signal.
Mit dieser Aufwertung des Status der Türkei ist na-
türlich keine Aufweichung der politischen Kriterien von
Luxemburg verbunden. Wir machen vielmehr sehr deut-
lich, welche Reformen in den Bereichen Demokratie
und Menschenrechte, welche Änderungen in der türki-
schen Haltung zum Kurdenproblem und zum Zypern-
problem notwendig sind, damit die Türkei den Status er-
reicht, der es der EU möglich macht, die Türkei zu kon-
kreten Beitrittsverhandlungen einzuladen. Aber davon
sind wir – das wissen wir alle – noch weit entfernt.
Von Helsinki soll folgendes Signal an die Türkei aus-
gehen: Ihr könnt dazugehören – wenn ihr wollt und
wenn ihr die notwendigen Anstrengungen unternehmt.
Ihr müßt aber selber entscheiden, ob ihr euch mehr nach
Osten oder mehr nach Westen orientiert, mehr nach Bei-
rut und Bagdad oder mehr nach Brüssel. Das ist das Si-
gnal, das von Helsinki ausgehen soll.
Im Zusammenhang mit den Entscheidungen über die
weitere Gestaltung des Erweiterungsprozesses steht na-
türlich auch die Frage, wie die Regierungskonferenz im
nächsten Jahr durchgeführt werden und welche Aufga-
ben sie haben soll. In Köln erfolgten dafür wichtige
Weichenstellungen. Ich will hier aber deutlich sagen,
daß auch wir glauben, daß das in Köln beschlossene
Mandat für die Regierungskonferenz etwas sehr be-
scheiden ausgefallen ist. Der Reformstau in der EU ist
sehr groß. Da muß man von den beteiligten Regierungen
schon etwas mehr Ehrgeiz erwarten können. Deshalb
fordern wir durchaus eine Erweiterung der Tagesord-
nung, allerdings unter der Bedingung – das muß deut-
lich gesagt werden –, daß der Abschluß der Regierungs-
konferenz Ende des Jahres 2000 unter französischer Prä-
sidentschaft nicht gefährdet wird.
Sicherlich lohnt sich hier noch einmal der Hinweis
auf die Position von CDU/CSU, die auf der einen Seite
ebenfalls die Notwendigkeit des rechtzeitigen Abschlus-
ses betont, auf der anderen Seite aber die Tagesordnung
völlig überfrachten will. Denn es muß nach den Erfah-
rungen der letzten Jahre doch schon klar sein, daß die
Realisierung der Forderungen aus dem Dehaene-Bericht,
eine Realisierung der Reformvorstellungen des Europäi-
schen Parlaments innerhalb eines Jahres, nun wirklich
nicht möglich ist.
Man muß natürlich auch fragen, wieso diese neue
Regierung nun in einem Jahr in der Regierungskonfe-
renz all das an Reformen schaffen soll, was die alte Re-
gierung aus CDU/CSU und F.D.P. in den 16 Jahren ihrer
Regierungszeit und während dreier Regierungskonfe-
renzen nicht hat durchsetzen können.
Und da ist der berühmte Kompetenzkatalog nur ein Bei-
spiel.
Also, das Motto für die Regierungskonferenz sollte
nicht sein: So wenig wie nötig. Das kann nicht gelten.
Wir müssen dieses Motto umformulieren und sagen: So
viel wie möglich, damit wir aus dem Reformstau he-
rauskommen und auch den Erweiterungsprozeß be-
schleunigen. Denn der von Herrn Stoiber konstruierte
Gegensatz zwischen Vertiefung und Erweiterung be-
steht nicht. Wir haben in den letzten Jahren doch alle
sehr stark dafür gearbeitet, deutlich zu machen, daß sich
Vertiefung und Erweiterung gegenseitig bedingen und
daß nur auf diese Art und Weise der europäische Inte-
grationsprozeß weitergebracht werden kann.
Schließlich noch zwei Randbemerkungen zur Regie-
rungskonferenz. Die erste Bemerkung. Die Ausweitung
der Mehrheitsentscheidungen im Rat steht auf dem
Programm. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Handlungs-
fähigkeit der EU, aber auch zur Demokratisierung, weil
mit der Mehrheitsentscheidung dann auch das Mitent-
scheidungsrecht des Europäischen Parlaments verbun-
den ist.
Wir wollen hier aber auch deutlich sagen, daß wir
von den Ressortministern dieser Regierung eine wesent-
lich größere Bereitschaft und konstruktive Vorschläge
für diese Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen er-
warten, eine weit größere Bereitschaft, als sie die Res-
sortminister der alten Regierung gezeigt haben. Denn
eine Neuaufführung dieses Trauerspiels von lauter Res-
sortegoisten wollen wir auf der neuen Regierungskonfe-
renz nicht wieder erleben.
Die zweite Bemerkung: Wir erwarten natürlich – und
dies wurde ja vorhin vom Bundeskanzler auch deutlich
gesagt – eine wesentlich stärkere Beteiligung des Euro-
päischen Parlaments an dieser Regierungskonferenz.
Es liegt am Ende des Jahres nahe, Bilanz zu ziehen.
Es war ein sehr schwieriges Jahr für Europa, ein schwie-
riges Reformpaket mit der Agenda 2000, der Kommis-
sionskrise, dem Krieg im Kosovo, den Europawahlen.
Aber der Integrationsprozeß ist, glaube ich, aus diesem
Tief wieder herausgekommen, und wir können deutlich
feststellen, daß die deutsche Bundesregierung während
ihrer Präsidentschaft, aber auch über das ganze Jahr
hinweg sehr deutlich daran mitgewirkt hat, der Integra-
tion neue Perspektiven aufzuzeigen. Wir werden in die-
ser Regierung alle gemeinsam diesen Weg weitergehen.
Vielen Dank.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Uwe Hiksch, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren! Europa ist für viele Men-
schen eine große politische Vision. Es ist eine politische
Vision, weil die Menschen mit Europa die Werte von
Frieden, von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit verbin-
Christian Sterzing
7076 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
den. Damit die Menschen diese Werte aber auch als
Zentrum der europäischen Integration sehen können,
müssen die Politiker in Europa, müssen die Regierungen
in Europa den Schwerpunkt auf die Durchsetzung dieser
Werte legen.
Ich glaube, es ist wichtig, daß die Politiker bei allen
Diskussionen über Europa – die reaktionäre Rede von
Herrn Stoiber hat ja deutlich gemacht, wie Mißstände,
die es in Europa gibt, dafür benutzt werden sollen, Äng-
ste zu schüren und die europäische Integration kaputt-
zumachen – klarmachen, daß die europäische Vision
darin bestehen muß, einen Beitrag zur Bekämpfung der
Massenarbeitslosigkeit zu leisten,
einen Beitrag dafür zu leisten, daß soziale Standards in
Europa durchgesetzt werden, und einen Beitrag dafür zu
leisten, daß in Europa der Ausbau von Demokratie und
der Ausbau von Menschenrechten im Mittelpunkt euro-
päischer Politik stehen. Deshalb ist die Forderung der
PDS, daß auf dem Gipfel in Helsinki auch über die Be-
schäftigungspolitik und darüber diskutiert werden muß,
wie Massenarbeitslosigkeit bekämpft und wie für Euro-
pa eine beschäftigungspolitische Strategie entwickelt
werden kann, eine richtige Forderung, weil sie auf der
einen Seite die positive Vision für Europa aufnimmt und
auf der anderen Seite deutlich macht, daß die Ängste
und Sorgen der Menschen gesehen werden und daß sich
die Politik dieser annimmt.
Europa ist für die politische Linke, ist für Sozialistin-
nen und Sozialisten aber auch ein Beitrag dafür, daß der
Internationalisierung von Kapital- und Finanzströmen
auf der einen Seite, der Internationalisierung von Unter-
nehmensstrukturen auf der anderen Seite eine zivilge-
sellschaftliche, eine demokratische, eine politische, eine
humanistische Perspektive entgegengesetzt wird und daß
die Menschen spüren, daß es nicht angehen kann, daß
sich nur undemokratische Kapitalströme durchsetzen
und daß demokratische Strukturen auf der Strecke blei-
ben. Deshalb sehen wir vom Gipfel von Helsinki ganz
wichtige Weichenstellungen ausgehen.
Wir als Partei des Demokratischen Sozialismus glau-
ben, daß Europa in zwei Richtungen reformbedürftig ist.
Zum einen ist es reformbedürftig, weil wir glauben, daß
demokratische Institutionen wie das Europäische Parla-
ment vorangebracht werden müssen, und weil wir glau-
ben, daß über die Frage der Macht der Kommission und
der Stimmengewichtung der Kommission geredet wer-
den muß. Zum anderen ist es reformbedürftig, weil wir
glauben, daß in Europa die Diskussion über Beschäfti-
gung und Massenarbeitslosigkeit im Mittelpunkt stehen
muß.
Deshalb glauben wir, daß bei der Diskussion über die
Frage, wie eine Beitrittsstrategie aussehen muß, immer
wieder deutlich gemacht werden muß, daß der Acquis
communitaire, nämlich die Übernahme der in Europa
erkämpften und durchgesetzten Normen und gesetzli-
chen Grundlagen, im Mittelpunkt der Beitrittsstrategien
stehen muß, weil wir nicht glauben, daß Europa in den
Köpfen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
der Menschen mehrheitsfähig wird, wenn wir nicht die
ökologischen und sozialen Standards, die wir gemein-
sam in Europa erkämpft haben, wenn wir nicht die
Sicherheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
und wenn wir nicht die Rechte der freien Gewerkschaf-
ten in den Mittelpunkt eines Beitrittsprozesses der Kan-
didaten stellen.
Deshalb betonen wir, daß wir glauben, daß Beitrittskan-
didaten die Kopenhagener Kriterien erfüllt haben müs-
sen und daß Beitrittskandidaten Werte wie Menschen-
rechte, Werte wie Demokratie und Werte wie Schutz
von Minderheiten erfüllt haben müssen, damit in kon-
krete Beitrittsverhandlungen eingetreten werden kann.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die PDS
möchte, daß die Türkei eine klare europäische Perspek-
tive bekommt, weil wir glauben, daß das Gerede man-
cher Konservativer vom christlich-abendländischen Boll-
werk Europas eine falsche Perspektive für Europa gewe-
sen ist
und viele Staaten Europas verunsichert hat. Wir wollen
aber, daß die Kopenhagener Kriterien als Voraussetzung
für einen solchen Kandidatenstatus gesehen werden.
Deshalb glauben wir, daß es in einer Türkei, die wir
ausdrücklich als Mitglied der Europäischen Union haben
wollen, in der aber eine Unterdrückung von Gewerk-
schaften und eine Unterdrückung von Demokraten zu
erleben sind, in der die Demokratie nicht funktioniert
und in der das Militär faktisch herrscht, ein falsches
Signal wäre, wenn man der politischen Klasse andeuten
würde, daß man sie schon heute – zu einem Zeitpunkt,
in dem sie die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllt hat –
zu einem Beitrittskandidaten macht.
Die PDS tritt deshalb dafür ein, daß man der Türkei ein
deutliches Signal in Helsinki gibt, daß sie in Europa
willkommen ist, daß die Entscheidung in der Frage des
Kandidatenstatus aber noch einmal verschoben werden
sollte.
Die PDS möchte ein Europa des Friedens. Wir glau-
ben, daß ein Europa, das auf wirtschaftliche, ein Europa,
das auf soziale Entwicklung ausgerichtet war, ein richti-
ges Europa war. Jetzt aber soll in Helsinki und im nach-
folgenden Prozeß ein neues Europa gestaltet werden. Es
soll nämlich die Westeuropäische Union in die Euro-
päische Union integriert werden. Damit wird in Europa
faktisch eine Militarisierung in Gang gesetzt.
Durch diese Militarisierung der Europäischen Union
wird der globale Rüstungswettlauf noch einmal voran-
getrieben, werden materielle und geistige Ressourcen,
die in Europa eher dafür gebraucht würden, um Sozial-
Uwe Hiksch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7077
(C)
(D)
politik voranzubringen, in militärischen Projekten ge-
bunden. Wir glauben, daß es falsch ist, in Europa militä-
rische Komponenten zu integrieren. Wir treten aus-
drücklich dafür ein, Europa auf eine ausschließlich
zivilgesellschaftliche und menschliche Orientierung
auszurichten.
Deshalb ist die PDS der tiefen Überzeugung, daß die
Schritte zur Militarisierung – diesen Weg geht Europa
ja – dazu führen werden, daß die guten Beziehungen, die
die Europäische Union zu Rußland aufgebaut hat, indem
sie einen Beitrag dazu geleistet hat, daß Rußland die
Angst vor einer Umschnürung genommen wurde, sich
verschlechtern werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für die PDS
ist Europa ein Europa der Menschen. Aus diesem Grun-
de wollen wir ein ziviles Europa, ein Europa für Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer und ein Europa, das den
Ausbau des Sozialstaates in den Mittelpunkt stellt. Ein
Europa des Militärs lehnen wir ab.
Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen!
„Das jetzige Haus …
– das europäische Haus –
genügt nicht in der Reichweite“, Europa brauche
„eine Verjüngung“, eine Erweiterung – und er
meint eine Verjüngung der Ideen, der Kultur, der
Modernität und der Stimmung.
So ein Politiker aus der Provinz – das meine ich in kein-
ster Weise negativ. Es handelt sich um den Präsidenten
der autonomen Landesregierung von Katalonien. Mit
solchen Aussagen befördert man eine pro-europäische
Stimmung, Herr Ministerpräsident. Mit Ihrer Rede
haben Sie gerade das Gegenteil bewirkt.
Es ist wichtig, was in diesem Zusammenhang in die-
ser Debatte gesagt wird, aber auch das, was die CSU,
Sie an erster Stelle, sowie andere Kolleginnen und Kol-
legen über den laufenden Prozeß der Erweiterung
sagen. Ihr Europaminister – es war, glaube ich, gestern
in Brüssel – sprach von einer Hurra-Erweiterung. Herr
Ministerpräsident, ich frage Sie: Sind das richtige Be-
griffe angesichts eines so sensiblen Themas? Ich kann ja
verstehen, daß Sie aus Ihrer bajuwarischen Alpenfestung
manches etwas anders betrachten als andere Politikerin-
nen und Politiker. Angesichts dieses Sprachgebrauches
erwarte ich von Ihnen eine Klarstellung in der Richtung,
daß zur Fortsetzung des Friedensprozesses eine zügige
Erweiterung um die osteuropäischen Länder nötig ist.
Der Kollege Joachim Poß hat das noch einmal deutlich
gemacht.
Es kam mir schon etwas merkwürdig vor, daß vor
einem Jahr die neue Bundesregierung – das haben wir
zum Teil auch in Gesprächen mit Botschaftern erfah-
ren – einer sehr reservierten Haltung und einer großen
Zurückhaltung begegnet ist, nur weil der Bundeskanzler
davon gesprochen hat, eine realistische Europapolitik
machen zu wollen. Er hatte aber nur gesagt, daß alle
konkreten Daten zu überprüfen seien und daß erst dann
zu entscheiden sei. Sie von der Union haben doch den
osteuropäischen Ländern viel zu frühe Daten genannt.
Für Polen hat man einen Beitritt im Jahre 2000 in den
Blick genommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, all das hat
falsche Erwartungen geweckt. Die jetzige Perspektive ist
aber ganz eindeutig: Die Europäische Union soll zum
1. Januar 2002 erweiterungsfähig sein. Das ist eine gute
Perspektive, um den Ländern die Möglichkeit zu geben,
sich auf den Beitritt vorzubereiten.
Herr Ministerpräsident, ich bin gerade angesichts der
Tatsache, daß wir aus demselben Bundesland kommen,
immer wieder über die von Ihnen verinnerlichte Doppel-
strategie überrascht. Man kann es eigentlich gar nicht
besser machen. Sie zeigen sich hier und an entsprechen-
den Stammtischen oder bei Diskussionen immer skep-
tisch gegenüber einer zügigen Osterweiterung. Kaum ist
aber ein Ministerpräsident eines dieser Länder bei Ihnen
zu Gast, oder Sie sind dort zu Gast, höre ich aus der
bayerischen Staatskanzlei immer: Herr Stoiber setzt sich
für einen zügigen Beitritt ein.
Bleiben Sie doch einmal bei Ihrer Linie! Vollziehen Sie
in europapolitischen Fragen nicht immer eine Geister-
fahrt! Das ist mittlerweile nicht mehr zu vertreten.
Zu einem anderen Aspekt, den Sie immer wieder an-
führen. Sie haben in einem kürzlich veröffentlichten In-
terview mit dem „Focus“ – es ist gut, daß man bei uns
alles nachlesen kann – Prodi kritisiert, auch heute wie-
der, und vor Panikmache gewarnt. Aber er hat dies so
gar nicht gesagt. Sie sollten sich einmal die entspre-
chenden Kriterien ansehen; es wird nichts aufgeweicht.
Letzten Mittwoch im Europaausschuß, als sämtliche
Botschafter der Beitrittsländer zu Gast waren, ist doch
deutlich geworden, daß sie selbst um die Schwierigkei-
ten in ihrem Land wissen, aber auch um die Chancen.
Bisher gab es im Bundestag immer den Konsens, sich
nicht nur kritisch zu äußern und nicht nur die Probleme
zu sehen, sondern auch die Chancen einer Osterweite-
Uwe Hiksch
7078 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
rung der Europäischen Union. Das sollte deutlich ge-
macht werden.
Sie sprechen zu Recht die Probleme an. Darüber,
Herr Ministerpräsident, besteht überhaupt kein Dissens:
Bei diesem Prozeß muß man die Mitbürgerinnen und
Mitbürger mitnehmen. In der Tat geht es nicht nur um
die Menschen in den beitrittswilligen Ländern, sondern
auch um die Menschen in den Ländern, die bereit sind,
die Beitrittskandidaten aufzunehmen. Ich gebe Ihnen
recht, daß es Probleme gibt – in Bayern, aber auch in
Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg; darauf
werden die Kolleginnen und Kollegen noch eingehen.
Jetzt aber geht es darum, den Menschen bei uns deutlich
zu machen, welche Chancen dies für sie bedeutet, wel-
che Instrumentarien eingesetzt werden, um diesen Pro-
zeß zu bewerkstelligen und zu begleiten. Insofern sollten
Sie dem Auftrag, den wir als Politiker haben, nachkom-
men und mehr Informationen geben, statt zu desinfor-
mieren und Panik zu machen; denn genau das haben Sie
in den letzten Wochen getan.
Sie haben zu Recht gesagt, es müsse informiert wer-
den. Ich frage mich aber: Was ist in den letzten Jahren,
in der Regierungszeit von CDU/CSU getan worden, um
Entsprechendes zu tun, damit die Menschen bei uns
nicht verunsichert werden, damit sie bei diesem Prozeß
mitgenommen werden können?
Sie haben wieder einmal – das ist Ihr Lieblingsthema
– die Frage der Subsidiarität angesprochen. Wenn Herr
Stoiber dies anspricht, hat es immer eine pikante Note.
– Nein, lieber Herr Kollege Glos, ich spreche nur den
Widerspruch an. – Auf europäischer Ebene stellt er sich
als der hundertprozentige Föderalist dar. Wenn er auch
zu Hause, in seinem Bundesland Bayern, von diesem
Geist geprägt wäre, dann wäre dies gut. Dann wäre auch
manches Argument, das Sie, Herr Stoiber, angeführt ha-
ben, glaubwürdiger.
Sehr geehrter Herr Stoiber, Sie haben – das ist allseits
bekannt – eine sehr personalintensive Staatskanzlei. Ab-
gesehen davon, daß in den letzten Jahren und Jahrzehn-
ten schon längst konkrete Vorschläge für einen solchen
Kompetenzkatalog hätten kommen können, stellen Sie
sich doch die Frage – in diesem Punkt möchte ich Herrn
Kollegen Sterzing beipflichten –: Was kann ich in dieser
Zeit erreichen? Was kann ich regeln? Dies muß doch in
den Ländern in Osteuropa als Signal aufgefaßt werden:
Hoppla, die beschäftigen sich jetzt wieder mit sich
selbst! Wir alle kennen doch das Ratifizierungsverfah-
ren. Dann wird das Zieldatum eben nicht erreicht. Aber
genau dann haben wir das Problem: Wir haben bei den
Menschen und den Regierungen Erwartungen geweckt
und befassen uns jetzt mit uns selbst. Dies sollte reali-
stisch betrachtet werden.
Wir können gerne eine Debatte darüber führen. Der
Anfang ist bereits mit dem Subsidiaritätsprotokoll ge-
macht worden. Dies wird sicherlich eine spannende De-
batte werden.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das Jahr geht langsam zu Ende.
– Wenigstens ein Datum, bei dem Sie mir beipflichten
können. – Der Bundeskanzler ist zu Recht auf dieses
eine Jahr eingegangen. Ich möchte dieser Regierung
deshalb Dank sagen für das, was Sie in ihrer Präsident-
schaft erreicht hat.
– Über Konten sprechen wir gleich noch, Herr Kollege
Glos.
Die Rahmenbedingungen sind bereits geschildert
worden. Wir haben vieles erreicht – das können Sie von
der Opposition hin- und herwenden, wie Sie wollen –:
im Bereich der Finanzierung, in bezug auf die Eigen-
mittel der Europäischen Union. Wir haben es geschafft,
die Länder aufnahmefähig zu machen. Und noch eines
ist erreicht worden – das haben Sie in Ihrer Regierungs-
zeit nicht geschafft –, nämlich eine Nettoentlastung für
die Bundesrepublik Deutschland.
– Daß Sie mit Zahlen nicht gut umgehen können, das
haben wir in den letzten Tagen erfahren.
Wenn ich sehe, daß das Mitglied des Europäischen
Rechnungshofes Herr Bernhard Friedmann, der unserer
Partei nicht unbedingt nahesteht, darstellt, welche Net-
toentlastung auf die Bundesrepublik zukommt, so sollte
man das ernst nehmen, und Sie sollten nicht ständig mit
falschen Zahlen im Lande herumreisen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist heute ein
Beitrag des Kollegen Dr. Müller von der CSU erschie-
nen – er ist natürlich ein treuer Vasall seines Minister-
präsidenten –, in dem er von einer Entparlamentarisie-
rung spricht. Ich glaube, nachdem Herr Dr. Müller seit
1994 im Bundestag ist und dem Europaausschuß ange-
hört, sollte er einmal einen Blick – da sind Sie, lieber
Herr Kollege – in den entsprechenden Artikel des
Grundgesetzes werfen. Sie sollten sich auch einmal die
Geschäftsordnung ansehen. Sie wissen ganz genau, wie
Günter Gloser
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7079
(C)
(D)
das Verhältnis zwischen deutschem Parlament und Bun-
desregierung in bezug auf Vorinformationen und Vorbe-
ratungen ist. Sie sollten keine falschen Stichworte in die
Welt setzen, um zu suggerieren, daß wir keine Mitspra-
cherechte mehr hätten. Viele andere Länder der Euro-
päischen Union beneiden uns um die Möglichkeit eines
gesonderten Ausschusses für Europafragen, aber auch
um die Möglichkeit des deutschen Parlaments in Euro-
pafragen mitzuwirken.
Herr Kollege Gloser,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des angesprochenen
Kollegen Müller?
Aber bitte. Er ist ja gerade
erst gekommen.
Herr Kollege, ich
danke für die lobende Erwähnung und bitte Sie: Können
Sie dem Hohen Haus ausführen, in welcher Weise der
Deutsche Bundestag in Kernfragen der europäischen
Rechtsetzung ein echtes Mitwirkungs- und Mitentschei-
dungsrecht hat? Ist es nicht vielmehr so, daß wir in
Kernfragen der europäischen Rechtsetzung – hier denke
ich beispielsweise an die Agenda 2000, an die Struktur-
reform, an die Finanzstruktur, an die Asylgesetzgebung
– nur ein Anhörungsrecht, eine Informationspflicht der
Bundesregierung haben? Wir haben bis heute keine Dis-
kussion zu den Agenda 2000-Beschlüssen geführt und
keine Abstimmung darüber gehabt. Wir werden damit
im Kern unserer Zustimmungsmöglichkeit enthoben.
Können Sie dem Hohen Haus die Mitwirkungsrechte
darlegen?
Lieber Herr Dr. Müller, ich
habe gerade erwähnt, daß Sie wie ich seit 1994 im Deut-
schen Bundestag sind. Wir gehören beide demselben
Ausschuß an. Sie kennen die entsprechenden Regula-
rien, die ablaufen, genau. Wir sind dabei in unseren Auf-
fassungen nicht weit auseinander, denn Sie haben in Ih-
rer Regierungszeit und wir bei unserer Regierung immer
darauf gedrängt, daß wir vor entsprechenden Entschei-
dungen, vor entsprechenden Gipfeln von der Bundesre-
gierung nicht mehr nur unterrichtet werden, sondern daß
wir auch die Möglichkeit haben – erinnern Sie sich an
die Diskussion der letzten Legislaturperiode –, entspre-
chende Auffassungen und Entscheidungen des entspre-
chenden Ausschusses oder des Parlaments mitzugeben.
Ich habe damit überhaupt kein Problem, daß man das
alles noch ausgestalten kann. Bei der Frage, wie eine
demokratische Komponente auch in bezug auf das Eu-
ropäische Parlament hergestellt werden kann, befinden
wir uns in der Diskussion und haben uns dafür ausge-
sprochen, mehr Rechte dorthin zu geben und in einem
Zusammenspiel zu sein. Aber hier von einer Entparla-
mentarisierung zu sprechen, ist ein Schritt, den Sie zu-
viel getan haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Schluß eines
Jahres zieht man Bilanz. Ich denke, die rotgrüne Bun-
desregierung kann gerade auch in Sachen europäischer
Politik ein Guthaben vorweisen. In den letzten Tagen
wurde immer nur über Konten gesprochen. Hierzu kann
ich sagen: Das Konto der von der SPD und dem Bünd-
nis 90/Die Grünen geführten Bundesregierung ist posi-
tiv. Dieses Konto muß nicht verheimlicht werden. Das
Guthaben kann in das Jahr 2000 mitgenommen werden.
Ich kann im Namen meiner Fraktion der Bundesregie-
rung für den Gipfel in Helsinki viel Erfolg wünschen.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kol-
legen Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzender der
CDU/CSU, das Wort.
Herr Präsi-
dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Gloser, nicht nur das Jahr geht zu Ende, sondern ein
ganzes Jahrhundert geht zu Ende.
– Ein Jahrtausend auch; wie Sie wollen. Wir stehen an
der Schwelle eines neuen Jahrhunderts. Ich finde, mit
zum Besten und Wichtigsten, was wir in dieses neue
Jahrhundert mitnehmen, gehört die europäische Eini-
gung.
Die Chance, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer,
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Ende des
Ost-West-Konflikts ganz Europa zu einem großen star-
ken Europa zu einen, ist eine so großartige Aufgabe – es
ist wahrscheinlich das beste, was wir aus diesem so
schwierigen Jahrhundert in das neue mitnehmen –, daß
wir in dieser Debatte vor allem das den Menschen in un-
serem Lande sagen müssen. Wir haben keine größere
Chance, als ein großes starkes Europa zu bauen. Daran
arbeiten wir.
Deswegen ist die EU-Erweiterung natürlich eine
Chance für alle in Europa, für die Beitrittskandidaten
wie für alle Mitglieder der Europäischen Union, vor al-
lem für Deutschland, das mitten in Europa liegt. Dieses
Deutschland hat keine bessere Zukunftsperspektive als
die, daß wir in Süd und Nord und Ost und West von
lauter Freunden und Partnern umgeben sind. Das ist die
große Herausforderung, die große Chance der europäi-
schen Einigung.
Günter Gloser
7080 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Natürlich wird die Erweiterung für die Kandidaten
wie für die Europäische Union auch große Herausforde-
rungen, große Übergangsprobleme mit sich bringen. Wir
wissen das in Deutschland auf Grund der Erfahrungen in
den letzten zehn Jahren.
Deswegen ist es völlig richtig – ich habe auch nicht
verstanden, was Sie in der Debatte für Buhmänner auf-
gebaut haben –, daß der bayerische Ministerpräsident
gesagt hat, wir müssen die Debatten so führen, daß die
Menschen die Chancen begreifen und daß sie sicher
sind, daß die Risiken beherrschbar sind und die damit
verbundenen Herausforderungen bewältigt werden kön-
nen.
– Doch, genauso hat er es gemacht, und so ist es auch
richtig.
Sie können Europa, gerade weil es so wichtig ist und
weil es so ungeheuere Veränderungen, so viel Unabseh-
bares mit sich bringt, nicht gegen die Menschen und
über die Köpfe der Menschen hinweg bauen.
Bei den Debatten, die wir hier führen, auch bei der,
die wir in den letzten anderthalb Stunden geführt haben
– ich sage das ganz selbstkritisch –, habe ich mich ange-
sichts der Herausforderungen gefragt, ob wir damit die
Menschen erreichen, wenn sie uns zuhören. Deswegen
sage ich Ihnen: Lassen Sie uns doch nicht die falschen
Fronten aufbauen. Wir alle wollen die Erweiterung, und
wir wollen sie so rasch wie möglich. Aber wir wissen,
die Beitrittskandidaten stehen vor großen Herausforde-
rungen, und auch wir in der Europäischen Union müssen
eine Menge leisten. Wir haben eine Menge vor.
Was dieses Hin und Her angeht: Natürlich ist es die
Aufgabe der Opposition, die Regierung zu kritisieren.
Loben tun Sie sich selbst wirklich genügend; das brau-
chen wir nicht auch noch zu machen.
Im übrigen stammt der Satz: „Es muß damit aufge-
hört werden, daß in Brüssel das Geld der deutschen
Steuerzahler verbraten wird“ von Ihnen, Herr Schröder,
und nicht von Herrn Stoiber. Auch daran muß man ja
wohl erinnern.
Da Sie gesagt haben, in den letzten 16 Jahren sei
nichts oder wenig geschehen, Herr Kollege Poß:
Wir haben das Riesenwerk der Europäischen Wäh-
rungsunion zustande gebracht. Die Beiträge von Herrn
Schröder dazu waren so, daß wir sie am besten verges-
sen wollen.
– Dann ist es ja gut.
Ich meine, wir sollten jetzt noch einige Sätze darüber
reden, was geschehen muß, wenn wir ein großes und
starkes Europa wollen. Wir werden dieses Europa nur
schaffen, wenn wir einige grundlegende Fragen klären,
und zwar jetzt. Je schneller wir dies tun, desto besser ist
es. Da ist die Subsidiarität das Wichtigste. Das klingt
so theoretisch-abstrakt und interessiert die Leute nicht.
Aber die Frage, was Europa entscheidet, was die Mit-
gliedstaaten und was die Regionen entscheiden und was
der kommunalen Selbstverwaltung bleibt, ist eine fun-
damentale Frage, die beantwortet werden muß, wenn es
gelingen soll, das große und starke Europa zu bauen. Da,
wo Europa zuständig ist, muß es stark sein.
Aber es muß nicht alles machen. Wenn es sich um zu
viele Dinge kümmert, dann wird es vieles machen, aber
weniges gut. Deswegen brauchen wir die Konzentration
auf ein starkes Europa und mehr Subsidiarität. Wir sa-
gen: – Damit die Subsidiarität funktioniert, bleibt die
Klärung dieser Kompetenzfrage von zentraler Bedeu-
tung.
Jetzt hört man, wir brauchen eine Art Verfassungs-
vertrag. Den Begriff mögen nicht alle in Europa. Es
geht mir nicht um den Begriff, aber wir brauchen eine
Klärung der Frage, wofür Europa und wofür die Mit-
gliedstaaten zuständig sind. Dieser Tatbestand muß ver-
fassungsfest sein, er darf nicht einseitig geändert werden
können. Zudem muß der Europäische Gerichtshof ein
neutraler Richter sein und nicht ein Integrationsorgan
der Europäischen Union. Das ist er nämlich heute – und
damit keine neutrale Instanz. Deswegen brauchen wir
diese Klärung.
Wenn wir das geklärt haben, bekommen wir die Ent-
scheidungsfähigkeit in der Europäischen Union besser
hin. Sie muß verbessert werden.
Damit sind wir bei der Frage – da stimme ich Ihnen
nicht zu, Herr Bundeskanzler –, ob es wirklich reicht,
die Regierungskonferenz auf die drei Punkte zu kon-
zentrieren, die Sie genannt haben, die sogenannten „left-
overs“, die wenigen Punkte, die übriggeblieben sind. Er-
stens will ich darauf aufmerksam machen, daß Sie es
besser wissen: Es wird für einige Mitgliedsstaaten sehr
schwer sein, sich bei einer Einigung auf die drei „left-
overs“ zu konzentrieren. Machen Sie das Paket ein biß-
chen umfangreicher, dann haben Sie eine größere Chan-
ce, einen Konsens zu bilden.
Zweitens. Natürlich ist der Zeitplan wichtig. Aber
man darf die Akteure nicht überfordern. Der Herr Bun-
deskanzler selber hat in seiner Regierungserklärung
sibyllinisch von „einigen wenigen weiteren Fragen“ ge-
Dr. Wolfgang Schäuble
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7081
(C)
(D)
sprochen, dann aber wohlweislich verschwiegen, welche
er meint. Ich sage Ihnen, welche nach unserer Überzeu-
gung ganz dringend sind: die Subsidiarität besser klären,
die Kompetenzabgrenzung verfassungsfest machen und
Flexibilität gewährleisten. Wir brauchen mehr Flexibi-
lität; sonst werden wir eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik nicht schaffen. Das liegt doch auf der
Hand: Wir haben Mitglieder der Europäischen Union,
die in der NATO sind; wir haben Mitglieder der Euro-
päischen Union, die nicht in der NATO sind usw. Es
gibt also die unterschiedlichsten Formen. Das alles be-
kommen Sie nur mit Flexibilität unter einen Hut.
Ich stimme Ihnen ja zu, daß wir dringend die Harmo-
nisierung der Besteuerung von Kapitaleinkünften
brauchen. Sie werden erlauben, daß wir Sie an etwas
erinnern: Wenn man schon gemeinsame Papiere verfaßt,
wie Mitte des Jahres geschehen, dann wird man den
Mitautor – vielleicht kriegen Sie sogar gemeinsame
Tantiemen – doch daran erinnern dürfen, daß er die
Blockade aufgeben soll. Ich möchte zu erwägen geben,
ob wir unseren britischen Freunden nicht sagen sollten:
Wenn sie partout nicht wollen, daß wir in der Europäi-
schen Union zu einer Harmonisierung der Besteuerung
der Kapitaleinkünfte kommen, dann gehen wir diesen
ersten Schritt im Rahmen der Eurozone – das ist flexi-
bles Vorgehen –, dann harmonisieren wir die Besteue-
rung der Kapitaleinkünfte in der Eurozone. Schauen wir
mal, wie lange es dann dauert, bis andere zur Eurozone
dazukommen. Jedenfalls: Stillstand durch Blockade
eines Mitglieds können wir unter gar keinen Umständen
ertragen.
Deswegen: mehr Flexibilität, klare Kompetenzabgren-
zung, Subsidiarität – Aufbau von unten nach oben und
nicht andersherum!
Ich würde übrigens einen weiteren Punkt angehen:
Herr Bundeskanzler, ich möchte dringend an Sie appel-
lieren, beim Europäischen Rat dafür einzutreten, daß die
Kommission beauftragt wird, der Regierungskonferenz
einen Vorschlag zu unterbreiten. Ich glaube, die Regie-
rungskonferenz hat eine sehr viel größere Chance, im
Laufe des Jahres 2000 – also noch während der französi-
schen Präsidentschaft – zum Abschluß zu kommen,
wenn die Kommission vom Rat in Helsinki förmlich be-
auftragt wird, einen Vorschlag dafür zu machen, was in
der Regierungskonferenz laufen soll. Die Kommission
muß in gewisser Weise die Rolle des Motors haben.
Deswegen sollten Sie, so finde ich, diesen Vorschlag
machen. Dann wären wir schon einen ganzen Schritt
weiter und hätten eine bessere Chance voranzukommen.
Ich muß eine andere Bemerkung machen: Wenn wir
ein großes und starkes Europa wollen, dann müssen wir
unsere Beiträge dazu leisten. Man darf nicht schön da-
herreden – ob in der Assemblée nationale oder anderswo
– und zu Hause das Gegenteil dessen tun. Ich glaube,
wir brauchen eine Gemeinsame Außen- und Sicher-
heitspolitik. In diesem Zusammenhang muß man das
ernst nehmen, was beispielsweise der amerikanische
Verteidigungsminister Cohen in dieser Woche auf der
Kommandeurstagung der Bundeswehr gesagt hat.
Ich stehe ja nicht im Verdacht, immer nur zu sagen, daß
die Amerikaner in allem recht haben. Aber daß für eine
Stärkung der europäischen Krisenreaktionskräfte, der
Aufklärungskräfte und der Transportfähigkeit mehr
Mittel in den Verteidigungshaushalten der Mitglied-
staaten notwendig sind, weiß jeder, der sich damit be-
schäftigt.
Man kann nicht auf der einen Seite eine stärkere
europäische Verteidigungs- und Sicherheitsidentität
fordern und gleichzeitig auf der andere Seite im Allein-
gang den nationalen Verteidigungshaushalt entgegen
allen Zusicherungen und Absprachen kürzen. Damit gibt
man ein miserables Beispiel für alle anderen Partner in
der Europäischen Union wie in der NATO. Das ist auch
klar. Das ist der falsche Weg.
– Nein, das ist kein falscher Gegensatz. Das ist das Pro-
blem von Sprüchen und Taten. Wir wissen – wir machen
uns nicht größer, als wir sind; das ist auch gut am Ende
dieses Jahrhunderts –: Deutschland hat in der Europäi-
schen Union die Verantwortung, eher an der Spitze zu
stehen, eher Motor, Lokomotive der europäischen Ent-
wicklung zu sein, als im Bremserhäuschen oder am Ende
des Zuges zu sitzen. Das ist unsere Verantwortung. Wir
liegen mitten in Europa, wir haben das größte Interesse an
Europa, und wir sind eines der größeren Mitgliedsländer.
Wenn die Politik der Bundesrepublik Deutschland die
falschen Signale sendet – das war es, was der amerikani-
sche Verteidigungsminister Cohen so eindrucksvoll auf
der Kommandeurstagung gesagt hat –, hat das nicht nur
für Deutschland verheerende Konsequenzen. Dies gibt
das genau falsche Beispiel für alle anderen Mitglied-
staaten in der NATO wie in der Europäischen Union.
Man kann nicht den Beitrittskandidaten sagen, sie müß-
ten mindestens 2 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für
den Verteidigungshaushalt aufwenden, und gleichzeitig
selbst den Verteidigungshaushalt auf nahezu 1 Prozent
des Bruttoinlandprodukts zurückfahren. Das ist das fal-
sche Beispiel. Das ist keine verantwortliche Politik.
Damit wird Deutschland seiner Rolle und seiner Ver-
antwortung nicht gerecht.
Im übrigen muß ich Sie nach wie vor fragen: Wie ge-
hen Sie eigentlich mit der Kommission um, die Sie sel-
ber eingesetzt haben? Am Beginn Ihrer Regierungszeit
haben Sie eine Wehrstrukturkommission unter dem Vor-
sitz des früheren Bundespräsidenten Richard von Weiz-
säcker mit der Aufgabe eingesetzt, dies alles zu definie-
ren. Dann haben Sie anschließend die Ergebnisse vor-
weggenommen, indem Sie den Haushalt einseitig völlig
zusammengekürzt haben.
Dr. Wolfgang Schäuble
7082 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
– Doch, genau so ist es. Übrigens hat Herr Scharping
das Amt des Verteidigungsministers nur angenommen –
so ist es öffentlich gesagt worden, er hat ja einige Wo-
chen lang gezögert,
bis er gesagt hat, er wolle doch Verteidigungsminister
und nicht Fraktionsvorsitzender sein, Herr Kollege
Struck, und dann hat er erklärt, warum er gezögert hat –,
weil er die Zusage erhalten hat, daß es beim Verteidi-
gungsbudget in Höhe von 47 Milliarden DM bleibt. Das
hat auch drei Monate gehalten. Man wird wohl noch
daran erinnern dürfen.
Das ist die falsche Politik, weil wir ein großes und
starkes Europa brauchen und wollen. Ich füge hinzu: Ich
glaube, ein großes und starkes Europa ist der beste Bei-
trag, den wir langfristig zur Stärkung der Atlantischen
Allianz leisten können und müssen. Das ist kein Gegen-
satz oder Ersatz, sondern eine notwendige Bedingung.
Die Erfahrungen aus dem Kosovo sind die, daß der Un-
terschied im Atlantischen Bündnis sowohl hinsichtlich
der Technologie als auch im strategischen Denken im-
mer größer wird und daß die Lücke sowohl bei den
technologischen Möglichkeiten als auch im strategi-
schen Denken zwischen diesseits und jenseits des At-
lantiks zunehmend zu einer Gefahr für die Atlantische
Allianz und den Zusammenhalt werden kann. Dies
könnte im Ergebnis sogar die Tendenzen zum Unilate-
ralismus in den Vereinigten Staaten begünstigen. Wenn
wir etwas dagegen tun können, dann ist es das, daß wir
den europäischen Pfeiler in der Atlantischen Allianz
stärken. Wir brauchen die Atlantische Allianz.
Sie müssen deswegen in Ihrer Politik die richtigen
Prioritäten setzen. Sie aber setzen diese falsch. Das
sollten Sie ändern.
– Das habe ich gerade beschrieben. Ich würde zunächst
einmal fragen: Was brauchen wir, was erfordert die Si-
cherheit? Sie müssen die Fragen schon in der richtigen
Reihenfolge stellen. Im übrigen wollen wir hier keine
Haushaltsdebatte führen.
– Das haben wir in der letzten Woche getan. Ich war
nicht da. Sie haben mir alle Genesungswünsche über-
mittelt; ich bedanke mich dafür.
Wenn ich in der letzten Woche hier gewesen wäre,
hätte ich daran erinnert: Natürlich ist es richtig, daß ge-
spart werden muß. Das ist völlig unstreitig. Insofern ist
der Haushalt des Jahres 2000 unter Finanzminister
Eichel weniger schlecht als der Haushalt des Jahres
1999 unter Finanzminister Lafontaine. Das ist völlig un-
streitig.
– Bei dem Zwischenruf müssen Sie die Antwort schon
hinnehmen.
Der Haushalt des Jahres 1998 unter Finanzminister
Waigel war im Ausgabeplafond wesentlich niedriger,
und die mittelfristige Finanzplanung der Regierung
Kohl/Waigel für das Jahr 2000 lag unter dem Ausgabe-
plafond des verabschiedeten Haushaltes für das Jahr
2000.
Sie setzen die falschen Prioritäten.
Ich glaube, die Priorität, ein großes, starkes Europa zu
bauen, die Priorität, die Atlantische Allianz durch die
Stärkung des europäischen Pfeilers zukunftsfest zu ma-
chen, ist wichtiger als das meiste andere, und für diese
Priorität werbe ich. Daß Sie hier mit Ihren Zwischenru-
fen dagegenreden, spricht nicht dafür, daß wir schon den
gleichen Erkenntnisstand haben oder daß wir die Priori-
täten richtig bewerten.
Ich mache eine weitere Bemerkung; auch sie hat mit
nationaler Politik zu tun, denn man muß für das, wofür
man in Europa eintritt, wozu wir vielleicht nicht so un-
terschiedliche Standpunkte hinsichtlich der Zielsetzun-
gen vertreten wie bei vielen anderen Fragen, natürlich zu
Hause seine Beiträge leisten.
Nun kann man ja sagen, niedrige Wechselkurse sind
für die Exporte nicht so schlecht – eine Auffassung, die
auch in anderen Mitgliedsländern der Europäischen
Union gelegentlich vertreten worden ist, auch bei unse-
ren französischen Nachbarn.
Ich finde es übrigens gar nicht schlecht, Herr Bun-
deskanzler, daß Sie jedenfalls bei dem, was Sie heute in
Ihrer Regierungserklärung zur Priorität der deutsch-
französischen Beziehungen, der deutsch-französischen
Zusammenarbeit gesagt haben, meinen Überzeugungen
mehr entsprechen als bei der Politik, die Sie in den letz-
ten Monaten betrieben haben.
Ich will jetzt etwas zum Thema Wechselkurs und
Euro-Kurs sagen. In einer Welt, in der die Kapital-
märkte so ungeheuer wichtig sind und in der auf
den globalisierten Märkten in unglaublich sensiblen,
schnellen und reagiblen Prozessen über Standorte von
Investitionen, Kapital und Arbeitsplätzen mit ungeheu-
rer Wirkung entschieden wird und in der für die Ent-
wicklung an den Kapitalmärkten Vertrauen und Ein-
schätzung der Investoren das Allerwichtigste sind – das
ist ja das ganz Neue, daß die realen Daten, die realen
Fakten gar nicht mehr so wichtig sind, sondern das Ver-
trauen –, in einer solchen Welt ist es ein ziemliches Pro-
blem, daß der Euro inzwischen nahezu die Dollarparität
erreicht hat – in der vergangenen Nacht war er offenbar
sogar einmal für ein paar Minuten unter einem Dollar –,
weil sich darin geringer werdendes Vertrauen in Europa
Dr. Wolfgang Schäuble
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7083
(C)
(D)
widerspiegelt, und das ist gefährlich für die Zukunft an
der Schwelle zum neuen Jahrhundert.
Herr Bundeskanzler Schröder, das können Sie drehen
und wenden, wie Sie wollen. Alle internationalen Fi-
nanzmärkte machen als Grund für geringeres Vertrauen
in den Euro in erster Linie die Politik Ihrer Bundesregie-
rung, der Regierung des größten Mitgliedslandes in der
Europäischen Union, verantwortlich.
– Das mußte natürlich deshalb kommen, Herr Kollege
Poß, weil es unbestreitbar ist.
Es ist unbestreitbar, und es ist unbestritten. Ich wie-
derhole noch einmal den Satz: Die internationalen Fi-
nanzmärkte, also die Einschätzungen der Agierenden
auf den Finanzmärkten, die maßgeblich dafür sind, daß
der Euro inzwischen nahe bei der Dollarparität ange-
kommen ist, sagen alle – das können Sie überall nachle-
sen –, der Hauptgrund sei die Schwäche des größten
Mitgliedslandes des Euro-Verbreitungsgebietes. So ist
das.
Das größte und wirtschaftsstärkste Mitgliedsland ist
nun einmal die Bundesrepublik Deutschland, und der
Grund für die Schwäche ist die Einschätzung Ihrer Poli-
tik, die als Zickzackkurs, nicht beständig, nicht vertrau-
ensbildend angesehen wird.
Das beruht gar nicht nur auf einem Ereignis, macht
sich manchmal auch in einzelnen Ereignissen und ein-
zelnen Debatten Platz, aber der Kern sind Ihr ständiger
Zickzackkurs und die mangelnde Klarheit, zum Beispiel
die Tatsache, daß bis heute nicht klar ist, welche Art von
Unternehmensteuerreform Sie machen oder nicht, daß
Sie keinen klaren Kurs haben, daß Sie ständig die
Grundlinie Ihrer Politik verändern.
Volker Rühe hat in der vergangenen Woche den „In-
dependent“ zitiert: Sie haben mehr Kehrtwendungen
gemacht als ein Berliner Taxifahrer während seiner gan-
zen beruflichen Laufbahn. So hat es in einer englischen
Zeitung gestanden.
– Nein.
– Ich will Ihnen das erklären; das kann man ganz schnell
beschreiben.
Angetreten sind Sie vor einem Jahr im Bundestags-
wahlkampf mit der Linie, nicht alles anders, aber ein
bißchen moderner zu machen, ein bißchen mehr Refor-
men zu machen. Dann war die Wahl vorüber, und Sie
haben alle Reformen zurückgenommen. Das war die Ära
Lafontaine. Sechs Monate später, nach dem Abschied
von Lafontaine, haben Sie gesagt: So, jetzt zurück
marsch, marsch! Kehrtwendung, jetzt geht es in die ent-
gegengesetzte Richtung. – Das war die Zeit vor der
Sommerpause, einschließlich des Schröder/Blair-
Papiers.
Es folgte in der Sommerpause die bittere Zeit der
SPD-internen Diskussionen. Struck hat gesagt: Wir
brauchen eine Steuerreform, die den Namen verdient.
Dann kamen die Wahlniederlagen im Herbst. Inzwi-
schen haben Sie eine weitere totale Kehrtwende vollzo-
gen. Jetzt machen Sie wieder, wie vor einem Jahr, eine
Politik à la Lafontaine. Das verunsichert die internatio-
nalen Märkte. Darin besteht der Zusammenhang.
Herr
Kollege Schäuble, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Poß?
Bitte schön.
Bitte,
Herr Poß.
Herr Kollege Schäuble, wie
beurteilen Sie die Aussage von Herrn Issing, der die
Schwäche des Euro gegenüber dem Dollar auf die Diffe-
renz zwischen den Leitzinsen in der Euro-Zone und in
den USA zurückführt, während der Faktor Wechselkurse
eine abnehmende Bedeutung habe? In dem Zusammen-
hang verweist Herr Issing auf den Umstand, daß der
Euro zu Anfang sicherlich überbewertet war. Seiner An-
sicht nach – auch Duisenberg meint das – besteht nach
wie vor eine Aufwärtstendenz. Das sind die Fakten, um
die es hier geht. Es geht hier nicht um Ihre innenpoliti-
schen Spekulationen, die Sie damit verbinden.
Herr Kollege
Poß, erstens: Herr Issing drückt sich immer sehr viel
klarer aus, als es Ihnen in Ihrer Frage gerade gelungen
ist.
Zweitens. Wenn einer von uns beiden Mitglied des
Direktoriums der Europäischen Zentralbank wäre,
dann dürften auch wir vieles nicht sagen, was frei ge-
wählte Abgeordnete sagen müssen; denn die Mitglieder
des Direktoriums der Europäischen Zentralbank haben
eine ganz andere Verantwortung. Sie müssen die Aus-
wirkungen ihrer Aussagen auf die Kapitalmärkte in einer
ganz anderen Weise bedenken.
Dr. Wolfgang Schäuble
7084 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Drittens. Natürlich spielt die Einschätzung der Stärke
der amerikanischen Finanzmärkte eine Rolle. Das ist gar
keine Frage. Ich würde gerne darüber streiten, ob der
Euro am Anfang überbewertet worden ist.
Zum Zeitpunkt seiner Einführung war die finanzielle
und wirtschaftliche Lage in Deutschland sehr viel robu-
ster, und inzwischen ist sie schwächer geworden.
Viertens. Sie können im Ernst nicht bestreiten – es
handelt sich um ein einhelliges Meinungsbild in allen
Äußerungen nationaler und internationaler Sachverstän-
diger; lesen Sie doch bitte noch einmal das Jahresgut-
achten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung –: Die substantielle
Schwäche der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist einer
der Gründe dafür, daß der Euro weniger stark ist, als er
an der Schwelle zum neuen Jahrhundert sein müßte.
Damit schließt sich der Kreis dessen, was ich gerne
sagen wollte: Wir befinden uns an der Schwelle zu
einem neuen Jahrhundert. Noch gar nicht lange hängt im
Plenarsaal des Deutschen Bundestages neben unserer
Fahne Schwarz-Rot-Gold auch die Europafahne. Das hat
doch eine wichtige Bedeutung. Deswegen wiederhole
ich den Satz, mit dem ich begonnen habe: Ein großes
und starkes Europa ist das wichtigste Erbe dieses zu En-
de gehenden Jahrhunderts, es ist die beste Vorausset-
zung für das, was wir in der Vorbereitung für das kom-
mende Jahrhundert erarbeiten müssen. Das ist der Auf-
trag des Gipfels in Helsinki. Daran müssen wir in Euro-
pa wie in Deutschland – jeder an seinem Platz, jeder im
Rahmen seiner Verantwortung – arbeiten.
Die CDU/CSU wünscht Ihnen für Helsinki jeden Er-
folg, weil Europa unsere Chance, unsere Hoffnung und
unsere Zukunft ist. Aber wir glauben, daß Sie bessere
Chancen haben und daß Sie Ihrer Verantwortung besser
gerecht werden, wenn Sie in Deutschland eine bessere
Politik machen, und vor allen Dingen, wenn Sie in Hel-
sinki dafür werben, daß wir die fundamentalen Fragen,
die in der Europäischen Union geklärt werden müssen,
jetzt beantworten. Wir sollten die Chance der Erweite-
rung – auch den damit verbundenen Druck – nutzen, um
die Reformen, die notwendig sind, damit Europa die
Hoffnungen erfüllen kann, voranzutreiben. In diesem
Sinne begleiten Sie unsere guten Wünsche und unsere
Kritik auf dem Weg zum Gipfel nach Helsinki.
Als
nächster Redner hat das Wort der Bundesaußenminister
Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Haussmann, lassen Sie mich mit einer persönlichen
Vorbemerkung beginnen: Sollte ich Sie in der letzten
Debatte in der Hitze des Gefechts durch rhetorische
Äußerungen persönlich verletzt haben, so möchte ich
mich in aller Form dafür entschuldigen, damit nichts
Persönliches – trotz aller politischer Kontroversen –
zwischen uns steht.
Die heutigen Reden der Kollegen Schäuble und Stoi-
ber könnten gegensätzlicher nicht sein, wenn man beide
Reden ernst nähme. Der Kollege Schäuble hat mit sei-
nen grundsätzlichen Erwägungen und Aussagen über die
Probleme, die vor uns liegen und die wir bewältigen
müssen, an die überhaupt nicht zu verneinende große
europapolitische Tradition der Christlich Demokrati-
schen Union angeknüpft. Dies haben wir in der Opposi-
tion anerkannt; dies erkennen wir auch jetzt in der Re-
gierungsverantwortung an.
Der Kollege Stoiber hat sich zunächst rhetorisch vor
Konrad Adenauer und Helmut Kohl sowie ihrer europa-
politischen Tradition verbeugt. Dann hat er sich aller-
dings in eine scharfe Rechtskurve begeben und mit
einem entschiedenen Sowohl-Als-Auch in einem Satz
die Notwendigkeit der Osterweiterung betont, zugleich
aber in hundert Sätzen deren Gefahren und Risiken be-
schrieben. Dazu kann ich Ihnen, Herr Kollege Stoiber,
nur sagen: So werden Sie die Menschen nicht mitneh-
men. Der Anfangssatz des Kollegen Schäuble kann sich
doch nur an Sie gerichtet haben, nämlich daß die
Osterweiterung der Europäischen Union eine großarti-
ge Chance sei, der wir uns stellen müßten.
Ich denke, mit Ihren heutigen Ausführungen muß
man sich nicht weiter auseinandersetzen. Sie haben auf
den mißglückten Boxenstopp hingewiesen. Sie haben
heute einen Wagenheber gebraucht, um überhaupt aus
der rednerischen Box herauszukommen.
Ich möchte mich vor allen Dingen mit dem auseinan-
dersetzen, was Herr Kollege Schäuble an Bedenkens-
wertem gesagt hat, aber auch mit den Aussagen, denen
klar widersprochen werden muß. Der erste Teil Ihrer
Rede, auf den ich später zu sprechen komme, unter-
schied sich klar vom zweiten Teil, mit dem Sie – es war
nicht Ihre Schuld, daß Sie krankheitsbedingt nicht an der
Haushaltsdebatte teilnehmen konnten – die Haushalts-
debatte nachholen wollten. Zu Ihrer These, Herr Kollege
Schäuble, daß an einem sinkenden Euro-Kurs die Re-
gierung schuld sei und ein steigender Euro-Kurs das
Verdienst der Opposition sei, möchte ich Ihnen sagen:
So einfach können Sie es sich nicht machen! Darauf ist
es in Ihrer Rede aber hinausgelaufen.
Wenn ich uns einen Fehler vorwerfe – Sie haben vor-
hin das zu Ende gehende Jahr, das zu Ende gehende
Jahrhundert und das zu Ende gehende Jahrtausend be-
schrieben –, dann den, daß wir nicht eine objektive Er-
Dr. Wolfgang Schäuble
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7085
(C)
(D)
öffnungsbilanz über das erstellt haben, was wir vorge-
funden haben.
Herr Kollege Schäuble, wenn Sie in diesem Hause be-
haupten, die jetzige Schwäche der Wirtschaft sei ein Er-
gebnis dessen, was wir in dem Jahr unserer Regierungs-
tätigkeit gemacht haben – ich komme noch auf den
Verteidigungshaushalt und die Verteidigungspolitik zu
sprechen –, dann möchte ich darauf antworten: Wir sind
im Herbst 1998 in die Regierung gewählt worden. Was
haben wir damals vorgefunden? Wir haben deutlich über
4 Millionen Arbeitslose und eine Staatsverschuldung
vorgefunden, die wir jetzt unter größten Anstrengungen
mit dem Zukunftsprogramm 2000, mit dem Sparpaket
und mit dem Haushalt anpacken und abbauen, damit der
Staat wieder handlungsfähig wird.
Wir haben einen Stau bei der Gesundheits- und der
Rentenreform vorgefunden. Wir haben eine allgemeine
wirtschaftliche Schwäche vorgefunden. Warum? Wir
haben dies alles vorgefunden, weil die Notwendigkeiten
der deutschen Einheit und des zu Ende gehenden kalten
Krieges zwar angepackt wurden, aber nicht mit der jet-
zigen Energie. Mit den Reformen wurde nicht ernst ge-
macht. Wir haben einen Reformstau vorgefunden, den
wir jetzt endlich auflösen, damit die Arbeitslosigkeit
sinkt und der Staat wieder handlungsfähig wird. Diese
Schwäche werfen Sie uns heute vor.
Sie haben völlig recht: Europa braucht eine deutsche
Volkswirtschaft, die ihre Führungsfunktion als größte
Volkswirtschaft ernsthaft wahrnehmen kann. Aber dafür
die Voraussetzungen nicht geschaffen zu haben ist der
Hauptvorwurf, den wir der Regierung Kohl in ihrer
Spätphase und ihrer Koalition machen müssen. Dies hat
nichts mit Polemik zu tun, sondern ausschließlich mit
den Fakten.
Wenn die PDS gemeinsam mit Richard Cohen Be-
denken gegen die sogenannte Militarisierung der Euro-
päischen Union vorträgt, bewegt sie sich in ihrer Kritik
immer mehr – das gilt übrigens auch für den Euro; da
waren Sie Vertreter des Dollars – außerhalb europäi-
scher Vorstellungen. Dazu kann ich nur sagen – viele in
diesem Hause sehen das unabhängig von ihrer Parteizu-
gehörigkeit genauso –, daß wir eine Vollendung der
europäischen Integration wollen. Man muß sich verge-
genwärtigen, was der historische Kern der Europäischen
Union in diesem zu Ende gehenden, zweigeteilten Jahr-
hundert ist. Etwa zur Jahrhundertmitte änderte sich doch
unsere Nationalgeschichte dramatisch, zumindest im
Westen. Der Kern ist, daß die Europäische Union die
Antwort auf die Jahrzehnte des Europas des Nationalis-
mus und der Kriege ist, nämlich ein Europa der Inte-
gration.
Die Vollendung dieses Europas der Integration be-
deutet aber eine Übertragung der wesentlichen Souve-
ränitätsrechte der Nationalstaaten auf das politische
Subjekt Europäische Union.
Wenn Sie das wollen, dann wird die militärische Ebene
nicht nationalstaatlich bleiben und Europa nicht auf die
Bereiche beschränkt werden können, die heute als wün-
schenswert gelten, die aber noch nicht Wirklichkeit sind.
Selbstverständlich werden Sie auch die Sicherheitspoli-
tik, die Außenpolitik und auch die militärischen Kom-
ponenten auf Europa übertragen müssen, wenn Sie die-
ses Subjekt Europäische Union wollen. Diesen Schritt
halte ich für genauso dringend geboten wie die Ent-
wicklung einer europäischen Demokratie und eines
europäischen Rechtsraumes. Ohne diese Entwicklung
können wir das politische Subjekt Europäische Union
nicht vollenden.
Herr Kollege Schäuble, Haushaltsdebatten sollten wir
immer noch in den Parlamenten führen – dort gehören
sie hin – und nicht mit Verteidigungsministern, und sei-
en sie von noch so wichtigen Bündnispartnern.
Ich habe hier eine klare außenpolitische Priorität: Die
Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland
wiederzugewinnen muß an erster Stelle stehen, so
schmerzhaft das auch für mich als Ressortminister ist.
Ich hätte mir vom Oppositionsführer gewünscht, daß Sie
auch einmal in Richtung Amerikas die Leistungen an-
sprechen, die Deutschland für die europäische Sicherheit
unter anderem durch die Erweiterung erbringt. Sie wis-
sen doch so gut wie ich, daß ein wesentlicher Teil der
Osterweiterung der Europäischen Union gleichzeitig
präventive Sicherheitspolitik ist, für die wir unsere
Leistungen erbringen.
Ich erinnere Sie nur an die Süderweiterung der
Europäischen Union. Herr Stoiber hat so getan, als wä-
re sie eine Kleinigkeit gewesen. Griechenland hatte in
den 60er Jahren und Anfang der 70er Jahre eine Militär-
diktatur, Spanien die Diktatur von Franco, Portugal die
Diktatur von Salazar und seinem Nachfolger, und in Ita-
lien drohte in den 70er Jahren ein Umsturz. Das alles ist
definitiv Vergangenheit. Heute reden wir, wenn wir über
Südeuropa reden, über einen Teil der Europäischen Uni-
on, der sich hinsichtlich der Sicherheit, der Stabilität, der
Demokratie und der Menschenrechte in nichts mehr von
Nord- oder Westeuropa unterscheidet. Darin liegt ein
bedeutender Sicherheitsgewinn der Europäischen Union.
Bundesminister Joseph Fischer
7086 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Schauen wir uns das langfristige Engagement im
Rahmen des Stabilitätspaktes und die Leistungen an,
die die Europäer und auch die Bundesrepublik Deutsch-
land dort übernehmen, dann muß uns klar sein, daß das
Heranführen Südosteuropas an das Europa der Integra-
tion – das ist ein langwieriger Prozeß – nicht umsonst zu
haben ist. Auch das müssen wir unseren amerikanischen
Freunden sagen: Wir sind bereit, durch das Heranführen
dieser Region an das Europa der Integration in präven-
tive Sicherheitspolitik zu investieren.
Auch die Türkeipolitik ist in diesem Zusammenhang
zu sehen. Herr Schäuble, Sie haben diesen Punkt bewußt
ausgespart. Aber auch er ist unter dem Gesichtspunkt
einer Investition in präventive Sicherheitspolitik zu
sehen.
Wir haben verschiedene Interessen an diesem Punkt, die
ich Ihnen nochmals erläutern möchten, weil wir uns da
vielleicht annähern können oder uns von dem einen oder
anderen in Ihrer Fraktion gar nicht unterscheiden.
Der entscheidende Punkt ist nicht nur, daß hier über
2 Millionen Menschen dauerhaft leben – viele von ihnen
haben mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft, und
noch mehr werden die deutsche Staatsbürgerschaft be-
kommen –, die persönlich, familiär und von ihrer Ab-
stammung her mit der Türkei verbunden sind. Ich ver-
stehe Union so, daß die Probleme eines Mitgliedslandes
– dazu gehören auch die Probleme Griechenlands, auch
wenn wir in der Bewertung unterschiedlicher Meinung
sind – immer auch die Probleme der Union sind, weil
die Union eine Solidargemeinschaft ist. Union bedeutet
für mich Solidarität auf Gegenseitigkeit. Auf diese Soli-
darität können sich unsere griechischen Freunde verlas-
sen. Wir nehmen ihre Probleme sehr ernst. Ich sage um-
gekehrt aber auch: Wenn es zu einer dauerhaften Ent-
spannung des Verhältnisses zur Türkei, ja wenn es zu
einer Europäisierung der Türkei kommen wird, wird
Griechenland der Hauptgewinner einer solchen politi-
schen Entwicklung sein, die von uns gewünscht wird.
Darüber hinaus muß man sehen, daß sich die Türkei
– das ist nicht eine Frage der militärischen Aufrüstung –
in einer sicherheitspolitisch und strategisch bedeutsamen
Situation befindet, in der wir ein Interesse daran haben
müssen, daß sich die Türkei zu einem stabilen Partner
– ich komme gleich noch zur Definition von Stabilität –
entwickelt. Der Nahost-Friedensprozeß hängt im we-
sentlichen von dieser Stabilität ab.
– Lassen Sie mich diesen Punkt erläutern, auch wenn er
unstreitig ist. Das Parlament kann doch auch Punkte, über
die Konsens besteht, ausdiskutieren. Wir müssen uns
doch nicht immer unterschiedliche Auffassungen in
polemischer Weise um die Ohren hauen. Es ist doch her-
vorragend, wenn in einigen Punkten Einigkeit besteht.
Auch im Kaukasus und in Zentralasien wird die
Stabilität der Türkei eine wichtige Rolle spielen. Sie
hängt aber heute nicht von den militärischen Fähigkeiten
der Türkei, sondern von der inneren Stabilität des türki-
schen Staates und der türkischen Demokratie ab.
Das heißt: Wenn man ja zu dieser Stabilitätsfunktion
der Türkei in der Region sagt, dann stellt sich in der
Tat die entscheidende Frage, welche Türkei in Zukunft
dieser Partner sein wird. Ist es eine Türkei, die sich über
ihren Weg selbst im unklaren ist und die isoliert ist, oder
ist es eine europäisch ausgerichtete Türkei, die den Weg
in Richtung Demokratie, Marktwirtschaft, Minderhei-
tenschutz und Achtung der Menschenrechte gemäß den
Kopenhagener Kriterien geht? Das ist die entscheidende
Frage.
Ich sage Ihnen: Darin liegt der Sicherheits- und Stabili-
tätsgewinn. Deswegen wollen wir die Blockade von
Luxemburg auflösen.
Wir sehen das Verhältnis zur Türkei – der Bundes-
kanzler hat sich heute schon dazu geäußert – völlig rea-
listisch. Die Türkei erfüllt zum gegenwärtigen Zeitpunkt
die Kopenhagener Kriterien nicht. Die Kommission hat
sehr gute Vorschläge hinsichtlich der Sonderrolle der
Türkei als Beitrittskandidat gemacht. Sie ist ja bereits
durch die Gipfel in Cardiff und Luxemburg als Kandidat
benannt worden. Ihr wurde aber ein Sonderstatus zuge-
wiesen, damit sie an der Europakonferenz aller Mit-
gliedstaaten und Kandidaten teilnehmen konnte. Der
einzige Stuhl aber, der immer leer blieb, war der der
Türkei. Es ist also eine unsinnige Konstruktion: Man
trifft sich – Mitgliedstaaten und Kandidaten – auf diesen
Konferenzen, um eigentlich mit der Türkei zu sprechen;
aber das einzige Land, das nicht daran teilnimmt, ist die
Türkei.
Wenn man die Türkei aus dieser Isolation heraus-
holen will, dann muß man diesen von der Türkei als dis-
kriminierend empfundenen Sonderstatus auflösen,
allerdings unter Beachtung der Verhältnisse in der Tür-
kei. Die Türkei will der Europäischen Union beitreten
und nicht wir der Türkei.
Das heißt: Die Türkei muß die Kopenhagener Krite-
rien akzeptieren. Dieser Punkt ist völlig klar und ist von
Premierminister Ecevit in dem Schreiben an den Bun-
deskanzler bestätigt worden.
Bundesminister Joseph Fischer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7087
(C)
(D)
Dennoch muß ich sagen, daß die letzen Schwierig-
keiten in diesem Zusammenhang noch nicht ausgeräumt
sind. Ich hoffe aber, daß wir mit der griechischen Seite
noch einen Konsens erzielen können.
Sie haben weitere Punkte angesprochen, die es wert
sind, hier vertieft zu werden. Herr Kollege Schäuble, ich
denke – das hängt auch mit unserer Verfassungs- und
Rechtstradition zusammen –, daß es in diesem Punkt
keinen Dissens gibt. Ich unterstützte eine Abgrenzung
analog etwa der Abgrenzung zwischen Bund, Ländern
und Gemeinden. Sie müssen aber beachten, daß wir mit
dieser Erfahrung ziemlich singulär in der Europäischen
Union dastehen. Entweder sind die Länder kleiner als
wir – das heißt, sie kennen dieses Abgrenzungsproblem
nicht, das wir alltäglich erfahren und das uns in Fleisch
und Blut übergegangen ist –, oder es handelt sich um die
größeren Länder, die zentral staatlich verfaßt sind und
daher dieses Abgrenzungsproblem ebenfalls nicht ken-
nen. Aus meiner Sicht wird sich diese Frage in Helsinki
nicht lösen lassen, weil wir in diesem Punkt singulari-
siert sind, nicht etwa, weil wir nicht wollen.
Ich befinde mich in diesem Zusammenhang über-
haupt nicht in einem Dissens zu dem, was Sie vorgetra-
gen haben. Ich bin allerdings der Meinung, daß im
Rahmen einer Verfassungsdebatte – diese Debatte, die
jetzt langsam beginnt, ohne daß sie so genannt wird,
wird noch einige Zeit andauern – diese Fragen definitiv
zu klären sein werden, weil das Hauptproblem in der
Klärung des Verhältnisses der Nationalstaaten zur euro-
päischen Ebene im Rahmen weiterer Souveränitätsüber-
tragungen und der damit verbundenen Abgrenzungspro-
blematik liegt.
Gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang einige
Punkte, die Sie angesprochen haben, zu vertiefen. Sie
nennen die "leftovers". Beim bayerischen Ministerpräsi-
denten hörte sich das ein bißchen nach „Peanuts“ an. Es
wird sehr schwierig, bei der Regierungskonferenz zu
einem Einvernehmen zu gelangen. Wir brauchen das
Einvernehmen, weil die neuen Gewichtungen erheblich
sein werden. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen
etwa wird nur bei einer gleichzeitigen Ausdehnung der
Rechte des Europäischen Parlaments funktionieren, was
für uns einfacher ist als für andere Mitgliedstaaten.
– Das Problem, Herr Stoiber, ist gar nicht so sehr, daß
Sie uns überzeugen müssen: Vielmehr sind wir in einer
besonderen Position, die sich daraus ergibt, daß uns, die
wir in einem föderalen Staatswesen leben, diese Tradi-
tionen geläufig sind. Da gibt es, denke ich, keinen Un-
terschied zwischen den Parteien, daß wir darauf stolz
sind und diese Traditionen auch für europafähig halten,
ohne jeden Zweifel.
Der Punkt ist ein anderer: Bei der Erweiterung hätte
ich mir vom Bayerischen Ministerpräsidenten mehr En-
gagement gewünscht, statt dauernd diese düsteren Sze-
narien von der Überfremdung, die aus dem Osten droht,
zu hören. Herr Stoiber, Sie müssen Ihren Wählerinnen
und Wählern sagen, daß der Einwanderungsdruck, wenn
die neuen Demokratien nicht beitreten, höher sein wird.
Die Erfahrung des Beitritts von Spanien, Portugal und
Griechenland hat gezeigt, daß der Einwanderungsdruck
in Richtung Zentraleuropa zurückgegangen ist und nicht
zugenommen hat. Dasselbe werden wir bei Polen erle-
ben, dessen bin ich ganz sicher.
Die Erfahrung zeigt dies, Herr Stoiber.
Deswegen sage ich Ihnen nochmals: Für uns ist der
Gipfel als Erweiterungsgipfel von zentraler Bedeutung.
Wir müssen diesen Erweiterungsgipfel jetzt zum Erfolg
machen, weil sonst die Handlungsfähigkeit der Europäi-
schen Union in ihrem Kernbereich, nämlich der europäi-
schen Idee, schweren Schaden nehmen würde. Insofern
müssen wir in Helsinki bei der Beitrittsfähigkeit der
Europäischen Union einen Erfolg erzielen, und ich den-
ke, wir werden ihn auch erzielen.
Damit die Prioritäten klar sind: Die Voraussetzung
für die Erweiterung ist die Vertiefung. Es nützt nichts,
einer handlungsunfähigen Union beizutreten. Insofern
muß an erster Stelle immer die Handlungsfähigkeit der
Europäischen Union stehen, damit wir unseren Integra-
tionsaufgaben auch in Zukunft gerecht werden können.
Als zweites muß man die Barrieren abbauen, die zwi-
schen den unterschiedlichen Gruppen der Beitrittsländer
existieren. Insofern unterstützen wir mit allem Nach-
druck die Position der Kommission, hier eine Gruppe zu
formieren und die Differenzierung dann entlang der
realen Fortschritte vorzunehmen. Diesen Zahn, Herr
Stoiber, kann ich Ihnen gleich ziehen, auch im Namen
von Romano Prodi.
– Ein paar europapolitische Schmerzen würde ich dem
Bayerischen Ministerpräsidenten in diesem Zusammen-
hang durchaus gönnen; ich denke, das kann ich auch im
Namen der CDU sagen.
Lesen Sie den letzten Fortschrittsbericht der Kom-
mission, Herr Stoiber. Auf ihn wurde zu Recht hin-
gewiesen. Sie können nun wirklich nicht sagen, daß da
irgend etwas geschminkt, schöngeredet oder schönge-
schrieben worden wäre.
Das ist ein sehr nüchterner, ein sehr realistischer und,
wie ich finde, ein sehr guter Fortschrittsbericht genau
entlang dieser Linie.
Bundesminister Joseph Fischer
7088 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Wir wissen, wie schwierig es ist, Volkswirtschaften,
soziale Systeme, Infrastrukturen, Wissenschaftskulturen
und Traditionen zusammenzufügen, sie nicht nur in
einen gemeinsamen Markt, sondern mehr und mehr auch
in einen gemeinsamen institutionellen Rahmen einzufü-
gen. Weil wir das wissen, werden wir mit aller Sorgfalt
darauf achten, daß die Fortschritte realistisch gesehen
werden. So war die Haltung dieser Bundesregierung von
Anfang an, und so hat es der Bundeskanzler zu Beginn
der Regierungszeit im letzten Jahr in Warschau gesagt.
Er hat es eingehalten. Heute müssen Sie einmal nach
Warschau gehen und fragen, ob dort noch Sorgen beste-
hen, daß die neue Bundesregierung die Interessen der
Beitrittsländer nicht mindestens so gut vertritt wie die
alte Bundesregierung. Wir tun dies nur mit mehr Rea-
lismus, und das hat Anerkennung gefunden.
Ich muß Ihnen sagen: Volksparteien sind bisweilen
merkwürdig. Sie erleben das ja gerade, Herr Schäuble,
in einem anderen Zusammenhang.
– Wir sind keine. Manchmal sage ich aber: Gott sei
Dank, wenn ich mir das so anschaue.
– Ach ja. Aber nachdem ich heute Herrn Stoiber gehört
habe, wie er versucht hat, sozusagen ein bemühtes Ja zu
Europa hinzubekommen
– das war nicht nur ein Eiertanz, sondern ein Balancie-
ren auf rohen Eiern –, aber hinter diesem Ja die üblichen
Verdächtigungen formuliert hat, weiß ich um die Müh-
sal.
Einer der wichtigen Punkte in diesem Haus war im-
mer, daß es einen breiten europapolitischen Konsens
gegeben hat.
Herr Kollege Schäuble, bei aller Kritik, die Sie zu Recht
hatten: Die Opposition ist dazu da, daß sie die Regie-
rung kritisiert. Abgeordnete dürfen das sagen, was ande-
re nicht sagen dürfen. Sie könnten demnächst gefragt
werden, ob sie tatsächlich diese Positionen vertreten.
Die Abgeordneten dürfen das freie Wort führen. Wir
freuen uns darauf und hoffen, daß sie dieses tun werden.
Angesichts der Gemeinsamkeiten, die heute zwischen
der großen Oppositionspartei, der F.D.P., der Bundesre-
gierung und der Koalition deutlich geworden sind,
möchte ich mich für die Unterstützung bei der vor uns
liegenden Arbeit auf dem Gipfel bedanken. Ich hoffe,
daß wir das Unsere dazu beitragen können, das gemein-
same Haus Europa konkret weiterzubauen, die Europäi-
sche Union wirklich zu einem politischen Subjekt zu
machen und zur vollen Integration zu bringen, was im
Interesse unseres Landes ist. Ich denke, das muß der
Kernsatz sein. In dem Punkt kann ich Wolfgang Schäu-
ble nur zustimmen.
Die europäische Einheit ist das Wichtigste. Diese
Erkenntnis nehmen wir aus der alten Bundesrepublik
und als Konsequenz aus unserer Nationalgeschichte, die
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts katastrophal da-
nebengegangen ist, mit. Die Vollendung der europäi-
schen Einheit ist nicht nur eine historische Verpflich-
tung; sie liegt vielmehr auch im Interesse der Zukunft
unseres Landes. Deutschland hat nicht nur große Lasten
zu übernehmen, sondern wir sind auch die großen Ge-
winner des europäischen Einigungsprozesses – nicht nur
ökonomisch, sondern auch sicherheitspolitisch, kulturell
und unter vielen anderen Gesichtspunkten. Deswegen
denke ich, wird der Gipfel in Helsinki ein entscheiden-
der Schritt nach vorne zur Vollendung der europäischen
Integration werden.
Das
Wort hat jetzt der Kollege Ernst Burgbacher von der
F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Außenminister,
in einem Punkt stimmen wir Ihnen zu – ich denke, das
hat die Rede von Helmut Haussmann gezeigt –: Wir
brauchen in der Europapolitik den Konsens, den wir
auch von Ihrer Seite in unserer Regierungszeit verspürt
haben. Das schließt aber nicht aus, daß wir den Weg
kritisch begleiten und auf Dinge hinweisen, bei denen
wir andere Akzente setzen und bei denen wir skeptisch
sind. Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen,
Herr Bundeskanzler, daß ich in Ihrer Rede vergeblich
auf das innere Engagement gewartet habe, auf die Vi-
sion, die dieser europäische Prozeß erfordert und die wir
von früheren Regierungen – von den Kanzlern, aber
auch von den liberalen Außenministern – immer ge-
wohnt waren.
Herr Außenminister, Sie haben beklagt, Sie hätten
den Fehler gemacht, keine Eröffnungsbilanz vorzulegen.
In dieser Eröffnungsbilanz hätte als positiver Posten die
hervorragende Entwicklung des deutsch-französischen
Verhältnisses gestanden. Ich erlaube mir, Sie, Herr
Bundeskanzler, zu zitieren. Sie sagten vor der Assem-
blée Nationale am vergangenen Dienstag:
Europa zählt auf Deutschland und Frankreich. Kei-
ne der großen europäischen Aufgaben ist je gelöst
worden, wenn Deutschland und Frankreich nicht
einig waren. Keines der großen europäischen Inte-
grationsprojekte wäre jemals verwirklicht worden,
hätten nicht Frankreich und Deutschland den An-
stoß gegeben. Am Ausgang dieses Jahrtausends
Bundesminister Joseph Fischer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7089
(C)
(D)
kommt es wiederum auf Deutschland und Frank-
reich an.
Wie wahr, Herr Bundeskanzler! Selten haben wir die
gemeinsame Rolle Deutschlands und Frankreichs mehr
gebraucht als gerade in dieser Phase der Osterweiterung.
Nur: Das Verhältnis zwischen Frankreich und
Deutschland ist im Moment zumindest angespannt. Eine
Menge Ungeschicklichkeiten und Fehler wurden began-
gen. Ich erinnere an die Absage des Bundeskanzlers bei
der Einladung zu den Feiern zum Jahrestag des Waffen-
stillstandes, an die Position der Bundesregierung bei der
Agenda 2000, an das Schröder-Blair-Papier, das unsere
französischen Partner tief verunsichert hat, aber auch an
den unsäglichen Auftritt des Umweltministers Trittin,
der unsere französischen Partner nun wirklich vor den
Kopf gestoßen hat.
Das deutsch-französische Verhältnis ist belastet. Die
„Berliner Zeitung“ schrieb in dieser Woche: „Schröder
und Jospin haben von Anfang an große Probleme ge-
habt, sich zu verstehen.“ Ich muß hinzufügen: In vielen
Gesprächen mit französischen Politikern wird diese Sor-
ge immer wieder zum Ausdruck gebracht. Es wird ge-
sagt, daß dieses Verhältnis ein Stück weit unter den von
mir genannten Vorgängen gelitten hat.
Wen wundert es also, daß auch der deutsch-
französische Gipfel nur vom Nachbessern geprägt war
und daher nur magere Ergebnisse bringen konnte? Wer
wenige Tage vor dem Europäischen Rat von Helsinki
entscheidende deutsch-französische Impulse für die
Erweiterung erwartet hatte, wurde enttäuscht. Gemein-
same Spaziergänge ersetzen keine gemeinsamen Initia-
tiven, mit denen die Weichen gestellt werden könnten.
Herr Außenminister, meine Damen und Herren, ich
betrachte es als eine der größten Leistungen in dieser
Nachkriegszeit, daß die deutsch-französische Erb-
feindschaft überwunden wurde in einer Weise, von der
unsere Väter und Großväter nicht einmal träumen
konnten. Da waren viele beteiligt, und das ging nicht nur
auf der politischen Schiene, sondern es wurde etwas ins
Werk gesetzt, was aus heutiger Sicht nicht hoch genug
einzuschätzen ist: das Deutsch-Französische Jugend-
werk, die zahlreichen Städtepartnerschaften. Ich komme
aus einer Region in der Nähe der französischen Grenze
und weiß, wieviel dort heute gemeinsam geplant und
ausgeführt wird, wo über die Grenzen hinweg gedacht
wird und wo langsam – und das begrüße ich auch sehr –
eine Neuorientierung stattfindet, wo zum Teil alte histo-
rische Räume wieder neu entdeckt werden
und wo vor allem Freundschaften über die Grenzen
hinweg bestehen.
Das deutsch-französische Verhältnis lebt von diesen
Freundschaften. Freundschaft heißt nicht, daß man
immer derselben Meinung ist. Deutschland und Frank-
reich haben es aber bisher immer geschafft, unter-
schiedliche Positionen im Vorfeld zu vereinen, und ha-
ben es damit geschafft, Europa insgesamt weiterzu-
bringen.
Wir, die Deutschen, sind vielleicht ein Stück weit
mehr nach Osten orientiert, weil wir näher dran sind.
Frankreich hat traditionelle Bindungen nach Süden.
Wenn wir die Erweiterung wirklich packen wollen und
wenn die Erweiterung gelingen wird in dieser Integra-
tion Europas, dann nur, wenn das deutsch-französische
Verhältnis lückenlos funktioniert. Deshalb sage ich dem
Bundeskanzler: Machen Sie das deutsch-französische
Verhältnis wieder zur Chefsache! Deshalb bitte ich Sie,
Herr Außenminister, alles zu tun, damit das deutsch-
französische Verhältnis zu dem zurückfindet, was es
über viele Jahre hinweg war.
Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Markus Meckel von der
SPD-Fraktion das Wort.
Verehrter Herr Präsident!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege
Burgbacher, ich kann überhaupt nicht nachvollziehen,
was Sie uns hier jetzt dargestellt haben, weil wir doch
einfach sehen müssen, was gerade in den letzten Tagen
im deutsch-französischen Verhältnis passiert ist. Sie ha-
ben soeben den Gipfel angesprochen. Wir haben ja alle
verfolgen können, daß der Kanzler als der erste deutsche
Kanzler vor der französischen Nationalversammlung ge-
redet hat – ein Wunsch, der vielleicht lange gehegt wur-
de, dessen Erfüllung aber dem Kanzler Kohl nicht zuteil
geworden ist.
Wenn Sie uns auffordern, dieses Verhältnis zu pfle-
gen, so sage ich: Da stimme ich Ihnen zu. Das ist gar
keine Frage. Das gilt übrigens für das Verhältnis zu
allen Nachbarn. Es ist ein Verhältnis, das sensibel ist,
das wir pflegen müssen und auf das wir konkret achten
müssen. Aber hier irgendeinen Vorwurf abzuleiten, halte
ich für völlig abwegig.
Ich möchte eher die Frage an Sie richten, wie Sie sich
das vorstellen, wenn ich von seiten der Opposition im
Zusammenhang mit der Diskussion um die Agenda
2000 höre und gleichzeitig auch in einem Antrag – in
diesem Falle der CDU – lese, daß bei der Agenda 2000
nachgebessert werden soll. Auch in Ihrem Antrag steht
ähnliches. Die Frage ist aber, wie Sie dieses durchführen
wollen. Sie wissen ganz genau, daß es bei der Agenda
2000 Probleme mit Frankreich gab. Wie wollen Sie da
nachbessern? Das heißt doch, zu Lasten Frankreichs
nachbessern und dadurch natürlich im Grunde das euro-
päische Projekt gefährden.
Ernst Burgbacher
7090 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Ich denke, was in diesem Jahr gelungen ist – gerade
auch, in schwierigen Punkten mit Frankreich zu einem
Ergebnis zu kommen –, kann sich wahrhaftig sehen las-
sen. Es ist übrigens kein Zufall, daß die Staaten, um die
es dabei geht, dies auch anerkennen.
Ich möchte zum Grundsätzlichen zurückkommen. Es
ist schon angesprochen worden: Die wichtigste Errun-
genschaft dieses Jahrhunderts ist die europäische Inte-
gration, die mit den Römischen Verträgen begonnen
hat. Vor wenigen Tagen haben wir den zehnten Jah-
restag des Mauerfalls und damit das Ende des kalten
Krieges und der Teilung Europas gefeiert. Was in diesen
zehn Jahren geschehen ist, ist überwältigend.
Niemand, denke ich, hätte erwarten können, daß Europa
sowohl in der Dimension der Vertiefung als auch in der
Dimension der Erweiterung in diesen zehn Jahren so
weit vorankommen würde. Ich denke an den Binnen-
markt, ein wesentliches Projekt, das zu Ende geführt
worden ist, und an die Verträge von Maastricht und Am-
sterdam. Der Vertrag von Amsterdam ist in diesem Jahr
in Kraft getreten. Ich denke an die Währungsunion, bei
der es zwar heute die Diskussion gibt, wie stark oder wie
schwach der Euro ist; aber daß wir sie brauchen und daß
sie ein ganz wesentlicher Faktor der Weltwirtschaft und
für uns eine zentrale Bedingung für unsere eigene wirt-
schaftliche Kompetenz ist, ist doch von niemandem in
Abrede zu stellen.
Oder denken wir an die Erweiterung! Die Staaten
Mittel- und Osteuropas haben zunächst auf die Europäi-
sche Gemeinschaft und später auf die Europäische
Union – sie war für diese Staaten wie ein Magnet – ge-
schaut. 1993 kam dann – vielleicht mit etwas Verzöge-
rung, wie man durchaus sagen muß, weil es drei Jahre
gedauert hat, bis man diese Herausforderung in der
Europäischen Union angenommen hat – die Einladung
mit den klaren Kriterien, die für uns heute nach wie vor
Gültigkeit haben. Daß wir heute soweit sind, ist natür-
lich auch ein Verdienst des alten Bundeskanzlers. Nie-
mand wird das abstreiten. Ich denke aber, daß es für un-
sere Debatte ganz wichtig ist, festzustellen, daß wir eine
gemeinsame Grundlage und ein gemeinsames Ziel ha-
ben. Es geht doch darum, die jeweiligen Schritte mit
Bedacht, aber auch mit dem notwendigen Engagement
und der entsprechenden Vision zu vollziehen. Sie sagen,
daß eine solche Vision nicht da ist. Schauen Sie sich
doch einmal die Reden an, die Sie heute gehört haben!
Sie enthielten doch eine klare Perspektive für das Zu-
sammenwachsen Europas unter den Kriterien und den
Bedingungen, die im Westen entstanden sind und die
Magnet, Anziehungspunkt und damit Modell für die
Einigung Europas sind.
Beim nächsten Gipfel – wir haben schon von den
Entscheidungen, die anstehen, gehört – wird beschlossen
werden, mit sechs weiteren Staaten Verhandlungen auf-
zunehmen: Lettland, Litauen, die Slowakei, Bulgarien,
Rumänien und Malta. Jeder, der in den letzten Jahren in
diesen Staaten war, weiß, daß es ein großer Wunsch die-
ser Staaten – jedenfalls für die fünf ost- oder südost-
europäischen Staaten; bei Malta ist es umstritten, das
wissen wir – ist, endlich dazuzugehören; und dieser
Wunsch wird nun in Erfüllung gehen. Dazu muß ich
allerdings eines sagen: Ich halte die Entscheidung, daß
jetzt mit diesen Staaten Verhandlungen aufgenommen
werden sollen, für ausgesprochen richtig und auch
wichtig. Man muß aber gleichzeitig vorsichtig sein, daß
die Erwartungen in diesen Staaten selbst nicht zu hoch
geschraubt werden. Denn zu verhandeln heißt noch lan-
ge nicht, daß dieser Prozeß schnell geht, heißt noch lan-
ge nicht, daß damit eine für die Bürger erfahrbare Stufe
erreicht wird. Deshalb muß sehr deutlich sein, daß die
Verhandlungen nur so schnell vorangehen können, wie
– das wird sehr unterschiedlich sein – auch wirklich
Fortschritte in den jeweiligen Ländern gemacht werden.
Natürlich sind die Herausforderungen in diesen Län-
dern ungeheuer groß. Wir erleben ja in Ostdeutschland,
wie schwierig Transformationsprozesse sind. Dabei
haben wir im geeinten Deutschland ideale Bedingungen;
denn es werden viele Milliarden DM nach Ostdeutsch-
land transferiert, um eine tragfähige Entwicklung zu er-
reichen. Die neuen Beitrittskandidaten erwarten Hilfe
der Europäischen Union und sie bekommen sie – für
denjenigen, der sie erwartet, natürlich immer zuwenig –
auch. Wir sollten ihnen zusagen, daß diese Hilfen weiter
gewährt werden. Gerade mit der Agenda 2000 und mit
den Heranführungshilfen ist sichergestellt worden, daß
diese Mittel vorhanden sind. Gleichzeitig muß aber klar
sein: Die eigentlichen Aufgaben liegen in den Ländern
selbst. Wie schwierig es für ein Land ist, das keine de-
mokratische Tradition hat, ganz schwerwiegende und
wichtige Transformationsprozesse und Reformvorhaben
umzusetzen, kann sich jeder vorstellen, der miterlebt,
welche Schwierigkeiten eine schon so entwickelte De-
mokratie wie die unserige mit konkreten Reformprojek-
ten hat. Diese sind ja auch bei uns nötig, nachdem viele
Jahre in wichtigen Bereichen nichts passiert ist.
Es ist wichtig, daß die Verhandlungen künftig indivi-
dueller geführt werden. – Ein Kollege von mir wird dar-
über noch Weiteres sagen. – Wir sollten die Erweite-
rungsvorhaben mit großem Engagement und mit
Nachdruck verfolgen. In diesem Jahr ist auch deutlich
geworden, daß die Ängste mancher ost- und mitteleuro-
päischer Länder, daß Deutschland als Motor des Erwei-
terungsprozesses nicht mehr genügend Kraft aufbringt,
unbegründet waren, insbesondere dank der Verabschie-
dung der Agenda 2000, die Sie verschieben wollten.
Deutschland hat sich gerade dadurch als Motor erwie-
sen, daß es klargemacht hat, daß es diesen Prozeß reali-
stisch voranbringen will.
Wir haben beim Helsinki-Prozeß und bei den Erwei-
terungsüberlegungen natürlich auch Zypern zu berück-
sichtigen; von der Türkei wurde hier ja schon gespro-
chen. Zypern stellt gerade wegen des besetzten nördli-
chen Teils ein Problem dar. Gerade deshalb ist es wich-
tig, daß die Türkei den Status als Beitrittskandidat er-
hält. Dann können die Gespräche intensiviert werden
Markus Meckel
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7091
(C)
(D)
und ein freundschaftlicher Druck darauf ausgeübt wer-
den, die Verhältnisse im eigenen Land zu ändern. Nicht
nur die Frage der Menschenrechte, der fehlenden
Rechtsstaatlichkeit und das Kurdenproblem, sondern
auch die Tatsache, daß eigene Truppen auf fremdem
Territorium stehen, sind große Hindernisse auf dem
Weg nach Europa. Diese Punkte müssen klar angespro-
chen werden.
Ich würde es sehr befürworten, wenn man mit Zypern
genauso verfährt, wie man mit Deutschland verfahren
ist. Auch die alte Bundesrepublik konnte damals Mit-
glied der Europäischen Gemeinschaft werden, ohne daß
die Einbeziehung des Ostens Deutschlands, der nicht
dazugehören konnte, weil er damals noch ein eigener
Staat war, zur Bedingung gemacht wurde. Im Zuge der
Vereinigung war es dann möglich, ohne Verhandlungen
auch diesen Teil Deutschlands in die Europäische Union
einzugliedern. Bei den Verhandlungen mit Zypern sollte
ähnlich verfahren werden. Diese Frage darf jedenfalls
kein Hindernis für Zypern auf dem Weg in die Europäi-
sche Union sein.
Noch einen anderen wichtigen Punkt möchte ich zum
Schluß wenigstens noch kurz aufgreifen: In der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wurde im
letzten Jahr ein ungeheurer Fortschritt erzielt. Der Am-
sterdamer Vertrag ist – ich sagte es schon – am 1. Mai
1999 in Kraft getreten.
– Der Amsterdamer Vertrag hatte mit den Engländern
überhaupt nichts zu tun. Die Engländer haben ihre Posi-
tion Ende letzten Jahres geändert und sich in Saint Malo
auf diesen Weg begeben.
Es war nicht zuletzt das Verdienst Deutschlands, daß
auf dem Kölner Gipfel die Personalentscheidung zugun-
sten von Herrn Solana gefallen ist. Ich glaube, daß ge-
rade diese Personalentscheidung für die Entwicklung der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der
europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine
ganz zentrale Rolle spielen wird. Dabei müssen die
europäischen NATO-Staaten, die noch nicht der Euro-
päischen Union angehören – drei von ihnen werden in
wenigen Jahren beitreten –,
an Gesprächen über diese Themen beteiligt werden. Ins-
besondere, weil die Türkei diese Entwicklung mit äußer-
ster Skepsis betrachtet, ist es wichtig, einen General-
sekretär zu haben, der die NATO kennt und kompatible
Strukturen aufbauen kann. Wir sollten Javier Solana
dabei unterstützen und dafür sorgen, daß er der Vorsit-
zende des sicherheitspolitischen Ausschusses wird, der
jetzt gebildet werden soll. Außerdem wird ein Militär-
ausschuß gebildet werden, um der Europäischen Union
zu einer wirklichen Handlungsfähigkeit zu verhelfen.
Dieses Integrationsmoment, das der Europäischen Union
bisher fehlte, muß weiterentwickelt werden.
Es ist eben schon deutlich gesagt worden: Dies alles
richtet sich nicht gegen die NATO, sondern bedeutet
eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO
und macht uns handlungsfähiger. Der NATO tut es nicht
gut, wenn die Vormacht USA so stark ist und die ande-
ren Staaten so schwach, wie sich an unseren Kompeten-
zen und Fähigkeiten im Kosovo-Krieg gezeigt hat. Dies
stellt für uns eine zentrale Herausforderung dar; sie wird
Ende nächsten Jahres ihre Vollendung finden. Ich denke,
daß dafür alles getan werden sollte – auch im Rahmen
der Regierungskonferenz; dort werden die notwendigen
Vertragsänderungen beschlossen.
Herr
Meckel, bitte kommen Sie zum Schluß.
Man kann uns und der Euro-
päischen Union nur viel Glück auf diesem Weg wün-
schen; denn dies ist nicht nur für Europa wichtig, son-
dern weltweit.
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Grehn von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Es ist ein sehr wichtiger Fort-
schritt, daß sich dank französischer Beharrlichkeit und
gegen den Widerstand unter anderem der vormaligen
deutschen Regierung heute jede nationale Regierung für
unzureichende Anstrengungen oder ausgebliebene Maß-
nahmen im Kampf um mehr Beschäftigung und den Ab-
bau sowie die Verhinderung der Arbeitslosigkeit vor den
anderen Mitgliedstaaten und der Union als Ganzes ver-
antworten muß. Ebenso ist die ursprünglich französische
Erkenntnis zu unterstützen, daß solche Maßnahmen und
Anstrengungen auch den Arbeitsmarkt und die soziale
Lage der Beschäftigten und Erwerbslosen betreffen
müssen,
der Arbeitsmarkt also nicht länger von Unternehmerin-
teressen dominiert wird.
Der Bundeskanzler hat in wenigen Worten festge-
stellt, daß die europäische Beschäftigungsstrategie
Früchte zu tragen beginnt. Die Bäume aber, die diese
Früchte tragen, Herr Bundeskanzler, wachsen wahrlich
nicht in den Himmel, und die Früchte sind entsprechend
klein. Arbeitslosigkeit bleibt das Problem Nummer eins
in Europa. Deshalb hoffen die Menschen, insbesondere
die Betroffenen, daß es bei der Bekämpfung des Pro-
blems Arbeitslosigkeit nicht nur Brosamen sein werden,
die in Helsinki vom Tisch fallen.
Kritisch bleibt festzustellen, daß das Instrumenta-
rium aus beschäftigungspolitischen Leitlinien der Euro-
päischen Union, nationalen Aktionsplänen und bilanzie-
renden Berichten allein noch nicht für einen Um-
Markus Meckel
7092 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
schwung auf dem deutschen Arbeitsmarkt gereicht hat.
Die relative Unverbindlichkeit der Leitlinien und der
nationalen Aktionspläne, das Fehlen von Standards und
verbindlichen Normen und das Vermeiden von Auflagen
an die Wirtschaft sind wichtige Ursachen dafür. Nur an
wenigen Stellen erhalten die arbeitslosen Bürgerinnen
und Bürger wenigstens auf dem Papier mehr Rechte. So
stellen die Pflicht zur Arbeitsplatz- oder Weiterbil-
dungsvermittlung an Jugendliche nach sechs Monaten
Arbeitslosigkeit und die Pflicht, das gleiche auch für er-
werbslose Erwachsene nach zwölf Monaten Arbeitslo-
sigkeit zu tun, ein Bekenntnis zur Verantwortung des
Staates für seine arbeitslosen Bürgerinnen und Bürger
dar. Diese Verpflichtung war unter der Regierung Kohl
so nicht zu registrieren. Aber einen einklagbaren
Rechtsanspruch auf die Erfüllung dieser Pflicht hat ein
Arbeitsloser auch heute nicht. Und erfüllt wird diese
Pflicht in keiner Weise.
Im beschäftigungspolitischen Aktionsplan wird im-
mer wieder von „Problemgruppen“ gesprochen. Men-
schen, die nicht den Verwertungsvorstellungen des Un-
ternehmens entsprechen, werden diesen Gruppen zuge-
ordnet. Im Grunde genommen ist es ein Skandal, wenn
Frauen, Jugendliche, über 55jährige, Schwerbehinderte,
Geringqualifizierte oder Ausländer diesen Problemgrup-
pen zugeordnet werden. Wer bleibt denn eigentlich noch
übrig? Wer gehört nicht zu den „Problemgruppen“?
Ist denn der Mensch an sich das „Problem“ der Wirt-
schaft?
In der Zusammenfassung des Aktionsplans hat die
Bundesregierung unter sieben Anstrichen Maßnahmen
aufgelistet, die auf Beschäftigungszuwachs gerichtet
sind. Sieht man von dem Jugendprogramm ab, so bleibt
die Frage, wo die beschäftigungspolitischen Wirkungen
in Form des Abbaus von Arbeitslosigkeit geblieben
sind? Ökosteuer, unsoziale Einkommensbesteuerung
und Sparpaket haben das Ziel, mehr Arbeitsplätze zu
schaffen und damit zum Abbau der Arbeitslosigkeit bei-
zutragen, bisher verfehlt. Einer „Richtschnur soziale Ge-
rechtigkeit“ – so die Leitlinie 4 – folgen diese Maßnah-
men wahrlich nicht. Auch in der Koalition muß sich
endlich die Erkenntnis durchsetzen, daß eine wirksame,
energische und zielgerichtete – nicht nur verbale und zu-
fällige – Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der wichtigste
Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen
und zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit ist.
Völlig zu Recht wird die Bundesrepublik von der
Europäischen Union für diese unausgewogene und
beschäftigungsfeindliche Politik gerügt. Zwar sind die
vorliegenden Anträge von CDU/CSU und F.D.P. er-
staunlich, weil auch sie in ihrer Regierungszeit beim
Abbau der Arbeitslosigkeit nicht sonderlich erfolgreich
waren, aber im Kern ist diese Kritik berechtigt. In
Stichworten: Langzeitarbeitslosigkeit, Anwachsen des
prozentualen Anteils der älteren Arbeitslosen, Lohnun-
terschiede zwischen Frauen und Männern, West-Ost-
Unterschiede bei der Beschäftigung und der Arbeits-
losigkeit.
Mit Nachdruck weisen wir in diesem Zusammenhang
auf die Vorschläge unserer Fraktion zur Schaffung eines
öffentlich geförderten Beschäftigungssektors hin.
Einzelne Sektoren, etwa den Dienstleistungssektor, in
den Mittelpunkt zu stellen und davon eine wundersame
Genesung zu erwarten, das löst das Beschäftigungspro-
blem nicht.
Beschäftigungspolitik, meine Damen und Herren
– lassen Sie mich das zum Abschluß sagen –, muß in
den Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union eine
wichtige Rolle spielen. Da die wirtschaftlichen und so-
zialen Folgen eines Beitritts für jedes einzelne beitreten-
de Land exakt berechenbar und voraussehbar sind, sollte
sich die deutsche Bundesregierung dafür einsetzen, daß
auf diesen Gebieten Beitrittskriterien gelten. Die Vorla-
ge konkreter und kontrollierbarer beschäftigungspoliti-
scher Aktionspläne für die Zeit vor und nach dem Bei-
tritt sowie soziale Auffangstrukturen sollten mit Hilfe
der Europäischen Union geschaffen und für den Beitritt
verbindlich gemacht werden.
Nur dann wäre zu gewährleisten, daß Europa zu dem
wird, wofür wir alle eintreten: ein Europa der Bürgerin-
nen und Bürger, die Freiheit, Demokratie und
Wohlstand dazugewinnen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Michael Roth von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir macht die heutige
Debatte wirklich Spaß, weil es nicht der 27. Aufguß des-
sen ist, was wir hier im Hause schon immer gehört ha-
ben, sondern weil es ein offener und spannender Prozeß
hinsichtlich der Frage ist, welches Europa wir wollen.
Da muß auch der Deutsche Bundestag Flagge zeigen.
Wir bräuchten eigentlich öfter solche grundsätzlichen
Debatten – auch hier im Hohen Hause –, um deutlich zu
machen, mit welchem Ziel, mit welchen Ansprüchen
und mit welchen Vorstellungen über die Wege wir in die
nächsten Jahre gehen. Ich habe – da ich etwas jünger bin
– das Glück, daß ich wahrscheinlich das eine oder ande-
re dessen, was auf den zukünftigen Gipfeln von den
Staats- und Regierungschefs beschlossen wird, erleben
werde.
– Ich wünsche es Ihnen. Ich bin erstaunt, mit welchem
Engagement auf diesen Ansatz reagiert wird. Es gibt nun
einmal ein paar biologische Unterschiede, die in diesem
Fall etwas mit dem Alter zu tun haben.
Dr. Klaus Grehn
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7093
(C)
(D)
Ich meine, wir sollten die europapolitische Debatte
aus dem akademischen Hinterstübchen herausholen und
sie in die Mitte der Gesellschaft stellen. Sie gehört in
den Bundestag. Das ist wichtig. Deswegen ist die heuti-
ge Debatte von großer Bedeutung.
Ich will noch auf einen Zusammenhang hinweisen,
der heute etwas zu kurz gekommen ist: auf den Zusam-
menhang zwischen der Vertiefung einerseits und der
Erweiterung andererseits. Wenn wir die Reformen auf
der Regierungskonferenz nicht so erfolgreich abschlie-
ßen, wie wir es uns alle wünschen, dann wird es auch
keine Erweiterung geben. Ich verstehe deshalb die Un-
stimmigkeiten innerhalb der CDU/CSU-Fraktion über-
haupt nicht. Noch vor wenigen Monaten ist die SPD von
Ihnen wie die Sau durchs Dorf getrieben worden, weil
Sie ständig ein festes Datum für die Erweiterung haben
wollten.
Wir haben aus wohlerwogenen Gründen gesagt, daß es
kein festes Datum geben kann, weil die EU erst einmal
intern ihre Hausaufgaben erledigen muß. Das, was wir
jetzt – auch auf die Initiative von Außenminister Fischer
hin – auf den Weg gebracht haben mit dem Ziel, die EU
bis zum 1. Januar 2003 erweiterungsfähig zu machen, ist
meines Erachtens der richtige Ansatz. Aber da müssen
wir noch eine ganze Menge tun.
Die Left-overs werden auf der anstehenden Regie-
rungskonferenz nur deshalb die entscheidende Rolle
spielen, weil sie in Amsterdam nicht gelöst worden sind.
Wir sollten jetzt nicht zuviel in die Regierungskonferenz
hineinpacken; denn Zusammensetzung und Größe der
Kommission, Stimmengewichtung im Rat und vor allem
die grundsätzliche Mehrheitsentscheidung im Rat sind
ganz zentrale und wichtige Anliegen, die in Amsterdam
gescheitert sind. Ich komme nicht auf die Idee, Ihnen
oder Helmut Kohl das vorzuwerfen; der Arme hat im
Augenblick wahrlich genug Probleme. So sollten wir die
Debatte nicht führen. Sie sollte schon etwas fairer sein.
Ich meine, daß die grundsätzliche Einführung von
Mehrheitsentscheidungen, wenn sie denn mit den Mit-
entscheidungsbefugnissen des Europäischen Parlaments
verknüpft wird, auch eine Stärkung der demokratischen
Legitimität ist.
Wir brauchen eine viel stärkere Partnerschaft der
Parlamente: des Europäischen Parlaments auf der einen
Seite und auch des Deutschen Bundestages auf der ande-
ren Seite. Ihr Antrag enthält einige Aspekte dazu, wie
wir diese Zusammenarbeit, diese Partnerschaft vertiefen
sollten. Darüber sollten wir im Europaausschuß oder
auch im Plenum des Deutschen Bundestages noch ein-
mal reden. Ich halte das für wichtig, weil die COSAC,
ein Gremium, das eigentlich niemand kennt, dazu nicht
ausreicht.
Wir müssen bei dem Verfassungsgebungsprozeß
aber auch zur Kenntnis nehmen, daß es erhebliche Emp-
findlichkeiten bei bestimmten Mitgliedstaaten gibt. Ich
nehme nur einmal den Begriff „Verfassung“. Ich hatte
kürzlich Gelegenheit, in London und Paris an Konferen-
zen teilnehmen zu dürfen. Über „Verfassung“ braucht
man mit den Engländern gar nicht zu reden. Deshalb
sollten wir bestimmte Begrifflichkeiten nicht in die Re-
gierungskonferenz hineinpacken; denn dann würde es
noch schwieriger, bei den sogenannten Left-overs zu
Lösungen zu kommen, die uns alle zufriedenstellen.
Man sollte Herrn Stoiber manchmal in die anderen Mit-
gliedstaaten, in die Partnerländer schicken. Dann würde
er feststellen, daß er dort überhaupt keine Zustimmung
findet.
– Daß er das weiß, ist eine ganz andere Geschichte. Er
weiß vieles, sagt es aber dann doch anders.
Ich stimme auch vielen Kolleginnen und Kollegen in
diesem Hause darin zu, daß noch weitere Reformen
notwendig sind. Ich denke etwa an die Zusammenset-
zung des EuGH und der anderen Organe; da muß noch
eine Menge gemacht werden. Ich habe deshalb auch viel
Sympathie für manche Vorschläge der Opposition. Das
war in diesem Hause immer so. Meines Erachtens hatten
wir bei der strukturellen Ausgestaltung der EU immer
ein großes Einvernehmen.
Ich glaube, daß der Kommissionspräsident Prodi in
einem Punkt irrt. Er hat nämlich behauptet, daß ein per-
manenter Reform- und Verfassungsgebungsprozeß in-
nerhalb der EU Verdrossenheit bei den Bürgerinnen und
Bürgern erzeugen werde. Ich glaube das nicht; denn die-
sen Verfassungsgebungsprozeß gibt es schon seit Jahren.
Wir müssen einfach einmal anerkennen, daß nicht alles,
was im Deutschen Bundestag beschlossen wird, in den
14 anderen Mitgliedsländern genauso gesehen wird.
Das ist auch ein Stückchen Selbstbescheidung. Wir
dürfen nicht diese nationalstaatliche Arroganz nach
außen tragen. Das müssen wir uns einmal deutlich vor
Augen führen. Es liegt nicht an dem ständigen Reform-
prozeß, daß viele Bürgerinnen und Bürger auch in bezug
auf das Thema Europa verdrossen sind, sondern es liegt
eher daran, daß wir oftmals noch zaudern und zögern
beim Anpacken von Problemen.
Ich möchte auf einen kontroversen Punkt hinweisen,
der uns als Bundestagsabgeordnete fraktionsübergrei-
fend massiv beschäftigt: der mühsame Prozeß der Ak-
zeptanz eines politisch starken Europa. Wir haben uns
in dieser und in der vergangenen Woche mit einigen
politisch höchst umstrittenen Fragen beschäftigt, bei de-
nen die EU auf einmal nicht nur mitwirkt, sondern maß-
geblich mitentscheidet. Das müssen wir den Menschen
aber auch sagen. Wenn wir bestimmte Kompetenzen in
der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in be-
stimmten Fragen der Wettbewerbspolitik auf EU-Ebene
haben, dann müssen wir anerkennen, daß die eine oder
Michael Roth
7094 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
andere Frage kontrovers diskutiert wird. Und dann müs-
sen wir eben auch – das ist die andere Seite der Medaille
– engagiert unsere Position vertreten.
Ich habe nicht verstanden, warum die CDU/CSU auf
der einen Seite – das kommt auch in Ihrem Antrag zum
Ausdruck – den Bericht der drei Weisen massiv unter-
stützt, aber auf der anderen Seite Ihr Ministerpräsident
von der CSU ganz zentrale Punkte in Frage stellt. Man
kann sich aus dem Dehaene-Bericht nicht das heraus-
pflücken, was einem gerade ins politische Kalkül paßt.
Man muß den Bericht schon in Gänze sehen – und ihn
entweder unterstützen oder kritisch einige Fragen stel-
len, wie das die Bundesregierung, wie das meine Frak-
tion und die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen tun.
Unser Ziel auf der nächsten Regierungskonferenz
muß sein – der Gipfel von Helsinki wird da wichtige
Vorentscheidungen treffen –: ein handlungsfähiges
Europa, ein klarer strukturiertes Europa und ein demo-
kratischeres Europa. Gemeinsam mit dem Europäischen
Parlament und den anderen nationalstaatlichen Parla-
menten können wir eine ganze Menge tun. Zuvor sollten
wir unserer Bundesregierung für Helsinki aber alles
Gute und ein herzliches „Glückauf!“ wünschen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Friedbert
Pflüger von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Außenminister Fischer hat
zu Beginn seiner Rede gefragt, was er beim Regie-
rungswechsel in der Europapolitik vorgefunden hat.
Herr Fischer, Sie haben vorgefunden: ein Land, das
einig war – Deutschland –, eine europäische Einheit,
Frieden und Freiheit in Europa, eine gemeinsame Wäh-
rung, den Euro. Das ist die beste Bilanz, die man über-
haupt vorfinden kann. Die Frage ist nicht, was gewesen
ist, sondern die Frage ist, was Sie in diesem Jahr aus
dieser Bilanz, aus dem Gewicht Deutschlands gemacht
haben. Das ist die Frage, die wir heute zu klären haben.
Deutschland ist zusammen mit Frankreich in den
letzten Jahrzehnten immer der Motor der europäischen
Einigung gewesen.
Vor jedem Gipfel haben wir uns bemüht, mit den Fran-
zosen eine gemeinsame Linie zu finden.
Wenn Paris und Bonn – jetzt Paris und Berlin – sich
einig waren, dann, so zeigt die Erfahrung, konnten wir
in ganz Europa substantielle Fortschritte erreichen.
Der Berliner Gipfel wäre fast gescheitert, weil sich
Deutschland und Frankreich nicht einig waren. Das ist
nun nicht nur ein Fehler der Deutschen. Natürlich haben
auch die Franzosen ihren Anteil an diesem Streit. Aber
durchweg lauteten die Kommentare im letzten Jahr: Der
deutsch-französische Motor hat eine Panne. Es geht
nicht mehr zwischen Paris und Berlin, so wie es früher
zwischen Paris und Bonn gegangen ist.
Das, was wir in dieser Woche bei den deutsch-
französischen Konsultationen erlebt haben, ist ohne je-
den Zweifel ein Fortschritt. Es ist ein Versuch der Repa-
ratur dessen, was ein ganzes Jahr lang versäumt worden
ist, nämlich ein Vertrauensverhältnis zu den Franzosen
aufzubauen.
– Herr Kollege Schmidt, lesen Sie doch einmal, was füh-
rende französische Intellektuelle in den Zeitungen
schreiben!
Da kommt wieder die alte Angst vor Deutschland zum
Ausdruck, zum Beispiel dann, wenn der Eindruck ent-
steht – so ein bißchen war das auch in der Innenpolitik
zu beobachten –, die Deutschen würden gar keine Rück-
sicht mehr auf das nehmen, was man in Frankreich
denkt.
Man geht einfach drauflos, kündigt plötzlich einen Ver-
trag über nukleare Zusammenarbeit, veröffentlicht
plötzlich das Schröder-Blair-Papier. Diese Art und Wei-
se des Umgangs mit unserem französischen Partner ist
eine Katastrophe für das Verhältnis zu Frankreich und
eine Katastrophe in Europa.
Aber wir nehmen ja zur Kenntnis, daß es Versuche gibt,
dieses Verhältnis zu verbessern. Wir hoffen und wün-
schen sehr, daß Sie in Helsinki dieses deutsch-
französische Gewicht wieder stärker entfalten.
Was ist die größte und wichtigste strategische Aufga-
be für Europa in den nächsten Jahren? Das ist ohne
Zweifel die Erweiterung – ich würde eher sagen: die
Wiedervereinigung – Europas.
Deshalb begrüßen wir es, daß jetzt in Helsinki mit ins-
gesamt zwölf Staaten verhandelt werden soll; sechs
Michael Roth
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7095
(C)
(D)
weitere Staaten sollen dazukommen. Das ist der auf
breiter Grundlage stehende Versuch, die Länder in Mit-
tel- und Osteuropa sowie Zypern und Malta an die
Europäische Union heranzuführen. Das ist gut, und das
ist richtig.
Die Frage ist nur, ob dieser Prozeß richtig vorbereitet
ist, ob jemand die Führung übernimmt in diesem Prozeß.
Die Frage ist, ob die Beitrittsperspektive nicht dadurch,
daß man die Union jetzt so schnell erweitern will – auch
die Türkei kommt noch hinzu –, verwässert wird. Meine
Sorge ist, daß wir die Prioritäten im Rahmen des Bei-
trittsprozesses nicht richtig setzen. Diese Sorge hören
Sie aus Polen, Ungarn und Tschechien. Diese Länder
sagen: Die Erweiterung um andere Beitrittskandidaten
könnte dazu führen, daß diejenigen, die sich besonders
angestrengt haben, darunter zu leiden haben und auf der
Strecke bleiben. Ich schlage vor, daß Sie das sehr ernst
nehmen. Es macht keinen Sinn, die Erweiterung zu
betreiben, immer mehr Länder einzuladen, auch der
Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zu geben,
aber den Ländern, die für uns am wichtigsten sind – ich
nenne Polen –, oder denjenigen Ländern, die die meisten
Fortschritte gemacht haben, zum Beispiel Ungarn, keine
klare Perspektive zu geben. Diese Länder müssen dabei-
sein und an erster Stelle stehen. Das ist unser Anliegen
in diesem Zusammenhang.
Ich glaube, Europa – die Wiedervereinigung, die
Überwindung der europäischen Krise – ist noch aus
einem anderen Grund sehr wichtig, nämlich mit Blick
auf das transatlantische Verhältnis. In Amerika – der
Vorsitzende Schäuble hat darauf hingewiesen – gibt es
eine gewisse Tendenz, die Welt unilateralistisch zu be-
trachten, also nicht mehr so sehr aus der Sicht der Part-
ner, sondern ausschließlich aus der nationalen Interes-
senlage Amerikas.
Bisher ist die amerikanische Macht überall dort, wo
sie auf der Welt eingesetzt wird, positiv und gut. Sie
balanciert: im Pazifik, in Südostasien und auch in Euro-
pa. Aber wenn man sich zum Beispiel die Reden des
Präsidentschaftsbewerbers George Bush jr. anhört,
hat man den Eindruck, daß sich Amerika vom Multilate-
ralismus verabschiedet, ihn jedenfalls weniger ernst
nimmt. Man hat den Eindruck, daß der ABM-Vertrag,
einer der großen Abrüstungsverträge zwischen Moskau
und Washington, 1972 geschlossen, das Rückgrat des
gesamten Abrüstungsprozesses, einseitig aufgekündigt
wird. Ich glaube, es ist sehr wichtig, Herr Außenmi-
nister, daß wir das, was in Amerika eventuell passiert,
sehr ernst nehmen.
Es gibt in Europa heute niemanden – das ist die große
Sorge, die wir haben –, der wirklich Gewicht, Ansehen
und den notwendigen Führungswillen hat, um in
Washington mit einer gewissen Chance auf Erfolg auf-
zutreten. Herr Schröder jedenfalls wird auf dem Capitol
Hill nicht sehr ernst genommen. Herr Schröder hat keine
Möglichkeiten, dort Einfluß zu nehmen.
Herr
Kollege Pflüger, denken Sie bitte an die Redezeit.
Er hat dort kein
großes Gewicht, und das ist ein großes Problem.
Ich sage ganz deutlich: Wir brauchen dieses vereinte
Europa und sollten es als Chance auch für das transat-
lantische Verhältnis begreifen. Gemeinsam mit Amerika
müssen wir in Zukunft die globalen Gefahren und Risi-
ken der kommenden Jahre auf uns nehmen und Lösun-
gen zuführen. Das machen wir zusammen.
Ich darf noch einmal sagen, Herr Außenminister: Wir
wünschen Ihnen für Helsinki viel Erfolg und viel Glück.
Machen Sie es richtig – und machen Sie es vor allen
Dingen ein bißchen besser als im vergangenen Jahr!
Als
letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege
Winfried Mante von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Pflüger, Freund
Europas, etwas weniger Polemik wäre am Ende dieser
Debatte vielleicht hilfreicher und nützlicher gewesen.
Wir hätten angesichts der großen Übereinstimmung, die
bei diesem Thema in diesem Hause herrscht, dann etwas
zufriedener nach Hause gehen können. Das war eine
Rolle rückwärts und gleichzeitig eine Rolle vorwärts.
Meine Damen und Herren, der Gipfel von Helsinki
– darauf wollen wir uns konzentrieren – wird vielleicht
das einzige Ereignis am Ende dieses Jahrtausends sein,
das die inzwischen schon etwas abgenutzte Wortschöp-
fung „Millennium“ wirklich verdient. Dieser Jahrtau-
sendgipfel wird das Tor in eine europäische Zukunfts-
politik weiter aufstoßen, die die geographischen Gren-
zen Europas und die politischen Grenzen der Europäi-
schen Union in absehbarer Zeit weitgehend deckungs-
gleich machen wird.
Sicher unterscheidet sich die Osterweiterung in we-
sentlichen Aspekten von den bisherigen Beitritten: Die
Anzahl der Beitrittskandidaten ist ungleich höher, der
Besitzstand der Union hat sich wesentlich erweitert, die
Qualität des EG-Rechts hat zugenommen, die Beitritts-
staaten selbst befinden sich in einem Prozeß der politi-
schen und wirtschaftlichen Transformation. Aber – das
sage ich mit allem Nachdruck – auch die politische und
die strategische Situation in Europa ist anders als bei den
vorherigen Beitritten. Daher ist eine gewisse Dringlich-
keit und eine höhere Geschwindigkeit bei der Gestaltung
des Beitrittsprozesses nicht nur geboten, sondern sogar
unverzichtbar.
Dr. Friedbert Pflüger
7096 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Meine Damen und Herren, die vorliegenden Fort-
schrittsberichte der Kommission tragen nicht nur den
politischen Entwicklungen in den Beitrittsländern Rech-
nung. Sie erhalten auch auf Grund ihrer Sachlichkeit und
Realitätsnähe bei der Einschätzung der Wirtschafts-
strukturen allgemein Beifall und Zustimmung. Das läßt
auch darauf schließen, daß sowohl die positiven Aspekte
als auch die Problempunkte von den Beitrittsländern
akzeptiert und auch die vollständige Einhaltung aller
Kopenhagener Kriterien als Grundvoraussetzung für den
Beitritt nicht in Frage gestellt werden.
Am Mittwoch haben wir im Europaausschuß von den
Botschaftern aller 12 Länder die Bestätigung dafür er-
halten, daß die von der Kommission vorgeschlagene
Öffnung des Beitrittsprozesses für die Länder der
sogenannten zweiten Gruppe akzeptiert und auch befür-
wortet wird. Die Besorgnisse und Befürchtungen der er-
sten Gruppe, daß der Beitrittsprozeß dadurch verlang-
samt werden könnte, scheinen mir allerdings nicht ganz
unbegründet zu sein. Aber gerade hier kommt dem Hel-
sinki-Gipfel die Aufgabe zu, die Dynamik des europäi-
schen Entwicklungsprozesses neu zu formulieren und
die Akzente neu zu setzen. Der offene Charakter des
Beitrittsprozesses sowie das vorgeschlagene Differen-
zierungsprinzip sollen und werden den Beitrittsver-
handlungen eine neue Qualität und Dynamik verleihen.
Meine Damen und Herren, die Mitgliedsländer ihrer-
seits stellen sich mit dem Datum der Aufnahmebereit-
schaft, dem 1. Januar 2003, ein großes Ziel. Bis dahin
sind in den 15 Ländern – das wurde heute schon mehr-
fach gesagt – noch einige Hausaufgaben zu machen, die
nicht gerade leicht sind.
Mit dem Berliner Gipfel im März wurde ein solider
Finanzrahmen für die Europäische Union bis 2006 ge-
schaffen. Damit würde auch und vor allem der Weg für
die Erweiterungsfähigkeit der Union und die Aufnahme
weiterer Länder geebnet. Wer heute verlangt, meine
Damen und Herren, daß die Ergebnisse der Agenda
2000 neu zu verhandeln oder nachzuverhandeln sind,
gleichzeitig aber fordert, die zügige Umsetzung der Er-
weiterung durchzusetzen, der muß auch sagen, wie die-
ser Widerspruch aufzulösen ist.
Mit der Intensivierung und Stärkung der Heranfüh-
rungsstrategien und der Schaffung neuer Instrumente
neben den bewährten Programmen wie PHARE werden
ausreichende Mittel bereitgestellt: 22 Milliarden Euro
für die Heranführung, 58 Milliarden Euro für erweite-
rungsbedingte Aufgaben. Das ist auch angesichts der
Absorptionsfähigkeit der Beitrittsländer sowie der Maß-
gabe der hohen Eigenverantwortung der Beitrittsländer
zur Erreichung ihrer Beitrittsfähigkeit eine ganze Men-
ge. Ein Aufschnüren des Finanzkonzeptes insgesamt
kann deswegen nur eine Verzögerung des Gesamtpro-
zesses bedeuten. Ich sehe eigentlich niemanden hier, der
das wirklich will.
Außerdem kann ich nur empfehlen, den Beitritt nicht
nur unter Kostenaspekten zu sehen. Die Mitgliedsländer
der Europäischen Union werden nicht nur wirtschaftlich,
sondern auch politisch einen erheblichen Nutzen aus
einer Erweiterung ziehen, der sich nicht in Zahlen und
Beträgen messen läßt. Darüber hinaus wird der Prozeß
der europäischen Erweiterung mit seinen Assoziierun-
gen, mit den Heranführungsstrategien und mit den In-
strumenten der Beitrittspartnerschaft und dem Beitritt
selbst die jungen Demokratien politisch, wirtschaftlich
und gesellschaftlich stabilisieren und weiter an Europa
binden. Die Erweiterung ist also weder wirtschaftlich
noch politisch eine Einbahnstraße.
Meine Damen und Herren, ich bin Brandenburger
und komme aus der unmittelbaren Grenzregion zu
Polen. Ich haben also sozusagen die erste Stufe der
Osterweiterung der Europäischen Union bereits seit
10 Jahren miterleben dürfen, und ich habe auch ver-
sucht, sie ein wenig mitzugestalten.
Die Menschen in den neuen Bundesländern und wir
alle kennen inzwischen die Probleme des notwendigen
Strukturwandels sowie die Auswirkungen auf den Ar-
beitsmarkt und die gesellschaftlichen Verwerfungen als
dessen Folgen. Vor diesem Hintergrund und vor dem
Hintergrund von 15,4 Millionen Arbeitslosen in der
Europäischen Union, davon knapp 3,9 Millionen allein
in Deutschland, wird auch die Sorge der Menschen ge-
rade in den Grenzregionen verständlich, daß insbeson-
dere die Freizügigkeit des Binnenmarktes bei der
Erweiterung zu weiteren Problemen auf dem Ar-
beitsmarkt führen kann. Diese Sorge müssen wir sehr
wohl ernst nehmen und dürfen sie nicht geringschät-
zen.
Meine Mitbürgerinnen und Mitbürger im grenznahen
Raum erleben täglich die Probleme einer europäischen
Außengrenze, die noch immer mehr trennt als verbin-
det, und zwar nicht nur, weil uns Brücken und Übergän-
ge fehlen, sondern auch, weil noch zu viele Vorurteile
prägend sind und weil oberflächliche Eindrücke Mei-
nungen bilden.
Aber wir haben auch zahlreiche positive Beispiele
guter Nachbarschaftsbeziehungen: Die Euroregionen
werden zunehmend zu einem Motor der grenzüber-
schreitenden Entwicklung. Der Export Brandenburger
Firmen nach Mittel- und Osteuropa entwickelt sich seit
Jahren positiv. Die zunehmende Kaufkraft in Polen
fließt sichtbar in den Einzelhandel, nicht nur in den der
Grenzstädte. Junge Deutsche und Polen lernen, forschen
und gestalten ihre Zukunft gemeinsam. Das Verständnis
füreinander wächst.
Deswegen sage ich Ihnen: Die Chancen der grenz-
überschreitenden Entwicklung sind größer als ihre Ri-
siken.
Die Osterweiterung der Europäischen Union wird nicht
nur im grenznahen Raum Impulse für Wachstum und
Beschäftigung geben. Sie wird sich gesamteuropäisch
auswirken, und zwar positiv: Ängste und Vorbehalte
werden abnehmen; die Kulturen werden sich vermi-
schen; die Wirtschaft wird gestärkt; das Lebensniveau
wird sich erhöhen.
Winfried Mante
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7097
(C)
(D)
Genau das müssen wir den Menschen in Deutschland
und in Europa vermitteln, damit die Akzeptanz für die
europäische Sache zunimmt und Europa nicht nur ein
Thema für Politiker wird.
Ich sage zum Abschluß: Es gibt zur europäischen In-
tegration keine vernünftige Alternative. Deshalb wird
– um mit Willy Brandt zu sprechen – „zusammenwach-
sen, was zusammengehört“.
Herzlichen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Mit Ihrem Einverständnis nehme ich eine Erklärung
zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung des
Kollegen Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, zu
Protokoll.*)
Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Abstimmun-
gen. Anschließend wird die Sitzung auf Antrag der SPD-
Fraktion unterbrochen.
Wir kommen zuerst zu den Vorlagen, über die wir in
der Sache abstimmen. Die Abstimmungen über die
Überweisungen werden wir anschließend vornehmen.
Wir stimmen zunächst über drei Entschließungsanträge
zur Regierungserklärung ab.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/2248. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen
Fraktionen angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2245. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Entschlie-
ßungsantrag mit den Stimmen aller anderen Fraktionen
gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2280. Wer stimmt
dafür? – Wer stimmt dagegen? – Damit ist der Ent-
schließungsantrag mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie zuvor abgelehnt.
Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 b: Be-
richt des Ausschusses für die Angelegenheiten der
Europäischen Union zu der Unterrichtung der Bundes-
regierung über die EU-Charta der Grundrechte, Druck-
sache 14/1819. Ich gehe davon aus, daß Sie den Bericht
des Ausschusses zur Kenntnis genommen haben. – Das
ist der Fall.
Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 c: Be-
schlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegen-
—————
*) Anlage 2
heiten der Europäischen Union zu der Entschließung des
Europäischen Parlaments zum Wahlverfahren für die
Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments,
Drucksache 14/685. Der Ausschuß empfiehlt, die Ent-
schließung des Europäischen Parlaments auf Drucksa-
che 14/74 Nr. 1.9 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt
für diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen?
– Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlußempfeh-
lung einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tages-
ordnungspunkt 13 d: Antrag der Fraktion der CDU/CSU
„Festigung und Fortentwicklung der Europäischen Union
während der deutschen Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr
1999“. Der Ausschuß für die Angelegenheiten der Euro-
päischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/845, den
Antrag auf Drucksache 14/159 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlußempfehlung
des Ausschusses bei Zustimmung der Koalitionsfraktio-
nen und der PDS bei Gegenstimmen der CDU/CSU und
einer Gegenstimme der F.D.P. bei Enthaltung der F.D.P.
im übrigen angenommen worden.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tages-
ordnungspunkt 13 g: Entschließungsantrag der Fraktion
CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der Bundesre-
gierung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Ein-
greifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sonder-
tagung des Europäischen Rates in Berlin, Drucksache
14/675. Der Ausschuß für die Angelegenheiten der
Europäischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/1288,
den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/675 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Diese Be-
schlußempfehlung ist bei Zustimmung der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Ent-
haltung von F.D.P. und PDS angenommen worden.
Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Europäischer Rat in
Helsinki: EU-Erweiterung voranbringen, politische
Union vertiefen“. Wer stimmt für diesen Antrag auf
Drucksache 14/2246? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist dieser Antrag bei Zustimmung
der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der PDS bei Enthaltung der CDU/CSU-
Fraktion abgelehnt worden.
Wir kommen nun zu den Überweisungen, zunächst zu
Tagesordndungspunkt 13 a. Interfraktionell wird vorge-
schlagen, die Entschließungsanträge der Fraktionen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und F.D.P. auf
Drucksache 14/2279 und der PDS auf Drucksache
14/2289 zur Regierungserklärung zur federführenden
Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitbe-
ratung an den Ausschuß für Menschenrechte und huma-
nitäre Hilfe zu überweisen. Gibt es anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos-
sen.
Tagesordnungspunkte 13 e und 13 f: Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 14/1000 und 14/1955 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
Winfried Mante
7098 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Zusatzpunkt 8: Weiterhin wird interfraktionell vorge-
schlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/2233 zur fe-
derführenden Beratung an den Ausschuß für die Ange-
legenheiten der Europäischen Union und zur Mitbera-
tung an den Auswärtigen Ausschuß, den Innenausschuß,
den Rechtsausschuß, den Finanzausschuß, den Ausschuß
für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuß für Er-
nährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für
Arbeit und Sozialordnung, den Verteidigungsausschuß,
den Ausschuß für die Angelegenheiten der neuen Länder
und den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Dies ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung beschlossen.
Ich unterbreche jetzt die Sitzung auf Antrag der SPD-
Fraktion für zirka eine Stunde. Der Wiederbeginn der
Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekün-
digt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unter-
brochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe die Punkte 14a bis 14c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung
des Täter-Opfer-Ausgleichs
– Drucksache 14/1928 –
Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jür-
gen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über Fernmeldeanlagen
– Drucksache 14/1315 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 13/2258 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hedi Wegener
Dr. Wolfgang Götzer
Jörg van Essen
Sabine Jünger
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jür-
gen Rüttgers, weiteren Abgeordneten der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung der Strafpro-
zeßordnung – § 100 a StPO
– Drucksache 14/162 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 14/2192 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer
Norbert Geis
Volker Beck
Jörg van Essen
Sabine Jünger
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jür-
gen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Straf-
prozeßordnung und des Versammlungsgesetzes
und zur Einführung einer Kronzeugenregelung
bei terroristischen Straftaten
– Drucksache 14/1107 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 14/2259 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Norbert Geis
Jörg van Essen
Zu dem Gesetzentwurf zur Verankerung des Täter-
Opfer-Ausgleichs und zum Kronzeugen-Verlängerungs-
Gesetz liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-
spruch gibt es nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Hedi Wegener.
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zu dem Ge-
setzentwurf ist schon sehr viel gesagt worden. Deshalb
möchte ich mich auf einige Anmerkungen beschränken.
Der Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend hat mich gebeten, noch einige Punkte zur Täter-
orientierung bzw. zur Opferorientierung zu sagen. Tä-
terorientiert ist dieses Gesetz ganz sicherlich nicht.
Der Gesetzentwurf beinhaltet weder therapeutische noch
Beratungsinhalte und enthält auch keinerlei erzieheri-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7099
(C)
(D)
schen Aspekte, so daß man von einem täterorientierten
Gesetz nicht reden kann.
Sie wissen, daß es sich bei den Beratungsstellen, die
den Täter-Opfer-Ausgleich durchführen, ausschließlich
um professionelle Kräfte handelt. Das Bild dieser Mitar-
beiter ist das selbstbestimmter Menschen, die von der
Ideologie und Philosophie ausgehen, daß die kreativen
Anlagen grundsätzlich eine Selbstheilung und auch Ver-
änderung der Menschen zulassen.
Zu dem Beratungsprozeß gehört auf jeden Fall, daß er
freiwillig und vertraulich ist und die Handlungsautono-
mie der Betroffenen selbst unterstützt. Das sind explizite
Voraussetzungen für den Täter-Opfer-Ausgleich. In
einem angstfreien Raum werden – gegebenenfalls in
Anwesenheit des Täters, des Verletzten, des Geschädig-
ten, des Opfers – die Vorgänge aus der Sicht des Opfers,
werden die Verletzlichkeiten, die Schädigungen, die
Wünsche und die Forderungen vorgebracht.
Darüber hinaus bin ich auch der Meinung, daß sich
der Täter-Opfer-Ausgleich für jede Tat eignet. Die hohe
Zahl der Körperverletzungen bestätigt allerdings, daß der
Täter-Opfer-Ausgleich vor allen Dingen bei diesen De-
likten geeignet ist, weil es bei den Opfern einen hohen
Grad der Betroffenheit gibt. Die Selbstbestimmtheit der
Beteiligten läßt es jedoch zu, daß jeder/jede sich ent-
scheiden kann, ob er/sie sich in diesen Prozeß begibt
oder nicht. Die bisherigen Erfahrungen haben allerdings
gezeigt, daß 71 Prozent der Opfer bereit sind, sich an
einem Täter-Opfer-Ausgleich zu beteiligen.
Ich sage es noch einmal: Wir sollen davon ausgehen,
daß die Täter nicht unbedingt daran interessiert sind,
ihren Opfern oder den Verletzten zu begegnen. Starke
Muskeln, die große Klappe und die geballte Faust sind
nämlich dann nicht mehr gefragt.
Beim Täter-Opfer-Ausgleich müssen kleine Brötchen
gebacken werden, sind Nachgeben und das Übernehmen
der Sichtweise des Opfers, das Erfassen von dessen Per-
spektive – das sagte ich schon in meinem ersten Beitrag
– von seiten des Opfers gefragt. Es muß also hinsichtlich
der Perspektive des Täters eine Veränderung geben.
Die jeweils unterschiedlichen Taten und die Bedürf-
nisse der Betroffenen machen in der Praxis auch unter-
schiedliche Beratungsformen, unterschiedliche Räume
und unterschiedliche Situationen erforderlich. Es macht
einen Unterschied, ob mediiert wird, wenn eine Gruppe
junger Männer eine andere Gruppe junger Männer
drangsaliert hat, ob ich in einem Prozeß mediiere, in dem
es darum geht, daß ein besoffener Mann in den frühen
Morgenstunden bei Edeka mit dem gerade gelieferten
Joghurt herumgeschmissen hat, oder ob ich im sozialen
Nahraum bei Körperverletzungen mediiere. Das ist auch
für den Prozeß, der dann stattfindet, ein gewaltiger Un-
terschied.
Aus den Ausführungen entnehmen Sie, daß es sich
also um einen Prozeß handelt, in dem das Opfer zu jeder
Zeit ein- und aussteigen kann. Es besteht erstmalig die
Chance, daß ein Opfer durch eigenes Handeln in einen
Prozeß eingreifen kann und nicht dadurch, daß der
Rechtsanwalt des Opfers dem Rechtsanwalt der Gegen-
partei irgendein Schriftstück mit einer Forderung zu-
kommen läßt.
Wie gesagt, die Erfolgsquote ist relativ hoch. Es
kommt in 76 Prozent der Fälle nach bisheriger Erfahrung
zu einem Abschluß in Form des Täter-Opfer-Ausgleichs.
Nur 20 Prozent der bisher zugewiesenen Fälle lassen
keinen Täter-Opfer-Ausgleich und die Bemühungen da-
zu zu. Aber auch die Möglichkeit, am Widerstand der
Opfer zu arbeiten, ist eine Chance. Manche begeben sich
erst nach den Kontaktaufnahmen und nach dem Ge-
spräch darüber, was eigentlich mit ihnen passiert ist, in
weitere Beratungen. Nach einer Untersuchung der Uni-
versität Tübingen gibt es im übrigen bei der Geschlech-
teraufteilung folgendes Bild: Täter bzw. Beschuldigte
sind zu rund 82 Prozent Männer und zu 17 Prozent Frau-
en, Opfer wiederum zu 67 Prozent Männer und zu
33 Prozent Frauen. Je bedeutsamer der Eingriff in die
persönliche und psychische Identität ist, um so höher ist
die Anzeigebereitschaft.
Die Länder sind nach Inkrafttreten dieses Gesetzes
nun also gefordert. Die Gerichte sollen ausufernde Ver-
handlungen eindämmen. Die Richter sollen Akzeptanz
und Rechtsfrieden schaffen. Es muß in ihren Köpfen
verankert werden, daß der Täter-Opfer-Ausgleich ein In-
strument dazu ist. Die Beratungsstellen müssen Qualifi-
kation, Weiterbildung und Praxisberatung zur Verfügung
stellen. Ich verhehle allerdings nicht, daß mir die For-
mulierung „soll die Eignung nicht angenommen werden“
im geplanten § 155a StPO einige Probleme macht. Bei
allen Opferinteressen kann das Opfer nicht Herr des Ver-
fahrens werden. Den Richtern muß die Entscheidung
überlassen bleiben, ob sie eine Einstellung vornehmen
oder nicht.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Götzer.
Frau Präsiden-
tin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestat-
ten Sie mir, daß ich mich als Mitglied des Rechtsaus-
schusses hauptsächlich mit den juristischen Gesichts-
punkten des Täter-Opfer-Ausgleichs befasse.
Ich glaube, wir alle stimmen im Grundsatz darin
überein, daß der Täter-Opfer-Ausgleich, wenn er richtig
praktiziert wird, eine gute Sache ist. Deswegen hat ihn
die alte Koalition 1994 auch mit dem Verbrechensbe-
kämpfungsgesetz im Strafrecht verankert. Aber der Tä-
ter-Opfer-Ausgleich und seine Akzeptanz in der Rechts-
gemeinschaft steht und fällt mit der Wahrung der Opfer-
belange. Das heißt, die Interessen des Opfers müssen an
erster Stelle stehen.
Der Grundgedanke des Täter-Opfer-Ausgleichs ist es,
durch individuellen Ausgleich zwischen Täter und Opfer
Rechtsfrieden zu schaffen. Diesem Anspruch ist der bis-
herige Entwurf nicht gerecht geworden. Deswegen ha-
Hedi Wegener
7100 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
ben wir im Rechtsausschuß darüber sehr intensiv disku-
tiert.
Es gab aus der Sicht der Union vor allem zwei Kritik-
punkte, Herr Kollege Ströbele. Zum einen haben wir
kritisiert, daß es gemäß dem bisherigen Entwurf nach
§ 155 a Satz 3 StPO möglich war, gegen den Willen des
Opfers einen Täter-Opfer-Ausgleich durchzuführen.
Ich weiß nun nicht, Frau Kollegin Wegener, wie ich
Ihre letzten Worte verstehen soll. Haben Sie die neue
Version des Entwurfs nicht gelesen, wollen Sie sich da-
mit nicht anfreunden oder wollen Sie dem Entwurf nicht
zustimmen? Es steht nicht mehr drin, ein Täter-Opfer-
Ausgleich „soll“ nicht gegen den Willen des Opfers
durchgeführt werden, sondern jetzt steht drin, er „darf“
nicht durchgeführt werden. So steht es in der Beschluß-
vorlage – wenn es denn drucktechnisch geklappt hat.
Wir haben in letzter Zeit ja schon anderes erlebt. Das
scheint ja fast schon zur Gewohnheit bei dieser Koalition
geworden zu sein.
Ich hoffe, daß jetzt drinsteht, daß er nicht gegen den
Willen durchgeführt werden darf. Frau Kollegin, Sie
müssen sich, wie gesagt, wenn Sie gegen diese Formu-
lierung sind, überlegen, ob Sie dem Entwurf in der jetzt
vorliegenden Fassung überhaupt zustimmen können.
Der zweite Kritikpunkt aus der Sicht der Union war
der neu im § 153 a StPO aufgenommene Tatbestand, daß
das Bemühen des Täters um einen Täter-Opfer-
Ausgleich ausreichend sein solle.
Wir waren der Meinung, daß diese beiden Gesichts-
punkte eindeutig die Interessen des Täters in den Vor-
dergrund stellen und die Opferbelange vernachlässigen.
Deswegen haben wir entsprechende Änderungsanträge
während der Beratungen im Rechtsausschuß gestellt.
Übrigens befinden wir uns mit unserer Kritik in inter-
essanter Gesellschaft. Zum einen hat der Ausschuß für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine Anregung an
den Rechtsausschuß gegeben – ich zitiere –:
Weiterhin ist aus Sicht des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend klarzustellen, dass in
der Begründung die Interessen des Opfers beim
Täter-Opfer-Ausgleich im Vordergrund zu stehen
haben.
Der Ausschuß war wohl bei dieser Entschließung mit
den Stimmen aus der Regierungskoalition der Meinung,
daß das bisher nicht der Fall ist.
– Ach ja, dann hätten Sie es ja gleich so formulieren
können. Wir freuen uns über jeden Fortschritt.
– Herr Kollege Hartenbach, Sie regen sich vielleicht
noch mehr auf, wenn ich jetzt auch noch den Zwischen-
bericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichen
Sanktionensystems erwähne. Diese Kommission, die ja
nicht von uns, sondern vom BMJ eingesetzt wurde,
stimmt mit unseren Kritikpunkten überein,
indem sie die alte Fassung des § 155 a StPO ablehnte
und eine Änderung des § 153 a Abs. 1 Satz 5, wo es um
das Bemühen geht, verlangte. Die beiden von uns ange-
sprochenen Punkte werden also in dem Zwischenbericht
der vom BMJ eingesetzten regierungsnahen Kommission
aufgegriffen, und es wurde für eine Änderung in unse-
rem Sinne votiert.
Auf Grund unserer Kritik hat – das sage ich mit Freu-
de – offensichtlich ein Umdenken bei der SPD einge-
setzt. Wir haben die Hoffnung, daß das bei vernünftigen
Vorschlägen in Zukunft häufiger der Fall ist. Gerade in
der Weihnachtszeit sind wir ja alle voll der Hoffnung.
Ich hoffe, daß das nicht mit dem Ende der Weihnachts-
zeit wieder vorbei ist, sondern auch in Zukunft öfter der
Fall sein wird.
Ich möchte hier vor allen Dingen auch dem Kollegen
Stünker dafür danken, daß er im Rechtsausschuß die
Änderung der Formulierung von „soll“ in „darf“ vorge-
schlagen hat. Im nunmehr vorliegenden Entwurf sind
entscheidende Verbesserungen enthalten. Nach der jetzt
zu beschließenden Regelung darf der Täter-Opfer-
Ausgleich nicht gegen den Willen des Opfers durch-
geführt werden. Ein bloßes Bemühen des Täters ohne
die Zustimmung des Opfers läuft ins Leere, weil die
Regelung in § 153 a StPO nicht in Betracht kommt,
wenn das Opfer dem Täter-Opfer-Ausgleich nicht zu-
stimmt.
Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, da es uns gelungen ist, diese entscheidenden
Verbesserungen im Interesse des Opferschutzes durch-
zusetzen – darüber freut sich die CDU/CSU-Frak-
tion natürlich –, stimmen wir heute diesem Gesetzent-
wurf zu.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
Dr. Wolfgang Götzer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7101
(C)
(D)
– Wir sammeln die guten Tage in diesem Jahrtausend.
Ich denke, heute ist ein guter Tag für die Justizpolitik in
diesem Lande. Wenn ich es richtig sehe, werden auch
Sie gleich zustimmen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Unter dem Täter-Opfer-Ausgleich, dem soge-
nannten TOA, können sich nicht viele Leute etwas vor-
stellen. Durch den Täter-Opfer-Ausgleich – das ist rich-
tig und wichtig – können in Zukunft Strafprozesse ver-
mieden oder verkürzt werden, können im voraus
Schlichtungen herbeigeführt werden, nämlich dann,
wenn sich der Täter bemüht – das steht nach wie vor im
Gesetz, Herr Kollege –, sich mit dem Opfer zu einigen
und die Tat sowie die Folgen der Tat wiedergutzuma-
chen. Das Bemühen allein ist wesentlich, auch wenn es
nicht immer zum Erfolg führen wird.
Richtig ist, daß das niemals gegen den Willen des Op-
fers geschehen soll. Ich halte das für völlig in Ordnung,
weil zum Beispiel die Vorstellung, daß eine Frau, die
von einem Mann verprügelt worden ist, gegen ihren
Willen dazu gezwungen wird, sich mit dem Täter zu-
sammenzusetzen, Händchen zu halten und zu sagen:
„Wir sind uns wieder einig.“ grauenhaft ist. Das wollen
wir nicht Wirklichkeit werden lassen, und aus diesem
Grund haben wir dies im Gesetz klargestellt. Das Wort
„soll“ bedeutet für den Richter und auch für den Staats-
anwalt, daß eine Einigung in solchen Fällen überhaupt
nicht in Betracht kommt. Es handelt sich also lediglich
um eine Klarstellung der Intention der Koalitionsfraktio-
nen, Herr Kollege Geis.
Wir haben dies getan, weil wir dachten, daß diejenigen,
die diesen Text lesen und keine Juristen sind, vielleicht
Irrtümern unterliegen könnten.
In Zukunft also wird der Staatsanwalt, wird der Rich-
ter zu jeder Zeit des Verfahrens zu prüfen haben: Ist das
ein Fall für einen Täter-Opfer-Ausgleich? Trifft dies zu,
wird er die Initiative zu ergreifen haben. Das kann in
Verfahren wegen Diebstahls, in Verfahren wegen Sach-
beschädigung, etwa beim Sprayen an Hauswänden, in
Verfahren wegen Körperverletzung, eigentlich bei allen
Taten, die als Vergehen zu qualifizieren sind, geschehen.
Wir erhoffen uns dadurch erstens eine verbesserte
Situation für die Opfer. Für viele ist es wichtiger, daß der
Täter erscheint und sagt: „Es tut mir leid!“ oder: „Ich
habe eingesehen, das war nicht in Ordnung! Wie kann
ich das wiedergutmachen?“ und den Schaden tatsächlich
materiell oder ideell wiedergutmacht.
Zweitens wäre es für den Täter besser: Er braucht
keine Geldstrafe zu zahlen. Er ist nicht vorbestraft. Er
muß unter Umständen nicht in das Gefängnis.
Auch für die Gesellschaft wäre es besser; denn der
Rechtsfrieden wird eher dadurch hergestellt, daß jemand
einsieht, daß er etwas falsch gemacht hat, und sich be-
müht, dies wiedergutzumachen, als daß er in das Ge-
fängnis geht, dem Staat Kosten verursacht und mögli-
cherweise die Konfrontation nach der Entlassung aus
dem Gefängnis oder nach der Zahlung der Geldstrafe an-
steht.
Es ist also insgesamt eine gute und wichtige Rege-
lung. Diese wollen wir, ich glaube: unisono verabschie-
den.
Wir unterhalten uns heute aber auch über einige ande-
re Gesetze. Richtig und gut ist der Kompromiß – wir ha-
ben ihn nach langen Diskussionen gefunden – über die
Fortgeltung des § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes.
Auch darunter kann sich keiner etwas vorstellen. Es
handelt sich um die Befugnis des Richters, beim Fern-
meldeamt zum Beispiel nachzufragen: Wer hat gestern
abend diese Telefonnummer gewählt und eine Frau oder
einen Mann beschimpft, beleidigt, oder in sexueller Wei-
se übel belästigt?
Diese Vorschrift gibt es schon lange; wir wollen sie
auch grundsätzlich erhalten. Sie leidet aber unter erhebli-
chen datenschutzrechtlichen Mängeln, weil nicht sicher-
gestellt ist, daß von dieser Möglichkeit auch in den Fällen
Gebrauch gemacht wird, in denen sich nachher heraus-
stellt, daß nichts war oder daß der Falsche festgestellt
wurde, weil jemand anderes das Telefon benutzt hat.
Wir wollen deshalb die ersten datenschutzrechtlichen
Verbesserungen in das Gesetz aufnehmen und haben nur
unter dieser Voraussetzung einer Verlängerung dieser
Vorschrift zugestimmt. In Zukunft ist es vor allem wich-
tig, daß die von solchen Feststellungen durch das Ge-
richt, durch einen Richter, Betroffenen nachträglich un-
terrichtet werden und sich dagegen zur Wehr setzen
können.
Das ist aber nicht genug. Wir haben weiterhin eine
nochmalige Befristung bis zum Jahre 2001 abgespro-
chen. Dies bedeutet, daß die Koalitionsfraktionen – Sie
sind aufgerufen, hier mitzumachen –, daß die Regierung
bis zum Jahre 2001 – wir haben die Zusicherung, daß es
möglichst bis zum Beginn des Jahres 2001 geschehen
soll – eine weitere datenschutzrechtliche Regelung in das
Gesetz aufnehmen wird und daß eine grundsätzliche Re-
formierung erfolgt. Das ist wichtig und richtig. Denn wir
wollen, daß zum Beispiel die Berufsgeheimnisträger,
also Rechtsanwälte, Ärzte, Geistliche, Journalisten, in
Zukunft einen Schutz haben, damit sie in ihrer Be-
rufsausübung nicht behindert und belästigt werden, wenn
die Telefonnummern festgestellt werden.
7102 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Lassen Sie mich noch etwas zum dritten Gesetzent-
wurf der Union sagen, der heute beraten werden soll und
den wir ablehnen. Wir wollen, daß die Kronzeugen-
regelung, die von Anfang an ein befristetes Sonderrecht
gewesen ist, entstanden aus einem angeblichen Fahn-
dungsnotstand 1989 in der Bundesrepublik Deutschland,
zum Ende des Jahres 1999 ausläuft und ersatzlos weg-
fällt. Diese Kronzeugenregelung war unserem Recht
fremd. Sie hat den Zweck, zu dem sie erlassen worden
ist, nie erreicht. Es gibt keinen einzigen Fall, in dem das
erreicht wurde, was der Gesetzgeber 1989 erreichen
wollte, nämlich Menschen aus dem Kern terroristischer
Vereinigungen zu lösen, um dadurch für die Zukunft
Straftaten zu verhindern oder Straftaten aufzuklären. Das
Gesetz ist lediglich in Fällen angewandt worden, in de-
nen auf andere Art und Weise eine Aufklärung möglich
gewesen ist und wo sich die Leute aus anderen Gründen
zur Aussage bereit erklärt haben. Deshalb ist die Vor-
schrift nicht nur gefährlich – das war sie auch in der
Vergangenheit –, sondern sie hat sich als überflüssig er-
wiesen. Darum wollen wir sie nicht fortsetzen.
Lassen Sie uns diesen guten Tag am Ende des Jahr-
tausends damit schließen, indem wir den Täter-Opfer-
Ausgleich beschließen, die Fortgeltung des FAG befri-
stet beschließen und die Kronzeugenregelung endlich
auslaufen lassen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich bin immer hoch alarmiert, wenn
der Kollege Ströbele sagt, daß es einen guten Tag für
den Rechtsstaat gibt. Denn dann gibt es Gelegenheit,
darüber nachzudenken, ob das wirklich der Fall ist. Viele
der Auffassungen, die er vertritt – das hat der gestrige
Tag gezeigt –, lassen sich nicht unbedingt mit dem
Rechtsstaat vereinbaren.
Ich möchte deshalb mit den erfreulichen Dingen be-
ginnen, und zwar mit dem Täter-Opfer-Ausgleich.
Auch hier ist die grüne Sicht deutlich geworden. Ich bin
dem Kollegen Ströbele dankbar, daß er ausführlich dar-
auf hingewiesen hat, welche Dinge gut für den Täter
sind. Das ist der Schwerpunkt der grünen Rechtsüberle-
gung. Wir haben einen anderen Schwerpunkt, nämlich
den, was gut für das Opfer ist.
Ich denke, daß wir gut beraten sind, das tatsächlich zum
Schwerpunkt unserer Überlegungen zu machen.
Ich stimme meinen Vorrednern zu, daß es hier gelun-
gen ist, zu einer Verbesserung für das Opfer zu kommen,
denn der Täter-Opfer-Ausgleich darf dem Opfer nicht
aufgezwungen werden. Es tritt nämlich nur dann eine
Befriedung ein, wenn auch das Opfer das Gefühl hat,
daß seine Interessen berücksichtigt worden sind.
Auf der anderen Seite stimme ich zu, daß der Täter-
Opfer-Ausgleich positive Wirkungen haben kann, insbe-
sondere auf die Täter, die auf diese Weise erleben, wel-
che Wirkungen ihre Tat beim Opfer gehabt hat.
Wer einmal erlebt hat, welche Wirkungen ein Hand-
taschendiebstahl auf eine ältere Frau hat, die sich auf
einmal unsicher fühlt und deren Freiheit beeinträchtigt
ist, weil sie sich zu bestimmten Zeiten nicht mehr traut,
auf die Straße zu gehen, weil sie zum Beispiel in der
Dunkelheit Angst hat, bestimmte Wege zu gehen, der
versteht, daß es einem Täter sehr gut tut, wenn er einmal
die Auswirkungen seiner Tat sieht.
Ich finde es auch gut, daß Täter zum Beispiel dazu
angehalten werden, die Folgen ihrer Tat zu beseitigen,
also zum Beispiel die Graffitis, die an einem Haus an-
gebracht worden sind, zu entfernen.
Von daher sagen wir ein klares Ja dazu.
Zu den anderen Punkten, die heute eine Rolle spielen,
haben wir differenzierte Auffassungen. Zunächst einmal
lehnen wir den Antrag der CDU/CSU, die Vorschriften
für die Telefonüberwachung um weitere zu ergänzen,
ab; denn wir möchten eine Überprüfung, in welchen
Fällen die Telefonüberwachung notwendig ist. In man-
chen Bereichen der Kriminalität – Sie wissen, ich bin
Oberstaatsanwalt und weiß es deshalb genau –, etwa bei
der Drogenkriminalität, können wir auf die Telefon-
überwachung nicht verzichten. Da brauchen wir sie drin-
gend, um insbesondere die Dealer zu überführen. Von
daher sagen wir ein klares Ja.
Aber wir möchten gern eine Überprüfung, um zu klä-
ren, in welchen Fällen die Telefonüberwachung tatsäch-
lich erforderlich ist und in welchen Fällen nicht. Wir ha-
ben bisher dafür keine Grundlage geliefert bekommen.
Ich bedauere das außerordentlich; denn wir beobachten
auf der anderen Seite – Sie wissen, daß ich mir jedes
Jahr die entsprechenden Zahlen vom Bundesjustizmini-
sterium geben lasse – einen erheblichen Anstieg der Zahl
der Telefonüberwachungen. Deshalb muß es eine Über-
prüfung des Kataloges geben und darf es kein blindes
Erweitern geben, wie es in dem Antrag der CDU/CSU
gefordert wird.
Herr Kollege
van Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Ströbele?
Ja.
Hans-Christian Ströbele
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7103
(C)
(D)
will ich auch tun. Können Sie mir erklären, warum Sie in
den letzten zehn Jahren nicht all diese Arbeit geleistet
haben und uns einen Gesetzesvorschlag vorgelegt haben,
den wir bereits Ende 1998 oder spätestens Anfang 1999
hätten verabschieden können?
Herr Kollege Ströbele, ich
weiß, daß die neue Koalition die alte Leier, es hätte in
16 Jahren irgend etwas geschehen können, besonders
gerne spielt.
Dadurch wird die Leier aber überhaupt nicht besser. Sie
wissen, daß in einer Koalition nicht alle Punkte umzu-
setzen sind. Die Grünen sind ein typisches Beispiel da-
für. Deshalb würde ich gern in meiner Rede fortfahren,
zumal ich gerade zu einem Punkt kommen möchte, bei
dem ich wirklich betroffen darüber bin, daß die Grünen
eingeknickt sind, nämlich zu der Frage des Fernmelde-
anlagengesetzes.
Ich bin der Auffassung, daß wir diese Vorschrift
brauchen, aber in geänderter Form. Daß wir sie brau-
chen, ist klar. Wer zum Beispiel erlebt hat, welche Kon-
sequenzen der Telefonterror, der sich insbesondere ge-
gen Frauen richtet, bei den betroffenen Frauen hat, die
Nacht für Nacht aus dem Bett geschellt werden und nicht
mehr durchschlafen können, der weiß, daß wir diese
wichtige Ermittlungsmaßnahme brauchen.
Trotzdem bedarf es hier einiger Ergänzungen. Wir
müssen hierbei zu einem besseren Datenschutz kommen.
Ich denke, daß das eine Aufgabe ist, die die neue Bun-
desregierung in diesem Jahr hätte erledigen können.
– Nein, Sie haben einen ersten Schritt getan. Sie haben
keine wirklich vernünftige, umfassende Regelung getrof-
fen.
Es wäre innerhalb eines Jahres möglich gewesen. Die
Bundesregierung wußte, daß die Regelung Ende des Jah-
res auslaufen würde. Sie hätte innerhalb eines Jahres ei-
ne entsprechende Neuregelung vorlegen können. Wir
bedauern es ganz außerordentlich, daß das nicht gesche-
hen ist, und schlagen vor, die Regelung lediglich um ein
Jahr zu verlängern, um die Bundesregierung endlich zum
Tätigwerden zu zwingen.
Das gleiche sehen wir bei der Kronzeugenregelung
vor. – Ich wiederhole den Satz, damit auch die Kollegen
der SPD, die ständig dazwischenreden, ihn verstehen
können. Wir sagen ein klares Nein zum Auslaufen der
Kronzeugenregelung Ende dieses Jahres. Sie haben kei-
ne wirkliche Begründung vorgetragen, Herr Kollege
Ströbele.
Sie haben keine wirkliche Begründung vorgetragen,
wenn Sie ehrlich sind. Sie wissen, daß es dazu eine Un-
tersuchung durch den hochangesehenen Chef des Krimi-
nologischen Forschungsinstituts in Niedersachen, den
Professor Pfeiffer, gibt, der Praktiker und andere Perso-
nen befragt hat, die mit dieser Regelung zu tun hatten,
und klar gesagt hat, daß es insoweit einer Neuregelung
bedarf.
Genau das fordern wir als F.D.P. Wir wollen eine
kurzfristige Verlängerung und dann eine Bestandsauf-
nahme, die leider auch hier durch die Bundesregierung
nicht erfolgt ist.
Daß wir eine Kronzeugenregelung wirklich brauchen
und daß all die Vorwürfe völlig unberechtigt sind, zeigt
die Tatsache, daß Richter und Staatsanwälte tagtäglich
den § 31 Betäubungsmittelgesetz in Deutschland anwen-
den, der sich außerordentlich bewährt hat.
– Sie selbst, Herr Ströbele, haben bei der Sitzung des
Rechtsausschusses zu erkennen gegeben, daß auch Sie
offen sind für eine Neuregelung.
Wenn das so ist, wenn wir tatsächlich eine Regelung der
Kronzeugeneigenschaft brauchen, dann sollten wir jetzt
dafür sorgen, daß es hier keinen abrupten Schluß gibt,
sondern wir zu einer vernünftigen Neuregelung kom-
men. Die F.D.P. setzt sich dafür ein.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sabine Jünger.
7104 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Seit fünf Jahren ist mit dem § 46 a des
Strafgesetzbuches die Möglichkeit des Täter-Opfer-
Ausgleichs nicht mehr nur im Jugendstrafrecht, sondern
auch im allgemeinen Strafrecht vorgesehen. Bisher wur-
de diese Maßnahme allerdings nicht so häufig und nicht
so breit angewandt, wie auch wir uns das wünschen
würden.
Wir begrüßen es nachdrücklich, daß der Täter-Opfer-
Ausgleich jetzt auf eine breitere Grundlage gestellt wird.
Er zwingt aus unserer Sicht den Täter, die Verantwor-
tung für seine Tat zu übernehmen und sich den Folgen
dieser Tat für das Opfer zu stellen. Der Täter muß sich
selbst Gedanken über eine mögliche Wiedergutmachung
machen und aktiv darauf hinwirken. Dem Resozialisie-
rungs- und Erziehungsgedanken des Strafrechts wird da-
durch besser entsprochen als durch von außen bzw. von
oben ausgesprochene Strafen.
Gleichzeitig ist der Ausgleich aber auch eine Maß-
nahme, die das Opfer und dessen Interessen in den
Mittelpunkt stellt und sich nicht alleine mit der Sank-
tionierung des Täters begnügt. Häufig finden sich Op-
fer in Strafverfahren ja lediglich in der Rolle des Zeu-
gen oder der Zeugin wieder. Die möglichen physischen
oder emotionalen Folgen einer Tat finden im her-
kömmlichen Rahmen relativ wenig Beachtung. Jetzt
gibt es immerhin die Möglichkeit, daß einige dieser
Folgen für das Opfer durch die Auseinandersetzung mit
dem Täter abgemildert oder zumindest besser bewältigt
werden können.
Wir halten die Ausweitung des Täter-Opfer-Aus-
gleichs für ein rechtspolitisch und gesamtgesellschaftlich
bedeutsames Projekt. Aber bei aller Bedeutung dieser
Maßnahme: Opfer dürfen selbstverständlich nicht unter
Druck gesetzt werden, einem Ausgleich mit dem Täter
zuzustimmen. Es ist wichtig, daß diese Tatsache jetzt in
§ 155 a der Strafprozeßordnung eindeutig geregelt ist.
Daß der Gesetzentwurf der Regierung um Art. 3 a er-
weitert wurde, trübt unsere eindeutig zustimmende Hal-
tung allerdings merklich. Der Art. 3 a bezieht sich – dar-
auf hat der Kollege Ströbele schon hingewiesen – auf
§ 12 des Fernmeldeanlagengesetzes. Wir halten die
darin enthaltenen Änderungen für unnötig und schädlich.
Sie machen einen weitgehenden Eingriff ins Fernmelde-
geheimnis möglich und stellen damit eine weitere
Beschränkung der Rechte von Bürgerinnen und Bürger
dar.
Diese Problematik sehe ich übrigens auch in der Er-
weiterung des Deliktkatalogs des § 100 a der Strafpro-
zeßordnung, die die CDU/CSU-Fraktion fordert. Wir
werden diesen Antrag selbstverständlich ablehnen.
Abschließend komme ich noch ganz kurz zur Kron-
zeugenregelung. Es ist Zeit, daß diese unsägliche Re-
gelung endlich ausläuft. Sie hat dem Rechtsstaat mehr
Schaden zugefügt, als sie jemals zur Aufklärung von
Straftaten hätte beitragen können. Die Kronzeugen-
regelung durchbricht das Rechtsstaats- und das Legali-
tätsprinzip. Außerdem verletzt sie den Gleichheitsgrund-
satz, indem sie Strafverdächtige oder überführte Täter
ganz oder teilweise von einer Bestrafung ausnimmt.
Schon bei ihrer Einführung 1989 – gegen die Kritik
fast der gesamten Fachwelt – war klar, daß die verspro-
chenen Strafminderungen einen Anreiz schaffen, andere
zu bezichtigen, um sich selber Vorteile zu verschaffen.
So etwas birgt immer die Gefahr, daß der Zeugenbeweis
entwertet wird. Außerdem wird der Bezichtigung Un-
schuldiger Tür und Tor geöffnet.
Ein gerade wieder aktuelles Beispiel dafür ist der
ehemalige V-Mann und Kronzeuge Siegfried Nonne,
dem psychiatrische Gutachten erneut jede Glaubwürdig-
keit absprechen. Die Aussagen von Nonne haben dazu
geführt, daß Christoph Seidler jahrelang als Terrorist ge-
sucht wurde. Seidler hat sich vor drei Jahren gestellt,
weil er nicht mehr länger auf der Flucht und in der Ille-
galität leben wollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird
das Verfahren gegen ihn in Kürze eingestellt. Es wäre
aus unserer Sicht dringender, Christoph Seidler zu reha-
bilitieren, als hier erneut eine Verlängerung einer so un-
säglichen und schädlichen Regelung wie der Kronzeu-
genregelung zu debattieren. Es wird Zeit, sich von ihr zu
verabschieden.
Das Wort hat
jetzt der Herr Parlamentarische Staatssekretär Pick.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich denke, daß heute unabhängig von den
unterschiedlichen politischen Einschätzungen Überein-
stimmung darin besteht, daß dies ein guter Tag – hier
knüpfe ich an Herrn Ströbele an – gerade für die Opfer
von Straftaten und nicht in erster Linie für die Täter ist.
Wir setzen heute den Schlußpunkt unter die Beratung
des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur strafverfah-
rensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Aus-
gleichs. Ich freue mich, daß im Rechtsausschuß bei aller
Zügigkeit der Beratungen gemeinsam ein Ergebnis ge-
funden worden ist, das zeigt, daß die Opferinteressen
sehr ernst genommen werden. Vor allen Dingen stand
die Rechtsstellung der Opfer im Vordergrund.
Ich denke, der Täter-Opfer-Ausgleich stärkt die Op-
ferinteressen in vielfacher Weise. Wir wissen, daß er
zwei Hauptanliegen erfüllen muß, nämlich auf der einen
Seite einen Ausgleich für das erlittene Unrecht zu schaf-
fen. In diesem Zusammenhang ist auch das Interesse der
Opfer an Genugtuung sowie daran sehr wichtig, daß der
Täter mit den Folgen seiner Tat wirkungsvoll konfron-
tiert wird.
Auf der anderen Seite erwarten wir vom Täter-Opfer-
Ausgleich eine verbesserte Akzeptanz der Arbeit der
Justiz. Dies ist auch ein Gesichtspunkt, der aus unserer
Sicht sehr wichtig ist. Das Opfer tritt aus seiner Neben-
rolle als Zeuge heraus, die es bisher in vielen Fällen
spielte, und wird aktiv in die Aufarbeitung der Folgen
des Unrechts einbezogen. Ich denke, das ist ganz wich-
tig.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7105
(C)
(D)
Insofern erwarten wir, daß auch die Justiz von den
nun eröffneten Möglichkeiten mehr Gebrauch macht als
bisher. Diese Möglichkeiten gab es im materiellen Recht
auch bisher schon. Vor allen Dingen die Beispiele aus
dem Jugendstrafrecht lassen erwarten, daß der Täter-
Opfer-Ausgleich an Bedeutung gewinnen wird.
Ich möchte noch auf den Vorwurf zu sprechen kom-
men, der erste Entwurf habe zu Zweifeln Anlaß gegeben,
daß hier gegen den Willen des Opfers gehandelt werden
könne. Es mag eine typisch juristische Betrachtungswei-
se sein, daß wir das Wort „soll“ etwas mehr schätzen
und insofern anders interpretieren als die Allgemeinheit.
Es war nie beabsichtigt, daß ein Täter-Opfer-Ausgleich
gegen den Willen des Opfers durchgeführt wird, denn
dann funktioniert er nicht. Insofern sind wir mit der ge-
troffenen Klarstellung durchaus einverstanden.
Ich will noch etwas zum § 12 des Fernmeldeanla-
gengesetzes sagen. Herr van Essen, Sie haben uns ein
ganzes Bündel von Gesetzen hinterlassen, die alle zum
31. Dezember dieses Jahres enden.
– Es geht nicht nur um dieses Gesetz. Es gibt viele Ge-
setze, die auslaufen, so das Eigentumsfristengesetz, über
das wir uns möglicherweise noch unterhalten, und auch
die Kronzeugenregelung. Ich habe fast den Verdacht,
daß Sie geahnt haben, daß jetzt die neue Koalition, die
neue Bundesregierung vor der Aufgabe steht,
das alles bis zum Ende des Jahres 1999 so zu regeln, daß
es dann auch Dauerrecht werde könnte. Selbst diese Re-
gierung und dieses Haus sind nicht in der Lage, all dies
sofort dauerhaft in Ordnung zu bringen.
Eine Verlängerung des § 12 FAG um weitere zwei
Jahre kann nur den Sinn haben,
hier eine Regelung zu finden, die sicher auch Ihren Bei-
fall findet. Herr van Essen, Sie sind dazu herzlich ein-
geladen.
Diese Zwischenregelung, die ja immerhin auch schon
Verbesserungen im rechtsstaatlichen Sinne bringt – das
haben Sie anerkannt –, werden wir jetzt in der Tat nicht
zum Anlaß nehmen, zwei Jahre zu warten, sondern wir
wollen möglichst bald, aber im Rahmen dessen, was wir
von der Kapazität her leisten können, zu einer endgülti-
gen Lösung kommen.
Ich will noch eine Bemerkung zu dem Gesetzentwurf
der CDU/CSU zur Erweiterung des Katalogs der Straf-
taten in § 100 a StPO machen. Sie wissen, daß wir uns
über das Problem der telefonischen Abhörmaßnahmen
im Rechtsausschuß schon oft unterhalten haben. Ich
weiß nicht, wie es Ihnen geht – der Bundesregierung und
auch der Koalition macht der Anstieg der Zahl der tele-
fonischen Überwachungen große Sorgen, meine Damen
und Herren.
Wenn in diesem Jahr ein Anstieg um 30 Prozent festzu-
stellen ist, dann müssen wir genau prüfen, was eigentlich
dahintersteckt. Welche Tatbestände geben für die Ver-
folgungsbehörden Anlaß zu telefonischen Abhörmaß-
nahmen? Man muß sich in der Tat ganz genau überlegen,
was man hier eventuell neu einführt.
Wir werden allerdings überprüfen, ob die Ergebnisse,
die die letzten Reformen im Strafrecht gebracht haben,
Anlaß geben, hierzu neue Entscheidungen zu fällen,
allerdings dann nur in Ruhe und unter Zugrundelegung
der Fakten.
Eine letzte Bemerkung zur Kronzeugenregelung.
Gutachten haben das Schicksal, daß sie von allen sozusa-
gen als Steinbruch für die Argumentation benutzt werden.
Nach meiner Interpretation – ich trete da dem Verfasser
des Gutachtens
gar nicht zu nahe – ist es eine Arbeit, die auf Grund von
Befragungen der Beteiligten angefertigt wurde, die aber
nicht in der Lage war – das ergibt sich wohl auch nicht
aus dem Auftrag –, einmal wirklich zu hinterfragen, in
welchen Fällen die Kronzeugenregelung denn tatsächlich
etwas gebracht hat. Dazu muß man Akten studieren. Das
zu untersuchen, was Herr Ströbele gesagt hat, daß in
vielen Fällen wohl andere Gründe entscheidend dafür
sind, daß sich jemand den Ermittlungsbehörden öffnet,
ist natürlich in diesem Gutachten gar nicht zu leisten
gewesen.
Nach unseren Erkenntnissen hat die Kronzeugenre-
gelung erstens im Bereich des Terrorismus überhaupt
nichts gebracht – weder ist eine Tat verhindert worden,
noch sind die Organisationen deswegen zerschlagen
worden, weil sich etwa Mitglieder offenbart hätten –,
und zweitens sind auch im Bereich der organisierten
Kriminalität die Erfolge sehr, sehr bescheiden. Insofern
erwarten wir von einer Novellierung etwa des § 46 des
Strafgesetzbuches, daß dem Täter entsprechende Zusa-
gen gemacht und damit auch Privilegierungen verschafft
werden können. Dem sollte allerdings eine Diskussion
vorausgehen, die tatsächlich auch die Grundlagen be-
achtet und die Rechtstatsachen mit einbezieht.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.
Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
7106 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr
Staatssekretär! Wenn Sie an eine Novellierung denken
– ich kann Ihnen jetzt schon prophezeien: es wird
schwierigste Verhandlungen mit den Grünen dazu ge-
ben; und ich weiß nicht, ob Sie überhaupt dazu kommen
werden –, dann ist es doch überhaupt nicht einzusehen,
daß Sie dem Vorschlag dieses Gutachtens, wie immer
man dazu stehen mag, nicht folgen, nämlich so lange, bis
die Reformvorstellungen auf dem Tisch liegen, die
Kronzeugenregelung gelten zu lassen, ihre Geltungs-
dauer also heute zu verlängern – für ein Jahr, für zwei
Jahre – und dann in dieser Frist einen neuen Vorschlag
zur Verbesserung der Kronzeugenregelung vorzulegen.
Ich weiß gar nicht, wie Sie das der Bevölkerung
klarmachen wollen und wie Sie ernsthaft argumentieren
wollen. Es gibt doch überhaupt kein ernsthaftes Argu-
ment, wenn Sie schon verändern, wenn Sie schon ver-
bessern wollen, gegen eine Verlängerung bis zur Verbes-
serung – so, wie der Sachverständige das vorgeschlagen
hat.
Wir haben die Kronzeugenregelung seit zehn Jahren,
seit 1989 im terroristischen Bereich, 1994 ausgedehnt
auf den Bereich der organisierten Kriminalität. Kern der
Kronzeugenregelung ist, daß der Mittäter, der ausgestie-
gen ist, seine Kenntnisse von der Struktur, von der Stra-
tegie, von den Zielen, von den verbrecherischen Vorha-
ben, von den Verbrechern selbst der Polizei, dem Staats-
anwalt, dem Richter weitergibt. Weil er sie weitergibt,
begibt er sich in Lebensgefahr; denn er muß damit rech-
nen, daß er von seinen ehemaligen Komplizen ermordet
wird. Deswegen wird er nur dann etwas weitergeben,
wenn er dafür eine Gegenleistung des Staates erhält.
Diese erhält er in der jetzigen Kronzeugenregelung und
offenbar auch in der von Ihnen gedachten Reform da-
durch, daß man ihm Strafmilderung oder Straferlaß ver-
spricht. Das kommt auf die Schwere seiner eigenen Tat
an.
Natürlich weiß ich, daß hier ein Deal geschieht und
daß dies das eigentliche rechtsstaatliche Problem ist. Das
wollen wir nicht verniedlichen. Wir haben dieses Pro-
blem in den vergangenen Jahren, 1989 und 1994, disku-
tiert. Das war der Grund, weshalb wir uns in der Koali-
tion letztendlich nie zu einer Reform entschließen konn-
ten. Wir von der CDU/CSU wollten das, während die
F.D.P. größere rechtsstaatliche Bedenken hatte. Das will
ich überhaupt nicht hintanstellen. Das ist keine Kritik,
sondern durchaus lobenswert. Wegen der Bedenken der
F.D.P. haben wir die Geltung der bestehenden Regelung
immer wieder verlängert. Wir wollten die ganze Ent-
wicklung und die Wirkungsweise der Kronzeugenrege-
lung einmal abwarten.
In der Abwägung zwischen Legalitätsprinzip, das ein
wichtiges Verfassungsprinzip ist, und der inneren Si-
cherheit der Bevölkerung, der Sicherheit des einzelnen
Bürgers vor einem Verbrechen, haben wir uns für die
Kronzeugenregelung entschieden. Wir haben uns also
dazu entschlossen, demjenigen, der sich offenbart und
Informationen gibt, einen Vorteil zu gewähren. Anders
bekommen wir diese Informationen nicht.
Wir brauchen die Kronzeugenregelung. Sie hat sich
im Gegensatz zu dem, was hier gesagt worden ist,
durchaus bewährt. Ich werde Ihnen einige Beispiele da-
für nennen.
– Herr Ströbele, ich finde es in höchstem Maße peinlich,
daß sich ausgerechnet Sie mit Ihrer Vergangenheit – wir
alle kennen die Ereignisse aus den Jahren 1982 und 1983
– zum Wortführer derer machen, die die Kronzeugenre-
gelung abschaffen wollen. Das empfinde ich als in höch-
stem Maße schlimm und peinlich. Sie sollten ganz still
sein und sich nicht so laut vorwagen.
Wir halten die Kronzeugenregelung im Interesse der
inneren Sicherheit für eminent wichtig. Es ist völlig
ausgeschlossen, in einen so abgeschotteten Kreis wie den
einer terroristischen Vereinigung oder einer mafiosen
Gruppierung hineinzukommen, ohne daß sich die Mit-
glieder der terroristischen Vereinigung selbst äußern.
Die Telefonüberwachung ist wichtig. Auch der Lausch-
angriff, also die elektronische Wohnraumüberwachung,
ist wichtig. Aber mit diesen Mitteln hat man beim
Kampf gegen diese abgeschotteten Gangster keine
Chance. Diese Verbrecher haben Geld genug, um sich in
abhörsichere Räume zu begeben, wenn sie verhandeln.
Deswegen haben diese Instrumente bislang wenig Wir-
kung gezeigt, deswegen sind wir zur Kronzeugenrege-
lung gekommen, und deswegen wollen wir sie auch bei-
behalten.
Natürlich – das gebe ich zu – waren es nicht zu viele
Fälle: Es waren im terroristischen Bereich 25 und auch
in der organisierten Kriminalität exakt 25. Aber immer-
hin: Von zehn ausgestiegenen ehemaligen Terroristen
waren sieben bereit, im Rahmen der Kronzeugenrege-
lung auszusagen. Dadurch war es möglich, Strafverfol-
gungen einzuleiten. Es ist für einen Rechtsstaat nicht ge-
rade wenig, wenn er begangene Straftaten verfolgt; denn
die Verfolgung von Straftaten hat immer auch eine prä-
ventive Note.
Sie müssen noch eines bedenken: Diese Kronzeugen-
regelung hat zweifellos einen sehr stark präventiven
Sinn. Diese Ansicht vertrete ich nicht allein. Der ehe-
malige Generalbundesanwalt Dr. Kurt Rebmann hat er-
klärt, daß einer der wichtigen Gründe für die Tatsache,
daß der Terrorismus bei uns auf Null herabgesunken ist
und keine gesellschaftliche Bedeutung mehr hat – dar-
über freuen wir uns alle –, die Kronzeugenregelung ist.
Sie hat eine Verunsicherung dieser Banditen bewirkt, die
in einem engen Kreis ganz abgeschottet zusammenleben
und sich austauschen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7107
(C)
(D)
Allein die Furcht dieser Banditen, daß sich der Mittäter
eines Tages offenbaren kann, hält sie ganz offenbar da-
von ab, die eine oder andere Straftat zu begehen.
Zumindest wirkt die Kronzeugenregelung wie ein
Keil, der in mafiose Strukturen und in terroristische Ver-
einigungen hineingetrieben wird und der sie zerschlägt.
Nur durch diese Möglichkeiten hat die Polizei die Chan-
ce, solche mafiosen Gruppierungen auseinanderzuspren-
gen, sie zu zerschlagen, Straftaten zu verfolgen und
Verbrechen zu verhindern.
Dies gilt ganz sicher für den Bereich des Terrorismus.
Dies gilt auch für den Bereich der organisierten Krimi-
nalität,
wiewohl ich zugebe, daß die Kronzeugenregelung in die-
sem Bereich nicht die Wirkung erzielt hat, die sie ei-
gentlich hätte erzielen sollen.
Das ist wahr.
Dies hängt damit zusammen, daß die jetzige Kron-
zeugenregelung an § 129 des Strafgesetzbuches – Mit-
gliedschaft in einer kriminellen Vereinigung – gebunden
ist. Diese kriminelle Vereinigung muß erst einmal nach-
gewiesen werden. Alle Staatsanwälte sagen uns: Wir ha-
ben keine Chance, kriminelle Vereinigungen nachzuwei-
sen. Sie schotten sich ja ab, damit wir nichts nachweisen
können. Deswegen müßt ihr die Kronzeugenregelung an
den Straftatenkatalog und nicht an § 129 des Strafge-
setzbuches, also nicht an den Nachweis einer kriminellen
Vereinigung binden. So lautet der Vorschlag der Staats-
anwälte. Dieser Vorschlag wird auch in dem Gutachten
gemacht, das schon vorhin erwähnt worden ist. Dies
sollten wir uns vornehmen. Wir sollten die Kronzeugen-
regelung gelten lassen, weil sie nach meiner Meinung
ein wichtiges Instrument gegen die organisierte Krimi-
nalität und auch gegen den Terrorismus ist. Sie ist kein
so schwerwiegendes Instrument wie der Lauschangriff.
Verehrte Damen und Herren von der SPD, es ist mir
unerklärlich, wie Sie dem Lauschangriff, also der elek-
tronischen Wohnraumüberwachung, zustimmen konnten,
mit der ja viel weiter in die Rechte des einzelnen einge-
griffen wird als mit der Kronzeugenregelung, und jetzt
die Kronzeugenregelung abschaffen wollen. Dies ist ein
Widerspruch. Sie müßten eigentlich beides abschaffen.
Der Lauschangriff hat einen viel engeren Wirkungsgrad;
dies wollen wir auch so. Aber die Kronzeugenregelung
ist ein viel wichtigeres Instrument. Deswegen ist es mir
völlig unverständlich, meine sehr verehrten Damen und
Herren von der SPD, daß Sie die Kronzeugenregelung
abschaffen und den Lauschangriff beibehalten wollen.
Dies können Sie einem Normalsterblichen überhaupt
nicht klarmachen. Geben Sie zu: Sie sind Opfer Ihres
Koalitionspartners! Hier wackelt der Schwanz mit dem
Hund!
Herr Ströbele hat sich durchgesetzt. Die Grünen haben
schon immer die großen Überschriften Ihrer politischen
Agitation bestimmt. Die Grünen, die kein Verständnis
für die innere Sicherheit haben – dies möchte ich Ihnen
nicht im geringsten absprechen –, haben Sie in dieser
Frage einfach über den Tisch gezogen. Man muß hier
laut aussprechen: Die Grünen haben sich zu ihren eige-
nen Lasten, aber auch zu Ihren Lasten durchgesetzt.
– Die Altachtundsechziger und die Grufties haben sich
hier durchgesetzt.
Herr Kollege
Geis, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.
Ich habe nur noch einen
Satz.
Sie dürfen
noch einen Satz zum Schluß sagen. Aber ich bitte darum,
keinen neuen Punkt anzuschneiden.
Die Ausdehnung der
Telefonüberwachung auf Korruptions- und schwere
Sexualdelikte halte ich für dringend erforderlich. Dies
haben wir vor zwei Jahren gemeinsam vereinbart, als wir
den Lauschangriff eingeführt haben und als wir gemein-
sam die Verfassung geändert haben. Jetzt müßten Sie
soweit sein, mit uns zu stimmen. Unser Gesetzentwurf
liegt seit einem Jahr auf dem Tisch. Sie können nicht
ewig das gesamte Konzept überdenken. Irgendwann
müssen Sie zu dem Ergebnis kommen, –
Herr Kollege
Geis, bitte. Ich muß Sie jetzt bitten, zum Schluß zu
kommen.
– daß Sie zustimmen
müssen.
Danke schön.
Norbert Geis
7108 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
(C)
Nein, dies wird
Ihnen nicht von der Redezeit abgezogen. Leider haben
auch Sie nur vier Minuten zur Verfügung.
Bitte schön, Herr Kollege Hartenbach.
Verehrte Frau Präsiden-
tin! Liebe interessierte Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe gar nicht gewußt, daß Norbert Geis den Täter-
Opfer-Ausgleich auf SPD und Grüne ausdehnen will.
Wir fühlen uns nicht als Opfer.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
mich gleichwohl – nicht nur, aber auch weil morgen der
zweite Advent ist – einige Worte
– übermorgen –
des Dankes aussprechen. Ich bedanke mich sehr herzlich
bei den Praktikerinnen und Praktikern meiner Fraktion,
bei den Fachleuten im Bundesjustizministerium und bei
Ihnen, Herr Staatssekretär, daß wir nach einer gemein-
samen Beratung über viele Stunden diesen Gesetzent-
wurf so vorlegen konnten und heute beraten können.
Dies war ein sehr guter Akt der Gemeinsamkeit. Ich be-
danke mich auch sehr herzlich bei den anderen Kolle-
ginnen und Kollegen des Rechtsausschusses. Ich habe
gar nicht gewußt, daß man der CDU/CSU mit einem
Wort mit vier Buchstaben – es geht darum, daß man
„soll“ durch „darf“ ersetzt – eine solche Freude machen
kann. Aber wenn das so sein sollte, werden wir Ihnen
diese Freude des öfteren machen.
Im übrigen haben uns die Petitionen des Ausschusses für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend davon überzeugt,
das Wort „soll“ durch „darf“ zu ersetzen. Wenn es nun
ein gemeinsamer Antrag ist, ist es auch gut.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen
hinsichtlich § 12 FAG, in dem es um die Möglichkeit
geht, Auskünfte über geführte Telefongespräche zu be-
kommen, eine vernünftige Regelung in den §§ 100 ff.
der Strafprozeßordnung. Bis es soweit ist, müssen wir
etwas mehr Rechtsstaatlichkeit schaffen, was Sie, meine
lieben Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P. – von
Ihnen sind ja nur noch Männer da –
bisher versäumt haben. Es ist schon ein richtiges Stück
Dreistigkeit, Herr van Essen, wenn Sie uns hier vorwer-
fen, wir müßten endlich etwas tun. Sie hatten 16 Jahre
lang nicht die Kraft, etwas zu tun.
Alles, was in den letzten vier Jahren an vernünftigen Ge-
setzen in der Justizpolitik gemacht worden ist, hat nur
deswegen geklappt, weil wir mitgeholfen haben. Das
stecken Sie sich einmal hinter die Ohren!
Es ist gut, daß wir hier eingeführt haben, daß nach Been-
digung der Maßnahme der Betroffene unterrichtet wird
und die Aufzeichnungen gelöscht werden.
Selbst der Datenschutzbeauftragte lobt uns.
Wir werden in den nächsten beiden Jahren, Kollege van
Essen, einen vernünftigen Gesetzentwurf erarbeiten.
Wir werden der von Ihnen beantragten Ausdehnung
der Abhörung des Telefonverkehrs im Moment so
nicht zustimmen. Zum einen glaube ich ohnehin nicht,
daß hinsichtlich des sexuellen Mißbrauchs von Kindern
über das Telefon sehr viel zu erfahren sein wird. Außer-
dem brauchen wir erst einmal eine vernünftige Bera-
tungsgrundlage, in welchen Fällen überhaupt noch abge-
hört werden kann. So kann heute immer noch abgehört
werden, wenn gegen den Viermächtestatus in Berlin ver-
stoßen wird. Das muß doch einmal geändert werden.
– Dann werden wir nach einer vernünftigen Beratung,
lieber Norbert, auch hier einen ordentlichen Gesetzent-
wurf vorlegen.
Nun zu Ihrer Kronzeugenregelung: Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, der Kronzeuge ist dem deut-
schen Recht ziemlich fremd.
Wir haben ihn in einer Situation eingeführt, wie es Herr
Ströbele dargestellt hat, als es darum ging, gegen den
Terrorismus anzugehen. Wir alle wissen, daß wir mitt-
lerweile keine Erfolge damit mehr haben. Selbst das
Land mit der klassischen Kronzeugenregelung, Italien,
will, wenn es um die Bekämpfung der Mafia-Krimi-
nalität geht, diese Regelung so einschränken, daß neben
der Aussage des Kronzeugen auch noch andere Beweis-
mittel vorhanden sein müssen. Herr van Essen, ich bin
zwar kein Oberstaatsanwalt gewesen; ich habe es nur bis
zum Staatsanwalt gebracht. Aber ich habe in dieser Zeit
auf Anordnung meiner Behördenleitung in zwei Fällen
die Kronzeugenregelung auf Verbrecher anwenden müs-
sen, Deals machen müssen. Wer das einmal gemacht hat,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7109
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geht an diese Regelung sehr vorsichtig heran; denn unser
Rechtsstaat darf nicht davon abhängen, daß er nur dann
funktioniert, wenn wir mit Verbrechern zusammenar-
beiten, Deals machen. Wir sind absolut dagegen.
Nun habe ich meine Redezeit gleich um eine Minute
überzogen, und ich möchte die Frau Präsidentin nicht ver-
ärgern. Daher beschränke ich mich auf eine kurze Bemer-
kung: Seien Sie doch dankbar, daß wir die Kronzeugenre-
gelung abschaffen. Stellen Sie sich einmal vor, Herr
Schreiber und Herr Leisler Kiep würden von der Kron-
zeugenregelung, wie Sie sie vorhaben, Gebrauch machen!
Vielen Dank.
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur strafverfahrensrechtlichen
Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Die Fraktion
der F.D.P. verlangt getrennte Abstimmung. Ich rufe zu-
nächst Art. 1 bis Art. 3 in der Ausschußfassung auf. Ich
bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Art. 1 bis 3
sind einstimmig angenommen worden.
Ich rufe jetzt Art. 3 Buchstabe a in der Ausschußfas-
sung auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
der F.D.P. auf Drucksache 14/2260 vor. Wer stimmt für
den Änderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. abgelehnt.
Wir kommen damit zur Abstimmung über Art. 3
Buchstabe a in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür?
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Art. 3 Buchstabe a
in der Ausschußfassung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU gegen die Stimmen
von F.D.P. und PDS angenommen.
Ich rufe Art. 4, Einleitung und Überschrift, in der
Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Art. 4, Einleitung und Über-
schrift sind angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf
insgesamt in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in der dritten Lesung mit den Stimmen der SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und PDS bei Ent-
haltung der F.D.P. angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Fraktion
der CDU/CSU zur Änderung des Gesetzes über Fern-
meldeanlagen. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzent-
wurf auf Drucksache 14/1315 für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Aus-
schusses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlußempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung der
Strafprozeßordnung auf Drucksache 14/162. Der Rechts-
ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/2192, den Ge-
setzentwurf abzulehnen. Ich lasse jetzt über den Gesetz-
entwurf der Fraktion der CDU/CSU abstimmen. Ich bitte
diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurf
eines Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes der Fraktion
der CDU/CSU. Der Rechtsausschuß empfiehlt, den Ge-
setzentwurf abzulehnen. Es liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2261 vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der Fraktion
der CDU/CSU abstimmen. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen von CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Fortentwicklung der Altersteilzeit
– Drucksache 14/1831 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/2254 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Rennebach
Die Abgeordneten Rennebach, Schemken, Meckel-
burg, Dückert, Schwaetzer, Balt und der Parlamentari-
sche Staatssekretär Andres haben darum gebeten, ihre
Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie einver-
standen? –
Das ist der Fall.
—————
*) Anlage 3
Alfred Hartenbach
7110 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999
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Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf
zur Fortentwicklung der Altersteilzeit. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN, CDU/CSU und PDS gegen die
Stimmen der F.D.P. angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Gibt es keine.
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden.
Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf Mittwoch, den 15. Dezember, 13 Uhr
ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den
letzten Besuchern auf der Tribüne einen schönen zweiten
Advent.
Die Sitzung ist geschlossen.