Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist er-
öffnet.
Zunächst möchte ich einigen Kollegen nachträglich
jeweils zu ihrem 60. Geburtstag gratulieren. Die Kolle-
gin Heide Mattischeck feierte am 26. Mai ihren
60. Geburtstag,
der Kollege Bernd Schmidbauer am 29. Mai
und der Kollege Hans-Christian Ströbele am 7. Juni;
ich spreche ihnen im Namen des Hauses die herzlichsten
Glückwünsche aus.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Deutsche Beteiligung an einer internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährlei-
stung eines sicheren Umfeldes für die Flücht-
lingsrückkehr und zur militärischen Absiche-
rung einer Friedensregelung für das Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244
des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999
– Drucksache 14/1133 –
Überweisungsvorschlag:
Deutsche Beteiligung an einer internationalenSicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährlei-stung eines sicheren Umfeldes für die Flücht-lingsrückkehr und zur militärischen Absiche-rung einer Friedensregelung für das Kosovoauf der Grundlage der Resolution 1244
des Sicherheitsrats der Vereinten Nationenvom 10. Juni 1999– Drucksache 14/1133, 14/1136 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Christoph ZöpelKarl LamersDr. Helmut LippeltUlrich IrmerWolfgang Gehrcke
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Ich weise darauf hin, daß wir nach der Ausspracheüber die Beschlußempfehlung namentlich abstimmenwerden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen, wobei dieFraktion der F.D.P. 15 Minuten erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bun-desminister des Auswärtigen, Joschka Fischer.Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen
ren! Gestern war für die betroffenen Menschen im Ko-sovo, in Mazedonien, in Albanien, aber auch in Serbien,für uns alle in ganz Europa ein sehr guter, ja ein histori-scher Tag. Die Waffen schweigen. Der Frieden im Ko-sovo ist jetzt, nachdem die VN-Sicherheitsratsresolu-tion verabschiedet wurde, erreichbar; er ist in Sicht. DerAbzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo hat be-gonnen. Die NATO hat ihre Luftschläge nach elf Wo-chen ausgesetzt. Auf diesen Tag haben die Menschen imKosovo und in Serbien, haben wir alle lange gewartet.Der Krieg wird aber erst dann wirklich zu Ende sein,Frieden wird erst dann wirklich herrschen, wenn dieletzten bewaffneten Einheiten abgezogen sind und dieinternationale Friedenstruppe im Kosovo steht. Doch mitder gestrigen Einigung besteht die berechtigte Hoffnung,daß die weit über eine Million Flüchtlinge und Vertrie-benen in ihre Heimat zurückkehren können.Nun kann ein umfassender Friedensprozeß für denKosovo und parallel dazu und eng eingebettet darin derStabilisierungsprozeß für die Gesamtregion beginnen, andessen Ende die Ankoppelung Südosteuropas – ich be-tone hier ganz bewußt: einschließlich eines demokrati-schen Serbiens – an das Europa der Integration stehenmuß.
Dieser Krieg hat nicht vor elf Wochen begonnen. InWirklichkeit ist es der vierte Krieg im ehemaligen Jugo-slawien in nur acht Jahren, ausgelöst von derselbenPolitik, ausgelöst von derselben Regierung, denselbenVerantwortlichen, an deren Spitze Milosevic steht. Wirhoffen, daß dies der letzte Balkankrieg gewesen ist.Wenn es gelingt, diese Region an das Europa der Inte-gration heran- und in das Europa der Integration hinein-zuführen, besteht die Chance, daß dies der letzte Kriegin Europa gewesen ist.Meine Damen und Herren, dies war kein Krieg alsMittel der Politik, sondern dies war ein Krieg, damit derKrieg als Mittel der Politik in Europa dauerhaft zugun-sten der Herrschaft des Rechts und des Gewaltverzichtsder Vergangenheit angehört.
Milosevic hat sich mit seiner verbrecherischen Politikdes ethnischen Krieges nicht durchsetzen können undnicht durchsetzen dürfen. Seine Rechnung, den Westenspalten zu können, ist nicht aufgegangen. Er ist heutevor dem internationalen Kriegsverbrechertribunal fürdas ehemalige Jugoslawien angeklagt. Ich bin mirsicher, er wird dort auch zur Rechenschaft gezogen wer-den. Die erfolgreiche Durchsetzung der Prinzipien dereuropäischen Zivilisation gegen die Gewaltherrschaftvon Milosevic ist ein wichtiges Signal, daß in EuropaMenschen- und Minderheitenrechte nicht mehr ohneRisiko verletzt werden können. Deswegen war der gest-rige Tag auch ein großer Tag für die Durchsetzung vonGerechtigkeit in Europa.
Die Entwicklung zeigt, daß die Politik der Bundesre-gierung, getragen von der überwiegenden Mehrheit desBundestages, richtig war. Unsere Doppelstrategie be-stand zum einen im Vertrauen auf die militärischeFestigkeit im Wissen darum, daß Milosevic sich nichtdurchsetzen darf, weil es dabei nicht nur um eine huma-nitäre Frage geht, sondern auch darum, in welchemEuropa wir in Zukunft leben wollen und werden, undzum anderen im Setzen auf eine diplomatische und poli-tische Lösung. Dies haben wir konsequent durchgehal-ten. So haben wir letztlich gemeinsam mit unserenBündnispartnern das Blatt wenden können.Deutschland hat mit seiner Beteiligung an denNATO-Luftschlägen eine große Verantwortung über-nommen, gerade auch für die beklagenswerten zivilenOpfer und auch – das möchte ich hier betonen – für dieunschuldigen zivilen Opfer auf serbischer Seite.
Doch wieviel schlimmer wären die Folgen gewesen,wenn wir weiter weggeschaut und den brutalen völki-schen Vertreibungskrieg hingenommen hätten? Wärenwir dem Rat von Ihnen, Herr Gysi, gefolgt, wäre nichtnur das Morden und Vertreiben im Kosovo weiterge-gangen, das ja lange vor dem NATO-Einsatz begonnenhat, sondern die Stabilität der gesamten Region wäreweiterhin massiv bedroht worden; mehr noch, die Herr-schaft der Gewalt hätte sich in einem Teil Europas ge-gen die Herrschaft des Rechts durchgesetzt. Das hättedieses Europa der Integration auf Dauer nicht ausgehal-ten.
Entscheidend für den Erfolg war die Geschlossenheitder Staatengemeinschaft. Niemand, zuallerletzt dieseBundesregierung und auch nicht ihre Vorgängerregie-rung, wollte es zu Gewalt kommen lassen. Für mich istAppeasement kein Schimpfwort. Solange es Möglich-keiten gibt, auf Gewalt zu verzichten und eine politischeLösung herbeizuführen, sollte man dieses unbedingt ver-suchen. Doch nach drei Balkankriegen, nach langenqualvollen Verhandlungen, nach Angeboten, die im In-teresse Serbiens und Jugoslawiens lagen, aber abgelehntwurden, nachdem mit nichtmilitärischen Mitteln allesVizepräsident Rudolf Seiters
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erfolglos versucht wurde, mußten wir diesmal defini-tiv militärischen Widerstand leisten. Dies haben wir ge-tan.Die westlichen Staaten haben dies durchgehalten –trotz erheblicher innerer Schwierigkeiten, gerade auchbei uns. Es war eine der großen Fehlkalkulationen vonHerrn Milosevic, darauf zu vertrauen, daß die NATOnicht zusammenhalten würde. Deshalb möchte ich michnamens der Bundesregierung bei der großen Mehrheitdes Bundestages, Herr Präsident, für die volle Unterstüt-zung in dieser schwierigen Zeit, die uns fraktionsüber-greifend zuteil wurde, recht herzlich bedanken.
Der Durchbruch wurde erreicht durch die erfolgreicheMission des Sonderbeauftragten von Präsident Jelzin,Viktor Tschernomyrdin, und des finnischen Präsiden-ten Ahtisaari und durch die anschließende Einigung derG-8-Außenminister auf dem Petersberg in Bonn auf denEntwurf für eine Sicherheitsratsresolution. Diese Eini-gung war möglich, weil sich Europäer, Amerikaner undRussen trotz extrem unterschiedlicher innenpolitischerund historischer Voraussetzungen auf eine Position füreine dauerhafte europäische Sicherheit und Stabilität ge-einigt haben und sich für eine gemeinsame Vorgehens-weise entschieden haben. Dies ist ein großer, zukunfts-weisender, ein vielleicht historischer Erfolg der Diplo-matie gewesen. Wir sollten über den Anlaß und über denTag hinaus an diesem Erfolg festhalten, die daraus re-sultierenden Ergebnisse fortentwickeln und die europäi-sche Sicherheit in diesem Dreieck fest verankern.Aber auch die geschlossene Haltung der Europäi-schen Union gilt es zu erwähnen, gerade im Vergleichzu ihrer Haltung zu Beginn der jugoslawischen Tragödie1991/92. Dieser Vergleich zeigt: Die Europäische Unionist heute politisch wesentlich näher zusammengerücktund handlungsfähiger geworden. Sie hat diesen Kon-flikt, diesen Krieg auch als Gestaltungschance begriffen,um das Gewicht und die Handlungsfähigkeit Europas zustärken. Deswegen geht unser besonderer Dank an Prä-sident Ahtisaari, dessen Einsatz den Durchbruch in Bel-grad erst möglich gemacht hat.
Ich möchte aber auch ganz besonders und anerken-nend die Haltung Rußlands hervorheben.
Mein Dank geht an Präsident Jelzin für sein persönlichesEngagement und ganz besonders an Viktor Tscher-nomyrdin, seinen Sonderbeauftragten, aber auch anmeinen russischen Kollegen Igor Iwanow.
Der Konflikt zeigt, wie wichtig es ist, daß Rußland Ver-antwortung für Frieden in Europa übernimmt und sichkonstruktiv verhält. Er zeigt außerdem, wie wichtig esist, daß Rußland eine konstruktive Rolle in den Verein-ten Nationen sucht. Damit trägt es wesentlich zur Ge-staltung nicht nur des europäischen, sondern auch desWeltfriedens bei.Ich möchte ganz besonders die nicht nur militärische,sondern auch diplomatische Schlüsselrolle unsereswichtigsten Bündnispartners, der USA, betonen. In die-sem Zusammenhang nenne ich Madeleine Albright,Strobe Talbott und ganz besonders Präsident Clinton,der mit seinem persönlichen Einsatz in den entscheiden-den Phasen gemeinsam mit dem Bundeskanzler und mitBoris Jelzin dazu beigetragen hat, daß dieser Prozeßvorangegangen ist. Wir sind also den USA ebenfalls zutiefem Dank verpflichtet. Ich denke, es ist klargeworden,daß in diesem Konflikt die Kooperation zwischen Euro-pa, Rußland und den USA letztendlich dazu beigetragenhat, daß sich diese Politik der ethnischen Kriegsführung,die, historisch gesehen, die Politik einer blutigen Ver-gangenheit Europas ist, auf dem Balkan nicht durchset-zen konnte.
Die Bundesregierung hat ihre Doppelpräsidentschaft,also die G-8-Präsidentschaft und die EU-Ratspräsident-schaft, dazu genutzt, unseren Beitrag zu leisten, umnicht nur die Politik der ethnischen Säuberungen mitmilitärischen Mitteln zum Scheitern zu bringen, sondernauch den Durchbruch für eine politische Lösung zu er-reichen.
Ich habe es vorhin schon gesagt: Wir haben von An-fang an auf diese doppelte Vorgehensweise gesetzt. Wirhaben die fünf Punkte und einen Friedensplan entwik-kelt, mit dem die fünf Punkte umgesetzt werden sollen.Wir haben von Anfang an darauf Wert gelegt, daß dieEuropäische Union unter Einschluß der neutralen Län-der in diesen Prozeß integriert wird. Das war die Aufga-be unserer Ratspräsidentschaft. Es war eine bewußtepolitische Entscheidung, daß im Rahmen des Ram-bouillet-Prozesses die beiden ,,alten Nationen“, Frank-reich und Großbritannien, auf Grund ihrer historischenBeziehungen zu Belgrad – im Gegensatz zu unsererhistorisch belasteten Beziehung – in der ersten Reiheversuchen sollten, eine entsprechende Vereinbarung mitMilosevic zu erreichen.Unsere Aufgabe im Rahmen der Ratspräsidentschafthaben wir dahin gehend definiert, andere Länder in die-sen Prozeß zu integrieren. Für mich ist dies einer derwichtigen Punkte über den Tag hinaus: Bevor dieNATO die fünf Punkte beschlossen hatte, hatten dieStaats- und Regierungschefs auf dem Sondergipfel inBerlin und davor der Allgemeine Rat der Europäi-schen Union unter Einschluß der neutralen Mitgliederdiese fünf Punkte beschlossen. Das ist für mich einwichtiger Schritt bei der Ausgestaltung des politischenSubjekts der Europäischen Union in diesem Prozeß ge-wesen.
Bundesminister Joseph Fischer
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Wir haben parallel dazu von Anfang an darauf ge-setzt, eine dauerhafte, langfristige, konfliktpräventiveLösung durch das Heranführen dieser Region, der Bal-kanregion, Südosteuropas, an das Europa der Integrationzu bewerkstelligen. Gestern ist es in Köln gelungen, denStabilitätspakt zu verabschieden. Wir müssen ihn jetztmit Leben erfüllen.
Wir waren von Anfang an militärisch voll engagiert.Auf allen Ebenen haben wir uns militärisch beteiligt. Eswar geplant, daß wir uns an der Umsetzung des Ram-bouillet-Abkommens beteiligen. Wir haben uns beteiligt,als es darum ging, Militäraktionen gegen Milosevicdurchzuführen. Wir werden uns jetzt, so der Bundestagzustimmt, ebenfalls an der Um- und Durchsetzung desWaffenstillstandes und der Erreichung des Friedens be-teiligen.Ich möchte hier klar und deutlich aussprechen, daßwir immer die politischen Möglichkeiten gesucht haben,daß wir versucht haben, sie zu nutzen. Aber dies ging nurauf der klaren Grundlage verläßlicher Positionierung imBündnis und der Solidarität in den Militäraktionen, diedas Bündnis gegen die verbrecherische Politik Milose-vics vorgenommen hat. Nur die Verbindung von beidemhat den Erfolg gebracht, nur die Verbindung von beidemhat eine aktive Rolle Deutschlands zugelassen. Ichdenke, es ist wichtig, dies für die Zukunft festzuhalten.
Meine Damen und Herren, unsere Soldaten werden,wenn der Bundestag zustimmt, den in den ersten Stun-den und Tagen – ich hoffe, nicht Wochen – wohl ge-fährlichsten Einsatz ausführen, den die Bundeswehr inihrer Geschichte zu bewältigen hatte.
Wir hatten hier immer eine breite Unterstützung fürdie Politik der Bundesregierung. Das war wichtig für diePiloten, die im Einsatz waren. Ich denke, genauso wich-tig ist es, daß wir diesem hochgefährlichen Friedensein-satz – es ist ein Friedenseinsatz; es ist die Umsetzungeiner Kapitel-VII-Resolution – als deutscher Gesetzge-ber mit breiter Mehrheit zustimmen. Ich möchte namensder Bundesregierung nicht nur allen Soldaten für dasdanken, was sie geleistet haben, sondern auch die Hoff-nung aussprechen, daß alle gesund von diesem Einsatzzurückkehren mögen.
Meine Damen und Herren, wir haben lange um dieSicherheitsratsresolution gekämpft. Über den Tag hinauswird diese Sicherheitsratsresolution von Bedeutung sein.Ich erinnere an den Oktober: Wie sehr hätten wir uns da– fraktionsübergreifend – eine Sicherheitsratsresolutiongewünscht! Damals ging es noch um neue NATO-Diskussionen. Damals ging es noch um die Illusion, esginge ohne den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.Ich meine das nicht nur kritisch in eine bestimmteRichtung: Hätte Rußland schon damals bedacht, welcheKonsequenzen sein Verhalten haben würde, wären wirvermutlich schneller weitergekommen. Das ist ebenfallseine Überlegung, die man nicht vergessen darf.Nichtsdestoweniger sind wir heute so weit. Es gehtjetzt um die Umsetzung dieser Sicherheitsratsresolu-tion. Den Rückzug aller militärischen, paramilitärischenund Polizeikräfte aus dem Kosovo bei gleichzeitigemEinsatz einer internationalen Friedenstruppe haben wirimmer als die Voraussetzung dafür begriffen, den Kernder fünf Punkte, für die wir gekämpft und auf die wiruns verpflichtet haben, umzusetzen. Der Kern der fünfPunkte war die Rückkehr aller Vertriebenen, Deportier-ten und Flüchtlinge. Dafür haben wir gekämpft, und dashaben wir durchgesetzt. Dies soll im Auftrag des Deut-schen Bundestages, wenn Sie dies beschließen, die Bun-deswehr jetzt gemeinsam mit unseren Verbündeten, mitNeutralen und auch unter Teilnahme Rußlands auf derGrundlage einer Kapitel-VII-Resolution im Kosovo um-setzen.Die Stationierung dieser „internationalen Sicherheits-präsenz“ ist das eine, die „zivile Sicherheitspräsenz“ istdas andere, das wir mit aufbauen müssen. Wir befindenuns hier im engsten Kontakt mit unseren Verbündeten.Auf dem G-8-Treffen gab es dazu eine erste wichtigeOrientierungsdiskussion. Die letzten Entscheidungenmuß der VN-Generalsekretär in Abstimmung mit denVertretern der Unterorganisationen der UNO treffen.Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß die Bun-deswehr vor einem gefährlichen Einsatz steht. Das be-trifft nicht nur die Bundeswehr, sondern auch unsereVerbündeten. Das Risiko tragen alle gemeinsam. Das istdas Wesen dieses Einsatzes. Alle beteiligten Soldaten,die am Boden eingesetzt werden, sehen einem sehr ge-fährlichen Einsatz entgegen. Wir wünschen allen einegesunde Wiederkehr.Aber die Voraussetzung für Frieden ist, daß die Völ-kergemeinschaft im Kosovo präsent ist und damit dieAbwesenheit von Gewalt – das ist die erste Vorausset-zung – sichert. Das Ziel ist eine zivile Implementierungin Verbindung mit der Rückkehr der Vertriebenen undFlüchtlinge in ein multiethnisches Kosovo innerhalb derGrenzen der Bundesrepublik Jugoslawien, damit dannhoffentlich eine Demokratisierung der gesamten Regionerreicht werden kann. Die Demokratiefrage ist die ent-scheidende Frage, die wir Milosevic und allen Nationa-listen entgegenhalten müssen.
Die Herrschaft des Rechts gründet auf der freien Ent-scheidung des Volkes. Das ist Demokratie. Aber diefreie Entscheidung des Volkes ist nicht dazu da, neueWillkür zu schaffen – das wäre ein Mißverständnis derDemokratie –, sondern dazu, die Herrschaft des Rechtszu sichern. Hierin bestand der Bruch in der europäischenGeschichte nach 1945, und dies war die Grundlage fürdie weitere Entwicklung. In diesem Jahrhundert wurdenzwei Weltkriege von Europa ausgelöst, vor allem derBundesminister Joseph Fischer
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zweite von unserem Land. Diese Kriege haben einefurchtbare Verheerung mit sich gebracht und habenletztendlich dazu geführt, daß der europäische Eini-gungsgedanke, die Herrschaft des Rechts und das Stre-ben nach Überwindung der Grenzen in Verbindung mitKooperation und schließlich Integration gesiegt haben.Das war die Antwort der Europäer auf die historischeHerausforderung nach den Weltkriegen.Wenn wir heute darüber klagen, wie schwierig dieSicherung des Friedens in Jugoslawien und wie teuer siesein wird, dann sollten wir auf die Zeit nach 1945 in Eu-ropa zurückblicken. Eine Kollegin hat beim G-8-Treffendarauf hingewiesen, wie Köln vor 50 Jahren aussah undwie es heute aussieht. Angesichts dessen ist die Aufga-be, die jetzt vor uns liegt, eine geringere Aufgabe als diedamalige. Wir müssen uns ihr stellen, damit gerade auchDeutschland als eines der entscheidenden Länder inder Europäischen Union seiner Verantwortung gerechtwird.Wir müssen in Jugoslawien nicht nur das Ende derGewalt herbeiführen, dort nicht nur den Frieden gemein-sam mit unseren Verbündeten und den internationalenOrganisationen schaffen, sondern diese Region auchdauerhaft nach Europa führen. Das ist unsere Verant-wortung.Ich bedanke mich.
Ich gebe das Wort
für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Kollegen
Karl Lamers. –-
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Wir alle sind heute erleich-tert, weil Mord und Vertreibung nun ein Ende haben,auch weil die schwere Last der Verantwortung für dieOpfer und die Zerstörungen durch die NATO-Bombardierungen von uns genommen worden ist undweil die NATO-Aktion letztlich erfolgreich war. Siewar nur deshalb erfolgreich, weil die NATO ihren Zu-sammenhalt gewahrt hat.
An dem jetzt erzielten Ergebnis hat die Bundesregie-rung tatkräftig mitgewirkt.
Es fällt mir nicht schwer, das anzuerkennen. Der Bun-deskanzler hat am Dienstag die Mitwirkung der Opposi-tion anerkannt. Damit, meine Damen und Herren, solltenwir es aber auch mit dem Selbstlob bewenden lassen undhinzufügen, daß andere einen mindestens so großenAnteil an diesem Ergebnis haben: der Finne Ahtisaari,der Russe Tschernomyrdin, der russische Präsident Jel-zin, alle anderen NATO-Partner und vorab die USA.
Es wäre nicht nur unklug, es wäre auch ungerecht, ihnenden Part des Hauptkriegsführers und den Europäern dendes Friedensbringers zuzuweisen. Sie, Herr Außenmini-ster, haben das heute gottlob nicht getan.Meine Damen und Herren, wir stimmen dem Antragder Bundesregierung zu, wenn auch nicht ohne großeSorgen und nicht ohne Bedenken. Wir werden zustim-men, weil die Anwesenheit einer internationalen Sicher-heitspräsenz die Voraussetzung für die Rückkehr derVertriebenen ist. Diese wiederum ist eine Voraussetzung– keineswegs die einzige – für einen wirklichen Frieden.Voraussetzung für das Funktionieren der Schutztruppesind der NATO-Kern und die NATO-Kommandostruk-tur, weil nur sie das Vertrauen der Vertriebenen begrün-den können.Wir glauben, daß diese Voraussetzung hinreichendsicher ist; ganz ist sie es offensichtlich nicht. Wir hoffensehr, daß eine Regelung mit Rußland gefunden wirdund daß sich die Meldung, die mir der Kollege PaulBreuer gerade überreicht hat, nicht bestätigt.Ich habe hier eine Agenturmeldung von „AFP“ von11.11 Uhr vorliegen, in der es heißt: Nach Angaben derunabhängigen jugoslawischen Nachrichtenagentur „Be-ta“ sind am Freitag die ersten russischen Einheiten derkünftigen internationalen Kosovo-Friedenstruppe in Ju-goslawien einmarschiert.Laut „Beta“ überschritt ein Kontingent, von Bosnienkommend, die Grenze; den genauen Ort nannte dieAgentur nicht. Die Moskauer Verhandlungen zwischenden USA und Rußland über die Modalitäten der russi-schen KFOR-Beteiligung wurden unterdessen auf unbe-stimmte Zeit unterbrochen. Dies meldete die russischeNachrichtenagentur „Interfax“ unter Berufung auf denrussischen Delegationsleiter General Leonid Iwaschow.Iwaschow hatte zuvor angekündigt, Rußland werdemöglicherweise einen eigenen Sektor im Kosovo ohneAbstimmung mit den USA errichten.Die Sorgen, die wir in den vergangenen Tagen geäu-ßert haben, scheinen sich als nicht unbegründet zu er-weisen. Ich hoffe zu Gott, daß diese Meldungen im Kernnicht zutreffen; denn sonst war vieles von dem, was Sie,Herr Minister, gerade gesagt haben, vielleicht übereilt.Wir werden zustimmen, weil sich Deutschland natür-lich an der internationalen Schutztruppe beteiligen muß.Wir glauben, daß der von der Bundesregierung bean-tragte Umfang angemessen ist. Die Zustimmung – daswill ich sagen – wird uns durch den Umstand sehr er-leichtert, daß diese Aktion nun unter dem Dach der Ver-Bundesminister Joseph Fischer
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einten Nationen stattfindet und damit eine Wunde ge-heilt wird, die uns alle beschwert hat.Im Vordergrund unserer Sorgen steht die um das Le-ben der Soldaten. Sicher, der Abzug der serbischenStreitkräfte scheint hinreichend kontrollierbar, die Vor-kehrungen, die die NATO getroffen hat, scheinen um-sichtig zu sein. Aber serbische Freischärler sind natür-lich nicht auszuschließen, obwohl eine solche Gefähr-dung kurzfristig – ich betone: kurzfristig – eher unwahr-scheinlich ist. Von der ansässigen serbischen Bevölke-rung wird ja bestimmt kaum jemand im Kosovo bleiben.Von den Waffen der UCK geht, wiederum kurzfristiggesehen, dann eine Gefahr aus, wenn von serbischenWaffen eine Gefahr ausgeht, wenn es also zu Zusam-menstößen kommt und die NATO-Soldaten dazwi-schengehen müssen. Mittelfristig besteht eine andereForm der Gefährdung, weil die NATO-Vorstellungenvon der endgültigen politischen Lösung im Kosovo vondenen der UCK abweichen. Ihre Entwaffnung ist alsounbedingt notwendig; aber – machen wir uns nichts vor– sie wird ganz ungewöhnlich schwierig sein. Die be-rechtigte Sorge der NATO wegen der Waffen der UCKwirft übrigens ein bezeichnendes Licht auf unser Ver-hältnis zu ihr und zu ihren Landsleuten, die die UCK be-schützen will und derentwegen wir in den Krieg gezo-gen sind.Leider kann es nicht zweifelhaft sein – wir alle sagenes –: Dieser Einsatz der Bundeswehr ist ohne jedenZweifel nicht nur der gefährlichste von den bisher be-schlossenen, sondern er ist auch absolut gesehen gefähr-lich. Gefährlich heißt, daß wir mit Opfern aus den eige-nen Reihen rechnen müssen. Für meine Fraktion möchteich den Soldaten sagen: Unsere Gedanken begleiten Sie.Doch wir können mehr tun: Wir können alle Vorkeh-rungen treffen, damit es keine Opfer gibt. Vor allenDingen müssen wir für politische Rahmenbedingungensorgen, die eine Gefährdung so gering wie möglich ma-chen. Mit anderen Worten, wir müssen dafür sorgen, daßim Kosovo und in der ganzen Region wirklich Friedeneinkehrt. Wenn jetzt so oft von Friedensplänen die Redegewesen ist, dann habe ich das nicht verstanden. Auchdas, was jetzt erzielt wurde, ist kein Frieden; vielmehrist es die Chance für den Beginn eines langwierigen undungewöhnlich schwierigen Friedensprozesses.Dieser wird ganz entscheidend von unseren Vorstel-lungen von der endgültigen Ordnung in der Region ge-prägt sein. Es ist ohne jeden Zweifel richtig, wenn wiralle sagen: Frieden kann nur sein, wenn allenthalben,vorab aber bei dem größten Volk, dem serbischen, einanderer, das heißt ein demokratischer Geist einkehrt, derdas Gegenteil dieses ungezügelten und in gefährlichenMythen wurzelnden Nationalismus ist.Ein demokratischer Geist ist das Gegenteil von demGefühl, das ganz offensichtlich im serbischen Volk vor-herrscht: immer das Opfer zu sein. Es handelt sich umein Gefühl, das ganz gewiß auch jetzt wieder durch dieNATO-Aktion verstärkt worden ist. Deswegen wird esdarauf ankommen, der – ich bin ganz sicher – überwäl-tigenden Mehrheit des serbischen Volkes das Gefühl zugeben, daß die Friedensordnung, die wir anbieten, einefaire Ordnung ist, die auch den Serben die Chance gibt,die heute weniger denn je gelöste nationale Frage zu be-antworten.Nur wenn das geschieht, werden sie ihre Augen oder– besser noch – ihre Herzen für die Verbrechen öffnenkönnen, die von vielen ihrer Landsleute begangen wor-den sind. Nur wenn das geschieht, werden sie sich vonihrer Verstocktheit befreien und der Propaganda vonMilosevic widerstehen können, die jetzt gefundene Re-gelung als einen Sieg zu verkaufen. Nur wenn das ge-schieht, werden sie für die schreckliche Wahrheit freiwerden können, daß wegen der verbrecherischen Politikvon Milosevic Serbien alle vier Etappen des 1990 be-gonnenen Krieges verloren hat, zuletzt eben auch dieSchlacht um den Kosovo.Sie haben sie nicht zuletzt deswegen verloren, weilnach aller Wahrscheinlichkeit mehr oder minder alleSerben den Kosovo verlassen werden. Der Verteidi-gungsminister hat uns im Ausschuß gesagt, daß 100 000von etwa 200 000 dort lebenden Serben schon vor Tagenden Kosovo verlassen haben. Inzwischen werden esmehr sein, und mit dem Einzug der NATO und derRückkehr der Flüchtlinge wird kaum einer zurückblei-ben. Natürlich, die NATO wird auch ihnen Schutz ge-währen wollen. Doch die Furcht vor Rache wird sicher-lich alle flüchten lassen, und die Geflüchteten werdenkaum zurückkehren – höchstens dorthin, wo eine gewis-se serbische Sicherheitspräsenz vorgesehen ist. Das kannja nicht in großer Zahl der Fall sein. Sie würden mehr-heitlich doch nur zurückkommen, wenn sich die serbi-sche Herrschaft generell wieder durchsetzen würde. Dasaber werden die albanischen Kosovaren mit allen Mit-teln verhindern wollen – und mit ihnen die NATO.Die Beschwörung, der Kosovo werde Teil der Bun-desrepublik Jugoslawien bleiben, ist, so fürchte ich,nicht mehr als ein durchsichtiger Firnis. Denn was nutztdiese Souveränität, wenn sie jetzt und in absehbarer Zu-kunft mit keinerlei realer Herrschaftsausübung verbun-den ist? Ist nicht ein multi-ethnischer Kosovo eine schö-ne Wunschvorstellung, und nähert sich nicht die Souve-ränität der Bundesrepublik Jugoslawien für den Kosovoeiner Fiktion?Natürlich kann man sagen, die Serben hätten sich dasalles selber zuzuschreiben. Aber ist das eine angemesse-ne Sichtweise? Ist das vor allen Dingen eine für unsDeutsche angemessene Sichtweise? Erinnern wir unsnicht, welche fatalen, ja wirklich schicksalhaften FolgenVersailles für die politische Stabilität und für die Demo-kratie in Deutschland hatte? Erinnern wir uns nicht, wieganz anders die Entwicklung in Deutschland nach 1945ausgesehen hatte, nachdem dank der Weisheit einigerEuropäer und dank der Weitsicht und des Drucks derVereinigten Staaten jedenfalls dem freien Teil Deutsch-lands die unerhoffte Chance gegeben wurde, sich wiedersehr schnell in den Kreis der demokratischen Völkereinzugliedern?Bitte entgegnen Sie mir jetzt nicht: Wir haben diesePerspektive im Stabilitätspakt für Serbien vorgesehen.– Gewiß, wir unterstützen ihn mit allem Nachdruck.Aber wir wissen sehr genau, daß die Akzeptanz derKarl Lamers
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Friedensordnung, die wir anbieten, wiederum die ent-scheidende Voraussetzung für die Wirksamkeit vonwirtschaftlicher Hilfe ist. Wirtschaftliche Hilfe ihrerseitsist natürlich wiederum eine wesentliche politische Vor-aussetzung für eine stabile demokratische Entwicklung.Wie soll diese Entwicklung möglich sein, wenn jetzt inSerbien zu den 250 000 serbischen Flüchtlingen aus derKrajina weitere 200 000 Flüchtlinge aus dem Kosovohinzukommen? Wie soll da eine positive wirtschaftliche,soziale und politische Entwicklung stattfinden?
Meine Damen und Herren, der außenpolitische Bera-ter des Bundeskanzlers hat gestern in einem Interviewmit dem „General-Anzeiger“ gesagt, daß der Westeneine Teilung des Kosovo ablehnt. – Das hat er richti-gerweise festgestellt. Er hat hinzugefügt:Wenn Sie teilen, plädieren Sie für ein nicht lebens-fähiges Gebilde, das am Tropf Europas hängt.Das wird es aber so oder so. An welchem Tropf soll derKosovo sonst hängen? Etwa am Tropf Serbiens, obwohlSerbien dort keinerlei Herrschaft mehr ausübt?Die Bemerkung des außenpolitischen Beraters offen-bart ungewollt, so fürchte ich, das Fehlen einer Vorstel-lung von einer zukünftigen Ordnung nicht nur im Koso-vo, sondern auch auf dem ganzen Balkan. Wir werdennicht aufhören – ich habe das hier schon vor einiger Zeitgesagt –, auf eine solche realistische Vorstellung voneiner endgültigen Ordnung im Kosovo und auf demBalkan zu drängen. Denn sie ist die entscheidende Vor-aussetzung für das Gelingen des Friedensprozesses, derjetzt, wie ich schon sagte, gerade erst beginnen kann.Unbeschadet der schweren Fehler, die in diesem Kon-flikt auch von seiten der NATO gemacht worden sind,sind wir unverändert der Meinung, daß wir handelnmußten. Ich sage das auch angesichts der außerordent-lich hohen Kosten und des hohen Preises, den wir alledafür haben zahlen müssen. Aber nur die endgültige Bi-lanz wird Auskunft geben über das Plus und Minus,auch über das moralische. Sie wird auch den Maßstabdafür bilden, ob unsere heutige Entscheidung, jungeDeutsche, mit ihnen aber auch Franzosen, Briten, Nie-derländer, Amerikaner und Russen einem hohen Risikoauszusetzen, richtig gewesen sein wird.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Peter Struck.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Wir alle haben mit großer Erleichte-rung und Freude die Entscheidungen in New York undin Kumanovo aufgenommen. Endlich sind die Bedin-gungen für den Frieden gegeben. Wir haben dieseGrundlage einer politischen Lösung des Kosovo-Konfliktes in den letzten Tagen sehr herbeigewünscht.Um auf die Meldungen einzugehen, die Sie, HerrKollege Lamers, gerade zitiert haben: Nach meiner In-formation handelt es sich um ein Vorauskommando.Dies ist mit den KFOR-Truppen abgestimmt wordenund erfolgt in Zusammenarbeit mit und unter Zustim-mung der NATO.Dies war eine Woche der gemischten Gefühle: zwi-schen Jubel und Schreck, zwischen zermürbendemWarten und Erleichterung. Von dem Kölner Gipfel undder Freude wegen der frohen Botschaft des finnischenPräsidenten Ahtisaari bis zur gestrigen Resolution desWeltsicherheitsrates war ein gewaltiger diplomatischerKraftakt nötig. Er hat endlich die Chance zum Friedengebracht. Und die Weltgemeinschaft hat Milosevic inseine Schranken verwiesen.
Natürlich ist das Grund zum Aufatmen, zur Freudeund zur Erleichterung. Deshalb ist allen zu danken, diean dieser Anstrengung beteiligt waren, insbesonderedem finnischen Präsidenten, Ahtisaari, dem Sonderbe-auftragten des russischen Präsidenten, Viktor Tscherno-myrdin, und dem stellvertretenden amerikanischen Au-ßenminister Strobe Talbott.
Unser Dank gilt aber auch der Bundesregierung, die ihreEU-Ratspräsidentschaft erfolgreich zur Vorbereitungdieser politischen Lösung genutzt hat.
Natürlich danken wir der Bundeswehr, allen unserenSoldaten, die mit ihrem schwierigen Einsatz zum Auf-geben des Diktators beigetragen haben. Ich habe ge-meinsam mit einigen Kollegen meiner Fraktion vor zweiWochen in Mazedonien und Albanien die hervorragendeArbeit der Bundeswehr auch im humanitären Bereichkennen und schätzen gelernt. Ich spreche den Soldatenauch hier meinen Dank dafür aus.
Die gestrige Sicherheitsratsresolution bietet eine trag-fähige Grundlage für die Schaffung eines befriedetenKosovo. Sie ist kein verwässerter Kompromiß. Nein, siebeinhaltet als prägenden Kern die von der NATO aufge-stellten Prinzipien für einen Friedensschluß. DiesePrinzipien sind:Erstens. Beendigung der serbischen Gewalt im Koso-vo.Zweitens. Sofortiger und nachprüfbarer Rückzug allerjugoslawischen militärischen, paramilitärischen und poli-zeilichen Kräfte.Drittens. Stationierung einer internationalen Sicher-heitstruppe mit substantieller NATO-Beteiligung im Ko-sovo.Karl Lamers
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3568 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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Viertens. Freie und sichere Rückkehr der kosovo-albanischen Vertriebenen in ihre Dörfer und Häuser.Fünftens. Abschluß eines politischen Rahmenab-kommens, das Autonomie und Selbstregierung der Ko-sovo-Albaner im Rahmen Jugoslawiens gewährleistet.Ich habe diese Prinzipien noch einmal ausdrücklichgenannt, um deutlich zu machen, daß die NATO ihrengesteckten Zielen treu geblieben ist. Es war von Anfangan Kern aller Bemühungen, die Vertreibungen und Mas-saker der serbischen Soldateska zu unterbinden. DieNATO wollte den Kosovaren ein Leben in Freiheit undSicherheit ermöglichen. Dieses Ziel ist in greifbare Nähegerückt.
Ohne die Festigkeit und Einheit der NATO, ohne ihrenleider notwendigen militärischen Druck hätte es diesenErfolg nicht gegeben.Wir sollten aber auch Präsident Jelzin und der russi-schen Regierung unsere Anerkennung aussprechen.
Sie haben unter schwierigen innenpolitischen Bedingun-gen wesentlich zu dem politischen Erfolg der Vermitt-lungsbemühungen beigetragen.Einen bedeutenden Anteil daran hat natürlich auchdie Bundesregierung. Nicht im Gegensatz zu denNATO-Militäraktionen, sondern auf deren Grundlageentfalteten ihre diplomatischen Initiativen Wirkung. Ichnenne noch einmal die wichtigsten Initiativen:Erstens ist das der Kosovo-Friedensplan der Bundes-regierung von Anfang April. Er wurde zum Kern despolitischen Handelns von EU und NATO und findet sichin ihren Dokumenten wieder. Er wurde zur Grundlageder Petersberg-Prinzipien der G 8, und er blieb Grundla-ge des von Milosevic unterzeichneten Friedensplans.Zweitens nenne ich die wichtige Einbeziehung Ruß-lands in die Vermittlung. Wir haben in diesem Hauseschon oft darüber diskutiert. Um sie hat sich die Bundes-regierung neben anderen erfolgreich bemüht.Drittens gehört dazu die Reise des Bundeskanzlersnach China, bei der er nach der versehentlichen Bom-bardierung der chinesischen Botschaft politischen Scha-den begrenzen konnte.Viertens ist das der Stabilitätspakt für Südosteuropa,der die Regionen mittel- und langfristig befrieden undan Europa heranführen soll.Alles zusammen hat diesen Erfolg operativer deut-scher Außenpolitik ausgemacht, ein Erfolg bei einerHerausforderung, deren Bewältigung der Bundesrepu-blik Deutschland erstmals abverlangt wurde.
Vorgestern wurde von einem Oppositionsredner derJubel von Köln als zu laut und zu früh kritisiert.
Wenn Sie sich am letzten Donnerstag noch nicht überden von Ahtisaari ausgehandelten Friedensplan freuenwollten, dann freuen Sie sich doch wenigstens heuteendlich mit uns und der ganzen westlichen Staatenge-meinschaft!
Sagen Sie nicht nur, Sie hätten das Vorgehen der Bun-desregierung ja mitgetragen. Geben Sie sich einen Ruckund sagen Sie endlich: „Gute Arbeit, Herr Bundeskanz-ler!“, wie der finnische Präsident die Arbeit von GerhardSchröder gewürdigt hat.
Sagen Sie doch einfach: „Gute Arbeit, Herr Außenmi-nister“, wie es die amerikanische AußenministerinAlbright am Ende der Verhandlungen zu Joschka Fi-scher gesagt hat.
Und sagen Sie: „Alle Achtung, Herr Verteidigungsmi-nister, für Ihre Umsicht und Ihr Engagement in denletzten Monaten!“, wie Rudolf Scharping internationalgelobt worden ist.
Wenn Sie sich – es scheint ja so zu sein – dazu nichthergeben können, dann sagen Sie doch, was Sie wirklichumtreibt. Sie hatten erwartet, daß Rotgrün an dieserAufgabe zerbricht. Aber die Koalition hat gestanden undsich an diesen schwierigen Problemen bewährt. Wir sindstolz darauf.
So wichtig der gestrige Tag und die letzte Nacht inNew York für den Friedensprozeß waren: Es ist nur derAnfang auf einem langen, dornenreichen Weg zu wirkli-chem Frieden. Wir dürfen den Menschen keine falschenHoffnungen machen. Der Abzug der serbischen Truppenaus dem Kosovo bedeutet nicht, daß die Flüchtlinge absofort zurückkehren können. Ihre Dörfer sind zerstört,die Straßen teilweise unpassierbar. Das Schlimmste aber:Das Kosovo ist möglicherweise ein einziges Minenfeld.Voreilige Rückkehr kann tödlich sein. Die internationa-len Truppen müssen diese Gefahr erst beseitigen.Dies muß den Menschen klargemacht werden. Wirwerden noch über Monate mit den Bildern aus denFlüchtlingslagern leben müssen. Nicht nur das: Wirwerden einen Teil der Lager erst einmal winterfest ma-chen müssen, denn viele der Flüchtlinge werden ver-mutlich erst im nächsten Frühjahr in ihre Heimat zu-rückkehren können. Das bedeutet auch, daß wir die inder Bundesrepublik aufgenommenen Kosovo-Flücht-linge nicht von heute auf morgen zurückschicken kön-nen. Die Vorstellungen des Berliner InnensenatorsWerthebach und des bayrischen Innenministers Beck-Dr. Peter Struck
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stein sind abenteuerlich, wenn sie den Kosovaren ab so-fort mit Ausweisung drohen.
Wir dürfen uns auch keinen Illusionen über die Ge-fahren und Probleme für die internationalen Kräfte imKosovo – natürlich für alle Soldaten, nicht nur für diedeutschen – hingeben. Aber für die Bundeswehr ist esdie schwierigste und gefährlichste Aufgabe in ihrer Ge-schichte. Heckenschützen, Marodeure, verselbständigteparamilitärische Kräfte der Serben und unkontrollierteUCK-Trupps sind zu befürchten.Mich hat berührt, daß in einem „ARD“-Bericht amMittwoch abend ein junger Bundeswehrsoldat, der vorseinem Einsatz stand, gesagt hat: Ich habe Angst. Des-wegen gilt für uns: Die beste Ausrüstung für unsere Sol-daten ist gerade gut genug.
Je besser und robuster die internationale Kosovo-Truppeausgestattet ist, um so mehr kann ihre Sicherheit ge-währleistet werden. Gerade auch deshalb ist es richtig,daß die NATO Kommando und Kern dieser Friedens-truppe stellt.
– Nun machen Sie doch nicht Ihre kleinkarierten Zwi-schenrufe über den Haushalt. Sie können sich offenbarnicht freimachen von der Situation, daß wir einen gro-ßen außenpolitischen Erfolg erzielt haben und Sie unsden nicht gönnen.
Unsere Soldaten sollen angesichts des schwierigenAuftrages wissen: Der Bundestag steht geschlossenhinter ihnen und ihren Familien. Wir wissen um dieschwierige Aufgabe. Wir wissen um die Gefährdungen,die sie erwarten. Wir schicken sie nicht leichtfertig; wirteilen ihre Sorgen und Ängste.
Neben den gravierenden militärischen Herausforde-rungen sieht sich die internationale Gemeinschaft gi-gantischen Aufbau- und Reparaturarbeiten gegen-über. Hunderte von Dörfern sind von serbischen Kräftensystematisch zerstört worden. Es gibt größtenteils keineWasser- und Stromversorgung. Die landwirtschaftlichenExistenzgrundlagen sind zusammengebrochen. Handel,Handwerk und Gewerbe stehen vor dem Nichts. DasSchul- und Gesundheitswesen muß neu aufgebaut wer-den. Es wird ein Wettlauf mit der Zeit, die Bewohnbar-keit der Häuser und Dörfer vor dem kommenden Wintermöglich zu machen.Dringend geboten ist daher die sofortige Bereitstel-lung von Baumaterialien und Versorgungsgütern, mitdenen die Rückkehrer ihre Häuser instand setzen kön-nen. Dringend geboten ist weiterhin, daß die Bürger inder Bundesrepublik Deutschland ihre Spendenbereit-schaft durch aktive Spenden dokumentieren, um auchden NGOs, die viel helfen, jetzt in Albanien und Maze-donien und zukünftig im Kosovo die erforderlichenMittel zur Verfügung zu stellen.
Die internationale Übergangsverwaltung wird mitenormen politischen Anforderungen konfrontiert sein.Der ungeklärte politische Endstatus des Kosovo wirdvon Serben und Kosovaren heftig umkämpft sein. Eswird zu einem schwierigen Balanceakt werden, dieSelbständigkeit der Kosovaren im jugoslawischenStaatsgebilde sicherzustellen. Es steht zu befürchten,daß der machtgierige Diktator Milosevic diesen Prozeßzu unterlaufen sucht; denn Wortbrüche, Zynismus undMachtgier wird dieser Mann nicht von heute auf morgenaus seinem Repertoire gestrichen haben. Vor diesemHintergrund bedarf es einer großen politischen Klarheitund Einigkeit der internationalen Gemeinschaft, beson-ders aber der Europäischen Union.Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Balkan Aus-gangspunkt für europäische Kriege und die Teilung desKontinents. Am Ende des 20. Jahrhunderts besteht diegroße Chance, daß der Balkan den europäischen Friedenund die Einheit des Kontinents vollenden kann. Wir, dieEuropäische Union genauso wie die NATO, müssen die-se historische Chance ergreifen.
Der Stabilitätspakt, über den der Außenminister ge-sprochen hat, ist dafür der richtige Ansatz. Er ist daraufgerichtet, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in denStaaten dieser Region zu fördern. Die Länder sollen inden euroatlantischen Strukturen verankert werden. Ihrwirtschaftlicher Ausbau muß gefördert werden. Ich be-grüße es für meine Fraktion deshalb ausdrücklich, HerrAußenminister, daß den Ländern dieser Region auf demKölner EU-Gipfel die Perspektive der EU-Mitglied-schaft eröffnet worden ist. Allein diese Perspektivewirkt positiv auf die Veränderungsprozesse in diesenLändern. Das haben wir in den mittelosteuropäischenStaaten gesehen.Ein wichtiges Element sind die umfangreichenHilfsmaßnahmen für den Wiederaufbau der Region.Hier bedarf es einer abgestimmten internationalen Un-terstützungsstrategie. Dabei sollte die EU die Koordinie-rung übernehmen. Eine Geberkonferenz muß möglichstschnell durchgeführt werden. Der Kölner G-8-Gipfel inder nächsten Woche, Herr Bundeskanzler, kann dazuschon wichtige Weichen stellen.Der Stabilitätspakt kann nur dann erfolgreich sein,wenn alle Länder Südosteuropas umfaßt werden. Dazugehört auch Serbien. Darauf hat der Außenminister hin-gewiesen, darauf hat Herr Kollege Lamers hingewiesen;wir sind uns in diesem Punkte einig. Allerdings – dasmöchte ich für meine Fraktion deutlich sagen – gilt dasnur für ein Serbien ohne Milosevic, das sich auf einendemokratischen Weg begibt.
Dr. Peter Struck
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Meine Damen und Herren, die letzten Wochen warenfür alle, die Entscheidungen, ob in Regierung oder Par-lament, zu tragen hatten, nicht leicht. Nicht nur die phy-sische, sondern auch die psychische Belastung ging bisan die Grenze des Zumutbaren. An dieser Stelle möchteich Ihnen, Herr Bundeskanzler, Ihnen, Herr Außenmi-nister, und Ihnen, Herr Verteidigungsminister, für IhreArbeit ausdrücklich danken.
Ich bedanke mich auch bei der Koalitionsfraktion derGrünen, die, wie man nachvollziehen konnte, eineschwierige Debatte geführt haben. Ich bedanke michauch bei meiner eigenen Fraktion für die immer sehr fai-re inhaltliche Debatte und bei vielen, die die Entschei-dungen, die wir zu treffen hatten, mitgetragen haben, dieaber auch ihre Fragen gestellt haben. Mein ausdrückli-cher Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen aus mei-ner Fraktion.
– Ich verstehe nicht, warum Sie darüber lachen können.Offenbar scheint Ihnen bzw. Ihren Fraktionen nicht klarzu sein, daß man schwierige inhaltliche Debatten führenmuß und kann, ohne sich trotz gegenseitiger Stand-punkte zu verletzen, und daß man stolz darauf sein kann,solche Debatten zu führen. Oder sind Sie etwa einschweigender Haufen? Das kann ja wohl nicht wahrsein.
Lassen Sie mich die Erfahrungen und die Konse-quenzen der letzten Wochen zusammenfassen:Erstens. Die militärische Intervention – das sind dieErfahrungen und die Konsequenzen der letzten Wochen– war berechtigt und unausweichlich. Ein Europa, dasdem Frieden und den Menschenrechten verpflichtet ist,darf niemals ethnischen Säuberungen und Völkermordzustimmen bzw. zuschauen. Die 200 000 Toten desBosnien-Krieges haben das wahre Gesicht des DiktatorsMilosevic gezeigt. Dennoch war die westliche Gemein-schaft trotz der Vertreibungen im Kosovo seit März1998 bis zum letzten um diplomatische Lösungen be-müht. Milosevic hat diese ausgeschlagen oder Abma-chungen gebrochen.Zweitens. Die Einigkeit der NATO war der ent-scheidende Faktor für das letztendliche Nachgeben desDiktators. Erneut hat sich bestätigt, daß gewalttätigeDiktatoren nicht durch Überzeugung, sondern nur durchZwang zu friedlichem Verhalten bewegt werden können.Drittens. Wir brauchen ein außenpolitisch handlungs-fähiges Europa, das in den internationalen BeziehungenGewicht hat und gleichberechtigter Partner der USA imBündnis sein kann. Krisen und Konflikte in Europasollten von der EU in eigener Regie und in eigener Ver-antwortung gelöst werden können. Deshalb ist die Beru-fung Solanas zum Hohen Vertreter der GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Unionein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Ebenso dienen die sicherheits- und verteidigungspoliti-schen Beschlüsse des Kölner Gipfels diesem Ziel.Viertens. Die Sicherheit in Europa basiert heute undin Zukunft auf dem euroatlantischen Bündnis. Trotz al-ler Eigenanstrengungen der EU ist das Engagement derUSA in Europa für die Stabilität unseres Kontinentesunersetzlich. Wir müssen konstatieren, daß die jüngstenKrisen auf dem Balkan ohne den amerikanischen Ein-satz nicht zu einem friedlichen Ende hätten gebrachtwerden können. Dafür gebührt unserem amerikanischenPartner und an dessen Spitze dem amerikanischen Präsi-denten, Bill Clinton, Dank und Anerkennung.
Fünftens. Eine Stärkung der Vereinten Nationen istdringend geboten. Um ihre politische Handlungsfähig-keit zu verbessern, bedarf es ihrer umfassenden Reform,insbesondere der des Sicherheitsrates. Nicht nur die Zu-sammensetzung des Kreises seiner ständigen Mitglieder,sondern auch deren Vetorecht bedürfen einer dringendenÜberprüfung.
Sechstens. Verbrechen gegen die Menschlichkeitdürfen keine inneren Angelegenheiten eines Staatesmehr sein. Sein Souveränitätsanspruch ist dem Schutzund der Würde der Menschen unterzuordnen.
Bei seinem Deutschlandbesuch im April hat UN-Generalsekretär Kofi Annan gesagt: Wenn die Bewoh-ner des Kosovo in Frieden und Sicherheit und untervoller Achtung der bürgerlichen Rechte aller leben kön-nen, wird es ein Sieg für Europa, für die Vereinten Na-tionen und für die ganze Menschheit sein. – DiesemSieg sind wir seit gestern einen wichtigen Schritt nähergekommen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Haussmann.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wirteilen die Freude, daß der Frieden näher gerückt ist.Aber wir wissen, daß es sich bisher um notwendige, aberkeinesfalls um hinreichende Bedingungen für einen dau-erhaften Frieden handelt. Auch als Oppositionsfraktionsind wir gerne bereit, der Bundesregierung zu diesemDr. Peter Struck
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Ergebnis zu gratulieren und allen Verhandlungspartnernfür ihren Einsatz Respekt und Dank auszusprechen.
Wir vergessen aber an einem solchen Tage nicht, werzu diesem Ergebnis beigetragen hat. Dabei komme ichzu einer etwas anderen Wertung als Sie, verehrter HerrKollege Struck. Es ist immer interessant, daß die Verei-nigten Staaten von Amerika an letzter Stelle genanntwerden. Vielleicht ist das unbeabsichtigt. Ich glaubeschon, daß Herr Clinton und Herr Talbott durch ihre Fe-stigkeit und ihre Klarheit einen entscheidenden Beitraggeleistet haben.
Wir sind nicht der Meinung, daß es dieses Verhältnisfair widerspiegelt, wenn die Amerikaner auf den militä-rischen Teil und die Europäer auf den diplomatischenTeil verwiesen werden. Ich glaube, beide Komponentensind von enormer Wichtigkeit.Interessant war auch die Bemerkung zu Rußland. Ichentsinne mich der Diskussionen, in denen das besondersgute Verhältnis zwischen dem früheren BundeskanzlerKohl und Herrn Jelzin – man muß schon sagen – ver-höhnt wurde,
und daran, daß Herr Primakow schlecht behandelt wurdeund das, was Herr Kinkel mit Herrn Primakow verabre-det hat, unterschätzt wurde. Heute sieht man, wie wich-tig persönliche Beziehungen mit führenden Politikern inRußland sind. Wenn das eine Lehre war, dann hat es vielgebracht.
Wir sehen auch nach diesem Ergebnis, daß nicht ein-seitige Feuerpausen ohne Gegenleistung, sondern nurdie wirkliche Aufrechterhaltung militärischen Drucksbei gleichzeitiger politischer Initiative, die wir von An-fang an gefordert haben, letztlich zu diesem Erfolg bei-getragen hat. Wir sind selbstbewußt genug zu sagen:Ohne die dauerhafte konsequente Rückendeckung durchdie Opposition wäre die Bundesregierung auf Dauerkaum in der Lage gewesen, den notwendigen Druck auf-rechtzuerhalten. Insofern handelt es sich hier um einegemeinsame Leistung des deutschen Parlaments.
Die Sicherheitsratsresolution muß nun unverzüglichumgesetzt werden. Weitere jugoslawische Verzöge-rungstaktiken dürfen und können nicht hingenommenwerden. Zu oft hat sich Milosevic als skrupelloser undgerissener Machtpolitiker erwiesen. Nur durch denschnellen nachvollziehbaren Rückzug sämtlicher serbi-scher Sicherheits- und Polizeikräfte kann er beweisen,daß er wirklichen Frieden will.Niemanden wird es verwundern, wenn die Vertriebe-nen nach den vielen Wortbrüchen der Vergangenheitderzeit kein Vertrauen mehr in die Zusagen aus Belgradhaben. Nach Jahren der Unterdrückung, Vertreibung undMord sitzen Angst, Trauer und Haß zu tief, als daß mandie zügige Herstellung von Voraussetzungen für einfriedliches Miteinander von Serben und Kosovaren er-warten könnte. Daß der Frieden eben nicht über Nachterreichbar ist, zeigt die bittere Erfahrung aus Bosnien,wo viereinhalb Jahre nach dem Abschluß des Dayton-Abkommens immer noch 30 000 SFOR-Soldaten damitbeschäftigt sind, feindliche Volksgruppen voreinanderzu schützen.Aus der Sicht der F.D.P. ist eines klar: Mit Milosevicwird es weder im Kosovo noch in Serbien Stabilität ge-ben. Kein Kosovare wird bereit sein, sich mit seinemeigenen Schänder an einen Tisch zu setzen, um überWiederaufbauhilfe und zukünftige Autonomie zu ver-handeln. Es ist zu hoffen, daß sich im serbischen Volkimmer mehr die Erkenntnis durchsetzt, daß man die jetzterreichten Ergebnisse bereits im Oktober ohne großeOpfer und ohne Zerstörungen durch die Unterschriftunter den Vertrag vom Rambouillet hätte haben können.
Daraus müßten auch innenpolitisch Konsequenzen ge-zogen werden.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Resolutiondes Sicherheitsrates muß eine neue Friedensordnungfür die gesamte Region einleiten. Der Kosovo-Kriegmuß der letzte Balkankrieg gewesen sein. Angesichtsder Vielzahl weiterer potentieller Konfliktherde in dieserRegion müssen mit dem angestrebten Stabilitätspaktdauerhafte Voraussetzungen für die Verwirklichung derMenschenrechte, für Minderheitenschutz, für Demokra-tie und für regionale Zusammenarbeit geschaffen wer-den.Dem wirtschaftlichen Wiederaufbau und der Ver-wirklichung der Marktwirtschaft muß unser dauerhaftesAugenmerk gelten. Es wird schwer genug sein, Bedin-gungen für privatwirtschaftliche und für mittelständischeInvestitionen zu schaffen. Diese sind der wirklicheSchlüssel; denn ohne privates Engagement und ohnemittelständische Unternehmen wird es auch im Kosovoauf Dauer keine wirtschaftliche Weiterentwicklung ge-ben.Allen Staaten der Region muß die Einbindung in dieeuroatlantischen Strukturen in Aussicht gestellt wer-den. Der Europäischen Union kommt dabei eine ent-scheidende Bedeutung zu. Wir fordern, daß mit Albani-en, Mazedonien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina so-fort Verhandlungen über Assoziationsabkommen mit derEuropäischen Union aufgenommen werden. Das wäreein wichtiges Aufbruchssignal auch für dringend not-wendige internationale Investitionen.
Es wäre wichtig, daß – wie damals vom Volkswagen-werk in Sarajevo – privatwirtschaftliche Entscheidungengetroffen werden, die auch kleinen und mittleren Unter-Dr. Helmut Haussmann
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nehmen zeigen, daß es sich auf Dauer lohnt, sich dort zuengagieren.
Restjugoslawien muß der Weg nach Europa offen-bleiben. Nach den Aufnahmebedingungen des Kopen-hagener Gipfels ist aber klar, daß dafür demokratischeErneuerung sowie das Bekenntnis zu Menschenrechtenund zum Völkerrecht Voraussetzungen sind. Diese kon-krete Perspektive der europäischen Integration könntedurchaus Impulse freisetzen, die sich auf Dauer stärkerals jahrhundertealte Animositäten erweisen. Es mußendlich gelingen, den Teufelskreis aus Haß und Gewaltauf dem Balkan zu durchbrechen. Dazu müssen wir –Europäer und Deutsche – eine umfassende Anschubhilfesowohl für den Wiederaufbau dieser Region als auch fürdie Schaffung infrastruktureller und wirtschaftlicherVoraussetzungen zur Annäherung an die EuropäischeUnion leisten. Gerade wir Deutschen, die dem Marshall-plan viel verdanken, sollten dabei eine ganz besondereVerantwortung übernehmen.
Es muß jedoch klar sein, daß unsere Hilfe den Betroffe-nen unmittelbar und direkt zugute kommen muß und daßsie eben nicht zur Stärkung des Milosevic-Regimesmißbraucht werden kann.Zum umfassenden Konzept der Stabilisierung Süd-osteuropas gehört unverändert die zügige Erweiterungder Europäischen Union um die mittel- und osteuro-päischen Beitrittskandidaten. Gerade vor dem Hinter-grund der aktuellen Krise auf dem Balkan sollte diedeutsche Präsidentschaft den Mut aufbringen, nunmehrein konkretes Zieldatum für die Beitritte der in ihren Re-formen am weitesten vorangeschrittenen Länder wiePolen, Ungarn und Slowenien zu nennen, um damit auchallen anderen Kandidaten eine klare zeitliche Perspekti-ve zu geben.
Für eine dauerhafte Friedensordnung ist die zentraleRolle Rußlands von größter Bedeutung. Die Liberalenhaben von Anfang an darauf gedrungen, Rußland voll indie Verhandlungs- und Implementierungsphase einzu-binden. Das Ergebnis gibt uns recht: Die Krise auf demKosovo hat auf dramatische Weise veranschaulicht, daßeine verläßliche Sicherheitspartnerschaft mit Rußlandheute dringlicher denn je ist. Das erfolgreiche Engage-ment von Tschernomyrdin und die Sicherheitsratsreso-lution zeigen, daß sich Rußland dieser großen Verant-wortung bewußt ist und auch in Zukunft bereit ist, einekonstruktive Rolle in Gesamteuropa zu übernehmen. Ichbegrüße daher und möchte ausdrücklich würdigen –auch als Oppositionspolitiker –, daß es der Bundesregie-rung auf dem Europäischen Rat in Köln gelungen ist,sich im Rahmen der ersten gemeinsamen Strategie imBereich von Außen- und Sicherheitspolitik dem Ver-hältnis zu Rußland zu widmen. Das ist ein wichtigerFortschritt, den es auch heute zu würdigen gilt.
Mit der Sicherheitsratsresolution haben die Ver-einten Nationen die Verantwortung für die Durchfüh-rung des Friedensplans übernommen. Der UN-Sicherheitsrat kann nunmehr seine traditionelle Rolle alsHüter des Weltfriedens übernehmen und gestalten. DieVolksrepublik China hat durch ihre Enthaltung gezeigt,daß sie als bevölkerungsreichstes Land der Welt bereitist, einen konstruktiven Beitrag zu leisten.Mit der Resolution werden die Voraussetzungen fürdie Erreichung der eigentlichen Ziele der NATO-Intervention, des Endes von Terror und Vertreibung undder Rückkehr der – hoffentlich aller – Vertriebenen inihre angestammte Heimat, geschaffen. Dies ist dieGrundlage für die längerfristige Gewährleistung eineswirksamen, international garantierten Schutzes vor wei-teren serbischen Repressalien. Ohne einen effizientenSchutz durch die KFOR-Truppen und ohne weitgehendeKompetenzen für eine zukünftige Übergangsverwaltungim Kosovo wird es weder eine Rückkehr der Vertriebe-nen noch eine Autonomie für die Albaner im Kosovogeben können.Meine Fraktion begrüßt, daß Deutschland an dieserverantwortungsvollen Aufgabe für den Frieden in Euro-pa maßgeblich beteiligt ist. Eine Aufstockung des deut-schen Kontingentes ist gerade angesichts des Beitragsder anderen Partner gerechtfertigt.Wir sind mit unseren Gedanken heute bei unserenSoldaten. Wir sind sicher: Wir werden unseren Beitragleisten, daß für ihre Sicherheit das Menschenmöglichegetan wird.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt daher denAntrag der Bundesregierung, sich an einer internationa-len Sicherheitspräsenz im Kosovo aktiv zu beteiligen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Vorsitzende der PDS-Fraktion, Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Im Namen der PDS-Fraktion be-grüße ich ausdrücklich das von Anfang an von uns ge-forderte Ende der Bombardierung Jugoslawiens durchdie NATO
und damit das Ende eines völkerrechtswidrigen An-griffskrieges. Ebenso begrüßen wir die Chance auf einEnde von Vertreibung, Mord und anderen Menschen-rechtsverletzungen im Kosovo.
Daß Milosevic glauben konnte, mit einer systemati-schen Vertreibung durchzukommen, liegt zweifellosauch daran, daß der Westen bisher noch jede Vertrei-Dr. Helmut Haussmann
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bung hingenommen oder zumindest letztlich gebilligthat.
Dabei will ich gar nicht auf die Geschichte nach 1945eingehen, sondern vielmehr darauf hinweisen, daß Grie-chenland gezwungen wurde, die Vertreibung aller Grie-chen aus dem türkisch besetzten Teil Zyperns hinzu-nehmen, daß der Westen geschwiegen hat, als 200 000Serben aus der Krajina vertrieben wurden, und daß derWesten nach wie vor dazu schweigt, daß schon über1 Million Kurdinnen und Kurden aus der Türkei vertrie-ben wurden oder flüchten mußten. Es bleibt deshalb zuhoffen, daß ab jetzt gleiche Maßstäbe – zumindest inEuropa, besser: weltweit – gelten und Vertreibungen ge-nerell nicht mehr hingenommen werden.
Sowohl die Regierung in ihrem Antrag als auch derBundesaußenminister und andere Redner in der heutigenDebatte haben erklärt, die Doppelstrategie aus Kriegund Diplomatie sei erfolgreich gewesen.
Diese These ist gefährlich; denn wenn es sich hierbei umein Erfolgsrezept handelt, dann empfiehlt es sich ja zurWiederholung. Genau das darf nicht sein!
Der Krieg darf nicht als eine Ergänzung der Diplomatieverstanden werden; er muß als Mittel der Politik – gera-de am Ende dieses Jahrhunderts, das so schrecklicheKriege über die Völker gebracht hat – ausgeschlossenwerden. Gerade das jetzt beschlossene Ende des Kriegesund die Chance auf Frieden – mehr ist es ja wohl nochnicht – zeigen, daß Mittel zur Bekämpfung von Men-schenrechtsverletzungen die Respektierung und nichtder Bruch des Völkerrechtes, der Einsatz von Politik undDiplomatie und – je nachdem – auch wirtschaftlicherDruck oder Wirtschaftshilfe sein müssen.Es wird behauptet, der Krieg habe gebracht, was erbringen sollte. Das wirft die Frage auf, was der Kriegbewirken sollte. Wenn ich von dem ausgehe, was Bun-desverteidigungsminister Scharping hier im Bundestagam Morgen nach Beginn des Bombardements erklärte,dann stelle ich fest, daß nicht dies, sondern eher das Ge-genteil erreicht worden ist.
Damals, Herr Bundesverteidigungsminister, haben Siehier gesagt, Ziel des Bombardements sei es, Milosevicdazu zu bringen, unverzüglich das Abkommen vonRambouillet zu unterschreiben. Davon kann überhauptkeine Rede sein. Wenn Sie das, was jetzt militärisch be-schlossen wurde, mit dem vergleichen, was als militäri-sches Ziel im Vertrag von Rambouillet unterschriftsreifvorlag, dann stellen Sie fest, daß es gravierende Unter-schiede gibt. Ging es im Militärteil des Vertrages vonRambouillet um die klare politische Hoheit der NATO,so ist jetzt die politische und juristische Hoheit der UNOfestgeschrieben. Ging es damals darum, daß sich dieNATO-Truppen in ganz Jugoslawien aufhalten sollten,so geht es jetzt nur um den Kosovo.
Ging es damals darum, der NATO zu ermöglichen,jedes gewünschte Gebiet in Jugoslawien für ihre Zweckein Anspruch zu nehmen, so ist jetzt davon keine Redemehr. Ebenso ist jetzt keine Rede mehr davon, daß dieNATO in ganz Jugoslawien Manöver durchführen kann.Ich sage das deshalb: Dadurch, daß dieser völlig ver-fehlte militärische Teil des Rambouillet-Abkommensvorgelegt wurde, haben Sie es, Herr Bundesaußenmini-ster, Milosevic ermöglicht, jetzt seinerseits von einemTeilerfolg zu sprechen, indem er auf diese Unterschiedehinweist. Genau das wollten wir nicht.Als zweites Ziel, Herr Bundesverteidigungsminister,haben Sie damals ausgegeben, durch die Bombardierungeine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhin-dern. Aber Tatsache ist, daß es seit Beginn des Kriegesim Kosovo eine bis dahin vom Ausmaß her unbekanntehumanitäre Katastrophe gibt. Obwohl schon nach zweiBombennächten klar war, daß jugoslawische Armee undPolizei den Krieg zur systematischen Vertreibung derKosovo-Albaner nutzen,
haben Sie nicht aufgehört, dieses falsche Mittel einzu-setzen. Damit haben Sie auch Mitverantwortung dafürübernommen.
Die Zeit davor war schlimm, aber es handelte sicheben noch nicht um eine Katastrophe. Der Bundesau-ßenminister weigert sich ja deshalb auch –
– Sie müssen sich das schon anhören; ich komme nochauf Ihre Einwände zu sprechen, Frau Beer –, zu erklä-ren, weshalb sein Ministerium bis März 1999 gegenüberden deutschen Verwaltungs- und Oberverwaltungsge-richten zur Ermöglichung der Abschiebung der Kosovo-Albaner in das Kosovo verlauten ließ, daß es dort keineethnische Säuberung und keine systematische Vertrei-bung, sondern nur Übergriffe gebe.
Wenn es allerdings bei dem Krieg darum ging, eineneue Rolle und Strategie der NATO, eine Art Interventi-onsrecht zu installieren, dann mag das gelungen sein.Wenn es darum ging, Rußland und China ihre begrenzteRolle im internationalen Geschehen deutlich zu machen,dann ist das meines Erachtens nur begrenzt gelungen.Das gilt auch insbesondere dann, wenn es den USA dar-um gegangen sein sollte, die UNO und ihren Sicher-heitsrat zu schwächen; denn der Krieg konnte zwar ge-gen den Willen Rußlands und unter Verletzung des Völ-kerrechts und des Gewaltmonopols des SicherheitsratesDr. Gregor Gysi
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3574 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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geführt werden, aber der Frieden war nur mit HilfeFinnlands, Rußlands und des Sicherheitsrates der UNauf der Grundlage des Völkerrechts möglich. Dadurchwurde der Eindruck vermittelt – dies ist nicht meineSchuld –, die NATO sei für Krieg und die UNO fürFrieden zuständig. Das trägt wahrscheinlich zur Stär-kung des Ansehens der UNO bei, was ein positives Er-gebnis ist.
Wenn es den USA zusätzlich darum gegangen seinsollte, die europäische Integration zurückzuwerfen, denEuro zu schwächen und die Anleger in den Dollar zulocken, dann ist dies allerdings voll gelungen.
Eine Folge des Krieges – das können Sie überhauptnicht leugnen – wird Hochrüstung sein. Sie wissendoch auch, daß in Rußland die Frage der militärischenRüstung eine völlig andere Rolle spielt als in den letztenneun Jahren – unabhängig davon, wer dort regiert hat.Sie wissen, welche Umrüstungspläne es in der NATOgibt und welche Rüstungspläne andere Staaten inzwi-schen aufgestellt haben. Sie wissen auch, welche Gefah-ren damit verbunden sind. Deshalb sage ich: Der ent-scheidende Kriegsgewinnler während des Krieges undbei der anschließenden Hochrüstung ist die Rüstungsin-dustrie.Aber auch die Gesellschaft im Innern wird sich ver-ändern. Dazu haben gerade Sie, Frau Beer, einen Beitraggeleistet; denn Sie haben im Oktober 1998 Ihre Zustim-mung zur Androhung des Bombardements mit der Be-gründung verweigert, daß diese Androhung völker-rechtswidrig sei, weil es kein UN-Mandat gebe. Sie ha-ben drei Monate später der Bombardierung zugestimmt,obwohl es immer noch kein Sicherheitsratsmandat gab.
– Nein, am Sachverhalt hat sich nichts geändert, aberIhre Stellung hat sich geändert: Sie sind aus der Opposi-tion in das Regierungslager gewechselt. Damit – das giltauch für Sie, Herr Volmer – haben Sie der Politik einenbleibenden Schaden zugefügt.
Das gilt nicht für den Außenminister; er hatte vorherschon ja gesagt.
Sie aber haben es nicht getan und damit der Glaubwür-digkeit aller Politikerinnen und Politiker geschadet.Der Krieg hat viele Menschen verletzt und getötet;durch ihn wurden Krankenhäuser, Wohnungen, Infra-struktur und Wirtschaft zerstört und eine ökologischeKatastrophe heraufbeschworen, zu der Sie ebenfalls ge-schwiegen haben. Jetzt geht es um Wiederaufbau. Überdiesen Punkt können wir uns verständigen. Es ist näm-lich wichtig, daß nun Frieden im Kosovo und in Jugo-slawien herrscht. Ich bitte aber zu bedenken, ob es rich-tig ist, zu sagen: Hilfe im Kosovo ja, aber in Serbienerst, wenn dort demokratische Bedingungen nach unse-ren Vorstellungen herrschen. Ich finde, wir dürfen einenPräsidenten nicht so wichtig nehmen.
Wir dürfen die Bevölkerung nicht schon wieder kollek-tiv bestrafen.
Krankenhäuser, Wohnungen und die Infrastruktur sindzerstört. All das trifft Milosevic nicht. Er hat genügendWasser, Lebensmittel und Energie zum Heizen. Die In-frastruktur für die Bevölkerung muß wieder aufgebautwerden.
Herr Kollege
Gysi, achten Sie bitte auf die Zeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, Frau Präsidentin, ich bin
sofort mit meiner Rede am Ende.
Schauen Sie sich einmal die Geschichte an! Sie wer-
den dann die Erkenntnis gewinnen: Wohlfahrt hilft der
Demokratie; Armut und Hunger befördern diktatorische
Strukturen. Deshalb sage ich: Wenn wir Demokratie in
Jugoslawien wollen, müssen wir jetzt beim Wiederauf-
bau helfen.
Dem Antrag der Bundesregierung können wir nicht
zustimmen, weil in ihm der Krieg nachträglich bestätigt
wird. Dies ist mit unserer Position nicht vereinbar. Ich
füge hinzu: Wir sind immer gegen NATO-Truppen als
Friedenstruppen gewesen. Wir wollen Truppen aus neu-
tralen Staaten, weil diese am Krieg nicht beteiligt waren.
Letztlich bringe auch ich die Hoffnung zum Aus-
druck, daß es im Kosovo ab jetzt – weder unter Zivili-
sten noch unter Soldaten – keine Toten mehr gibt und
daß wir Stabilität in dieser Region durch Wiederaufbau
erreichen. Dazu gehört aber auch Serbien, das wir nicht
vor der europäischen Tür stehen lassen dürfen.
Danke schön.
Das Wort hatjetzt der Herr Bundesminister der Verteidigung, RudolfScharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
Dr. Gregor Gysi
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutezu treffende Entscheidung kann man nicht allein imLichte der letzten elf Wochen betrachten. Es gibt eineviel längerfristige Perspektive, und leider liegt dieserEntscheidung auch eine viel längere Entwicklung zu-grunde. Man könnte beispielsweise mit Fug und Rechtsagen, daß die Entwicklung mit der Aufhebung des Au-tonomiestatuts für den Kosovo durch Milosevic am 23.März 1989 begann.Bei der Lektüre eines Briefes, den der Träger desNobelpreises für Literatur, Ivo Andric, geschrieben hat,ist mir eine Passage aufgefallen, von der ich glaube, daßsie in dieser Debatte einen guten Hinweis bietet. Erschrieb über Bosnien – dasselbe gilt für den Balkan –:Vielleicht sollte man in Bosnien– also auf dem Balkan –die Menschen warnen, sich auf Schritt und Tritt, beijedem Gedanken und bei jedem, selbst dem erha-bensten Gefühl vor dem Haß, dem angeborenen,unbewußten, endemischen Haß zu hüten. Denn indiesem rückständigen, armen Land, in dem vierverschiedene Glaubensbekenntnisse zusammenge-pfercht leben, brauchte es viermal mehr Liebe, ge-genseitiges Verständnis und Verträglichkeit als inanderen Ländern.Später schreibt er dann mit Blick auf diese Passage:Aber wann wird diese Zeit kommen, und wer wirdstark genug sein, dies alles auszuführen? Einmalwird der Tag kommen, ich glaube daran.So schrieb Ivo Andric. Das war 1918, am Ende des er-sten Weltkrieges.Es sollte uns in dieser Debatte bewußt bleiben, daßdie Kriege dieses Jahrhunderts auf dem Balkan einenAusgangspunkt haben und daß jetzt die Chance besteht,daß für eine lange, gute Zukunft auf dem Balkan dasEnde der Kriege in Europa gefunden wird.
Mein Kollege Joschka Fischer hat ganz zu Recht ge-sagt: Die Gewalt geht zu Ende. Damit ist eine Voraus-setzung für Frieden geschaffen, aber noch lange nichtder Frieden selbst. Ob Frieden entsteht, hängt von derinneren Haltung der Menschen und von den Rahmenbe-dingungen ab, bei denen wir helfen können. Wir könnennicht in diesem Sinne – daß die Menschen im Kosovo zueiner guten inneren Haltung finden – Frieden schaffen.Wir können aber dabei helfen, und wir wollen das tun.Dabei werden wir nicht vergessen, was in den letztenJahren geschehen ist. Wir werden uns erinnern, nicht imSinne von Rache oder Vergeltung, sondern im Sinne vonAussöhnung und friedlicher Entwicklung, und wir wer-den auf längere Zeit wachsam bleiben müssen.Welche Erfahrungen haben wir gemacht? Wir ma-chen die Erfahrung, daß doch eine Chance besteht, andie Stelle des Unrechtes der Macht die Macht desRechtes zu setzen.
Wir machen die Erfahrung, daß das erste internationaleDokument, in dem gesagt wird, Menschenrechte seiennicht alleine die innere Angelegenheit eines Staates, unddas auch in Europa verabschiedet worden ist, nämlichdie Schlußakte von Helsinki, Wirksamkeit entfaltenkann – nicht nur bei der Ermutigung von Freiheits- undBürgerrechtsbewegungen in Mittelosteuropa, sondern inEuropa insgesamt.Es war der Bundesregierung von Anfang an bewußt,daß sie eine große Verantwortung übernimmt und mitdieser Verantwortung auch eine Möglichkeit zur Ge-staltung europäischer Verhältnisse. Sie greift dabei übri-gens auf etwas zurück, was auch frühere Bundesregie-rungen sehr deutlich ausgesprochen haben, beispielswei-se der damalige Außenminister Genscher am 17. April1991 im Deutschen Bundestag im Zusammenhang miteiner Resolution, die den Irak betraf. Das hat, wie ichdenke, unverändert Aktualität. Damals sagte Bundesau-ßenminister Genscher, daßerstmals in der Geschichte der Vereinten Nationenin dieser Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht
, daß die Mißachtung der Menschenrechte
den internationalen Frieden und die Sicherheit be-droht. Sie kann nicht mehr nur als innere Angele-genheit eines Staates behandelt werden. Das ist einewichtige Fortentwicklung des Völkerrechts. Künf-tig– so führte er damals aus –kann sich keine Regierung, die Völkerrecht undMenschenrechte mit Füßen tritt, die die Bürger ih-res Landes unterdrückt und zur Flucht zwingt, dar-auf berufen, daß solche Vorgänge eine innere An-gelegenheit sind, die der Mitsprache der Völkerge-meinschaft und der Vereinten Nationen entzogensind.Ich halte es für wichtig, diese Kontinuität zu betonenund daraus einige Schlüsse zu ziehen, die weit über daserfreuliche Erreichen von Gewaltfreiheit und das erfreu-liche Schweigen der Waffen hinausreichen.Es ist wahr, wir können auf ein erzieltes Ergebnis ineinem gewissen Umfang stolz sein. Aber jedes Triumph-gefühl verbietet sich. Es ist wahr, wir können erleichtertsein, daß wir ein Ziel erreicht haben, das wir uns vonAnfang an gesteckt hatten, nämlich den Menschen imKosovo ein sicheres Leben unter demokratischenUmständen zu erleichtern und zu garantieren. Aber esist auch wahr, daß die Freude darüber nicht ungeteilt ist.Wir haben auch unausweichlich Leid zugefügt, zumBeispiel vielen Zivilisten in Serbien. Folglich mischtsich in unsere guten Gefühle von Stolz und Erleichte-rung natürlich auch Trauer. Wir haben nicht Leid imSinne von Vergeltung anderen Leids zugefügt oderheimgezahlt. Manches ist in solchen Auseinanderset-zungen unausweichlich. Man sollte das auch als einenTeil der eigenen und der gemeinsamen Verantwortungerkennen. Das hat die Bundesregierung versucht.
Bundesminister Rudolf Scharping
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3576 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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Auch wenn wir zwei Tage vor einer Wahl stehen, diegenauso etwas mit Europa zu tun hat wie das, was wirhier besprechen, sollte es uns dennoch ab Montag kom-mender Woche in einer etwas gelasseneren Rückschaugelingen, zu akzeptieren, daß die Bundesregierung, dieBundesrepublik Deutschland – auch dank der sehr brei-ten Unterstützung hier im Deutschen Bundestag – dieEinheit aus humanitärer Hilfe, unausweichlichen militä-rischen Maßnahmen und notwendigen intensiven politi-schen Bemühungen immer erhalten und immer auch dasGleichgewicht zwischen diesen Maßnahmen hergestellthat. Alle Initiativen für eine politische Lösung desKonflikts gingen von der Bundesregierung, vom Bun-deskanzler und vom Bundesaußenminister aus. Ich sagedas mit Anerkennung, nicht um den Bundeskanzler odereinen geschätzten Kollegen zu loben, sondern um deut-lich zu machen, daß auch durch die Gemeinsamkeit fastaller Abgeordneten im Deutschen Bundestag eineGrundlage entstanden ist, die wir für die Zukunft erhal-ten und, wenn es geht, ausbauen sollten.
Ich wundere mich ein bißchen darüber – das ist dieeinzige Bemerkung, die ich zu den Kuriositäten undVerrenkungen des Kollegen Gysi machen möchte –, daßwir diese gelassene, freilich etwas durchmischte Freudenicht so zum Ausdruck bringen können, wie es ange-sichts der herausragenden Rolle der BundesrepublikDeutschland bei der Lösung eines außerordentlichschwierigen Konfliktes eigentlich geboten wäre.
Es ist ein Krieg zu Ende gegangen, der gegen euro-päische Werte und gegen die europäische Zivilisationgeführt worden ist, und zwar über lange Zeit, viermalauf dem Balkan und auch im Kosovo. Es ist ein Krieg zuEnde gegangen, der die Chance beinhaltet, Menschen-rechte und Menschenwürde sowie die Bedingungen, dieman dafür braucht, wirklich zu sichern. Es ist ein Kriegzu Ende gegangen, der mit Sicherheit, wenn man diemilitärischen Gegenmaßnahmen nicht getroffen hätte –das ist nun Gott sei Dank keine spekulative Erörterung;wir wußten das angesichts von 600 000 Vertriebenenschon vor dem März 1999 –, angesichts der Brutalitätenund der Erfahrungen, die wir in den Jahren seit 1991gemacht haben, das Kosovo von seiner albanischstäm-migen Bevölkerung ebenso entleert wie auch alle Nach-barstaaten destabilisiert hätte. Es entsprach also nichtnur unseren Wertvorstellungen, sondern auch unseremInteresse, diese Entwicklung endgültig und dauerhaft zustoppen. Wir haben das geschafft.
In aller Kürze möchte ich darauf hinweisen, daß esauch noch weitreichendere Erfahrungen und Perspekti-ven gibt. Der erste Punkt ist: Europäer und Amerikanerhaben im Rahmen einer militärischen Allianz, die zu-gleich ein Bündnis aus Demokratien und Wertegemein-schaften ist, diesen Krieg gemeinsam beendet. Wir soll-ten uns darüber klar sein, daß die Weiterentwicklungder NATO nur dann sinnvoll eingebettet werden kann,wenn wir das transatlantische Bündnis insgesamt festi-gen und erweitern, ihm mehr Pfeiler geben als die wirt-schaftliche Konkurrenz, die wir untereinander hier undda haben, ihm die gemeinsamen Überzeugungen hinzu-fügen.
Der zweite Punkt ist: Wir können mit einigem Selbst-bewußtsein sagen, daß wir in der Europäischen Union –das ist eine große Hoffnung für die Zukunft – in einerganz entscheidenden Bewährungsprobe in Europa zu-sammengehalten haben. Ich will auch das in eine größe-re Perspektive stellen: Es ist noch gar nicht so lange her,daß wir den Abschluß des Westfälischen Friedens vor350 Jahren und die Entstehung der territorialen OrdnungEuropas gefeiert haben. Doch Bestandteil dieser territo-rialen Ordnung war die Souveränität der Staaten. Siepflegen ihre Beziehungen untereinander. Aber wie siemit ihren Bürgern umgehen, bleibt allein ihnen überlas-sen.Der Beginn der Überwindung dieses Gedankengutesliegt in der Schlußakte von Helsinki und in den nachfol-genden Entwicklungen. Es ist von großer Bedeutung,daß die in der Vergangenheit entstandenen und in die-sem Jahrhundert wirksamen – scheinbar traditionellen –Bindungen zwischen einzelnen europäischen Völkernund Staaten in diesem Konflikt keine entscheidendeRolle mehr gespielt haben. Ich erinnere hier insbesonde-re an Frankreich und Großbritannien.Der dritte Punkt ist: Wir haben mit Rußland – Gottsei Dank – in dem Prozeß, der bis nach Paris geführt hatund leider gescheitert ist, seit Anfang April zu einemzunehmend kooperativen Verhältnis gefunden. Das wirddurch die Nachrichten, die zum Teil übertrieben, zumTeil falsch sind, in keiner Weise beschädigt.Ich will im übrigen mit Blick auf die Bemerkungendes Kollegen Lamers darauf aufmerksam machen, daßder Deutsche Bundestag in einem vergleichbaren Fall,nämlich bei der Entscheidung über das IFOR-Mandat inBosnien nach Dayton, fast zwei Wochen vor dem Be-schluß des Weltsicherheitsrates der Vereinten Nationenseine Zustimmung gegeben hat. Das passierte in einerSituation, die mit der heutigen durchaus vergleichbar ist.Wenn der Balkan insgesamt eine gute Perspektivehaben soll, dann müssen wir dazu beitragen. Das richtetsich an alle Nationen, an alle Völker, an die Menschen,die in den verschiedenen Staaten des Balkans leben, undzwar ganz unabhängig von ihrer ethnischen Abstam-mung. Wir haben eine große Chance, die Völker aufdem Balkan haben eine große Chance, auch das serbi-sche Volk. Unser Appell gerade an das serbische Volklautet: Nehmt euer Schicksal in die eigene Hand! Über-laßt es nicht einem Diktator, sondern kommt nachEuropa!
Bundesminister Rudolf Scharping
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999 3577
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Wenn man das bedenkt, macht der Auftrag der inter-nationalen Friedenstruppe – und die deutsche Beteili-gung daran – einen großen, einen guten, einen weit indie Zukunft reichenden Sinn.Ich danke dem Deutschen Bundestag für die erwar-tete, erhoffte – und hoffentlich gewährte – breite Unter-stützung. Vor allen Dingen aber danke ich den Soldatenund ihren Familien. Sie leisten etwas für die Glaub-würdigkeit von Frieden, Freiheit, Menschenwürde undMenschenrechten. Sie leisten etwas für das internatio-nale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland. Sie lei-sten das unter einem großen Risiko, und das ist beson-ders anerkennenswert.Es ist ihnen besonders dafür zu danken, daß sie esvoller Überzeugung, voller Engagement tun, wissendum das Risiko, wissend aber auch darum, daß man siebraucht, wenn man die Werte durchsetzen und bewahrenwill, von denen wir heute gesprochen haben. Ich wün-sche – wie andere hier – auch den Soldaten eine gesundeHeimkehr. Ich versichere den Familien, daß wir alles fürdie Sicherheit ihrer Väter und Söhne tun werden.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Paul Breuer.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Bundesverteidigungsminister Schar-ping hat der großen Mehrheit des Verteidigungsaus-schusses am heutigen Morgen für die Unterstützung sei-ner Arbeit in den letzten Wochen gedankt. Ich darf andieser Stelle Ihnen, Herr Minister Scharping, und allenanderen Beteiligten diesen herzlichen Dank erwidern.
Der kluge UNO-Generalsekretär Kofi Annan hatgestern abend gesagt, dieser Waffenstillstand sei, so hof-fe er, der Anfang vom Ende eines der dunkelsten Kapitelin der Geschichte des Balkans. Er hat es als Hoffnungausgedrückt. Er hat dabei noch einmal deutlich gemacht,daß die letzte Etappe der 79 Tage, die wir alle als be-drückend empfunden haben – aber es war richtig, siedurchzustehen –, nicht so sehr im Fokus des Zeitraffersstehen darf. Dieser Konflikt hat zehn Jahre gedauert:seitdem Milosevic die Autonomie des Kosovo aufgeho-ben und damit die schlimmen Konflikte begründet hat,die wir danach erlebt haben. Das heißt, daß wir heuteDankbarkeit und Erleichterung empfinden können. Wirwissen aber, daß wir uns auf einen schweren, langenWeg machen.Dieser Waffenstillstand schafft durch das Abrückendes serbischen Militärs, des Paramilitärs, der Banden,der Polizei, der Sonderpolizei und durch das Einrückender NATO-Kräfte die Möglichkeit, daß die Flüchtlingezurückkehren. Aber auf diesem Weg liegen nicht nurschwere Steine und Felsen, sondern auch Minen. Das istgeistig und tatsächlich ein vermintes Gelände.Es gibt eine Reihe von Schwierigkeiten und Risiken,die auf unsere Soldaten und auf die rückkehrende Be-völkerung zukommen. Wir möchten, daß unseren Sol-daten versichert wird – ich bin gewiß, das geschieht –,daß ein so sicheres Umfeld, wie nur irgend möglich, ge-schaffen wird. Das wäre dann auch für die Flüchtlingeeine Gewähr. Ich weiß, es gibt viele Risiken, die mannicht zu 100 Prozent ausschließen kann. Vor uns liegtein gefährlicher Weg. Wir wünschen unseren Soldaten,denen wir herzlich danken – nicht nur denjenigen imBalkan, aber ihnen besonders –, dafür viel Glück.
Wir bedanken uns auch bei ihren Familien. Ich trafneulich in Mazedonien einen jungen Bundeswehrsolda-ten, der mir erzählte, daß seine Frau zu Hause geradedas erste Kind erwartet. Er muß nun – er will es auch –in den Kosovo einrücken. Aller Wahrscheinlichkeit nachwird das Kind in dieser Zeit zu Hause, hoffentlich ge-sund, geboren werden. Versetzen wir uns in die Gedan-ken- und Gefühlswelt dieser Familie: Die Frau empfin-det Einsamkeit, weil ihr Mann in ungewissem Umfeldunterwegs ist und er ihr nicht beistehen kann. UnsereSoldaten sind keine Maschinen. Es sind Menschen mitallen Gefühlen und allen Ängsten; sie brauchen die Un-terstützung des Deutschen Bundestages, um das zu tun,wofür wir sie einsetzen.
Auch die Familien brauchen diese Unterstützung.Es geht darum, daß jetzt Vertrauen im Kosovo aufge-baut wird. Es ist ein weiter Weg – ich stimme dem zu,was Verteidigungsminister Scharping gesagt hat –, ausder Spirale von Gewalt und Rache herauszukommen.Rache muß vermieden werden. Wir können in die Situa-tion geraten, daß sich deutsche Streitkräfte zwischenRachsüchtige und deren Opfer stellen müssen. Das kannman mit Verträgen leider nicht verhindern.Meine Damen und Herren, es sei mir gestattet, daraufhinzuweisen, daß wir alle die Haltung, die verbrecheri-sche Art von Milosevic unterschätzt haben. Bedrückt hatuns ja in den letzten Monaten, daß die Luftangriffe solange anhalten mußten. In diesem Zusammenhangmöchte ich davor warnen, möglicherweise auch die Ge-fahren, die vom Balkan, vom Kosovo ausgehen können,zu unterschätzen. Wir brauchen viel Umsichtigkeit, undwir müssen die richtigen Konsequenzen ziehen. Das läßtsich nicht allein mit militärischer Gründlichkeit beant-worten, das bedarf einer umfassenden Kombination vonmilitärischer Gründlichkeit und entsprechender diplo-matisch-politischer Begleitung.Die jetzt auf uns zukommende Aufgabe ist fürDeutschland von historischer Bedeutung. Deutschlandbzw. die Bundeswehr erhalten eine eigene Sicherheits-zone, in der wir zusammen mit unseren Partnern undNachbarn, den Niederländern und den Österreichern,Verantwortung tragen. Dies ist eine geschichtlich be-Bundesminister Rudolf Scharping
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3578 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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deutsame Situation. Wer hätte noch vor wenigen Jahr-zehnten gedacht, daß die Europäer bzw. gerade dieNachbarn Deutschlands, zum Beispiel die Niederländer,auf der Basis ihrer geschichtlichen Erfahrungen dazu be-reit wären, zusammen mit der Bundeswehr eine soschwierige Aufgabe anzugehen? Ich bin dankbar dafür,daß die Regierungen der letzten Jahrzehnte und insbe-sondere die Regierung Helmut Kohl und Klaus Kinkeleine Grundlage dafür geliefert haben, daß dies heute ge-schehen kann.
Gestern abend konnte man sehen – diese Möglichkeithaben wir ja angesichts der vielen Fernsehkanäle, die esbei uns gibt –, wie in unseren Nachbarländern, in Hol-land und Österreich, darauf reagiert wird. Dazu muß ichsagen: Das erfüllt mich ein Stück weit mit Befriedigung.Wir haben eine gute politische Ausgangsbasis.Aber eine Feststellung im Hinblick auf die schwereAufgabe der Bundeswehr muß man hier treffen – auchdies muß gestattet sein –: Die Bundeswehr wird da-durch, daß sie auf lange Zeit eingesetzt wird – niemandvon uns kann sagen, wie lange der Einsatz dauern wird;ich befürchte, sehr lange –, bei der Bewältigung ihrerAufgabe bis aufs äußerste gefordert sein. 12 000 bzw.13 000 Soldaten – das heißt eine große Division – wer-den ständig im Kosovo im Einsatz sein. Da diese zwei-mal im Jahr abgelöst werden, sind als Grundlage dreiDivisionen erforderlich. Nebenbei gesagt: Dazu sind un-geheure finanzielle Mittel notwendig.Auf ein weiteres möchte ich hinweisen – ich weiß,manche Sozialdemokraten empfinden angesichts der jet-zigen Situation so wie ich –: Wenn der sonst so ge-schätzte Kollege Kröning feststellt, daß der BundeswehrGeld entzogen werden müsse, bzw. nicht dazu bereit ist,für die Erfüllung der Aufgabe der Bundeswehr im Ko-sovo weiter Mittel bereitzustellen, ist das ein Mangel anSensibilität. Wir müssen ihn gemeinsam – da wende ichmich besonders an die Sozialdemokraten – von diesemWeg abbringen.
Angesichts der Tatsache, daß sich unsere Soldaten indem schwierigsten Einsatz seit dem zweiten Weltkriegbefinden, kann man nicht meinen, man leiste einen an-gemessenen politischen Beitrag, wenn man unseren inder Demokratie großgewordenen und loyal zur Demo-kratie geführten Soldaten gleichzeitig das Geld entziehtund die Kasernen abbricht. Das muß vermieden werden.
Herr Kollege
Breuer, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluß.
Der Kosovo-Konflikt muß uns Lehre für die Zukunft
sein. Dazu möchte ich gern, wenn es mir gestattet wird,
drei Feststellungen treffen.
Für drei Fest-
stellungen fehlt Ihnen die Zeit. Herr Kollege Breuer,
versuchen Sie, diese in einem Satz zusammenzufassen.
Frau Präsidentin, es ist
dann ein langer, aber guter Satz.
Dann los.
Ich bin mir sicher, daß Sie
die Geduld, die ich von Ihnen kenne, dafür aufbringen
werden.
Die Sicherheit Europas ist ohne die NATO und un-
sere transatlantischen Freunde in Nordamerika nicht
denkbar. Wir sollten deshalb nicht die kritische Distanz,
sondern die selbstbewußte Nähe zu ihnen suchen. Die
Sicherheit Europas ist zudem nur gemeinsam mit Ruß-
land möglich. Und was die Meldungen des heutigen
Morgens angeht, so möchte ich die Bundesregierung
auffordern, alles zu tun, damit Rußland eingebunden
wird.
Wir müssen den europäischen Pfeiler der Allianz
stärken und ständig die Frage an uns richten, ob unser
Beitrag gut und angemessen ist. Dann bin ich mir sicher,
daß wir auf dem richtigen Wege sind.
Die CDU/CSU hat sich zu diesem Weg bekannt, in
den letzten Wochen zum Teil stärker als die rotgrüne
Koalition. Auf diese Feststellung legen wir Wert. Wir
haben zu diesem Prozeß einen guten Beitrag geleistet
und werden dem Antrag der Bundesregierung zustim-
men.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.
FrauPräsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ichdenke, daß nicht nur mir und den meisten Mitgliederndes Hauses, sondern auch der Bevölkerung gestern um19 Uhr Wackersteine vom Herzen gefallen sind, als be-kannt wurde, daß der UN-Sicherheitsrat den Weg zueinem Friedensprozeß eröffnet hat und begleitet und inZukunft stärken wird.
Herr Breuer, ich will Ihnen eines sagen: Sie haben inden letzten schwierigen Monaten Angriffe gegen unsunternommen in dem Versuch, die Regierung zu spalten,die Koalition auseinanderzutreiben. Eine solche Situati-on haben Sie in Ihrer Regierungszeit nie kennengelernt:Wir sind nicht die pflegeleichte Jasager-Koalitionspart-nerin, sondern Bedenkenträger. Ich glaube auch, daß dasgut und richtig ist, gerade wenn es um MenschenrechtePaul Breuer
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und um einen Krieg geht, den wir so zum erstenmal füh-ren mußten. Diese Sorgen und Ängste haben nicht nurdie politisch Handelnden umgetrieben – ich glaube, dasbezieht sich auf alle Parteien –, sondern auch die Gesell-schaft, mit zunehmender Dauer der NATO-Luftschläge,um die ethnischen Säuberungen Milosevics endgültig zubeenden, stärker.Die Bedenken, die wir geäußert haben, die auchheute noch diskutiert werden und mit denen wir auchunserer Partei viel zugemutet haben – ich glaube, auchdas war richtig so –, entsprechen einer Zäsur. Diese Be-denken aber haben zu Ergebnissen geführt: Wir tragenVerantwortung, nicht in Form von Lippenbekenntnissen,wie manch andere es bisher getan haben, sondern unterAnerkennung der Realität, Herr Gysi. Wir haben ent-schieden, daß der Militäreinsatz notwendig war, um dieKriegsführung von Milosevic zu beenden und die Koso-varen zu retten. Wir hatten keine andere Möglichkeit,nachdem Ihre Regierung über Jahre hinweg alle präven-tiven Mittel ungenutzt gelassen hat.
Zur Realität gehört aber auch, daß wir während derLuftschläge alle Friedensinitiativen, die insbesonderediese Regierung, aber auch die anderen Organisationenund Personen, die heute oft erwähnt worden sind, aktivunterstützt haben. Dies widerlegt den an uns gerichtetenVorwurf. Viele gerade aus Ihrer Partei, Herr Gysi, habengesagt, Rotgrün habe diesen Krieg erst möglich ge-macht. Ich sage Ihnen: Nein! Rotgrün hat es möglichgemacht, daß die Diplomatie immer im Vordergrundstand. Wir können heute sagen: Wir haben das Fensterzum Frieden geöffnet, und das mit Unterstützung derinternationalen Staatengemeinschaft.
Zu dieser Realität – das möchte ich zum Schluß sagen– gehören nicht nur die Sorge und die Verantwortung fürdie Flüchtlinge und die Vertriebenen, für die Entminungund für die präventive Politik der Zukunft, sondern auchdie Verantwortung für und das Wissen um den schwerenEinsatz der Bundeswehrsoldaten. Das heißt, es gilt,heute noch nicht endgültig aufzuatmen. Vielmehr wissenwir, daß nach dem Einsatz am 24. März jetzt die nächsteschwere Phase mit unendlichen Gefahren kommt. MeineFraktion und meine Partei unterstreichen ausdrücklichdie heute oft geäußerte Hoffnung und den Wunsch, daßdie Soldaten diesen schwierigen Einsatz gut überstehenund gesund zurückkommen; denn wir wissen, daß es ihrZiel ist, nach der humanitären Arbeit der letzten Monatejetzt diesen Menschen, die sie versorgt haben, die Rück-kehr ins Kosovo zu erleichtern und den Frieden auf demBalkan zu stabilisieren.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Beer, Siehaben der alten Koalition bis zum 27. September desletzten Jahres die Militarisierung der Außenpolitik vor-geworfen.
Ich glaube, man braucht nicht viel Phantasie zu haben,wie die heutige Diskussion verlaufen wäre, wenn Sieheute noch in der Opposition wären: Sie, Frau Beer, undIhre Parteifreunde wären wahrscheinlich tagtäglich aufder Straße, um eine Demonstration anzuführen, undwürden sich an Mahnwachen beteiligen.
Es ist schon eine verdrehte Politik. Ich glaube, nach derWende hat man solche Leute als Wendehals bezeichnet.
Im Kosovo ging es nicht um ein Kriegsziel derNATO, sondern um die Frage an freiheitlich verfaßteGesellschaften, ob sie wegschauen wollen, wenn 55 Jah-re nach Beendigung des zweiten Weltkrieges erneuteuropäische Volksgruppen gefoltert, ermordet und ver-trieben werden. Es ist schon bezeichnend, daß der Spre-cher der SED-Nachfolgeorganisation PDS den Sicher-heitsratsbeschluß der UN einfach ignoriert, abtut
und, losgelöst von dieser Beschlußlage, Parlament undder Regierung Vorwürfe macht. Sie hätten bei IhrenBemerkungen auch Stellung dazu nehmen können, wiees war, als Sie den Westen angegriffen haben, wereigentlich den Prager Frühling niedergeschlagen hat,wer den Aufstand in Ungarn niedergeschlagen hat undwer den Aufstand am 17. Juni niedergeschlagen hat.Auch dazu hätten Sie sich heute äußern können, stattden Westen hier einseitig anzugreifen.
Ich möchte mich für die F.D.P. bei allen bedanken,die dazu beigetragen haben, daß es zum Beschluß desSicherheitsrates der UN gekommen ist. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird dem von der Bundesregierungvorgelegten Antrag für die deutsche Beteiligung an derKFOR-Truppe für den Kosovo zustimmen. Wir tundies aus staatspolitischen Überlegungen, aus bündnis-politischen Überlegungen und aus humanitären Grün-den. Aber wir tun dies nicht ohne ernste Bedenken. Die-se Bedenken beziehen sich nicht etwa darauf, daß wirdie Notwendigkeit bezweifeln, im Kosovo wieder zu ei-nem Frieden zu kommen, als vielmehr auf die Art undWeise, in der die Beschlußvorlage zustande gekommenist.Herr Minister Scharping, weil es um Krieg und Frie-den geht, haben wir die hektische Handlungsweise derAngelika Beer
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3580 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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Bundesregierung gegenüber dem Parlament in dieserWoche hingenommen. Wenn es um den Einsatz unsererSoldaten geht, die dabei eventuell Leib und Leben ris-kieren, dann ist keine Sitzung zuviel, keine Frage über-flüssig und keine Erläuterung unnötig.Der SPD-Fraktionsvorsitzende hat den Hinweis aufden Haushalt in einem Zwischenruf als „kleinlich“ ab-getan. Wir werden bei den weiteren Beratungen, wennes auch um den Haushalt geht, darauf zurückkommen.
Es wird darum gehen, daß der Verteidigungsetat nichtweiter gekürzt wird. Herr Minister, in dieser Frage ha-ben Sie unsere Unterstützung.
Herr Kollege
Nolting, denken auch Sie bitte an die Zeit.
Letzter Satz,
Frau Präsidentin.
Ich denke, es wäre gut gewesen, wenn Sie sich auch
zu den Finanzen geäußert hätten. Ich erinnere die Bun-
desregierung an ihre Aussagen, den Verteidigungsetat
nicht weiter zu belasten, und hoffe, daß sie dazu steht.
Unsere Soldaten und ihre Familien brauchen diese Si-
cherheit. Ich sage Ihnen zu, Herr Minister, daß wir Sie in
dieser Frage unterstützen werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach be-rechtigten Beklemmungen und Zweifeln in den vergan-genen Wochen ist dies heute unstreitig ein Tag derFreude. Bei der Bewertung bin ich zurückhaltend. Si-cherlich werden diese Wochen in den Geschichtsbü-chern der europäischen Geschichte des 20. Jahrhundertsbreiten Raum einnehmen. Was in den Geschichtsbü-chern des 21. Jahrhunderts über Osteuropa stehen wird,steht noch nicht fest. Auch das sollte heute gesagt wer-den.Die Risiken kennen wir. Ich glaube, alles, was heutedurch Herrn Lamers und in den vergangenen Tagen vorallem durch Mitglieder der Partei der Grünen hinsicht-lich vorhandener Risiken geäußert worden ist, ist einerDemokratie würdig. Wir kennen friedliche Handlungs-optionen und haben die Hoffnung, gewalttätige Hand-lungsoptionen vermeiden zu können. Nur, am Anfangstand schon eine enttäuschte Hoffnung: die Hoffnung,die in der Charta von Paris von 1989 niedergeschriebenist, daß es so etwas – Völkermord und Bombenattacken– in Europa nicht mehr geben würde. Wer 1989 die Ge-schichte des 20. Jahrhunderts geschrieben hätte, hättesich geirrt.Das, was wir hinter uns haben, wurde auch moralischdiskutiert, obwohl das nicht der Kern der Sache war. DerKern der Sache war, daß die NATO wußte: Die ethni-schen Verfolgungen im ehemaligen Jugoslawien sindmit den Mitteln der NATO bekämpfbar. Wir haben inder jüngeren Geschichte genug ethnische Verfolgungenerlebt – und erleben sie noch heute –, die nicht be-kämpfbar sind. Deshalb war es keine Frage der absolu-ten Moral. Gerade weil diese Verfolgungen bekämpftwerden konnten, wurden die Entscheidungen so schwie-rig. Für den Einsatz wurden sehr konkrete Bedingungenfestgesetzt, unter anderem, daß es zu keinem Verlust ei-gener Soldaten kommen sollte. Dies ist, von tragischenNebenunglücken abgesehen, gelungen.Unbeteiligte Zivilisten in Serbien haben mehr Scha-den genommen, als wir das wollten. Das hat damit zutun, daß sich die meisten – ich schließe mich da mitein – hinsichtlich der notwendigen Dauer dieser Ausein-andersetzung geirrt haben. Der Kern war aber: Wirkonnten handeln. Deshalb stellte sich überhaupt erst diemoralische Frage.Handeln konnten wir nur, weil die NATO auf dieWaffentechnik der USA gestützt ist. Das ist ohne jedenZweifel deutlich geworden. Das festzuhalten ist richtig.Dennoch sollte ein realistisches und erwachsenes Ver-hältnis zu den USA jetzt nicht auf die Frage von Dank-barkeit oder Undankbarkeit reduziert werden.
Insbesondere mit republikanischen Kollegen des ameri-kanischen Kongresses über diesen Krieg diskutiert zuhaben, hat die meisten Äußerungen grüner Kollegen– angesichts der rabiaten Kritik, die Mitglieder des ame-rikanischen Kongresses an diesem Krieg geäußert haben– zu harmloser Kritik werden lassen. Zu einem erwach-senen Verhältnis zwischen den Demokratien Europasund der USA gehört auch diese Erkenntnis.
Der Dialog mit den Vereinigten Staaten – so wie ichihn erlebt habe – hatte zwei Seiten. Auf der einen Seitestellten Kollegen die Frage: Macht Europa bei denNATO-Aktionen weiter mit? Man konnte darauf sehreinfach antworten: Im Deutschen Bundestag gab es zudem Einsatz viel mehr Zustimmung als im amerikani-schen Kongreß. Auf der anderen Seite gab es die Frage:Warum regelt ihr Europäer das Kosovo-Problem nichtselber? Bei dieser Frage sind wir bei der Quintessenzdes europäisch-amerikanischen Verhältnisses: Was kön-nen wir, wenn Völkerrechts- und Menschenrechtsver-stöße in Europa passieren, selber regeln? Ich glaube, dieBeschlüsse des Ministerrats der WEU von Bremen undjetzt des EU-Gipfels, eine europäische Sicherheitsiden-tität anzustreben, sind die richtige Antwort. Dazu sindnoch viele spannungsreiche Diskussionen mit den be-freundeten Amerikanern zu erwarten.
Günther Friedrich Nolting
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999 3581
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Das Verhältnis zur UNO hat in der Frage, wie derSicherheitsrat effektiv werden kann, neue Realitätsein-sichten zugelassen: Europa kann mit China nicht nurüber Menschenrechte sprechen – so berechtigt das ist –,wenn Europa meint, man brauche China auch zurLösung von Konflikten in Europa. Das mußte man ler-nen. Ich hoffe, diese Erkenntnis bleibt. Daß Europa mitRußland bei komplizierten Verhältnissen dauerhaft guteBeziehungen pflegen muß, selbst wenn Menschenrechteund Mafia kritisch im Spiel sind, hat man ebenfalls ge-lernt. Hier haben wir Fortschritte erzielt, und die UNOhat eine neue Realität hinzugewonnen.Die Aufgabe, die sich uns heute stellt, liegt mir amHerzen. Jeder, der sich dazu öffentlich äußert, sollte sichüber das klar sein, was er tut. Dieser Krieg ist geführtworden, um Menschen nicht zu Vertriebenen werdenzu lassen. Diese Menschen wurden allerdings trotzdemvon Milosevic vertrieben, was durch die Attacken derNATO beschleunigt wurde. Jetzt sollen sie in ihre Hei-mat zurückkehren. Nun weitherzig zu bedenken, wiederen Schicksal ist, ist unsere Aufgabe. Ich habe keinVerständnis dafür, schon heute darüber nachzudenken,wie sie schnell wieder aus den EU-Staaten verschwun-den sein können. Das hat mit Humanität und Christen-tum nichts gemein.
Compassion – auch ich möchte diesen Begriff verwen-den – gilt für mich ebenso für unser Verhältnis zu denMenschen in Serbien, soweit sie nicht schuldhaft in die-sen Krieg verstrickt waren.
Nun wende ich mich der Lösung zu. Wir könnenSzenarien über eine zukünftige Ordnung auf demBalkan malen, die jedoch alle nicht eintreten werden,wenn nicht die eine Voraussetzung erfüllt ist: Nur wennwir alle, die wir schon zur Europäischen Union gehören,fest davon überzeugt sind, daß auch Albaner, Mazedo-nier und Serben Europäer sind, dann wird der Konfliktgelöst werden.
Die Voraussetzung ist, daß wir glauben, daß sie Euro-päer und keine merkwürdigen Bergvölker sind. – ImZusammenhang mit den albanischen Bergvölkern, dieetwas unzivilisiert sind, denke ich immer an Mutter Te-resa. Vielleicht mag mancher darüber nachdenken, derso etwas selbst in Landtagen erzählt hat.Weil sie alle Europäer sind, müssen die Prinzipienvon Kopenhagen, die der Bundesaußenminister er-wähnt hat, eine andere Bedeutung erhalten. Diese Prin-zipien können nämlich zweierlei sein: entweder eineAbwehr gegen solche, die wir nicht wollen, oder eineEinladung, sich uns anzuschließen. Wer im Europa vonheute die Prinzipien von Kopenhagen nicht als eineEinladung an Albaner, Serben, Mazedonier und anderebegreift, sich in Europa zu integrieren, und ihnen nichtmitteilt, daß wir mit ihnen in einem staatsähnlicheneuropäischen Gebilde zusammenleben wollen, der ziehtnicht die richtigen Konsequenzen. Alle Szenarien nützendann nichts.Ich wünsche mir als entscheidende Voraussetzung füralles, was jetzt geschehen kann – Stabilitätspakt, Aufbauder Zivilverwaltung und ähnliches – folgende Vision.Wir möchten mit diesen Völkern in einem Europazusammenleben und erleben, daß Konflikte, die mitGewalt verbunden sind – die es, wie in Nordirland oderim Baskenland, immer geben wird –, als Probleme derinneren Sicherheit Europas von Europäern human gelöstwerden können.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsi-dentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! So-wohl das, was Kollege Zöpel gerade mit seinen Hinwei-sen auf die Kopenhagener Dokumente, auf die Chartavon Paris und auf all die diplomatischen und präventi-ven Versuche, in Europa nach dem Fall des EisernenVorhangs eine Friedensordnung zu erreichen, dargelegthat, als auch die Politik von Volker Rühe, von HelmutKohl und von Theo Waigel haben in den letzten Jahrendie Grundlage dafür gelegt, daß wir heute an diesemPunkt angekommen sind.
Kollegin Beer widerspricht dem zwar, aber ihre Redewar wohl eher an die eigene Partei gerichtet als an ir-gend jemand anderen. Ernst zu nehmen waren ihre Be-gründungen jedenfalls nicht.Wir müssen den Blick nach vorne richten und überle-gen, wie die Kernfragen, die sich uns nach den Mili-täraktionen in der heutigen Situation stellen, beantwortetwerden können. Diese Fragen gehen sehr in die Tiefe:Welche Kriegsziele verfolgte man? Waren sie überhauptklar genug definiert? Wenn ja, sind sie wirklich erreichtworden? Wie lange werden wir dort militärisch enga-giert sein müssen? Sind wir uns über das Ausmaß despolitischen Engagements bewußt? Welche Gefahrendrohen in der kommenden Zeit noch aus Jugoslawien?Was können wir Europäer bzw. was sind wir Europäerverpflichtet zu tun? Welche Auswirkungen wird dieserKonflikt auf die zukünftige Struktur der Vereinten Na-tionen haben? Auch die Beantwortung dieser Frage be-darf einer langen Diskussion. Auch das bedarf einer lan-gen Diskussion. Welche Lehren zieht die NATO ausdem Konflikt?Herr Kollege Zöpel, ich darf an das anschließen, wasSie gesagt haben. Natürlich wird auch in Zukunft undgerade bei Lösungen regionaler Konflikte in Europa daseuropäische Engagement innerhalb der NATO andersbewertet werden müssen, als es vielleicht vor Jahrennoch der Fall gewesen ist. Diese Fragen kommen nichtDr. Christoph Zöpel
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nur aus Washington – jawohl, auch daher –, sondernwerden auch bei uns selbst gestellt.Damit bin ich beim Thema Kosten. Ich erlaube esmir nun doch noch, es einzubringen. Der Kollege Struckhat zwar in seiner Rede, die er zunächst abgelesen hat –dann ging er zum freien Vortrag über –
– Diese parteipolitische Holzhackerei, die wir dabei er-lebt haben, war der heutigen Debatte nicht würdig.
Der Kollege Struck hat zwar das Kostenargumentbeiseite gewischt. Aber wenn ich allein die Satelliten-aufklärung, die Frage der europäischen Möglichkeiten,auch militärisch aktiv zu werden, betrachte, dann magsagen, wer will – ich kann es nicht –, daß das für denHaushalt ohne Relevanz wäre. Dabei sind wir natürlichbei zentralen Themen. Herr Verteidigungsminister, dieÜberholungen in der Wehrstrukturkommission sinddurch Einwürfe des Kollegen Kröning oder des HerrnFinanzminister Eichel bereits in Frage gestellt. Wir müs-sen uns darüber in den nächsten Jahren schon sehr inten-siv Gedanken machen. Wir sind dazu konstruktiv bereit.Das will ich für unsere Seite nur anbieten.Eines jedenfalls scheint klar zu sein: Der Kosovo-Konflikt ist nicht ein singulärer Konflikt, sondern einMosaikstein im Bild des auseinanderbrechenden Jugo-slawiens und der Machtarroganz des Slobodan Milose-vic. Auch unserer Zeit wird es nur schwer gelingen, dieProbleme dieser Region zu lösen – ich empfehle jedemdie Lektüre von Ivo Andric; er hat dies über den Laufder Jahrhunderte an Beispielen literarisch hervorragenddargestellt –, den ewigen Frieden auf dem Balkan zu in-stallieren. Realistisch ist es, hier die eigenen Ansprüchezu reduzieren und zu versuchen, möglichst den Grund-stein für eine lange Phase des Friedens in diesem TeilEuropas zu legen. Wir müssen dies gemeinsam mit dendort lebenden Menschen erarbeiten. Wir wären über-heblich, wenn wir meinten, wir könnten das ohne dieje-nigen, die davon betroffen sind und dort leben.
Wenn es uns schon nicht gelingen wird, die Men-schen zu verbessern – daran glaube ich nicht –, so mußes doch gelingen, die namentlich zu benennenden Ver-ursacher der Verbrechen auszuschalten. Milosevicwar Verursacher dieses Krieges. Er war auch Verursa-cher des Krieges zwischen Serben und Slowenen undzwischen Serben und Kroaten, und er war – gemeinsammit seinem Vasallen Karadzic – der Verantwortliche fürden Bosnien-Krieg. Kann man einen solchen Despotenals Verhandlungspartner akzeptieren, obwohl wir dochwissen, daß es noch ein paar Dominosteine gibt, die die-ser ideologisch verblendete Mensch auf dem Altar seinergroßserbischen Vorstellungen und seiner Machterhal-tung opfern möchte?Als nach der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweni-ens die serbische Armee aus diesen Teilen Jugoslawiensabzog und in Bosnien Unterschlupf fand, hatten viele dieBefürchtung, daß die Freude des einen das Leid des an-deren werden könnte. So ist es auch gekommen. Dienach Bosnien hinüberziehenden Truppen waren späterein Teil der Kräfte, die Bosnien in die Knie zu zwingenversuchten.Drei Jahre später hat es auch Richard Holbrooke beider Befriedung Bosniens durch das Dayton-Abkommennicht geschafft, die Frage des Kosovo einzubeziehen.Der Kosovo war in Dayton nicht berücksichtigt wordenund somit letztendlich schutzlos. Dreieinhalb Jahre nachdem Dayton-Abkommen ist es nun gelungen, Friedenfür den Kosovo wenigstens in Aussicht zu stellen.Wir wissen, daß gewisse Entwicklungen in Montene-gro, in der Vojvodina und im Sandschak mit den dortlebenden Minderheiten nicht geregelt sind.
Ich meine, Herr Kollege Schmidt, daß dies eine sehrernste und sehr nachdenkenswerte Frage ist.
– Im Gegensatz zu Herrn Struck habe ich meine Redeselber geschrieben.
Die Frage, wie wir in diesen Regionen Serbiens undim ehemaligen Jugoslawien, in Montenegro den Schutzder dort Lebenden sicherstellen können, ist nicht beant-wortet. Die serbische Armee zieht aus dem Kosovo ab.Wo zieht sie hin? In zerbombte Kasernen? Nein! Siewird ein Unsicherheitsfaktor werden. Wir müssen wo-möglich aufpassen, daß die Republik Montenegro nichtins Zielfeuer und zur Zielscheibe von Herrn Milosevicgerät.Sind diese Gefahren in den Verhandlungen der letz-ten Wochen berücksichtigt worden? Ich weiß es nicht.Ich glaube, in dieser Hinsicht liegt noch ein schwierigerTeil des Weges vor uns. Das macht uns im Jubel etwasverhalten. Wir meinen, wir müssen alle Kräfte sammeln,um auch in den nächsten Jahren diplomatische und poli-tische Anstrengungen zu unternehmen, die dahin zielen,den Balkan zu befrieden.Zum Stichwort Wirtschaftsembargo. Soll Herr Mi-losevic Geld erhalten? Nein, auf keinen Fall. Aber dieTatsache, daß es auch zu Beginn des jetzt beendetenKonfliktes offensichtlich nicht gelungen ist, ein Ener-gieembargo gegen Jugoslawien zu verhängen – als mandie Raffinerien bombardiert hat, bestand kein Ener-gieembargo –, gibt kein ermutigendes Beispiel für dieZukunft.Wir müssen auch darüber nachdenken, wie die Soli-darität auf der Ebene der Vereinten Nationen bessergesichert werden kann. Gott sei Dank haben die Chine-sen eingelenkt. Insgesamt aber hat die NATO die Über-zeugungsarbeit für die Art und Weise und für dieGrundlagen ihrer politischen und militärischen Aktio-Christian Schmidt
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nen, für die auch wir uns entschieden haben, nicht sointensiv betrieben, wie es hätte sein sollen. Wenn manweiß, daß man im Sicherheitsrat ohne China keine Re-solution durchbringen wird, dann hätte es wohl doch derKlugheit entsprochen, die Chinesen von vornherein so-weit wie möglich in die G-8-Gespräche, in die Informa-tionsarbeit und in Konsultationen einzubeziehen. Wirsollten diese Dinge zukünftig genauso wie die Einbin-dung Rußlands bedenken.
Auch die Einbindung der islamischen Länder ist einganz entscheidender Faktor.Wir müssen bei der Frage der Kosten im übrigen dar-an denken, daß wir Deutschen die Kosten nicht alleintragen. Vielmehr muß das, was zu bezahlen ist und wasgeleistet werden muß, gleichmäßig und gerecht auf allenSchultern verteilt werden.
Denn Solidarität ist bekanntermaßen auch ein europäi-sches Grundprinzip. Wir fordern das ein. Das wird dannaber wohl erfordern, daß über das, was in Berlin aufdem als „Erfolg“ apostrophierten Gipfel vereinbart wor-den ist, noch einmal gehörig nachgedacht werden muß,
sonst wird diese Gerechtigkeit in Europa nicht eintreten.Zwei Tage vor den Europawahlen, bei denen wir dieZustimmung der Bürgerinnen und Bürger zur europäi-schen Integration erbitten,
möchte ich schon mit aller Ernsthaftigkeit darauf ver-weisen, daß das auch Konsequenzen für die Beachtungvon Volksgruppen- und Minderheitenrechten habenmuß. Dazu gehört auch – ich spreche das an, auch wennauf der Regierungsbank Unruhe aufkommt –
Herr Kollege
Schmidt, ich muß Sie jetzt bitten, zum Ende zu kom-
men.
– die Be-
seitigung rechtlicher Altlasten wie zum Beispiel der
Beneš-Dekrete in der Tschechischen Republik.
Nach den Erfahrungen, die wir jetzt gemacht haben,
müssen wir für die Zukunft die Einheit der Rechtsord-
nung für ganz Europa festschreiben. Das ist unsere Auf-
gabe.
Ich gebe dem Kol-legen Hans-Christian Ströbele das Wort zu einer per-sönlichen Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsord-nung.
gen! Selbstverständlich bin auch ich erleichtert und frohdarüber, daß die Bombardierungen und die Vertreibun-gen im ehemaligen Jugoslawien gestern beendet wurden.Auch ich sehe und erkenne an, daß diese Bundesregie-rung – allen voran der Außenminister – beim Zustande-kommen dieser diplomatischen Lösung ein erheblichesMaß an Verdiensten haben.
Natürlich begrüße auch ich, daß die Russen in dieVerhandlungen einbezogen worden sind und daß derganze Friedensprozeß im ehemaligen Jugoslawien durchdas Mandat der UNO gestern nun endlich auf eine völ-kerrechtliche Grundlage gestellt werden konnte.Auch ich lehne deshalb den Antrag der Bundesregie-rung und die deutsche Beteiligung an der Friedenssiche-rung nicht ab. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen,bei aller Freude und bevor hier der Stolz ausbricht, dür-fen wir doch nicht vergessen, daß der militärische Teilder Doppelstrategie der NATO zu Tausenden von Toten,zu Tausenden von verletzten, verstümmelten Menschenin Serbien und im Kosovo geführt hat, daß einem gan-zen Volk die Lebensgrundlage weggebombt worden istund daß einem ganzen Land die Infrastruktur zusam-mengebombt worden ist. Das dürfen wir nicht verges-sen.Den Versuch der Bundesregierung, in ihrem Antragnachträglich zu rechtfertigen, daß der militärische Teilder Doppelstrategie der NATO ohne völkerrechtlicheGrundlage gegen das Völkerrecht praktiziert worden ist,mit diesen fürchterlichen Folgen, mit diesem viel zu ho-hen Preis, lehne ich ab.Ich bin der Auffassung, daß in dem Antrag und in denPapieren, auf die in dem Antrag Bezug genommen wird,erhebliche Risiken für den Friedensprozeß, im Kosovound in den benachbarten Ländern übriggeblieben undnicht beseitigt worden sind. Ich will diese vier Risikennur kurz andeuten.Erstens. Die Rolle der russischen Soldaten ist nachwie vor ungeklärt.Zweitens. Die Entwaffnung der UCK ist im Gegen-satz zur Entwaffnung der serbischen Militärs weitge-hend ungeklärt.Drittens. Wenn man weiß, daß der neue Stabschef derUCK, ein Brigadegeneral aus Kroatien, an ethnischenSäuberungen in Kroatien beteiligt war und direkte Ver-antwortung für die Vertreibung von Hunderttausendenvon Serben aus der Krajina mitträgt, dann kann man dieAngst und die Furcht der Serben im Kosovo vor Ver-treibungen und vor Massakern, die ihnen jetzt mögli-cherweise bevorstehen, verstehen.
Christian Schmidt
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Ich nenne ein letztes wesentliches Risiko, das nichtbeseitigt worden ist. Wenn man das tut, was hier vonmehreren Rednern, auch von der Bundesregierung, an-gekündigt worden ist, daß man Serbien keine ökonomi-sche Unterstützung gewähren wird, solange Milosevicdort Präsident ist und dort keine demokratischen Ver-hältnisse hergestellt sind, dann nimmt man wiederumdie gesamte serbische Bevölkerung in Haftung für das,was Staatspräsident Milosevic verbrochen hat, undnimmt in Kauf, daß diesem Volk die Lebensgrundlagenvorenthalten werden, daß es geradezu zur Flucht auchnach Mitteleuropa gezwungen wird.Aus diesen Gründen lehne ich den Antrag der Bun-desregierung zwar nicht ab, aber ich kann ihm auchnicht zustimmen. Ich werde mich wie einige andereKollegen aus der Bündnisgrünen-Fraktion enthalten.
Ich schließe die
Aussprache.
Es sollen einige weitere Erklärungen nach § 31 unse-
rer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben werden, und
zwar eine Erklärung des Kollegen Wolfgang Börnsen
, eine gemeinsame Erklärung der Kollegen
Annelie Buntenbach, Monika Knoche, Steffi Lemke,
Irmingard Schewe-Gerigk, Christian Simmert und Syl-
via Voß, eine Erklärung von Dr. Antje Vollmer, eine
weitere gemeinsame Erklärung von Dr. Hermann
Scheer, Dr. Axel Berg, Ute Vogt und Ha-
rald Friese, eine weitere gemeinsame Erklärung von
Christian Sterzing, Claudia Roth , Winfried
Hermann, Hans-Josef Fell und Winfried Nachtwei sowie
eine Erklärung von Detlev von Larcher.*)
*) Anlage 2
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun-
mehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bun-
desregierung zur deutschen Beteiligung an einer inter-
nationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewähr-
leistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlings-
rückkehr und zur militärischen Absicherung einer Frie-
densregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Re-
solution 1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Natio-
nen vom 10. Juni 1999, Drucksache 14/1133 und
14/1136. Der Ausschuß empfiehlt, dem Antrag der Bun-
desregierung zuzustimmen. Es ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. –
Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne
die Abstimmung. –
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentli-
chen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Liebe Kolleginnenund Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder er-öffnet.Ich gebe das von den Schriftführern und Schriftführe-rinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den Kosovo-Antrag der Bundesregierung be-kannt: Abgegebene Stimmen 540. Mit Ja haben ge-stimmt 505, mit Nein haben gestimmt 24, Enthaltungen11. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 540;davon:ja: 505nein: 24enthalten: 11JaSPDBrigitte AdlerGerd AndresRainer ArnoldHermann BachmaierErnst BahrDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Ingrid Becker-InglauDr. Axel BergHans-Werner BertlFriedhelm Julius BeucherPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigKlaus BrandnerAnni Brandt-ElsweierWilli BraseRainer Brinkmann
Hans-Günter BruckmannDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkWolf-Michael CatenhusenDr. Herta Däubler-GmelinChristel DeichmannKarl DillerPeter DreßenRudolf DreßlerDetlef DzembritzkiDieter DzewasDr. Peter EckardtLudwig EichMarga ElserPeter EndersGernot ErlerAnnette FaßeLothar Fischer
Gabriele FograscherNorbert FormanskiRainer FornahlHans ForsterDagmar FreitagLilo Friedrich
Harald FrieseAnke Fuchs
Arne FuhrmannMonika GanseforthKonrad GilgesIris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacGünter Graf
Angelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnWolfgang GrotthausKarl-Hermann Haack
Hans-Joachim HackerKlaus HagemannManfred HampelChristel HanewinckelAlfred HartenbachAnke HartnagelKlaus HasenfratzNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerFrank HempelDr. Barbara HendricksGustav HerzogMonika HeubaumReinhold Hiller
Stephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Frank Hofmann
Ingrid HolzhüterHans-Christian Ströbele
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Eike HovermannChristel HummeBarbara ImhofBrunhilde IrberGabriele IwersenRenate JägerJann-Peter JanssenIlse JanzDr. Uwe JensVolker Jung
Johannes KahrsUlrich KasparickSabine KaspereitSusanne KastnerHans-Peter KemperKlaus KirschnerMarianne KlappertSiegrun KlemmerHans-Ulrich KloseFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfKonrad KunickDr. Uwe KüsterWerner LabschChristine LambrechtBrigitte LangeChristian Lange
Detlev von LarcherChristine LehderRobert LeidingerDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Erika LotzDr. Christine LucygaDieter Maaß
Winfried ManteDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkUlrike MascherChristoph MatschieIngrid Matthäus-MaierUlrike MehlUlrike MertenAngelika MertensDr. Jürgen Meyer
Ursula MoggChristoph MoosbauerSiegmar MosdorfJutta Müller
Christian Müller
Volker Neumann
Dr. Edith NiehuisDr. Rolf NieseDietmar NietanGünter OesinghausEckhard OhlLeyla OnurManfred OpelHolger OrtelAdolf OstertagKurt PalisAlbrecht PapenrothDr. Willfried PennerDr. Martin PfaffGeorg PfannensteinJohannes PflugDr. Eckhart PickJoachim PoßKarin Rehbock-ZureichMargot von RenesseRenate RennebachBernd ReuterDr. Edelbert RichterReinhold RobbeGudrun RoosDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Birgit Roth
Gerhard RübenkönigThomas SauerDr. Hansjörg SchäferGudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyDieter SchlotenHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Regina Schmidt-ZadelHeinz Schmitt
Carsten SchneiderWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserGerhard SchröderGisela SchröterDr. Mathias SchubertRichard Schuhmann
Brigitte Schulte
Volkmar Schultz
Ilse SchumannEwald SchurerDr. R. Werner SchusterDietmar Schütz
Dr. Angelica Schwall-DürenErnst SchwanholdBodo SeidenthalErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWieland SorgeWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltAntje-Marie SteenLudwig StieglerRolf StöckelRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJoachim TappeDr. Gerald ThalheimFranz ThönnesUta Titze-StecherAdelheid TröscherHans-Eberhard UrbaniakRüdiger VeitGünter VerheugenSimone ViolkaUte Vogt
Hans Georg WagnerHedi WegenerDr. Konstanze WegnerWolfgang WeiermannReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerDr. Rainer WendHildegard WesterLydia WestrichDr. Margrit WetzelDr. Norbert WieczorekHelmut Wieczorek
Jürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDieter WiefelspützHeino Wiese
Klaus WiesehügelBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenHanna Wolf
Waltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfDr. Christoph ZöpelPeter ZumkleyCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannBrigitte BaumeisterMeinrad BelleDr. Sabine Bergmann-PohlOtto BernhardtDr. Joseph-Theodor BlankDr. Heribert BlensPeter BleserDr. Norbert BlümFriedrich BohlJochen BorchertWolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschPaul BreuerMonika BrudlewskyGeorg BrunnhuberHartmut Büttner
Peter H. Carstensen
Leo DautzenbergHubert DeittertRenate DiemersThomas DörflingerHansjürgen DossMarie-Luise DöttMaria EichhornAnke EymerIlse FalkDr. Hans Georg FaustIngrid FischbachAxel E. Fischer
Herbert FrankenhauserDr. Gerhard Friedrich
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Jürgen GehbNorbert GeisDr. Heiner GeißlerGeorg GirischMichael GlosDr. Reinhard GöhnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerHermann GröheManfred GrundCarl-Detlev Freiherr vonHammersteinGerda HasselfeldtNorbert Hauser
Hansgeorg Hauser
Ursula HeinenManfred HeiseSiegfried HeliasHans Jochen HenkeErnst HinskenPeter HintzeKlaus HofbauerMartin HohmannJosef HollerithDr. Karl-Heinz HornhuesJoachim HörsterHubert HüppePeter JacobyGeorg JanovskyDr. Harald KahlBartholomäus KalbSteffen KampeterManfred KantherIrmgard KarwatzkiVolker KauderEckart von KlaedenUlrich KlinkertDr. Helmut KohlManfred KolbeNorbert KönigshofenEva-Maria KorsThomas KossendeyRudolf KrausDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesVizepräsident Rudolf Seiters
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3586 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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Karl LamersDr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertDr. Paul LaufsKarl-Josef LaumannPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus Lippold
Dr. Manfred LischewskiWolfgang Lohmann
Julius LouvenDr. Michael LutherErwin MarschewskiDr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzHans MichelbachMeinolf MichelsDr. Gerd MüllerBernward Müller
Elmar Müller
Claudia NolteGünter NookeFranz ObermeierFriedhelm OstEduard OswaldNorbert Otto
Dr. Peter PaziorekAnton PfeiferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaMarlies PretzlaffDr. Bernd ProtznerThomas RachelHelmut RauberPeter RauenChrista Reichard
Hans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerDr. Klaus RoseKurt RossmanithAdolf Roth
Norbert RöttgenDr. Christian RuckDr. Jürgen RüttgersAnita SchäferDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteHeinz SchemkenKarl-Heinz ScherhagGerhard ScheuNorbert SchindlerDietmar SchleeBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt
Hans Peter Schmitz
Dr. Andreas SchockenhoffReinhard Freiherr vonSchorlemerDr. Erika SchuchardtWolfgang SchulhoffClemens SchwalbeWilhelm-Josef SebastianHeinz SeiffertRudolf SeitersBernd SiebertJohannes SinghammerBärbel SothmannAndreas StormDorothea Störr-RitterMax StraubingerMatthäus StreblThomas StroblDr. Rita SüssmuthEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzAngelika VolquartzAndrea VoßhoffDr. Theodor WaigelPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzHeinz Wiese
Hans-Otto Wilhelm
Klaus-Peter WillschMatthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVolker Beck
Angelika BeerMatthias BerningerEkin DeligözDr. Thea DückertFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellAndrea Fischer
Joseph Fischer
Katrin Göring-EckardtRita GrießhaberWinfried HermannAntje HermenauKristin HeyneUlrike HöfkenMichaele HustedtDr. Angelika Köster-LoßackDr. Helmut LippeltDr. Reinhard LoskeKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsCem ÖzdemirSimone ProbstClaudia Roth
Christine ScheelRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Christian SterzingDr. Antje VollmerLudger VolmerHelmut Wilhelm
Margareta Wolf
F.D.P.Hildebrecht Braun
Ernst BurgbacherJörg van EssenUlrike FlachGisela FrickPaul K. FriedhoffDr. Wolfgang GerhardtDr. Karlheinz GuttmacherDr. Helmut HaussmannUlrich HeinrichWalter HircheBirgit HomburgerDr. Werner HoyerUlrich IrmerDr. Klaus KinkelDr. Heinrich KolbJürgen W. MöllemannDirk NiebelGünther Friedrich NoltingGerhard SchüßlerDr. Irmgard SchwaetzerMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Dieter ThomaeDr. Guido WesterwelleNeinSPDUwe HikschRené RöspelCDU/CSUWolfgang Börnsen
Siegfried HornungPDSMaritta BöttcherEva Bulling-SchröterRoland ClausDr. Heinrich FinkDr. Ruth FuchsWolfgang Gehrcke-ReymannDr. Klaus GrehnDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllCarsten HübnerGerhard JüttemannDr. Evelyn KenzlerDr. Heidi Knake-WernerHeidi Lippmann-KastenUrsula LötzerHeidemarie LüthAngela MarquardtKersten NaumannRosel NeuhäuserGustav-Adolf SchurEnthaltenSPDChrista LörcherCDU/CSURenate BlankManfred Carstens
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAnnelie BuntenbachMonika KnocheSteffi LemkeIrmingard Schewe-GerigkChristian SimmertHans-Christian StröbeleSylvia VoßF.D.P.Jürgen KoppelinEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungendes Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPUAbgeordnete(r)Behrendt, Wolfgang, SPDNeumann , Gerhard,SPDBierling, Hans-Dirk,CDU/CSUSiebert, Bernd, CDU/CSUBühler , Klaus,CDU/CSUZierer, Benno, CDU/CSUHaack , Karl-Hermann, SPDVizepräsident Rudolf Seiters
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999 3587
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Bevor ich nunmehr die Aktuelle Stunde aufrufe, gebeich Ihnen noch folgendes bekannt: Interfraktionell wirdvorgeschlagen, den Antrag der Fraktionen der SPD undBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/795 sowieden Antrag der PDS auf Drucksache 14/708, die beideden Bau zweier Atomkraftwerke in der Ukraine betref-fen, nachträglich auch an den Finanzausschuß zur Mit-beratung zu überweisen.Des weiteren soll der bereits zur federführenden Be-ratung an den Verteidigungsausschuß überwiesene An-trag der Fraktion der F.D.P. „50 Jahre NordatlantischesBündnis“, Drucksache 14/792, nunmehr dem Auswärti-gen Ausschuß zur federführenden Beratung und demVerteidigungsausschuß zur Mitberatung überwiesenwerden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENHaltung der Bundesregierung zum Skandalder dioxinverseuchten belgischen LebensmittelIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat für dieSPD-Fraktion der Kollege Karsten Schönfeld.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Hätte ein ehemaliger Bun-desminister diesen Satz nicht in einem anderen Zusam-menhang mißbraucht, könnte ich meine Rede mit einemoptimistischen „Die Lebensmittel in Deutschland sindsicher“ beginnen.Unsere Einzelhändler in den Regionen an der Grenzezu Belgien erleben zur Zeit einen kräftigen Ansturm.Das Vertrauen in unsere Nahrungsmittel ist mit Rechtweiterhin hoch. Nach Bekanntwerden des Dioxinskan-dals sind in allen Bundesländern Kontrollen durchge-führt worden. Bisher sind keine höheren Dioxinwerte inLebensmitteln festgestellt worden. Ganz sicher geht derVerbraucher, wenn er beim Einkauf auf deutsche Pro-dukte zurückgreift.
Die belgische Taktik im Umgang mit dem Dioxin-skandal der Landwirtschaft ist von BundesministerFunke zu Recht scharf kritisiert worden. Es hätte allesdafür getan werden müssen, die Öffentlichkeit frühzeitigund vollständig zu informieren. Die Bundesregierunghat sofort nach Bekanntwerden des Skandals die Öffent-lichkeit umfassend informiert. Die öffentliche Aus-schußsitzung am letzten Montag und die Aktuelle Stun-de heute zeigen, daß wir nichts zu verbergen haben unddaß wir den Dialog mit allen beteiligten und betroffenenMenschen suchen.
Trotzdem ist der Imageschaden für die Landwirt-schaft in ganz Europa enorm, der wirtschaftliche Scha-den ebenfalls. Unsere Konkurrenten auf den wichtigenExportmärkten lachen sich ins Fäustchen. Inzwischenräumen Handelsketten weltweit belgische Nahrungs-mittel aus den Regalen. Auch deutsche Exporte sindschon von der Kettenreaktion erfaßt. Schließlich be-trachtet man in Asien und Amerika die Situation nicht sodifferenziert, wie wir es hier in Europa tun. Ein Le-bensmittelskandal in Belgien wird dann schnell zu einergesamteuropäischen Sache. Auch teure Werbekampa-gnen können das unnötig gestörte Vertrauen so schnellnicht wiederaufbauen.Es hilft deshalb auch nicht, immer wieder nur daraufhinzuweisen, daß bei uns in Deutschland das Problem sonicht entstanden wäre. Wir müssen auf europäischerEbene die notwendigen politischen Konsequenzen ausdem Dioxinskandal ziehen. Die SPD-Bundestagsfraktionfordert zusätzliche Kontrollinstanzen der EuropäischenUnion, damit in allen Nationalstaaten die Lebensmittel-kontrollen vorschriftsgemäß durchgeführt werden.
Zweifelhafte Roh- und Ausgangsstoffe für Futter-mittel müssen von vornherein von der Verarbeitung undVerfütterung ausgeschlossen werden. Wir werden unsdeshalb auf europäischer Ebene für eine Präzisierung derfuttermittelrechtlichen Vorschriften einsetzen.Im deutschen Futtermittelrecht sind alle erforderli-chen Regelungen enthalten, um in den Handel mit bela-stenden Futtermitteln eingreifen zu können. Verstößewerden mit Geldbußen von bis zu 50 000 DM geahndet.Wir müssen uns allerdings auch fragen, ob diese Höheals abschreckende Wirkung ausreicht. Hier müssen wirernsthaft darüber nachdenken, ob eine Verschärfungnotwendig ist.Die SPD-Fraktion fordert seit Jahren eine offene De-klaration der Futtermittelinhaltsstoffe. Der mündigeVerbraucher und auch der Landwirt als Verbraucher vonFuttermitteln müssen wissen, was in den Produkten ent-halten ist. Wenn die Verbraucher genauer Bescheidwüßten, dann würden sie beim Kauf genauer hinsehen.
Wir kämpfen in allen Bereichen für bessere Kennzeich-nungsregelungen. Das ist der entscheidende Schlüssel.Um es ökonomisch zu formulieren: Marktwirtschaftkann nur dann funktionieren, wenn tatsächlich Transpa-renz auf den Märkten herrscht.
Den wirksamsten Schutz – auch das muß gesagt wer-den – bestimmt der Verbraucher über sein Kaufverhaltenallerdings auch selbst. Solange der Trend zu niedrigenPreisen stärker ist als das Verlangen nach hoher Quali-tät, sind die Anreize hoch, bei der Produktion auch zuunerlaubten Mitteln zu greifen. Das ist zwar keine Aus-rede für kriminelle Machenschaften, aber eine Tatsache,die wir bedenken sollten.Wir werden uns für eine nachhaltige Landwirtschaftauch bei den anstehenden WTO-Verhandlungen einset-zen. Die Förderung überschaubarer regionaler Produk-Vizepräsident Rudolf Seiters
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3588 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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tion, der regionalen Stoffkreisläufe und der regionalenVermarktung ist eine wirkungsvolle Maßnahme, umSkandale wie den, über den wir uns jetzt unterhalten, zuverhindern.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Wolfgang
Zöller.
Herr Präsident! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie michzur heutigen Aktuellen Stunde folgende Fragen stellenund einige Anmerkungen machen.Erstens. Welchen Sinn soll die heutige AktuelleStunde haben?
Am 2. Juni dieses Jahres hat die CDU/CSU einen An-trag auf Sondersitzung des Gesundheitsausschusses ge-stellt, der von der SPD abgelehnt wurde.
Die SPD hat dann einen gleichlautenden Antrag einge-bracht. Sie wollte in der darauffolgenden Woche eineAktuelle Stunde abhalten. Gott sei Dank fand allerdingsam letzten Montag eine gemeinsame Sitzung des Ge-sundheitsausschusses und des Landwirtschaftsausschus-ses statt.
Dann stellte die SPD den Antrag, heute eine AktuelleStunde auf die Tagesordnung zu setzen. Was das mitLogik zu tun haben soll, muß mir erst einmal jemand er-klären. Er wird sich dabei auf jeden Fall schwertun.
Man wird den Verdacht nicht los, daß die SPD miteiner vorgeschobenen Aktuellen Stunde das Anliegender F.D.P., eine Aktuelle Stunde zu einem wichtigenThema abzuhalten, verhindern wollte. Das hat mit De-mokratie recht wenig zu tun.
Zweitens. Ich begrüße ausdrücklich das Verhalten derzur Zeit noch in der Opposition befindlichen Fraktionenvon CDU/CSU und F.D.P.,
die nicht wie die frühere Opposition – wie zum Beispielbeim BSE-Skandal – den Eindruck erwecken, als seiBSE in Deutschland und nicht in England ausgebrochen,wohl wissend um all die negativen Auswirkungen aufunsere Landwirtschaft. Deshalb gilt es heute festzuhal-ten: Der Dioxinskandal ist in Belgien passiert. Wir müs-sen alles unternehmen, um unsere Bürgerinnen und Bür-ger vor gesundheitlichen Schäden zu schützen.
Zu dem Vorschlag des SPD-Kollegen, eine bessereDeklaration würde das Problem lösen, kann ich nur fra-gen: Glauben Sie wirklich, daß die Verbrecher in Belgi-en auf die Deklaration schreiben würden, wir haben einbißchen Dioxin in die Produkte gemischt? Wie blauäu-gig sind Sie eigentlich, daß Sie solche Forderungen er-heben?
Drittens. In der gemeinsamen Sitzung des Gesund-heitsausschusses und des Ausschusses für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten hat die Bundesregierungeine Vorgehensweise vorgeschlagen, die wir grundsätz-lich für richtig halten. Allerdings sehen wir in diesemVorschlag zwei Schwachstellen: Zum einen haben sichdie eingeleiteten Maßnahmen, die uns vorgestellt wur-den, nur auf bestimmte Geflügelerzeugnisse beschränkt,als nicht ausreichend erwiesen. Aus diesem Grundehalte ich die Pressemitteilung des Gesundheitsministe-riums vom 2. Juni für fachlich falsch. Darin schreibt dieMinisterin: Mit der Entscheidung, bestimmte Geflügel-erzeugnisse vom Markt zu nehmen, ist der Verbraucher-schutz gesichert.Zum anderen muß der Vertriebsweg des verseuchtenMaterials klar nachvollziehbar sein, um die Folgepro-dukte ebenfalls vom Markt nehmen zu können. Eine sol-che Maßnahme muß sehr schnell und gründlich durchge-führt werden, um das Vertrauen in die Lebensmittelwiederherzustellen.Im übrigen kann ich nur jedem empfehlen: KaufenSie deutsche Produkte mit Qualitätsnachweis. Dies istder beste Schutz vor verseuchtem Material.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Siemich noch einen Punkt ansprechen, den ich für sehrwichtig halte. Das Strafmaß für solch kriminelles Han-deln muß schnellstmöglich europaweit wesentlich ver-schärft werden. Wer aus Profitgier wissentlich die Ge-sundheit der Menschen aufs Spiel setzt, darf nicht miteiner läppischen Geldstrafe davonkommen. Solchenskrupellosen Geldgeiern muß die Möglichkeit, mit Le-bensmitteln zu handeln, auf Lebenszeit entzogen wer-den.Ich danke Ihnen.
Karsten Schönfeld
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999 3589
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Als nächste Redne-
rin spricht die Kollegin Marita Sehn, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Auch ich frage: Was ist eigentlich aktuell
an der heutigen Aktuellen Stunde? Die Fraktionen der
Grünen und der SPD wollen mehr über die Haltung der
Bundesregierung zum Skandal der dioxinverseuchten
belgischen Lebensmittel wissen. Hat sich die Haltung
der Bundesregierung seit Montag, seit der gemeinsamen
Sitzung von Ernährungs- und Gesundheitsausschuß ver-
ändert? Nein, vielmehr geht es heute einzig und allein
darum, die von uns beantragte Aktuelle Stunde
zum Schröder/Blair-Papier zu verhindern. Das ist der
Grund.
Die europäische Integration darf sich nicht nur auf
Richtlinien und Verordnungen stützen, sondern muß vor
allem von dem Vertrauen der Partnerstaaten untereinan-
der getragen werden. In dem Schröder/Blair-Papier, das
die SPD am liebsten nicht öffentlich diskutieren will
– sie traut sich nicht, es hier im Deutschen Bundestag
vorzustellen –, steht:
Allzuoft wurden Rechte höher bewertet als Pflich-
ten . . . Geht der Gedanke der gegenseitigen Ver-
antwortung verloren, so führt dies zum Verfall des
Gemeinsinns, zu mangelnder Verantwortung ge-
genüber Nachbarn . . . und einer Überlastung des
Rechtssystems.
Nichts anderes steht in den Wiesbadener Grundsätzen
der F.D.P. Ich bin darauf gespannt, wie Sie das Zauber-
wort „Umdenken“ in Ihrer Partei demnächst behandeln
werden.
Der Verlauf des Dioxinskandals war leider nicht von
Verantwortung und Vertrauen geprägt. Wie kommt es,
daß zwar Paris und Den Haag von der belgischen Regie-
rung über die entdeckten Dioxinverseuchungen infor-
miert wurden, aber nicht Deutschland als EU-Ratspräsi-
dentschaft und auch nicht die EU-Kommission? Was hat
Frankreich und die Niederlande daran gehindert, ihrer-
seits die Erkenntnisse weiterzugeben?
Ich möchte daran erinnern: Die ersten Hinweise lagen
bereits Mitte Februar, die ersten Untersuchungsergeb-
nisse Mitte März vor. Deshalb sind zusätzliche und in-
tensivierte Kontrollmaßnahmen nicht der Weg in die
Zukunft, sondern nur ein Schritt zu noch mehr Bürokra-
tie und Regulierung, von denen alle Betriebe betroffen
wären.
Entscheidend ist vielmehr, daß die bereits bestehen-
den Kontrollen nicht zum Selbstzweck verkommen. Was
nützt es, Erkenntnisse zu gewinnen, wenn diese nicht
weitergegeben und verfolgt werden? Aufgedeckte Ver-
stöße müssen zu Konsequenzen führen und die wenigen
schwarzen Schafe hart bestraft werden, um die Mehrheit
der vorbildlichen Betriebe zu schützen.
Denn das größte Kapital der Landwirte ist das Ver-
trauen der Verbraucher in die Qualität erzeugter Pro-
dukte, in die tatsächliche Anwendung der insbesondere
in Deutschland hohen Umwelt-, Gesundheits- und Hy-
gienestandards und in die Verläßlichkeit der Verbrau-
cheraufklärung. Kriminelle Machenschaften und
Schlampereien, die zwar entdeckt, aber nicht konsequent
öffentlich gemacht und verfolgt werden, erschüttern die-
ses Vertrauen nachhaltig. Sie schaden dem Verbraucher-
schutz und dem Ansehen der Landwirte erheblich.
Schnelles Handeln ist jetzt erforderlich. Die Verursa-
cher müssen hart bestraft werden. Eine ausgedehnte
neue Kennzeichnungsverordnung hilft nach meiner An-
sicht nicht weiter. Wer mit Dioxin verunreinigtes Fett
verwendet, wird dies kaum auf das Etikett schreiben –
Pflicht hin oder her.
Aber was auch immer im einzelnen getan wird, eines
ist grundsätzlich klar: Die Verbraucher in Deutschland
leben am gesündesten, wenn sie deutsche Produkte kau-
fen. Die Skandale um BSE und Dioxin haben dies ein-
mal mehr bewiesen.
Was soll man denn davon halten, wenn es in Belgien
Containersammelstellen gibt, in die jeder sein altes Fett
aus dem Haushalt entsorgen kann, und die gesammelten
Fette dann verfüttert werden. In einem Brief an ihre Bot-
schaften im Ausland hat die belgische Regierung die
hohe Qualität der Nahrungsmittel gelobt und festgestellt:
Die Belgier lieben ihr Essen. Dem kann ich nur entgeg-
nen: Und die Deutschen lieben ihre Gesundheit.
Angesichts der Weigerung Brüssels, potentiell ver-
seuchte Milch vom eigenen Markt zu nehmen, kann
einem die belgische Bevölkerung, die unnötigen Risiken
ausgesetzt wird, nur leid tun. Wo bleibt hier der Ver-
braucherschutz?
Der wirtschaftliche Schaden für die unbeteiligten
deutschen Landwirte läßt sich derzeit noch nicht ab-
schätzen. Aber die zahlreichen generellen Einfuhrbe-
schränkungen von ungefähr 20 Drittländern verheißen
nichts Gutes. Die Einkommensausfälle der Landwirte
müssen auf jeden Fall ausgeglichen werden. Die Haf-
tung für die Ausfälle kann niemand anderes als der Ver-
ursacher übernehmen: die belgische Regierung.
Für die PDS-
Fraktion spricht die Kollegin Kersten Naumann.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Sie sind sicherlich mit mir einerMeinung, daß die Gesundheit der Bürger eines der höch-sten zu schützenden Güter ist. Die Gefahren, die vondem hochtoxischen Seveso-Gift Dioxin ausgehen, sindvöllig unstrittig. Der feste Wille, alles dafür zu tun, daß
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3590 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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dieses Gift nicht in die Nahrungskette gelangt, wirdniemandem in der Bundesrepublik abgesprochen. Auchdas Kontrollsystem zur Verhinderung der Belastung vonNahrungsmitteln mit gesundheitsschädlichen Stoffenwird auf einem hohen Niveau als ausreichend einge-schätzt.Schon am Montag wurde in einer gemeinsamen Sit-zung des Gesundheits- und des Agrarausschusses deut-lich, daß alle ihre Hände in Unschuld waschen. DerHintergrund ist klar: Der Schwarze Peter wird der belgi-schen Regierung zugeschoben. Damit wird versucht,von den eigenen und wirklichen Versäumnissen in derLebensmittelsicherheit abzulenken. Auch Deutschlandhatte und hat seine Lebensmittelskandale. Ich denke nuran die 4 000 notgeschlachteten Hormonkälber in Nord-rhein-Westfalen.Die Dioxingefahr – nicht nur diese – begleitet unsstetig. Sie ist also kein speziell belgisches Problem. Er-innert sei nur an den Dioxinunfall im März dieses Jahresin Duisburg und an die Dioxinwolke durch PVC bei derDüsseldorfer Flughafenkatastrophe. Niemand soll nachder heutigen Debatte sagen, in Deutschland seien keineneuen Fälle von Verletzungen des Lebensmittelrechts,des Tier- und Umweltschutzes möglich.Die in der gemeinsamen Ausschußsitzung erhobenenForderungen nach strengeren Strafen, nach Entzug derBetriebsgenehmigung, nach Schaffung einer gesamteu-ropäischen Kontrollinstanz setzen an den Symptomenan, nicht aber an der Ursache. Welche Forderungenwerden wir noch hören, wenn die Ernährungsindustrievollständig globalisiert ist, in einer Handvoll wenigerMultis liegt und Risikotechnologien, wie die Gentech-nik, zum Alltag gehören?
Wird nun jedes Land versuchen, mit Umwelt- und Ge-sundheitsstandards seine Grenzen dichtzumachen? Wer-den die Großen und Mächtigen dann die Kleinen nochstärker erpressen, um zum Beispiel ihr Hormonfleischabzusetzen?Es ist überhaupt nicht nachzuvollziehen, welcheneuen Erkenntnisse durch die heutige Veranstaltung ge-wonnen werden sollen. Wenn die Bundesregierung hierheute keine Änderungen erreicht, warum hat dann dieRegierung aus taktischen Gründen die Aktuelle Stundeüber das Schröder/Blair-Papier aus der Debatte hinaus-lanciert?
Doch sicher, weil es in seinem Kern wiederum auf dieSicherung von Profiten gerichtet ist.
Für die soziale Sicherheit soll zukünftig jeder selbst ver-antwortlich sein.Nur durch die Veränderung der Agrarproduktion undder gesamten Kette der Nahrungsgüterwirtschaft könnenviele Ursachen der Gesundheitsgefährdung reduziertwerden. Sicherheiten sowohl in der Wirtschaft als auchfür den Verbraucher kann nur der ökologische Landbaugeben.
Denn nur bei ökologischen Produkten mit dem Siegelder Verbände des ökologischen Landbaus ist geklärt,was den konventionellen Lebensmitteln fehlt. Das be-trifft die Herkunftskennzeichnung, die strengen Kon-trollmechanismen und nicht zuletzt die Gewißheit übergesundheitliche Unbedenklichkeit.Wer jedoch für Globalisierung plädiert, gibt nicht nurdie Kontrolle über die Produktion aus der Hand. Auchder Steuerzahler muß dann für die Vernichtung der Le-bensmittel oder Tiere, also mehr oder weniger für dengesamten Kostenaufwand, der einem Lebensmittelskan-dal anhängt, aufkommen und letztendlich mit seiner Ge-sundheit bezahlen. Die Globalisierung ermutigt dazu,aus Profitinteressen gesetzliche Vorschriften zu umge-hen.Schon vor 150 Jahren formulierte der EngländerDunning folgendes:Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit vonProfit . . . wie die Natur vor der Leere. Mit entspre-chendem Profit wird Kapital kühn.
Er schrieb, bei 50 Prozent werde das Kapital waghalsig.Für 100 Prozent stampfe es alle menschlichen Gesetzeunter seinen Fuß. Aber bei 300 Prozent existiere keinVerbrechen, das es nicht riskiere, selbst auf die Gefahrdes Galgens. – Meine Damen und Herren, es ist nicht zuerkennen, daß sich an dieser Aussage von vor 150 Jah-ren etwas gegenüber der heutigen Situation geändert hat.
Was wir dringend brauchen, sind regionale Wirt-schaftskreisläufe. Die Tierproduktion könnte zum Bei-spiel Bestandteil einer Vertragslandwirtschaft sein, beider sich die Partner auf ein strenges Produktionsregimeeinigen. So können sie den Einsatz von gesundheitsge-fährdenden Stoffen ausschließen und die Herkunft derErzeugnisse exakt nachweisen. Treten in einer solchenKette Pannen auf, dann ist von den Folgen nur dieseKette betroffen. Für die übrigen Landwirte halten sichdie Auswirkungen in Grenzen. Zugleich haben die Ver-braucher die Chance, durch ihre Kaufentscheidung di-rekt auf einen bestimmten Hersteller Einfluß zu nehmen.Die erfolgreiche Bekämpfung der Ursachen von Le-bensmittelskandalen setzt neben der staatlichen aucheine gesellschaftliche Kontrolle der Produktion voraus.Sie darf sich nicht nur auf die Einhaltung bestimmterVorschriften beschränken. Die Gestaltung der Produk-tion und die Verwendung der Gewinne sind vielmehr indiese gesellschaftliche Kontrolle einzuschließen.Danke.
Für die Bundesre-gierung spricht nunmehr die Bundesministerin für Ge-sundheit, Frau Andrea Fischer.Kersten Naumann
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Politi-ker und Vertreter der Medien, die in den letzten Tagendas, was in Belgien bei der Verunreinigung von Futter-mitteln durch ungeeignetes Öl geschehen ist, als Skandalbezeichnet haben, haben recht. Dieser Skandal hat weit-reichende Folgen für die Verbraucherpolitik. Er hat dasVertrauen in die Lebensmittelsicherheit erschüttert. Erhat das Vertrauen in die europäischen Institutionen, diediese Lebensmittelsicherheit zu wahren haben, erschüt-tert, und er hat das Vertauen in all diejenigen Produzen-ten und Händler erschüttert, die mit dieser Verunreini-gung gar nichts zu tun haben, weil sie anständig produ-zieren.
Das ist ein Vertrauensverlust, der uns sicherlich nochlange beschäftigen wird und der vor dem Hintergrunddessen, was geschehen ist, nur sehr schwer zu heilensein wird.Es ist soeben gesagt worden, daß wir alles auf diebelgische Regierung schieben würden. Es tut mir leid:Da uns die belgische Regierung über Wochen hinwegnicht informiert hat und wir deswegen erst zu einem sehrspäten Zeitpunkt tätig werden konnten, muß ich fest-stellen, daß die Ursache bei der belgischen Regierungliegt.Auf dem Gesundheitsministerrat am letzten Dienstaghat übrigens der neue belgische Kollege, der für die Ge-sundheitspolitik zuständig ist, ausdrücklich zugegeben,daß die belgische Regierung einen Fehler gemacht hat.Die anderen Gesundheitsminister der EuropäischenUnion haben – um es diplomatisch zu formulieren – ihreVerärgerung über die Informationspolitik der belgischenRegierung zum Ausdruck gebracht und ihrer Befürwor-tung der sehr drastischen Maßnahmen der EU-Kommis-sion Ausdruck verliehen. Belgien hatte ja kritisiert, daßdie EU-Kommission so sehr in den Handel eingegriffenhatte. Von seiten der anderen Gesundheitsminister derEU wurde Unterstützung für das Vorgehen der EU-Kommission signalisiert und klargemacht, daß ihnenallen eine Lebensmittelkontrolle im Sinne eines vorbeu-genden Verbraucherschutzes sehr wichtig ist.Wir haben bereits am Montag dieser Woche im zu-ständigen Ausschuß über folgendes gesprochen: Jede In-stitution und jedes Regelwerk müssen ständig überprüftwerden. Im Lichte der Erfahrungen der letzten Wochewird man das tun müssen. Aber ich will darauf beharren:Jede Regelung bzw. jede Verabredung, die zum Beispielin diesem Falle zwischen Staaten getroffen wird, ist nurso gut wie diejenigen, die sich daran halten.
Aus der Tatsache, daß ein Akteur einen Fehler gemachthat, würde ich noch nicht schließen, daß das ganze Sy-stem nicht taugt. Wir sollten klarmachen, daß ein sol-ches System nur funktionieren kann, wenn sich alle andessen Regeln halten.Die EU-Kommission hat, nachdem sie davon erfah-ren hat, Exportverbote für Lebensmitteltiere und Le-bensmittel tierischer Herkunft aus Belgien ausgespro-chen. Das ist, wie gesagt, von der belgischen Regierungkritisiert, von den übrigen Mitgliedern des EU-Gesund-heitsministerrats aber unterstützt worden. Diese EU-Ent-scheidungen sind am 3. und 4. Juni gefallen.Herr Kollege Zöller, im nachhinein haben Sie mit Ih-rer Kritik an meiner Presseerklärung recht. Am 2. Junihaben wir aber noch nicht gewußt, daß diese Exportver-bote auch auf Schweine und Rinder aus Belgien ausge-dehnt werden. Wir sind davon ausgegangen, daß es nurum Geflügelprodukte geht. – Wir haben die Informationnach Bekanntwerden aber sofort weitergegeben und diesmit einer Dringlichkeitsverordnung auf eine sichererechtliche Grundlage gestellt.
Obwohl ich am Dienstag mit einer gewissen Erleich-terung die Selbstkritik der belgischen Regierung im EU-Gesundheitsministerrat vernommen habe, muß ich klar-stellen, daß wir noch immer nicht die Vertriebswege derLebensmittel tierischer Herkunft und der Lebensmittel-tiere, die mit diesem dioxinverseuchten Futter gefüttertworden sind, kennen, auch nicht die Behörden, die dieseUnbedenklichkeitsbescheinigungen ausstellen. Es bleibtuns also überhaupt nichts anderes übrig, als ein Ver-marktungsverbot für sämtliche Produkte aus Belgienauszusprechen. Wir verfügen nämlich nicht über Infor-mationen, um die Guten von den Schlechten unterschei-den zu können. Das heißt: Die Verordnung trifft natür-lich auch die Erzeugnisse unbeteiligter Wirtschaftsak-teure. Angesichts dieser Politiklage aber ist die Situationschwierig.Wir haben aus Belgien bislang zehn Untersuchungs-ergebnisse mit deutlich erhöhten Dioxinwerten erhalten.Zu meiner Erleichterung sind alle Messungen, die inDeutschland zum Abschluß gekommen sind – Sie wis-sen, das dauert seine Zeit –, negativ. Es gibt nur eineneinzigen Fall mit einem leicht erhöhten Dioxinwert. Wirhaben in Deutschland also bislang nur Produkte mitgesundheitlich unbedenklichen Werten gefunden. Daswird uns jedoch nicht beruhigen. Wir werden weiterdaran arbeiten, auch daran, eine Dioxinbelastung zuvermeiden.Noch ein Nachtrag zur schlechten Informationspolitikder belgischen Regierung: Wir haben gestern von seitender belgischen Regierung den Hinweis bekommen, daßdie Produkte zusätzlich noch auf PCB zu untersuchenseien. Unsere Behörden haben aber ohnehin schon aufPCB getestet. Wir hatten immer vorgeschlagen, diessicherheitshalber zu tun. – Wir haben diesen Hinweisgestern direkt an die Landesbehörden weitergegeben.Ich habe heute nachmittag gehört, daß es aus Belgienerste Werte gibt. Die Ergebnisse kann ich Ihnen nochnicht mitteilen; das wird zur Zeit beim Bundesinstitutfür gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinär-medizin geprüft.Es ist wirklich sehr mißlich, mit welcher Verzöge-rung dies bei uns bekannt wird. Wir haben aber allesgetan, die Informationen so weiterzugeben, wie es not-wendig ist. Ich hoffe, daß die Prüfungsergebnisse hiernegativ sind.
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3592 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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Lieber Herr Kollege Zöller, ich will ausdrücklichsagen, daß ich es sehr schätze, daß die Opposition keinePanikmache gestartet hat. Die Lage ist zu ernst; wirmüssen uns darum kümmern. Ich sehe es aber wie Sie:Es gibt zur Zeit keine Veranlassung zur Panikmache.Lassen Sie mich abschließend noch einen persönli-chen Gedanken anschließen. Ich finde schon, daß es unsals Verbraucherinnen und Verbraucher nachdenklichmachen muß, wie oft wir in den letzten Jahren mit sol-chen Problemen konfrontiert worden sind. Ich sprechehier ausdrücklich auch als Verbraucherin, die selberLebensmittel kauft und ißt. Es sollte uns einmal inne-halten lassen, wie hoch dadurch, was wir kaufen, nachwelchen Kriterien wir unsere Lebensmittel auswählen,unser Anteil an einer industrialisierten Landwirtschaftist. Nachher erst ärgern wir uns über die Folgen dessen.Das sollte für uns alle Anlaß sein, noch einmal darübernachzudenken.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-
Fraktion gebe ich der Kollegin Heidi Wright das Wort.
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Die Europäische Union be-steht weiß Gott nicht aus Bananenrepubliken, wenn-gleich wir ein europäisches Bananenproblem haben.Die EU besteht aus 15 Nationen, die sich in europäi-schen Verträgen, Richtlinien und Rechtsakten ihren poli-tischen und administrativen Rahmen geben. So wurdeim Oktober 1995 die Richtlinie 95/53 des Rates mit denGrundregeln für die Durchführung der amtlichen Fut-termittelkontrollen erlassen. Weiter hat die EuropäischeUnion einen Ständigen Veterinärausschuß und einSchnellwarnsystem.So weit, so gut, wenn nicht ein Dioxinskandal viaBelgien uns wieder einmal eines Schlechteren belehrenwürde.Zum Schnellwarnsystem. Vor dem Warnen gibt es jaerst einmal Warnsignale, zum Beispiel wenn Hühnerschlecht schlüpfen, ein schlechtes Legeverhalten habenoder von der Stange fallen – nein, da sitzen sie ja schonlängst nicht mehr. Wenn diese Warnsignale jedoch, wiein unserem Nachbarland Belgien, nicht schnell beachtet,sondern unverantwortlich langsam, ja in unglaublicherIgnoranz mißachtet werden, wird einem Skandal derWeg bereitet, der in seinem Sog mehr und mehr Berei-che mit sich zieht. Die Folgen sind horrende betriebs-wirtschaftliche und volkswirtschaftliche Schäden undwieder einmal ein politisches Chaos, das seinesgleichennur im BSE-Skandal findet.Kurz zum Ablauf und zum belgischen Umgang mitdem Schnellwarnsystem. Am 19. März wurde das belgi-sche Landwirtschaftsministerium über Probleme in eini-gen Tierbeständen unterrichtet und brauchte bis zum26. April, um in Analysen hohe Dioxinkonzentrationenaufzuzeigen. Jedoch weder am 19. März noch am26. April warnte das belgische Landwirtschaftsministe-rium schnell, sondern erst, nachdem Domino um Domi-no fielen, am 27. Mai in einer Pressemitteilung.Die politische Mißachtung der europäischen Ebenemacht diesen Skandal, der – das betone ich – ein Skan-dal in der Entsorgungsbranche ist, erst wirklich zu einemDesaster für die Futtermittelbranche sowie zu einemFiasko für die belgische Landwirtschaft und ist einschwerer Schaden für den gesamten Verbraucherschutz.Festzuhalten ist: Für die deutschen Verbraucher wur-de und wird alles getan, um kontaminierte Futter- undLebensmittel aufzuspüren und zu beschlagnahmen.Festzuhalten ist: Die Bundesregierung hat angemessenund schnell gehandelt.
Festzuhalten ist: Der deutsche Verbraucher kann sichauf die Mechanismen der deutschen Kontrollsystemeverlassen, und das muß auch so sein. Jede Schludrigkeitund jedes Nachlassen wären fatal.Hier will ich mit erhobenem Zeigefinger in Erinne-rung rufen, daß manches Mal über diese besonderendeutschen Kontrollen gestöhnt wurde und der Blick ge-rade in die belgische Nachbarschaft gerichtet wurde, woalles nicht so stur deutsch kontrolliert wird. Ich denke,Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Dies gilt insbe-sondere im Zusammenhang mit landwirtschaftlicherProduktion. Wir dürfen doch mit gutem Selbstbewußt-sein unseren Verbrauchern gegenüber sagen, daß allesgetan wird, um die Lebensmittelsicherheit ständig zu er-höhen. So gibt es – um dies bei dem Skandalgift Dioxinaufzuzeigen – in Deutschland eine eigene Bund-Länder-Arbeitsgruppe Dioxin.Aber natürlich ist der Verbraucher auch selbst ge-fragt. Wer nur das billigste Lebensmittel nachfragt, werdie Frage nach der Herkunft erst dann stellt, wenn derSkandal in der Zeitung steht, wer sich nicht darumschert, wo, wie und von wem produziert wird, hat zwarnatürlich ein Anrecht auf Lebensmittelsicherheit, aber ermacht diesen Weg der Lebensmittelsicherheit immerschwerer. Deshalb sage ich: Sicherheit, Kontrolle undQualität haben ihren Preis, der auch offensiv zu vertre-ten ist. Dieser Preis macht sich im Bauernladen, in derMetzgerei, aber auch an der Konsumtheke in Mark undPfennig fest.
Ich habe in dieser Woche meinen Futtermittelher-steller vor Ort aufgesucht, von dem ich weiß, daß er kei-ner der ganz großen, aber einer der ganz tollen ist. Dortwerden nämlich über die staatliche Kontrolle hinaus einebetriebseigene Laborüberwachung und eine Warenein-gangskontrolle durchgeführt. Das kostet natürlich etwas,zunächst den Betrieb, dann den Abnehmer, schafft aberauch etwas, nämlich Vertrauen und Sicherheit. Davonkönnen wir nicht genug haben.Bundesministerin Andrea Fischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999 3593
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Vielen Dank.
Als nächster Redner
hat das Wort der Kollege Peter Bleser von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Auch wenn es weh tut, ich muß esnoch einmal sagen: Diese Aktuelle Stunde ist aus par-teitaktischen Gründen zustande gekommen,
weil die Sozialdemokraten gefürchtet haben, das Schrö-der/Blair-Papier zu diskutieren.
Ich kann das nur so werten, daß Sie eine panische Angstvor den Folgen der Eskapaden Ihres Bundeskanzlers undvor der Diskussion hier im Plenum haben.
Trotzdem hat diese Aktuelle Stunde etwas Gutes.
Deshalb ist sie notwendig. Das Thema ist es auch wert,in diesem Saal diskutiert zu werden.Der Dioxinskandal in Belgien hat für mich zunächsteinmal drei Aspekte. Erstens: die strafrechtliche Verfol-gung der Täter. Zweitens: die politischen Konsequen-zen, die daraus zu ziehen sind. Drittens: Wie können wirdas Vertrauen der Verbraucher dauerhaft zurückgewin-nen?Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, daß beider Verfolgung der Verantwortlichen für diesenschlimmen Lebensmittelskandal die volle Härte des Ge-setzes angewendet wird.
Der Schaden allerdings, der über 2 000 landwirtschaftli-chen Betrieben, die dieses Futter ahnungslos verwand-ten, entstanden ist, aber auch der Schaden der Handels-unternehmen und der Verbraucher, muß ersetzt werden.Ich verlange diesen Ersatz zur Not auch vom belgischenStaat, wenn bei den Unternehmen nichts mehr zu holensein sollte.
Darüber hinaus haben die politisch Verantwortlichen,wenn sie es noch nicht getan haben, die Konsequenzenzu ziehen. Auch die Mitwisserschaft über einen Le-bensmittelskandal muß geahndet werden. Offensichtlichfunktioniert nämlich die Unterrichtung zwischen denMitgliedstaaten der EU überhaupt nicht; denn sonst wärees kaum vorstellbar, daß sowohl der französische wieauch der niederländische Landwirtschaftsminister ihrfrühzeitiges Wissen über diesen Futtermittelskandal, dermittlerweile mehrere Staaten umfaßt, für sich behaltenkonnten.Der Bundesregierung will ich keinen Vorwurf überdie Art und Weise machen, wie sie nach dem Bekannt-werden der Ereignisse reagiert hat. Was ich Ihnen abervorwerfe, ist, daß Sie nach diesem Lebensmittelskandal,der nur das vorläufige Ende einer Serie darstellt – icherinnere nur an den BSE-Skandal –, keine weitreichen-den Veränderungen in der europäischen Agrarpolitikdurchsetzen wollen. Im Gegenteil: Mit den Agenda-Beschlüssen wird die europäische Agrarpolitik völlig anden Interessen der Verbraucher und der Landwirte vor-bei in eine Sackgasse manövriert.
Die Verbraucher haben nach diesem Vorfall, bei demAbfälle in Futtermittel gemischt wurden, den letztenRest von Vertrauen in die europäische Agrarpolitik ver-loren. Es dreht sich einem buchstäblich der Magen um,wenn man daran denkt, was für Schweinereien in Euro-pa möglich sind.Wir brauchen erstens eine offene Deklaration bei denFuttermitteln.
Ich weiß, daß ich damit eine eventuell etwas unbequemeHaltung einnehme. Wir brauchen zweitens eine Ver-schärfung der Strafvorschriften, eine Verbesserung derKontrolle und eine Verbesserung der Informations-stränge innerhalb der EU.
Wir brauchen drittens eine generelle Änderung der eu-ropäischen Agrarpolitik, die sich an den Wünschen undden Qualitätsvorstellungen der Verbraucher orientiert.
Dabei darf die wissenschaftliche Unbedenklichkeit vonNahrungsmitteln nicht das einzige Kriterium dafür sein,was erlaubt ist und was nicht. Vielmehr müssen auch dervorbeugende Verbraucherschutz und die Art und Weiseder Produktion berücksichtigt werden. Tierschutz, Um-weltschutz und Erhalt der Kulturlandschaft stehen fürdie meisten Verbraucher in einem engen Zusammen-hang mit der Qualität von Lebensmitteln.
Ich fasse zusammen und komme zum Schluß: Derbelgische Lebensmittelskandal wird nicht der letzte sein,wenn wir es nicht schaffen, von der Weltmarktideologieim Nahrungsmittelbereich wegzukommen. In dieserIdeologie wird das Produzieren von Schrauben mit derProduktion von Nahrungsmitteln auf eine Ebene gestellt.Heidemarie Wright
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3594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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Die Ernährung jedoch gehört für die Menschen zu densensibelsten Angelegenheiten. Die Politik hat deshalbdie Pflicht, die Bedürfnisse unserer Mitbürger in denMittelpunkt zu stellen. An diesem Kriterium gemessen,Herr Minister Funke – jetzt sind Sie wieder an derReihe –, ist der unter Ihrer Moderation zustande ge-kommene Agenda-2000-Beschluß der Weg in die fal-sche Richtung.
Ich fordere Sie auf, im Rahmen der WTO-Verhand-lungen für eine Umkehr dieser Politik zu sorgen. Für unsin der CDU/CSU jedenfalls sind der Schutz der Gesund-heit, eine artgerechte Haltung und Fütterung von Tieren
sowie der Erhalt unserer Kulturlandschaft über wirt-schaftliche Erwägungen zu stellen.Ich bedanke mich.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Mir bleibt ja glatt die Sprache weg. Peter Bleserkommt – sozusagen geklärt durch die neue Oppositions-rolle – zu richtigen Erkenntnissen.
Er gehörte einer Bundesregierung an, die jahrelang ver-hindert hat, daß es zu einer verbraucher-, umwelt- undtiergerechten Produktion kommt. Ich meine, man hat jaGelegenheit, immer neu zu lernen. Ich hoffe, da gibt esentsprechende Konsequenzen.Um die politischen Konsequenzen geht es in diesemFall tatsächlich. Ich will ein bißchen Wasser in denWein schütten. Also, unsere Minister in Deutschland,Frau Fischer und Herr Funke, können so genial sein, wiesie wollen.
Sie haben schnell und gut gehandelt. Aber so, wie dieSituation ist, können sie nur Nachsorge betreiben. DasKind ist schon in den Brunnen gefallen. Das heißt, manmuß sich doch hier über die Ursachenbekämpfung undüber eine neue, qualitativ ausgerichtete Agrarpolitik Ge-danken machen. Da haben wir natürlich auch Konse-quenzen zu ziehen. Das ist richtig.Ich will aber noch ein Wort darüber verlieren, umwas es hier eigentlich geht. Das geht in der Diskussion –wo immer gesagt wird, wir in Deutschland sind so sicher– ein wenig verloren. Wir leben im Binnenmarkt. Genauda fangen ja die Schwierigkeiten an. Tonnenweise gehenjeden Tag die belgischen Lebensmittel über die Grenze:als Rohstoffe für unsere Verarbeitungsindustrie. Auf denProdukten steht dann zwar ein deutscher Name drauf:Produkt sowieso, in Ulm oder sonstwo hergestellt, abernatürlich sind darin Rohstoffe aus allen Ländern Euro-pas enthalten. Das macht das Problem nun gerade aus.Bei Dioxinen – um das noch einmal ganz klar zu sa-gen – handelt es sich wirklich um die giftigsten Stoffe,die es überhaupt gibt. Selbst kleinste Konzentrationen –kaum über der Nachweisgrenze – sind schädigend. Mankann das in Experimenten sehen. Schon nach kurzer Ex-positionszeit sind beispielsweise befruchtete Fischeierschwer geschädigt, bei Konzentrationen, die etwa in ei-ner Menge von einem Mikrogramm pro Tonne vorhan-den sind.Es handelt sich hier um 80 Tonnen verseuchter Fut-termittel. Man kann sich leicht vorstellen, welche Di-mensionen eine solche Schädigung annehmen kann.Hier geht es nicht um Panikmache, sondern darum, sicheinfach bewußt zu werden, was für ein Spiel getriebenund mit welcher Fahrlässigkeit hier Körperverletzungbetrieben wird.Aber, es ist auch schon erwähnt worden, da ist auchder wirtschaftliche Schaden. In Belgien, sagt man, be-läuft er sich zur Zeit auf 1,6 Milliarden DM. Würde manihn in Deutschland schätzen, käme man, glaube ich, aufähnliche Summen. Das sind enorme Summen, die denBauern und der verarbeitenden Industrie einfach so zurLast fallen. Das ist wirklich ein Skandal.Was mich maßlos ärgert, ist, daß bis heute die Listen,die ja angeblich vorhanden sein sollen, nicht vorliegen.Wir haben heute das Inkrafttreten der Dringlichkeitsver-ordnung. Aber die Verarbeiter, die beispielsweise ausBelgien Rohstoffe beziehen und bezogen haben, habendiese Liste der angeblich lokalisierten Betriebe nicht.Das heißt, hier wird doch von Dehaene, dem belgischenMinisterpräsidenten, im Rahmen des Wahlkampfes dieSituation noch weiter ausgenutzt und unter Wahlkampf-gesichtspunkten bewußt und fahrlässig weiterer Schadeninitiiert. Ich denke, eine solche Regierung darf wirklichnicht mehr unterstützt werden und wird das hoffentlichvon den Wählerinnen und Wählern auch nicht mehr,wenn die Wahl ansteht.Aber zu Deutschland. Ich denke, wir müssen uns in-tensiv dafür einsetzen, daß es zu einer EU-weiten unddeutschlandweiten offenen Deklaration aller Inhaltsstof-fe der Futtermittel kommt. Das erhöht die Transparenz.Auch wenn immer von krimineller Energie gesprochenwird: Transparenz ist ein wichtiges Gegenmittel gegendiese kriminelle Energie.
Außerdem brauchen wir EU-weite Sicherheitsstan-dards. Das ist doch auch die Konsequenz aus diesemSkandal. Sowohl im Kontrollbereich als auch im Stan-dardbereich muß es ein EU-weites Vorgehen geben.Man braucht auch eine entsprechende Personalausstat-tung, sowohl bei den Ländern als auch auf der Bun-des- und der EU-Ebene. Dafür muß Sorge getragen wer-den.Peter Bleser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999 3595
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Als letztes will ich noch sagen: Wir als Grüne stehenfür eine umweltgerechte und ökologische Produktionund für eine Stärkung dieser Produktionsarten. Dafürstehen wir auch mit unserem Europaprogramm. Wirwollen erreichen, daß diese Art und Weise der Produk-tion, die dazu beiträgt, solche Schäden überhaupt zuverhindern, europaweit gestärkt wird und daß auch diesim Rahmen des Europäischen Parlaments mit einer star-ken grünen Fraktion der Fall ist.Danke.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Jella Teuchner von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die bekannte Chronologie
der Ereignisse zeigt eine Seite des Dioxinskandals auf.
Die belgische Informationspolitik läßt sich nur mit man-
gelndem Verantwortungsbewußtsein erklären. Statt wie
vorgeschrieben die Kommission und die EU-Mitglied-
staaten sofort nach Bekanntwerden der Vergiftung von
Hühnerfutter zu informieren, wurde gewartet, bis die
durch dieses Futter belasteten Lebensmittel bereits ver-
braucht wurden.
Die andere Seite des Skandals ist der Verkauf von di-
oxinbelasteten Fetten. Noch ist nicht klar, wie das Di-
oxin in die Fette gelangte. Ein beim Umgang mit Le-
bensmitteln in keinster Weise angemessener Mangel an
Sorgfalt ist eine Möglichkeit.
Das Ergebnis dieses Skandals sind zu Recht verunsi-
cherte Verbraucher und ein Verlust an Vertrauen in Le-
bensmittel. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß
nach dem jetzigen Stand der Dinge in deutschen Le-
bensmittel keine erhöhten Dioxinwerte festgestellt wur-
den. Festzuhalten bleibt allerdings, daß die bestehenden
Kontrollen nicht ausreichten, Lebensmittel vor Schlam-
perei und Verantwortungslosigkeit zu schützen.
Die Vergiftung eines Rohstoffes der Futtermittelher-
stellung wurde erst durch die Erkrankung damit gefüt-
terter Hennen festgestellt. Notwendige Schutzmaßnah-
men konnten nicht oder nur sehr verspätet ergriffen
werden, weil eben versäumt wurde, schnell und umfas-
send zu informieren. Wegen der schwerwiegenden Ver-
säumnisse – Einzelheiten der seit März bekannten Ver-
giftungen wurden erst im ständigen Futtermittelausschuß
am 31. Mai bekanntgegeben – droht der belgischen Re-
gierung die Einleitung eines Verfahrens wegen Ver-
tragsverletzung durch die Europäische Kommission.
Sollte sich herausstellen, daß den Produzenten der
vergifteten Fette oder einem Zulieferer rechtswidriges
Verhalten nachgewiesen werden kann, müssen harte
Strafen folgen. Das ist heute auch schon des öfteren ge-
sagt worden. Um allerdings das Vertrauen der Verbrau-
cher in die Unbedenklichkeit der Lebensmittel wieder-
herzustellen, werden diese Maßnahmen alleine nicht
ausreichen. Es muß sichergestellt werden, daß die Ver-
giftung von Lebensmitteln in Zukunft festgestellt wird,
bevor die vergifteten Lebensmittel gegessen werden.
Der Dioxinskandal muß daher weitreichende Konse-
quenzen haben: eine Überprüfung der europäischen
Vorschriften zur Verwendung von Rohstoffen in Fut-
termitteln und eine verstärkte Überwachung der vorge-
schriebenen Durchführung von Lebensmittelkontrollen.
Es muß ausgeschlossen werden, daß über Futtermittel
Lebensmittel vergiftet werden. Wenn die Verwendung
aufbereiteter Fette für Futtermittel das Risiko einer Ver-
giftung von Lebensmitteln mit sich bringt, dann dürfen
diese eben nicht verwendet werden. Wenn die Unbe-
denklichkeit der Tiermehlfütterung nicht sichergestellt
werden kann, dann muß eben auf die Tiermehlfütterung
verzichtet werden.
Die europäischen Vorschriften müssen in diesem
Sinne überprüft und eventuell auch angepaßt und har-
monisiert werden. Denkbar wäre es zum Beispiel, nur
Futter aus einheimischen Futtermitteln zuzulassen.
Ebenso muß aber auch sichergestellt werden, daß die
vorgeschriebenen Lebensmittelkontrollen durchgeführt
und die notwendigen Konsequenzen aus den Ergebnis-
sen der Lebensmittelkontrollen gezogen werden.
Für die Lebensmittelkontrollen sind die einzelnen
EU-Mitgliedstaaten verantwortlich. Die Durchführung
der Lebensmittelkontrollen muß in Zukunft auch durch
die EU kontrolliert werden. Wir müssen uns dafür ein-
setzen, daß auf EU-Ebene die Standards bei der Probe-
nahme und auch bei den Untersuchungsverfahren an Le-
bensmitteln vereinheitlicht werden; denn nur dann kön-
nen wir von einem gleichen Niveau ausgehen.
Eine Maßnahme zur Stärkung des Vertrauens in die
Unbedenklichkeit der Lebensmittel muß auch eine Ver-
besserung der Kennzeichnung von Lebensmitteln sein.
Die vollständige Deklaration von Inhaltsstoffen, wie sie
heute freundlicherweise auch vom Kollegen Bleser an-
gesprochen wurde, sollte genauso eine Selbstverständ-
lichkeit sein wie die Herkunftsangabe der Lebensmittel
im Klartext.
Aus dem Dioxinskandal müssen Konsequenzen ge-
zogen werden. Mängel in der Lebensmittelkontrolle
müssen aufgedeckt werden. Die Verantwortung gegen-
über dem Verbraucher steht im Umgang mit Lebens-
mitteln an erster Stelle. Der Verbraucher muß sich auch
in Zukunft darauf verlassen können, daß die Vorschrif-
ten eingehalten werden und daß er gesunde Lebensmittel
bekommt.
Alsnächster Redner hat der Kollege Peter Altmaier von derCDU/CSU-Fraktion das Wort.Ulrike Höfken
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3596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
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Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der eigentliche Skandal, Frau Mi-
nisterin Fischer und Herr Minister Funke, besteht doch
darin, daß wir jetzt – nur wenige Monate nach dem
BSE-Skandal – schon wieder einen Lebensmittelskandal
in der Europäischen Union haben, bei dem die Öffent-
lichkeit um Wochen zu spät, unvollständig und dann
auch noch widersprüchlich informiert wird. Die Politik
aus allen Mitgliedsländern steht offenbar hilflos vor die-
sem Skandal. Sie rennt den Ereignissen hinterher, statt
sie zu gestalten; sie ist nicht imstande, rechtzeitig Abhil-
fe zu schaffen, und offenbar auch außerstande, Lehren
aus den Skandalen der Vergangenheit zu ziehen. Dann
dürfen wir uns doch nicht wundern, wenn sich die Ver-
braucher – auch bei uns in Deutschland – die Fragen
stellen, was sie überhaupt noch essen dürfen, wie sie ge-
schützt werden, welches Ei unbedenklich ist und wel-
ches nicht!
Es ist rührend, daß die Vertreter der Koalition der
Regierung ein Unbedenklichkeitsattest ausstellen, ob-
wohl wir sie noch nicht einmal angegriffen und bislang
keinerlei öffentliche Vorwürfe gegen die Bundesregie-
rung erhoben haben.
– Ja, Herr Kollege Schmidt, für den Bürger – das ist das
Entscheidende – ist es völlig egal, ob das Versagen in
Belgien, bei der Europäischen Kommission, bei der
deutschen Bundesregierung oder sonstwo zu lokalisieren
ist. Der Bürger erwartet von der Politik insgesamt, daß
sie dafür sorgt, daß er seine Lebensmittel ohne Beden-
ken kaufen und verzehren kann.
Wenn wir vermeiden wollen, daß ein Vertrauensver-
lust entsteht, müssen wir dafür sorgen, daß Konsequen-
zen gezogen werden: Erstens. Herr Minister Funke, wir
sind uns einig, daß in diesem Fall der Fehler in erster
Linie bei der belgischen Regierung liegt. Welche Kon-
sequenzen werden denn daraus gezogen? Ist die Bundes-
regierung bereit, die Kommission zu ermuntern, ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen Belgien einzulei-
ten?
Denn das ist die Voraussetzung, damit in der Folge die-
ses Skandals Amtshaftungs- und Entschädigungsansprü-
che geltend gemacht werden können.
Zweitens. Ein ähnlicher Skandal kann sich jederzeit
in einem anderen EU-Mitgliedstaat wiederholen. Wel-
che Schlußfolgerungen ziehen wir daraus auf europäi-
scher Ebene? Herr Minister und Frau Ministerin, ist die
Bundesregierung bereit, darüber nachzudenken, ob man
in Zukunft der Kommission das Recht einräumt, unmit-
telbare Kontrollen vor Ort – unangemeldet und in jedem
Betrieb – durchzuführen?
Es gibt einen entsprechenden Kommissionsvorschlag,
der im Ministerrat bisher keine Mehrheit gefunden hat.
Die Kommission kann zwar die Kontrolleure kontrollie-
ren; aber sie hat keine Möglichkeit, direkt in die Betrie-
be zu gehen. Was nutzen uns die besten Kontrollen in
Deutschland oder sonstwo, wenn es in anderen Mit-
gliedstaaten laxere Kontrollen gibt, die sich über den
Export auch bei uns auswirken?
Drittens. Das Frühwarnsystem, das wir in der Richtli-
nie über die Produkthaftung festgelegt haben, muß über-
prüft und verschärft werden. Es ist so, daß die belgische
Regierung diese Richtlinie offenbar anders als die
Kommission und alle anderen Mitgliedstaaten auslegt.
Wäre es nicht eine Überlegung wert, eine Mißachtung
der Informationspflichten in dieser Richtlinie durch ganz
konkrete Geldbußen für den betroffenen Mitgliedstaat
zu sanktionieren, um deutlich zu machen, daß die In-
formationen, wenn sie vor Ort vorhanden sind, auch
weitergegeben werden müssen, und zwar nicht erst mit
mehrwöchiger Verspätung?
Viertens. Der Kollege Bleser hat die Futtermittelver-
ordnung angesprochen. Es gibt einen Vorschlag der Eu-
ropäischen Kommission, nach dem darauf verzichtet
werden soll, Tiermehl zu Futtermitteln zu verarbeiten.
Die Mitgliedstaaten sind dieser Empfehlung bislang
nicht gefolgt. Mich würde interessieren, Herr Minister
Funke, ob die Bundesregierung denn bereit ist, mit gu-
tem Beispiel voranzugehen und festzuschreiben, daß
Tiermehl, das von Kadavern verendeter Tiere stammt,
nicht mehr verarbeitet werden darf.
Meine Damen und Herren, die heutige Aktuelle Stun-
de hat sich dann gelohnt, wenn nicht nur Beruhigungs-
pillen für die Öffentlichkeit verteilt und Fensterreden
gehalten werden, sondern wenn die Bundesregierung ih-
re Ratspräsidentschaft, die noch drei Wochen dauern
wird, dazu nutzt, aus diesem Skandal die Lehren zu zie-
hen, wenn es konkrete Arbeitsaufträge an die Europäi-
sche Kommission gibt und wenn der Wille der politisch
Verantwortlichen deutlich wird, das, was als notwendig
erkannt worden ist, auch endlich umzusetzen.
Vielen Dank.
Alsnächster Redner hat das Wort der Bundesminister fürErnährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-HeinzFunke.Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich einesvorweg sagen: Ich bin sehr dankbar, daß wir im Grund-satz einig sind über das, worum es hier geht, und auchüber die Schlußfolgerungen, die zu ziehen sind. Ich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999 3597
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finde es auch sehr gut, daß dieser Skandal in diesersachlichen Form diskutiert wird.Ich schließe mich völlig denen an, die darauf hinge-wiesen haben, daß die Kennzeichnungsregelungen viel-fältigster Art, die wir in Europa haben, unvollkommensind. Wir haben einige Kennzeichnungsregelungen, aberlängst nicht in der gebotenen Klarheit und in dem not-wendigen Umfang.
Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, Frau KolleginSehn, daß Sie auch darauf hingewiesen haben, daß mannicht immer sofort nach neuen Regelungen, nach neuenSanktionsmechanismen rufen sollte – was die Bestra-fung anbelangt, sind wir uns einig –, sondern daß manzu prüfen hat, ob das, was wir haben, ausreicht, ob nichtder Mangel vielmehr im Vollzug liegt. Ich glaube, so istes: Im Regelungs- und Maßnahmenvollzug liegt die ent-scheidende Ursache auch für das, was wir hier als Skan-dal zu bezeichnen haben.Herr Kollege Altmaier, es ist nämlich so: Das Ver-tragsverletzungsverfahren bezieht sich ausdrücklichauch auf die Richtlinie, die Belgien an sich dazu ge-zwungen hätte – das ist das Schnellmeldeverfahren –,sofort die entsprechenden Institutionen der EuropäischenKommission und die Mitgliedstaaten zu unterrichten.Das ist also ein Teil dieses Vertragsverletzungsverfah-rens.Im übrigen sind wir uns völlig darüber einig – dieBundesregierung hat das von Anfang an gesagt –, daßdieses Vertragsverletzungsverfahren anzustreben ist. Dageht es um die Frage: Wer haftet eigentlich für die um-fänglichen Schäden in allen Bereichen, die betroffensind? Das geht bis hin zu der Frage: Wer bezahlt eigent-lich die umfangreichen Kontrollen, die zusätzlich – teuergenug – durchgeführt werden müssen?Wir haben bereits Ende Mai, als diese Thematik auf-kam, mit dem Agrarkommissar darüber geredet – das istgenau das, was Sie eben angesprochen haben; darin wa-ren wir in der gemeinsamen Sitzung des Ernährungs-und des Gesundheitsausschusses auch völlig einig –, daßes darauf ankommt, daß die EU auch kontrolliert, obdas, was längst zwingend vorgeschrieben und gebotenist, auch in allen Mitgliedstaaten enstprechend umge-setzt und vollzogen wird – das ist das Entscheidende –,damit nicht in dem einen Mitgliedstaat so gehandeltwird, während ein anderer großzügig darauf verzichtetoder unter ganz anderen Voraussetzungen darangeht.Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich hier seitdem 1. Januar 1993, mit dem gemeinsamen Markt, ge-genüber früher etwas geändert hat und daß eine solcheAufsicht, eine solche Kontrolle der Kontrolle, unbedingtnotwendig ist. Ich schließe mich dieser Forderung aus-drücklich an. Ihre Fragen, ob die Bundesregierung dasnachdrücklich unterstützt, kann ich also eindeutig mit Jabeantworten. Das ist bereits in den ersten Tagen, an de-nen wir uns mit diesem Thema auseinanderzusetzenhatten, geschehen.Ich will Ihnen etwas sagen, was Holland und auchFrankreich anbelangt, damit da nicht irgendwelche Le-genden geboren werden. Auch Holland und Frankreichsind zu spät, allerdings eher als wir, und zwar per Faxinformiert worden – ich habe mir das von der zuständi-gen holländischen Staatssekretärin schildern und bestä-tigen lassen –, also auch völlig unzureichend, als wäredas ein Geschäftsgang unbedeutender Art, der sich ne-benbei vollzöge. Auch sie sind entschieden zu spät in-formiert worden. Entsprechende Kritik ist auch dort ge-übt worden.Ich will noch auf einen Gedankengang hinweisen,weil ich meine, daß wir uns jetzt auch darum zu küm-mern haben – wir tun das –: Das sind die Maßnahmen,die Drittländer ergriffen haben. Sie haben zum Beispielauch den Import – aus unserer Sicht den Export – deut-scher Waren generell gesperrt. Ich halte diese Maßnah-men von Drittländern für völlig unakzeptabel. Wir ha-ben die Botschaften eingeschaltet, den CMA-Absatzfonds bemüht, um deutlich zu machen, daß mannicht etwa wegen dieser Vorfälle in Belgien deutscheWaren nicht mehr importieren kann. Ich hielte es fürschlimm, wenn die Lebensmittelbranche und die Land-wirtschaft bei uns auf diese Weise in Mitleidenschaftgezogen würden. Wir haben entsprechende Maßnahmenergriffen.
Ich will noch ganz schnell zwei Gedanken aufgreifen.Ich war doch sehr überrascht über das, was die KolleginNaumann hier zum ökologischen Landbau, zur regiona-len Vermarktung gesagt hat, als sei das nun das Mittel,um mit solchen Skandalen fertig zu werden. In den fünfneuen Ländern sprechen Sie immer von „unserenStrukturen“. Die Strukturen, die dort überwiegend be-stehen, sind lediglich dazu geeignet, für anonymeMärkte zu produzieren. Wenn Sie konsequent sind, le-gen Sie jetzt Umstruktierungsprogramme für einenGroßteil der Landwirtschaft in den fünf neuen Ländernvor, sonst machen Ihre Äußerungen wirklich keinenSinn.
In der Heimat des Kollegen Bleser, dessen Argumenteich auch nicht ganz nachvollziehen kann, wären dieStrukturen eher dazu geeignet, so etwas zu machen, inden fünf neuen Ländern aber überhaupt nicht.Ich bitte auch darum, technische Unfälle, die es zuge-gebenermaßen in Betrieben gegeben hat und immerwieder gibt, nicht mit diesem Lebensmittelskandal inBelgien zu vergleichen. Dagegen wehre ich mich ent-schieden. Damit betreibt man keine Aufklärung, sondernwiederum Verschleierung, nur von einer anderen Seiteher. Das können wir nicht gebrauchen.Es hilft auch nicht, auf die Agenda zu verweisen. Esscheint, daß man die Agenda für alles verantwortlichmachen kann. Ich bin überzeugt, daß dann, wenn es imkommenden Winter eine überdurchschnittliche Zunah-me von Wintersportunfällen gibt, der Agenda dafür dieSchuld gegeben wird. Ich sehe das kommen, daß einigees so drehen werden, daß die Agenda sowie Funke undBundesminister Karl-Heinz Funke
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3598 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 43. Sitzung. Bonn, Freitag, den 11. Juni 1999
(C)
Fischer dafür verantwortlich sind. Von mir aus sollensie das machen. Aber weder durch die Agenda nochdurch die Weltmarktorientierung oder die Globalisie-rung ist es zu diesem Skandal gekommen. Ich möchtedeutlich sagen, daß er nicht durch die Globalisierung zu-stande gekommen ist. Allenfalls könnte man anmerken –ich halte auch diese Konstruktion schon für gewagt; Sievon der CDU/CSU dürfen da ruhig mit dem Kopfschütteln –, daß der Binnenmarkt am 1. Januar 1993 ge-schaffen wurde, ohne zu fragen, welche zusätzlichenMaßnahmen bei der Lebensmittelkontrolle und -über-wachung, in der Veterinärüberwachung und der Gewer-beaufsicht notwendig sind, um mit einem größerenMarkt ohne Grenzen fertig zu werden. Ich könnte esnachvollziehen, wenn das Problem in diesem Zusam-menhang gesehen wird; einen anderen kann ich über-haupt nicht sehen.Das, was Sie, Herr Kollege Bleser, zu WTO II und zuden Gesundheitsstandards gesagt haben, halte ich fürrichtig. Im Gegensatz zur früheren Bundesregierungwerden wir darauf drängen, daß solche Standards beiden WTO-Verhandlungen eine Rolle spielen.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Es sind
zwei Reden, nämlich die des Kollegen Dr. Harald Kahl
und die der Kollegin Helga Kühn-Mengel, zu Protokoll
gegeben worden.*)
Ich hoffe, daß Sie damit einverstanden sind. –
Damit sind wir am Ende dieser Aussprache und am
Schluß der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 16. Juni 1999, 12 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.