Gesamtes Protokol
Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Sie auf einiges hinweisen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um weitere Zusatzpunkte erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
8. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes im Bereich des Baugewerbes — Drucksachen 12/7564, 12/7688, 12/7863, 12/7844 —
9. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 (BeschfG 1994) — Drucksachen 12/7565, 12/7688, 12/7865, 12/7838 —
10. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksachen 12/7563, 12/7688, 12/7864, 12/7843 —
11. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Vermeidung von Rückständen, Verwertung von Sekundärrohstoffen und Entsorgung von Abfällen - Drucksachen 12/5672, 12/7240, 12/7284, 12/7672, 12/7675, 12/8084 -
12. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz über den Bau und die Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private (Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz — FStrPrivFinG) - Drucksachen 12/6884, 12/7555, 12/7867, 12/7836 —
13. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte - Drucksachen 12/4993, 12/7656, 12/7868, 12/7835 -
14. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ausführungsgesetz zu dem Basler Übereinkommen vom 22. März 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung von Abfällen und ihrer Entsorgung (Ausführungsgesetz zum Basler Übereinkommen)
Drucksachen 12/6351, 12/7032, 12/7479, 12/8085 —
15. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Durchführung versicherungsrechtlicher Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften (Drittes Durchführungsgesetz/EWG zum VAG) — Drucksachen 12/6959, 12/7595, 12/7869, 12/7831 —16. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG-Änderungsgesetz — UWGÄndG) — Drucksachen 12/7345, 12/8089 —17. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes — Drucksachen 12/7614, 12/8093 —
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll — soweit es erforderlich ist — abgewichen werden.
Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, daß in der nächsten Sitzungswoche keine Befragung der Bundesregierung und keine Fragestunden stattfinden. Sind Sie mit diesen beiden Dingen einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes im Bereich des Baugewerbes
— Drucksachen 12/7564, 12/7688, 12/7863, 12/7844 —
Berichterstattung: Abgeordneter Rudolf Dreßler
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Nein. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht?
— Herr Abgeordneter Blüm, würden Sie dann bitte kommen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine ganz grundsätzliche Bemerkung: Winterbauförderung und Jahresentgelt-
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20700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Dr. Norbert Blümtarifverträge sind tausendmal besser als Schlechtwettergeld.
In dem Strategiepapier der IG Bau-Steine-Erden heißt es — Zitat —:Trotz einer auf absehbare Zeit hohen bauwirtschaftlichen Nachfrage leisten wir uns in Deutschland im Gegensatz zu Nachbarländern mit weit schwierigeren Witterungsbedingungen den Luxus, die vorhandenen Kapazitäten nur unzureichend auszulasten.
— Ich kann Ihnen das Papier zeigen, wenn der Kollege Dreßler das will.Anstelle der jetzigen Beschränkung auf witterungsbezogene Ausgleichszahlungen sollten zur erneuten Ankurbelung des Winterbaus ergänzende produktive Investitionsanreize geschaffen werden.Auf der letzten Seite, Herr Kollege Dreßler, steht ein ausdrückliches Bekenntnis zum Jahresarbeitstarif.
Die bessere Lösung ist kontinuierliche Arbeit für die Bauarbeiter. Das ist besser, als Ausfall mit Schlechtwettergeld zu bezahlen; denn trotz des Schlechtwettergeldes verlieren die Bauarbeiter Geld, während sie, wenn sie das ganze Jahr arbeiten, diesen Verlust nicht haben.
Meine Damen und Herren, aus dem Strategiepapier der IG Bau-Steine-Erden ergibt sich weiter, daß nach einer neueren Umfrage von Bauunternehmen 73 % der Baubeschäftigten kontinuierliche Arbeit „mit normalem Lohn und Wintergeld" ohne saisonale Einschnitte dem Schlechtwettergeld-Bezug „ohne Arbeit" vorziehen.Nächster Punkt: Das ist nicht nur für die Arbeitnehmer besser, sondern es ist auch besser für die Bauunternehmer, denn im Durchschnitt bleibt ein Drittel der Kapazitäten unausgelastet. Es ist besser für das Ansehen des ganzen Gewerbes, und es ist auch besser für die öffentlichen Kassen; denn wir erhalten - statt Schlechtwettergeld zu zahlen — ganzjährig Beiträge und Steuern. Alles spricht für die vernünftige Regelung.Die Tarifpartner — auch diese Erklärung habe ich dabei — haben sich am 10. März nach einem Gespräch im Arbeitsministerium bereit erklärt, an einer Anschlußregelung für Schlechtwettergeld zu arbeiten.
Deshalb, meine Damen und I lerren: Lehnen Sie den Vorschlag des Vermittlungsausschusses, einfach zu den alten Regelungen zurückzukehren, ab! Wir wollen das Schlechtwettergeld ohne Kürzungen - März und November — bis zum Ende des Jahres 1995. Das ist Zeit genug für einen Tarifvertrag. Bahnen Sie der besseren Lösung den Weg und marschieren Sie nicht mit der SPD rückwärts! Die Lösungen liegen vor uns und nicht hinter uns. Deswegen bitte ich um Ablehnung und darum, unserem Vorschlag den Weg zu ebnen.
Als nächster hat der Kollege Rudolf Dreßler zu einer Erklärung das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist wert, festzuhalten, daß uns der Kollege Blüm gerade begreiflich machen wollte, daß die Streichung des Schlechtwettergeldes, d. h. Lohnkürzung und für viele tausend Bauarbeiter möglicherweise Sozialhilfebezug, ein Fortschritt wäre. So weit ist es mittlerweile gekommen, daß sich eine Regierung vor dem deutschen Parlament zu einer solchen Äußerung hinreißen läßt.
Der Vermittlungsausschuß hat gestern mit Mehrheit das, was im SPD-Regierungsprogramm schlicht so formuliert wurde: „In der Bauwirtschaft werden wir die Schlechtwettergeldregelung wiederherstellen", zu seiner mehrheitlichen Auffassung gemacht. Das ist zu begrüßen.
Ich will hinzufügen: Jeder, der die Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses kennt, weiß, daß dort die SPD nicht die Mehrheit hat. Gleichwohl hat sich der Vermittlungsausschuß mit Mehrheit dieser Auffassung angeschlossen, den bewährten alten Zustand wiederherzustellen.
Das ist ein wesentlicher Beitrag zum sozialen Frieden. Selten ist ein Gesetz in der Öffentlichkeit und bei Fachleuten gleichermaßen auf so breite Ablehnung gestoßen wie dieses.Ich will mich auf zwei Kernpunkte der Äußerungen des Kollegen Blüm in meiner Erwiderung und Erklärung beschränken.Das erste ist: CDU/CSU und F.D.P. haben behauptet — und behaupteten auch heute morgen —, daß tarifvertragliche Regelungen die ganzjährige Beschäftigung in der Bauwirtschaft sichern könnten. Dies wird von beiden Tarifvertragsparteien, 1G BauSteine-Erden und der Bauwirtschaft, bestritten. Der Vorsitzende der IG Bau-Steine-Erden hat das so zusammengefaßt — ich zitiere —:Im Gegenteil: Die Industriegewerkschaft BauSteine-Erden und auch die Arbeitgeberseite haben immer wieder deutlich gemacht, daß ein ganzjährig gesichertes Einkommen für Bauarbeiter ohne Einbeziehung des Schlechtwettergeldes nicht möglich ist.Diesem Sachverhalt hat der Vermittlungsausschuß Rechnung getragen. Wir appellieren an Sie, die Mit-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20701
Rudolf Dreßlerglieder des Deutschen Bundestages, sich diesem Petitum des Vermittlungsausschusses anzuschließen.
Der zweite Gesichtspunkt ist: Die Streichung der Schlechtwettergeldregelung ab 1996 würde zu noch höheren Arbeitslosenzahlen führen, und mit weiter zunehmenden Ausgaben an Arbeitslosengeld wäre zu rechnen. Das wäre also eine völlig kontraproduktive Maßnahme, die die Mehrheit dieses Hauses vor einigen Monaten auf den Weg gebracht hat. Mit dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses wären alle diese Probleme gelöst.Nun noch eine Schlußbemerkung — diese geht in Richtung der Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, und zwar ausschließlich an diese —: Wir haben in den letzten Monaten registriert, daß ganze Bataillone von Abgeordneten der CDU/CSU in ihren Wahlkreisen erklärt haben, wenn es sich bei der Streichung der Schlechtwettergeldregelung um einen Einzelpunkt eines Gesetzgebungsverfahrens gehandelt hätte, hätten sie dem in diesem Hause niemals zugestimmt. Da sie aber in einem Gesamtpaket Ende des Jahres 1993 von der Bundesregierung auf den Weg gebracht worden sei, hätten sie sich aus koalitionspolitischen Gesichtspunkten der Streichung des Schlechtwettergeldes nicht verschließen können, obwohl sie gegen ihre Auffassung verstoße. — Heute morgen, meine Damen und Herren, geht es nicht mehr um ein Paket, es geht ausschließlich um diesen Punkt.
Auf dieser Grundlage hat die SPD-Bundestagsfraktion namentliche Abstimmung beantragt, um den Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion die Gelegenheit zu geben, im Parlament so abzustimmen, wie sie draußen in den Wahlkreisen den Leuten nach dem Mund reden.
Nun hat der Kollege Paul Friedhoff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn es viele noch nicht gemerkt haben, wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen — wie früher — durch Zuwächse Erwirtschaftetes zusätzlich verteilt werden kann.
Das heißt im Klartext: Weitere soziale Leistungen können solide nur durch Umverteilung finanziert werden.
In vielen sozialen Bereichen wird heute mehr Geld ausgegeben als früher. Dara us folgt für uns zwingend, daß an anderer Stelle Geld eingespart werden muß. Wir nennen dies einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme, aber nicht, wie Sie uns glauben machen wollen, einen Abbau.
Um umbauen zu können, gehören soziale Leistungen auf den Prüfstand. Als das Schlechtwettergeld auf dem Prüfstand war, ergab sich, daß im Baubereich eine zusätzliche Versicherungsleistung der Bundesanstalt für Arbeit nicht durch höhere Beiträge, sondern durch Bundeszuschüsse finanziert wird. Deshalb wollen wir diese Regelung abschaffen. In einer Übergangszeit von zwei Jahren soll den Tarifparteien Gelegenheit gegeben werden, sich durch vertragliche Vereinbarungen darauf einzustellen. Dies war von Anfang an die Meinung der F.D.P. und ist es auch heute noch.
Meine Damen und Herren, es ist nicht einzusehen, warum in anderen Ländern, wie in Skandinavien, der Winterbau besser organisiert ist als in unserem Land.
— Die haben einen anderen Winter, da haben Sie recht. Der scheint mir aber dort nicht milder zu sein als hier.
Es ist auch nicht einzusehen, daß der größte Teil des Jahresurlaubs zu dem Zeitpunkt genommen wird, in dem die besten Witterungsbedingungen für den Bau vorherrschen.
Hier gibt es Ansatzpunkte für die Tarifparteien.
Meine Damen und Herren, aus diesen Überlegungen lehnt meine Fraktion das Ergebnis des Vermittlungsausschusses in diesem Punkt ab.
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Weitere Wortmeldungen zu Erklärungen liegen mir nicht vor.Damit kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7844.Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung.Ich eröffne die Abstimmung und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, ihre Plätze einzunehmen. —Wünscht noch ein Mitglied des Hauses, seine Stimme abzugeben bzw. seine Stimmkarte einzuwerfen? — Könnte ich von den verehrten Geschäftsführern ein Signal bekommen, ob ich die namentliche Abstimmung abschließen kann? — Es wünscht also niemand mehr, seine Stimme abzugeben. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*)*) Seite 20707B
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20702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Vizepräsidentin Renate SchmidtWir setzen min die Beratungen fort.
— Darf ich bitten, Platz zu nehmen. Dann wird es mir ein bißchen leichter, die Abstimmungen durchzuführen.Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 (BeschfG 1994)— Drucksachen 12/7565, 12/7688, 12/7865, 12/7838 —Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Vogt
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? — Das ist auch nicht der Fall.Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7838? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und zur Änderung anderer Gesetze— Drucksachen 12/7563, 12/7688, 12/7864, 12/7843 —Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Vogt
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? — Das ist auch nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Auch hier hat der Vermittlungsausschuß gemäß dem soeben genannten Paragraphen beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über diese Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7843? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei einigen Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.Ich rufe nun die Zusatzpunkte 11 und 12 auf:ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Vermeidung von Rückständen, Verwertungvon Sekundärrohstoffen und Entsorgung von Abfällen— Drucksachen 12/5672, 12/7240, 12/7284, 12/7672, 12/7675, 12/8084 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heribert BlensZP12 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ausführungsgesetz zu dem Basler Übereinkommen vom 22. März 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung von Abfällen und ihrer Entsorgung (Ausführungsgesetz zum Basler Übereinkommen)— Drucksachen 12/6351, 12/7032, 12/7479, 12/8085 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heribert BlensWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? — Das ist auch nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat wiederum gemäß demselben Paragraphen beschlossen, daß darüber gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses auf den Drucksachen 12/8084 und 12/8085? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit sind diese Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 13 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz über den Bau und die Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private (Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz — FStrPrivFinG)— Drucksachen 12/6884, 12/7555, 12/7867, 12/7836 —Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter StruckWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Nein. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? — Auch dies ist nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7836? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei wenigen Gegenstimmen mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte— Drucksachen 12/4993, 12/7656, 12/7868, 12/7835 —Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20703
Vizepräsidentin Renate SchmidtWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Nein. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? — Nein.Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7835? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 15 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Durchführung versicherungsrechtlicher Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften (Drittes Durchführungsgesetz/EWG zum VAG)— Drucksachen 12/6959, 12/7595, 12/7869, 12/7831 —Berichterstattung: Abgeordneter Gunter HuonkerWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? — Auch das ist nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat auch hier gemäß dem zitierten Paragraphen beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/7831? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei wenigen Enthaltungen einstimmig angenommen.Ich rufe die Zusatzpunkte 16 und 17 auf:ZP16 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb
— Drucksache 12/7345 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/8089 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Ludwig StieglerZP17 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes— Drucksache 12/7614 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/8093 —Berichterstattung:Abgeordnete Hans Heinrich Krey Gerd Wartenberg
Dr. Burkhard HirschEs handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Zuerst Zusatzpunkt 16: Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auf den Drucksachen 12/7345 und 12/8089. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme?— Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. —Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme?— Damit ist dieser Gesetzentwurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.Zusatzpunkt 17: Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/Linke Liste zur Änderung des Bundeswahlgesetzes auf Drucksache 12/7614. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/8093, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/7614 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit jede weitere Beratung.Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes— Drucksache 12/7777 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
- Drucksache 12/7994 -Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Hörster Wolfgang Lüder
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20704 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Vizepräsidentin Renate Schmidtb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/7995 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut EstersNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es damit Einverständnis? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Helmuth Becker das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns in dieser Wahlperiode in der Rechtstellungskommission als Unterkommission des Ältestenrates mit Fragen des Status und der Rechte des Abgeordneten im einzelnen beschäftigt. Wir sind dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß wir eine Reihe von Änderungen im Abgeordnetengesetz vornehmen müssen, ganz einfach deswegen, weil sich erstens die rechtspolitische Situation im Lande geändert hat
und weil wir zweitens Bestimmungen haben, die z. B. dazu führen würden, daß Europaabgeordnete, Männer und Frauen im Europäischen Parlament, die aus Deutschland kommen, ab 1. August keine Bezüge mehr erhielten. Deswegen beraten wir heute dieses Änderungsgesetz.Zu den Einzelheiten des Gesetzentwurfs — so haben wir es verabredet — wird Herr Kollege Hörster noch im einzelnen Stellung nehmen. Ich möchte über die Themen berichten, die uns in der Rechtstellungskommission ganz zwangsläufig mitbeschäftigen mußten, weil sie in der öffentlichen Debatte eine Rolle gespielt haben.Hier ging es um folgende Schwerpunkte: Sie alle kennen die Diskussion um die Zahl der Abgeordneten in diesem Parlament; wir sind jetzt 662. Die Debatte darüber, ob es nicht auch mit einer geringeren Zahl von Abgeordneten eine ordentliche Arbeit in diesem Parlament geben kann, ist schon ein bis zwei Jahre alt. Wir haben diese Debatte mit Pro und Kontra geführt: Es geht auf der einen Seite um die Frage der Bürgernähe; häufig wird erklärt, es werde im „Raumschiff Bonn" gearbeitet, ohne den Kontakt zu den Bürgern aufrechtzuerhalten. Es geht auf der anderen Seite um eine gute, konzentrierte Arbeit in diesem Parlament. Wir haben immerhin — rechnen Sie nach — 281 Gremien in dieser Wahlperiode gebildet. Man muß sich wirklich Gedanken machen, ob wir effektiv genug arbeiten.Ich gehe davon aus, daß diese Frage im neuen Deutschen Bundestag weiter erörtert werden muß. Das Pro und Kontra muß ausdiskutiert werden. Es geht hier auch um die Frage, ob man bei dieser Gelegenheit das Wahlrecht ändern will. All dies muß zu Ende gebracht werden, damit wir in der nächsten Wahlperiode klar wissen, wie wir weiterarbeiten.Ein zweiter — in die Form eines Gruppenantrages gegossener — Punkt hat uns ebenfalls beschäftigt: die Frage, ob wir die Wahlperiode nicht um ein Jahr verlängern können. Der Gruppenantrag ist noch nicht eingebracht worden. Aber dieses Thema wird sicherlich in der nächsten Wahlperiode eine Rolle spielen. Viele sagen: Natürlich, man kann effektiver und besser arbeiten, wenn man einen längeren Zeitraum zur Verfügung hat und nicht ein halbes Jahr vor der Wahl und ein halbes Jahr nach der Wahl viel Zeit durch alle möglichen anderen Dinge verliert. Andere sagen: Da muß das plebiszitäre Element gefördert werden, sonst ist eine solche Verlängerung nicht durchzuführen. Auch dieses Thema muß also weiter erörtert werden.Wir haben uns in der Rechtstellungskommission — vielleicht ein bißchen am Rande — bei der Beratung des Abgeordnetengesetzes mit der Frage der Präsenz im Parlament, mit der Organisation unserer Arbeit beschäftigt. Ich bin seit 25 Jahren im Parlament und beschäftige mich seitdem mit diesem Thema, aber noch immer ist keine Lösung gefunden, die alle befriedigt; daher wird auch dieses Thema in der kommenden Wahlperiode weiter erörtert werden. Eines müssen wir allerdings auf jeden Fall machen: Wir müssen den verheerenden Eindruck, der durch Übertragungen aus diesem Saal bei einer so geringen Besetzung entsteht, ohne daß irgendeiner draußen weiß, woran das liegt, beseitigen.
Meine Damen und Herren, es bleibt letztlich die Diskussion um den Bericht der Kissel-Kommission. Viele von Ihnen wissen, daß das die dritte Kommission war, die der Deutsche Bundestag eingesetzt hat, um die materielle Frage zu erörtern, die sich aus dem Mandat ergibt, die sich in der Bezahlung der Abgeordneten sowie in allem, was mit der Kostenpauschale zusammenhängt, darstellt. Weitere Schwerpunktthemen waren das Übergangsgeld und das Altersgeld.Auch diese dritte Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, daß wir bei der Bezahlung hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland weit zurückbleiben. Ich rufe in Erinnerung: 1976, als wir unser Abgeordnetenrecht neu gestaltet haben, gab es zunächst einmal eine Pause von sechs Jahren, in denen die Bezüge der Abgeordneten überhaupt nicht erhöht worden sind. Dann haben wir immer so mäßig erhöht, daß wir — rechnen Sie das nach — insgesamt noch nicht einmal auf eine 25 %ige Erhöhung unserer Bezüge kommen. Es gibt keine gesellschaftliche Gruppe in diesem Lande, die ihre Einkommensverhältnisse nicht weit darüber hinaus verbessert hat.Es muß also nach meiner Auffassung überlegt werden, ob man vielleicht zu Beginn der kommenden Wahlperiode in einem Stufenplan die Entschädigung der Abgeordneten an den Vorschlag anpaßt, den die Kissel-Kommission gemacht hat: nämlich auf 14 000 DM zu erhöhen. Natürlich müssen in diesem Zusammenhang auch die anderen Fragen erörtert werden. Wir haben hier im Bundestag noch keine Gelegenheit gehabt, das Pro und Kontra der einzelnen Vorschläge
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20705
Helmuth Becker
zu erörtern. Aber ich denke, wir müssen ein solches Konzept entwickeln.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend auf ein Thema zu sprechen kommen, das immer dann — —
Herr Kollege Becker, sind Sie bereit?
Gern.
Herr Abgeordneter Becker, Sie haben gerade auf die vielfältigen Bemühungen hingewiesen, die der Deutsche Bundestag in den letzten Jahren durch Einsetzung von Kommissionen, durch Heranziehung von Sachverstand von außen, von unabhängigem Rat unternommen hat, um die zum Teil unsägliche Diskussion über die Besoldung der Abgeordneten zu versachlichen, auf eine neutrale, feste Grundlage zu stellen. Aber Sie wissen, daß man vor allem in diesen Wahlkampfzeiten nicht zu Entschlüssen kommen kann.
Sie haben sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit diesem Thema befaßt, auch im Gespräch zwischen den Fraktionen. Deshalb wollte ich Sie schlicht und einfach fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß vermutlich alle Fraktionen Ihnen persönlich sehr, sehr dankbar für Ihr Engagement sind, das Sie als ehrlicher Makler in den letzten Jahren hier im Hause in diesen schwierigen Fragen bewiesen haben?
Herr Kollege Rüttgers, auf die Frage kann ich ganz knapp antworten: Ja, und ich freue mich darüber.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß etwas zu der augenblicklichen Situation in bezug auf die Angemessenheit der Entschädigung sagen. Im Zusammenhang mit dem § 30 des Abgeordnetengesetzes, das wir heute beraten, ging es darum, ob wir den Bericht der Präsidentin, der bis zum 30. September fällig ist, nicht besser verschieben. Wir sind inzwischen zu dem Ergebnis gekommen: Nein, auch in diesem Jahr soll die Präsidentin ihren Bericht über die Angemessenheit der Entschädigung bis zum 30. September vorlegen.
Jetzt bringe ich etwas zur Sprache, was wir in diesem Parlament überhaupt noch nicht erörtert haben, nämlich den letzten Bericht der Präsidentin. In ihm stand, es wäre angemessen, unsere Entschädigung um 2,3 %, die Kostenpauschale um 4,9 % zu erhöhen. Wir haben beschlossen, in Anbetracht der allgemeinen Situation überhaupt nicht zu erhöhen. Im
Gegensatz zum Jahr davor, in dem es eine knappe Erhöhung gab — damals standen in allen Zeitungen Schlagzeilen wie „Abgeordnete erhöhen ihre Bezüge" —,
waren die Meldungen, als wir hier eine Nullrunde beschlossen haben, so klein, daß sie jeder in der Zeitung übersehen hat.
Ich will deswegen noch einmal ins Gedächtnis rufen, daß wir im letzten Jahr eine Nullrunde beschlossen haben. Wir werden über diesen Bereich im September noch einmal entscheiden müssen. Was wir beschließen, werden wir gemeinsam sehen.
Nun komme ich auf das zurück, was Herr Kollege Dr. Rüttgers in seiner Zwischenfrage zum Ausdruck gebracht hat. Ich muß mich bei all denen bedanken, die mir in der Rechtsstellungskommission und in anderen Gremien in diesen Fragen viel Rat, Hilfe, Unterstützung gegeben haben. Ich bedanke mich insbesondere auch bei den Beamten, die uns in der Rechtsstellungskommission, aber auch über den Geschäftsordnungsausschuß und den Innenausschuß zugearbeitet haben. Ohne diese gemeinsame Arbeit wäre das, was wir zustande gebracht haben, gar nicht erreichbar gewesen.
Herzlichen Dank.
Als nächster spricht nun der Kollege Joachim Hörster.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stehe nicht an, dem Kollegen Becker bei dieser Debatte eindeutig den Vorrang zu lassen, was auch seine bisherige segensreiche Tätigkeit auf diesem Feld unterstreicht. Ich will dies dadurch untermauern, daß ich die mir zur Verfügung stehende Redezeit — auch im Hinblick auf die folgenden Debatten und die diesbezüglichen Sorgen und Nöte der Kollegen — nur kurz in Anspruch nehme.Die Änderungen des Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordnetengesetzes sind nötig, um Gesetze aufzunehmen, die zwischenzeitlich geändert wurden und auf die das Abgeordnetengesetz und das Europaabgeordnetengesetz Bezug nehmen.Die Gesetzesänderungen sind auch notwendig, weil der Sonderstatus Berlins durch die Einheit Deutschlands erfreulicherweise nicht mehr im Abgeordnetengesetz fortgesetzt werden muß.Die Änderungen des Abgeordnetengesetzes sind erforderlich, um im Bereich der Parlamentstätigkeit ähnliche Regelungen einzuführen, wie wir sie im Bereich der öffentlichen Verwaltungen haben, was die Aussagegenehmigungen bezüglich der Sachverhalte anbelangt, für die es in anderen Bereichen Ausnahmegenehmigungen bedarf.Die Änderungen des Abgeordnetengesetzes sind erforderlich, um eine Reihe von theoretischen Unklar-
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20706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Joachim Hörsterheiten zu beseitigen, die im Verlauf der Anwendung des gesamten Abgeordnetenrechts in dieser Wahlperiode aufgetreten sind. Wir wollten Regelungen, die bei findigem juristischen Sachverstand so oder so ausgelegt werden konnten, in eine klare und eindeutig definierende Fassung bringen. Das ist uns auch gelungen.Wir wollten das Verhältnis zwischen Europaabgeordneten und Abgeordneten des Bundestages, aber auch das Verhältnis zwischen Abgeordneten und denjenigen, die in eine europäische Institution wechseln, auf eine klare Basis stellen.Ich denke, es ist erwähnenswert, daß wir gehalten waren, das Abgeordnetengesetz deswegen zu ändern, weil die Geltung des Europaabgeordnetengesetzes befristet war. Wenn wir heute eine Gesetzesänderung nicht vornähmen, würden die Kolleginnen und Kollegen, die für uns, für unser Land, im Europäischen Parlament in dieser jetzt beginnenden Wahlperiode arbeiten sollen, ohne Entschädigung verbleiben.
Das Europäische Parlament hat nämlich seine eigenen Regelungen noch nicht getroffen. Deswegen müssen wir das tun.Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die an der Änderung des Abgeordnetengesetzes mitgearbeitet haben, für das gute Miteinander, insbesondere bei Herrn Kollegen Becker, für die wirklich hervorragende und zusammenführende Arbeit.Die objektiven Umstände haben dazu geführt, daß wir in dieser Wahlperiode nicht den großen Wurf gelandet haben. Aber warum wollen wir den Kolleginnen und Kollegen, die in der nächste Wahlperiode für unser Volk hier arbeiten, ersparen, auch über den Status der Abgeordneten und ihre Geltung in der Öffentlichkeit nachzudenken?Ich bedanke mich.
Nun hat der Kollege Manfred Richter das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte, die wir über das vorliegende Gesetz führen, beruht auf der Tatsache, daß Lücken im Gesetz und rechtliche Unklarheiten immer nur den Falschen nützen und der Gesetzgeber beim Auftreten solcher Lücken unmittelbar tätig werden muß.Die in dem Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordnetengesetzes angeführten Regelungen betreffen im wesentlichen redaktionelle Änderungen und Klarstellungen. Zum Teil sind die Regelungen entbehrlich geworden. Die Entbehrlichkeit bisheriger Vorschriften ist, wenn sie dazu noch durch die Wiedervereinigung Deutschlands bedingt ist, ist ein doppelter Grund zur Freude.Ebenso positiv zu werten sind die mit diesem Gesetzentwurf verbundenen sprachlichen Klarstellungen des Gesetzestextes.Die in dem Gesetzentwurf aufgeführten Änderungen und Anpassungen der bisherigen Normen sind zum großen Teil gesetzestechnischer Natur. So werden z. B. Vorschriften zur Berücksichtigung der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag oder im Europäischen Parlament beim Besoldungsdienstalter und Vorschriften zum Präsenznachweis an Sitzungstagen der neuen Lage angepaßt. Weiterhin sind Aspekte des Beihilferechts sowie das Krankenversicherungswesen betroffen.Der interfraktionelle Gesetzentwurf, gemeinsam eingebracht von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P., fand bei den Beratungen in den Ausschüssen breite Zustimmung. Im übrigen ist es so, daß dieser Gesetzentwurf nicht nur, wie in der Drucksache niedergeschrieben, keine Kosten verursacht, sondern möglicherweise sogar geringfügig Kosten eingespart werden; denn mit diesem Gesetzentwurf wird eine hinreichende Klärung der sensiblen Frage in einer gegenseitigen Aufrechenbarkeit verschiedener Pensionsansprüche erreicht. Es erfolgt auch hier eine Klärung, die erforderlich war.Ich meine, daß auch in diesem Bereich das Erreichen rechtlicher Klarheit eine Verpflichtung des Gesetzgebers gegenüber den Bürgern ist. Deswegen sollte das zügig vorgenommen werden.Nun lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem machen, was wir mit diesem Gesetz nicht regeln. Davon ist bei meinen Vorrednern schon die Rede gewesen. Wir haben die grundsätzliche Frage, wie dieses Parlament weiter arbeiten soll, mit welcher Zahl von Abgeordneten es arbeiten soll, wie viele Gremien erforderlich sind, nicht berührt. Dies muß aber geregelt werden. Ich glaube, wir sollten in der nächsten Wahlperiode engagiert an diesen Themenkomplex herangehen und eine erträgliche Lösung finden.Dies gilt übrigens auch für die Dauer der Wahlperiode. Ich will ganz klar sagen, daß es bei der Frage, wie lange eine Wahlperiode für ein Parlament dauert, nichts Richtiges und nichts Falsches gibt. Das ist eine Einschätzung der Zweckmäßigkeit. Ich kenne niemanden, der amerikanische Verhältnisse mit zweijährigen Wahlperioden wollte. Das würde doch nur in einen Dauerwahlkampf ausarten. Aber die Überlegung, ob eine Wahlperiode besser fünf Jahre dauert, kann man diskutieren. Dafür gibt es durchaus Argumente. Das sollte in der nächsten Wahlperiode geschehen.Was damit verbunden noch einmal diskutiert werden sollte, ist meines Erachtens eine Bündelung der Wahltermine. Es wäre wünschenswert, wiewohl auch schwierig umzusetzen — das weiß ich —, wenn man dazu käme, daß wir nicht dauernd an verschiedenen Tagen in verschiedenen Bundesländern Europawahl usw. abhalten würden. Wenn man sie bündeln könnte, wäre es auch in dem Sinne, der Wahlmüdigkeit entgegenzuwirken. Ich glaube, das kann man in diesem Zusammenhang noch einbringen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20707
Manfred Richter
Lassen Sie uns auch die Ergebnisse der KisselKommission in der neuen Wahlperiode unvoreingenommen prüfen und debattieren. Ich glaube, daß diese Kommission eine ganz wertvolle Arbeit geleistet hat und daß uns eine ganze Menge der Elemente, die dort in dem Bericht niedergelegt sind, bei der Aufgabe helfen kann, die in der nächsten Wahlperiode vor uns liegt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordneten- und des Europaabgeordnetengesetzes auf den Drucksachen 12/7777 und 12/7994. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzesentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei einer Stimmenthaltung einstimmig angenommen.Wir kommen nun zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig bei einer Enthaltung angenommen.Ich gebe nun, bevor wir zum Tagesordnungspunkt 14 kommen, das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes im Bereich des Baugewerbes auf Drucksache 12/7844 bekannt. Es wurden 509 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 217 Kollegen und Kolleginnen gestimmt, mit Nein 284, enthalten haben sich acht. Die Beschlußempfehlung ist damit abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 506; davon:ja: 216nein: 282enthalten: 8JaCDU/CSUBohlsen, Wilfried Brudlewsky, MonikaSPDAdler, BrigitteAndres, GerdAntretter, RobertBachmaier, HermannBarbe, AngelikaBecker , Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Beucher, Friedhelm Julius Bindig, RudolfBlunck , Lieselott Bock, TheaBörnsen , Arne Brandt-Elsweier, AnniDr. Brecht, EberhardBüchler , HansDr. von Bülow, Andreas Büttner , Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, UrsulaBury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, PeterDr. Däubler-Gmelin, Herta Dr. Diederich , Nils Diller, KarlDr. Dobberthien, Marliese Dreßler, RudolfDuve, FreimutEbert, EikeDr. Ehmke , Horst Eich, LudwigDr. Elmer, Konrad Ewen, CarlFischer , Lothar Formanski, NorbertFuchs , Anke Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gansel, Norbert Gilges, Konrad Gleicke, IrisGraf, GünterGroßmann, Achim Haack ,Karl Hermann Habermann, Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Hanewinckel, ChristelDr. Hartenstein, Liesel Hasenfratz, Klaus Heistermann, Dieter Hiller , ReinholdDr. Holtz, Uwe Horn, ErwinHuonker, Gunter Iwersen, Gabriele Jäger, RenateJanz, IlseDr. Janzen, Ulrich Jaunich, HorstDr. Jens, UweJung , Volker Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastner, SusanneKastning, Ernst Kemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, MarianneDr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, SiegrunKlose, Hans-UlrichDr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbe, ReginaKolbow, Walter Koltzsch, RolfKretkowski, Volkmar Kuessner, Hinrich Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigittevon Larcher, Detlev Leidinger, Robert Lennartz, Klaus Lörcher, ChristaLohmann , KlausDr. Lucyga, Christine Maaß , Dieter Marx, DorleMascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Mehl, UlrikeMeißner, HerbertDr. Mertens , Franz-JosefDr. Meyer , Jürgen Mosdorf, SiegmarMüller , Michael Neumann (Bramsche), Volker Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, EdithDr. Niese, RolfOdendahl, Doris Oesinghaus, GünterOpel, Manfred Ostertag, Adolf Dr. Otto, Helga Palis, KurtPaterna, PeterDr. Penner, WillfriedPeter , HorstDr. Pfaff, Martin Dr. Pick, Eckhart Poß, Joachimvon Renesse, Margot Rennebach, Renate Reschke, Otto Reuschenbach, Peter W. Reuter, BerndRixe, GünterSchaich-Walch, Gudrun Schanz, DieterDr. Scheer, Hermann Scheffler, Siegfried Schily, OttoSchloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer ,HorstSchmidt , Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt-Zadel, ReginaDr. Schmude, JürgenDr. Schnell, Emil Schöler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela Schütz, Dietmar Schulte , BrigitteDr. Schuster, R. Werner Schwanhold, Ernst Seidenthal, Bodo Seuster, LisaSielaff, HorstSinger, JohannesDr. Skarpelis-Sperk, SigridDr. Soell, HartmutDr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, WielandDr. Sperling, DietrichSteen, Antje-Marie Steiner, Heinz-AlfredStiegler, Ludwig Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Terborg, Margitta Dr. Thalheim, GeraldThierse, Wolfgang Titze-Stecher, Uta Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried Verheugen, Günter Vosen, JosefWallow, HansWalter , Ralf Walther (Zierenberg), RudiDr. Wegner, Konstanze Weiermann, WolfgangWeiler, Barbara Weisheit, Matthias Weißgerber, GunterWeisskirchen , Gert Welt, JochenDr. Wernitz, Axel Wester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, IngeDr. Wetzel, Margrit Weyel, GudrunWieczorek , Helmut Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, DieterWimmer ,Hermann
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20708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Vizepräsidentin Renate Schmidt Dr. de With, HansWittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, HannaZapf, UtaDr. Zöpel, ChristophF.D.P.Koppelin, JürgenPaintner, JohannPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth Henn, BerndDr. Höll, Barbara Jelpke, UllaDr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg Dr. Seifert, IljaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Feige, Klaus-Dieter Poppe, GerdSchulz , Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß (Berlin), KonradFraktionslosDr. Briefs, UlrichDr. Krause , Rudolf KarlLowack, OrtwinStachowa, AngelaNeinCDU/CSUDr. Ackermann, Else Adam, UlrichDr. Altherr, Walter Franz Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Bargfrede, Heinz-GünterDr. Bauer, WolfBaumeister, Brigitte Belle, MeinradDr. Bergmann-Pohl, Sabine Blank, RenateDr. Blens, Heribert Bleser, PeterDr. Blüm, NorbertBöhm , Wilfried Dr. Böhmer, MariaBörnsen , Wolfgang Dr. Bötsch, WolfgangBohl, FriedrichBrähmig, KlausBreuer, PaulBühler , Klaus Carstens (Emstek), Manfred Dehnel, Wolfgang Dempwolf, GertrudDeres, KarlDeß, AlbertDiemers, Renate Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Eichhorn, MariaEngelmann, WolfgangErler , Wolfgang Eylmann, HorstFalk, IlseDr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, JochenDr. Fell, Karl H.Fischer , Dirk Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, Herbert Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.Fuchtel, Hans-Joachim Ganz , JohannesDr. Geiger , Sissy Geis, NorbertDr. Geißler, HeinerDr. von Geldern, Wolfgang Gerster , Johannes Gibtner, HorstGlos, MichaelDr. Göhner, Reinhard Dr. Götzer, Wolfgang Gres, JoachimGröbl, WolfgangDr. Grünewald, Joachim Frhr. von Hammerstein,Carl-DetlevHarries, KlausHaschke , GottfriedHasselfeldt, Gerda Hauser , Otto Hedrich, Klaus-Jürgen Heise, ManfredDr. h. c. Herkenrath, Adolf Dr. Herr, NorbertHiebing, Maria Anna Hinsken, ErnstHintze, PeterHörsken, Heinz-Adolf Hörster, JoachimDr. Hoffacker, PaulDr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, HubertJäger, ClausJaffke, SusanneDr. Jahn ,Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, KarinDr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Jüttner, EgonJung , Michael Junghanns, UlrichDr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, SteffenDr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, VolkerKeller, PeterKiechle, IgnazKittelmann, PeterKlein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, UlrichKöhler ,Hans-UlrichDr. Köhler , VolkmarKolbe, ManfredKors, Eva-Maria Kossendey, Thomas Kraus, RudolfKrause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Krziskewitz, Reiner Lamers, KarlDr. Lammert, Norbert Lamp, HelmutLattmann, Herbert Dr. Laufs, PaulLaumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Limbach, Editha Lintner, EduardDr. Lippold , Klaus W.Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, SigrunLohmann , WolfgangLouven, JuliusLummer, Heinrich Dr. Luther, Michael Männle, UrsulaMagin, TheoDr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Dr. Mayer ,MartinMeckelburg, Wolfgang Meinl, RudolfDr. Meyer zu Bentrup, ReinhardMichalk, MariaDr. Müller, Günther Müller , Elmar Nelle, Engelbert Niedenthal, Erhard Nitsch, JohannesDr. Olderog, Rolf Oswald, EduardDr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, UlrichPfeifer, AntonDr. Pfennig, GeroDr. Pflüger, Friedbert Pofalla, RonaldDr. Pohler, Hermann Dr. Probst, Albert Raidel, HansDr. Ramsauer, Peter Rau, RolfRauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, ErikaDr. Rieder, Norbert Riegert, KlausRingkamp, Werner Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden),HanneloreRomer, FranzDr. Rose, Klaus Rossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, HeinzDr. Ruck, Christian Rühe, VolkerDr. Rüttgers, Jürgen Sauer , Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Schätzle, OrtrunDr. Schäuble, Wolfgang Schell, Manfred Schemken, HeinzScheu, GerhardSchmalz, UlrichSchmidbauer, BerndDr. Schmidt, ChristaSchmidt , Christian Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), JoachimSchmidt , Trudi Schmitz (Baesweiler), Hans PeterDr. Schockenhoff, Andreas Graf von SchönburgGlauchau, JoachimDr. Scholz, RupertSchulhoff, WolfgangDr. Schulte , DieterSchulz , Gerhard Schwalbe, ClemensDr. Schwörer, Hermann Seehofer, HorstSeesing, HeinrichSeibel, WilfriedSeiters, RudolfSikora, JürgenSkowron, Werner H. Sothmann, BärbelDr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika Dr. Frhr. von Stetten,WolfgangDr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-GerdStübgen, MichaelSusset, EgonSzwed, DorotheaTillmann, FerdiDr. Töpfer, KlausDr. Uelhoff, Klaus-Dieter Vogel , Friedrich Vogt (Düren), WolfgangDr. Waffenschmidt, Horst Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, JürgenDr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wiechatzek, Gabriele Dr. Wilms, DorotheeWilz, BerndDr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, MatthiasDr. Wittmann, Fritz Wonneberger, Michael Wülfing, ElkeWürzbach, Peter Kurt Yzer, CorneliaZeitlmann, Wolfgang Zierer, BennoZöller, WolfgangF.D.P.Albowitz, InaBaum, Gerhart RudolfDr. Blunk , Michaela Bredehorn, Günther Cronenberg (Arnsberg),Dieter-JuliusEimer , Norbert Engelhard, Hans A.van Essen, JörgDr. Feldmann, OlafFriedhoff, Paul K.Funke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink, MargretGallus, GeorgGenscher, Hans-Dietrich Gries, EkkehardGrünbeck, Josef
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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20709
Vizepräsidentin Renate SchmidtGrüner, MartinHansen, DirkHeinrich, UlrichDr, Hirsch, Burkhard Dr. Hitschler, Walter Irmer, UlrichDr. Jordan, JensKohn, RolandDr. Kolb, Heinrich L.Dr. Graf Lambsdorff, Otto Lüder, Wolfgang Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, RainerOtto ,Hans-JoachimParr, DetlefPeters, LisaDr. Pohl, EvaRichter , ManfredRind, HermannDr. Röhl, Klaus Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schüßler, GerhardSchuster, HansSehn, MaritaDr. Semper, Sigrid Dr. Starnick, Jürgen Dr. Thomae, Dieter Timm, JürgenWalz, IngridDr. Weng , WolfgangWürfel, UtaZurheide, BurkhardEnthaltenCDU/CSUAustermann, Dietrich Clemens, Joachim Haschke , Udo Michels, MeinolfOst, FriedhelmOtto , NorbertF.D.P.Dr. Guttmacher, Karlheinz Schmidt , ArnoIch rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz
— Drucksachen 12/7562, 12/8047 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/8101 —Berichterstattung: Abgeordnete Günter GrafJoachim Clemens Dr. Burkhard HirschNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht damit Einverständnis? — Dies ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Joachim Clemens das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Bundesgrenzschutzneuregelungsgesetzes wird das alte BGS-Gesetz aus dem Jahre 1972 novelliert und an die inzwischen eingetretene allgemeine Entwicklung des allgemeinen Polizeirechts und des Datenschutzes angepaßt. Auch sind in dieses neue Gesetz die zusätzlichen Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit einbezogen worden, die wir mit dem Aufgabenübertragungsgesetz aus dem Jahr 1992 dem BGS übertragen haben.Angesichts einer relativ kurzen Redezeit habe ich nur die Möglichkeit, kurz auf die vielfältigen Aufgaben und insbesondere auf die derzeit wichtigen Aufgaben des Bundesgrenzschutzes als der Polizei des Bundes einzugehen.Dazu gehört die Grenzsicherung entlang der zukünftigen Außengrenzen der Europäischen Union — derzeit noch Schengen —, vorrangig an den Grenzen zu Polen und der Tschechischen Republik, durch starke Kräfte des Grenzeneinzeldienstes, wiederum verstärkt durch Verbände und verstärkte Hubschraubereinsätze und Wärmebildgeräte.Durch den Einsatz des BGS, aber auch durch die von der CDU/CSU-Fraktion forcierte Änderung des Asylgrundrechtes sind die Asylbewerberzahlen von Januar bis einschließlich Mai 1994 im Vergleich zum entsprechenden Zeitraums des Vorjahres um 72 % — ich wiederhole: 72 % — zurückgegangen.
— Herr Hirsch, Sie haben kräftig mitgeholfen, in dieser Richtung zu arbeiten. Ich bedanke mich auch bei Ihnen persönlich dafür. Ich glaube, hier hat die CDU/CSU-Fraktion hervorragende Arbeit geleistet; der BGS hat dies erheblich unterstützt.Die zweite, ebenso wichtige Aufgabe ist die Unterstützung der Bundesländer zur Bewältigung besonderer polizeilicher Lagen mit hohem Störpotential durch die Bundesgrenzschutzverbände, einschließlich ihrer hervorragend trainierten Zugriffseinheiten. Angesichts des Abbaus der Bereitschaftspolizei der Länder garantiert der BGS das Gewaltmonopol des Staates und damit Sicherheit und Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland.Wir haben weitere wichtige Aufgaben, z. B. die der Bahnpolizei. Sie rückt in den Vordergrund, weil verstärkt Straftaten feststellbar sind. In diesem Bereich fehlt es uns erheblich an Personal. Hinzu kommen die Luftsicherheit und insbesondere die Spezialtätigkeiten besonderer Elitegruppen wie der GSG 9 und auch der Gruppe Fernmeldewesen, auf die ich noch zu sprechen komme.Ich möchte zunächst im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Herrn Minister Kanther ganz herzlich für seinen Impetus für die innere Sicherheit danken. Er hat dies beim Verbrechensbekämpfungsgesetz bewiesen. Ich möchte mich bei ihm ganz speziell für sein Engagement für den Bundesgrenzschutz bedanken. Er ist in dieser Beziehung trotz sehr guter Vorgänger unübertroffen. Ich verbinde diesen Dank allerdings mit dem Wunsch, daß manche in der Polizeiabteilung des BMI dem Minister nacheiferten, insbesondere dann, wenn es um die Klarsicht bei der Lösung von Problemen geht.Als langjähriger Kämpfer für den BGS bedanke ich mich bei meinen Kollegen dafür, daß sie geholfen haben, die Gruppe Fernmeldewesen als Einheit zu erhalten. Es ist außerordentlich zu beklagen, daß die Opposition — hier spreche ich nur die SPD an; bei den anderen weiß ich, daß sie sowieso nicht dafür sind —die Regelung des § 10, der die Gruppe Fernmeldewesen betrifft, im Innenausschuß abgelehnt hat und ihr wahrscheinlich auch heute die Zustimmung versagt.Bei der Gruppe Fernmeldewesen handelt es sich um eine Spezialeinheit, die in der Vergangenheit durch Abhören von C- und D-Funk, in Zukunft sicherlich auch von E-Funk, großartige Erfolge bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität erreicht hat, und
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20710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Joachim Clemenszwar durch Amtshilfe für Länderpolizeien und den Zoll. Diese Erfolge waren nur erreichbar, weil diese Gruppe als eine schlagkräftige Einheit zusammengeblieben ist. Sie arbeitet daneben im Wege der Organleihe — das ist ganz vernünftig geregelt — auch für den Verfassungsschutz.Bedauerlich ist: Die SPD wollte diese Gruppe zum Bundesamt für Verfassungsschutz ausgliedern. Das hätte dazu geführt, daß diese hervorragende Einheit nicht mehr auf dem polizeilichen Sektor zur Verbrechensbekämpfung zur Verfügung gestanden hätte. Man hätte diese Spezialeinheit damit zerschlagen und der inneren Sicherheit Schaden zugefügt.Sosehr ich mich sonst mit meinem Kollegen Günter Graf verstehe, wenn es um den BGS geht, hier bin ich nicht ganz sicher: Folgt er nun Scharping oder Schröder? Schröder wäre wahrscheinlich für die jetzige SPD-Sichtweise. Scharping wäre sicherlich dafür, daß wir diese Regelung beschließen. Aber gut, wir werden das noch hören, wenn Herr Graf dazu für die SPD das Wort ergreift.Ich habe das Gefühl, daß die SPD hier ihre Obstruktionspolitik, begonnen bei der Ablehnung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes, fortzusetzen scheint.
— Ich wußte, daß Widerspruch kommen würde. Ich habe ihn bewußt herauskitzeln wollen.Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die SPD glaubt, daß man das modernst ausgerüstete organisierte Verbrechertum mit Pickelhaube und Trillerpfeife bekämpfen kann. Das ist einfach nicht der Fall. Wir brauchen den Einsatz besonderer technischer Mittel und vernünftiger Regelungen. Die haben wir mit dem Erhalt der Gruppe Fernmeldewesen erreicht. Unser Glück ist, daß dieses Gesetz nicht zustimmungspflichtig ist. So entscheidet die Mehrheit in diesem Hause. Ich glaube, das tut der inneren Sicherheit gut.Lassen Sie mich zum Abschluß noch einen Gedanken zum Bund-Länder-Verhältnis in bezug auf die innere Sicherheit bringen. So erfreulich es ist, daß man nach 20 Jahren das Programm der inneren Sicherheit zwischen Bund und Ländern fortgeschrieben und modernisiert hat, so bedauerlich ist es, daß die SPD-geführten Länder mit überaus kleinlicher Auslegung versucht haben, an zahlreichen Stellen dieses Gesetzes die Kompetenz des Bundes zu beschneiden.Man setzt dabei offensichtlich die Haltung des Landes Nordrhein-Westfalen fort, das das Bundesverfassungsgericht gegen das Aufgabenübertragungsgesetz angerufen hat, nur weil der Bund die Bundesaufgabe Bahnpolizei übernommen hat. Ob der BGS darüber hinaus auch noch die Aufgabe der Luftsicherheit innehat, liegt an den Ländern selber. Sie können ihre Länderkompetenz auf den Bund übertragen. Das haben die meisten Länder, mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen, wahrscheinlich im Hinblick auf die zu erwartende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemacht.Die Einstellung der Bundesländer paßt aber nicht dazu, daß die gleichen Länder bei besonderen polizeilichen Lagen — ich denke z. B. an die letzte Kurdendemonstration; eine solche steht uns demnächst wieder bevor — bei jeder sich bietenden Gelegenheit mangels ausreichender Stärke ihrer Bereitschaftspolizeien den Bundesgrenzschutz herbeirufen. Das heißt: Auf der einen Seite nimmt man die tatkräftige Unterstützung der Verbandseinheiten des BGS gerne in Anspruch. Auf der anderen Seite mäkelt man bei jeder kleinsten Gelegenheit an den Kompetenzen des Bundes herum. Das paßt nicht zueinander. Das paßt auch nicht zu unserem föderativen System, das nun einmal davon lebt, daß Bund und Länder geben und nehmen.Der Bundesgrenzschutz ist einer der maßgebenden Garanten für Recht und Ordnung. Daß insoweit noch Probleme bestehen und es noch wesentliche Verbesserungen geben muß — ich kann das hier auf Grund der Kürze der Zeit nicht mehr behandeln —, ist klar. Ich glaube aber, das kann das Urteil nicht schwächen, daß der Bundesinnenminister mit tatkräftiger Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Engagement für den BGS und damit auch zum Schutze unserer Bürger gezeigt und damit Erfolg gehabt hat.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Wenn ich noch eine Anmerkung machen darf: Acht Minuten hatte ich. Als ich hierherkam, hatte ich nur noch sieben. Ich bin aber nicht so langsam gegangen. Vielleicht können wir das abstellen.
Vielleicht nur zur Erklärung: Herr Kollege Clemens, wenn am Rednerpult die Länge der noch zur Verfügung stehenden Redezeit aufleuchtet, dann sind das sieben Minuten und 59 Sekunden, wenn Sie anfangen zu reden.
Es geht dann immer weiter. Darum haben Sie am Anfang eine ganz lange Minute, ja? — Wunderbar.
Als nächster spricht der Kollege Günter Graf.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf das Bundesgrenzschutzneuregelungsgesetz zu sprechen komme, möchte ich zwei Bemerkungen machen.Erstens. Ich empfinde es schon als erstaunlich —ich denke, es erlaubt Spekulationen über die Arbeitsweise dieser Regierung und über den Stellenwert, den sie der inneren Sicherheit einräumt —, daß erst jetzt, mehr als zehn Jahre nach dem Volkszählungsurteil, über den Entwurf zur Neuregelung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz beraten wird. Mehr als zehn Jahre hat der Bundesgrenzschutz ohne die zwingend erforderlichen gesetzlichen Befugnisnormen, insbesondere im Bereich der polizeilichen Datenverarbeitung, arbeiten müssen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20711
Günter GrafAnzumerken ist, daß das gleiche im übrigen für das Bundeskriminalamt gilt. Der vom Bundesinnenminister angekündigte Gesetzentwurf liegt immer noch nicht vor, so daß es dort immer noch ein dunkles Feld gibt und die Beamten in einer Grauzone arbeiten. Die von den Versäumnissen dieser Regierung ausgehende Verunsicherung der Polizei wird u. a. durch ein Urteil des Wiesbadener Verwaltungsgerichtes bestätigt, das die Vernichtung vom Bundeskriminalamt erhobener personenbezogener Daten eines Straftäters anordnete, weil dort ebenfalls noch keine gesetzlichen Regelungen über die Aufbewahrung, Speicherung und Verwendung personenbezogener Daten existieren. Dieser Zustand dauert heute noch an.
Nicht innere Sicherheit wird durch diese Bundesregierung produziert, vielmehr wird die Polizei bei der Wahrnehmung ihrer schwierigen Aufgabe behindert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Bitte.
Herr Kollege, ich bin bei dem, was Sie eben gesagt haben, starr vor Staunen. Ist Ihnen wirklich nicht bekannt, daß es ein Bundesdatenschutzgesetz gibt, das natürlich gilt, solange und wenn keine spezialgesetzlichen Regelungen vorliegen?
Herr Kollege Hirsch, das ist mir sehr wohl bekannt; wir haben uns oft darüber unterhalten. Es ändert nichts an der Tatsache, daß das Bundeskriminalamtgesetz immer noch nicht vorliegt und daß, wie es jetzt im Bundesgrenzschutzneuregelungsgesetz vorgesehen ist, diese datenschutzrechtlichen Regelungen in einem Spezialgesetz aufgenommen werden sollen. Der Zustand ist so, wie ich ihn beschrieben habe. Im übrigen: Wenn ein Wiesbadener Verwaltungsgericht so entscheidet, wird daran deutlich, daß es um die gesetzlichen Grundlagen wohl nicht so bestellt ist, wie es sein sollte.
Es ist ganz offenkundig, daß es in dieser zentralen Frage nach Mitteln und Wegen zur erfolgreichen Kriminalitätsbekämpfung im Grunde genommen nur wenige Gemeinsamkeiten in der Regierungskoalition gibt. Halbherzige Kompromisse zwischen der CDU/ CSU auf der einen und der F.D.P. auf der anderen Seite sind zum Markenzeichen dieser Regierung geworden.Die zweite Vorbemerkung: Im Interesse der inneren Sicherheit und aus Gründen der Fürsorge gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern habe ich in diesem Hohen Hause am 20. Mai 1994 an Sie appelliert, gemeinsam die erforderlichen Entscheidungen zu treffen, mit denen unser Bundesgrenzschutz künftig seine schwierigen Aufgaben auf einer klaren rechtsstaatlichen Basis erfüllen kann. Sie haben das Bundesgrenzschutzneuregelungsgesetz im Innenausschuß mit einer derartigen Eile durchgepeitscht, daß eine seriöse Beratung von vornherein ausgeschlossen war.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich möchte betonen, daß dieser Gesetzentwurf im wesentlichen Ansätze enthält, die wir Sozialdemokraten seit Jahren von Ihnen gefordert haben. Besonders hervorheben will ich den Verzicht auf den Kombattantenstatus der BGS-Verbände, wie er noch im geltenden § 64 des Bundesgrenzschutzgesetzes festgeschrieben ist.Trotz ganz überwiegender positiver Ansätze - sie will ich gar nicht verhehlen — werden wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung verweigern, und zwar aus folgenden Gründen.Bereits in der ersten Lesung habe ich darauf hingewiesen, daß wir die Vorschrift über die Unterstützung des Bundesamtes für Verfassungsschutz durch den Bundesgrenzschutz auf dem Gebiet der Funktechnik gemäß Art. 1 § 10 des Gesetzentwurfs nicht mittragen werden.
Durch diese Vorschrift, Kollege Clemens — ich schätze Sie sonst sehr, aber in dieser Frage trennen sich unsere Auffassungen; das ist meine Überzeugung , über die gesetzliche Grundlage wird eine besondere Form der Unterstützung des Bundesamtes für Verfassungsschutz geschaffen, die der Bundesgrenzschutz durch eine spezielle Organisationseinheit, die Gruppe Fernmeldewesen mit Sitz in SwisttalHeimerzheim, schon seit 1955 — ich betone: ohne gesetzliche Grundlage — im Wege der Organleihe durchführt. Ich merke an — damit da kein Mißverständnis entsteht —: Dies geschah auch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition.
Hinsichtlich der Unterstützung des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der anderen Nachrichtendienste durch den Bundesgrenzschutz auf dem Gebiet der Funktechnik wird eine Daueramtshilfe festgeschrieben, die nach unserer Ansicht rechtlich nicht zulässig ist.
Die zwingend gebotene rechtliche Klärung im Hinblick auf einen Verstoß gegen das organisatorische Gebot der Trennung von Verfassungsschutz und Polizei wurde von Ihnen nicht vorgenommen. Wir halten diese Regelung für verfassungsrechtlich äußerst bedenklich.
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20712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Günter GrafMeine Damen und Herren, wenn Sie sich den Aufgabenbereich dieser Gruppe Fernmeldewesen anschauen, werden Sie feststellen, daß Sie die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht mehr hinwegleugnen können. In den Jahren von 1955 bis 1970 nahm diese Gruppe ausnahmslos die Beobachtung nachrichtendienstlicher Funkverkehre für Zwecke der Spionageabwehr für das Bundesamt für Verfassungsschutz wahr, mit dem Schwerpunkt, die Nachrichtendienste der damaligen DDR und der Sowjetunion abzuhören. Von 1970 bis 1974 kam zusätzlich noch die Überwachung des Funkverkehrs für das Bundeskriminalamt hinzu, wogegen nichts einzuwenden war.Von 1974 bis 1989 war die Gruppe Fernmeldewesen nahezu ausschließlich zur Beobachtung nachrichtendienstlicher Funkverkehre für Spionageabwehrzwecke des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit den Schwerpunkten Abhören von Nachrichtendiensten der Sowjetunion und Funkbeobachtung im Nahverkehr von Botschaften tätig.
Herr Kollege Graf, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Clemens gestatten?
Bitte sehr.
Herr Kollege Graf, würden Sie mir zustimmen, daß diese Gruppe Fernmeldewesen, wenn Sie sie nur dem Verfassungsschutz zuordnen, für den polizeilichen Sektor überhaupt nicht mehr zur Verfügung steht und damit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität entzogen wird?
Herr Kollege Clemens, ich stimme Ihnen nicht zu, und zwar stimme ich Ihnen deshalb nicht zu, weil uns nach einem Besuch der Arbeitsgruppe Inneres der SPD-Bundestagsfraktion bei der Fernmeldegruppe in Heimerzheim vor einigen Wochen offenkundig wurde, daß diese Fernmeldegruppe zu etwa 90 % Aufgaben für den Verfassungsschutz wahrnimmt. Es verbleibt also ein kleiner Restteil. Ich denke, man wird genügend Phantasie entwikkeln können, damit der Bundesgrenzschutz als moderne Polizei des Bundes auch diesen Bereich wahrnehmen und abdecken kann. Wir werden dabei konstruktiv mitarbeiten. Aber ich sage ganz deutlich und unmißverständlich: Wir wollen eine klare Trennung zwischen der Polizei auf der einen Seite und den Nachrichtendiensten auf der anderen Seite.
Ich fahre fort: In Form der Dauerorganleihe nahm diese Fernmeldegruppe z. B. die Agentenfunkbeobachtung wahr. Sie wurde im Bereich der Spionageabwehr eingesetzt und ermittelte verdeckte Aktivitäten in Botschaften und halbstaatlichen Einrichtungen durch Überwachung des Funkverkehrs und Überwachung deutscher Fernmeldenetze.Meine Damen und Herren, an Hand dieser wenigen Beispiele wird, denke ich, deutlich, daß die Fernmeldegruppe des Bundesgrenzschutzes ich habe eben auf Grund der Frage des Kollegen Clemens bereits darauf hingewiesen — zu etwa 90 % Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz wahrnimmt,
auch wenn das personell unterschiedlich beurteilt wird.
Dieser Aufgabenbereich hat mit polizeilichen Aufgaben nicht das geringste zu tun und verstößt ganz eindeutig — ich kann das nicht oft genug betonen — gegen das Gebot der Trennung von Nachrichtendiensten und Polizei.
Im übrigen darf ich noch anmerken, daß der Bundesrat dies in gleicher Weise beurteilt hat.Der Änderungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion zu diesem Punkt wurde im Innenausschuß am 15. Juni 1994 von der Regierungskoalition abgelehnt. Wir wollten aus verfassungsrechtlichen Gründen die ersatzlose Streichung dieser Vorschrift. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, bis zum 31. März 1995 ein Konzept mit dem Ziel vorzulegen, den jetzt im Wege der Organleihe für das Bundesamt für Verfassungsschutz wahrgenommenen Aufgabenbereich aus dem Bundesgrenzschutz herauszulösen und unter Berücksichtigung dienstrechtlicher Belange der betroffenen Beamten sozialverträglich in das Bundesamt für Verfassungsschutz einzugliedern. Dies, meine Damen und Herren von der Koalition, wäre eine absolut saubere Lösung gewesen.Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf ergeben sich aber auch daraus, daß nicht hinreichend geprüft worden ist, ob es notwendig ist, die Grenzschutzdienstpflicht nach wie vor beizubehalten, auch wenn quasi eine Entsperrungsklausel vorgesehen ist. Nach unserer Ansicht ist die Grenzschutzdienstpflicht mit dem Charakter des Bundesgrenzschutzes als moderner Polizei des Bundes nicht vereinbar; denn die Heranziehung von Wehrpflichtigen zu polizeilichen Aufgaben kann den hohen Anforderungen des Polizeiberufes nicht gerecht werden.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion erkennt die Notwendigkeit der Verwendung des Bundesgrenzschutzes im Ausland an. Dies haben wir in der Vergangenheit bei den Einsätzen in Kambodscha und Namibia — wir haben das gemeinsam getragen — deutlich bewiesen. Deshalb begrüßen wir es, daß die Frage, in welcher Weise der Deutsche Bundestag künftig an der Entscheidung der Bundesregierung über die Entsendung des Bundesgrenzschutzes beteiligt werden soll, in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages analog der zu erwartenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Verwendung der Bundeswehr im Ausland geklärt werden soll.Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich habe bei der ersten Lesung darauf hinge-
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Günter Grafwiesen, daß es zwingend erforderlich ist, daß wir im Rahmen der Debatte über die Novellierung des Bundesgrenzschutzes grundsätzlich auch über eine Neukonzeption des Bundesgrenzschutzes nachdenken müssen. Die Chance, dieses zu tun, um neue Wege, neue Lösungen zu finden, die den Vorstellungen von einer modernen Polizeiarbeit entsprechen, haben Sie nicht wahrgenommen.Sie haben schlicht und einfach ignoriert, daß es bisher insbesondere an den Außengrenzen nicht gelungen ist, pragmatische Lösungen zu finden, die sicherstellen, daß Kontrollen z. B. durch paritätisch besetzte Dienststellen durchgeführt werden können. Dies hätte den großen Vorteil, daß z. B. die Verhaftungsgewalt von Polizisten, die nicht die Staatsangehörigkeit des Staates haben, auf dessen Hoheitsgebiet sich die gemeinsame Dienststelle im Augenblick der Festnahme befinden würde, keine rechtlichen Probleme schaffen würde. Dieses würde dazu beitragen, Rechtsprobleme gar nicht erst entstehen zu lassen, und damit eine effektivere Kontrolle und somit eine effektivere Kriminalitätsbekämpfung ermöglichen. Dies würde sogar letztlich Kosten einsparen; dies sei nur am Rande erwähnt.Ferner wäre die Schaffung gemeinsam besetzter Polizeidienststellen im Grenzbereich auch wesentliche Voraussetzung für die polizeiliche Kooperation.Auch hatte ich Ihnen angeboten, gemeinsam darüber nachzudenken, ob es nicht sinnvoll wäre, den Schutz unserer Außengrenzen einer europäischen Grenzpolizei, einer Schengener Grenzpolizei, die sich aus Mitgliedern aller Angehörigenstaaten zusammensetzt, zu übertragen.
Gerade die Internationalisierung des Verbrechens, die vielfältigen Verflechtungen insbesondere im Bereich der organisierten Kriminalität machen gemeinsames Handeln zwingend notwendig, nicht zuletzt auch im operativen Bereich.
Ich habe die Hoffnung, Kolleginnen und Kollegen, daß es nach dem 16. Oktober 1994 möglich sein wird, über diese Frage auch mit den Ländern sachgerecht, emotionslos und ideologiefrei zu sprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition — ich komme zum Schluß —, Sie waren nicht bereit, über konzeptionelle Neuregelungen verfassungsrechtlich bedenklicher Vorschriften mit uns und in anderen Gremien zu sprechen.
Sie haben in undemokratischer Weise einen Gesetzentwurf im Bundestag und in den Ausschüssen durchgepeitscht, der unausgewogen und rechtlich sehr bedenklich ist. Daher können wir Sozialdemokraten diesen Gesetzentwurf nicht mittragen.
Ein letzter Satz: Aus diesen Gründen lehnen wir den Gesetzentwurf ab, wobei ich darauf hinweisen möchte — das weiß der Kollege Clemens genauso gut wie ich —, daß unsere Haltung auch von der ganz überwiegenden Mehrheit der Betroffenen des Bundesgrenzschutzes als sachgerecht angesehen wird.Ich danke Ihnen.
Nun spricht der Kollege Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die fünf Minuten Redezeit, die ich habe, reichen nicht aus, um auch nur einigermaßen angemessen das Gesetz zu würdigen.Mein Zwischenruf, Herr Kollege Clemens, bezog sich auf das Asylrecht, nicht auf das BGS-Gesetz. Wenn wir es hier begrüßen, daß die Zahl der Asylbewerber drastisch zurückgegangen ist, darf man dabei nicht vergessen, daß sich die Gründe, aus denen heraus Menschen fliehen, ihre Heimat verlassen, nicht verändert haben, so daß dieses Lob bei mir immer einen etwas schalen Geschmack hinterläßt.
Wir haben über das BGS-Gesetz in der Tat lange verhandelt. Das ist keine Sturzgeburt, sondern wir haben in der Koalition sehr gründlich darüber gesprochen. Wir haben alle Anträge behandelt, die Sie im Ausschuß gestellt haben, Herr Kollege Graf. Wir haben alle Beschlüsse des Bundesrates, soweit sie uns bekannt waren, im Innenausschuß auch beraten. Es kann also keine Rede davon sein, daß wir das mit einer gewissen Leichtfertigkeit oder Leichtigkeit behandelt hätten.Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Graf, daß Sie diesem Gesetzentwurf — der ja gut ist, wie Sie in vielen Punkten auch selber einräumen —
im Grunde genommen dann zustimmen würden und zustimmen müßten, wenn Sie nicht den etwas angerosteten Notanker mit der Fernmeldegruppe hätten. Nun gebe ich Ihnen zu, daß man das Problem der Fernmeldegruppe unterschiedlich sehen kann. Ich hätte es für keinen Beinbruch gehalten, diesen Bereich von dem übrigen Gesetz zu trennen.Nur, Sie greifen einen Tatbestand auf und an, der in dieser Form, wie Sie selber vortragen, seit über 40 Jahren besteht, ohne daß Sie, Ihre Fraktion, Ihre Partei, Ihre Regierungsmitglieder, als wir zusammen in der Regierung waren, eine Veranlassung gesehen hätten, das zu ändern. Das heute als Grund zu bringen, das ganze Gesetz abzulehnen, halte ich für etwas dünn.Unser eigentliches Beratungsproblem liegt doch darin, daß wir für die Polizei des Bundes ein modernes Polizeirecht in den Fragen der Datenverarbeitung und
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Dr. Burkhard Hirschim polizeilichen Exekutivrecht schaffen wollen und müssen. Wir kommen immer in Probleme, wenn das Polizeirecht der Länder anders aussieht als das Polizeirecht des Bundes. Die Harmonisierung ist notwendig. Die Innenminister von Bund und Ländern — in diesem Fall vor allen Dingen der Länder — haben es bisher nicht fertiggebracht, gemeinsam ein Muster für ein Polizeirecht zu entwickeln. Es gibt immer nur Entwürfe mit zehn bis zwölf Alternativen.Das macht es so unglaublich schwierig, ein modernes Polizeirecht zu formulieren, von dem wir annehmen können, daß es wirklich funktioniert, und das die Beamten, die damit umgehen müssen, nicht in Schwierigkeiten bringt, weil sie sich verschiedenen Rechtslagen gegenübersehen, sondern das trotzdem die notwendige Zusammenarbeit ermöglicht. Darum ist es so wichtig und darum appelliere ich auch an die Innenminister der Länder, die aus Ihrer Partei, der SPD, kommen —, mit der notwendigen Harmonisierung wirklich Ernst zu machen und diese seit zehn bis zwölf Jahren liegengebliebene Aufgabe ernsthaft anzugreifen.
Wir haben neben der Fernmeldeeinheit die Frage operativer Einsätze im Ausland offengelassen. Sie wissen, daß das mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Bundeswehr zusammenhängt, einer Entscheidung, von der wir hoffen, daß sie am 12. Juli getroffen wird. Dann werden wir das im einzelnen noch nachtragen müssen.Wir würdigen die Sorge mancher Länder, die sich vor einer Zentralisierung der Polizei im kriminalpolizeilichen Bereich ebenso fürchten wie im exekutiven Bereich. Das muß man sehen, das muß man auch verstehen. Wir halten nach unseren Erfahrungen die Struktur einer föderalen Polizei entgegen mancher veröffentlichten Meinung jedem Zentralismus für überlegen, weil die Polizei, die nicht genügend Ortskenntnis hat und die Szene vor Ort nicht kennt, immer im dunkeln herumtappt. Also wollen wir das erhalten. Nur, wenn die Länder darauf pochen, müssen sie allerdings dafür sorgen, daß ihre Polizeien personell und sachlich auch so ausgestattet werden, daß sie ihre Aufgaben erfüllen können.
Denn wir wollen gemeinsam die Sicherheit der Bürger garantieren.Ich glaube — das soll meine Schlußbemerkung sein —, daß der BGS inzwischen eine Polizei geworden ist, die aus dem Sicherheitskonzept nicht weggedacht werden kann. Ich freue mich, daß er auf dem Weg zu einer ganz normalen Polizei ist, die er ursprünglich nicht war. Ich wünschte mir — Sie wissen das; es wird spöttisch gesagt: die Kollegen von der Trachtengruppe —, daß die Uniformen diesem Tatbestand allmählich angepaßt werden.Ich hoffe und bin sicher, daß das Gesetz, das wir jetzt verabschieden, den Beamten die nötige Rechtssicherheit gibt und daß es ein modernes Polizeirecht geworden ist, das es den Beamten ermöglicht, ihre Aufgabe zu erfüllen. Das ist das oberste Gebot dieses Gesetzes.Ich möchte bei dieser Gelegenheit den Beamten des Innenministeriums, die uns bei unseren Beratungen wirklich sorgsam und mit großem Arbeitsaufwand begleitet haben, für ihre Arbeit und die Hilfe, die sie uns bei der Formulierung des Gesetzes gegeben haben, unseren Dank aussprechen.
Nun hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, begrüßen es, daß sich die Bundesregierung nach zehn Jahren endlich aufgerafft hat, die rechtsfreien Räume für Tätigkeiten des BGS zu schließen und hierfür eine Rechtsgrundlage zu schaffen. Leider widerspricht jedoch die Novelle in wesentlichen Teilen unserem Verständnis von Demokratie und Bürgerrechten, so daß wir sie nicht mittragen können. Ich nenne in aller Kürze unsere wichtigsten Bedenken.Wir halten die Absicht, den BGS zu Lasten der für die Polizei zuständigen Länder weiter auszubauen und als Bundespolizei vielseitig verwendbar zu machen, für verfassungswidrig. Über seinen grenzpolizeilichen Sonderauftrag hinaus stehen dem BGS von Verfassung wegen nur die in Art. 87 des Grundgesetzes aufgeführten Zuständigkeiten in den begrenzten Fällen des inneren oder äußeren Notstands zu. Der BGS soll nun jedoch auch aus dem Inland herrührende Gefahren abwehren oder Strafermittlung wegen illegaler Wareneinfuhren führen.Der Mitwirkung des BGS bei Auslandseinsätzen stehen wir skeptisch gegenüber. Wenn derartige Einsätze legalisiert werden sollen, müssen zumindest die Einsatzvoraussetzungen präziser gefaßt werden. Außerdem müßte sichergestellt werden, daß die BGS-Beamten nicht in Ländern eingesetzt werden, in denen von vornherein für sie Gefahren für Leib und Leben zu befürchten sind.Die Befugnisse des BGS zur Datenverarbeitung auch mit verdeckten nachrichtendienstlichen Mitteln gehen zu weit. Uns ist nicht einsichtig, wozu der BGS mit V-Leuten, mit Rasterfahndung oder verdeckten Observationen operieren soll. Ebenso fragwürdig ist die vorgesehene Legalisierung der funktechnischen Zuarbeit des BGS für den Verfassungsschutz. Nach unserer Auffassung wird dadurch das verfassungskräftige Trennungsgebot zwischen beiden Behörden weiterhin ausgehöhlt.Die Beibehaltung der Grenzschutzdienstpflicht ist überflüssig und widerspricht im übrigen dem Anliegen der Regierung, den BGS von einer reinen Notstandstruppe zu einer modernen Polizeibehörde zu entwickeln. Als solche braucht der BGS gut ausgebildetes Personal, das auch für die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben befähigt ist, nicht aber dienstverpflichtete Amateure und erst recht keine freiwillige Reserve, wie der Innenminister dies wünscht.
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Konrad Weiß
Selbstverständlich läßt sich auch die Einführung eines Unterbindungsgewahrsams bis zu vier Tagen nicht mit den liberalen Auffassungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über Bürgerrechte vereinbaren. Es ist schon verwunderlich, daß dieser Vorschlag von einer Regierung kommt, an der die F.D.P. noch immer beteiligt ist. Die scharfen Proteste der Liberaldemokraten gegen eine entsprechende Vorschrift im bayerischen Polizeiaufgabengesetz sind mir noch gut in Erinnerung.Die Mitarbeiter, meine Damen und Herren, die beim Bundesgrenzschutz ihren verantwortungsvollen und schwierigen Dienst versehen — das weiß ich aus vielen Gesprächen vor Ort —, brauchen eine ausgewogene und verfassungskonforme Rechtsgrundlage für ihre Arbeit.
Herr Kollege Weiß, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burkhard Hirsch gestatten?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege, wenn Sie auf das bayerische Polizeirecht mit dem dortigen Unterbindungsgewahrsam von 14 Tagen abzielen: Sind Ihnen die Unterschiede zu der hier vorgelegten Regelung klargeworden, die darin bestehen, daß hier ein Unterbindungsgewahrsam von vier Tagen nur dann akzeptiert wird, wenn entweder schon ein manifester Landfriedensbruch vorliegt oder Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß ein Betroffener eine konkrete Straftat begehen will, sich also an einem Landfriedensbruch beteiligen will, während im bayerischen Polizeirecht genau diese Einengungen nicht vorhanden sind, sondern dort der reine Verdacht genügt? Ist Ihnen dieser Unterschied aufgefallen?
Ja, natürlich, Herr Kollege Hirsch, ist mir dieser Unterschied aufgefallen. Nur, ich denke, daß mit dieser Regelung im BGS-Gesetz — so, wie sie vorgesehen ist — eine Tür geöffnet wird, die eben die Möglichkeit zu weiteren ähnlichen Regelungen schaffen würde. Deswegen sind wir dagegen, daß dies jetzt auch im BGS-Gesetz so verankert wird.
Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren.
Es ist eine Zumutung, daß die Angehörigen und Mitglieder des Bundesgrenzschutzes von der Regierung und Koalition mit einem so zweifelhaften Gesetz belastet werden. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt daher die Novelle zum BGS-Gesetz ab.
Vielen Dank.
Und nun hat die Kollegin Ulla Jelpke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das geflügelte Wort, daß neue Gesetze im Bereich der inneren Sicherheit im wesentlichen bisher illegale Praktiken legalisieren, wurde meines Erachtens selten so dreist umgesetzt wie bei dem BGS-Gesetz.
Herr Kollege Hirsch, meines Erachtens war die Beratung im Innenausschuß keineswegs sorgfältig. Wir haben einige Vorlagen am Tag der Beratung vorliegen gehabt, andere aber nicht. Beispielsweise lag uns eine Synopse aus dem Innenministerium nicht vor.
Ich weiß überhaupt gar nicht, ob alle Kollegen wirklich durchgeblickt haben, was sie an diesem Tag im Innenausschuß verabschieden sollten.
Da wird z. B. im Rahmen der Erörterung des BGS-Gesetzes die jahrelange illegale und verfassungswidrige Abhörpraxis einer BGS-Sondereinheit in Diensten des Verfassungsschutzes bekannt; ein eklatanter und eindeutiger Verstoß gegen das Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten,
wie der Kollege Graf hier schon mehrfach erläuterte. Bevor sich die Öffentlichkeit jedoch richtig aufregen kann, wird ihr der neue Gesetzentwurf unter die Nase gerieben. Dort ist diese Praxis dann zum Prinzip erhoben.Ganz beiläufig kommt in der Stellungnahme des Bundesrates zu diesem BGS-Gesetz auch der Referentenentwurf eines Gesetzes zum Bundeskriminalamt zur Sprache. Offiziell ist dieser Entwurf den Abgeordneten noch gar nicht zugänglich. Und doch dient er den Eingeweihten schon als Leitlinie für das BGS-Gesetz. Ganz nebenbei erfährt man vom Bundesrat auch, daß der BGS-Einsatz in den Bundesländern bisher häufig — gesetzeswidrig — mit den Ländern nicht abgestimmt wurde.Meine Damen und Herren, in einer 30-km-Zone darf der BGS — jetzt gesetzlich geregelt — V-Leute einsetzen, unter erleichterten Bedingungen Häuser, Kneipen und Wohnungen durchsuchen und Menschen festnehmen und vier Tage festhalten.Ausdrücklich beharrt die Bundesregierung darauf, daß der BGS in seiner Zone Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bekämpfen soll, die ihren Ursprung außerhalb und innerhalb des Bundesgebietes haben. Da haben wir sie: die Sicherheitszone im Grenzgebiet. Die Ausschreibung zur grenzpolizeilichen Fahndung von Personen, bei denen „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sie in nicht unerheblichem Umfang Straftaten begehen werden", öffnet der Willkür Tür und Tor. Wann, fragt man sich da
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Ulla Jelpkedoch, erhalten die Bewohner der grenznahen Gebiete Sonderausweise?
Unter dem Vorwand der Angleichung des BGS-Gesetzes an die Polizeigesetze der Länder werden seine Befugnisse bei der Strafverfolgung und der Prävention erweitert. Die Betonung seiner grenzpolizeilichen Sonderaufgaben bedeuten aber zugleich einen mächtigen Schritt weiter zur Bundessonderpolizei.Wir werden diesen Gesetzentwurf ebenfalls ablehnen.
Nun hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesgrenzschutz ist schon heute — ich glaube, das ist bei den meisten Beiträgen auch deutlich geworden — eine auf Grund seiner bei vielfältigen Einsätzen gezeigten Besonnenheit und Effizienz hochangesehene Einrichtung des Bundes.
Trotzdem braucht der Bundesgrenzschutz, Herr Kollege Graf, für seine vielfältigen Aufgaben als Polizei des Bundes eine neue und verbesserte Rechtsgrundlage. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll der Standard erreicht werden, der von einem Polizeigesetz des Bundes heute erwartet werden muß.Auf der anderen Seite muß ein Polizeigesetz auch rechtsstaatliche Transparenz gewährleisten und den gesetzestreuen Bürger vor nie ganz auszuschließenden ungerechtfertigten Grundrechtseingriffen schützen. Breiten Raum nimmt deshalb der Datenschutz in diesem Gesetzentwurf ein.
Lassen Sie mich den hohen Stellenwert des Bundesgrenzschutzes und damit auch die Bedeutung dieses Gesetzes am Beispiel seines grenzpolizeilichen Auftrags illustrieren, ohne daß dadurch andere wichtige Aufgabenbereiche wie etwa die Bahnpolizei und die Luftsicherheit geringer geachtet würden.Die neue internationale Freizügigkeit hat, wie wir leider alle registrieren mußten, auch der grenzüberschreitenden Kriminalität ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Das belegt auch die jüngste Kriminalstatistik. So wird ein wachsender Teil der Straftaten von ausländischen Tätern begangen, die erst kurz zuvor die deutsche Grenze überschritten haben. Zudem hat speziell die grenzbezogene Kriminalität beträchtlich zugenommen. Beispiele sind die illegale Zuwanderung, internationale Kfz-Verschiebung, Schleuserkriminalität und auch die völlig neuartige Bedrohung durch Nuklearkriminalität.Die Bundesregierung hat deshalb den Bundesgrenzschutz in den letzten Jahren personell erheblich verstärkt. 1993 konnten sämtliche 3 140 Ausbildungsplätze beim Bundesgrenzschutz besetzt werden.
Weitere 3 700 Polizeianwärter werden 1994 eingestellt. Nach Abschluß der Ausbildung dieser Anwärter wird der Bundesgrenzschutz erstmals in seiner Geschichte planmäßig über rund 29 000 Polizeivollzugsbeamte verfügen.Der BGS muß aber auch die notwendigen polizeirechtlichen Instrumente für seine Aufgabenerfüllung an die Hand bekommen. Der Gesetzentwurf sieht deshalb vor allem für die präventive Bekämpfung der grenzbezogenen Kriminalität und zur Verhinderung illegaler Grenzübertritte verbesserte polizeiliche Befugnisse vor. Zu nennen wären beispielhaft Rechtsgrundlagen für die grenzpolizeiliche Beobachtung und die Observation verdächtiger Personen, eine wirksame Grenzfahndung und Möglichkeit der Identitätskontrolle auch im sogenannten 30-km-Streifen diesseits der Grenze. Hinzu kommen einige weitere Befugnisse.Aber, Frau Kollegin Jelpke, was Sie hier geschildert haben, betraf wohl die Zustände seinerzeit in der DDR. Das hat jedenfalls nichts mit dem zu tun, was in diesem Gesetzentwurf für den BGS an Befugnissen festgelegt wird.Zu erwähnen ist noch die neugeschaffene Möglichkeit, gewalttätige Straftäter und Störer, insbesondere Rädelsführer, auf Grund richterlicher Anordnung bis zu vier Tage in Gewahrsam zu nehmen, um die Fortsetzung von Straftaten des Landfriedensbruchs und der gemeinsam begangenen Nötigung zu unterbinden: der sogenannte verlängerte Unterbindungsgewahrsam.
Nicht zuletzt verfolgt der Gesetzentwurf das Ziel, den Charakter des Bundesgrenzschutzes als Polizei des Bundes noch eindeutiger als bisher klarzustellen. In diesem Zusammenhang ist die Streichung des sogenannten Kombattantenstatus der Bundesgrenzschutzverbände hervorzuheben.
Meine Damen und Herren, die Betonung des ausschließlich polizeilichen Charakters des BGS bedeutet aber nicht, daß seine Kompetenzen zu Lasten der Landespolizeien ausgeweitet werden. Es bleibt dabei, daß der Bundesgrenzschutz nur solche sonderpolizeilichen Aufgaben wahrnimmt, die nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes dem Bund zugeordnet sind.
Soweit ich sehe, herrscht über die Notwendigkeit eines neuen Bundesgrenzschutzgesetzes sowie den
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Parl. Staatssekretär Eduard Lintnerdarin vorgeschlagenen Regelungsinhalt weitgehend Einigkeit.
Um so bedauerlicher finde ich es, daß eine nahezu einstimmige Verabschiedung des Gesetzes nach dem Ergebnis der Ausschußberatungen möglicherweise an einer einzigen Vorschrift, Herr Kollege Graf, scheitern könnte, nämlich der in § 10 geregelten Unterstützung des Bundesamtes für Verfassungsschutz durch die überaus wirksame und deshalb auch wertvolle Arbeit eines funktechnischen Spezialdienstes des Bundesgrenzschutzes.
Herr Kollege Graf, hier muß ich Ihre Zahl korrigieren. Dieser Dienst ist nicht etwa zu 95 % für den Nachrichtendienst tätig, sondern die Arbeit teilt sich etwa 50:50 auf. So vom Minister im Ausschuß auch ausdrücklich herausgestellt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf?
Ja, wenn es mir nicht angerechnet wird.
Garantiert nicht, Herr Lintner.
Bitte schön, Herr Graf.
Herr Staatssekretär, abgesehen davon, daß ich nicht „95 %" gesagt habe — ich habe die Zahl 90 % genannt —: Stimmen Sie mir zu, daß es in der Fernmeldegruppe in Heimerzheim und der Führungsgruppe unterschiedliche Bewertungen gibt in der Frage, wieviel Anteil polizeiliche Arbeit im Wege von Amtshilfe für das Zollkriminalinstitut, für das Bundeskriminalamt auf der einen Seite geleistet wird und auf der anderen Seite für den Verfassungsschutz? Können Sie mir darüber hinaus zustimmen, daß insbesondere die, die für den Verfassungsschutz arbeiten und sich darin am besten auskennen, die Zahl 90 % in den Vordergrund stellen?
Herr Kollege Graf, es gibt nur eine offizielle Zahl über den Einsatz und die Anteile dabei, nämlich die, die das Bundesinnenministerium unter Befragung der Leute ermittelt hat.
Wenn Sie Ihre Spezialgesprächspartner befragen, muß dabei nicht unbedingt das richtige Bild herauskommen.
Gestatten Sie auch noch eine zweite Zusatzfrage?
Ja.
Bitte schön, Herr Graf.
Nur eine kurze Nachfrage, Herr Staatssekretär: Sie sagen, das Bundesinnenministerium habe dies ermittelt. Das ist wirklich erstaunlich. Ich kenne ja die Verhältnisse innerhalb Ihres Hauses. Dort gibt es auch unterschiedliche Bewertungen zu diesem Thema. Für mich ist es aber viel interessanter, sich vor Ort darüber zu informieren, mit den betroffenen Beamten darüber zu reden. Von denen hört man ganz eindeutig: Unsere Aufgabe hier bei der Fernmeldegruppe in Heimerzheim ist ganz, ganz überwiegend eine Arbeit für den Verfassungsschutz. Das ist ja eine bemerkenswerte Aussage.
Es geht ja nicht nur um materielle, um personelle Unterstützung. Es geht darum, daß die Erkenntnisse, die diese Gruppe gewinnt, innerhalb dieser Gruppe verarbeitet werden, in Heimerzheim EDV-mäßig gespeichert werden. Das ist genau das, was es uns so schwer macht, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Was hätten Sie sich vergeben, wenn Sie unserem Antrag im Innenausschuß gefolgt wären? Es wäre nichts verlorengegangen. Sie hätten ein halbes Jahr Zeit gehabt, eine vernünftige Lösung zu finden.
Herr Kollege Graf, das war schon eine Kurzintervention und keine Zwischenfrage mehr. Wir haben da mehrere Möglichkeiten. Ich bitte das nächste Mal, darauf zu achten.
Herr Kollege Graf, eigentlich bezeichnend für die schwache sachliche Untermauerung Ihrer Position ist doch die Tatsache, daß seit über 40 Jahren so verfahren wird, also unter SPD-geführten Bundesregierungen von 1969 bis 1982
überhaupt keine Bedenken auf Ihrer Seite erhoben worden sind,
auch seit 1982 hier im Hause Sie nie initiativ geworden sind. Plötzlich entdecken Sie das Ganze. Das zeigt doch eigentlich, daß die Argumente, die Sie vorbringen,
auch bei Ihnen 40 Jahre lang als sehr schwach und nicht tragfähig eingeschätzt worden sind.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir deshalb zum Schluß, an die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion zu appellieren, ihre Haltung zu diesem wichtigen Gesetzentwurf zu überdenken und ihre Zustimmung zum Bundesgrenzschutz insgesamt deutlich zu machen, indem sie auch diesem Gesetzentwurf zustimmen.
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Parl. Staatssekretär Eduard LintnerIm übrigen, Herr Kollege Graf, darf ich noch eines sagen. Die Tatsache, daß der Bundesbeauftragte für Datenschutz dieser Regelung zugestimmt hat, zeigt doch, daß Ihre Bedenken nicht zu Recht bestehen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz auf den Drucksachen 12/7562, 12/8047 und 12/8101.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 a bis 16 g auf:
Familienpolitische Debatte
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland
Zukunft des Humanvermögens — Fünfter Familienbericht —— Drucksache 12/7560 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie und Senioren Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines . Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes
— Drucksache 12/6678 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Michael Habermann, Christel Hanewinckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wirtschaftliche Situation von Familien und deren soziale Auswirkungen
- Drucksachen 12/4353, 12/6224 -
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Hildegard Wester, Christel Hanewinckel, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bundeserziehungsgeldgesetz
— Drucksachen 12/6441, 12/7778 —
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Habermann, Christel Hanewinkkel, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zur Verhinderung der Aushöhlung des Kinderlastenausgeleichs im unteren Einkommensbereich
— Drucksache 12/7023 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie und Senioren Finanzausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie und Senioren zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Habermann, Christel Hanewinckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen verfassungsgemäßen und sozial gerechten Familienlastenausgleich
— Drucksachen 12/4128, 12/6428 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Diemers Christel Hanewinckel
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie und Senioren zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Habermann, Christel Hanewinckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verstärkung der Zusammenarbeit in familienpolitischen Fragen auf europäischer Ebene
— Drucksachen 12/5377, 12/7625 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Ortrun Schätzle Michael Habermann
Es liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion der SPD und ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Besteht damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Frau Bundesministerin Hannelore Rönsch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fünfte Familienbericht — das ist der erste gesamtdeutsche — liefert uns drei zentrale Erkenntnisse, die die Lage der Familie in unserem Lande beschreiben.Erstens. Die Menschen wollen in Familien leben. Sie entscheiden sich hierfür bewußter als früher und in Abwägung zu anderen Lebensformen. Auch haben
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Bundesministerin Hannelore Rönschsich Größe und Aufgabenverteilung in den Familien erheblich verändert. Und dennoch: Der hohe Stellenwert der Familie ist ungebrochen. In Familie verläßlich, geborgen und auf Dauer leben zu können, ist weiterhin das Ziel der allermeisten jungen Menschen.Zweitens. Die große Mehrheit junger Menschen wünscht sich Kinder. Auch diese Entscheidung treffen sie heute wesentlich bewußter und wägen sie mit den Vor- und Nachteilen eines Lebens ohne Kinder ab.Bei allem Respekt vor der historischen Leistung des ehemaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer, aber seiner Aussage „Kinder bekommen die Leute ja sowieso" ist heute eben nicht mehr vorbehaltlos zuzustimmen. Denn wir wissen, daß viele junge Paare ihren Kinderwunsch zunächst aufschieben und später oft weniger Kinder bekommen, als sie sich ursprünglich gewünscht haben.Drittens. Unsere Gesellschaft braucht die Familie. Ohne Familie haben wir keine Zukunft und keine Mitmenschlichkeit. Der Fünfte Familienbericht der Bundesregierung macht dies in sehr eindrucksvoller Weise deutlich. Die Leistungen der Familien für unsere Gesellschaft sind immens und unverzichtbar. Aber sie werden noch zu sehr als selbstverständlich von uns allen hingenommen. Die Familien leiden unter Wettbewerbsnachteilen und unter „strukturellen Rücksichtslosigkeiten" im Arbeitsleben, im Bildungswesen oder auf dem Wohnungsmarkt. Wir brauchen daher mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschaft. Wir brauchen eine größere Anerkennung und Wertschätzung der Leistungen, die Eltern, Eheleute und Alleinerziehende erbringen.Diese drei zentralen Erkenntnisse über die Lebenslage der Familie waren und sind die Richtschnur, an der sich Familienpolitik der Bundesregierung orientiert hat und auch weiterhin ausrichten wird. Unsere Politik stellt die Familie in den Mittelpunkt unseres Denkens und unseres Handelns, und ich will dies heute noch einmal hier belegen.Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren entscheidende Weichenstellungen für die Familien vorgenommen. Ich erinnere noch einmal an die Anerkennung von drei Erziehungsjahren im Rentenrecht für ab 1992 geborene Kinder, die Verdoppelung der Dauer und der Altersgrenze für Leistungen, die Alleinerziehende nach dem Unterhaltsvorschußgesetz erhalten, die Freistellung von je zehn Tagen für Mütter und Väter von der Arbeit bei der Erkrankung von Kindern bzw. von zwanzig Tagen für Alleinerziehende, die Erhöhung des Erst- und Zweitkindergeldes. Insgesamt geben wir augenblicklich für Kindergeld und Erziehungsgeld 27 Milliarden DM aus.Einen familienpolitischen Meilenstein haben wir mit der Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sowie deren kontinuierlichem Ausbau gesetzt. Denn erstmals haben damit Politik und Gesellschaft die vor allem von Frauen in den Familien erbrachten Leistungen um ihrer selbst willen anerkannt. Gerade das Erziehungsgeld bedeutet daher ein Stück größerer Gerechtigkeit gegenüber den Müttern und Vätern, die sich in den ersten prägenden Lebensjahren des Kindes voll seiner Erziehung widmen wollen und dafür den zeitweisen Verzicht auf ein zweites Familieneinkommen in Kauf nehmen.Als Familienministerin habe ich es im vergangenen Jahr natürlich als schmerzlich empfunden, auch bei den familienpolitischen Leistungen einige strukturelle Änderungen vornehmen zu müssen.
Wir haben Veränderungen — Frau Matthäus-Maier, das wissen Sie ganz genau — in der Struktur vorgenommen, die auch von Ihnen in der Vergangenheit für sogenannte Besserverdienende immer vorgeschlagen wurden. Das Erziehungsgeld wird jetzt nach dem aktuellen Einkommen gewährt, und es werden nicht mehr wie in der Vergangenheit im. Höchstfall die Einkommen von vor vier Jahren zugrunde gelegt. Ich glaube, daß wir hier ein Stück mehr Gerechtigkeit eingeführt haben; dazu bekenne ich mich auch.Die Fortentwicklung, meine sehr geehrten Damen und Herren, des Familienlastenausgleichs bleibt für uns alle eine dauerhafte und zwingende Aufgabe. Die Bundesregierung wird dabei den von ihr eingeschlagenen Weg konsequent weiterverfolgen.
— Ich komme noch zu Ihrem Modell. Wir werden darüber in der nächsten Zeit sicher noch sehr ausführlich diskutieren müssen, denn ich hoffe, daß wir auch Sie noch davon überzeugen können, daß Ihr Einheitsmodell wesentlich größere soziale Ungerechtigkeiten beherbergt.
In der Stellungnahme der Bundesregierung zum Fünften Familienbericht haben wir noch einmal festgeschrieben, daß wir auch in Zukunft die Unterhaltsleistungen von Familien verbessert berücksichtigen und die Transferleistungen bedarfsgerecht fortentwickeln werden. Für mich heißt das, daß zunächst der Kinderfreibetrag so weit angehoben wird, daß alleine durch ihn das Existenzminimum von Kindern steuerfrei gestellt wird.
Das ist eine Frage von Verfassungsrang, die es gebietet, den Familien nicht erst das wegzunehmen, was ihnen nicht weggenommen werden darf.
— Nein, das tun wir nicht.
Frau Kollegin Matthäus-Maier und auch Herr Kollege Habermann, die Sie momentan jede Fragestunde nutzen, um sich bei der Bundesregierung zur Familienpolitik schlau zu fragen: Warten Sie noch einen Moment, dann werde ich Ihnen ganz genau erklären, wo der Verfassungsrang liegt und was unser Modell gegenüber Ihrem auszeichnet und warum er zu größerer Gerechtigkeit führt!
Frau Ministerin, würden Sie mir erlauben, Sie zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen?
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Nein.
Danke. Ich muß es nur irgendwann einmal wissen.
Ich werde das heute nicht tun,
da ich gleich auch auf die Fragen eingehen werde, die beide Kollegen an dieser Stelle stellen.Wie sieht unser Modell aus? Wir werden am dualen Weg festhalten, und wir werden die steuerliche Freistellung durch den Kinderfreibetrag vornehmen. Berechnungen, die die Kinderfreibeträge als ungerecht darstellen, so wie von der Opposition momentan permanent behauptet, sind wirklich nur Scheinrechnungen über eine Steuer, die eigentlich gar nicht erhoben werden darf. Frau Matthäus-Maier, das wissen Sie ganz genau. Deshalb sind alle Ihre Behauptungen über eine angeblich ungerechte Wirkung des Kinderfreibetrags tatsächlich und auch rechtlich Unsinn.
Ich würde Sie einfach bitten, das noch einmal zu überprüfen. Über die Steuerfreistellung des Existenzminimums von Kindern hinaus wird das Kindergeld dann als echte Familienförderung so gestaltet, daß in erster Linie die Familien davon profitieren, die eine größere Kinderzahl haben oder deren Einkommen niedriger ist. Ich denke, daß wir dann zu einem echten Familienleistungsausgleich kommen werden.Dagegen wird das einheitliche Kindergeld, wie es permanent von der SPD propagiert wird, von uns abgelehnt. Sie wollen jedem das gleiche Kindergeld zahlen,
egal, wie hoch das Einkommen ist, dem Geringerverdienenden ebenso wie einem Millionär. Ich meine, das muß nun wirklich nicht sein.In Wirklichkeit verschleiert das, was Sie vorhaben, die Tatsache, daß der Familie ein Teil dieses Geldes erst einmal mit der einen Hand weggenommen wird, um es mit der anderen Hand dann über das Kindergeld zurückzuzahlen.
— Es hilft manchmal, einfach zuzuhören, weil unser Modell von Ihnen offensichtlich noch immer nicht verstanden worden ist.Wir wollen mit dem Kinderfreibetrag den Familien das Geld erst gar nicht wegnehmen.
Sie mit Ihrem 250-DM-Modell nehmen den Familien das Geld erst einmal weg
und tun nachher so, als wäre es eine großzügige Leistung von der SPD.
Hier werden wir nicht mitmachen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, daß wir mit dem Familienlastenausgleich auf dem richtigen Weg sind.
Wer hier das Gegenteil verbreitet, tut das wider besseres Wissen. Wir halten kontinuierlich an dem Weg fest, den wir auch in der vergangenen Zeit beschritten haben. Wir werden auch weiterhin bei der dualen Förderung bleiben und sie ausbauen. Dagegen können Sie doch wohl nichts haben.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin mir aber auch darüber im klaren, daß wir für einen echten und an die jeweilige wirtschaftliche Entwicklung angepaßten Familienleistungsausgleich insgesamt mehr finanziellen Spielraum brauchen.Wir werden - und davon bin ich überzeugt — auf Dauer noch ganz neue Wege gehen müssen, um zu einer gerechteren Zukunftssicherung zu gelangen; denn Familien dürfen gegenüber Kinderlosen nicht ins Hintertreffen kommen. Ich habe in der Diskussion einen Zukunftsbeitrag vorgeschlagen. Ich meine, daß wir jeden an der Absicherung seiner eigenen Zukunft beteiligen müssen.Das sieht z. B. auch der bisherige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, der in der nächsten Woche zu vereidigende Bundespräsident, so, der bereits verschiedentlich mit Blick auf den Familienlastenausgleich zu der Frage „Wer soll denn das bezahlen?" gesagt hat — Frau Präsidentin, gestatten Sie, daß ich hier den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes zitiere —:Die, die Kinder haben, die können es ja nicht zahlen, die sollen ja begünstigt sein. Also bleiben doch nur die übrig, die keine Kinder haben, mögen sie verheiratet sein oder als Singles leben.Meine sehr geehrten Damen und Herren, den Familien Vorfahrt vor anderen Gruppen in unserer Gesellschaft zu sichern — das gilt längst nicht nur im materiellen Bereich. Die Schaffung eines familien- und kinderfreundlichen Klimas geht alle an. Hier sind die Verantwortlichen im Bund, in den Ländern und Kommunen, die Tarifparteien, die Vermieter und die Bildungsträger ganz besonders gefordert.Ich will hier noch einmal ganz bewußt den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ansprechen, der jetzt von den Kommunen umgesetzt werden muß. Denn die Kardinalfrage fürjunge Männer und Frauen, für junge Familien ist auch die nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier müssen Betriebe mehr Rücksicht auf die Familien nehmen, schon in ihrem eigenen Interesse. Denn nur der, der den Faktor Familie in die Arbeitsorganisation und den Arbeitsablauf mit einbezieht, wird zukünftig im Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte gute Karten besitzen. Familienfragen dürfen nicht länger ein Randthema der
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Bundesministerin Hannelore RönschBetriebe sein; sie müssen fester Bestandteil einer jeden Unternehmensphilosophie werden.Besonders wichtig ist ein größeres Angebot von Teilzeitarbeitsplätzen; denn mehr als 30 % der jungen Paare, bei denen beide Partner Vollzeit arbeiten, wünschen, daß ein Partner lediglich teilzeit tätig ist. Das macht eine potentielle Nachfrage nach 450 000 Teilzeitarbeitsplätzen aus. Hier sind die Tarifparteien aufgefordert, die breiten Gestaltungsmöglichkeiten von Teilzeitarbeit endlich zu nutzen. Ich hoffe, daß man auch neue Wege geht, die Arbeitszeit flexibilisiert, aber auch die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze wesentlich stärker ausbaut.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung wird auch zukünftig fest an der Seite der Familien stehen. Sie sind die Herberge der Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft und die Trägerin unserer gemeinsamen Zukunft.
Nun hat Frau Kollegin Ingrid Matthäus-Maier das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Familienpolitik ist ein besonders trauriges Kapitel dieser Bundesregierung:
Eine Million Kinder leben von Sozialhilfe. Immer mehr Familien, vor allem in den neuen Bundesländern, sind durch die wirtschaftliche Situation so verunsichert, daß sie sich ihren Wunsch nach Kindern nicht erfüllen. Auf Grund einschneidender Kürzungen dieser Bundesregierung hat nur noch weniger als die Hälfte aller Eltern Anspruch auf das volle Erziehungsgeld.
Für Familien mit niedrigem Einkommen und mehreren Kindern ist es mittlerweile schon fast unmöglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden.Dabei sind Sie von der CDU/CSU es doch gerade, die allenthalben das Hohe Lied der Familie singen. Aber wie heißt es doch so richtig? — „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen". Bei den Taten sieht es leider ganz düster aus.
Geld ist in der Familienpolitik sicher nicht das allein seligmachende Mittel. Die Möglichkeiten staatlicher Familienpolitik sind sicher begrenzt. Aber ein fairer Familienleistungsausgleich ist das erste, was ein moderner Sozialstaat leisten kann und was er leisten muß. Auf dieses Thema Familienleistungsausgleich will ich mich heute morgen konzentrieren.Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach entschieden, daß der Familienleistungsausgleich, für den diese Bundesregierung verantwortlich ist, verfassungswidrig ist. Bis heute ist er durch Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten gekennzeichnet.Ungereimtheit Nummer eins. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe ein Gesetz, in dem stünde: Wer 2 500DM im Monat verdient, bekommt für sein Kind eine Steuerermäßigung von 65 DM. Wer 25 000 DM im Monat verdient, bekommt für sein Kind eine Steuerermäßigung von 181 DM.
Jeder würde meinen, da habe sich ein Druckfehler eingeschlichen, die Zahlen seien vertauscht worden, es müsse umgekehrt richtig sein. Aber weit gefehlt: Der Kinderfreibetrag bei der Steuer führt tatsächlich genau zu dem Ergebnis, daß Spitzenverdiener als Entlastung 181 DM bekommen.
— Als Entlastung, Herr Rind; reden Sie nicht immer darumherum.
Diese Ungerechtigkeit, daß ein Spitzenverdiener für sein Kind als Steuerentlastung 116 DM mehr erhält, werden wir Sozialdemokraten nicht hinnehmen.
Ungereimtheit Nummer zwei, der Kindergeldzuschlag. In einem gemeinsamen Merkblatt der Bundesanstalt für Arbeit und des Familienministeriums heißt es:Kann wegen niedrigem Einkommen dieser steuerliche Kinderfreibetrag nicht oder nicht voll genutzt werden, wird als Ausgleich hierfür ein Zuschlag zum Kindergeld gezahlt.Die Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus.
Der Grund ist, daß die Bundesregierung es unterlassen hat, die Rechtsgrundlagen für den Kindergeldzuschlag an die geänderte Besteuerung des Existenzminimums anzupassen.
Mehr als eine halbe Million Familien — und zwar die mit geringstem Einkommen — mit mehr als einer Million Kinder erhalten nicht den für sie gesetzlich vorgesehenen Kindergeldzuschlag. Frau Rönsch, eine Familienministerin, die das zu verantworten hat, hätte schon deswegen in den letzten Monaten zurücktreten müssen.
Ungereimtheit Nummer drei. Ein Ehepaar mit einem Spitzeneinkommen von mehr als 240 000 DM im Jahr, erhält, auch wenn es überhaupt keine Kinder hat, durch das Ehegattensplitting eine Steuerermäßigung von bis zu 22 842 DM jedes Jahr, allein für die Tatsache der Eheschließung. Eltern mit einem Kind und niedrigem Einkommen brauchen dagegen 14 Jahre, um über Kindergeld und steuerlichen Kin-
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Ingrid Matthäus-Maierderfreibetrag an diese Summe von 22 842 DM heranzukommen.
Daß hier ein grobes Mißverhältnis zwischen der Förderung der bloßen Ehe und der Förderung der Familie mit Kindern besteht, liegt klar auf der Hand.
Ohne Zweifel ist das alles höchst ungerecht. Aber kaum jemand merkt es, weil Sie diese Ungerechtigkeiten mit Absicht hinter den komplizierten Regelungen des Steuerechts verstecken.
Bei dem verwirrenden Durcheinander von Kinderfreibetrag, Kindergeld, Kindergeldzuschlag und Einkommensgrenzen ist unser Familienleistungsausgleich für die meisten Menschen ein bürokratisches Buch mit sieben Siegeln.Dennoch spüren die Familien mit Kindern immer deutlicher, daß sie schlecht behandelt werden und unter dieser Bundesregierung immer mehr ins Abseits geraten.Die CDU hat auf ihrem Parteitag das Familiensplitting beschlossen. Der Begriff klingt zwar gut, aber in der Sache hat das Familiensplitting drei entscheidende Fehler: Fehler Nr. 1: Spitzenverdiener werden beim Familiensplitting sogar 23 mal so viel entlastet wie Familien mit niedrigen Einkommen. Die Bundesregierung hat das bestätigt, Herr Staatssekretär.Fehler Nr. 2: Die Steuerermäßigung wird mit jedem zusätzlichen Kind geringer. Kinderreiche Familien werden folglich beim Familiensplitting benachteiligt.
Fehler Nr. 3: Niemand weiß, woher die vielen Milliarden kommen sollen, die das Familiensplitting kostet.
Das hat anscheinend auch Familienministerin Rönsch gemerkt, die sich heute dazu gar nicht geäußert hat. Frau Rönsch will vom Familiensplitting, obwohl der CDU-Parteitag Frau Rönsch ist ja Mitglied der CDU, zumindest noch, so nehme ich an — das Familiesplitting erst vor wenigen Tagen beschlossen hat, nichts wissen. Sie beharrt weiter auf dem Nebeneinander von Kindergeld und Kinderfreibetrag mit all den Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten, die ich soeben geschildert habe.Ich frage die Bundesregierung: Was gilt denn nun eigentlich? Der CDU-Parteitag will das Familiensplitting. Die Familienministerin will den Kinderfreibetrag. Herr Waigel will überhaupt nichts, weil er nicht bereit ist, zugunsten der Familien mit Kindern umzuschichten.
Die Koalition macht keinen gemeinsamen Vorschlag, weil sie zerstritten ist, und der Kanzler schweigt zu dem ganzen und spricht — wenn überhaupt — nur allgemein von der „heilen Familie".
Daß sich die Bundesregierung nach all den Jahren zu Lasten der Familie immer noch nicht auf ein Konzept einigen konnte, daß die Bürger immer noch nicht wissen, was CDU und CSU in der Familienpolitik eigentlich wollen, das ist nicht nur eine Blamage für die konservativen Parteien, das ist auch wirklich eine Zumutung für die Familien mit Kindern.
Das Modell der SPD ist demgegenüber klar, gerecht, einfach und solide finanziert.
Wir Sozialdemokraten wollen 250 DM Kindergeld im Monat vom ersten Kind an für jedes Kind. Kinderreiche Familien erhalten ab dem vierten Kind noch zusätzlich einen Zuschlag von 100 DM für jedes Kind.Um bürokratischen Aufwand zu vermeiden, wollen wir das Kindergeld sofort mit der Steuerschuld verrechnen. Frau Rönsch, ich bitte Sie wirklich zu unterlassen, daß Sie zum x-ten Mal hier im Bundestag und auch im Lande erzählen, wir wollten den Leuten erst etwas wegnehmen, um es Ihnen dann zurückzugeben.
Das ist die pure Unwahrheit, das wissen Sie. So etwas nennt man im Sprachgebrauch ein Lüge, Frau Ministerin.
Was wollen wir? Wir haben in allen unseren Programmen und von mir hier x-mal vorgetragen gesagt: Diese 250 DM pro Kind werden von Anfang an von der Steuerschuld abgezogen. Das heißt, wir nehmen den Leuten nichts weg, sondern wenn z. B. zwei Arbeitnehmer in der Automobilfabrik am Fließband stehen, der eine hat keine Kinder, der andere hat zwei, dann zahlt der mit den zwei Kindern gleich 500 DM — das sind zwei mal 250 DM — weniger Steuern. Lassen Sie also diese Unwahrheit, und nehmen Sie zur Kenntnis: Unsere 250 DM werden gleich von der Steuerschuld abgezogen.
Wenn die Steuerschuld geringer ist, dann wird die Differenz ausbezahlt, und zwar über das Finanzamt. Das wäre ein großer Beitrag zur Entbürokratisierung.Diese Reform ist unbürokratisch, transparent und gerecht. Sie hilft vor allem den Millionen Normalverdienern, die jede Mark für ihre Kinder dringend brauchen.Um eines gleich klarzustellen: Sie behaupten immer: Dieser Vorschlag sei verfassungswidrig. Es ist klar: Dieser Vorschlag ist verfassungsgemäß. Ich darf
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Ingrid Matthäus-MaierSie an die langjährige Spruchpraxis von Karlsruhe erinnern. Das Verfassungsgericht hat zuletzt im Mai 1990 entschieden - und ich lese wörtlich vor —:Dem Gesetzgeber steht es frei, die kinderbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche durch das Kindergeld miteinander zu kombinieren.Steuerliche Kinderfreibeträge statt oder neben Kindergeld sind also entgegen Ihrer Behauptung kein verfassungsrechtliches Muß. Ihr Streit hierüber ist eine ideologische und keine verfassungsjuristische Auseinandersetzung.
Wenn Sie von der Koalition darauf beharren, daß Spitzenverdiener für ihre Kinder fast dreimal so viel Entlastung erhalten wie Eltern mit niedrigem Einkommen für ihre Kinder, dann sagen Sie diese Zumutung den Menschen ehrlich ins Gesicht. Verschanzen Sie sich nicht mit falschen Zitaten hinter dem Bundesverfassungsgericht, meine Damen und Herren!
Und stellen Sie auch nicht die durch nichts zu beweisende Behauptung auf, ein progressives Steuersystem erfordere eine progressiv wirkende Entlastung. Sie kennen doch den Grundfreibetrag bei der Steuer. Da wird jeder Bürger um den absolut gleich hohen Betrag entlastet, obwohl es ein Freibetrag ist, nämlich um 1 067 DM im Jahr. Wenn aber die Aufwendungen für das Existenzminimum des Steuerzahlers selber nur linear, also für alle gleich hoch, entlastend wirken, können Sie mir dann einmal erklären, warum Sie behaupten, beim Kinderfreibetrag müßten reiche Leute fast dreimal so viel Entlastung für ihr Kind erhalten wie kleine Leute? Nein, Sie müssen den Bürgern schon offen ins Gesicht sagen, was Sie politisch wollen, nämlich 181 DM für die Reichen und 65 DM für die Kleinen. Verschanzen Sie sich nicht hinter Juristerei und Steuersystematik!
Wir Sozialdemokraten werden eine solche Ungerechtigkeit niemals hinnehmen, meine Damen und Herren.
Unser Vorschlag von 250 DM Kindergeld vom ersten Kind an ist auch solide durch Umschichtungen finanziert. 21 Milliarden DM haben wir bereits durch das Kindergeld, 17 Milliarden DM bekommen wir durch das Ersetzen des Kinderfreibetrages und 12 Milliarden DM durch eine maßvolle Begrenzung des Ehegattensplittings zugunsten der Familien mit Kindern. Bei einem Steuerausfall durch das Ehegattensplitting von heute über 30 Milliarden DM würden also bei unserem Vorschlag fast zwei Drittel des Splittings erhalten bleiben. Dies zeigt, Ihre Behauptung, Sozialdemokraten wollten das Ehegattensplitting abschaffen, ist die schlichte Unwahrheit. Nein, was wir wollen, ist maßvolle Begrenzung.
Und ebensowenig trifft Ihre Behauptung zu, das Bundesverfassungsgericht ließe eine solche Begrenzung nicht zu. Ich kenne die Urteile alle. Ich habe sie da alle liegen. Karlsruhe sagt, das Splitting sei „keine beliebig veränderbare Steuervergünstigung". Das ist richtig. Eine maßvolle Umschichtung vom Splitting hin zur Entlastung der Familien mit Kindern ist aber nicht beliebig, sondern im Gegenteil sachorientiert und familienfreundlich. Ich halte sie sogar für verfassungsrechtlich geboten, denn unser Grundgesetz schützt ausdrücklich nicht nur die Ehe, sondern auch die Familie, meine Damen und Herren.
Spätestens der jetzt vorgelegte Familienbericht der Bundesregierung müßte Sie eigentlich zu einer familienpolitischen Wende veranlassen; denn der schreibt all das, was ich hier vorgetragen habe, klagt über die ungerechte Schlagseite der Kinderfreibeträge, verlangt eine Begrenzung des Ehegattensplitting. Es ist wirklich bedauerlich, Frau Rönsch, daß Sie sich gerade diese Vorschläge im Familienbericht nicht zu eigen machen wollen, sondern sich ausdrücklich von ihnen distanzieren. Die Leidtragenden sind leider die Familien mit Kindern.
Daß unser Kindergeldvorschlag die richtige Lösung ist, wissen doch auch viele Kollegen von Ihnen in der CDU/CSU.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß sich die Kollegen Hintze, Geißler und Frau Süssmuth dem Kindergeldvorschlag der SPD im Prinzip angeschlossen haben. Dies zeigt doch, meine Damen und Herren: Wir könnten hier gemeinsam etwas für die Familien mit Kindern tun.Geben Sie sich einen Ruck! Überwinden Sie Ihre ideologischen Sperren! Stimmen Sie unserem Vorschlag „250 DM Kindergeld " zu! Die Gewinner wären endlich einmal die Familien mit Kindern.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich möchte nunmehr dem Abgeordneten Norbert Eimer das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was an familienpolitischen Leistungen von dieser Koalition eingebracht wurde, ist oft genug von der Regierung und auch von Kollegen der Koalition in diesem Hause aufgezählt worden. Dies wird heute wieder gemacht. Ich will Ihnen und mir eine Wiederholung ersparen und meine Zeit einigen grundsätzlichen Aussagen widmen.Die SPD hat die eigentlichen Schwächen des Familienlastenausgleiches nicht erkannt, sondern nur ihre alten Ladenhüter wiederaufgewärmt. Eine Kappung
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Norbert Eimer
des Ehegattensplittings bedeutet, daß erstens die Familienarbeit der Erwerbsarbeit nicht mehr gleichgestellt wird, daß zweitens das Einkommen des einen Partners, meistens des Mannes, steuerrechtlich nicht mehr automatisch auch das Einkommen der Frau ist — die Gleichwertigkeit der Arbeit der Frau wird durch das Steuermodell der SPD aberkannt —
und daß drittens — das ist, wenn ich an Gerechtigkeit denke, das Wichtigste, Frau Fuchs — zwei Ehepaare mit gleichem Gesamteinkommen unterschiedlich hohe Steuern zahlen, und zwar zahlt in der Regel die Familie mit Kindern mehr als die Familie, in der das Einkommen auf beide Ehepartner gleichmäßig aufgeteilt ist, weil sie keine Kinder haben und daher beide erwerbstätig sein können. — Das ist die Wirkung des SPD-Modells.
Die SPD holt sich das Geld für die Finanzierung ihres Familienlastenausgleichs von den Familien mit Kindern.
Meine Kollegen, die SPD versteht die Mathematik des eigenen Systems nicht.Damit komme ich zu einem grundlegenden Fehler in unseren gesamten Familienlastenausgleichsgesetzen: Die Gesetzestexte werden nicht als eine Textaufgabe zu einer mathematischen Formel, mit der Gelder und Leistungen an die Familien verteilt werden, gesehen. Es ist peinlich, meine Kollegen, daß es im ganzen Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages keinen einzigen Mathematiker gibt, der uns beraten könnte.Im heutigen Familienlastenausgleichssystem wird eine Forderung des Bundesverfassungsgerichts auf Steuerfreiheit des Existenzminimums dadurch herzustellen versucht, daß man Freibeträge mit Transferleistungen verrechnet und umrechnet. Dieses System hat den Nachteil, daß es unübersichtlich ist und eine klare Struktur nicht erkennen läßt.Wenn das Existenzminimum steuerfrei sein muß — die Forderung bezieht sich nicht nur auf Kinder, sondern auch auf die Erwachsenen —, dann ist die mathematische Umsetzung dieser Forderung ein Freibetrag. Er besagt, daß alle Steuerzahler, ganz gleich, wie hoch ihr Einkommen ist, das Existenzminimum nicht versteuern müssen und die zuviel gezahlte Steuer zurückerhalten. Das bedeutet natürlich, daß derjenige, der zuvor mehr Steuern gezahlt hat, dieses Mehr auch zurückbekommt. Freibeträge begünstigen also keineswegs die Besserverdienenden.Der Vorwurf einer Begünstigung der Besserverdienenden wird von der SPD nicht erhoben, wenn es um den Arbeitnehmerfreibetrag und andere ähnlich wirkende Maßnahmen im Steuerrecht geht. Erst dann, meine Damen und Herren, wenn sämtliche Existenzminima in einer Familie durch Steuerfreibeträge freigestellt sind, beginnt der Familienlastenausgleich. Freibeträge sind noch kein Familienlastenausgleich.Kindergeld ist eine gute und richtige Maßnahme des Familienlastenausgleichs. Ich wiederhole aber: Kindergeld als Element des Familienlastenausgleichs und Freibeträge dürfen nicht verwechselt, miteinander verrechnet oder vermischt werden. Gott sei Dank sind im Finanzministerium die richtigen Überlegungen getroffen worden.Ich teile die Meinung derjenigen, die sagen: Wer gut verdient, braucht weniger Kindergeld. Um dies zu gewährleisten, sind Einkommensgrenzen eingeführt worden, die diese Transferleistungen bei höherem Einkommen beschneiden.Aber viele Gutachter — Ifo-Institut, eine EnqueteKommission des Deutschen Bundestages — weisen immer wieder darauf hin, daß Einkommensgrenzen dazu ein sehr ungeeignetes Mittel sind. Mit diesen Einkommensgrenzen entsteht eine sogenannte Brutto-netto-Umkehrung, d. h., daß derjenige, der eine Mark brutto mehr verdient, im Einzelfall viel weniger hat als derjenige, der eine Mark weniger verdient.Das ist sozialpolitisch höchst ungerecht, und das kann niemand so wollen. Die Befürworter von Einkommensgrenzen können froh sein, daß der Bürger die Wirkungen meistens nicht erkennt; sonst wäre der Arger über die Einkommensgrenzen grenzenlos.Dabei gäbe es eine ganz einfache Methode, um die gewünschte Wirkung zu erzielen: Man besteuert diese Transferleistungen. Das würde bedeuten, daß der, der keine Steuern zahlt, die Leistung in voller Höhe erhält, und der, der im Spitzensteuersatz liegt, weniger als die Hälfte dieser Leistung ausbezahlt bekommt. Eleganter, sozialer und gerechter kann man es wirklich nicht mehr machen. Darüber hinaus ist es auch von der Verwaltung her das einfachste System, das man sich denken kann.Die F.D.P. hat mit ihrem Vorschlag eines Bürgergeldes diese Idee aufgenommen und in die politische Diskussion eingebracht.
Ich möchte aber meiner Partei und meiner Fraktion den Rat geben, diese Neuerung nicht auf einmal, sondern in einzelnen Schritten durchzuführen. Ein Bürgergeld kann, wenn es unüberlegt und ohne einzelne Etappen eingeführt wird, auch zu Problemen führen, die heute noch nicht so deutlich sind. Einer der ersten Schritte sollte die Besteuerung der Transferleistungen und deren Auszahlung über das Finanzamt sein. Weitere Schritte können dann folgen.Die Einkommensgrenzen haben aber auch zu einigen anderen Fehlern in unserem System geführt, die zum Teil verfassungswidrig sind. So beträgt z. B. die Einkommensgrenze beim Drittkindergeld und beim Erziehungsgeld für Ledige 75 000 DM und für Verheiratete 100 000 DM. Das heißt aber, daß zwei Ledige, die wie ein Ehepaar zusammenleben, nicht 100 000 DM, sondern 150 000 DM im Jahr frei haben, also 50 000 DM mehr. Das Signal, das dahintersteckt, ist katastrophal. Es sagt nämlich nichts anderes als: Laßt euch scheiden; dem Staat ist ein lediges Paar mehrDeutscher Bundestag 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20725Norbert Eimer
wert als ein verheiratetes. — Das, meine Damen und Herren, muß geändert werden.Hier wurden zwei Funktionen verwechselt, nämlich die Wirkung von Einkommensgrenzen und von Transferleistungen. Einkommensgrenzen geben an, bis zu welchem Lebensstandard eine staatliche Förderung erfolgen soll. Dieser Lebensstandard muß für Ledige und Verheiratete gleich hoch sein. Das heißt, Verheiratete müssen — wie auch im Steuerrecht — doppelt so hohe Einkommensgrenzen bekommen wie Ledige. Der höhere Haushaltsbedarf für Ledige muß dann über Transferleistungen oder über Freibeträge geregelt werden.Ein zweiter Fehler hat sich eingeschlichen, der ebenfalls zu sozialen Ungerechtigkeiten führt. So gibt es Einkommensgrenzen für das Familieneinkommen, bis zu denen Kindergeld gezahlt wird. Gleichzeitig wird aber eine zweite Einkommensgrenze eingeführt, die für das Einkommen des Kindes gilt. Wenn also z. B. die Ausbildungsvergütung für einen Lehrling höher ist als 750 DM, entfällt das Kindergeld, auch wenn die Eltern sehr arm sind. Dies kann z. B. die Familie eines Maurerlehrlings betreffen, der eine verhältnismäßig hohe Ausbildungsbeihilfe erhält. Dagegen wird das Kind von Bessergestellten, die noch knapp unterhalb der Einkommensgrenze liegen, bei denen das Kind aber selber kein eigenes Einkommen hat, noch gefördert. Anders ausgedrückt: Die beiden Einkommensgrenzen können bewirken, daß arme Familien aus der Förderung herausfallen, Bessergestellte a ber Förderung bekommen. Das kann doch so nicht gewollt sein.Einen Bereich, meine Kollegen, muß ich noch ansprechen, und zwar die Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung. Dieses Parlament hat die Anerkennung eines zweiten und dritten Jahres für Geburten ab 1992 beschlossen. Weil man auch hier nicht gerechnet hat, hat sich ein Fehler eingeschlichen, den ich Ihnen vorrechnen will. Eine Frau, Alter: 24, bekommt 1994 ein Kind. Im Jahre 2030 ist sie 60 Jahre alt und geht in Rente. Das heißt aber, wir haben durch die Anerkennung der Erziehungsjahre dem Staat eine weitere finanzielle Belastung für die Zeit auferlegt, von der Versicherungsmathematiker sagen, daß dann die großen Probleme der Rentenversicherung beginnen. Wir schieben Probleme, die wir heute lösen müßten, auf das Jahr 2030.Frau Rönsch, Roman Herzog hat bei Ihrem Geburtstag auf die Probleme der 30er Jahre im nächsten Jahrhundert hingewiesen. Das kann so nicht bleiben.Wir werden auch eine neue Diskussion bekommen, die nur mit der Diskussion um die Trümmerfrauen verglichen werden kann. Alle diejenigen, die das Pech hatten, daß ihre Kinder vor dem Stichtag zur Welt gekommen sind, werden leer ausgehen. Beides, meine Kollegen, kann unsere Gesellschaft nicht hinnehmen, weder die soziale Ungerechtigkeit noch die finanzielle Gefährdung unseres Rentensystems. Dabei könnten wir eine Anerkennung von weiteren Erziehungsjahren sogar zum jetzigen Zeitpunkt finanziell durchaus verkraften, wenn sie anders gestaltet würde. Wenn wir z. B. jedes Jahr über einen renteninternen Ausgleich die Anrechenbarkeit von nur einem Monat mehr an Kindererziehungszeit gewähren würden, dann wären wir zum gleichen Zeitpunkt wie bei der verabschiedeten Regelung bei der Anerkennung von insgesamt drei Erziehungsjahren in der Rentenversicherung angelangt, nur mit dem Unterschied, daß dies finanziell verkraftbar wäre und eine neue Trümmerfrauenregelung verhindern würde.
Ich habe auf diesen Fehler schon mehrmals hingewiesen, auch hier im Plenum. Es ist mir eigentlich unverständlich, daß dies weder von Kollegen, auch nicht von Kollegen der Opposition, noch von der Presse aufgegriffen wurde. Wenn wir den Crash des Rentensystems im Jahre 2030 vermeiden wollen, dann müssen wir diesen Fehler spätestens zum Ende der nächsten Legislaturperiode beseitigt haben.Meine Kollegen, ich werde im nächsten Bundestag aus freien Stücken nicht mehr dabeisein. Ich lege es aber den Kollegen, die sich im Jahre 1995 hier zusammenfinden, dringend ans Herz, diesen Fehler zu beseitigen.Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich auch gleich bei meinen Kollegen sehr herzlich bedanken für die Zusammenarbeit in den letzten 18 Jahren und die Nachsicht, die mir gewährt wurde, wenn ich manchmal etwas ungeduldig war. Ich hoffe, daß meine Argumente andere nicht verletzt haben und daß die Diskussion, das Ringen um eine richtige, optimale Lösung Ihnen genausoviel Freude gemacht hat wie mir.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau von Renesse das Wort.
Lieber Herr Kollege Eimer, es wäre wirklich sehr schön, wenn Sie, insbesondere auf Grund dessen, was wir im letzten Teil Ihrer Rede gehört haben, dem nächsten Bundestag angehören würden, um unsere Politik zu unterstützen. Denn im letzten Teil Ihrer Rede machten Sie Opposition. Sie sprachen davon, was hätte gemacht werden müssen und wo die Fehlerquellen liegen, aber ich habe nicht gesehen, daß sich Ihre Fraktion oder die Koalition insgesamt nun für eine gerechtere Lösung in all den Bereichen, die Sie angesprochen haben, mit wirklicher Energie eingesetzt hätten. Sie sind ein Stück Opposition zugunsten der Familie, und deswegen hätten wir Sie wirklich im nächsten Bundestag gebraucht. Nur schade, daß Ihre Wirkung so begrenzt war.
Zum ersten Teil — dieser hat mich veranlaßt, etwas zu sagen —: Ich kenne ja Ihr Argument, das Ehegattensplitting in seiner heutigen Form sei die einzige Möglichkeit, die Gleichrangigkeit von Ehemann und Ehefrau, wie immer sie die Arbeit in der Ehe oder in der Familie aufteilen, zu gewährleisten. Sie wissen ganz genau, daß das Bundesverfassungsgericht in
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20726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Margot von Renesseseinen Entscheidungen zum Ehegattensplitting zwar hervorgehoben hat, daß dieses eine Möglichkeit dazu sei, keineswegs aber die einzige. Sie ist auch nicht, wie es meine Kollegin Matthäus-Maier zitiert hat, beliebig veränderbar, aber durchaus veränderbar. Das gibt es in den unterschiedlichsten Bereichen, z. B. beim begrenzten Realsplitting bei getrennt lebenden Ehegatten — von Geschiedenen spreche ich gar nicht —, bei dem wir nach einem ganz anderen mathematischen Prinzip verfahren.Entschuldigen Sie, Herr Eimer, in anderen Ländern Europas, in denen es diese Form des Ehegattensplittings nicht gibt, kann man nicht behaupten — wenn ich an Skandinavien denke —, daß Ehefrauen nun die unterdrücktesten und geknechtetsten Personen seien und daß ihre Gleichrangigkeit nicht gewährleistet wäre. So logisch stringent scheint mir das nicht zu sein. Wenn Sie für eine derart logisch stringente Lösung eintreten, frage ich Sie: Wo ist denn Ihr Einsatz dafür geblieben, daß jede Ehefrau in einer sogenannten intakten Ehe Anspruch auf die Hälfte des Einkommens hat,
in cash, oder daß ihr zumindest die Steuervorteile der Steuerklasse III ausgezahlt werden und nicht dem erwerbstätigen Ehemann? Dieses paßt nicht zusammen, und die Behauptung betreffend die Gleichrangigkeit ist von daher nicht ganz logisch.
Zur Erwiderung erteile ich dem Abgeordneten Norbert Eimer das Wort.
Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich muß einiges richtigstellen.
Zunächst einmal habe ich mich in diesem Haus nie als Opposition gefühlt, sondern ich habe immer das gesagt, was ich für richtig halte, und habe das nach allen Seiten hin gesagt. Ich geißele die Fehler, die bei uns gemacht werden, genauso wie die Fehler, die bei Ihnen gemacht werden. Nur habe ich den Eindruck, daß auf mich in meiner Fraktion etwas mehr gehört wird und daß z. B. bei der Einführung des Bürgergeldes eine große Menge von dem verwirklicht worden ist, was ich seit langem fordere.
— Im Programm verwirklicht worden ist, selbstverständlich. Sie haben ja auch gehört, daß ich mit einer gewissen Vorsichtigkeit herangehe, indem ich meiner eigenen Fraktion rate, dies in Schritten zu tun.
Das zweite: Der Vorwurf, daß ich mich nicht dafür einsetze, daß die Frau ein gleiches Einkommen hat, trifft mich ebenfalls nicht. Ich setze mich dafür ein, und zwar nicht nur in diesem Fall, sondern ich habe mich z. B. auch bei der letzten Rentenreform dafür eingesetzt, daß wir nicht diese Rentenreform, sondern ein Rentensplitting bekommen. Das hätte bedeutet, daß die Gleichwertigkeit der Ehefrau in einer intakten Ehe, solange die Ehe funktioniert, anerkannt worden wäre und nicht erst bei Scheidung. Dies ist leider auf Grund von Äußerungen von Verfassungsrechtlern gescheitert. Das Verfassungsgericht hat allerdings
dann ungefähr einen Monat später das Gegenteil gesagt, also meine Meinung bestätigt. Leider gab es da eine Allianz von Frauen vor allem aus der Opposition, aus der SPD. Das läßt sich nachweisen.
— Ja, das war so.
Meine Kollegen, ich komme auf das zurück, weswegen ich manchmal etwas belächelt werde: Wir können diese Gesetze nicht verwirklichen, wenn wir uns nur hinsetzen und schöne Worte formulieren, ohne zu wissen, wie sich die Gesetze, die wir formulieren, mathematisch auswirken. Wir müssen umdenken. Jeder Betrieb hat seinen Mathematiker, der die Modelle auch dort umrechnet, wo scheinbar nichts mit Mathematik geht. Es geht meistens so. Wir arbeiten hier im Bundestag im Grunde noch wie in der Steinzeit.
Das ist auch der Vorwurf, den ich an die Opposition mit ihrem Modell gerichtet habe, weil sie die Mathematik ihres eigenen Modells nicht begriffen hat. Das ist hier oft genug dargestellt worden.
Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Professor Ursula Männle das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute den ersten gesamtdeutschen Familienbericht der Bundesregierung. Er ist eine Fundgrube an Statistiken und Zahlenmaterial über die Situation der Familie in Deutschland. Er zeichnet ein realistisches Bild der Familie. Er zeichnet nicht das Krisenszenario und die Horrorvision von Frau Matthäus-Maier.
Im Mittelpunkt dieses Berichtes steht die Familie im Wandel. Die Erfordernisse und Maßnahmen in Politik und Gesellschaft werden beschrieben. Der Titel des Familienberichts läßt uns aufhorchen: „Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland — Zukunft des Humanvermögens".Was besagt dieser sehr ökonomisch klingende Untertitel? Ich darf aus dem Familienbericht zitieren:Der Begriff Humanvermögen bezeichnet zum einen die Gesamtheit der Kompetenzen aller Mitglieder einer Gesellschaft, von jungen und alten Menschen, von Kindern, Eltern und Großeltern, von Kranken, Behinderten und Gesunden. Zum anderen soll mit diesem Begriff in einer individualisierenden, personalen Wendung das Handlungspotential des einzelnen umschrieben werden, d. h. all das, was ihn befähigt, sich in unserer komplexen Welt zu bewegen und sie zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang spielt auch die Fähigkeit. zum Eingehen verläßlicher Bindungen und damit die Möglichkeit, Familie leben zu können, eine zentrale Rolle. Schließlich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20727
Ursula Männleverknüpfen sich in der Familie die Lebenspotentiale aller Gesellschaftsmitglieder. Die Familie ist der bevorzugte Ort der Entstehung und Erhaltung von Humanvermögen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe dies extra so ausführlich zitiert, weil wir diese Bewertung in der Diskussion um den Standort Deutschland nie gehört haben. Das Humanvermögen Familie kam in der meist sehr ökonomisch geführten Diskussion um den Standort vor. Es ist unsere Aufgabe, diesen Akzent zu verstärken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen, die Familie gibt es nicht. Familie hat sehr viele Formen. Familien sind vielschichtige, sich wandelnde soziale Gebilde mit unterschiedlicher Binnenstruktur und Problemlage. Eine Homogenisierung — und sei sie auch nur rhetorisch — verbietet sich. Mehr denn je zeichnen Form- und Problemvielfalt die Situation von Familien aus. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturwandel hat die Familie verändert. Er hat ihre Aufgaben und Leistungen, die Innenbeziehungen in der Familie, aber auch die Außenbeziehungen zur Gesellschaft verändert. Auch die Erwartungen der Familienmitglieder sind anders geworden, als dies früher der Fall war.Insbesondere — gestatten Sie mir, daß ich das besonders hervorhebe — Frauen, die Mütter — bislang Hauptleistungserbringerinnen der Familie —, fordern zu Recht, daß wir diesen Problemsituationen, der veränderten Rolle der Familie gerecht werden, daß mehr Gemeinsinn in die Familie einzieht und daß eine gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten vorgenommen wird.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen: Es gibt eine sehr gespaltene, widersprüchliche Diskussion in unserer Gesellschaft. Einerseits werden die strukturellen und funktionalen Veränderungen der Familie, die Individualisierung und Pluralisierung der familialen Lebensformen beschrieben. Der Verfall und der Untergang der Familie werden prophezeit.Andererseits — das hat auch die Ministerin sehr deutlich gemacht — zeigen die Umfragen, daß Familie auf der Prioritätenliste der jüngeren Generation ganz oben steht, daß die meisten in unserer Gesellschaft Familie — wenn auch manchmal nur für eine bestimmte Zeitspanne ihres Lebens — als eine wichtige Form ihres Zusammenlebens betrachten. Nicht nur die Attraktivität der Familie ist gestiegen, auch ihre Akzeptanz ist belegbar. Die Zahlen im Familienbericht sprechen ein deutliches Wort.Belegbar ist aber auch ein Umdenken hinsichtlich des gesellschaftlichen Stellenwertes von Familie — des Humankapitals.Erstens. Familien tragen in erheblichem Umfang zur unentgeltlichen Wertschöpfung in unserer Gesellschaft bei, nicht nur durch die Erziehung von Kindern, sondern auch durch die Pflege von älteren und kranken Menschen. Sie erfüllen wichtige, ja lebensnotwendige Aufgaben für die Gesellschaft, ohne von derGesellschaft dafür ausreichend honoriert zu werden.Im Mittelpunkt unserer Politik muß daher die gesellschaftspolitische Anerkennung des produktiven Charakters familialer Solidarität stehen. Es muß deutlich werden, daß für die Gesellschaft Familie der größte Leistungsträger ist. Man sollte sich nur einmal die Situation vorstellen, was passieren würde, wenn die Familienarbeiter, sprich: die Frauen, in Streik treten würden, was wir an zusätzlichen Erzieherinnen, Lehrern, Psychologen und anderen brauchen. Man könnte auch sehr gut umrechnen, welchen Wert das im Bruttosozialprodukt bedeuten würde, in dem es leider nicht enthalten ist.Zweitens. Familiales Engagement und Elternverantwortung sind bislang Handicaps für gesellschaftliches, politisches und berufliches Engagement. Die Leistungen in diesem Bereich müssen stärker berücksichtigt werden. Die Bundesregierung ist einen wichtigen Schritt gegangen: Sie hat z. B. im Zweiten Gleichberechtigungsgesetz Erziehungsarbeit als ein Qualifikationsmerkmal für den Einstieg in den Beruf, aber auch für den Aufstieg gewertet und anerkannt.
Drittens. Arbeit ist nicht nur Erwerbsarbeit, öffentlich geleistete und direkt entlohnte Arbeit. Wir müssen einen neuen Arbeitsbegriff in den Mittelpunkt stellen. Das eigentlich Neue, das Kernstück einer zukunftorientierten Familien- und Gesellschaftspolitik, ist dieses neue Verständnis von Arbeit, das neben der Erwerbsarbeit Familienarbeit mit einbezieht. Aber lassen Sie mich noch ergänzen: Soziales Engagement, auch die ehrenamtlichen Tätigkeiten müssen mit eingerechnet werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die inner-familiäre Solidarität wird von der Familie geleistet. Wir müssen uns aber fragen, ob die Gesellschaft diese Solidarität auch mit den Familien übt. Wir profitieren von der Solidarität der Familien, und diese fordern zu Recht mehr Unterstützung und Rücksichtnahme.Nach Art. 6 unseres Grundgesetzes ist es Aufgabe des Staates, diese Solidarität zu verwirklichen. Das Bundesverfassungsgericht — das ist ebenfalls deutlich geworden — hat schon mehrmals angemahnt, daß die Belastungen, die Familien auf sich nehmen, nicht nur ausgeglichen werden müssen, sondern daß die Leistungen auch honoriert werden müssen.
— Ich komme gleich darauf, Frau Höll, warten Sie nur.Ich möchte ganz deutlich in den Mittelpunkt stellen: Notwendig ist der Wechsel von einem Lastenausgleich zu einem Leistungsausgleich. Die Ministerin hat bereits ausgeführt, was wir machen wollen. Frau Matthäus-Maier hat das sehr kritisiert. Ich betone es nochmals: Wir wollen die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes und als Ausgleich für diejenigen, die von der steuerlichen Freistellung nicht profitieren, eine entsprechende Kindergelderhöhung
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20728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Ursula Männlemit Integration des Kindergeldzuschlags. Kindergeld muß gezielt für sozial Schwächere und für Kinderreiche eingesetzt werden. Das ist unser Modell. Sie wissen genau, Frau Matthäus-Maier, daß das Bundesverfassungsgericht sowohl einen vertikalen wie einen horizontalen Ausgleich gefordert hat.
— Lassen Sie mich zu Ende reden. Sie haben vorhin schon gesprochen und überzogen. Ich möchte meine Zeit nicht überziehen, sondern fertig werden.
Ich möchte deutlich machen, daß wir von den großen Familienverbänden unterstützt werden. Sie wollen keine Abkehr von dem bisherigen zweigliedrigen System. Ich denke, das sollte allen Zweiflern, auch Ihnen, Frau Matthäus-Maier, und anderen — es gibt diese Zweifler auch anderswo —, zu denken geben. Ich würde Ihnen empfehlen, Frau MatthäusMaier, kurz in die internen Papiere des Kollegen Habermann hineinzuschauen, in denen er durchaus Zweifel an der Verfassungskonformität dieser Form des Kindergeldes, wie Sie es vorschlagen, äußert.
Wir, die Union, versprechen kein familienpolitisches Paradies. Ich sage das sehr deutlich. Wir leugnen nicht, daß es noch vielfältige Probleme gibt. Aber die Forderung, die Sie aufstellen — „Wir wollen alles, und zwar sofort!" —, ist wirklich unseriös. Ich frage Sie: Was haben Sie in der Familienpolitik getan? Warum haben wir das Verfassungsgerichtsurteil, liebe Frau Matthäus-Maier? Weil Sie jahrelang nur 50 DM Kindergeld bezahlten und keine Freibeträge hatten. Wir haben die Kinderfreibeträge wieder eingeführt.
Wir haben mit 432 DM begonnen und sind jetzt bei 4 104 DM. Wir haben — ich betone: wir — das Erziehungsgeld eingeführt.
Wir haben den Erziehungsurlaub eingeführt. Wir haben die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt.
Wir haben Kinderberücksichtigungszeiten, wir haben Pflegeberücksichtigungszeiten eingeführt. Wir haben die Freistellung der Eltern von der Arbeit auf jetzt zwanzig Tage erhöht. Wir haben die Dauer des Bezugs aus den Unterhaltsvorschußkassen erhöht. Wir haben die Bundesstiftung Mutter und Kind gegründet. Ich könnte noch weitermachen. Ich weiß, Sie hören es nicht gerne. Aber wir fangen mit der Familienpolitik nicht erst an, wir haben sie in den letzten elf Jahren praktiziert. Sie stand im Zentrumunserer Politik. Wir haben den Aktionismus, den Sie an den Tag legen, wirklich nicht nötig.
Familie hat Zukunft. Familie ist der bevorzugte Ort der Entstehung von humanvermögen; ich möchte dieses Wort noch einmal aufgreifen. Trotz wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels scheint die Familie für die meisten Menschen unersetzbar zu sein, ja an Bedeutung zu gewinnen.Lassen Sie mich mit einem Zitat von Beer schließen:Die Familie lebt, ist in allen Wandlungen wiederauffindbar, stellt sich auf immer neue Füße, ist wahrscheinlich das überlebensfähigste soziale Stehaufmännchen — oder soll man sagen: -weibchen? — der Weltgeschichte.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau Ingrid Matthäus-Maier das Wort.
Liebe Frau Männle, ich kann verstehen, daß Sie das andere Konzept Ihrer Fraktion und Ihrer Partei unterstützen. Aber ich bitte Sie dann wirklich, politisch zu argumentieren und nicht juristisch. Ich bin selber Juristin. Ich kenne wie viele von uns die einschlägigen Urteile des Verfassungsgerichts. Wir haben sie genau studiert.
Das Karlsruher Gericht sagt ausdrücklich, daß man sowohl den Weg über Kinderfreibeträge gehen kann als auch über das Kindergeld als auch über das duale System. Sie haben gerade wieder gesagt,
gegenüber unserem Modell bestünden verfassungsrechtliche Zweifel.
— Auch Ihre Zwischenrufe zeigen, daß Sie darauf beharren, das sei verfassungsrechtlich nicht in Ordnung. Ich weise das zurück. Alle Anhörungen haben gezeigt: Man kann sich politisch auseinandersetzen.
Ziehen Sie nicht die Juristerei mit falschen Zitaten heran, wenn Sie politisch Angst haben, vor den Bürger zu treten und ihm zu sagen: Reiche Leute kriegen 181 DM und kleine Leute 65 DM, meine Damen und Herren.
Zur Erwiderung erteile ich der Abgeordneten Frau Professor Ursula Männle das Wort.
Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Matthäus-Maier, wir haben keine Angst, vor die Bevölkerung zu treten. Wir tun das schon die ganze Zeit, und wir können uns auch mit Ihren sehr polemischen Ausführungen auseinandersetzen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20729
Ursula MännleIch wollte Ihnen nur empfehlen: Besorgen Sie sich das interne Papier des Kollegen Habermann, in dem er diese Zweifel äußert, ob dieser Vorschlag — ich habe es auf den Vorschlag bezogen, den Sie gerade vorgestellt haben — verfassungskonform ist. Es wird nicht bestritten, daß es verschiedene Modelle geben kann. Es geht nur um diesen einen Vorschlag. Ich habe hier nichts Falsches gesagt.
Meine Damen und Herren, dann fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile der Abgeordneten Frau Hildegard Wester das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat der Ministerin Rönsch. Als sie den Familienbericht am 15. Juni 1994 vorgestellt hat, sagte sie folgendes:Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für junge Mütter und Väter ist für mich als Familienministerin eine ganz besondere Herausforderung. Durch Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub haben wir hier gute Rahmenbedingungen geschaffen. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Jetzt sind in erster Linie die Tarifparteien gefordert, die Wünsche der Beschäftigten nach mehr Teilzeitarbeit und die betrieblichen Erfordernisse durch neue flexible Formen der Arbeitsplatzgestaltung in Einklang zu bringen.
Ich finde es faszinierend, daß sich eine Familienministerin im Internationalen Jahr der Familie hinstellt und die Lösung dieser von ihr selber als groß bezeichneten Aufgabe als erledigt abhakt und alles weitere nun den Tarifparteien überlassen will.
Das nenne ich „gestaltende Politik".Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und das derzeitige Erziehungsgeld- und Urlaubsgesetz sollen ausreichende Maßnahmen politischerseits für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sein.Frau Rönsch, ist Ihnen entgangen, daß das Erziehungsgeld- und Urlaubsgesetz seit 1986 in seiner grundlegenden Intention nicht verändert worden ist? 600 DM im Jahre 1986 entsprechen, gemessen an der Entwicklung der Lebenshaltungskosten, 740 DM im Jahre 1992. Heute sieht es vermutlich noch etwas anders aus.Ebenso ist es mit der Entwicklung der Löhne und Gehälter seit 1986. Hätte man die Einkommensgrenze dieser Entwicklung angepaßt, müßte sie unter Heranziehung der Nettolöhne bei 34 075 DM liegen. Damit läge sie erheblich über dem Sozialhilfesatz für eine dreiköpfige Familie, was man allerdings von der heute gültigen Grenze von 29 400 DM nicht sagen kann, wie ich hier schon mehrfach betont habe.Ist Ihnen weiterhin entgangen, Frau Rönsch, daß sich die Zahl der Väter, die Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, kaum verändert hat bzw. daß sichnur 0,5 % der Eltern in der Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs abgewechselt haben?
War es nicht eines Ihrer wichtigen Ziele, die Rolle der Väter in diesem Prozeß zu stärken? Auch dieses Ziel ist also nicht erreicht worden. Es nützt nur wenig, den Anspruch auf Erziehungsgeld und -urlaub zu verlängern.Sicherlich, man hat eine erfreuliche Bilanz vorzuweisen, wenn man die Haushaltsdaten sieht, wonach der Haushalt für diese Leistung von 1,6 Milliarden DM im Jahre 1986 bis auf 6,8 Milliarden im Jahre 1993 angestiegen ist. Aber ist die Zielgenauigkeit auch überprüft worden? Ich kenne viele Fälle, in denen ein höherer Betrag mit einer kürzeren Laufzeit wesentlich hilfreicher wäre. Wenn man z. B. 1 200 DM im Monat zur Verfügung hätte — und das nur ein Jahr lang —, müßte man gegebenenfalls nicht zusätzlich berufstätig sein, oder man könnte sich eine adäquate Kinderbetreuung leisten.
Es dürften sich auch erheblich mehr Männer überlegen, ob sie nicht doch stärker die Familien- und Berufsaufgaben mit der Frau teilen sollten. Natürlich gehören hierzu ausreichende Kinderbetreuungseinrichtungen. Da reicht es nicht, wenn man sich mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zufriedengibt. Den hätten wir im übrigen nie bekommen, wenn nicht die Notwendigkeit der Reform des § 218 bestanden hätte.
— Genau. — Aber selbst bei dieser Mindestleistung in bezug auf Kinderbetreuung ist die Bundesregierung ja noch nicht einmal bereit, sich an der Finanzierung zu beteiligen.
Ich weiß, daß die Ministerinnen Rönsch und Merkel immer wieder von einem finanziellen Ausgleich für die Länder im Rahmen des FKPG reden. Nur die Länder und der Bundesfinanzminister bestreiten dies.
— Da kann man ja auch Änderungen vornehmen.Wem es ernst ist mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf — hinter diesem Arbeitskürzel steckt ja so vieles an Wünschen und Vorstellungen von Familien —, kann sich nicht mit den existierenden Regelungen des Gesetzes zufriedengeben und kann nicht mit einer großangelegten Teilzeitoffensive in die Öffentlichkeit gehen und zugleich verbieten, daß Eltern gleichzeitig arbeiten und Erziehungsgeld erhalten.
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20730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Hildegard WesterWarum sollen Eltern nicht mehr als 1.9 Stunden arbeiten können und gleichzeitig ihre Kinder erziehen? Erziehen Eltern, die z. B. beide 30 Stunden pro Woche arbeiten, ihre Kinder schlechter als Familien, wo die Mutter zu Hause ist und der Vater 60 Stunden arbeitet?Was soll mit dem Erziehungsgeld- und -urlaubsgesetz eigentlich geleistet werden? Soll die Erziehungsarbeit honoriert werden, oder soll das Zuhausebleiben der Mütter gefördert werden?
Das letztere erscheint mir immer wahrscheinlicher, vor allem nachdem man durch die Veröffentlichung des Buches von Herrn Schäuble einen Einblick in das Menschen- und Frauenbild eines ja nicht völlig unwichtigen Mannes einer der regierenden Fraktionen bekommen konnte.
Da haben Frauen in der Geschichte der Menschheit einen ganz eindeutigen Platz. Sie sind determiniert, zur Regeneration der Gesellschaft zur Verfügung zu stehen. Da sie sich dieser Aufgabe mehr und mehr durch die unselige Erfindung von Verhütungsmitteln entziehen, tragen sie zur Auflösung von Familienstrukturen bei. Man sollte meinen, man sei tatsächlich in einer anderen, weit hinter uns liegenden Zeit.
Oder ist diese Diskussion eher ganz aktuell?Wenn man sich diese Meinung zu eigen macht, kommt man ja zur teilweisen Lösung dreier nicht ganz unwichtiger Probleme:Erstens. Man entlastet den Arbeitsmarkt.Zweitens. Man hat Sündenböcke für viele besorgniserregende Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die sich häufig am augenfälligsten im Verhalten Jugendlicher darstellen.Drittens. Die Zahl der benötigten Kinderbetreuungseinrichtungen würde stark zurückgehen.
So kann man mit den Problemen, Interessen und elementaren Wünschen von Menschen nicht umgehen.
Es ist auch nicht hinzunehmen, daß junge Familien durch die unnötigen und aufwendigen Änderungen im FKPG und im 1. SKWPG mit der Herbeischaffung von Unterlagen beschäftigt werden, die sie benötigen, um ihr voraussichtliches Nettoeinkommen nachzuweisen.
Genauso unerträglich ist es, daß sie wegen der mehrfachen Antragstellung nicht wissen, ob und wie hoch sie weiterhin Erziehungsgeld erhalten werden.Ich erinnere mich noch gut, daß ich in einer Anhörung zum 1. SKWPG die Frage gestellt habe, wie hochman den zusätzlichen Verwaltungsaufwand für die zuständigen Behörden schätzt und welche Auswirkungen dies auf die Zügigkeit der Leistungsauszahlungen haben wird. Man hatte von seiten der Bundesregierung diese Frage überhaupt noch nicht erörtert. Diese Kosten tragen ja die Länder — was interessiert es da die Bundesregierung, und die Eltern leiden unter der völlig unangemessenen Wartezeit von bis zu einem halben Jahr.Aber die Länder haben reagiert. Im Gesetzesantrag des Bundesrates fordern sie die Zurücknahme der Verfahren der Nachkontrolle und die Wiedereinsetzung der alten Bemessungsgrundlage, die das Einkommen aus dem vorvergangenen Jahr zugrunde legt. 170 Millionen DM, die die Länder jetzt zusätzlich zu tragen haben, wären eingespart. Junge Familien wüßten nach ihrem ersten Leistungsbescheid, mit wieviel Geld sie rechnen können. Viele lästige Behördengänge blieben aus.Da ist es schon verwunderlich, wenn die Bundesregierung in ihren Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf schreibt:Eine weitere Umstellung in sehr kurzem Abstand würde jedoch zu einer Mehrbelastung für die Verwaltung und zu großer Unsicherheit bei den Betroffenen führen.Diese Argumentation erscheint mir paradox. Aber immerhin zeigt die Bundesregierung Lernfähigkeit. Im Juni dieses Jahres erhielt ich auf meine schriftliche Frage die Antwort, daß sie erörtere, bei den Überprüfungsverfahren Vereinfachungen zu berücksichtigen. Auch scheint sie die Notwendigkeit einzusehen, den zuviel erzielten Einsparungsbetrag von 600 Millionen DM, die den Familien weggenommen worden sind, an die Erziehungsgeldberechtigten zurückzugeben.Es gibt eine Reihe von Vorschlägen unsererseits, wie diese Mittel eingesetzt werden können, um ein Gesetz so zu gestalten, daß es da ansetzt, wo es wirken muß, nämlich bei den Bedürfnissen und Defiziten von Familien.
Ich mache drei Vorschläge und komme damit, Herr Präsident, auch zum Ende:Erstens. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf muß deutlich erleichtert werden. Dies ist um so wichtiger, als die Berufstätigkeit von Frauen eine Prävention gegen Altersarmut ist.
Die Beschränkung auf eine berufliche Tätigkeit bis 19 Stunden ist aufzuheben.Zweitens. Die Höhe der Leistung muß ihrer Zielsetzung entsprechend angepaßt werden.Drittens. Das Erziehungsgeld und der Erziehungsurlaub müssen so flexibel gestaltet werden, daß Eltern die Leistung so in Anspruch nehmen können, wie sie ihrer jeweiligen Situation entspricht: z. B. beide Eltern gleichzeitig, verkürzt bei höherer Leistung, nicht unmittelbar nach der Geburt des Kindes, sondern dann, wenn der dringende Bedarf besteht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20731
Frau Kollegin, ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie bei Ihrer Ankündigung blieben.
Das waren drei Punkte, Herr Präsident.
Sie haben die Chance, dies mit uns umzusetzen und uns zuzustimmen.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und die Regierungskoalition haben sich wieder einmal ziemlich lange Zeit gelassen, um die Antwort auf die Große Anfrage der SPD zur wirtschaftlichen Situation von Familien und zu deren sozialen Auswirkungen auf die Tagesordnung zu setzen. Immerhin haben wir wieder sieben Monate Zeit gebraucht, um hier darüber zu debattieren. Potenziert haben sich in dieser Zeit nur in regelmäßigen Abständen die wie gewohnt vollmundigen Erklärungen der Ministerin und ihrer Parlamentarischen Staatssekretärin zum Jahr der Familie und zur ach so erfolgreichen Familienpolitik der Regierung und ihrer Koalition.Damit stellt die heutige Debatte gleichzeitig so etwas wie eine Gesamtbilanzierung der Arbeit des Familienministeriums unter Frau Rönsch dar. Ich finde es sehr bezeichnend, wenn jetzt, 1994, Frau Rönsch zu der Feststellung kommt — ich zitiere —: „Mehr Familienfreundlichkeit ist das Gebot der Stunde." Toll! Und das zum Ende dieser Legislaturperiode, zum Ende Ihrer Mitwirkungsmöglichkeit in der Regierung. „Mehr Familienfreundlichkeit in der Arbeitswelt, auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungswesen und anderswo" — ja, wo denn nun?, frage ich mich. Wo war und wo ist der politische Wille, tatsächlich die reale Lebenssituation von Familien zu verbessern?Wir haben hier nur — das bin ich leider aus der DDR noch etwas gewöhnt — den konstruktiven Blick nach vorn und Empfehlungen immer an andere: an die Kommunen, an die Verbände, an die Arbeitswelt und vor allem an die Familien selber.
Dies wird bei ihnen wirklich einen ungeheueren Motivationsschub auslösen, denke ich.
— Ja, wahrscheinlich.Die Frau Ministerin kommt jetzt zu einer für sie neuen Erkenntnis mit der Schlußfolgerung, eine Studie in Auftrag zu geben, um den Wert der Familienleistungen zu ermitteln:Auf der Grundlage dieser Untersuchung soll künftig ein Satellitensystem zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eingerichtet werden, das den Wert der Familienleistungen regelmäßig ermittelt und ausweist . . .Es ist wichtig, daß der Umfang der in den Familien erbrachten Leistungen berechnet und ins öffentliche Bewußtsein gerückt wird.Aber dabei bleibt sie auch stehen. Wir hatten doch bereits 1991 im Ausschuß für Familie und Senioren eine Expertenanhörung zu diesem Thema,
bei der die Zahlen auf dem Tisch lagen. Seit ich hier mitmache, diskutieren wir darüber, wie endlich Familienarbeit, Erziehungsarbeit, Pflegearbeit, insbesondere von Frauen, wenigstens schrittweise anerkannt wird. Ein erster Schritt wäre die Möglichkeit einer An- und Zurechnung bei der Rente gewesen. Darüber diskutieren wir wirklich schon lange genug, aber es bleibt dabei stehen, daß es ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden soll. Zu politischen Umsetzungen, zur Neuschaffung von Rahmenbedingungen schweigt sich die Frau Ministerin aus. So geht das nun wirklich nicht! Es wäre endlich Zeit, die konkrete gesellschaftliche Realität zur Kenntnis zu nehmen.
Ich erinnere nur an solche Aussagen wie: „Wir brauchen keinen Kinderbericht." Da könnte ja irgend etwas herauskommen.
Und was machen Sie noch? Sie lehnen es konsequent ab, einen Armutsbericht zu erstellen. Das, was von anderen vorgelegt wird, wird einfach zur Seite zu wischen versucht. Damit beseitigen Sie nicht die Situation, in der Familien leben, in der insbesondere Menschen leben, die Kinder haben — ob das die Obdachlosigkeit betrifft, ob das etwa 800 000 Kinder, die von der Sozialhilfe leben, betrifft. All das ist nachzulesen im Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.Das wissen Sie und das ignorieren Sie, die unzureichende Deckung des Bedarfs der Kinder. Es ist eine grundlegende Ungerechtigkeit, die Sie hier nicht beseitigen, daß gerade Frauen, die Kinder aufziehen und erziehen, die unwahrscheinlich viel ihrer Lebensarbeitsleistung in diese Kinder investieren, mit einer sehr niedrigen eigenen Rente bestraft werden. Dann können Sie zwar mit dem Anspruch auf Sozialhilfe und Ergänzung kommen, aber diese Frauen werden sich hüten, das in Anspruch zu nehmen, denn sie haben ja eigene Kinder, die dann auch noch zur Deckung dieses Sozialhilfeanspruchs entsprechend herangezogen werden.Ich muß sagen, das ist eine so schreiende Ungerechtigkeit — —
— Da können Sie Zwischenrufe machen, wie Sie wollen, das ist einfach die Realität, und das ist eine grundlegende Ungerechtigkeit. Das muß man endlich wahrnehmen.
Es kann auch nicht angehen, daß wir hier nur so pauschal nach der Empfehlung der Ministerin darüber reden, Familienpolitik müßte endlich eine Querschnittsaufgabe sein. Tatsächlich müßten Kinder- und Familienpolitiker dann aber auch so etwas wie ein
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20732 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Dr. Barbara HöllMitspracherecht und Vetorecht haben, damit sich etwas ändern könnte, z. B. in der Städteplanung, in der Mietenpolitik und in anderen Bereichen. Ansonsten bleibt es hier doch, wie gewohnt, bei Sprechblasen. Das wissen Sie sehr, sehr gut, und deswegen werden Sie sich auch hüten, dahin gehend etwas zu ändern.Ich denke, es wird sich auch nichts ändern, solange Sie gewillt sind, an dem überholten Familienbegriff festzuhalten, den Sie ja — wie mit Ihrer Regelung zu § 218 — zu untermauern versuchen.
— Leider muß ich teilweise auch Sie anschauen, Herr Eimer, denn Sie sind in dieser Koalition, und Sie haben da nicht genügend und nicht ausreichend darauf gedrückt, daß die Realitäten zur Kenntnis genommen werden. Das wissen Sie auch.
Ich denke, es geht weiter nicht an, wenn hier von der Frau Ministerin nur solche Dinge kommen wie der Vorschlag zur Teilzeitarbeit als einzige Möglichkeit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
— Nein, das ist bei Ihnen als Allheilmittel ausgeschrieben! Ich muß sagen, so wie es angelegt ist, dient es eindeutig dazu, bestehende Verhältnisse zu zementieren. Das wird nur dazu führen, daß Frauen in der Berufswelt weiter ungerecht behandelt werden, daß Frauen weiter möglichst nur in unterbezahlten Berufen tätig sind; denn nur diese werden ja im Prinzip für Teilzeitarbeit angegangen. Hier ist es wirklich notwendig, neue Modelle zu erproben. Ich glaube, es reicht auch nicht aus, wie Frau Wester sagte, hier die Frage des Lohnausgleichs z. B. beim Erziehungsgeld zu stellen, was ein erster Schritt war. Wir haben in der DDR die Erfahrung gemacht, daß selbst die Zahlung des Erziehungsgeldes als Lohnersatzleistung von den Männern meistens nicht angenommen wird. Es bedarf hier tatsächlich neuen Denkens.Wir werden ja in der nächsten Woche wieder die Gelegenheit haben zu prüfen, wie Sie sich tatsächlich zur Rolle von Familien verhalten. Es liegen mehrere Vorschläge für die Verfassungsdiskussion auf dem Tisch. 13 Millionen Frauen haben über Verbände u. a. gemeinsam einen Vorschlag zur Neufassung des Art. 6 Grundgesetz erarbeitet. Ich zitiere:Wer in häuslicher Gemeinschaft Kinder ernährt oder notwendige Pflege leistet, ist durch die staatliche Ordnung zu schützen und zu fördern. Der Staat schafft die Möglichkeit für Frauen und Männer, Familienaufgaben mit Erwerbstätigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben zu vereinbaren.In der nächsten Woche werden mehrere einzelne Vorschläge vorliegen. Es hängt dann von Ihrem Stimmverhalten ab, ob es in der neuen Verfassungdieser Bundesrepublik, dieser neuen Bundesrepublik, tatsächlich zu einer Neubewertung von Frauen und Familien kommen wird statt einfach nur einer Festschreibung dieser Form der bürgerlichen Ehe.Als letztes möchte ich kurz noch auf das eingehen, was bereits meine Vorrednerinnen von der SPD zum Familienlastenausgleich gesagt haben. Wir können uns ja über Familien unterhalten, soviel wir wollen: Ohne materielle Sicherstellung, ohne soziale Sicherheit, deren Fehlen die Familien bedroht, werden Sie und wir in der Familienpolitik nicht vorankommen!Ich möchte unmittelbar an die gestrige Anhörung im Finanzausschuß anknüpfen. Zur Vereinfachung des Steuerrechts hat dort Herr Professor Oberhauser vom Institut für Finanzwirtschaft an der Universität Freiburg vorgeschlagen, das duale System von Kindergeld und Kinderfreibeträgen durch ein einheitliches Verfahren zu ersetzen — ich zitiere —, „denn das derzeitige duale System führt zu Entlastungseffekten, die durch unmotivierte Zacken und Sprünge gekennzeichnet sind".
Die nackten Zahlen sprechen hier eine eindeutige Sprache, denn der Kinderfreibetrag steigt mit höheren Einkommen. Das haben Sie vorhin schon gehört.Seit 1971 liegt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium der Finanzen vor, das dieses Modell auch unter dem Aspekt einer wesentlichen Vereinfachung positiv würdigt. Wir schlagen deshalb vor, das Nebeneinander von Kindergeld, Kinderfreibeträgen und Kindergeldzuschlag durch ein einheitliches Kindergeld zu ersetzen. Dieses müßte etwa in Höhe dessen liegen, was Kinder im Monat tatsächlich benötigen. Die entsprechenden Vorschläge der PDS/Linke Liste liegen im Konzept der sozialen Grundsicherung vor.Letzter Satz, Herr Präsident. — Zu Ihrem Argument mit der Verfassungswidrigkeit — —
Frau Abgeordnete, ich muß Sie daran erinnern, daß Sie Ihre Redezeit schon deutlich überschritten haben.
Darf ich den Satz noch beenden? — Sie ändern die Verfassung für alle möglichen Sachen, bei denen es Ihnen in den Kram paßt. Ändern Sie sie endlich zum Wohle von Kindern!
Ich bedanke mich.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fami-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20733
Konrad Weiß
lienpolitik — das sollten wir nicht aus den Augen verlieren — ist von großem Einfluß auf die zukünftige Gestaltung unseres Landes. Kaum ein anderer Bereich der Politik kann so daran mitwirken, wie die Zukunft der Menschen in diesem Land aussieht.Ich bin der Auffassung, daß die Bundesregierung dieser Verantwortung nicht in gebührender Weise gerecht geworden ist. Die hauptsächlichen familienpolitischen Instrumente sind das Ehegattensplitting sowie das sogenannte duale System aus Kindergeld und steuerlichem Kinderfreibetrag. Diese Instrumente haben nicht verhindert, daß eine zunehmende soziale Ausgrenzung von Alleinerziehenden sowie von kinderreichen Familien stattfindet. Längst ist das Leben mit Kindern für viele Familien zu einem Armutsrisiko geworden. Immer mehr Familien kommen trotz mittlerer Erwerbseinkommen nicht mehr ohne Sozialhilfe über die Runden. Dabei sparen die Eltern trotz knappster Regelsätze häufig bei sich selbst, am eigenen Essen oder bei der Busfahrt, denn am härtesten trifft die Armut die Kinder.In unserer konsumorientierten Wohlstandsgesellschaft leiden Kinder nicht nur an den materiellen Entbehrungen, sondern vor allem auch unier der Scham wegen ihrer Armut. Über 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren müssen in unserem Land von Sozialhilfe leben. 500 000 Kinder leben in Obdachlosensiedlungen und Notunterkünften. 50 000 Kinder und Jugendliche suchen alljährlich ihr Heil in der Flucht aus bedrückenden häuslichen Verhältnissen. Die Armut der Familien ist dabei eine wesentliche Ursache.In den neuen Bundesländern ist das nicht anders. Der jüngste Armutsbericht von DGB und Paritätischem Wohlfahrtsverband kommt hier zu dem Schluß, daß von der Armut im ostdeutschen Umbruch vor allem Kinder und Jugendliche betroffen sind. Auf diese Situation reagiert die Bundesregierung nicht etwa mit Unterstützungsmaßnahmen, sondern mit immer neuen Kürzungen bei den sozialen Regelleistungen.Im Mittelpunkt der familienpolitischen Konzeption der Bundesregierung steht seither die steuerliche Privilegierung der Ehe durch das Ehegattensplitting. Allein durch dieses Instrument entstehen nach Auskunft der Bundesregierung jährlich steuerliche Mindereinnahmen von über 36 Milliarden DM. Dieses Privileg berücksichtigt nicht die tatsächliche zunehmende Vielfalt der sozialen Lebensformen.Wir, das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, schlagen im Hinblick auf die dringend notwendige Reform der Familienbesteuerung ein schrittweises und sozialverträgliches Vorgehen vor. Zunächst sollte die Zusammenveranlagung von Ehepartnern abgeschafft werden. Dieses steuerrechtliche Instrument begünstigt einseitig die Ehe und diskriminiert nachhaltig andere Lebensformen. Eine ersatzlose Abschaffung des Ehegattensplittings würde jedoch gerade für die unteren Einkommensgruppen zu untragbaren sozialen Härten führen und wäre verfassungsrechtlich bedenklich. Darüber hinaus muß den zahlreichen zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen und sozialrechtlichen Einkommensberücksichtigung en zwischen Ehegatten Rechnung getragen werden.
— Ich argumentiere auch anders, Herr Kollege, falls Ihnen das entgangen ist.
— So ist es.Wir wollen daher das für geschiedene und getrennt lebende Paare bereits bewährte Modell des Realsplittings auch auf zusammenlebende Ehepaare übertragen. Bis zu einem monatlichen Bruttoeinkommen von bis zu 5 100 DM — das entspricht etwa 67 400 DM pro Jahr — unterscheiden sich die Steuerbelastungen durch das Ehegattensplitting und das Realsplitting im Endergebnis nicht. Bei darüber liegenden Einkommen führt das Realsplitting zu einer höheren Steuerbelastung. Mittelfristig sollten auch nichteheliche Lebensgemeinschaften vom Realsplitting profitieren. Dies würde aber zu Steuermindereinnahmen führen, die gegenwärtig fiskalisch nicht zu verkraften sind.1983 setzte die konservativ-liberale Regierungskoalition das duale System aus Kindergeld und Kinderfreibetrag an die Stelle des vorherigen einheitlichen Kindergeldes. Einkommensschwächere Personen sowie Personen, die Transfereinkommen beziehen, profitieren von dem Kinderfreibetrag zunächst überhaupt nicht. Um hier einen gewissen Ausgleich zu schaffen, wurde der Kindergeldzuschlag eingeführt, durch den Spitzenverdiener bevorzugt werden. Frau Kollegin Matthäus-Maier hat uns — in dem Punkt unterscheiden wir uns nicht — die Zahlen genannt.Da die unterschiedliche Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages durch die Steuerprogression hervorgerufen wird, fordert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN die Abschaffung dieses sozialpolitisch fehlsteuernden dualen Systems.Es gibt jedoch auch verfassungsrechtliche Vorgaben zur Gestaltung des Familienlastenausgleichs. So hat das Bundesverfassungsgericht 1990 entschieden, daß das Existenzminimum von Kindern steuerlich freizustellen sei. Dies beträgt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes 5 940 DM für das Jahr 1993.Wir kritisieren an dieser Entscheidung, daß sich das Sozialhilfeniveau als Referenzsystem für die Definition des soziokulturellen Existenzminimums in der Bundesrepublik Deutschland als untauglich erwiesen hat. Unter anderem hat die einseitige Sparpolitik der Bundesregierung — zuletzt in Form des sogenannten Einfrierens der Regelsätze — den elementaren Grundsatz der Bedarfsbezogenheit der Sozialhilfeleistungen verletzt.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlägt in einem ersten Schritt die Einführung eines einheitlichen Grundkindergeldes von 250 DM vor, das den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht. Im Gegenzug soll der steuerliche Kinderfreibetrag gestrichen werden. Darüber hinaus soll ein zusätzlicher einkommensabhängiger Aufstockungsbetrag für diejenigen, die dar-
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über liegen, gewährt werden. Für einkommensschwächere Familien kann so ein Kindergeld von insgesamt bis zu 400 DM pro Kind bereitgestellt werden. Auf diese Weise wollen wir sowohl die sozialen Teilhaberechte von Kindern stärken als auch der wachsenden Armut und sozialen Ausgrenzung von Alleinerziehenden und kinderreichen Familien entgegenwirken.Das von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgeschlagene neue Kindergeld kommt ohne allgemeine Steuererhöhungen aus. Einerseits können Mittel, die heute für Kindergeld und Kinderfreibetrag aufgewendet werden, dann für diesen Zweck verwendet werden. Andererseits entstehen durch die Abschaffung des Ehegattensplittings in sozialverträglicher Weise steuerliche Mehreinnahmen von über 6 Milliarden DM.Darüber hinaus werden die Sozialhilfeträger in beträchtlichem Umfang von Unterhaltsvorschuß und Sozialhilfeleistungen entlastet. Wir schlagen vor, daß diese Einsparung, die die Kommunen durch das neue erhöhte Kindergeld erzielen, dafür verwendet wird, den beträchtlichen Bedarf an öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen zu befriedigen.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Angelika Pfeiffer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein wenig habe ich schon gedacht, mir vielleicht die falsche Rede aufgeschrieben oder falsche Ausarbeitungen gemacht zu haben. Als Sie, Frau Wester, gesagt haben, daß Frauen zur Regenerierung der Familie zur Verfügung zu stehen haben, war ich schon ein wenig entsetzt.
— Ich war entsetzt darüber, daß Sie das in dieser Familiendebatte gebracht haben. Ich bin auch entsetzt und traurig über Frau Höll.
Wenn ich über die Rede nachdenke, meine ich, ich lebe hier in einem Armutsstaat, im ärmsten Land der Welt, wo für Familien überhaupt nichts getan wird.
— Der „überholte Familienbegriff" in den neuen Bundesländern, Frau Höll, ist bei uns nicht überholt, im Gegenteil: Die Familie hat wieder an Tradition gewonnen und wird wieder gelebt — Gott sei Dank.Ich hätte mir Ihre engagierte Rede zu DDR-Zeiten bei uns drüben gewünscht; aber da hatten Sie sicher mit Marxismus-Leninismus und mit dem Regieren der Partei zu tun.Es ist von Ihnen allen nicht ein einzigesmal über den Wert der Familie gesprochen worden. Es ist überhaupt nicht erwähnt worden, daß Familie das Schönste ist, was man haben kann, ohne daß man das finanziell aufrechnen muß.
Eine Politik für die Familien ist keinem der klassischen Felder der Politik unmittelbar zuzuordnen. Familienpolitik ist, wie Frau Männle sagte, Querschnittsaufgabe. Voraussetzung für ein solches Verständnis einer Politik für die Familien ist die Einsicht, daß Politik in allen ihren Aufgabenbereichen die Anliegen der Familien einzubeziehen hat. Unmittelbar einsichtig ist dies bei der Sozialpolitik, bei der Politik für Kinder, für Jugendliche und für Frauen, und bei der Bildungspolitik.Das Recht der elterlichen Sorge ist so zu gestalten, daß es der Lebenssituation von Eltern und Kindern gerecht wird. Die Familie ist in allen Rechtsbereichen, in ihrer Ganzheit, abzusichern. Jedem ihrer Mitglieder ist der Schutz der Gesellschaft zu gewähren. Wohnungs-, Verkehrs- und Umweltpolitik dürfen die Belange der Familie, vor allem die der Kinder, nicht vernachlässigen. Die Gesundheitspolitik muß sich der Familie annehmen — sie tut es auch — und die Vorsorge zu einem Ziel machen. Auf medienpolitischer Ebene ist die Institution der Familie zu schützen: Die Möglichkeiten positiver Einflußnahme sind auszubauen.Familie ist, bleibt und war, auch in 40 Jahren Sozialismus,
wichtigster Bestandteil unserer Menschen — in den alten und in den neuen Bundesländern. Dazu zähle ich auch feste Formen von Lebensgemeinschaften. In der DDR war die traditionelle Familie ein wenig aus der Mode gekommen, aber nicht, weil Familie unwichtig war, sondern aus konkreter ökonomischer Sicht, weil wir uns das genau ausgerechnet haben. Man verliebte sich, man bekam ein Kind und zog zusammen, meist schon in jungen Jahren. Da man keine Wohnungen bekommen hat, bezog man das Kinderzimmer in einer elterlichen Wohnung.Wenn man nur zusammen lebte, hatte man auch einige finanzielle Vorteile. Das wissen Sie ja, Frau Höll. Man konnte den Wohnungsantrag zweimal stellen, man bekam eher einen Krippenplatz gestellt.
— Na sicher bekam man den. Ich komme noch zu den Krippenplätzen.Als Alleinerziehender oder Alleinerziehende wurde man während der Krankheit der Kinder bezahlt, als Familie war das nicht der Fall. Aber das hat der Staat DDR nicht gemacht, um den Familien zu helfen, sondern um die Arbeitskraft der Frau auszunutzen.
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Angelika PfeifferIch könnte noch viele Beispiele nennen, die zeigen, daß es sich erst lohnte, zu heiraten, wenn das Kind in die Schule gekommen ist. Im Kommuniqué des Politbüros der SED „Die Frau, der Frieden und der Sozialismus"
wurde auf Maßnahmen gedrängt, um die Gleichberechtigung der Frau als unabdingbares Prinzip des Marxismus-Leninismus darzustellen.
— Sie wissen doch gar nicht, ob ich dabei war.Das Familiengesetzbuch der DDR von 1965 ging noch von der Utopie einer kommunistischen Menschengemeinschaft aus.
Erst 1972, im Zusammenhang mit dem Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft sowie mit dem auch damals starken Geburtenrückgang, setzte eine bevölkerungspolitische Zielsetzung ein. Für jede Frau gab es dann einen Arbeitsplatz. 1970 hatten rund 70 % aller Kinder Kindergartenplätze und 30 % Krippenplätze. 1980 waren schon fast alle Kinder in der Krippe untergebracht, die das wollten.
Aber war denn das in Ordnung? Haben Sie einmal unsere Frauen gefragt, ob sie das so wunderbar fanden? Natürlich sind die Frauen in der ehemaligen DDR nicht nur aus reiner Arbeitslust acht Stunden täglich arbeiten gegangen, wobei ich hinzufügen muß, daß die Frauen sicherlich auch gern arbeiten gegangen sind. Auch ich bin mit zwei Kindern immer voll berufstätig gewesen. Aber es muß auch erwähnt werden, daß die Frauen für die Familie so hart gearbeitet haben; denn keiner konnte von dem Durchschnittslohn des Mannes — 850 Mark — leben. Also mußten die Frauen arbeiten gehen. Keiner hat die Frauen gefragt. Wie ist es denn den Frauen gegangen, die dort so arbeiten mußten?
Viele von uns hätten sich ein Erziehungsgeld gewünscht, um drei Jahre zu Hause bleiben zu können, auch wenn es nur 600 Mark gewesen wären. Aber dazu hat unser Staat nichts getan. Bei aller Gleichberechtigung war unsere Berufstätigkeit Mittel zum Zweck.Meine 14 Jahre jüngere Schwester hat in der Schule einmal einen Aufsatz über ihr sozialistisches Vorbild schreiben müssen. Auch wenn Sie jetzt belustigt sind, sie hat mich als Vorbild genommen: Mutter, zwei Kinder, voll berufstätig, nebenbei das Studium, gesellschaftliche Arbeit — das hieß damals so — im Kirchgemeinderat. Das alles unter einen Hut zu bringen, den Haushalt zu machen und dann auch noch glücklich zu sein, war vorbildlich.Keiner hat gefragt: Ist es wirklich so, daß ihr alle glücklich wart? Ich und viele tausend andere Frauen auch sind um halb fünf aufgestanden. Um halb sechs Uhr haben wir die Kinder zur Krippe gebracht, um sechs Uhr haben wir sie dort abgegeben und sind anschließend zur Arbeit gegangen. Nachmittags dann dasselbe zurück!Keiner hat gesagt: Nehmen Sie drei Jahre frei! Erziehen Sie Ihr Kind, bis es in den Kindergarten kommt! Keiner hat gesagt: Die armen Kinder müssen um fünf Uhr aufstehen. Es wurde so dargestellt, als sei es das Schönste, was es für eine Frau gibt.
Meine Damen, ich weiß, daß Zwischenrufe das Salz in der Suppe einer Debatte sind. Wenn Sie aber alle auf einmal dazwischenrufen, ist es weder hörbar noch für das Protokoll festhaltbar. Ich möchte Sie daher auffordern, sich ein wenig zu mäßigen.
Fahren Sie fort.
Die meisten Familien sind mit vollem Herzen in die Wiedervereinigung gegangen. Wir haben uns wie die Kinder bei der Währungsumstellung gefreut; Frau Höll, Sie vielleicht nicht, weil Sie viele Jahre in Moskau waren.
Wir sind als Familien durch die Stadt gegangen und haben uns einen Tag vor der Währungsunion die Nasen an den Schaufenstern plattgedrückt. Wir haben die Einheit erwartet und auch gewünscht.
Natürlich sind mir auch die Schwierigkeiten der Familien bewußt. Ich weiß, daß Ihre Familien in den alten Bundesländern auch nicht reich sind. Genauso werden unsere Familien nicht reich werden. Das hat auch keiner erwartet. Man muß arbeiten, man spart, dann gönnt man sich etwas und geht wieder arbeiten.
Das ist der normale Lauf der Dinge. Keiner wird hier reich werden, und bei uns sicher auch nicht.Viele erlebten nach der Wende eine Wirtschaftskrise, — das gebe ich doch zu—, vor allein jene jungen Menschen, deren Lebensplanung auf eine Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit ausgerichtet war.Der Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, die Schließung von Kindergärten in den neuen Bundesländern, die nicht nur aus ökonomischer Sicht erfolgt, sondern weil uns auch die Kinder fehlen, führen zu Unsicherheiten und zur Kritik.
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Angelika PfeifferWarum fehlen die Kinder, Frau Höll? Weil unsere Frauen jetzt ein wenig nachdenken und erst ein Studium machen, einen Beruf erlernen, vielleicht erst Geld verdienen und ein wenig durch die Welt fahren wollen. Dann bekommen sie mit Mitte/Ende 20 das erste Kind. Bei uns war das doch nicht so. Wir haben doch beizeiten Kinder bekommen.Viele Familien erleben die neuen Freiheiten auch ganz bewußt: Auswählen, wann das Kind welche Einrichtung besuchen wird. Wir können uns offen in Kirchen orientieren. Es gibt keine zweizüngigen Erziehungsmethoden mehr: Das darfst du in der Schule sagen, das darfst du in der Schule nicht erzählen.Für uns Frauen, aber auch für die Männer sind die Einkaufsmöglichkeiten ganz wichtig. Es ist toll, daß man freitags nach 15.00 Uhr noch Fleisch und Obst einkaufen kann, daß man ein neues Auto und keinen Trabant fahren kann. Viele Familien haben ein Zweitauto.
Frau Abgeordnete, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß auch Sie Ihre Redezeit deutlich überschreiten.
Ich komme zum Schluß.
Es geht den Familien bei allen Schwierigkeiten nicht so schlecht, wie Sie uns einreden wollen.
Danke.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Christel Hanewinckel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen! Das war sie, die familienpolitische Debatte des Deutschen Bundestages im Interntionalen Jahr der Familie!
Grundlage dieser Debatte waren zwei Große Anfragen der SPD, ein Antrag der SPD, zwei Entschließungsanträge der SPD, ein Gesetzentwurf des Bundesrates und ein Entschließungsantrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Von den Koalitionsfraktionen — nichts. Von der Bundesregierung — nichts.
Die Bundesregierung legt den Familienbericht vor, der 1994 eh fällig war. Mit dem Internationalen Jahr der Familie hat das nichts zu tun.
Dieser Familienbericht soll heute mit debattiert werden, aber von mir als Parlamentariern kann er wederkritisiert noch gewürdigt werden; denn dieser Familienbericht ist mir noch nicht zugegangen.
— Gestern abend vielleicht bei einigen; bei mir ist er noch nicht im Büro.Statt die Situation der Familien ernst zu nehmen und zu handeln — denn der Zustand des Patienten ist kritisch —, fordert Frau Rönsch mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit in diesem Land. Ich frage sie zum wiederholten Male: von wem eigentlich,
wenn nicht von der Bundesregierung, also von sich selbst?
Ich bin allmählich dafür, für Frau Rönsch ein neues Ministerium einzurichten. Dann könnten wir sie die „Aufforderungsministerin" nennen.
Frau Rönsch will die Politik der Bundesregierung künftig einer Familienverträglichkeitsprüfung unterziehen. Künftig, Frau Rönsch dürfte zu spät sein,
denn ich sehe keine Chance, daß Sie das bis zum 16. Oktober 1994 noch schaffen werden. Außerdem wäre das Ergebnis miserabel. 12 Jahre haben die Koalition und die Bundesregierung eine familienunverträgliche Politik betrieben.Wie sieht die Realität heute aus? Die größte Wohnungsnot in den letzten 30 Jahren! Betroffene sind die Familien, hauptbetroffene und wehrlos die Kinder. Nach Angaben des Kinderschutzbundes sind etwa 40 % aller Bewohner von Obdachlosenunterkünften Kinder — in Zahlen: 50 000. Ein skandalöser Zustand in diesem Land!
Wir haben die höchste Zuwachsrate in der Sozialhilfe bei Kindern und Familien. 1982 lag die Zahl der Betroffenen bei 0,6 Millionen. 1992 sind es 1,25 Millionen Kinder und Jugendliche, die von Sozialhilfe leben müssen. Also eine Verdoppelung in den 12 Jahren Ihrer Regierung. In den neuen Ländern haben 1991 364 000 Menschen laufend Sozialhilfe erhalten. 1992, ein Jahr später, waren es 488 000. Das ist eine Steigerung um 34 % innerhalb eines Jahres. Davon sind wieder ca. 30 % Kinder und Jugendliche, also Familien. Das ist ein absoluter Negativrekord.
Familien werden von dieser Bundesregierung nicht entlastet, sondern verfassungswidrig belastet. Die
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Christel HanewinckelBundesregierung verstößt gegen das Verfassungsgebot der Steuerfreiheit für das Existenzminimum von Kindern. Inzwischen gesteht die Bundesregierung das auch ein, aber sie tut nichts.Familien sind von den Spargesetzen am meisten betroffen und belastet. Beim BAföG scheint es Ziel der Regierung zu sein, die individuelle Ausbildungsförderung begabter Studierender aus kinderreichen und damit bedürftigen Familien, kaputt zu sparen. Das betrifft vor allem Studentinnen und Studenten mit Kindern und aus den neuen Ländern. Sonst hätten sich die Bundesregierung und die Koalition unserem Entschließungsantrag zur 17. BAföG-Novelle anschließen können.Sie kürzen das Erziehungsgeld. Statt etwas für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu tun, hält die Familienministerin dem CDU-Fraktionschef den Rükken frei, daß er Frauen mit seiner „geschlechtlichen Determination" an Heim und Herd verweisen kann. Herr Schäuble, das ist eine Verletzung der Würde der Frau und eine Absage an die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Wir haben einen Familienlastenausgleich, der seinen Namen nicht verdient, es sei denn, die Bundesregierung meint es so, daß Familien die sind, die die Lasten in dieser Gesellschaft tragen und damit den Ausgleich für andere zu bringen haben.Die Bundesregierung hat außerdem vor eineinhalb Jahren eine unseriöse Debatte um das Lohnabstandsgebot angezettelt. Sie ging zu Lasten der Familien mit niedrigem Einkommen und zu Lasten der Sozialhilfeempfänger. Seit einem Dreivierteljahr liegt die Untersuchung des Blume-Institutes Köln vor, die besagt: Die damaligen Behauptungen sind falsch. Das Lohnabstandsgebot wird eingehalten. Wenn der Sozialhilfesatz für eine Familie höher ist als ein niedriges Einkommen, meine Damen und Herren, dann ist das eine Frage des unzureichenden Familienlastenausgleiches und des zu niedrigen Einkommens, aber nicht eine Frage der Nichteinhaltung des Lohnabstandsgebotes.
Die unverschämte Debatte, die die Bundesregierung vor eineinhalb Jahren ausgelöst hat, trägt in den Äußerungen und Forderungen des Herrn Stihl jetzt später Blüten.
Meine Damen und Herren, was ist nötig, damit Familien zu ihrem Recht kommen? Ein Programm, das Arbeit finanziert, ist nötig und nicht Arbeitslosigkeit, denn Familien werden arm durch Kinder und durch Arbeitslosigkeit. Das betrifft vor allem die Alleinerziehenden und Familien im Osten Deutschlands. Kinderbetreuungseinrichtungen sind nötig, die Familien entlasten und Frauen Erwerbstätigkeit ermöglichen. Dazu ist es an der Zeit, daß die Bundesregierung, Frau Rönsch und Frau Merkel, mit dem Falschspiel aufhören, daß der Bund mit den Ländern eine Finanzierungsvereinbarung getroffen habe. Das ist falsch. Sie sind am Zuge, die Entscheidung des Bundestages endlich umzusetzen.
Wir haben noch immer nicht das versprochene Protokoll dieser Sitzung. Das gibt es nämlich nicht.Der Wechsel in der Familienpolitik, meine Damen und Herren, ist fällig. Es ist nölig, das unsoziale, bürokratische und undurchschaubare System des derzeitigen Familienlastenausgleichs abzuschaffen. Es hat die Wohlstandsschere zwischen Kinderlosen und den Familien immer weiter zu Lasten der Familien geöffnet. Die mit der Existenz von Kindern verbundenen Kosten sollen gerechter als bisher auf alle verteilt werden. Der allgemeine Familienlastenausgleich muß das Existenzminimum des Kindes sichern, und er muß sich an den tatsächlichen Lebenshaltungskosten orientieren und regelmäßig angepaßt werden. Wir werden eine Reform des Familienlastenausgleichs mit der Verbesserung des Grundfreibetrages und mit der Steuervereinfachung verbinden. Deshalb wollen wir eine Erhöhung des Kindergelds auf monatlich 250 DM für jedes Kind. Das ist ein erster und entscheidender Schritt zu einem gerechten Familienlastenausgleich.
Dadurch wird sich vor allen Dingen die Lage für Familien mit mittleren und kleinen Einkommen spürbar verbessern.Meine Damen und Herren, die Lebensqualität für Familien und damit für Kinder und Jugendliche muß entschieden verändert, d. h. verbessert werden. Darüber, was es für Kinder und Familie bedeutet, von Sozialhilfe zu leben, zu den Armen zu gehören und obdachlos zu sein, denke ich, müssen wir an anderer Stelle eine neue Rechnung aufmachen. Diese wird katastrophal sein.Der Wechsel ist fällig, meine Damen und Herren. Nicht nur in der Familienpolitik, generell für Deutschland ist ein Wechsel notwendig. Die Familien aber, denke ich, wissen, wovon heute geredet wird. Sie werden am Sonntag bei der Wahl in Sachsen-Anhalt und auch bei der Wahl am 16. Oktober zum Deutschen Bundestag wissen, für wen sie sich zu entscheiden haben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Krause .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die schwerstwiegende sozialökonomische Belastung der Familien in den neuen Bundesländern stellt die Dauerarbeitslosigkeit dar. Das sagt auch der Familienbericht sehr deutlich. Die Hauptklientel meiner Partei, Die Republikaner, sind in Sachsen-Anhalt neben Gewerbetreibenden vor allem Familien, die von Dauerarbeitslosigkeit betroffen sind.
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Dr. Rudolf Karl Krause
Ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich rede. Von 1988 bis 1990 hatten meine Frau und ich wegen — ich zitiere — „bewußten Angriffs auf die Autorität der staatlichen Leitung" des SED-Staates Einstellungsverbot. Wir lebten offiziell von monatlich 140 DM Kindergeld und LPG-Naturalien. Sonst bekamen wir keinen Pfennig soziale Unterstützung.Diese soziale Absicherung unterscheidet die politisch Verfolgten von 1988 von denen von 1994. Politische Kündigungen gibt es aber auch heute. Damals mußten wir von Schattenwirtschaft leben. Das war möglich; wir sind dabei auch nicht ärmer geworden.Der Familienbericht spricht zutreffend von Belastungskumulationen bei Familien mit arbeitslosen Eltern und mehreren Kindern. Der Familienbericht spricht auch von einer Unterbeschäftigung von über 2 Millionen Nichterwerbstätigen in den neuen Bundesländern über das Jahr 2000 hinaus.Für die Betroffenen bleiben nun zwei Wege: erstens persönliche Resignation mit allen in Punkt VII 5.3 beschriebenen Folgen. Dies sind erstens die Absenkung der Ausgaben für Konsum — das war auch gestern Thema der Debatte —, zweitens soziale Isolation und Desintegration, drittens Depressionen mit fortschreitendem Alkoholismus, viertens Verlust der Arbeitsmotivation — das ist nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit besonders gravierend — und fünftens Auflösung eines persönlichen Zeitgefühles und, daraus folgend, auch psychosomatische Erkrankungen.Der andere Weg ist eine kollektive Selbstversorgung als Gruppenprotektionismus. Es kommt wieder zu wirtschaftlichen Großfamilien, zur Reaktivierung alter Freundschaften, etwa unter den Losungen „Wir geben uns Arbeit auf Gegenseitigkeit" und „Was wir selbst erzeugen und austauschen können, brauchen wir nicht aus der Sozialhilfe zu bezahlen".Ich baue im folgenden auf dem auf, was die Kollegin Männle hier ausgeführt hat und was, soweit sie es hier gesagt hat, politische Richtschnur der Familienpolitik meiner Partei ist.„In den Familienhaushalten fallen die Entscheidungen über die Qualität der Versorgung. " Ich zitiere weiter von Seite 152 des Berichts —: „Familienhaushalte sichern durch oft enorme Eigenleistungen gerade in Notzeiten die Lebenslage ihrer Mitglieder", vor allem dann, „wenn die ,offizielle', d. h. statistisch erfaßte Wirtschaft Desorganisationserscheinungen zeigt". Das ist gerade in Mitteldeutschland in katastrophaler Weise der Fall. „Familienüberleben wird sich immer mehr in einer Schattenwirtschaft vollziehen."Das hat natürlich katastrophale Folgen für die Bezahlbarkeit des Sozialstaates und des gesellschaftlichen Überbaus. Aber die Familien werden dadurch stabilisiert werden, weil sie aus einer zerbrechlichen Konsumgemeinschaft zu einer belastbaren Produktionsgemeinschaft werden. Hier konkurrieren allerdings Volkswirtschaft und praktische Familienpolitik. Ich sehe die fiskalische Gefahr deutlich.Aber bei Fortbestehen der auch unsere Volkswirtschaft zerstörenden Freihandelspolitik bleibt den arbeitslosen, den dauerarbeitslosen mitteldeutschen Familien keine andere Wahl. Das millionenfache undnicht selbstverschuldete Urteil „lebenslänglich Arbeitsverbot" ist eben nicht zwangsvollstreckbar.Geben wir uns Arbeit, Arbeit auf Gegenseitigkeit! Das ist meine republikanische Vision von der Zukunft des Humanvermögens. Besser wäre es aber, diese Aufgaben würden von einer protektionistischen Volkswirtschaft gelöst werden.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist Frau Ortrun Schätzle.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familie ist weiterhin „in", und das ist eine gute Entwicklung.
Wie der vorliegende Familienbericht bestätigt, erfreut sich Familie weiterhin hoher Wertschätzung. Die meisten Menschen wollen in Familie leben. Die meisten jungen Menschen haben den Wunsch, Familien zu gründen und Kinder zu haben. Das hätten sie nicht, wenn die Welt so düster wäre, wie sie vorhin dargestellt wurde.
Familie ist „in", nicht als Übernahme eines einheitlich traditionellen Familienbildes, nicht als erstrebte Idylle und nicht als ideologisierte Traumvision, sondern Familie ist „in", heute und jetzt, als dynamische Lebensgemeinschaft von Menschen verschiedener Generationen, die von Vertrauen und Zuneigung sowie von verläßlichem partnerschaftlichen Zusammenleben und Zusammenstehen geprägt ist, einem Zusammenleben in Selbständigkeit und Verantwortung füreinander, in einem Beziehungsgeflecht — das charakterisiert die heutige Situation —, das ungeachtet räumlich getrennter Wohnbereiche vielfältige Familienstrukturen und Lebensstile toleriert, hält und trägt.
Der Fünfte Familienbericht, den wir heute diskutieren, legt ein Familienverständnis zugrunde, das sich an der heutigen Lebenswirklichkeit mit ihren unterschiedlichen Familienformen orientiert und das Bekenntnis zu Familie offen und deutlich ablegt. Er gewichtet familiale Lebenswirklichkeiten und deren Vielfalt nicht nur für die Familie und die Familienmitglieder, sondern auch in ihrer Bedeutung und Leistung für die Gesellschaft. Je stärker Individualismus und Egoismus unsere Gesellschaft prägen, um so wichtiger wird Familie in ihrer gelebten Alltagssolidarität und in ihrer Fähigkeit, soziale und demokratische Verhaltensmuster einzuüben.
Die Gesellschaft aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, für deren Fortbestand und für deren Sozial- und Wertverhalten Familien Entscheiden des leisten, nimmt insgesamt nicht in ausreichendem Maße Rücksicht auf die Belange von Familien. Junge Eltern werden mit ihrer Verantwortung alleingelassen, erfahren kaum Hilfe bei der Wohnungssuche, leiden an der Intoleranz von Nachbarn und spüren täglich die Gleichgültigkeit ihrer Mitwelt. Dabei ist die Über-
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Ortrun Schätzlenahme von Elternverantwortung keine Selbstverständlichkeit mehr. Junge Menschen wägen ab, ob sie die Verantwortung in einer sich stark verändernden Welt übernehmen können. Sie brauchen Hilfe.Es bedarf deshalb innerhalb der Gesellschaft eines Umdenkens und einer Umorientierung hin zu mehr Kinderfreundlichkeit, zu mehr Familienfreundlichkeit und zu einer höheren Anerkennung der Familienarbeit. Ziel der Politik muß es also sein, die im Familienbericht thematisierten strukturellen Rücksichtslosigkeiten gegenüber Familien abzubauen. Ich glaube, ich darf mit Recht sagen, daß wir als Familienpolitiker der CDU/CSU oft auf diese Rücksichtlosigkeiten hingewiesen haben.
Doch wie kann dieser Abbau erfolgen? Der Familienbericht schlägt vor, das Problem mit einer Art Dreifachzange anzugehen:
zum einen durch die kompensatorische Arbeit, indem nämlich soziale Ungerechtigkeiten vermindert werden, zum anderen durch die präventive Arbeit, z. B. die Gesundheitsvorsorge, etwa zur Vermeidung von Fehlentwicklungen, und auch durch eine korrektive Arbeit, die Störungen, Probleme und Belastungen für Familien abbauen soll.Diese unterschiedlichen Ansatzpunkte und Zielsetzungen verdeutlichen, daß familienpolitische Maßnahmen zu einer ganzheitlichen Politik gebündelt werden müssen. Familienpolitik — es ist mir sehr wichtig, dies noch einmal zu betonen — darf nicht nur zur Finanzpolitik oder zu einer Bevölkerungspolitik degradiert werden.
Familienpolitik hat ideelle Ziele ebenso zu berücksichtigen wie den sozialen Bedarf; Familienpolitik hat das Humanvermögen im ganzen ebenso zu fördern, wie sie die materielle Existenzsicherung gewährleisten muß. Sie darf neben der Politik für Einzelgruppen — so wichtig diese ist — ihre Orientierung auf alle Interessenlagen von Familien und auf deren Lebenswelten nicht vernachlässigen. Nur so wird Familienpolitik ihrem Anspruch als Gesellschaftsstrukturpolitik gerecht.Die Familie - das dürfen wir nicht aus dem Blick lassen — wird auch in Zukunft Fundament von Staat und Gesellschaft bleiben und bleiben müssen. Familienpolitik ist eine Querschnittsaufgabe — dies wurde schon verschiedentlich genannt —, von der Gemeindeebene bis hin zur Bundesebene. Auf Bundesebene ist die Familienpolitik in den Zentralfunktionen des Bundesministeriums für Familie und Senioren gebündelt.Die Entscheidung zu Beginn der Legislaturperiode, dieses Ministerium einzurichten, war richtig.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Familienpolitik nach wie vor auch im Spannungsfeld verschiedener Träger realisiert werden muß. Gerade Regelungen der rechtlichen Belange von Familien oder auch die Beeinflussung ihrer Einkommensverhältnisse sind für die Gesamtsituation unserer Familien wichtig. Das wird dadurch verdeutlicht, daß selbst die Ministerien, die in der Öffentlichkeit keinen familialen Anspruch erhoben haben, familienpolitische Leistungen erwirkt haben. Zum Beispiel veranlaßt das Bundesministerium für Gesundheit Leistungen für Aufwendungen nach dem Mutterschutzgesetz mit Sonderunterstützungen für Haushaltshilfen. Ferner kann ich das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau nennen, das Leistungen in Höhe von 3,6 Milliarden DM nach dem Wohngeldgesetz veranlaßt hat, oder das Bundesministerium für Forschung und Technologie, das für die Vorsorge und Behandlung von Krebskranken Mittel bereitgestellt hat, in die automatisch die Pflege durch die Familien integriert ist. Selbst das Bundesministerium der Verteidigung gewährte Zuschüsse zu den Heimurlaubsreisen und Familienheimfahrten der Wehrsoldempfänger und vergab für 95 Millionen DM Sonderleistungen, Mietbeihilfe und Wirtschaftsbeihilfe für Familien.Viele familienpolitisch relevante Entscheidungen werden in anderen Ministerien und Ausschüssen gefällt. Man könnte behaupten, dies sei eine Kompetenzzersplitterung, aber das ist es nicht, sondern es ist eine Chance auch für andere Gremien und Ministerien, sich mit den familienrelevanten Notwendigkeiten auseinanderzusetzen.Dies gilt übrigens auch für Länder und Gemeinden in der Frage der Kindergartenversorgung. Auch hier wurde immer nur über die Platzzahl für Kinder diskutiert, aber die familienrelevanten Kriterien und Defizite wurden selten berücksichtigt.Insofern fordert der Familienbericht die Verantwortung aller ein: der Politik, der Familien selbst, der Wohlfahrtsverbände, der Kirchen, der Wirtschaft und der Gewerkschaften, der Medien und der Bildungseinrichtungen.
Frau Abgeordnete Schätzle, Sie überschreiten deutlich Ihre Redezeit!
Für mich stellen sich viele Forderungen, von der Unterstützung junger Eltern in ihrer Eigenverantwortung bis hin zur Verbesserung des Familienleistungsausgleichs.
Das „zerbrechliche Gebilde Familie" — wie es der Familienbericht nennt — braucht unser aller Unterstützung. Ich glaube, in dieser Überzeugung sollten wir alles tun, um dieser Herausforderung unserer Zeit, neue Familienformen zu unterstützen, auch tatsächlich mit allen Kräften gerecht zu werden.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, so daß wir zu den Abstimmungen kommen. Bevor ich das tue, möchte ich gern Ihre Zustimmung einholen, daß die Rede des Abgeordneten Ortwin Lowack zu Protokoll genommen werden darf*). — Danke schön. Dann ist das so beschlossen.*) Anlage 3
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20740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergWir kommen nun zu den Abstimmungen. Der Fünfte Familienbericht der Bundesregierung auf Drucksache 12/7560 und der vom Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes — er liegt Ihnen auf der Drucksache 12/6678 vor — sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Weitere Vorschläge aus dem Haus werden nicht gemacht. — Dann ist das so beschlossen.Nun kommen wir zur Großen Anfrage der Fraktion der SPD zur wirtschaftlichen Situation von Familien und deren sozialen Auswirkungen. Dazu gibt es je einen Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.Ich lasse zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der auf Drucksache 12/8053 vorliegt, abstimmen. Wer ist für diesen Entschließungsantrag? — Wer ist dagegen? Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Er liegt Ihnen auf Drucksache 12/8057 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Gruppe PDS/Linke Liste abgelehnt.Wir kommen dann zur Großen Anfrage der Fraktion der SPD zum Bundeserziehungsgeldgesetz. Dazu gibt es ebenfalls einen Entschließungsantrag der Fraktion der SPD. Er liegt Ihnen auf der Drucksache 12/8054 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Abgeordneten Konrad Weiß mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16e. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7023 zur Verhinderung der Aushöhlung des Kinderlastenausgleichs im unteren Einkommensbereich an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ist das Haus damit einverstanden? -- Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das beschlossen.Wir kommen dann zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie und Senioren zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem verfassungsgemäßen und sozial gerechten Familienlastenausgleich. Sie liegt Ihnen auf der Drucksache 12/6428 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/4128 abzulehnen. Wer dieser Ausschußempfehlung folgen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie und Senioren zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einer Verstärkung der Zusammenarbeit in familienpolitischen Fragen auf europäischer Ebene. Sie liegt Ihnen auf der Drucksache 12/7625 vor.Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/5377 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung folgen will, den bitte ich um das l Iandzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.Meine Damen und Herren, ich kann nunmehr den Tagesordnungspunkt 17a bis c aufrufen:a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie und Senioren zu der Unterrichtung durch die BundesregierungErster Altenbericht der Bundesregierung — Drucksachen 12/5897, 12/7992 —Berichterstattung:Abgeordnete Erika Reinhardt Lisa Seusterb) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Gerd Andres, Konrad Gilges, Gerlinde Hämmerle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDSituation ausländischer Rentner und Senioren in der Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 12/4009, 12/5796 —c) Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission Demographischer Wandel — Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik — gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 16. Oktober und 2. Dezember 1992— Drucksachen 12/2272, 12/3460, 12/3461, 12/3717, 12/7876 —Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von eineinviertel Stunden vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich erteile der Bundesministerin für Familie und Senioren, Frau Ministerin Hannelore Rönsch, das Wort. Frau Ministerin, bitte.
Heir Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ausgesprochen dankbar dafür, daß wir heute den Fünften Familienbericht und den Ersten Altenbericht hintereinander diskutieren können. Denn damit wird deutlich: Alte Menschen sind Teil der Familie, auch wenn wir sie bei der Diskussion um den Fünften Familienbericht nicht ausdrücklich als einen Teil der Familie benannt haben.Mit einer Familienministerin und ganz besonders mit der Seniorenministerin Hannelore Rönsch wird immer wieder eingefordert werden, daß Eltern Verantwortung gegenüber ihren Kindern, daß aber auch Kinder eine lebenslange Verantwortung gegenüber ihren Eltern haben. Diese Verantwortung werden wir in den zukünftigen Jahren noch verstärkt einfordern müssen. Bei aller staatlichen Unterstützung darf es keine emotionale Abwendung der Kinder von ihren Eltern geben.Die heutige Debatte zeigt deutlich: Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag haben die
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Bundesministerin Hannelore RönschHerausforderungen erkannt, die mit dem demographischen Wandel in unserer Gesellschaft einhergehen. Als Familien- und Seniorenministerin ist es mir ein besonderes Anliegen, die umfassende und frühzeitige Auseinandersetzung mit bereits heute erkennbaren Entwicklung en voranzutreiben.Durch die gestiegene und weiter ansteigende Lebenserwartung wächst die Zahl der älteren Menschen in unserer Gesellschaft. Schon heute ist jeder fünfte Bundesbürger über 60 Jahre, und im Jahre 2030 wird es jeder dritte sein. Wir haben heute eine durchschnittliche Lebenserwartung bei den Frauen von 78 Jahren und bei den Männern von 72,6 Jahren. Wir haben bei der Lebenserwartung einen jährlichen Zugewinn von einem Vierteljahr. Ich denke, daß man diesen demographischen Herausforderungen in der Zukunft noch mehr Rechnung tragen muß.Das heißt zum einen: Die gesellschaftliche und die politische Bedeutung der älteren Menschen nimmt zu. Die Älteren stehen mitten im Leben, mitten in der Gesellschaft. Die meisten erfreuen sich einer vitalen Gesundheit und einer großen Lebenskraft, und sie wollen ihre dritte Lebensphase aktiv gestalten und mil Sinn erfüllen.Das heißt zum anderen: Der sich verändernde Altersaufbau unserer Gesellschaft und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Versorgungssysteme, auf die Infrastruktur oder den Arbeitsmarkt stellen uns alle, die wir heute die Zukunft mitgestalten, vor große Aufgaben.Mit Interesse habe ich zur Kenntnis genommen, daß die Opposition jetzt endlich eine eigene Seniorenorganisation gegründet hat. Als damals das Seniorenministerium eingerichtet wurde — ich kann mich an die Diskussionen noch sehr gut erinnern , wurde der Sinn ein wenig in Frage gestellt.
— Aber, liebe Frau Fuchs,
ich könnte hier wörtliche Zitate von Kolleginnen und Kollegen anführen.
So hat z. B. Ihr Fraktionsvorsitzender von „Alterslast" gesprochen.
Es hilft nicht, das jetzt wegdiskutieren zu wollen. Sie waren heute an verschiedenen Stellen schon sehr aufgeregt. Ich nehme an, das sind die Nachwirkungen von Halle, weil jetzt Jubel verordnet ist. Wir haben das heute gemerkt. Nur: Die Politikfelder verändern sich dadurch nicht, und Realitäten bleiben.
Sie haben seinerzeit ein Seniorenministerium gar nicht haben wollen. Mittlerweile haben auch Sie die Bedeutung der Senioren erkannt. Ich freue mich darüber. Denn hier können wir in einen gesunden Wettstreit um die Unterstützung von älteren und alten Menschen treten. Ich bin sicher, wir werden auch hier wieder an erster Stelle sein.
Wir haben im Februar dieses Jahres erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik im Parlament über einen Bericht zur Lebenssituation älterer Menschen in Deutschland debattiert. Ich begrüße nachdrücklich die Beschlußfassung des Ausschusses für Familie und Senioren, insbesondere auch zur regelmäßigen Berichterstattung. Denn die umfassende Information über die Lebenssituation der verschiedenen Gruppen älterer Menschen ist eine wesentliche Voraussetzung für eine Politikgestaltung, die den Bedürfnissen der älteren und alten Menschen Rechnung trägt. Nur aus einer differenzierten Sichtweise und auf Grund fundierter Kenntnisse können Defizite und zukünftige Entwicklungen rechtzeitig erkannt, können Maßnahmen auf den unterschiedlichen Politikfeldern rechtzeitig ergriffen werden.Der Altenbericht zeigt uns, daß sich die Situation der älteren Menschen in den zurückliegenden Jahren spürbar verbessert hat. Altere Menschen leben heute nicht nur länger als früher, sie gehen auch gesünder in die letzte Lebensphase. Das Leben nach dem Beruf begreifen sie sehr oft als besonderen Lebensabschnitt, den sie ganz eigenständig und komplett neu gestalten wollen.Als ein eindrucksvolles Beispiel für Aktivität, Engagement und Eigeninitiative älterer Menschen habe ich erst vor wenigen Tagen in Wiesbaden den Deutschen Seniorentag erlebt, den die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen veranstaltet hat. Ich hätte mir gewünscht, es wären mehr Sozialdemokraten anwesend gewesen, damit sie die Lebensfreude, die große Kompetenz und die gesellschaftliche Beteiligung der älteren und alten Menschen dort hätten erleben können.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, seit der Abfassung des Ersten Altenberichts sind wir bereits wesentliche Schritte weitergekommen. Ich denke hierbei ganz besonders an die Absicherung des Pflegerisikos, die Pflegeversicherung. Ich bin sehr froh darüber, daß wir für die Kompensation endlich eine Möglichkeit gefunden haben. Denn es wäre für mich als Seniorenministerin unerträglich gewesen, wenn die heute berufstätige Generation, die andere Arbeitsbiographien hat, denjenigen, die ein oder zwei Weltkriege miterlebt haben, die wesentlich früher ins Arbeitsleben eingestiegen sind, mit Sicherheit auch später ausgestiegen sind, die mit 30 oder 32 Urlaubstagen noch nichts anfangen konnten, die mit einer 38-Stunden-Woche sicher nicht rechnen durften, die oft auch noch samstags gearbeitet haben, einen Feieroder Urlaubstag nicht zur Kompensation zur Verfügung gestellt hätte.
Zum Glück haben wir es jetzt geschafft.
Wir können jetzt denjenigen, die zu Hause die Pflegearbeit leisten — es kam mir ganz wesentlich darauf an, daß wir auf diese Weise einsteigen —, ab
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Bundesministerin Hannelore Rönschdem 1. April 1995 unterstützend unter die Arme greifen. Es sind immerhin 1,1 Millionen ältere und alte Bundesbürgerinnen und Bundesbürger, die zu Hause von ihren Angehörigen versorgt und gepflegt werden. Sie erhalten Pflegegelder oder Sachleistungen oder auch beides. Gleichzeitig werden die Pflegepersonen sozial abgesichert. Auch das war mir ein ganz besonderes Anliegen. Denn es sind so über 80 % Frauen, die die Pflegearbeit leisten. Durch diese soziale Absicherung trägt die Pflegeversicherung wesentlich dazu bei, die Lebensqualität der Pflegebedürftigen zu verbessern.Sie hilft uns auch bei der vordringlichen Aufgabe, die zumeist bedrückende Lage in den Alten- und Altenpflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern zu verbessern, nachdem durch das Soforthilfeprogramm der Bundesregierung 1990 und 1992 die größte Not bereits gelindert werden konnte. Allein im Rahmen der Pflegeversicherung sind jetzt 6,4 Milliarden DM für Investitionen vorgesehen. Dies wird ganz wesentlich dazu beitragen, die Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands anzugleichen.Auch die materielle Situation der Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern hat sich durch die Rentenanpassung seit der Vereinigung deutlich verbessert. Im Vergleich zum 30. Juni 1990 ist das Einkommen der Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern bis jetzt um real 65 % gestiegen.
— Ich hätte, Frau Kollegin Höll, gerne die Gelegenheit gehabt, heute, in der Debatte über den Familienbericht, nach Ihnen zu reden; denn Sie idealisieren noch immer die Lebensverhältnisse in der ehemaligen DDR in einer Art und Weise, die wirklich unerträglich ist.
Wenn Sie — wie ich — mindestens einmal in der Woche in Alten- und Pflegeeinrichtungen und in Behinderteneinrichtungen sind oder in der — —
— Sie sind dort?
— Und Sie nehmen das, was Sie dort sehen, nicht zur Kenntnis?
— Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten nicht so lange in Rostow am Don studiert, sondern sich auch einmal die Verhältnisse in der DDR genauer angesehen.
Dann könnten Sie zu solchen Aussagen, wie Sie sie heute hier wieder gemacht haben, nicht kommen.
Ich bin froh und dankbar, daß wir die Wiedervereinigung 1989 erreicht haben, damit wir den Männern und Frauen der ehemaligen DDR, die das gleiche Schicksal und die gleiche Biographie haben wie ihre Altersgenossen in der Bundesrepublik, die ebenfallsein oder zwei Weltkriege wie die ältere und alte Generation in den alten Bundesländern erlebt haben, noch einen großen Teil ihres Lebensabends ein wenig angenehmer gestalten können. Denn dieses System DDR hat alle ausgesondert, die entweder alt, schwach oder behindert waren. Wir wollen ein größeres Stück Gerechtigkeit — und das gerade für die Schwachen aus dem ehemaligen System.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Gruppe älterer Mitbürger, die in der Zukunft zahlenmäßig besonders stark anwachsen wird, sind die ausländischen Seniorinnen und Senioren. Gemeint sind die Gastarbeiter der ersten Generation — 300 000 momentan. Diese Zahl wird im Jahr 2030 3 Millionen betragen. Daher müssen wir die Seniorenpolitik in der Zukunft stärker auf diese Gruppe der älteren und alten Mitbürgerinnen und Mitbürger ausrichten. Altenarbeit und Altenhilfe müssen Angebote schaffen, die den Vorstellungen älterer Ausländer in Deutschland, die ihren Lebensabend hier verbringen, gerecht werden. Hier müssen wir mit Sicherheit neue Politikfelder eröffnen.Gerade im Alter brauchen diese ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die lange Jahre ihre Arbeitskraft hier in der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt haben, die unser Land zu dem Land gemacht haben, in dem wir jetzt leben dürfen, unsere Solidarität und unsere Unterstützung. Die unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die verschiedenen kulturellen Einflüsse und familiären Konstellationen sind dabei einige der vielen zu berücksichtigenden Faktoren, um, den Integrationsprozeß auf der Basis von Toleranz und wechselseitigem Verständnis zu fördern. Ich konnte erst vor einigen Wochen zusammen mit Frau Kollegin Dr. Wegner in Mannheim einen Treffpunkt für ältere türkische Seniorinnen und Senioren eröffnen. Ich bin sehr froh darüber; wir werden dies in künftigen Jahren verstärkt tun müssen.Ich will — damit es da keine Mißverständnisse gibt — eines betonen: Dies sind die Gastarbeiter, die in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet haben, die die Bundesrepublik mit aufgebaut haben, die in die Rentenkasse mit eingezahlt haben und die es verdienen, daß wir ihren Lebensabend, wenn sie es wünschen, in der Bundesrepublik Deutschland entsprechend absichern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe seinerzeit die Einrichtung eines eigenständigen Bundesseniorenministeriums als eine wegweisende politische Antwort auf die gesellschaftlichen Herausforderungen verstanden, mit denen wir uns hier und heute beschäftigen. Auch die Einrichtung des Bundesaltenplans 1992 und der Mittelaufwuchs, der in den vergangenen Jahren für die Seniorenpolitik erreicht werden konnte, zeigen, daß die wachsende Bedeutung dieses gesellschaftspolitischen Bereichs anerkannt wird. Durch den Bundesaltenplan haben wir jetzt eine zentrale und innovative Förderung in der Seniorenpolitik. Ich denke, daß wir für die Zukunft weitere Impulse für eine zukunftsweisende Altenpoli-
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Bundesministerin Hannelore Rönschtik auch auf der Ebene der Länder und Kommunen erreichen können.Der Bundesaltenplan ermöglicht die Förderung von Projekten in unterschiedlichen Bereichen, z. B. im Seniorensport, bei der Gesundheit im Alter, beim Übergang in den Ruhestand oder bei der Weiterentwicklung der Altenhilfestruktur. Das sind nur einige wenige Beispiele. Aber im Vordergrund stehen immer wieder die Integration und die gesellschaftliche Beteiligung der älteren und alten Menschen.Als herausragendes Beispiel für die Zielsetzung des Bundesaltenplans möchte ich das Modellprogramm „Seniorenbüro" nennen, das bundesweit auf enorme Resonanz gestoßen ist. Fast jede Kollegin aus dem Bundestag hat für den eigenen Wahlkreis die Errichtung eines Seniorenbüros gefordert. Aber ich kann mit Mitteln meines Ministeriums immer nur modellhaft fördern. 32 Seniorenbüros haben bereits ihre Arbeit aufgenommen.Seniorenpolitik, wie ich sie verfolge, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist eine Querschnittsaufgabe, die die Wünsche und Bedürfnisse der älteren Generation zu berücksichtigen hat und das Miteinander der Generationen fördert. Meine seniorenpolitische Leitlinie ist, die Selbständigkeit und die gesellschaftliche Teilhabe der älteren Menschen auch im Falle der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit in höchstmöglichem Maße zu erhalten und zu fördern. Es geht um die Wahrung der Menschenwürde in allen Lebensphasen, und es geht auch um den Respekt und die Mündigkeit des Bürgers, besonders der älteren Bürger.Unsere Gesellschaft insgesamt wird ihr Gesicht in den nächsten Jahrzehnten zweifellos weiter verändern. Es wird eine Gesellschaft im Wandel sein — mit neuen Dimensionen, neuen Lebensstilen und neuen Handlungsfeldern. Unsere Zukunftschancen liegen ganz wesentlich auch in der Berücksichtigung der vielfältigen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie der Kompetenzen der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger. Diese Zukunftschancen können genutzt werden, wenn einerseits den Bedürfnissen und den Belastungen älterer Menschen die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, aber andererseits auch deren Wissen, deren Erfahrung und deren Kompetenz in die Gesellschaft immer wieder eingebracht werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Arne Fuhrmann.
— Frau Abgeordnete Höll, das Wort zu einer Kurzintervention wird nach § 27 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung erst nach der ersten Debattenrunde erteilt. Ich habe lhren Wunsch nach einer Kurzintervention schon notiert, aber Sie können erst nach der ersten Debattenrunde der Fraktionen das Wort zu einer Kurzintervention erhalten.
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir behandeln in einerverbundenen Debatte den ersten Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel", der Ihnen vorliegt, den Ersten Altenbericht der Bundesregierung und die Große Anfrage meiner Fraktion zur Lage der älteren ausländischen Arbeitnehmer. Dennoch möchte ich in meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Enquete-Kommission meinen Überlegungen zwei Bemerkungen voranstellen.Erstens. Ich bedanke mich bei allen Mitgliedern der Kommission für faire und konstruktive Zusammenarbeit.Zweitens. Ich spreche den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" an dieser Stelle meinen Respekt für ihre großartige Leistung aus.
Ohne ihren Einsatz und ohne das weit über das normale Maß hinausgehende Verständnis aller Beteiligten innerhalb des Sekretariats wären wir nicht so weit. Mein persönlicher Dank gilt allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, an der Spitze Herrn Ehrenheim.
— Das finde ich in Ordnung.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ein „Gespenst" geht um in Europa. So wird es jedenfalls behauptet. Aber es ist überhaupt kein Gespenst. Es ist eine heimliche, stille Revolution, die wir seit einer ganzen Reihe von Jahren erleben, ohne sie bisher sonderlich wahrgenommen zu haben. In die Tagespresse kamen die Berichte darüber, daß sich durch fehlende Geburtenzahlen die frühere Verteilung der Gesamtbevölkerung auf die Gruppen Kinder, Jugendliche, Erwerbsbevölkerung und Rentner hin zu den Rentnern verschiebt, erst durch die Aktivitäten der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" des Deutschen Bundestages und durch die Aktivitäten im Zusammenhang mit dem — von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, wie sie damals noch hieß, ausgerufenen — Jahr der älteren Menschen und der Solidargemeinschaft der Generationen.Der Erste Altenbericht der Bundesregierung, zu dem wir an diesem Ort bereits im Februar eine Aussprache hatten, leistet eine Bestandsaufnahme der Situation der älteren Menschen in der Bundesrepublik. Der Ihnen heute vorliegende erste Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" geht entsprechend dem Auftrag der Kommission und des Deutschen Bundestages darüber hinaus und wagt einen Blick in die Zukunft, genauer gesagt: bis ins Jahr 2030. Dieser Zwischenbericht kann dies nicht erschöpfend oder gar im Detail leisten; vielmehr öffnet er ein Fenster und, um im Bild zu bleiben, bietet zunächst ein Panorama möglicher und wahrscheinlicher Entwicklungen.Wenn Menschen meines Jahrgangs an ihre Kindheit und Jugend zurückdenken, so erinnern sie sich nicht nur an die schlimmen Jahre der Nachkriegszeit. Wir erinnern uns auch an ein Familienleben mit Verwandten, mit vielen Menschen um uns herum, auch dann, wenn der Krieg zum Teil schmerzliche
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Arne FuhrmannLükken gerissen hat. Entsprechend diesen Vorbildern hat unsere Generation dann geheiratet und unter oft sehr schwierigen wirtschaftlichen Umständen — ich weiß durchaus, wovon ich rede —, bei Verzicht auf Konsum und große Reisen, Kinder erzogen.Jetzt kommen unsere Kinder in das heiratsfähige Alter, und natürlich würden wir es gern sehen , wenn wir Enkelkinder hätten, die wir betütteln können.
Aber es ist absolut nicht selbstverständlich, daß Kinder im Alter zwischen 18 und 24/25 heiraten. In diesem Alter stecken sie heute meistens in der Berufsausbildung, und das ist ihnen wesentlich wichtiger, als dem Wunsch ihrer Eltern nachzukommen, ihnen ein Enkelkind zu schenken. Ihr Wunsch ist es, einen Beruf zu erlernen und den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Abhängig sein vom Ehepartner, dem zugeteilten Wirtschaftsgeld, das die Ehe diktiert, vom Diktat der Ehe? Das wollen sie nicht. Um Kinder zu bekommen, ist nicht dringend die Eheschließung erforderlich; Zusammenleben, ob mit oder ohne Kinder, ist nicht abhängig vom Standesbeamten.Was bedeutet diese Verhaltensänderung, die unsere jungen Menschen zeigen, für die Zukunft? Sie bedeutet, daß die Familie nicht mehr das sein wird, was wir aus unserer Erfahrung uns darunter vorstellen. Familie ist eine Lebensform von Generationen und Geschlechtern, deren Gestalt sich im Lebenslauf immer wieder verändert — heißt es in dem Bericht der Enquete-Kommission. Die Familie, in die meine Generation hineingeboren wurde, ist anders strukturiert als die Familie, in die heute Kinder geboren werden. Darin zeigt sich ein Teil der fast schon revolutionären Veränderung.Ein Thema unter vielen, auf die der Bericht eingeht, greife ich heraus: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das paßt auch zu dem vorhin diskutierten Familienbericht. Während unserer Arbeit in den vergangenen anderthalb Jahren wurde deutlich, daß es mit dem demographischen Wandel zukünftig und langfristig ein rückläufiges Angebot an gut qualifizierten Fachkräften geben wird. Nach dem .Jahr 2010 werden schlecht ausgebildete Arbeitnehmer voraussichtlich weiterhin arbeitslos sein. Dem wird eine stetig steigende Nachfrage nach gut qualifizierten Fachkräften gegenüberstehen.Hinzu kommt, daß der technologische Fortschritt und die steigende Nachfrage nach hochqualifizierten Dienstleistungen eine regelmäßige Weiterbildung der Arbeitnehmer an allen Stellen erforderlich machen. Will dann z. B. eine Frau mit Rücksicht auf die Erfüllung ihres Wunsches nach eigenen Kindern ihre Berufstätigkeit unterbrechen, riskiert sie die Entwertung ihrer beruflichen Kenntnisse. Unser Ziel muß es deshalb sein, künftig Mütter diesem Dequalifizierungsprozeß nicht auszusetzen. Auch die Arbeitgeber werden erkennen müssen, daß es in ihrem Interesse liegt, eine Veralterung der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten von Frauen zu vermeiden.
Es muß deshalb ein Weg gefunden werden, entweder für diese Frauen — künftig auch verstärkt fürMänner — die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen oder sicherzustellen, daß Frauen bzw. Männer durch eine besondere Anbindung an den Beruf den Kontakt zum Arbeitsleben nicht verlieren und sich auch weiter qualifizieren können.Nach Meinung der Sozialdemokraten in der Kommission müssen die gesetzlichen Maßnahmen, die es der Mutter oder dem Vater ermöglichen, sich intensiv um Kinder zu kümmern, langfristig so verbessert werden, daß nicht nur Mütter, sondern auch Väter daran interessiert sind, z. B. den Erziehungsurlaub — natürlich mit einer Wiedereinstellungsgarantie — in Anspruch zu nehmen.
Wenn nun aber trotz sinkender Geburtenrate die Bevölkerungszahl in unserem Land vorübergehend noch zunimmt, so hat das vor allem zwei Gründe: eine seit Jahren kontinuierlich steigende Lebenserwartung von heute 72 Jahren bei den Männern und 78 Jahren bei den Frauen und eine kontinuierliche Zuwanderung.Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch wenn sich die Bundesrepublik bislang nicht offiziell als ein Einwanderungsland versteht, de facto ist sie es seit über 20 Jahren,
und sie wird es wohl auch in Zukunft sein.Eine Antwort auf die Frage nach Art und Umfang einer erforderlichen und erwünschten Zuwanderung sowie den damit verbundenen Integrationsleistungen ist meines Erachtens überfällig. Die Kommission konnte das in der Kürze der Zeit nicht leisten. Ich gehe davon aus und wünsche mir, daß sich eine neu eingesetzte Enquete-Kommission in der nächsten Legislaturperiode mit diesem Themenbereich intensiv befassen wird.Als wir noch über die Einführung einer Pflegeversicherung gemeinsam berieten, habe ich die Bundesregierung gefragt, ab welcher Einkommensgrenze Kinder vom Sozialamt in Anspruch genommen werden, wenn die Rente der Mutter oder die des Vaters nicht ausreicht, um die Kosten einer Unterbringung in einem Altenpflegeheim zu bezahlen.
Ich habe keine konkrete Auskunft bekommen. Ich habe mir aber sagen lassen, daß diese Grenze viel höher liegt, als man gemeinhin annimmt. In den wenigsten Fällen konnten die Sozialämter nach Prüfung der Einkommenslage tatsächlich einen Regreßanspruch gegen Kinder geltend machen. Wenn das so stimmt, erklärt es sich eigentlich von selbst, weshalb die Sozialämter nach Prüfung der Einkommmenslage versuchen, Kindern einen „freiwilligen" Betrag abzunehmen. Dieses Verfahren ist eines sozialen Rechtsstaates unwürdig.
Meine Freunde und ich haben deshalb in der Kommission die Auffassung vertreten, daß in solchen Fällen die Heranziehung durch die Sozialämter korrigiert werden muß. Wir sind der Meinung, daß Regreß
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20745
Arne Fuhrmannim Sozialhilferecht auf Dauer keinen Platz mehr haben darf.
Der Bericht der Enquete-Kommission dokumentiert den absehbaren demographischen Wandel als Herausforderung und als eine Chance für die Umgestaltung unserer Gesellschaft, und zwar für alle Generationen.Bertolt Brecht beschreibt in seiner Geschichte von der „unwürdigen Greisin" die Biographie einer Frau so, wie sie die Generationen nach uns wohl kaum noch begreifen werden. Er sagt:Genau betrachtet, lebte sie hintereinander zwei Leben. Das eine, erste, als Tochter, als Frau und als Mutter, und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre.Wenn wir schon überall das „aktive, neue Alter" entdecken, dann müssen wir auch die Voraussetzungen dafür schaffen, daß dieses neu entstandene Potential an allen gesellschaftlichen Bereichen — auch der Arbeitswelt — teilhaben kann.Herr Präsident, wenn Sie erlauben, möchte ich mit einem Wort von Willy Brandt schließen. Willy Brandt sagt:Unsere Zeit allerdings steckt, wie kaum eine andere zuvor, voller Möglichkeiten — zum Guten und zum Bösen. Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum besinnt euch auf eure Kraft und darauf, daß jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Frage nach der Erlaubnis richtete sich natürlich nicht auf den Autor des Zitats, sondern wurde wegen der Zeitüberschreitung gestellt.
Herr Kollege Hans Engelhard, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß die Bedeutungsdimension unseres heutigen Themas noch weithin unterschätzt wird, ist ganz augenscheinlich.Am 18. Mai dieses Jahres schildert die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter der für sie fast reißerisch anmutenden Überschrift „Deutschland vergreist — wen kümmert's?" den Allensbacher Monatsbericht. Danach kümmern sich die künftigen Alten, soweit sie heute jünger als 45 sind, noch kaum um die Altersstruktur und ihre dynamische Fortentwicklung.Da ist es dann schon von besonderer Bedeutung, daß sich die politisch Verantwortlichen — zunächst das Parlament, aber auch die Bundesregierung den Themen intensiv gewidmet haben.Der absehbar starke Rückgang der Bevölkerung kann durch Einwanderungspolitik, wie wir wissen, nicht gestoppt, sondern allenfalls verlangsamt werden. Bei allen Planspielen ist fast übersehen worden, daß in Deutschland die Ausländer mit 60 und mehr Jahren schließlich im Jahre 2030 die voraussichtlich am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe sein werden.Wenn das Funktionieren unserer Wirtschaft, die Versorgung alter Menschen und die Pflege behinderter und kranker Mitbürger sichergestellt ist, was eigentlich, so frage ich, hindert uns dann daran, endlich einmal darüber nachzudenken, welche Chancen sich im dichtestbesiedelten Teil Europas bei einem beträchtlichen Rückgang der Bevölkerung eröffnen, Chancen positiver Art für die Umwelt, ja, für die allgemeine Qualität unserer Lebensführung?
Man wird, an den Gesetzgeber gewandt, von ihm bei einem starken Bevölkerungsrückgang künftig allerdings verlangen müssen, daß bei jedem Gesetzentwurf unter dem Stichwort „Kosten" die demographische Entwicklung berücksichtigt wird, denn alle Schulden und alle Aufgaben für die Zukunft müssen dann von einer zahlenmäßig jeweils kleineren Generation geleistet und getragen werden.Ältere Mitbürger werden aber nicht nur bei öffentlichen Wahlen, sondern ebenso als Konsumenten in der Wirtschaft ein immer größeres Gewicht erhalten. Schon im Jahre 2000 wird ein Viertel allen Geld- und Grundvermögens den über 65jährigen gehören. Diese Wirtschaftsmacht wird dann mit ihrer Nachfragemacht auch erzwingen, daß sich die Produktion an ihren Bedürfnissen orientiert.Wir haben in der Enquete-Kommission, gleichsam zur Verteidigung der alten Generation, beruhigt feststellen können, daß Seniorinnen und Senioren mit den komplizierten Gerätschaften unserer technisierten Welt eigentlich recht gut umzugehen wissen. Aber die Frage stellt sich doch einmal: An wem sollen all diese Produkte eigentlich ausgerichtet werden, immer noch an den jüngeren oder an gar keinen Konsumenten? Wir wissen es nicht.In der „Zeit" vom 26. März 1993 war zu lesen, daß man oft den Eindruck gewinnen müsse, bei solchen Geräten hätten die Designer nach dem Prinzip gehandelt: Unternimm jede Anstrengung, daß Opa nicht an die Stereoanlage geht!
Im Zentrum für angewandte Alternsforschung der Universität Birmingham hat man aber erkannt: Entwirf für die Jungen, und du schließt die Alten aus; entwirf für die Alten, und du schließt die Jungen ein!
Das soll heißen, daß, wenn die Geräte in diesem Sinne übersichtlicher, für den schnellen Zugriff ohne endlose Überlegungen besser konstruiert würden, auch jüngere Menschen daran viel mehr Freude hätten.
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Hans A. EngelhardDaß die altengerechte Wohnung und ein entsprechendes Wohnumfeld nicht nur für Mütter mit kleinen Kindern notwendig, sondern letztlich für alle Menschen angenehm und von Vorteil sind, habe ich bereits bei der Debatte zur Einsetzung der EnqueteKommission am 16. Oktober 1992 und sodann noch einmal zum Altenbericht am 25. Februar dieses Jahres unterstrichen.Im Kapitel „Wohnen und Wohnumfeld" sind die Forderungen an die Politik besonders zahlreich. Ich meine, das ist richtig. Es liegt in der Logik künftigen Bauens, daß sich Planung und Ausführung an den Notwendigkeiten für eine älter werdende Gesellschaft orientieren.Zum Notwendigen tritt dann aber auch das Angenehme. So habe ich großen Wert darauf gelegt, daß z. B. beim künftigen Städtebau Kolonnaden, Arkaden, Glasgalerien und Passagen zum Wetterschutz ihren Platz finden; wie jeder weiß, ist es bei uns meist ein Schutz gegen den Regen.Doch während wir über einen für alle — damit auch für alte — Menschen zweckmäßigen Städtebau nachgedacht haben, verstößt die Praxis draußen stellenweise gegen Selbstverständlichkeiten und spricht dadurch allen Grundsätzen einer menschengerechten Stadt hohn. So hat meine Heimatstadt München aus Einspargründen die Anzahl der Parkbänke stark ausgedünnt und eine Vielzahl öffentlicher Toiletten geschlossen. Das mußte zunächst zu einem flammenden Protest des Seniorenbeirats führen. Da stellt sich dann die Frage: Was nützt verbesserter öffentlicher Verkehr, um die Menschen überall hinzubringen, wenn am Zielort das, was nun auch einmal notwendig ist, den Benutzern weggenommen wurde?
Meine Damen und Herren, Untersuchungen weisen aus, daß im Alter das Interesse an der Politik eher zunimmt. Da wird sich dann bald auch die Frage stellen, ob sich Seniorinnen und Senioren von unseren Parlamenten noch so recht vertreten fühlen. Nach dem Stand von April 1993 waren im Deutschen Bundestag die Jahrgänge 1926 bis 1930 mit 62 Mitgliedern, die Jahrgänge 1925 und früher mit ganzen acht Mitgliedern vertreten.Ich komme zu den Gründen. Hierüber in einer immer älter werdenden Gesellschaft nachzudenken ist durchaus reizvoll. Ich fände es nur völlig vordergründig, zu meinen, ältere Kolleginnen und Kollegen wollten nicht so früh aufstehen oder nicht so spät ins Bett gehen, wie es das Geschäft hier nun einmal mit sich bringt. Nein, ich meine, daß Fraktionen, aber auch Parteien, die mehr ältere Abgeordnete in ihren Reihen haben wollen, darüber nachdenken sollten, was lebenserfahrene Damen und Herren eigentlich davon abhält, hier weiter mitspielen zu wollen.Das ist ein schwieriges Thema; aber so schwierig ist es auch nicht, daß man nicht zumindest zum Ausdruck bringen könnte, daß es ein oft blinder Aktionismus ist — auch eine Zeitverschwendung —, der Überstundenmit Leistungen und Erfolgen verwechselt, die das Treiben im Parlament und in den Parteien prägen.
Es könnte der Tag kommen — und damit, Herr Präsident, darf ich schließen —, da die Politik wieder von mehr Nachdenklichkeit und von der Möglichkeit, miteinander zu sprechen, geprägt wird, was an die Stelle so mancher Aktion tritt, die in einen von uns immer wieder erlebten Aktionismus ausartet.
Frau Kollegin Dr. Barbara Höll, Sie haben sich vorhin zu einer Kurzintervention gemeldet. Aber da war die erste Debattenrunde noch nicht beendet. Deshalb konnte der Kollege Cronenberg sie nicht zulassen. Nun haben Sie erwogen, sich nach § 30 oder § 31 unserer Geschäftsordnung zu Wort zu melden. Aber das bedarf alles erst des Abschlusses der Debatte. Deshalb schlage ich vor: Hängen Sie jetzt zwei Minuten an Ihre Redezeit dran und sagen Sie das, was Sie vorhin in der Kurzintervention behandeln wollten, jetzt.
Sie haben das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. — Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der heutigen Debatte liegen dem Bundestag zwei wichtige Dokumente zur Lage der älteren und älter werdenden Bevölkerung vor, in denen teilweise eine positive Bilanz gezogen, teilweise aber auch auf gravierenden sozialpolitischen Handlungsbedarf verwiesen wird.War die Sicht auf die ostdeutschen Bundesländer im Ersten Altenbericht der Bundesregierung noch sehr eng und einseitig, so sind im vorliegenden Bericht der Enquete-Kommission eine Reihe von ostdeutschen Problemen herausgearbeitet, auch wenn die Einbeziehung ostdeutscher Sachverständiger sehr gering war. Lediglich unsere Abgeordnetengruppe hatte eine Sachverständige aus den neuen Bundesländern benannt. Bei Anhörungen und der Vergabe von Expertisen war die Präsenz ostdeutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenfalls sehr gering, wobei ich hinzufügen muß: Dies weist allerdings auch auf Schwierigkeiten der ostdeutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hin, ihre Stellung in der gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft zu behaupten; denn die Ausgrenzung und Verdrängung von Ostprodukten ist auch in der Wissenschaft spürbar.So war für uns symptomatisch, daß die Sachkenntnis unserer Wissenschaftlerin bezüglich der sozialen Beziehungen und Befindlichkeiten im Osten angezweifelt wurde — nachzulesen im Minderheitenvotum der SPD und PDS --, der von der CDU benannte Sachverständige aber glaubt, die Situation ohne hinreichende empirische Basis besser einschätzen zu können.Aus der Fülle der im Bericht genannten Probleme möchte ich nur einige wenige herausgreifen. Zunächst ist auf die drastisch sinkende Geburtlichkeit in den neuen Ländern zu verweisen, mit der geringen
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Dr. Barbara HöllAussicht auf schnelle Umkehr des Trends und der Option, daß bis zum Jahr 2030 etwa ein Drittel der Frauen trotz eines relativ hohen Kinderwunsches kinderlos bleiben werden.Anders, als es sich Frau Rönsch vorstellt, ist nicht allein eine Strafsteuer für Kinderlose ein Regulativ, sondern die desolate wirtschaftliche Situation in Deutschland, die wachsende Ausgrenzung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die eklatante Benachteiligung von Familien sind Ursachen dieser Entwicklung. Nicht zu überhören sind die Warnungen in Familien- und Armutsberichterstattungen, daß Familien mit Kindern und vor allem Alleinerziehende immer stärker zu den von Armut betroffenen und bedrohten Bevölkerungsgruppen gehören. Ein Land, das bewußt auf Kinder verzichtet, verzichtet auf einen wesentlichen kulturellen Reichtum.Die staatliche geförderte Dominanz von Lebensstilen ohne Kinder schränkt die Möglichkeiten von Familien mit Kindern, sich für ihre Probleme die nötige Lobby zu schaffen, weiter ein. Hier ist ein politisches Umdenken dringend erforderlich, das zu einer gerechten, die Lebensleistung eines Menschen — einschließlich der Leistungen für die Familie — besser berücksichtigenden Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums führt.Die Gruppe PDS/Linke Liste hat mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur sozialen Grundsicherung einen möglichen Weg aufgezeigt. Länder wie Dänemark, Schweden, Finnland haben andere Wege als die Deutschen beschritten. Auch die DDR hatte sozialpolitische Regelungen, die durchaus in der wesentlich reicheren BRD möglich wären, vorausgesetzt, es würde ein gerechteres Verteilungsprinzip eingeführt.Was zu den Leistungen der Familie bei der Erziehung der Kinder gesagt wurde, gilt auch für die Leistungen für pflegebedürftige Angehörige. Es kann einfach nicht angehen, daß gerade in den frauendominierten Bereichen immer wieder auf Ehrenamt und traditionelle Rollenzuschreibungen orientiert wird. Notwendig sind familienentlastende und -ersetzende Dienste; denn die Familie unterliegt einem gewaltigen Wandlungsprozeß. Familiale Netze sind in der Regel schon heute überlastet und werden es für die Zukunft noch stärker sein.Altenhilfe und Altenpflege sind nach wie vor frauendominierte Bereiche. Hohe fachliche Kompetenz wird gefordert, die finanziellen Mittel jedoch sind beschränkt. Bürokratie, Ressortdenken und Konkurrenz zwischen Wohlfahrtsverbänden , Kostenträgern und Berufsverbänden verhindern oftmals das geforderte Prinzip der ganzheitlichen Betreuung hei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Auch hier haben wir, bei aller Problematik in diesem Bereich, einige gute Ansätze aus unserer DDR-Erfahrung einzubringen. Der Blick über die deutschen Grenzen hinweg kann viele Anregungen geben, effektivere Wege zu gehen. Das vom Ministerium herausgegebene zweibändige Buch zur Familienpolitik in europäischen Ländern liefert da wesentliche Ansätze.Ein weiterer Schwerpunkt des Berichtes ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Mit dem Eintreten geburtenschwacher Jahrgänge in das erwerbsfähige Alter — so stellt der Bericht fest — wird es zu einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften kommen. Frauen und ältere Arbeitnehmer werden bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen vom Arbeitsmarkt mit der Folge erheblicher Benachteiligung im Alter verdrängt: Altersarmut infolge unzureichender materieller Sicherung.Sie werden in dieser Bundesrepublik ebenso zum Arbeitsmarktregulativ wie ausländische Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Wenn man die Debatte über die Neuregelung des Asylgesetzes im Hinterkopf hat, stimmen die Aussagen zu einer gezielten Einwanderungspolitik bei einsetzendem Arbeitskräftemangel nach der Jahrtausendwende sehr nachdenklich.Wer qualifiziert ist, darf nach Deutschland kommen, auch wenn er vielleicht in seiner Heimat dringend gebraucht wird. Wer nicht qualifiziert ist, soll bleiben.Es bleibt zu hoffen, daß die Erwartungen, die im Bericht auf Seite 196 formuliert wurden — Qualifizierung von Ausländern in ihren Heimatländern und Anhebung des Bildungspotentials in diesen Ländern — eintreten und das Szenario des „Brain-Drain" nicht Realität wird.Aus ostdeutscher Sicht wissen wir, was das bedeutet, denn auch die Abwerbung und die Abwanderung von Fachkräften gehörten zu unserer Vergangenheit und halten bis zum heutigen Zeitpunkt an. Beispiel sind dafür Alten- und Krankenpflegekräfte, die infolge desolater Landeshaushalte in den neuen Bundesländern keine berufliche Chance haben, in den alten Bundesländern den Pflegenotstand zu beseitigen, der aber auch bei uns besteht.Auf ein weiteres Problem, das im Bericht angesprochen wurde, möchte ich noch verweisen. Die nach wie vor anhaltende Vernichtung von Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern und die damit verbundene hohe Arbeitslosigkeit bergen ein hohes zukünftiges Armutspotential in sich.
Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Sie sind sich darüber im klaren, daß die acht Minuten, die Ihnen gegeben wurden, sechs Minuten plus zwei Minuten waren?
Danke, Herr Präsident, für den Hinweis. Das hätte ich nicht beachtet.Ich möchte deshalb diesen Gedanken abschließen. Insbesondere Langzeitarbeitslose jenseits des 40. Lebensjahres, auch hier besonders Frauen, sowie Vorruheständler, die mit geringen Rentenansprüchen in den Vorruhestand gegangen sind, werden davon sehr betroffen sein.Wir sind der Meinung, daß der Enquete-Bericht vieles im wesentlichen richtig analysiert hat und daß es notwendig ist, die Aussagen der Sachverständigen, die auf den Handlungsbedarf verweisen, in die Tat umzusetzen.
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20748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Dr. Barbara HöllDamit möchte ich meine Rede beenden und zu einer kurzen persönlichen Erklärung zu der Erwiderung von Frau Rönsch kommen.Frau Rönsch, ich möchte von mir weisen, daß Sie sich zu beurteilen anmaßen, wo und wie lange ich studiert habe. Erstens habe ich bewußt von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, nicht in der DDR zu studieren, um den Blick von außen auf die DDR zu haben.
Das war bei uns ein bißchen beschränkter, aber ich habe die Möglichkeit genutzt.Mit Verlaub, Frau Ministerin, ich habe mir das Recht genommen, mein Studium nach fünf Jahren mit dem Diplom abschließen. Das war nun einmal so.Zweitens möchte ich sagen: Es freut mich sehr, daß es Ihnen am Herzen liegt, wie ich meine außerparlamentarische Arbeit gestalte. Wenn Sie so daran interessiert sind, werde ich Ihnen alle meine Wahlkreistermine mitteilen. Das wird mir ein leichtes sein. Ich möchte ferner sagen: Ansonsten beurteilen das natürlich die Bürgerinnen und Bürger in Sachsen, vor allem in Leipzig.Drittens wünsche ich mir, daß Sie sich endlich einmal sachlich mit den Politikangeboten, die die PDS/Linke Liste macht, auseinandersetzen.
Ich war 33 Jahre lang DDR-Bürgerin und bin jetzt seit nicht ganz vier Jahren Bundesbürgerin. Sie können mir bestimmt abnehmen, daß ich zu einer differenzierten, aber auch sachkundigen Beurteilung dessen, was in der DDR war, in der Lage bin.
Ich glaube, gerade weil wir die DDR erlebt haben und wissen, daß nicht alles gut war — aber es war auch nicht alles schlecht —, sind wir kritischer, denn wir wissen, daß eine differenzierte Beurteilung notwendig ist.
Wir hatten schließlich Erwartungen an die Bundesrepublik. Wir hatten Erwartungen, wie man vielleicht insgesamt eine bessere Republik für Ost und West schaffen könnte. Diese Möglichkeit wurde leider vielfach vertan. Aber vielleicht ist das nach dem 16. Oktober mit einer neuen Kräftezusammensetzung möglich.Ich bedanke mich.
Zur Replik Frau Bundesministerin Rönsch.
Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Kollegin Dr. Höll! Ich habe unter gar keinen Umständen Ihnen vorschreiben wollen, wo Sie studieren und wie lange Sie studieren. Ich habe nachgelesen, Sie haben in Rostow am Don, also in der ehemaligen Sowjetunion, studiert. Wie lange, weiß ich nicht. Das ist mir auch vollkommen egal.
Bei meinen Ausführungen habe ich Ihnen Sachfremdheit vorgeworfen, wenn es um die Probleme älterer, alter und behinderter Menschen in der ehemaligen DDR geht.
Ich habe dabei gesagt, daß Ihnen offensichtlich bei Ihrem Auslandsstudium in der Sowjetunion das Wissen darüber abhanden gekommen ist, denn sonst könnten Sie sich nicht hier hinstellen und solche Urteile äußern. Ich würde mir wünschen, daß Sie sich bei Ihrer Wahlkreisarbeit in Leipzig Alten- und Behinderteneinrichtungen anschauen und auch mit den Menschen, die darin leben und wohnen, und mit denen, die dort arbeiten, darüber reden, wie es vor 1989 ausgesehen hat. Dann würden Sie all das bestätigen, was ich hier gesagt habe. Ich kann Ihnen gerne auch noch einmal, obwohl es Ihnen als Ausschußmitglied eigentlich geläufig sein müßte, Unterlagen zur Verfügung stellen, z. B. über die von mir privat gegründete Stiftung „Daheim im Heim". Wir haben 1 400 Alten-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen in den neuen Bundesländern.
Nur 10 % entsprechen dem Mindeststandard der Heimmindestbauverordnung.
Das war DDR-Realität für alte Menschen, die ein Leben lang für diesen Staat gearbeitet haben.
Das werden wir ändern.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Welch ein augenfälliger und zugleich irrationaler Widerspruch: Gestern abend in der Debatte über den Bericht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung hörten wir die Koalition ihr Lieblingsdogma deklamieren: Deutschland sei kein Einwanderungsland, mögen noch so viele schon eingewandert sein und auch ständig weiter einwandern. Unsere Aufnahmebereitschaft sei erschöpft, der Lebensraum beschränkt. Daher müsse Immigration begrenzt oder am besten völlig verhindert werden.Heute diskutieren wir einen Bericht, in dem die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" uns dartut, daß derzeit die Geburtenhäufigkeit unter das Minimum sinkt, das zur Erhaltung des Bevölke-
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Dr. Wolfgang Ullmannrungsstandes erforderlich ist. Seit 1972 ist die Zahl der Sterbefälle in unserem Land größer als die Zahl der Geburten. Das heißt, die Bevölkerungszahl sinkt, wenn nicht Zuwanderung aus dem Ausland das gebotene Defizit ausgleicht.Für das Jahr 2030 entwickelt der Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" folgendes Szenario: Der Wiederanstieg der Geburtenhäufigkeit auf ein Niveau, bei dem die Bevölkerung Westeuropas ohne Zuwanderung konstant bliebe, wird von keinem Experten prognostiziert. Da die Säuglingsterblichkeit kaum weiter reduziert werden kann, wird die demographische Entwicklung durch die höhere Lebenserwartung, d. h. durch das Anwachsen der älteren Jahrgänge, bestimmt sein.So unbestreitbar diese Tatsachen sind, der von dem Bericht gebrauchte Ausdruck „alternde Gesellschaft" scheint mir in mehr als einer Hinsicht bedenklich. Aber sehr geehrter Herr Kollege Fuhrmann, ich muß Ihnen als dem Vorsitzenden der Enquete-Kommission meinen Respekt bezeugen. Ich fühle mich nicht einmal berechtigt, Ihnen ein Lob auszusprechen. Aber ich dachte, es ist vielleicht interessant, wenn jemand, der in Ihren Bericht hineinschaut, sich äußert als ein Gegenstand, mit dem Sie sich befaßt haben. Als ein Gegenstand Ihrer Forschung darf ich jetzt meine Erwägungen zu dem Ausdruck „alternde Gesellschaft" äußern. Ich halte ihn doch für bedenklich.Erstens verstärkt er jene Tendenz, Altern als etwas Problematisches und Unerwünschtes zu kennzeichnen, wie es in unserer Gesellschaft selbstverständlich ist, wo das Neue immer als das Bessere gilt.Zweitens räumt er dem Verhältnis zwischen Sterblichkeit und Geburtenrate eine unzulässige Priorität gegenüber dem Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Ruheständlern ein. Denn dieses ist es, was durch eine leichtfertige Politikerdiskussion tiefe Verunsicherung bei den älteren Teilen der Bevölkerung ausgelöst hat. Sie sorgen sich weniger um sich selbst als um die Rentensicherheit ihrer Enkel.Ich denke, Altenbericht wie Enquete-KommissionsBericht unterschätzen völlig die existentielle Bedeutung, die die Zukunft gerade im höheren Alter gewinnt. Ich jedenfalls kann es sehr gut nachvollziehen, wenn mein ältester Enkel zu meiner Frau sagt: Hoffentlich komme ich noch einmal nach Griechenland, ehe die Welt untergegangen ist.Dieses „Griechenland" einer faßbaren Zukunft sucht die ältere Generation mit ganzer Seele. Darum fragt sie die Politiker: Wie haltet ihr es mit dem Sozialstaat? Ist er ein Verfassungsgebot, an das ihr gebunden seid, oder steht er, konjunkturbedingt, zur Disposition jeweils herrschender Mehrheiten? Ist er im ganzen eine Art Schlechtwettergeld, mit dem so umgegangen wird, wie wir es heute morgen aus dem Munde der Besserverdienenden gehört haben?Was tut ihr gegen die gesellschaftliche Isolation, die Altersarmut mit sich bringt? Versucht ihr nur, das soziale Netz zu flicken, oder macht ihr es durch eine Grundsicherung im Alter reißfest? Was tut ihr vor allem gegen die kulturelle Umweltzerstörung, die, das jeweils Neue privilegierend, das jeweils Alte zumSchnee von gestern oder gar zum sogenannten Müll der Geschichte erniedrigt?Der Kommissionsbericht definiert Familie erfreulicherweise als Kommunikation der Generationen. Möglich aber bleibt diese Kommunikation nur, wenn sie einen allen Generationen gemeinsamen Inhalt hat. Ich wüßte nicht, was das anderes sein sollte als die klare Absicht, der Priorität des Lebens gegen alle vordergründigen Zweck- und Wertsetzungen zum Durchbruch zu verhelfen. Nicht allein auf lebenszugewandtes Altern kommt es an wie der Altenbericht der Bundesregierung sagt —, sondern noch viel mehr, meine Damen und Herren Kollegen, auf alterszugewandtes Leben.
Herr Kollege Peter Keller, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Dank an die Sachverständigen unserer Kommission und an die Mitarbeiterinnen und die Mitarbeiter des Sekretariats der Enquete-Kommission beginnen. Ohne ihren Sachverstand und ihr Engagement in der Sache wäre dieser Zwischenbericht mit 569 Seiten so nicht möglich gewesen. Bedanken möchte ich mich auch bei unserem Kollegen Fuhrmann als Vorsitzenden für seine faire Verhandlungsführung
und bei allen Kolleginnen und Kollegen für die Mitarbeit.Wir erleben nicht nur bei uns, sondern in allen europäischen Ländern eine bislang einmalige Umschichtung in unserem Bevölkerungsaufbau. Die Menschen werden älter, und der Anteil jüngerer Menschen an der Gesamtbevölkerung nimmt ab. Das hat Auswirkungen auf alle Bereiche unseres Lebens. Jeder spürt es im privaten, im familiären wie natürlich auch im gesamtgesellschaftlichen Bereich.Auftragsgemäß hat die Enquete-Kommission nur den Zeitraum bis zum Jahr 2030 untersucht. Wünschenswert aber wäre eine Fortschreibung darüber hinaus, um auch die heute erwerbstätige Generation in ihrer zukünftigen Alterssituation voll mit einzubinden. Dies gilt insbesondere auch für die Auswirkungen auf unsere sozialen Sicherungssysteme.Angesichts der kurzen Bearbeitungsphase mußten aber leider wichtige Fragen zurückgestellt werden. Hierzu zählt insbesondere eine Untersuchung der bestehenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den alten und neuen Bundesländern. Ferner konnten die zukünftigen Anforderungen an die sozialen Sicherungssysteme noch nicht im Detail untersucht werden.Was mich persönlich etwas betrübt, ist, daß es auch im europäischen Jahr der älteren Menschen, im Jahr 1993, nicht möglich war, den demographischen Wandel im europäischen Kontext einzubeziehen. Auch Europa wird immer älter, wenn man das so einfach
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Peter Kellersagen darf. 69 Millionen Menschen sind mittlerweile älter als 60 Jahre.Wir, die politisch Verantwortlichen, müssen auch Antworten geben auf die öffentlichen Verunsicherungen durch gewisse Katastrophenszenarien, wie wir sie fast täglich in Fragen der Alterssicherungssysteme hören können. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen verläßliche Zukunftsperspektiven für ihre Lebensplanung.Bei der Arbeit der Enquete-Kommission ist deutlich geworden, daß das Älterwerden unserer Gesellschaft auch viele positive Aspekte und Chancen beinhaltet. Wir sind oft geneigt, nur das Negative zu sehen. Deshalb sollte man den Begriff Überalterung wegen seines negativen Beigeschmacks möglichst vermeiden.
Frau Kollegin Lisa Seuster, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als die SPD-Bundestagsfraktion im Frühjahr 1992 den Antrag zur Einsetzung einer
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Lisa SeusterEnquete-Kommission „Demographischer Wandel" eingebracht hat, gab es durchaus kritische Stimmen. Sinn und Zweck einer solchen Kommission konnten sie angesichts eines eigenen Ausschusses für Seniorenpolitik und eines Altenberichts, den wir heute ja verabschieden, nicht einsehen. Der jetzt vorliegende Zwischenbericht unserer Kommission widerlegt ihre Zweifel. Er ist in seinem Ergebnis eine klare Bestätigung aller, die sich für die Einsetzung der Kommission stark gemacht haben.Daß wir nach nicht einmal zwei Jahren dem Bundestag heute einen soliden Bericht vorlegen, war nur durch die intensive Arbeit der Enquete-Kommission, natürlich aber auch des Enquete-Büros, der einberufenen Sachverständigen sowie der zahlreichen Wissenschaftler möglich. Ihnen allen möchte ich, genauso wie es hier schon mein Kollege Arne Fuhrmann getan hat, noch einmal ausdrücklich, auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion, danken.
Die Bedeutung des demographischen Wandels ist von uns Kommissionsmitgliedern übereinstimmend anerkannt worden. Er wird unser Land und unser Zusammenleben in den nächsten Jahrzehnten einschneidender verändern, als andere Prozesse dies bisher getan haben. Uns steht ein Wandel bevor, den man als „Revolution auf leisen Sohlen" bezeichnen kann, wie es unser Fraktionsvorsitzender Uli Klose tut.Da ich auch Kommunalpolitikerin bin, hat mich besonders die Tatsache erfreut, daß es uns gelungen ist, einen Bericht zu erstellen, der sowohl von der Fachwelt als auch von den Kommunen genutzt werden kann. Im Zusammenhang mit ihren Planungen, z. B. im Bereich des ambulanten Pflegebedarfes oder des Wohnungsbaus, kann hier auf die Darstellung wichtiger Entwicklungstendenzen zurückgegriffen werden, und fundierte Daten stehen zur Verfügung.Natürlich gibt es Bereiche, in denen sich abweichende Meinungen einzelner Fraktionen nicht vermeiden ließen. Die jeweiligen Mehrheits- und Minderheitsvoten sind im Bericht deutlich gegenübergestellt. Es bleibt dem Leser überlassen, welchem Votum er sich bei seiner Meinungsbildung anschließt.Insbesondere im Bereich „Aktives Älterwerden" verliefen die Diskussionen und Vorstellungen sehr kontrovers. Wir können die Darstellung der Koalitionsfraktionen nicht teilen, wonach Aktivität und gesellschaftliche Teilhabe im Alter als entscheidend —vielleicht kann man sogar sagen: als Garanten —für erfolgreiches, zufriedenes Altern angesehen werden, Kriterien, die signalisieren, daß alles in Ordnung ist, daß es keine Probleme gibt. Hier wird eine intakte Welt des Seniorenalltags in den Vordergrund gerückt, die der Vielfalt der Lebenslagen nicht gerecht wird. Soziale Ungleichheiten, die den Lebensprozeß geprägt haben, verlieren auch im Alter nicht an Bedeutung. Lebenserwartung, Gesundheit, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe, eben auch Aktivität, alle diese Kriterien sind maßgeblich sozial beeinflußt.Auch wenn die Regierung diese Realitäten lieber verdrängen will: Es gibt sie, die Älteren, die einsam sind, die ständig Hilfe brauchen und für die es schwer ist, dem Leben noch einen Sinn abzuringen, insbesondere wenn sie von Altersarmut betroffen sind. Gerade diesen Alten muß unsere besondere Unterstützung gelten.
Kontroversen gab es auch im Kapitel „Soziales Umfeld und Familie", und zwar im Hinblick auf die Beurteilung der Situation der Familie in den neuen Ländern. Während die Koalitionsfraktionen der Meinung sind, daß die bisherigen familienpolitischen Leistungen der Regierung dort ausreichen, um die Bedingungen der Familien in Ost und West anzugleichen, fordern wir endlich eine realistische Einschätzung der Situation. Nicht zuletzt ist der starke Einbruch bei den Geburtenzahlen ein Beleg für die großen sozialpolitischen und wirtschaftlichen Defizite in den neuen Bundesländern.Daß sich die kontroversen Auffassungen auf die beiden genannten Bereiche bzw. hier auch nur auf Teilbereiche erstrecken, begrüße ich außerordentlich. Innerhalb der üblichen fünf Kapitel konnten wir Übereinstimmung erzielen — ein Umstand, der ein Beleg für die gute Zusammenarbeit innerhalb unserer Kommission ist.Die Auseinandersetzung mit der demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft, meine Damen und Herren, verfügt über eine enorme Bandbreite. Ich hoffe, daß wir diese Arbeit in der nächsten Legislaturperiode weiterführen können.
Frau Kollegin Renate Diemers hat als nächste das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich weiß nicht, in welchem Umfang deutsche Fernsehsender repräsentativ unser Bild, unsere Einschätzungen und Erfahrungen von und mit älteren Menschen wiedergeben. Sehe ich mir allerdings die Studie über die Darstellung älterer Menschen im Fernsehen, die im Auftrag der Unabhängigen Landesanstalt für das Rundfunkwesen in Kiel erstellt wurde, an, dann bin ich mehr als erschrocken. Diese Studie besagt, daß ältere Menschen im Fernsehen nicht nur erheblich unterrepräsentiert sind und äußerst selten als eigenverantwortliche Mitglieder unseres Gemeinwesens dargestellt werden, vielmehr sind sie offenbar die „Lachnummern der Nation".Festgestellt wurde: Alte Männer erhielten Rollen als Exzentriker, Clowns oder die von verschrobenen Experten. In den meisten Fällen tauchten sie mit dem Charakterzug „nicht ganz ernst zu nehmen" in Spielfilmen, Nachrichten, Magazinsendungen und in der Werbung auf. Dagegen sei den älteren und alten Frauen nicht einmal diese Palette geboten worden. Für sie blieben nur die Rollen als trottelige Großmütter und Hausfrauen.
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Renate DiemersWer glaubt, auf diese Studie empört reagieren zu müssen, den frage ich: Und wie sieht es mit unserer Sprache aus? Was ist mit dem Gerede von der „Altenlast" oder vom „Rentenberg"? Verfallen wir nicht sehr leicht in den Jargon, der Alter mit Betreuung und Tüddeligkeit übersetzt?Ich bin sehr froh darüber, daß auf Grund des Ersten Altenberichts und der Diskussionen und Vorschläge der Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden Generation" eine öffentliche Bewußtseinsbildung über das Leben im Alter und über generationenverbindende Gemeinsamkeiten geführt wird. Ich gehe davon aus, daß die Erkenntnisse, die in diesem Zusammenhang im Altenbericht und von der Enquete-Kommission zum Ausdruck gebracht wurden, zusammengeführt werden, um noch bestehende Defizite aufzubereiten und auszugleichen. Das gilt für alle gesellschaftspolitischen Bereiche. Die Ministerin und der Kollege Keller haben dazu entsprechende Aussagen gemacht.Voraussetzung für die angesprochene Bewußtseinsbildung ist, daß wir uns, daß sich unsere Gesellschaft vergegenwärtigt, was es bedeuten würde, wenn sich die älteren Menschen von den Dienstleistungen, die sie täglich unbezahlt erbringen, zurückzögen. Wie sähe es dann im Gesundheits- und Pflegebereich, in den Einrichtungen der Kirchen, in Vereinen aus? Wie wäre es dann um die Nachbarschaftshilfe bestellt? Würde nicht die Organisation in manchen Familienhaushalten zusammenbrechen?Ich bin davon überzeugt, daß eine sehr große Mehrheit diese Fragen zugunsten der älteren Menschen beantwortet. Es bleibt die Frage: Warum fällt es derselben Mehrheit so schwer, die Kompetenzen und Erfahrungen, die von den älteren Generationen für unsere Gesellschaft eingebracht und eingesetzt werden, anzuerkennen und mit deutlicher Akzeptanz zu belegen?Eine Antwort ist, daß uns offensichtlich der Jugendlichkeitswahn einholt — ein Jugendlichkeitswahn, der Jugend mit Aktivität, Kreativität, Können und Erfolg übersetzt, der für Alter keinen Platz hat, der ältere Menschen ausgrenzt. Vielleicht liegt auch hierin eine Erklärung, warum Aggressivität und Gewalt gegenüber älteren und alten Menschen zunimmt.Mit Appellen können wir die gegebene Situation, in der ältere Menschen isoliert werden und gleichzeitig ihre Mitarbeit für die Gesellschaft genutzt, aber nicht anerkannt wird, nicht überwinden. Das notwendige Miteinander der Generationen kann auch nicht verordnet, es kann jedoch bewußtgemacht und eingeübt werden. Das bedeutet, es müssen neue, von der Gesellschaft akzeptierte Formen des Miteinander gefunden und unter Beteiligung aller erprobt werden.Ich halte es für geboten, daß Fragen und Probleme des Älterwerdens und der selbstverständlichen Akzeptanz von Kompetenzen älterer Menschen Inhalt des Schulunterrichts sein müssen. Dazu gehört auch die Wissensvermittlung, daß unsere Gesellschaft diese Kompetenzen braucht, ja auf sie angewiesen ist. Für mich gehört dazu, daß der theoretische Teil desUnterrichts praxisbezogen verstärkt wird. So könnte durch Einbeziehung älterer Menschen in den Geschichtsunterricht erlebte Geschichte vermittelt und diskutiert werden.Schulen oder Schulklassen könnten Patenschaften für Alteneinrichtungen übernehmen. Andererseits könnten Alteneinrichtungen Patenschaften über Kinderbetreuungseinrichtungen übernehmen. Diese unmittelbaren Begegnungen, die auch verschiedene Anforderungen an die Beteiligten stellen, wären nicht nur eine Erfahrungserweiterung der jeweils Betroffenen. Vielmehr könnte so auch die Anonymität aufgebrochen werden und eine neue Form der Gemeinsamkeit entstehen.Die Kompetenzen und die Erfahrungen, die ältere Menschen einbringen, decken eine breite Palette ab. Ich sage: Wer diese Vielfalt ungenutzt läßt, handelt verantwortungslos. Das Nichtnutzbarmachen dieser Kompetenzen für die Gesellschaft ist in meinen Augen eine besondere Form der Altersdiskriminierung.Das Miteinander der Generationen zu fördern ist eine Herausforderung an die Gesellschaftspolitik. Dabei muß aber auch deutlicher werden, daß eine generationenverbindende Gesellschaftspolitik gerade für die Zukunft der Arbeitswelt unverzichtbar ist. Die Wirtschaft unseres Landes kann weder auf die Erfahrungswerte noch auf die Kompetenzeigenschaften, noch auf das Wissen um wirtschaftliche und betriebliche Zusammenhänge der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verzichten.Es bleibt die Frage, ob die aus Arbeitsmarktgründen radikale Verjüngung von Belegschaften, wie sie derzeit erfolgt, wirtschaftlich und sozial vertretbar ist. Es muß bewußter werden, daß unser System der sozialen Sicherheit auf dem Solidaritätsprinzip beruht. Die Solidargemeinschaft ist jedoch auf Dauer nur dann lebens- und leistungsfähig, wenn sie generationenverbindend verantwortlich handelt. Älterwerdende aus der Arbeitswelt auszugrenzen bedeutet auch, die Solidargemeinschaft zu mißbrauchen.Es mag sein, daß die Mehrzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. der Arbeitgeber bei der derzeitigen Arbeitsmarktsituation in der Ausgrenzung Älterer aus dem Arbeitsleben den bequemsten Weg sehen, um mit der Arbeitsplatzknappheit fertigzuwerden. Der intelligenteste und zukunftsweisendste Weg ist es jedoch mit Sicherheit nicht.
Zu einer generationenverbinden den Gesellschaftspolitik gehört eine generationenverbindende Arbeitsmarktpolitik, die für die Älterwerdenden vielfältige Beschäftigungschancen eröffnen muß. Dazu gehört die Motivation für Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen ebenso wie ein umfassendes flexibles Arbeitszeitangebot und der leichtere Zugang zur Teilrente. Dazu gehören präventive Gesundheitsvorkehrungen. Dazu gehört auch, daß das Prinzip Reha vor Rente wieder bewußter angenommen wird.Das Ziel einer generationenverbind end en Gesellschaftspolitik ist nach meiner Überzeugung nur dann
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Renate Diemerszu erreichen, wenn wir uns alle dieser Verantwortung stellen und wenn die künftig Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Unternehmen frühzeitig lernen und erfahren, daß in der Gemeinsamkeit der Generationen der Schlüssel zum Erfolg liegen kann.Allen Beteiligten muß deutlich werden, daß Jungsein nicht automatisch mit Erfolg und daß Älterwerden nichts mit Ausmusterung zu tun haben.
Das Wort hat der Herr Kollege Konrad Gilges.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich der Großen Anfrage der SPD-Fraktion zur Situation ausländischer Rentner und Senioren in der Bundesrepublik Deutschland zuwenden, deren Antwort in dieser Debatte beraten werden soll. Ich will kurz begründen, warum wir diese Große Anfrage gestellt haben.Zum einen haben wir große Befürchtungen, daß ein gesellschaftspolitisches Problem in Vergessenheit gerät und vernachlässigt wird, nämlich die besondere Lebenslage von ausländischen Rentnern und Senioren.Zum zweiten besteht die Gefahr, daß ausländische Rentner und Senioren nach Ablauf ihres Arbeitslebens in seelische Not geraten und abgeschoben werden. Wer einmal in die Städte unseres Landes geht und sich das anschaut, wird sehen, wie schwierig es für viele ausländische Bürger ist, sich wieder zurechtzufinden. Der Mittelpunkt ihres Lebens war die Arbeit, war der Betrieb, in Köln überwiegend die Ford-Werke oder KHD. Das gilt aber auch für andere Städte, etwa Düsseldorf oder München. Dieser Bezugsrahmen ist weggefallen. In ihrem Wohnbereich konnten selten Bezugsrahmen gebildet werden. Das gilt auch für die kleineren Städte, selbst für die Dörfer, überall, wo es ausländische Rentner und Senioren gibt.Zum dritten wollten wir die Gründe aufzeigen, warum wir dankbar sein müssen, daß es Bürger ausländischer Nationalität gibt, die unser Land mit aufgebaut, die einen großen Teil zur Schaffung des Sozialprodukts in unserem Land beigetragen haben, das wir heute verbrauchen und von dem wir leben.Wir wissen heute, daß es eine Lebenslüge war, zu glauben, daß die ausländischen Arbeitnehmer eines Tages in ihre Heimatländer zurückgehen. Ein Teil hat das getan, aber der größere Teil bleibt hier in der Bundesrepublik. Sie bleiben in dem Land, wo sie Arbeit hatten. Dieses Land ist ihre neue Heimat geworden. Hier haben sie ihre Heimat gefunden. Es ist außerordentlich schwer für sie, in die Lebensverhältnisse ihrer ehemaligen Länder — ob es die Türkei ist, Italien, Griechenland oder Spanien — zurückzufinden. Es ist eben nicht so einfach, wenn man nach 30 Jahren Arbeit in der Bundesrepublik wieder in ein anatolisches Dorf oder nach Valencia oder sonst irgendwo hin zurückkommt, sich dort wieder einzufinden. Auch da sind die Bezugsrahmen weg. Auchdie Kinder sind meistens nicht mehr da. Auch die sind in die Bundesrepublik nachgezogen; usw. usf.Das heißt: Die Beziehung zur alten Heimat hat sich aufgelöst und ist nicht mehr vorhanden. Ihre neue Heimat ist eben die Bundesrepublik Deutschland. Sie haben auch in den 30 Jahren, in denen sie hier gearbeitet haben, neue Lebensbeziehungen aufgebaut. Das heißt: Sie haben neue Bindungen hergestellt, nicht nur zu dem Land und zu ihrer Arbeit, sondern auch zu den Menschen, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft leben.Ich will etwas zu der Entwicklung sagen: Wahrscheinlich wird es so kommen, daß wir im Jahre 2030 -- Sie haben das ja auch in der Antwort geschrieben, Frau Ministerin — im Altersjahrgang bei den 60jährigen einen Anteil von 24,1 % haben werden. Das heißt: Fast ein Viertel der 60jährigen wird im Jahre 2030 nicht deutscher Nationalität sein. Das ist eine große Anzahl. Man muß sich einmal vergegenwärtigen, was das im konkreten bedeutet und was das mit sich bringt.Diese Bürger nichtdeutscher Nationalität sind in unserem sozialen System benachteiligt. Das ist schlicht und einfach eine Tatsache, und auch Sie, Frau Ministerin, haben in der Antwort selber dargestellt, daß z. B. die ausländischen Mitbürger eine relativ niedrige Rente haben. Ein Türke erhält heute eine Durchschnittsrente von 893 DM. Mit 893 DM — man muß sich das einmal vorstellen — kann man kaum in der Bundesrepublik leben, wobei das Wort „kaum" vielleicht noch übertrieben ist. Man kann mit diesen 893 DM hier eigentlich nicht leben.Eine Witwe erhält durchschnittlich 507 DM an Witwenrente. Auch das macht eigentlich eine Lebensmöglichkeit hier in der Bundesrepublik unmöglich. So aber sind die Zahlen aus Ihrem Bericht, Frau Ministerin.Ich will auch mit einer Legende aufräumen, die immer wiederholt wird, daß z. B. die ausländischen Senioren zunehmend Sozialhilfe beanspruchen. Auch das ist unrichtig. Das stimmt nicht. Das wird zwar immer wieder dargestellt und überall gesagt, aber es ist unrichtig. Sie schämen sich und versuchen eben, mit diesen 507 DM oder mit den 893 DM Durchschnittsrente in diesem Land zurechtzukommen, wie schwer dies denn auch sei. Das möchte ich zumindest an dieser Stelle feststellen.Ich komme zum nächsten Punkt. Es gibt ein großes Sprachproblem. Dies gilt insbesondere für die türkischen Frauen, die vielfach keine eigene Erwerbstätigkeit gehabt haben, die in einer relativ isolierten Umwelt gelebt haben, deren Männer wegsterben und die dann allein hier in der Bundesrepublik sind. Sie können kaum deutsch sprechen. In der Regel können sie nur über ihre Enkel und Kinder mit ihrer Umwelt kommunizieren. Das ist eine schwierige soziale Situation.Ich will zum nächsten anmerken, daß der gesundheitliche Zustand, insbesondere für ausländische Bürger, nicht besonders gut ist. Sie leiden überdurchschnittlich an psychosomatischen Erkrankungen. Sie sind übermäßig häufig — viel, viel früher als Deutsche — erwerbs- oder berufsunfähig. Das hängt natür-
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Konrad Gilgeslieh auch damit zusammen, daß sie, wenn sie arbeiten, überwiegend schwere Arbeitsplätze — im Bergbau, in der Stahlindustrie, auf dem Bau, in der Autoindustrie usw. —haben. Es verschleißt natürlich den Menschen, wenn man 30 Jahre am Fließband bei Ford gestanden hat. Die Chance, das 65. Lebensjahr als Arbeiter bei Ford zu erreichen, ist relativ gering. Auch das muß berücksichtigt werden, wenn wir über diese Fragen hier diskutieren.Zum letzten will ich anmerken: Es gibt ja einen großen Verfall der Familienstrukturen bei ausländischen Bürgern in der Bundesrepublik, und zwar einfach deswegen, weil zwei Kulturen aufeinander-stoßen. Es handelt sich um Menschen, die aus einer anderen Kultur kommen und hier mit einer zum großen Teil schon verfallenen Familienstruktur konfrontiert werden. Das, was ich hier eben gehört habe, höre ich immer mit großer Verwunderung. Wer sich einmal in diesem Land umsieht, wird sehen, daß in der Industriegesellschaft — wie der Kollege Mikat das einmal vor vielen Jahren hier gesagt hat; der Kollege Mikat war ein CDU-Abgeordneter, und ich will das hinzufügen, weil das vielleicht nicht jeder weiß — die Chance, daß diese traditionelle Familienstruktur aufrechterhalten werden kann, schlicht und einfach nicht mehr gegeben ist. Das geht nicht so einfach, wie sich das Familientheoretiker am grünen Tisch vorstellen. Die Industriegesellschaft zerstört auch alter traditionelle Familienstrukturen, weil die Produktionsverhältnisse und die Produktionsnotwendigkeiten Familienleben nicht mehr so einfach ermöglichen, wie sich das manch einer hier als Ideal vorstellt. Ich will das nur einmal anmerken. Diese Schwierigkeiten bestehen natürlich auch für ausländische Familien.Ich will zum Schluß einige Bemerkungen dazu machen: Was muß getan werden? Wie muß man gegensteuern?Erstens. Ich glaube, daß die Bundesregierung, die Länder und die Kommunen verpflichtet sind, differenzierte Maßnahmen anzubieten, um eine Integration und eine Lebensmöglichkeit für ausländische Bürger in der Bundesrepublik herzustellen.Zweitens. Es muß durch Forschung und auch durch Modellmaßnahmen das Thema aufgehellt werden. Es muß durchsichtig gemacht werden. Es muß aus der manchmal bestehenden Tabuzone herausgeholt werden.Drittens. Die Ausbildung von Sozialarbeitern, Altenpflegern und allen, die mit fürsorgenden Aufgaben befaßt sind, müssen auf die Problemlage, die auf sie zukommt, vorbereitet werden. Das heißt, die Ausbildung muß darauf eingestellt werden.Viertens. Das Angebot der Kommunen und der Wohlfahrtsverbände muß auf die ausländischen Bürger ausgerichtet werden. Das gilt z. B. für die Eßgewohnheiten. Bei dem Essensdienst, den viele Wohlfahrtsverbände anbieten, muß etwas geschehen. Das heißt, man kann das nicht so machen, wie sich das einige Wohlfahrtsverbände vorstellen.
Fünftens. Gerade für die ausländischen Frauen, die, wie schon dargestellt, in einer besonders schwierigen Situation sind, muß etwas geschehen. Man muß überlegungen anstellen, wie man ihnen helfen kann.Sechstens: Herstellung der Reise- und Niederlassungsfreiheit für ältere Erwerbstätige und Rentner. Wir haben heute den Zustand: Wenn jemand, der hier Rente erhält, in sein Heimatland zurückgeht, dann kann er nach einer gewissen Zeit nicht mehr hierher zurückkommen. Ich will jetzt nicht das komplizierte System darstellen. Aber es führt dazu, daß viele ältere Mitbürger überhaupt nicht wagen, in ihre alte Heimat zurückzukehren, weil damit die Chance verwirkt wird, wieder in die Bundesrepublik Deutschland zurückzukommen, wenn diese Basis nicht besteht. Ich glaube, das ist eine Fehlentwicklung. Man muß darüber nachdenken, ob das so richtig ist. Das heißt, es muß die Reise- und Niederlassungsfreiheit gerade für diese Mensch en wiederhergestellt werden.Ich will zum Schluß kommen.
Herr Kollege Gilges, Sie sind schon weit über den Schluß Ihrer Redezeit hinaus.
Ich habe nur noch einen Satz zu sagen.
Unsere Dankbarkeit, unsere Menschlichkeit und unsere soziale Gesellschaft verlangen, daß wir den ausländischen Rentnern und Senioren gegenüber Verantwortung zeigen. Da nützen keine schönen Reden, sondern Taten sind notwendig. Diese sollten folgen.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie und Senioren zum Ersten Altenbericht der Bundesregierung. Die Fraktion der SPD verlangt getrennte Abstimmung. Wir stimmen deshalb zunächst über die Nr. I der Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/7992 ab. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Nr. I ist angenommen.Wer stimmt für Nr. II der Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Nr. II ist angenommen. Damit ist die Beschlußempfehlung insgesamt angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungAnti-Doping-Bericht— Drucksache 12/7540 —Dazu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
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Vizepräsident Hans KleinIch eröffne die Aussprache und bitte zunächst das Haus um Zustimmung dazu, daß der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern seinen Beitrag zu Protokoll gibt, weil er einen erkrankten Kollegen vertreten muß. — Dies ist offensichtlich der Fall. Dem wird zugestimmt *).Ich erteile dem Kollegen Ferdi Tillmann das Wort.
Herr Präsident! Liebe sportliche Kolleginnen und Kollegen! Sport hat auch etwas mit dem Thema zu tun, was wir soeben hier behandelt haben: Wer Sport treibt, bleibt auch im Alter lange jung.
— Danke, ja.
Zunächst haben wir uns mit dem Doping-Bericht der Bundesregierung zu befassen. Die Tatsache, daß wir uns in der letzten Sportdebatte dieser Legislaturperiode mit dem Thema Doping beschäftigen, unterstreicht die große Bedeutung, die der Kampf gegen Manipulation und Doping im Sportausschuß immer gehabt hat.
Der Anti-Doping-Bericht der Bundesregierung, den der Bundestag eingefordert hat, spiegelt die vielfachen und auch erfolgreichen Bemühungen bei der Doping-Bekämpfung wider. Häufig war dabei der Sportausschuß des Deutschen Bundestages treibende Kraft. Ich erinnere an unsere Sachverständigenanhörung 1977, an das Hearing „Humanität im Spitzensport" 1987. In der 9. Sitzung dieser Legislaturperiode im September 1991 haben wir uns auf Grund der Enthüllungen nach der Wende auch mit den Ergebnissen der unabhängigen Doping-Kommission, der Reiter-Kommission, auseinandergesetzt und uns intensiv damit befaßt und diese dann in einer Stellungnahme positiv gewürdigt.
Aber insbesondere die im Jahre 1991 von uns veranlaßte Haushaltssperre im Titel „Zentrale Maßnahmen" hatte Signalcharakter und hat dazu beigetragen, daß der deutsche Sport die ihm aus seiner Autonomie erwachsende Verantwortung für die Bekämpfung des Dopings in der heutigen Form wahrnimmt.
Ausdrücklich möchte ich mich in diesem Zusammenhang geg en Veröffentlichungen verwahren, die unterstellen, es habe in der damaligen Bundesrepublik Deutschland eine heimliche Sympathie der Politiker im Sportausschuß für sogenannte erfolgssichernde Praktiken gegeben. So nachzulesen in einem bestimmten Buch auf Seite 45. Unsere Aktivitäten, die Aktivitäten des Sportausschusses, beweisen das genaue Gegenteil.
Der Doping-Bericht der Bundesregierung läßt aber auch erkennen, wo es noch Lücken gibt, die es im Kampf gegen Doping zu schließen gilt. Besonders am Herzen liegt mir in diesem Zusammenhang, daß das deutsche Anti-Doping-System international überall Schule macht. Wir sind dies auch unseren deutschen Athletinnen und Athleten schuldig.
*) Anlage 4
Daß wir in Deutschland bei der Bekämpfung des Dopings so weit gekommen sind, ohne den Sport mit einer Fülle von Gesetzen und Verordnungen zu überziehen, empfinde ich als einen nicht zu unterschätzenden Erfolg in einer Zeit, in der wir uns der Flut von Richtlinien und Verordnungen kaum noch zu erwehren vermögen. Wir dürfen allerdings in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, denn nur ein sauberer, manipulationsfreier human er Spitzensport kann auf lange Sicht den Vorbildcharakter für Kinder und Jugendliche haben, den wir uns wohl alle wünschen.
Aus diesem Grunde möchte ich Sie auch herzlich bitten, dem vorliegenden Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, unbeschadet der vom deutschen Sport seinerzeit nicht gerade mit Begeisterung aufgenommenen schon erwähnten Haushaltssperre, die als ein Eingriff in die Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Freiheit des Sports mißverstanden wurde, ist das Zusammenwirken des Ausschusses mit den freien Organisationen des Sports geradezu ein Musterbeispiel für die erfolgreiche Partnerschaft gesellschaftlicher Kräfte und Gruppen mit der Politik und dem Staat gewesen und wird es — davon bin ich überzeugt — auch in Zukunft sein.
Angesichts der fast 24 Millionen Mitglieder in fast 90 000 Sportvereinen hat der deutsche Sport auch weiterhin ein Anrecht auf eine parlamentarische Vertretung im Deutschen Bundestag.
Ohne diese Vertretung wäre nach meiner festen Überzeugung auch wenig von dem gelungen, was als sportpolitische Erfolge der letzten Jahre zwar nicht permanent gelobt und herausgestellt wird, aber auch von kaum jemandem bestritten werden kann. Ich denke da z. B. an eines unserer wichtigen Anliegen, die Förderung des Leistungsports insgesamt, vor allem aber auch in den letzten Jahren in den neuen Bundesländern, nicht nur aus dem Haushalt des Bundesinnenministeriums, sondern z. B. auch aus dem des Bundesministeriums für Verteidigung
Die Herstellung gleicher Lebensbedingungen in ganz Deutschland auch im Bereich des Sports ist ein wichtiger Schwerpunkt unserer Arbeit in dieser Legislaturperiode gewesen mit entscheidenden Fortschritten wie z. B. der zum großen Teil kostenlosen Übertragung von Sportstätten und der schwierigen Klärung von Eigentumsfragen. Diese positive Entwicklung wird auch nicht dadurch geschmälert, daß eine direkte Mitfinanzierung des Goldenen Planes Ost bisher angesichts der Haushaltslage des Bundes nicht durchzusetzen war; denn mit den Möglichkeiten des Investitionsförderungsgesetzes Aufbau Ost, Herr Kollege Büchner, ist jedenfalls der Einstieg in den Goldenen Plan Ost ab 1995 gelungen.
Einen Riesenerfolg konnte der Sportausschuß mit der Initiierung und Durchsetzung der Sportanlagenlärmschutzverordnung vom 18. 7. 1991 verbuchen. Mit der Änderung des § 906 BGB, des Nachbarschafts-
Ferdi Tillmann
rechtsparagraphen — hoffentlich passiert dieser Gesetzentwurf in der nächsten Woche den Vermittlungsausschuß positiv dürfte der „Sportplatz um die Ecke", wie es so schön heißt, endgültig gesichert sein.
Glauben Sie, es ist nicht übertrieben, hier von einem sportpolitischen Olympiasieg zu sprechen.
Eine Änderung des FGB ist nämlich immer schon eine schwierige Sache gewesen. Lieber Kollege Büchner, Sie protestieren auch nur sehr schwach, das ehrt Sie, und das ist auch richtig so.
— Das ist wohl auch richtig. Wäre dort der Sportplatz erhalten geblieben, hätten wir heute weniger Ärger und vielleicht weniger Kosten.
Lassen Sie mich aber noch sagen: Am 9. November 1987 wurde während der Debatte zum Vereinsförderungsgesetz der Fall der Mauer hier in diesem Hause bekannt. Ich werde diesen Tag nicht so schnell vergessen. Die Grundlage vernünftiger Rahmenbedingungen für unsere Vereine und deren ehrenamtliche Helfer wurde nach langen, jahrelangen Bemühungen gerade an diesem Tag endlich geschaffen.
Nicht nur der unselige Sportkalender BRD-DDR mit insgesamt gerade mal rund zwei Dutzend Sportbegegnungen jährlich gehörte mit diesem Tage endgültig der Vergangenheit an, sondern vor allem der wahnwitzige, ideologisch begründete sportliche Wettkampf der Systeme mit allen Mitteln, selbst mit kriminellen Manipulationen, war damit Geschichte.
Ich schätze mich — ich sage das ehrlich und offen und auch mit Bewegung — glücklich, nach 22 Jahren Mitarbeit im Ausschuß dies noch im Bundestag miterlebt und auch mitgestaltet zu haben: die deutsche Vereinigung auch im Sport.
Ich möchte abschließend allen herzlich danken, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Zunächst einmal insbesondere den Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses. Hier erwähne ich insbesondere meine Vorgänger im Amt Konrad Kraske und Hans Evers, aber auch meine Vertreter, die ich in der Zeit hatte, da ich Vorsitzender war. Herr Kollege Mischnick war eine lange Zeit auch schon beim Herrn Kollegen Evers, und ich glaube, Ihnen muß man besonders dafür danken, daß Sie neben Ihrer unglaublich schwierigen Arbeit als Fraktionsvorsitzender noch Zeit hatten für den Sport.
Das ist ein Beweis dafür, daß Sie den Sport lieben und der Sportpolitik einen hohen Stellenwert einräumen. Aber auch Kollege Lambinus, der hier bescheiden im Hintergrund sitzt, sei als mein jetziger Stellvertreter erwähnt.
Ich danke den Vertretern des deutschen Sports, des Deutschen Sportbundes, den Vertretern der Fachverbände, des Nationalen Olympischen Komitees und der Sporthilfe, insbesondere den Präsidenten, den Vorständen, aber auch den hauptamtlichen Mitarbeitern im Sport für eine konstruktive und vertrauensvolle Arbeit mit dem Ausschuß.
Ich freue mich, an dieser Stelle auf der Zuhörertribüne die Teilnehmer des Jugendlagers der Deutschen Sportjugend an den Olympischen Spielen von Lillehammer in unserem Hause begrüßen zu können. Das paßt zu diesem Thema.
Ich danke dem leider nicht anwesenden Sportminister und seinen Vorgängern, allen Vertretern der Bundesregierung und insbesondere den Mitarbeitern der Sportabteilung. Nicht zu vergessen sind bei diesem Dank auch die Mitarbeiter des Ausschusses. Wer würde nicht noch Herrn Rüdiger Piro kennen, der seit 1969 Sekretär des Ausschusses gewesen ist. Der Ausschuß hat seit seiner Konstituierung am 5. November 1969 als Sonderausschuß für Sport und die Olympischen Spiele jetzt 25 Jahre Arbeit hinter sich. Die Minister und alle, die ich eben erwähnt habe, waren gemeinsam mit dem Ausschuß von der großen gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des Sports in Deutschland zutiefst überzeugt.
Zehn Mitglieder des Ausschusses scheiden am Ende dieser Legislaturperiode aus dem Deutschen Bundestag aus, deren drei waren schon seit 1969 dabei: Sie, Herr Kollege Mischnick, Kollege Müller und Kollege Spilker. Ihnen und uns allen wünsche ich für die Zukunft alles erdenklich Gute, insbesondere daß wir uns durch Sport unsere Gesundheit lange erhalten können. Ich wünsche auch dem Ausschuß Erfolg für seine Arbeit in der Zukunft.
Am 19. März 1984 hat auf Anregung aus dem Sportausschuß Bundespräsident Carstens die Sportplakette des Bundespräsidenten für die Sportvereine, die sich besondere Verdienste erworben haben und hundert Jahre alt werden, gestiftet. Ich sagte es eben schon, der Sportausschuß feiert 1994, also in diesem Jahr, sein 25jähriges Jubiläum. Ich bin so frei zu sagen: Das erste Viertel der Sportplakette des Bundespräsidenten hat sich der Sportausschuß des Deutschen Bundestages in diesen 25 Jahren redlich verdient.
Das Wort hat Kollege Peter Büchner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider ist es wieder ein unerfreuliches Thema, das dieser Debatte zugrunde liegt. Allzu häufig wird der Sport in den Medien und auch hier im Parlament unter diesem Negativaspekt diskutiert. Ich bedaure dies. Ich weiß allerdings, daß wir uns diesem Problem gleichwohl stellen müssen. Ausweichen und wegsehen wäre unverantwortlich, insbesondere beim Doping. Es ist für den Sport existenzbedrohend, es zerstört nicht nur den chancengleichen Wettbewerb, die faire Auseinandersetzung als Grundlage des Sports. Doping raubt dem Sport
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Peter Büchner
auch die materielle Basis. Staatliche und private Unterstützung kann nur dem sauberen Sport gelten. An seinen Imageproblemen kann der Sport zugrunde gehen. Dies ist sicher eine große Gefahr.In dieser Lage nun weigern sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen konstant, das auf der politischen Ebene Mögliche zu tun, um Doping und den Mißbrauch von Medikamenten zu verweigern. In unserem Antrag stellen wir uns der Aufgabe, in einer fairen Partnerschaft den Sport zu unterstützen, Doping wirksam zu bekämpfen und seine Ausbreitung zu unterbinden. Ich meine, Sie in der Koalition laden eine große Verantwortung auf sich, wenn Sie sich hier verweigern.Es ist wahr, was Herr Tillmann sagte, der Sport hat sich in vieler Hinsicht bemüht, er hat ein Netz von Dopingkontrollen aufgebaut, das wohl weltweit ohne Beispiel ist, das aber weltweit aufgegriffen werden muß. Der Sport kämpft glaubhaft und mit allen Mitteln, über die er verfügt, gegen diese Seuche. Daß Doping nun vom Hochleistungssport auch auf den Breitensport und hier insbesondere auf den Bodybuildingbereich immer mehr durchschlägt, beweist der vorliegende Bericht und zeigt um so mehr den Handlungsbedarf des Gesetzgebers. Es geht nicht mehr um nur einige Athleten und Betreuer, die verbotswidrig handeln und Regelungen des Sports übertreten, sondern es handelt sich inzwischen um eine wachsende Zahl von Sporttreibenden im Freizeit- und Breitensport, um Jugendliche, um Modeerscheinungen in Sport und Fitneß.Ich möchte Sie deswegen bitten: Überlegen Sie sich Ihre ablehnende Haltung und beschreiten Sie mit uns den Weg, den wir als Gesetzgeber gehen können, um die begrüßenswerten, unterstützenswerten Bemühungen des Sports unsererseits zu fördern.
Doping und auch andere Probleme — aber dies ist nicht der Sport; lassen Sie uns in dieser kurzen Debatte auch öffentlich herausstellen, was im Sport eigentlich geschieht und was der Sport auch in Zusammenarbeit mit dem Sportausschuß des Bundestages bewirkt hat und bewirkt.Der organisierte Sport ist mit annähernd 25 Millionen Mitgliedern in zahllosen Vereinen die größte gesellschaftliche Initiative in unserem Land; täglich gewinnt er neue Mitglieder hinzu. In den Sportorganisationen, den Verbänden und Vereinen, engagieren sich Tausende ehrenamtliche Mitglieder in der Jugendbetreuung, beim Gesundheitssport und bei der Integration von Randgruppen.Die Verfassung überträgt dem Bund die Aufgabe, sich insbesondere um den Spitzensport zu kümmern, obwohl wir durch gesetzliche Regelungen auch den Breiten- und Vereinssport wirksam mitgestalten können. Als besondere gemeinsame Leistungen betrachte ich es, daß es gelungen ist, die Gemeinnützigkeit der Vereine auch steuerlich abzusichern, daß wir in der nicht immer konfliktfreien Beziehung zwischen Sport und Umwelt zusammen mit den Sportorganisationen eine Sensibilisierung für die gleichberechtigten Belange der Natur und des Sports erreicht habenund daß wir mit Tausenden Vereinen und mit den Verbänden die „soziale Offensive" des Sports unterstützt haben, die dazu geführt hat, daß „Sport für alle" heute organisiert und bezahlt werden kann.
Tägliche Begegnungen, Freundschaften im Sport, das Überwinden sozialer Schranken, die Einbeziehung von Behinderten, Aussiedlern und ausländischen Mitbürgern — vieles ist heute wichtiger denn je.Ich meine, die Bilanz der parlamentarischen Arbeit im Sportausschuß der letzten 20 Jahre ist alles in allem positiv; wir haben gemeinsam wichtige Ziele für den Sport erreicht. Daran habe ich gerne mitgewirkt; besonders stolz bin ich auf den Fortschritt im Behindertensport.
Hier haben wir praktisch bei Null angefangen. Für Behinderte kann der Sport noch mehr als für Nichtbehinderte zu einem positiven Lebensgefühl und zu neuem Lebensmut beitragen. Noch ist das Ziel — die völlige Gleichstellung von Behinderten- und Nichtbehindertensport — zwar nicht erreicht; daran müssen wir weiter engagiert arbeiten.Aber, meine Damen und Herren, der Sport ist derzeit im Umbruch; er steht vor wichtigen Strukturentscheidungen. Es muß jetzt klarwerden, welche Gremien welche Aufgaben haben: Wer organisiert die Leistungszentren? Wer kümmert sich um die Spitzensportler? Wer ist direkter Ansprechpartner für den Staat? Wie sieht die einheitliche Vermarktungsstrategie aus? Wessen Wort gilt bei den Partnern in der Wirtschaft und in der Gesellschaft?Es ist Zeit für mutige Entscheidungen im Sport. Sollte gerade dann der Sportausschuß, der so vieles geleistet hat, als Ansprechpartner zukünftig nicht mehr zur Verfügung stehen? Ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen.
In der politischen Auseinandersetzung muß der Sport noch präsenter sein. Als größte Personenvereinigung in diesem Land geht es darum, gerade in einer Zeit geleerter Kassen die Interessen der Mitglieder zu vertreten. Dies kann der Sport nur erreichen, wenn er selbstbewußter und politischer wird und wenn es ihm gelingt, der Öffentlichkeit und den staatlichen Partnern klarzumachen, daß der Sport kein Bittsteller ist.Er ist übrigens schon lange nicht mehr die schönste Nebensache der Welt, sondern er hat sich inzwischen selber zu einem erheblichen wirtschaftlichen Faktor entwickelt. Mit einem Anteil am Bruttosozialprodukt in Höhe von 1,4 ist der Sport in seiner wirtschaftlichen Bedeutung mit der der Mineralölindustrie und der Landwirtschaft vergleichbar.Der Sport hat Leistungen vorzuweisen wie wohl kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe. Es gibt überhaupt keinen Zweifel unter uns, daß alle staatlichen Stellen zusammen, Bund, Länder und Kommu-
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Peter Büchner
nen, gar nicht in der Lage wären, die Leistungen des Sports organisatorisch oder finanziell zu erbringen.
Darum ist es gerade auch in den neuen Bundesländern eine dringende Notwendigkeit, den Aufbau demokratischer Sportstrukturen zu fördern, die Erhaltung, Sicherung und den Ausbau von Sportstätten voranzutreiben. Der Sport hat schon frühzeitig durch seine Organisationen dabei mitgeholfen.Jetzt geht es darum, für den „Goldenen Plan Ost", den der Deutsche Sportbund dankenswerterweise aufgestellt hat, auch die öffentliche Unterstützung zu finden. Wenn Deutschland auf dem Gebiet des Sports zusammenwachsen und die Verwirklichung gleicher Lebensbedingungen nicht nur ein Lippenbekenntnis von Politikern bleiben soll, muß die Bundesregierung ihren hinhaltenden Widerstand gegen eine direkte Mitfinanzierung dieses Goldenen Plans aufgeben.In meiner letzten Rede nach nunmehr 23 Jahren Arbeit in diesem Parlament und mehr als zwei Jahrzehnten im Sportausschuß möchte ich nicht nur all en Dank sagen, die im Sport mitgeholfen und für den Sport diskutiert und gestritten haben, hier im Parlament — stellvertretend für alle danke ich dem Sportausschußvorsitzenden Ferdi Tillmann ganz persönlich — und in den Verbänden. Ich füge hinzu, daß ich bei diesem Engagement viel Freude und viele Freunde gewonnen habe, über alle Parteigrenzen hinweg. Sport verbindet auch in der Politik.Die Probleme ernst zu nehmen, aber auch über die positiven Seiten zu reden und diese mehr als bisher öffentlich zu machen, ist wichtig.
Aber das Wichtigste war und ist für mich beim Sport, daß er Spaß macht. Gesundheitsbewußtsein, soziales Engagement und kommunikative Begegnung sind dringend notwendig und konkrete Motive für ein sportliches Leben. Der zentrale und entscheidende Beweggrund aber ist die Freude am Sport. So sehen es Millionen Sportlerinnen und Sportler bei uns mit Recht. Übrigens ist es, auch wenn es — wie hier oft — um Sportpolitik geht, in Zukunft nicht verboten, Spaß und Freude an diesem faszinierenden Teil unseres Lebens durchscheinen zu lassen.Ich danke Ihnen und bitte Sie — in welcher Funktion innerhalb des Parlaments auch immer; das gilt aber auch für die Kollegen, die jetzt mit mir nach der Bundestagswahl ausscheiden —, weiterhin an einer guten Zukunft des Sports mitzuwirken.
Herr Kollege Wolfgang Mischnick, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der AntiDoping-Bericht der Bundesregierung, den wir begrüßen und dessen Schlußfolgerungen wir unterstützen, ist der Anlaß für diese kurze Debatte. Mir steht nicht soviel Redezeit zur Verfügung, um all das zu wiederholen, in dem wir übereinstimmen. Ich stelle fest: Die Arbeit des Sportausschusses hat immer eine weitgehende Übereinstimmung ausgezeichnet.
Ich möchte allerdings auf eines hinweisen: Wenn es um Doping geht, geht es in erster Linie darum, die Menschen, die mißbraucht werden oder die selbst mißbrauchen, davon zu überzeugen, daß sie einen falschen Weg gehen. Das wird durch Gesetze und Verordnungen allein nie vollständig zu regeln sein.
Deshalb sind Sportler, Leistungsträger, Ärzte, aber auch Schulen und Eltern aufgefordert, mitzuwirken, daß wir diesen Kampf gegen Doping so bestehen, wie wir alle uns das wünschen.
Doping ist ein Thema, das wir schon vor Jahren, fast Jahrzehnten behandelt haben. Ich kann aber nicht umhin, etwas zu wiederholen, was nichts Neues, aber leider immer wieder wichtig ist: Bei der weiteren Aufarbeitung der Vergangenheit ist es notwendig, zwischen Verführern und Verführten strikt zu unterscheiden.
Einzelfallprüfungen sind auf jeden Fall notwendig. Pauschale Verurteilungen, zum Teil Vorausverurteilungen — wie wir sie immer wieder erleben — helfen nicht, sondern verbittern die Menschen nur, wenn dies so weitergeht, wie das zu einem großen Teil geschehen ist.
Ich hoffe, daß die zuständigen Instanzen im deutschen Sport mutig genug sind und bleiben, denjenigen die rote Karte zu zeigen, denen bewußtes Zuwiderhandeln nachgewiesen werden kann. Dabei sind mißbrauchte Sportler nach meiner Überzeugung anders zu behandeln als diejenigen, die unter Druck und Zwang gehandelt haben, als Funktionäre, Berater und vor allen Dingen auch Ärzte, die ihr ethisches Bewußtsein vermissen ließen, als sie es zuließen, daß Doping — in welcher Form auch immer — erfolgte.
Aber wer das Ganze als die Vergangenheitsbewältigung eines Teils Deutschlands sieht, der sieht falsch. Das ist eine notwendige Bewältigung für ganz Deutschland, nicht nur für den Teil, der hinzugekommen ist. Auch das muß immer wieder deutlich gemacht werden.
Meine Damen und Herren, mit Recht wurde ein kurzer Rückblick gegeben. Auch ich möchte zurückblicken: Seit Anfang des Jahres 1969 habe ich im Sportausschuß mitgewirkt und bin froh darüber, heute feststellen zu können, daß Dinge, die bei den Olympischen Spielen 1972 und bei der Fußballweltmeisterschaft 1974, bei der wir noch darum ringen mußten, daß in Berlin ein Fußballspiel der deutschen Mannschaft stattfinden konnte, vorkamen, heute nicht mehr in der Dikussion sind.
Ich denke aber auch daran, daß 1980 ein Beschluß zum Boykott gefaßt worden ist, der mir damals sehr schwer gefallen ist und den ich für falsch hielt. Damals habe ich es vermutet, und heute weiß ich, daß er falsch
Wolfgang Mischnick
war. Wir dürfen nicht wieder in den Fehler verfallen, den Sport in einem Punkt für die Politik einsetzen zu wollen, wo er nicht für die Politik eingesetzt werden kann, wie sich bei anderen Ländern mit anderem Verhalten erwiesen hat.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eine kurze persönliche Bemerkung machen. Ich teile die Auffassung des Kollegen Büchner: Sport hat mitgeholfen, manche schwierige Situation durchzustehen, war in schwierigen Phasen geeignet, Auseinandersetzungen zu überwinden. Ich danke allen, die im Sportausschuß über diese Jahrzehnte mitgewirkt haben.
Ich wünsche allen, die in Zukunft im Deutschen Bundestag für den Sport tätig sind, daß diese Gemeinsamkeit über alle Parteigrenzen hinweg bei allen Unterschieden in Einzelfragen erhalten bleibt. Wir haben es immer wieder geschafft, gemeinsam für den Sport zu werben.
In diesem Sinne herzlichen Dank allen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn ich noch weniger Zeit habe als Sie, verehrter Herr Kollege Mischnick, möchte ich trotzdem die Gelegenheit nutzen, mich ganz herzlich bei Herrn Tillmann, Herrn Büchner und Ihnen für die Arbeit bedanken, die Sie für den Sport getan haben, und für die Art und Weise, wie wir im Sportausschuß wirklich fair miteinander gerungen haben, um die Probleme des Sports in der Bundesrepublik Deutschland wirklich bewältigen zu können.
Erlauben Sie mir diese persönliche Bemerkung, denn dies ist für diese Personen, die dafür jahrelang gewirkt haben, ein ganz entscheidender Moment des Abschiedes aus diesem Arbeitsbereich.Ich darf jetzt zum Thema kommen. In der öffentlichen Diskussion steht nicht der Leistungssport an sich zur Disposition, sondern sein beschriebener Werteverfall und seine damit verbundene, vielzitierte sichtbare Sinnkrise.Zwangsläufig wirft dies die Frage auf: Welche Zukunft hat der Spitzensport? Auch wenn ich nicht gerade zu den Optimisten in dieser Frage zähle, so hoffe ich, daß der Spitzensport national und vor allen Dingen international gesehen — seine Selbstzerstörungsmechanismen doch noch so verändern kann, daß er eine positive, öffentlich anerkannte Zukunft haben wird.So wichtig Dopingkontrollen in dieser notwendigen Trendwende auch sein mögen, im gegenwärtigen Gefahrenspektrum des modernen Hochleistungssportes ist das Problem Doping aber nur ein Symptom.Nun ist symptomatische Behandlung nicht grundsätzlich abwegig, zumeist jedoch vergeblich, wenn man die Ursachen des Symptoms nicht zugleich mitbehandelt. Es gibt aber ernstzunehmende Wissenschaftler, Funktionäre, Sportler sowie Politiker, die davon überzeugt sind, daß Dopingkontrollen, Strafaktionen sowie entsprechende Erziehungs- und Aufklärungskampagnen über die Gefahren des Dopings Überzeugungen und Wertevorstellungen der Athleten so verändern und festigen könnten, daß Kontroll- und Strafaktionen eines Tages überflüssig werden.Folgt man diesen Argumenten, kann man sich — global gesehen — einer positiven Bewertung der Inhalte des uns vorliegenden Anti-Doping-Berichtes nicht entziehen. An Hand aller Inhalte dieses Berichtes kann man das Urteil teilen, daß im deutschen Anti-Doping-System schon sehr frühzeitig Forderungen des Gesetzes zum Übereinkommen gegen Doping vom 16. November 1989 gegen Doping umfassend Berücksichtigung gefunden haben.So weist er eine wesentliche Zunahme durchgeführter Trainingskontrollen aus, die dem deutschen Sport im internationalen Vergleich einen vorderen Platz einräumen. Auch Erziehungsarbeit wird nachweislich durch eine umfassende und qualitativ gute Aufklärungsarbeit geleistet.Offen bleibt die Frage nach einer Verbesserung der Definition des Dopings, die meines Erachtens aber nur der Sport selbst, und zwar auf internationaler Ebene, klären und beantworten kann und muß. Dies bei der Bundesregierung in Auftrag zu geben, so wie im Entschließungsantrag der SPD formuliert, halte ich einfach für nicht machbar.Unbestritten bleibt der illegale Verkehr und Handei mit leistungssteigernden Mitteln ein offenes Problem, das ohne Zweifel einer Lösung zugeführt werden muß. Aber auch hier bezweifle ich, wie im Bericht erwähnt, daß dieses Problem durch eine Veränderung des Arzneimittelgesetzes zu lösen ist. Ich glaube, da sind andere Dinge notwendig.Der Bericht zeigt — wenn auch nur im Anhang — ein für mich kompliziertes offenes Problem einer erfolgreichen, vor allem weltweiten Dopingbekämpfung auf. Die zu Dopingzwecken benutzten Medikamente sind immer früher und schneller auf dem Marktund die Pharmazie tut ihr übriges dazu —, als es gelingt, praxiswirksame Analyseverfahren für ihren Nachweis zu entwickeln. Gibt es sie bzw. findet man sie, stellt sich das Problem der Finanzierbarkeit ihres Einsatzes und ihrer Durchführung für den Sport. Sicher darf man die erfolgreiche Durchsetzung einer Anti-Doping-Konzeption nicht allein auf die Kostenfrage reduzieren. Es ist aber legitim, darauf hinzuweisen, daß die Sparmaßnahmen innerhalb des Bundeshaushaltes den Erfordernissen des Sports diesbezüglich auch objektiv Grenzen setzen. Wir alle kennen die veröffentlichten Meldungen der Schwimmer, die sich beschwert haben, daß sie nicht kontrolliert werden konnten; es war aber eben eine ökonomische Reduzierung.Zum Anfang meiner Rede zurückkommend bemerke ich abschließend: In einer Gesellschaft, die Konkurrenz, Wettbewerb und Leistung als bestimmende Prinzipien anerkennt, wird der Spitzensport
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20760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994
Dr. Ruth Fuchsimmer eine Zukunft haben. Offen bleibt die Frage: in welcher Form und mit welchen Konsequenzen?Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/8061. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Entschließungsantrag ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/8051. Wer stimmt dafür? Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur des Rentenüberleitungsgesetzes
— Drucksache 12/6217
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/8081 —
Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Rother
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/8082 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd Strube
Ina Albowitz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Mehrbedarf der Sozialhilfe in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/7463 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie und Senioren Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Zum Gesetzentwurf liegen drei Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat, ein gelinder Euphemismus, ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde
vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste 10 Minuten erhalten soll. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über sieben Monate hatten Sie Zeit, unsere Vorschläge einer Korrektur der Überleitung der DDR-Renten in das bundesdeutsche Recht zu prüfen und Eigenes dazuzupacken. Doch die 15 Minuten Aussprache gestern im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zeigten markant, daß Sie nicht willens sind, jetzt etwas zu tun. Wenn Sie den Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste heute ablehnen, ist eine Chance, Rentengerechtigkeit nicht nur scheibchenweise, sondern grundlegend und rasch zu erreichen, verpaßt. Nach wie vor hüllen sich Regierungskoalition und SPD in Schweigen, wenn es um Details von Änderungen geht. Deshalb möchte ich Ihnen heute noch einmal verdeutlichen, was Sie heute abzulehnen gedenken.Es geht nicht einfach um Strafrecht, was wir abschaffen wollen, sondern es geht um die weitestgehende Anerkennung gelebter Biographien von Menschen. Unseres Erachtens stellt nur die Anwendung der allgemeinen Bemessungsgrenze die Wertneutralität im Sozialrecht wieder her. Darauf könnten beamtenrechtliche und berufsständische Systeme aufstokken.Eines der Argumente für die Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen sind die Finanzen. Aber das Argument, daß geprüft werden muß, inwieweit staatliche Sicherungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung übernommen und berücksichtigt werden können, ist nicht stichhaltig. Für fast alle Zusatzversorgungssysteme wurden in der DDR Beiträge gezahlt, natürlich nicht in die gesetzlichen Rentenkassen der Bundesrepublik, sondern in die der Staatlichen Versicherung der DDR. Ebenso verhielt es sich bei den Sonderversorgungen der sogenannten bewaffneten Organe, die ein eigenes System speisten.Auch in der DDR war die Altersversorgung im Umlageverfahren organisiert. Das heißt, daß die Sozialversicherungskassen in der DDR wie die Rentenkassen in der Bundesrepublik keine Kapitaldecke für jahrzehntelange Rentenzahlungen hatten. Die Kassen suchen sie also in der Tat vergeblich.Wenn das Strafrecht abgeschafft werden soll, geht das nicht zu Lasten der Beitragszahlerinnen und -zahler, vor allem der westdeutschen, wie meist suggeriert wird, sondern zu Lasten von Herrn Waigels Kasse. Doch wenn man die erforderlichen Mittel von rund 300 Millionen DM jährlich anschaut, so sind das bei einem Gesamtrentenfonds von 380 Milliarden DM jährlich nicht einmal 0,1 %. Zudem speist sich auch jede Beamtenversorgung aus den Steuern von heute und nicht von vor 20 Jahren. Mit den allein über 1,5 Millionen jungen, gut ausgebildeten Menschen, die aus der DDR bzw. den neuen Bundesländern in die alten übergesiedelt sind oder pendeln und heute die Rentenkassen im Westen füllen, haben die älteren
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Petra BlässOstlerinnen und Ostler allemal ein Anrecht auf faire Behandlung.Doch der eigentliche Knackpunkt ist: Die Bundesrepublik hat die Bevölkerung und die Werte der DDR übernommen. Also muß sie auch die aus Arbeitsleistungen resultierenden Rentenansprüche respektieren und den Eigentumsschutz garantieren.Wenn seitens der SPD immer die Länderfinanzen ins Spiel gebracht werden, die erforderlich, in den neuen Ländern aber doch so mager seien, werden hier Sachen bewußt oder unbewußt vermischt. Es wurde durch die letzte Volkskammer der DDR entschieden und vom Bundestag bestätigt, daß alle Altersversorgungsansprüche der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik überführt werden. Damit geht es jetzt um die Rentenkasse und um Zuschüsse des Bundes. Ein nächstes Kapitel ist, auch unter Inanspruchnahme von Länderfinanzen berufsständische und beamtenrechtliche Systeme aufzustocken.Die Anerkennung des Einkommens bis zur allgemeinen Bemessungsgrenze entspricht auch der Beschlußlage der Volkskammer und des Einigungsvertrages. Dort steht nicht nur, wie gern einseitig zitiert, daß „ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen" sind, sondern auch, daß „die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die Rentenversicherung zu überführen sind" und „eine Besserstellung gegenüber vergleichbaren Ansprüchen und Anwartschaften nicht erfolgen darf" .Wir meinen, daß die allgemeine Bemessungsgrenze eine ausreichende „Entprivilegierung" für alle Zusatzversorgten darstellt. Für die Sonderversorgten machen wir darüber hinaus den Vorschlag, nachweislich überhöhte Einkommensbestandteile wie einige Zuschläge nicht zu berücksichtigen. Das ist eine rechtsstaatliche und sozial verantwortbare Lösung.Anders ist es bei der Suche nach Möglichkeiten für Aufstockungen. Da können Sie nachdenken, wo Sie eine zusätzliche Versorgung schaffen wollen und wo nicht. Hier können wir uns auch mit Einzelfallprüfungen anfreunden. Die gesetzliche Rentenversicherung aber ist für die PDS/Linke Liste für Abstriche jeglicher Art tabu.Lassen Sie mich kurz auf das mehrmals wiederholte Argument der SPD eingehen, wir mögen doch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abwarten, das die Kriterien für den verfassungsrechtlichen Rahmen setzen wird.Erstens wird es in Karlsruhe in Sachen Rentenüberleitung immer nur zu einem mühsam bis dorthin vorgedrungenen Fall, günstigstenfalls für ein System ein Urteil geben. Die komplex angelegte Verfassungsbeschwerde, organisiert von der Gesellschaft zum Schutz für Bürgerrecht und Menschenwürde, wurde, wie Ihnen sicher bekannt ist, aus formellen Gründen abgewiesen.Zweitens haben wir bis vor kurzem angenommen, daß Sie Urteile des Bundessozial oder -verfassungsgerichts für heilig halten. Wenn aber die Koalitionsfraktionen ein gerade gefälltes Urteil des Bundessozialgerichts zum Vorruhestand sozusagen im Handstreich mit einem Gesetzentwurf kippen, kommen uns doch Zweifel. Ein den Interessen der Betroffenen entgegenkommendes Urteil soll innerhalb einer Woche hier im Bundestag revidiert werden. Wer kann denn da noch an Gerechtigkeit über den beschwerlichen Weg der Sozialgerichtsbarkeit glauben?Insgesamt verbirgt sich unseres Erachtens hinter den ablehnenden Argumenten bezüglich Finanzen und Entprivilegierungsauftrag, hinter dem Appell sorgsamer Prüfung nur, daß der politische Wille fehlt, die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR fair behandeln zu wollen, also eine politische Absicht. Das zeigt sich auch daran, daß es im Ausschuß keine Reaktionen zu unseren konkreten Vorschlägen bezüglich der Überführungslücken und -ungerechtigkeiten gab.Wenn rentenrechtliche Zeiten wie die von Blinden- und Sonderpflegegeldempfängerinnen und -empfängern, von Aspirantinnen und Aspiranten und Frauen in Sonderstudien, von Menschen, die sich im Auslandseinsatz befanden, von mithelfenden Ehefrauen selbständiger Land- und Forstwirte oder anderer selbständig Tätiger nicht anerkannt werden, dann kann das fast nur als politische Borniertheit bezeichnet werden.Die letzte DDR-Volkskammer hatte in Kenntnis des Sachverhalts, daß es Zeiten gab, die nach DDR-Recht nicht versicherungspflichtig waren, aber nach bundesdeutschem Recht versicherungspflichtig sind, einen Katalog solcher Zeiten zum 1. März 1990 als rentenrechtlich wirksam bestimmt. Wenn diese Rechtsvorschriften durch das Renten-Überleitungsgesetz nur für die Vergleichsrentenberechnung übernommen wurden, die es für die Zusatz- und Sonderversorgung seit 1. Januar dieses Jahres nicht mehr gibt, und für die anderen ab 1. Januar 1996, dann ist das diskriminierend und sozial untragbar.Sie können doch nicht ernsthaft wollen, daß Frauen, die vor LPG-Gründung als mithelfende Ehefrauen im Familienbetrieb tätig waren, künftig zwölf bis 15 Jahre bei der Rente fehlen, bloß weil diese Zeiten nach Bundesrecht versicherungspflichtig waren und nach DDR-Recht eben nicht. Wenn Sie das wollen, handeln Sie verantwortungslos und mißachten Bestandsschutz.Ein ebenso brisanter Fakt ist der Sozialzuschlag. Gezahlt vor allem deshalb, weil die Sozialämter in den neuen Bundesländern noch nicht ausgestaltet waren, wird er heute, wo sukzessiv Gegenrechnungen mit dem Einkommen der Ehepartner möglich sind, zurückgefordert, für einzelne in Höhe von mehreren tausend DM. Wer hat denn schon in dem Papierwust der Bescheide den kleinen Vermerk über die sogenannte vorbehaltliche Zahlung gelesen? Bei der rasanten Steigerung der Lebenshaltungskosten ist doch klar, daß die meisten dieses Geld, das die Rente monatlich bis 600 DM und zuletzt bis auf 674 DM aufstockte, zur alltäglichen Lebensführung verbrauchten. Eine Rückforderung ist hier in der Tat unmenschlich.Ebenfalls mit dem Sozialzuschlag zusammenhängend steht gegenwärtig folgendes Problem an: Der
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Petra BlässMehrbedarf der Sozialhilfe für ältere Bedürftige und Menschen mit Behinderung wurde in den neuen Bundesländern unbegrenzt ausgesetzt. Wir werteten das zunächst als Fingerzeig darauf, daß sich die Bundesregierung bis zum Wegfall der Bewilligung des Sozialzuschlags eine andere Lösung dieser Unterversorgungssituationen ausdenken will. Doch nichts geschah.Aber nun gibt es seit 1. Januar 1994 keine Neubewilligungen des Sozialzuschlags mehr, und auch Mehrbedarf der Sozialhilfe ist noch außer Kraft. Wenn Sie schon unserem Vorschlag der zeitlich unbegrenzten, eigenständigen Zahlung des Sozialzuschlags im Korrekturgesetz nicht zustimmen, dann geben Sie sich wenigstens einen Ruck, und befürworten Sie unseren Antrag zur Inkraftsetzung des Mehrbedarfs in den neuen Bundesländern.Wie wenig es Ihnen um das Schicksal von Menschen geht, zeigt auch, daß Sie den Hilferuf des Akademischen Ruhestandsvereins, der nach Ihrer Diktion „Nichtstaatsnahe" vertritt, vom Mai dieses Jahres überhörten. Durch den schleppenden Vollzug der Neuberechnungen entstehen Fehlbeträge von mittlerweile monatlich 300 DM bis 700 DM. Da die pauschale Umbewertung von Bestandsrenten auf der 1,0-Basis erfolgt, ist der berechnete Rentenanspruch nach SGB VI und allgemeiner Bemessungsgrenze inzwischen auch höher als der besitzgeschützte Zahlbetrag nach DDR-Recht. Aber durch den Antragsstau und die zögerlichen Neuberechnungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte kommen die Betroffenen nicht zu dem ihnen zustehenden Geld.Jetzt wird mit der Ankündigung, das Aufrufen der Jahrgänge bis 1929 erfolge noch bis Ende dieses Jahres, suggeriert, daß die Neuberechnungen bald erfolgen. Tatsache ist jedoch etwas anderes: Wenn die BfA ihr monatliches Berechnungstempo von 2 000 — —
Frau Kollegin Bläss, bitte keine neuen Tatsachen mehr. Sie sind schon ein Stück über Ihre Redezeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, dann nur noch eine Abschlußbemerkung.
All diese ungelösten Probleme der Rentenüberleitung zeigen, daß ernsthafter politischer Wille zur Besserung fehlt. Deshalb wird man gewiß die heutige abschließende Beratung unseres Gesetzentwurfes folgendermaßen titulieren können: abgelehnt, aber nicht erledigt.
Das Wort hat der Herr Kollege Heinz Rother.
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf meinen Ausführungen zunächst einmal die Meinung der Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion aus den neuen Bundesländern zum Änderungsbedarf beim Renten-Überleitungsrecht voranstellen.Wir begrüßen die mit dem Einigungsvertrag getroffene und mit dem Renten-Überleitungsgesetz vollzogene Systementscheidung, Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der ehemaligen DDR in die Rentenversicherung zu überführen. Wir akzeptieren im Grundsatz auch die mit dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz geschaffenen Regelungen über die Begrenzung von Einkommen bei der Rentenberechnung bestimmter Personengruppen. Mit diesen Regelungen soll verhindert werden, daß Personen, die durch ihre Tätigkeit einen erheblichen Beitrag zur Stärkung oder Aufrechterhaltung des politischen Systems der ehemaligen DDR geleistet haben, aus dieser Tätigkeit eine Besserstellung beim Rentenbezug erfahren.
Jedoch haben die dabei unumgänglichen Typisierungen und Pauschalierungen in der Praxis zu Problemen und Ungerechtigkeiten bei Personen geführt, auf die persönlich nicht die für die Entgeltpunktbegrenzung maßgeblichen Gründe zutreffen. Aus diesem Grunde wurden bereits mit dem RentenüberleitungsErgänzungsgesetz die entsprechen den Regelungen modifiziert. Damit konnten die Einkommensbegrenzungen für Personengruppen in der mittleren Führungsebene abgemildert und eine stärkere einzelfallorientierte Differenzierung erreicht werden. Gleichzeitig wurde auch die Einkommensbegrenzung für Leiter pädagogischer Einrichtungen aufgehoben.Trotz dieser Verbesserungen werden die geltenden Regelungen von zahlreichen Angehörigen der von der Einkommensbegrenzung betroffenen Personengruppen in ihrer Pauschalität nach wie vor als willkürlich und ungerecht empfunden. In der Tat führt die Einkommensbegrenzung in Einzelfällen zu unvertretbaren Ergebnissen. Wir halten von daher mittelfristig weitere Abmilderungen für unumgänglich. Wir werden uns deshalb in der nächsten Legislaturperiode für weitere Korrekturen im Sinne der oben genannten Zielsetzung einsetzen. Daneben fordern wir die Länder auf, zu prüfen, inwieweit durch landesgesetzliche Maßnahmen unbillige Härten, etwa durch Einsetzung von Zusatzversorgungen, vermieden werden können.Auf Grund dieser eben von mir dargelegten Position der CDU-Abgeordneten aus den neuen Ländern können Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der PDS, bereits erkennen, daß wir Ihren Gesetzentwurf zur Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes in der vorliegenden Form ablehnen. Wir können nicht am laufenden Band bezüglich einer so komplexen und komplizierten Materie mit der heißen Nadel gestrickte Änderungen beschließen, die der Sache und auch dem Einigungsvertrag nicht gerecht werden.Ich darf hier doch nochmals daran erinnern, daß die Regelungen des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes und der Renten-Überleitungsgesetzgebung nach langen und zum Teil auch kontroversen Beratungen, aber letztlich doch im Konsens mit der SPD und ebenfalls - das sollte man hier nicht vergessen — mit einstimmiger Zustimmung des Bundesrates beschlossen wurden.
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Heinz RotherDie Gründe, die uns damals dazu bewogen haben, die Überleitung grundsätzlich so zu regeln, wie wir sie letztlich geregelt haben, bestehen weiterhin fort. Ich habe mich dazu ja auch schon mehrmals und ausführlich vor diesem Hohen Hause geäußert. Über einzelne Veränderungen und Verbesserungen läßt sich dabei immer streiten, aber im Grundsatz besteht kein Anlaß, die auch vom Einigungsvertrag vorgegebenen Prämissen völlig zu verändern. Daß wir uns im Detail um noch mehr Einzelfallgerechtigkeit bemühen wollen und dies auch in der nächsten Legislaturperiode auf den Weg bringen werden, daran besteht kein Zweifel.Neben diesen grundsätzlichen Bedenken, meine Damen und Herren von der PDS, bestehen aber auch bezüglich verschiedener Einzelheiten, die in Ihrem Gesetzentwurf geregelt sind, erhebliche Zweifel. Sie fordern z. B. in Art. 1 Nr. 4 und 5 Ihres Entwurfs, daß Personengruppen, die der Altersversorgung der pädagogischen Intelligenz zugeordnet waren, wie Lehrer, Erzieher, Kindergärtnerinnen, mit höheren Umrechnungswerten ihres Verdienstes bedacht werden sollen, da sie sonst bei der Bewertung des früheren Bruttoverdienstes benachteiligt würden. Dieses Problem gibt es aber ebenso bei anderen Berufsgruppen, nämlich daß die Einkommen relativ gering waren, weil höhere Altersversorgungen in Aussicht gestellt wurden. Diese Regelung würde also zu einer ungerechtfertigten Besserstellung einer speziellen Berufsgruppe führen. Im übrigen würde der Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung vollkommen gesprengt, wenn wir nun noch anfangen müßten, mit fiktiven Einkommen zu arbeiten.Aber auch die in Art. 3 Ihres Entwurfs vorgesehenen Änderungen können nicht in Betracht gezogen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes in seinem Urteil zur ,,2010-DM-Regelung" brauchten Einkommensteile, die nicht als Lohn für geleistete Arbeit anzusehen sind, sondern überwiegend politisch motiviert waren, nicht rentensteigernd berücksichtigt zu werden. Hierzu käme es jedoch bei der von Ihnen vorgeschlagenen Streichung der Entgeltpunktbegrenzungen.Bei der Gesamtbetrachtung der Problematik haben wir auch im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der PDS — die momentan angespannte Finanzlage mit zu berücksichtigen. Auch bei anderen Gesellschaftsgruppen, wie z. B. den Opfern des SED-Regimes, konnten wir die finanziellen Entschädigungen nicht so großzügig bemessen, wie wir uns das gewünscht hätten. Aber uns sind nun einmal auf Grund der finanziellen Situation enge Grenzen gesetzt.In einer Gesamtwertung läßt sich feststellen, daß der von der PDS/Linke Liste eingebrachte Gesetzentwurf insoweit verfassungsrechtlich problematisch, politisch und finanziell unvertretbar sowie bei der praktischen Umsetzung durch die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte mit großen Schwierigkeiten verbunden ist.
Ich wiederhole noch einmal: Die CDU/CSU lehnt den Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste deshalb ab.Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin Ulrike Mascher,
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Das Renten-Überleitungsgesetz ist ein wichtiger, ein solidarischer Beitrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Trotzdem erhalten wir alle bittere Briefe von Rentnern. Trotzdem gibt es eine große Zahl von Petitionen, die Änderungen fordern. Trotzdem gibt es Verfahren vor den Sozialgerichten und beim Bundesverfassungsgericht. Was ist die Ursache dieser Enttäuschung über das Renten-Überleitungsgesetz? Was ist die Ursache dieser Ablehnung?Das Renten-Überleitungsgesetz hatte von Anbeginn an einen Makel, der durch alle positiven Ergebnisse der Rentenvereinheitlichung und auch durch die Beredsamkeit des Bundesarbeitsministers nicht übertüncht werden konnte. CDU/CSU und F.D.P. haben wohl im Vertrauen auf Meinungsumfragen oder auf Berichte ostdeutscher Abgeordneter der Regierungskoalition angenommen, durch strafrechtliche Elemente im Rentenrecht den Wünschen der Opfer nachzukommen oder die Vorstellungen einer Mehrheit der Bevölkerung zu verwirklichen.
Das Ergebnis dieser populistischen Vermengung von Strafrecht und Rentenrecht ist, daß viele Menschen dieses Rentenrecht als eine Entwertung ihrer Biographie empfinden, als Abwertung ihrer Lebensleistung, ja als grobe Ungerechtigkeit.Die SPD hat sich von Anfang an gegen diesen Mißbrauch des Sozialrechtes gewandt. Wir haben es nicht bei folgenlosem Protest belassen, sondern einige wesentliche Verbesserungen erfolgreich durchgesetzt:Die Sozialzuschläge zu den Renten, die nach dem Willen der Bundesregierung entfallen sollten, werden bis zum 31. Dezember 1996 weitergezahlt. Damit ist die Chance eröffnet worden, daß ab 1997 an die Stelle der auslaufenden Sozialzuschläge im Osten eine soziale Grundsicherung tritt, die dann im Osten wie im Westen gilt. Die SPD wird dazu rechtzeitig das Konzept vorlegen.Die Anwartschaften, die nach dem alten Recht in den neuen Bundesländern bis zum 31. Dezember 1991 entstanden waren, bleiben für alle Berechtigten garantiert, die bis zum 31. Dezember 1996 neu in Rente gehen. Nach dem ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung sollte der Bestandsschutz für Neuzugänge bereits am 1. Juli 1995, also 11/2 Jahre früher, enden.Bei der Umrechnung der Sonder- und Zusatzrenten der ehemaligen DDR in Renten nach bundesdeutschem Recht wollte die Bundesregierung ursprünglich alle Arbeitsverdienste nur pauschal in Höhe des Durchschnittlohnes berücksichtigen. Die SPD konnte bereits beim Renten-Überleitungsgesetz 1991 erreichen, daß diese Kappung zunächst auf die früher in
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Ulrike Mascherleitender Stellung in „staatsnahen" Tätigkeiten Beschäftigten beschränkt wurde. Mit dem Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz von 1993 wurde der noch verbliebene „Fallbeil-Effekt" bei den Angehörigen von „staatsnahen Systemen" wesentlich gemildert.Ich hätte mich gefreut, Herr Rother, wenn die CDU-Abgeordneten aus Ostdeutschland, wie Sie ja sehr differenzierend gesagt haben, sich bei der Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes damals auch mit eingebracht und unsere Forderungen unterstützt hätten. Damals habe ich von den ostdeutschen CDU-Abgeordneten eigentlich zuwenig gespürt.
Ursprünglich wollte die Bundesregierung die Zahlbeiträge an alle Berechtigten aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der ehemaligen DDR pauschal auf 1 500 DM kürzen. Die SPD konnte beim RentenÜberleitungsgesetz 1991 erreichen, daß diese Grenze auf 2 010 DM erhöht wurde. Mit dem Korrekturgesetz von 1993 hat die SPD eine weitere Erhöhung auf 2 700 DM erreichen können.Außerdem wurden mehrere Teilgruppen der ehemaligen Mitarbeiter des Staatsapparates völlig aus der Entgeltpunktbegrenzung herausgenommen: Schuldirektoren, Leiter bestimmter Bildungseinrichtungen, Beschäftigte auf der Ebene der Kreise, Gemeinden und Städte. Ich gestehe gerne zu, daß wir da von einem Kollegen aus der F.D.P., Herrn Dr. Menzel, nachhaltig unterstützt wurden.Wenn wir auf unserem Parteitag in Halle beschlossen haben, die SPD wird nach der Bundestagswahl das Renten-Überleitungsgesetz erneut mit dem Ziel überprüfen, das Rentenrecht von Elementen des politischen Strafrechts unter Beachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu befreien, dann steht das nicht nur auf dem Papier, sondern dann steht die gesamte SPD dahinter — und nicht nur die SPD-Abgeordneten aus den neuen Bundesländern,
wie Sie sehr vorsichtig differenzierend bei Ihrer Vorstellung und Ihrer Ankündigung einer Korrektur hier gesagt haben.Die SPD hat beim Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz gezeigt, daß sich die Rentner und Rentnerinnen darauf verlassen können: Wir werden die groben Ungerechtigkeiten durch eine pauschale Abwertung ostdeutscher Lebensläufe im Rentenrecht beseitigen. Es gibt in unserem freiheitlichen Rechtsstaat keine Kollektivbestrafung, und es darf Elemente solcher Kollektivbestrafung auch nicht in unserem Rentenrecht geben. Es gibt ja handfeste Hinweise aus den laufenden Verfahren vor den Sozialgerichten, daß pauschale Kürzungen im Rentenrecht verfassungsrechtlich nicht haltbar sind.Eine weitere Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes ist also unabdingbar. Ich begrüße die CDU-Abgeordneten aus Ostdeutschland als künftige Bundesgenossen bei einer solchen Korrektur.
Ausgangspunkt für unsere Überlegungen sollen die Entscheidungen der Volkskammer aus dem Jahre 1990 sein, die ja von allen Fraktionen getragen wurden. Hier wurde aus dem unmittelbaren Erleben gemeinsam entschieden, welche Leistungen aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen abgeschafft oder abgebaut werden sollten. Diesen Konsens in der Volkskammer, welche Leistungen als überhöht oder als ungerecht zu bewerten sind, werden wir respektieren.Wir werden auch die noch ausstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beachten, nicht weil wir die Korrektur des RentenÜberleitungsgesetzes auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wollen, sondern weil wir keine Flickschusterei betreiben wollen.Bei allen Überlegungen muß auch beachtet werden, daß Mehraufwendungen bei den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen in der Tat zur Hälfte von den ostdeutschen Bundesländern getragen werden müssen, Frau Bläss. Wir von der SPD können es uns da nicht ganz so einfach machen wie die PDS. Wir wollen regieren, und wir regieren auch ganz erfolgreich in vielen Bundesländern. Wir wollen es nicht bei folgenloser Opposition belassen. Deshalb machen wir realistische und durchsetzbare Vorschläge.Ich halte es deshalb für falsch, wenn die PDS in ihrem Antrag die Forderung aufstellt, einen Ausgleich für vermindertes Bruttoeinkommen für Lehrerinnen und Lehrer, für Erzieherinnen und Erzieher sowie für Kindergärtnerinnen in der Rente zu schaffen. Wenn diese Berufsgruppen in der DDR benachteiligt wurden, kann diese politische oder gesellschaftliche Unterbewertung ihrer Arbeit nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung ausgeglichen werden. Sowenig das Rentenrecht als Strafinstrument taugt, sowenig ist es auch geeignet, einen nachträglichen Ausgleich für schlechte Bezahlung zu schaffen.Die SPD wird dem Gesetzentwurf der PDS nicht zustimmen. Die SPD wird mit eigenen Initiativen nach der Bundestagswahl eine umfassende Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes voranbringen. Wir wollen soziale und menschliche Gerechtigkeit für Rentner und Rentnerinnen in Ostdeutschland.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Eva Pohl.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Damen und Herren! Auch dieser in zweiter und dritter Lesung vorliegende Gesetzentwurf der PDS zur Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes atmet in seiner Gesamtheit den Geist des untergegangenen Sozialismus. Nach der Losung: „Füllhörner aller Länder, vereinigt euch! " ist die PDS bestrebt, mit einem umfangreichen Forderungskatalog alle nur denkbaren und theoretisch möglichen Verbesserungen im Bereich des Renten-Überleitungsgesetzes zu erfassen.In diese Strategie paßte auch der noch letzte Woche hier im Bundestag vorgelegte PDS-Antrag zur Einfüh-
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Dr. Eva Pohlrung einer sozialen Grundsicherung, die kostenmäßig überhaupt nicht mehr seriös zu quantifizieren war.Damit bin ich bereits bei meinem ersten Kritikpunkt: der Finanzierbarkeit. Hier heißt es bei Ihnen lapidar:Ein zusätzlicher Bundeszuschuß zur Rentenversicherung in Höhe von rund 62 Mio. DM wird für 1994 erforderlich.Die Nachzahlung der Dynamisierung für alle Bestandsrentnerinnen und -rentner der ehemaligen Zusatz- und Sonderversorgungen erfordert ein Finanzvolumen von rund 1,8 Milliarden DM.Daß Sie sorglos mit fremdem Geld umgehen, meine Damen und Herren von der PDS, ist ja nicht neu
und steht auch in tauriger Tradition der SED. Daß Sie aber — hier möchte ich mich ausdrücklich der Bewertung des Kollegen Dr. Ullmann anschließen, der dies in der ersten Lesung am 14. April geäußert hat — bewußt Erwartungen und Hoffnungen schüren, die niemand erfüllen kann, ist in höchstem Maße fahrlässig.
Zu einem zweiten Punkt. Trotz allen Bemühens, als gewandelte und geläuterte SED zu erscheinen, hätte es Ihnen mehr als gut angestanden, in diesem Zusammenhang einmal über das zutiefst ungerechte Privilegiensystem der DDR ein Wort zu verlieren, das sich gerade auch im damaligen DDR-Rentenrecht fortgesetzt hat.
Haben Sie z. B. das Sonderentlohnungssystem des Ministeriums für Staatssicherheit vergessen?Ein dritter Kritikpunkt muß hier klar und deutlich angesprochen werden. Bei Ihren Entwürfen zur sogenannten sozialen Grundsicherung und zum RentenÜberleitungsgesetz wie auch in dem heute vorliegenden Antrag zum Mehrbedarf der Sozialhilfe geht es gar nicht um Verbesserungsmaßnahmen innerhalb unseres erfolgreichen Rentensystems. Sie wollen weg von der leistungs- und beitragsbezogenen Rente. Sie wollen wieder hin zur sozialistischen Grundrente. Das muß hier deutlich gesagt werden.
Auch wir von der F.D.P. hatten und haben Bauchschmerzen mit politisch motivierten Absenkungen der Rentenbezüge. Eine pauschale Rentenkürzung für bestimmte Personen- oder Berufsgruppen ohne Einzelfallprüfung kann letztendlich nicht der richtige Weg sein. Wir haben bereits erklärt, daß wir in der nächsten Legislaturperiode zu Korrekturen bereit sind. Ich lade jeden ein, hier mitzumachen. Ich glaube nicht, daß Sie dabei auf Proteste stoßen werden.Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ihrem Antrag zum Mehrbedarf der Sozialhilfe in den neuen Bundesländern sagen. Auch dieser Antrag fügt sich in Ihre Vorstellung von einem Staat ein, der im Rahmenseiner Vollkaskomentalität jeder Bürgerin und jedem Bürger finanzielle Hilfen zum Nulltarif verspricht und gewähren will. Wir haben 1991 das Renten-Überleitungsgesetz unter erheblichem Zeitdruck beschlossen. Denn die Menschen in den neuen Bundesländern warteten auf eine schnelle Entscheidung in dieser wichtigen Angelegenheit.Natürlich werden wir noch manchen unbefriedigenden Einzelaspekt in der Rentengesetzgebung im Laufe der nächsten Monate und sicher auch Jahre modifizieren müssen. Dennoch bleibt die Leistung gerade im Rentenbereich beeindruckend: Innerhalb von nur wenigen Wochen sind damals 4 Millionen Renten für 3,1 Millionen Rentner in den neuen Bundesländern umgestellt worden. Diese Regierung hat die Kriegsopferversorgung und -fürsorge eingeführt. Für 150 000 Witwen wurde zum erstenmal überhaupt eine Witwenrente gezahlt. Darauf können wir stolz sein.Den Antrag der PDS/Linke Liste lehnt die F.D.P. ab.Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Dr. Ullmann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider muß ich mich der ablehnenden Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung anschließen.
— „Leider" sage ich deswegen, weil ich in einem Punkt mit dem Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste übereinstimme. Die politisch motivierten Rentenkürzungen sind nicht nur ein Fremdkörper, sondern auch ein Schandfleck in unserem Rentenrecht. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben ihrerseits einen Gesetzentwurf zur Behebung dieses Schadens eingebracht, der in diesem Hause keine Mehrheit gefunden hat. Damit ist freilich verhindert worden, daß dieses Parlament seine Fehlentscheidung selbst korrigiert.Schon in der ersten Lesung habe ich dargetan, daß sich der Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste so weit von den Grundlagen des geltenden Rechts entfernt, daß er in seinem Rahmen keinerlei Realisierungschance hat. Insofern stimme ich den Ablehnungsgründen der Ausschußempfehlung zu.Das gilt freilich nicht für einen Punkt: Die auf Seite 5 — linke Spalte — vorgetragene Begründung mit dem Bundessozialgerichtsentscheid zu MfS-Renten ist grob falsch; ist doch diese Entscheidung mittlerweile Anlaß für ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht, bei dem die politisch motivierten Rentenkürzungen meines Erachtens einen schweren Stand haben werden.Eines freilich darf angesichts des PDS-Entwurfes nicht vergessen werden: Er ist, meine Damen und Herren Kollegen, das Symptom einer nach wie vor kraß ungleichen Vermögensverteilung in den beiden Teilen unseres Landes. Die regierende Koalition hat nichts dazu getan, sie durch einen Lastenausgleich
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Dr. Wolfgang Ullmannabzubauen. Sie hat vielmehr die Vermögenskonzentration im Westen zusätzlich verstärkt,
und das ist ein Problem, das wir sicherlich auch in der nächsten Legislaturperiode weiter auf dem Tisch haben werden.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Rudolf Kraus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versucht die PDS/Linke Liste, sich als Anwalt der Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern zu profilieren. Worum es tatsächlich geht, wurde hier schon mehrfach gesagt. Es geht darum, daß den Mitarbeitern der Stasi und den Spitzenfunktionären des Unrechtsstaates der ehemaligen DDR Höchstrenten aus unserer Rentenversicherung verschafft werden.
Ich bin sicher, daß dieses Täuschungsmanöver nicht gelingen wird. Die Rentnerinnen und Rentner wissen sehr genau, wie es um ihre Interessen bestellt war, als die Vorgängerin der PDS, die SED, noch das Sagen hatte.Seit dem 1. Januar 1992 haben die Rentner in den neuen Bundesländern erstmals Anspruch auf eine dynamische Rente, nachdem sie über Jahrzehnte auf eine in der Regel geringe und bei der Erhöhung von den Launen der SED abhängige Rente angewiesen waren. Am 30. Juni 1990, dem Tag vor der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, lag die Rente in den neuen Bundesländern zwischen 470 und 602 Ostmark.
Dieses Geld war aber damals
von einer Qualität, daß man hier im Westen für 10 Ostmark 1 Westmark kaufen mußte. Jetzt haben die Leute richtiges Geld, das eben nicht in dieser Weise diskriminiert ist.
Am 1. Juli 1994 wird die Eckrente im Osten bei 1 451 DM liegen. Es ist völlig unbestritten, daß die reale Kaufkraft der Rente zwischen 170 und 200 % liegt — selbst unter Berücksichtigung der Mieten und der sonstigen gestiegenen Kosten. Wir sind der festen Überzeugung, daß die Rentner eigentlich die großen Gewinner der Wiedervereinigung sind.
Ich will wegen der Kürze der Zeit auf die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme und deren Schwierigkeiten nicht weiter eingehen.Wir sind seit Monaten, seit Jahren und auch derzeit ernsthaft bemüht, die Nachberechnungen zügig durchzuführen. Die Schwierigkeiten sind ungeheuer. Wir sind aber ziemlich sicher, heuer noch den über 80jährigen auf jeden Fall endgültige Bescheide zukommen lassen zu können und im nächsten Jahr dann auf einen aktuellen Stand zu kommen.Frau Mascher, Sie haben wieder davon gesprochen, daß strafrechtliche Elemente in diesem Rentenrecht enthalten sind. Wir waren uns mit der SPD bei der Aushandlung des Rentenkonsenses einig — damals übrigens auch alle Ostabgeordneten —, daß man genau so verfahren sollte, wie wir verfahren sind. Sie wissen genau, daß nicht strafrechtliche Elemente hier eine Rolle spielen sollen, sondern daß das Privilegiensystem der DDR nicht weiter fortwirken soll in der Zeit der Demokratie. Das ist unser Anliegen.Wenn Sie heute sagen, man müßte Einzelfallprüfungen verlangen, so wissen Sie genau so gut wie wir, daß es völlig ausgeschlossen ist, dann zu Gerechtigkeit zu kommen. Die 15 Leute, denen man den Ehrensold aberkannt hat, die oberste Spitze der DDR, sind heute alle vor Gericht. Quälend langwierig zieht sich das Ganze hin.Mit anderen Worten — ich will Ihnen das nur klarmachen —: Wenn Hunderttausende von Menschen wegen ihrer ideologischen Einstellung oder wegen der Nichtbereitschaft, sich für das System voll einzusetzen, beruflich erhebliche Nachteile hatten, so ist es genauso richtig, daß sicher Hunderttausende berufliche Vorteile deshalb hatten, weil sie sich mit voller Kraft nicht nur für ihren Beruf, sondern auch für das System eingesetzt haben. Daraus sind höhere Gehälter geflossen. Diesen Vorteil wollen wir dadurch ausgleichen, daß wir zu einer gewissen Beschränkung kommen. Sie wissen genauso wie ich, daß das nur noch relativ wenige Leute betrifft, nachdem ja ganze Listen von Berufsgruppen in den einzelnen Hierarchien ausgenommen worden sind.Es ist für mich allerdings interessant zu hören — wenn ich das heute richtig verstanden habe —, daß z. B. Herr Dr. Ullmann bisher der Meinung war: politisches Strafrecht — nein, aber die Renten der Angehörigen des MfS sollte man schon kürzen. Das ist ein Widerspruch, der für mich erst aufgeklärt werden muß.Sie, Frau Mascher, müssen erklären, warum Sie eigentlich dafür sind, daß sämtliche Stasi-Leute — darauf läuft das konkret hinaus —, die nicht bei strafrechtlichen Handlungen erwischt werden bzw. denen nachgewiesen wird, daß sie sich vergangen haben, in Zukunft Höchstrenten bekommen, höhere Renten als die Durchschnittsrenten im Westen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wäre interessant, darüber noch lange zu diskutieren. Wir sind bereit, auftauchende Schwierigkeiten, soweit es geht, aufzugreifen und zu bereinigen. Wir sind allerdings nicht bereit, erstens höhere Renten zu zahlen, als sie im Rentensystem der Bundesrepublik theoretisch überhaupt möglich sind, und zweitens gänzlich
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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Freitag, den 24. Juni 1994 20767
Parl. Staatssekretär Rudolf Krausdarauf zu verzichten, Höhergruppierungen, hohe und höchste Einkommen sowie hohe Privilegien, die in der DDR-Zeit gegolten haben, nahtlos auf unser demokratisches System zu übertragen.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/Linke Liste zur Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes. Dazu liegen drei Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für Drucksache 12/8086? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für Drucksache 12/8087? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Gesetzentwurf. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/8081, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/6217 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.
Ich habe soeben einen Änderungsantrag übersehen.
Er ist durch die Abstimmung über den Gesetzentwurf in zweiter Beratung erledigt.
Da wir den Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt haben, entfällt die weitere Beratung.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zum Mehrbedarf der Sozialhilfe auf Drucksache 12/7463 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Besteht damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 29. Juni 1994, 9 Uhr ein.
Darf ich Sie noch besonders darauf hinweisen, daß die Sitzung am Mittwoch hier in Bonn stattfindet, die Sitzungen am Donnerstag und Freitag dann im Reichstagsgebäude in Berlin.
Die Sitzung ist geschlossen.