Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich bitte Sie, noch einen Moment stehenzubleiben, weil wir der Opfer einer Naturkatastrophe gedenken wollen. Mit Erschütterung haben wir die entsetzliche Nachricht von den schweren Erdbeben erhalten, die die Menschen im Süden und Westen Indiens heimgesucht haben. Das ganze Ausmaß dieser Katastrophe ist uns noch nicht bekannt. Was wir heute wissen, ist, daß dort mehr als 10 000 Menschen den Tod gefunden haben.
Worte fehlen eigentlich im Angesicht einer solchen Tragödie. Unser Mitgefühl gilt den Verletzten und den Angehörigen der Opfer. Der Deutsche Bundestag spricht dem indischen Volk, dem Parlament und der Regierung Indiens seine tiefempfundene Anteilnahme aus.
Ich danke Ihnen, daß Sie sich zum Gedenken an die Opfer erhoben haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Entgeltfortzahlungsgesetzes zu erweitern. Die Beratung soll heute als erster Punkt erfolgen. Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Wort gewünscht? — Das ist der Fall. Das Wort hat der Kollege Rüttgers.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. stellen den Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung aus einem, wie ich finde, wirklich überzeugenden Grund.
Die Pflegeversicherung muß nicht irgendwann, sie muß schnellstmöglich kommen.
Die Lage der Pflegebedürftigen, ihrer Familien und betreuenden Helfer wird nicht besser, wenn wir uns bei der Finanzierung länger verbeißen. Seit mehr als einem Jahr, liebe Kolleginnen und Kollegen, reden wir nun schon über die Finanzierungsfrage. Jedes Argument wurde x-mal hin- und hergewendet. Finanzierungsvorschläge wurden zerredet, ohne daß die Kritiker in der Lage waren, andere Finanzierungsvorschläge vorzulegen.
Wenn es darum ging, die Notwendigkeit der Pflegeversicherung auch in diesem Hause zu beschwören, Herr Dreßler, dann war die Solidarität groß. Wenn es aber darum ging, ihre Finanzierung zu sichern und durchzusetzen, dann war von Solidarität nichts zu spüren.
Dies, meine Damen und Herren, muß jetzt ein Ende haben. Die Menschen erwarten, daß wir handeln. Wir wollen die Pflegeversicherung, und wir wollen sie bald.
In der jetzigen Wirtschaftslage ist die Pflegeversicherung nicht ohne Kompensation finanzierbar. Das ist die Wahrheit, und das weiß jeder, der sich mit diesen Fragen beschäftigt hat. Bis heute morgen hat die SPD nicht gesagt, ob sie zur Kompensation bereit ist.
Auch letzte Woche in der Aktuellen Stunde hat der Vorsitzende der SPD nicht gesagt, ob die SPD bereit ist, eine Kompensationsregelung mitzutragen.
Er ist einer klaren Antwort ausgewichen.
Wenn sich die SPD in dieser Frage verweigert, dann muß die Koalition allein handeln.
Meine Damen und Herren, ich habe gelesen, nach Meinung der SPD soll die Reihenfolge anders sein: Die SPD will zuerst die Leistungen festlegen und danach darüber reden, wie wir sie finanzieren. Ich finde, das
Metadaten/Kopzeile:
15534 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Dr. Jürgen Rüttgersist typisch: Geld ausgeben, ohne vorher zu sagen, woher das Geld kommt.
Der umgekehrte Weg, meine Damen und Herren, ist richtig: Erst wenn die Finanzierung klar ist, kann man sagen, wie hoch die Leistungen in der Pflegeversicherung sein können. Das ist seriöse Politik. Deshalb bitten wir, hier heute über dieses Gesetz zu beraten und dem Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung zuzustimmen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Ottmar Schreiner.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe selten einen so albernen Geschäftsordnungsbeitrag gehört wie den, der gerade vom Kollegen Rüttgers geleistet wurde.
Um an einem Punkt anzufangen: Es ist der ganz normale Vorgang, daß man sich erst die Leistung ansieht und anschließend darüber redet, was es kostet und wie es finanziert werden kann. Herr Kollege Rüttgers, wenn Sie sich im Geschäft einen Hut kaufen, legen Sie nicht zuerst das Geld hin, sondern sehen sich zuerst den Hut ausführlich an, probieren ihn, setzen ihn auf.
— Wenn Sie dem „Rüttgers-Club" beitreten wollen, können Sie den Hut auch durch einen Zylinder ersetzen.Meine Damen und Herren, sollte es heute zur abschließenden Lesung des im Volksmund zu Recht „Lohnraubgesetz" genannten Entwurfs der Koalitionsfraktionen kommen,
der die Entgeltkürzung an Feiertagen vorsieht, so wäre dies auch verfahrensrechtlich neben den massiven inhaltlichen Bedenken ein höchst zweifelhaftes Unternehmen.
Es ist schon ungewöhnlich genug, daß die Koalitionsfraktionen den eigenen Gesetzentwurf entweder gar nicht oder nur spärlich kennen. In den Ausschußberatungen am Mittwoch dieser Woche sahen sich die Koalitionsfraktionen über weite Strecken der Beratungen nicht in der Lage, die von ihnen selbst gestellten, aber von anderen aufgeschriebenen Änderungsanträge auch nur zu begründen.
Jedenfalls sind unabhängig davon die parlamentarischen Minderheitenrechte der Opposition im Laufe des Verfahrens in mehreren Punkten eindeutig verletzt worden. Es ist rechtlich schon sehr fragwürdig, ob — wie von der Koalition durchgesetzt — auf eine erste Lesung dieses neuen sogenannten Kompensationsgesetzes verzichtet werden kann. Es handelt sich immerhin um einen substantiell völlig anderen Vorschlag als den der Entgeltkürzung im Krankheitsfall. Auch sind die Begründungen in entscheidenden Punkten gewechselt worden. Die wesentliche Begründung für die Karenztage war die sogenannte Mißbrauchsrate.Es ist sodann im Rahmen der Anhörungsverfahren mehrfach zu Verletzungen der parlamentarischen Minderheitenrechte gekommen. Das Recht auf die Durchführung einer Sachverständigenanhörung ist ein klassisches Minderheitenrecht der Opposition, meine Damen und Herren. Am Donnerstag der vergangenen Woche hat die SPD-Fraktion beantragt, eine Anhörung zum hier in Rede stehenden „Lohnraubgesetz" durchzuführen. Die Koalition stimmte diesem Begehren der SPD zu, allerdings mit der Maßgabe, die Anhörung bereits am Dienstag dieser Woche durchzuführen. Dazu haben wir nein gesagt, weil in der Regel eine Vier-Wochen-Frist zwischen der Einladung der Sachverständigen und dem Anhörungstermin besteht.
Nachdem die SPD nicht damit einverstanden war, innerhalb von wenigen Tagen eine Anhörung nach dem Schweinsgaloppverfahren durchzuführen, verfiel die Koalition in eine Trotzphase und erklärte anschließend, es bedürfe gar keiner Anhörung, da es sich um substantiell keinen anderen Gesetzesvorschlag handele.
Nach einigen Stunden, nachdem die Trotzphase abgeklungen war, stellte die Koalition ihre eigenen Argumente wieder vom Kopf auf die Beine und begehrte nun ihrerseits eine Anhörung im Rahmen einer Sondersitzung des Ausschusses, da sie offenkundig Anhörungsbedarf hatte.Innerhalb von wenigen Stunden sind innerhalb eines Tages die Begründungslinien der Koalitionsfraktionen dreimal in einer zentralen Frage, in der es um ein klassisches Minderheitenrecht der Opposition geht, massiv geändert worden. Sie haben sich, was die Verfahrensentscheidungen im Parlament angeht, wirklich nur noch lächerlich gemacht.
Ich möchte Ihnen sagen, daß es sich hier um ein Meisterstück der Konfusionsakrobaten der Koalition handelt. Denn wenn man das Wochenende herausrechnet — Sie hatten am Donnerstagabend beantragt, die Anhörung am kommenden Montag durchzuführen —, gab es nicht einmal einen einzigen Tag zur Vorbereitung für die Sachverständigen und die Parlamentarier. Ich sage Ihnen nochmals: In der Regel sind es vier Wochen. Dies geschah vor dem Hintergrund
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15535
Ottmar Schreinereines Gesetzentwurfes, der höchst komplizierte verfassungs-, tarif- und arbeitsrechtliche Fragen aufwirft und der zudem gesellschaftspolitisch äußerst umstritten ist, da zum erstenmal in der Nachkriegsgeschichte durch den Gesetzgeber massiv in die Tarifautonomie eingegriffen wird.Ich sage Ihnen nur beiläufig: Üblicherweise werden die Ausschußberatungen zu einem Gesetzentwurf erst beendet, wenn das schriftliche Protokoll der Anhörung, das ja ausgewertet werden soll, vorliegt. Auch davon kann hier im vorliegenden Fall überhaupt keine Rede sein. Die mitberatenden Ausschüsse haben sich entweder gar nicht oder bestenfalls am Rande der Problemlage angenommen, weil die Zeitabläufe so waren, wie sie von Ihnen festgesetzt wurden.Ich darf abschließend bewerten, meine Damen und Herren: Dieses Schweinsgaloppverfahren, das uns da von der Koalition aufgenötigt worden ist, höhlt faktisch Minderheitenrechte der Opposition aus. Die Mitglieder der Mehrheitsfraktionen lassen sich mutwillig zu Abstimmungsmaschinen, zu Absegnungsmaschinen der Exekutive degradieren. Das ist Ihr eigentliches Problem.
Wenn Sie damit einverstanden sind, daß Sie in Zukunft zu einer Art parlamentarischem Hanswurst der Exekutive werden, ist das Ihr Bier.
Herr Kollege, Ihre Redezeit in der Debatte zur Geschäftsordnung ist beendet.
Ich wollte nur noch einen Satz sagen.
Einen Satz, aber wirklich nur einen Satz dürfen Sie noch sagen.
Ich darf noch einen Satz aus einer Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen vor drei Tagen zitieren. Da heißt es: „Die Spitzenverbände der Krankenkassen bekräftigen ihre Auffassung, daß ein Festhalten an dem Termin für das Inkrafttreten der Pflegeversicherung am 1. Januar 1994 zu einem organisatorischen Chaos bei der Pflegeversicherung und damit auch bei der Krankenversicherung führen wird. "
Was ist also der Grund für diesen Schweinsgalopp?
Sie haben keinen Grund. Sie handeln nach dem Motto: Wat mutt, dat mutt.
Herr Kollege, jetzt ist Ihre Redezeit wirklich beendet. Nun hat der Kollege Manfred Richter das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß der Kollege Schreiner
hier einen angeblichen Volksmund zitiert, der auf denNamen Wulf-Mathies hört, beeindruckt mich wenig.
Aber das, was er uns hier über einen Hutkauf erzählt hat, ist schon bedenklich. Ich weiß nicht, Herr Schreiner, wie Sie das machen. Wenn ich einen Hut kaufe, dann überlege ich erst einmal, ob ich genug Geld haben, den am Ende auch zu bezahlen.
Aber das geht bei Herrn Schreiner wie immer nach der Devise „Dat j oot up Diners". Am Ende wundert er sich über die große Rechnung.
Nein, die SPD, die Opposition, muß sich irgendwann einmal auf eine schlüssige Argumentation einigen. In der Aktuellen Stunde letzte Woche hier im Hause hat sich Herr Dreßler zu der Behauptung verstiegen, die F.D.P. habe kein Interesse an der Pflegeversicherung.
Jetzt wollen wir sie auf den Weg bringen, und nun ist es auch nicht richtig, meine Damen und Herren.
Die F.D.P. will nicht nur die Pflegeversicherung. Wir wollen eine zuverlässige, dauerhafte und stabile Finanzierung, und wir wollen sie zügig, damit Tausenden von Pflegebedürftigen geholfen werden kann, und zwar ab dem 1. Januar 1994, meine Damen und Herren.
Eines ist doch wohl klar: Wenn wir heute hier nicht abschließend über das Entgeltfortzahlungsgesetz entscheiden, wird es auch keine Pflegeversicherung zum 1. Januar 1994 geben. Das, was die SPD bisher beigetragen hat, ist außer der Leerformel, daß die Pflegeversicherung solidarisch finanziert werden soll, gar nichts. Das Wort „Kompensation" kommt im sozialdemokratischen Vokabular nicht vor.
Sie von der Opposition wissen nur, was Sie alles nicht wollen. Nennen wir es beim Namen: Sie wollen gar keine Kompensation der Kosten.
Keine Kompensation, meine Damen und Herren, bedeutet aber: weitere Erhöhung der Arbeitskosten.
Metadaten/Kopzeile:
15536 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Manfred Richter
Das heißt im Klartext: Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen.
Wenn Mercedes-Benz im Ausland investiert, weil dort geringere Kosten anfallen, und zwar nicht in irgendeinem Entwicklungsland,
sondern in Alabama in den Vereinigten Staaten, dann müßte Ihnen das doch zu denken geben, meine Damen und Herren.
Die Argumente sind hinreichend ausgetauscht worden. Wir haben zwei Anhörungsverfahren durchgeführt. Das jetzt vorgelegte Kompensationsmodell ist auch schon in der ersten Anhörung Gegenstand der Beratung gewesen. Es ist doch nicht neu für Sie.Der jetzige Vorschlag hat im Vergleich zu den Karenztagen eine überzeugendere Wirkung, weil durch das Entgeltfortzahlungsgesetz alle Arbeitnehmer einen Beitrag für die Pflegebedürftigen erbringen, während vorher nur die Kranken einen Beitrag erbracht hätten.Meine Damen und Herren, alles, was Sie hier aufführen, ist eine Verzögerungstaktik. Ich finde das nicht richtig, ich finde das unverantwortlich. Ich bitte Sie, unserem Aufsetzungsantrag zuzustimmen.
Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste wird gegen den Aufsetzungsantrag stimmen.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, selbst wenn Ihnen dank gesicherter Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause und dank der Heranziehung sämtlicher Geschäftsordnungstricks die kurzfristige Aufsetzung gelingen wird, die heutige zweite und dritte Lesung des Entgeltfortzahlungsgesetzes verstößt gegen alle Regeln der parlamentarischen Kunst.
In einem Eilverfahren sondergleichen wird hier ein Gesetz durchgepeitscht. Nach dem peinlichen Durchfaller des Karenztagemodells bei der ersten Sachverständigenanhörung lag in Windeseile ein völlig neues Modell, die Lohnkürzung an zehn Feiertagen, verharmlosend als Änderungsantrag zum Entgeltfortzahlungsgesetz getarnt, auf dem Tisch.
Ich halte es für eine Zumutung, wie mit uns Abgeordneten der Opposition hier umgegangen worden ist.
So wollte man sich im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung eine Einführung des Änderungsantrages ersparen mit der Begründung — ich zitiere —: „Sie kennen das Modell ja bereits aus der Presse."
Das Eiltempo, mit dem die jetzt vorliegende Version des Entgeltfortzahlungsgesetzes abgesegnet werden soll, ist in der Tat rekordverdächtig: Am Donnerstag vergangener Woche lagen die Änderungsvorschläge auf dem Tisch. Am gleichen Abend wurde die Anhörung beschlossen; Herr Kollege Schreiner hat bereits darauf verwiesen. Am Montag dieser Woche fand sie dann statt. Selbst für die Sachverständigen war das Ganze eine Zumutung. Heute soll das Gesetz durchgezogen werden.
Meine Damen und Herren, das Entgeltfortzahlungsgesetz wurde zusammen mit dem Regierungsentwurf eines Pflegeversicherungs-Gesetzes eingebracht mit der Begründung, es sei als Kompensation für die damit entstehenden Kosten gedacht — freilich nur für die Arbeitgeberseite, möchte ich hinzufügen. Abgesehen davon, daß ich ein solches Modell ablehne, denn mit solidarischer Lastenverteilung hat das absolut nichts zu tun, stelle ich fest, daß es jetzt offensichtlich nicht einmal mehr darum geht. Schließlich steht heute eine gesetzliche Regelung der Absicherung des Pflegerisikos überhaupt nicht zur parlamentarischen Debatte. Es geht um nichts anderes mehr als darum, ein Exempel für den offenen Ausstieg aus dem Sozialstaat zu statuieren. Das ist eine Absage an das verfassungsrechtlich verbriefte Sozialstaatsgebot. Wie soll man eine staatlich sanktionierte Lohnkürzung, die obendrein ein Angriff auf die Tarifautonomie ist, sonst bezeichnen?
Es ist bezeichnend, daß die für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer damit verbundenen Konsequenzen überhaupt nicht thematisiert werden und der landesweite Protest der Gewerkschaften in diesem Hause nach wie vor ignoriert wird.
Meine Damen und Herren, was sich in den letzten Wochen vor und hinter den Kulissen im Rahmen der Pflegedebatte abgespielt hat, ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen und fördert die Politikverdrossenheit hierzulande.
Nun hat zur Geschäftsordnung der Kollege Werner Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Richter, was mich vor allen Dingen stört, ist der Tanz um einen alten Hut, der hier aufgeführt wird; denn die Geschäftsordnungsdebatte wird keine Überraschung bringen. Hier zählen keine Argumente,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15537
Werner Schulz
sondern Stimmen. Das werden wir erleben, und das läßt sich ja bereits im Vorfeld berechnen. Wenn ich hier ins Rund schaue, dann kommt mir das mehr wie ein Zählappell vor, wie ein Massendurchsatz, nicht aber wie das Prüfen von Argumenten.
Dabei spricht vieles gegen die Aufsetzung des Entgeltfortzahlungsgesetzes. Welch schleierhafter Begriff allein dies ist; so schleierhaft wie das Verfahren, um das wir uns hier streiten.Ich bezweifle, daß überhaupt eine beratungsfähige Vorlage gegeben ist. Ständig sind in den letzten Tagen Veränderungen vorgenommen worden. Sie wissen ja selbst manchmal nicht mehr, was der letzte Stand ist.Schon das kurzfristige Herausnehmen der Beamten läßt micht daran zweifeln, daß wir hier überhaupt noch um die Finanzierung der Pflegeversicherung streiten; vielleicht beschließen wir hier ein generelles Lohnkürzungsgesetz, das uns Herr Rexrodt in seinem Standortpapier bereits avisiert hat.
Es wird ein eminent hoher, ein horrender Preis durchgepeitscht, für den überhaupt keine Ware vorliegt. Diese Trennung von Inhalt und Finanzierung ist erschreckend und zeigt Ihren Realitätsverlust.Zum anderen möchte ich sagen: Die verfassungsrechtliche Prüfung der Vorlage ist nicht gegeben; denn das, was bisher vorliegt, bezieht sich auf die Karenztage.Es gibt also, um das zusammenfassen, gute Gründe, die gegen die Aufsetzung der heutigen Beratung sprechen. Wenn Sie sich dennoch dafür aussprechen, zeugt das für mich nur davon, daß der Koalition bei all dem Gezerre der letzten Tage offensichtlich der Blick für das Ganze abhanden gekommen ist.
Zur Geschäftsordnung erhält das Wort der Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Aufsetzungsantrag der Koalitionsfraktionen soll das Entgeltfortzahlungsgesetz buchstäblich durchgepeitscht werden. Einer verständigen, abwägenden Beratung durch dieses Parlament spricht dieses Durchpeitschen Hohn. Die gedruckte Beschlußempfehlung des zuständigen Bundestagsausschusses z. B. liegt erst heute vor. Wir können sie erst jetzt, während der Debatte, zur Kenntnis nehmen.
Wer immer sich dieses Verfahren ausgedacht haben mag, der Sache und den Bürgern und Bürgerinnen kann er damit nicht dienen wollen. Er führt zudem dieses Parlament geradezu vor. Drastischer läßt sich kaum demonstrieren, wer hier wirklich das Sagen hat, nämlich die Fraktions- bzw. die Parteiführungen — und das nach dem Hamburger Wahlergebnis.
Es drängt sich weiterhin geradezu der Eindruck auf, daß hier auf die ganz Schnelle ein Exempel angebotsorientierter, radikalliberaler, unsozialer Politik statuiert werden soll, ein Exempel, das der Wirtschaft in jedem Fall ein Geschenk in Milliardenhöhe zukommen lassen soll, unabhängig von der überfälligen Regelung der Pflegeversicherung. Dieses undurchdachte Hauruckverfahren soll zudem womöglich eine Art Eröffnungsoffensive gegen die Tarifautonomie sein. Ist das der Auftakt für die seit langem geplante Deregulierungsoffensive auf dem Arbeitsmarkt, zu Lasten der Rechte der abhängig Beschäftigten und der Gewerkschaften?
Die Trennung der Regelung von Lohnfortzahlung und Pflegeversicherung in dieser parlamentarischen Beratung und Beschlußfassung muß als solche doch schon alarmieren. Soll etwa die mit dem Eingriff in gültige Tarifverträge verbundene sogenannte Entlastung der Wirtschaft in jedem Fall wirksam werden? Soll sie auch dann und in dieser jetzt vorliegenden, absolut unsozialen Form Bestand haben, wenn die Koalition doch noch eine privatversicherungsrechtliche Lösung oder eine Alleinbeitragszahlung durch die Arbeitnehmer ins Auge faßt? Die Tatsache, daß mit der vorgesehenen Verschlechterung der Lohnfortzahlung an Feiertagen, mit diesem kalt geplanten Lohnraub die Beiträge der Wirtschaft mehr als ausgeglichen werden, deutet doch in diese Richtung.
Wie wir also sehen, sind nicht nur die Unzulänglichkeiten der parlamentarischen Beratung und Beschlußfassung rundheraus eine Zumutung für dieses Haus; auch die Trennung der beiden Gesetze muß jeden sozial und parlamentarisch verantwortungsbewußten Abgeordneten dazu bringen, dieses Verfahren und dieses Lohnfortzahlungsgesetz abzulehnen.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.
Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Aufsetzungsantrag angenommen.Ich rufe damit den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt auf:Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Entgeltfortzahlungsgesetzes— Drucksachen 12/5263, 12/5616, 12/5760, 12/5772 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/5798 —Berichterstattung:Abgeordnete Heribert ScharrenbroichGerd AndresDr. Eva Pohl
Metadaten/Kopzeile:
15538 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Vizepräsidentin Renate Schmidtb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/5805 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd StrubeIna AlbowitzDie Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. schlagen eine Debattenzeit von zwei Stunden vor. Besteht darüber Einverständnis? Gibt es anderweitige Vorschläge?
— Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich weise darauf hin, daß wir am Ende dieser Debatte eine namentliche Abstimmung haben werden, um ca. 11.30 Uhr.Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat das Wort der Kollege Heribert Scharrenbroich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedanke mich bei diesem Hohen Hause, daß es uns geholfen hat, daß wir den nächsten Schritt hin zur Pflegeversicherung tun können. Die christlich-liberale Koalition läßt die Pflegebedürftigen und die vielen Menschen, die ihre Verwandten zu Hause pflegen, nicht im Stich.
Sie führt deshalb zum 1. Januar 1994 mit der Pflegeversicherung eine neue Sozialversicherung ein. Für die christlich-liberale Koalition war immer klar, daß diese neue Versicherung die Personalkosten in Wirtschaft und Verwaltung nicht weiter erhöhen darf. Es müssen also an anderer Stelle Abstriche gemacht werden. Ich bin sicher, die Bevölkerung versteht das besser als die sozialdemokratische Opposition dieses Hauses.
Heute beraten wir in zweiter und dritter Lesung das Entgeltfortzahlungsgesetz. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich ein Gesetz, mit dem wir sicherstellen, daß die Pflegeversicherung verwirklicht wird, ohne Arbeitsplätze zu gefährden.
Die Kosten, die der Wirtschaft aus dieser Pflegeversicherung entstehen, werden kompensiert.
Den Vertretern der Wirtschaft sage ich: Behandeln Sie es nicht als Betriebsgeheimnis, daß zumindest für die Zeit, in der der Pflegeversicherungsbeitrag nur 1 % beträgt, die Arbeitgeberbeiträge mehr als ausgeglichen werden. Ich gehe auf den Zwischenruf ein, daß es eine Überkompensation ist, und sage: Ja, wir halten die Entlastung der Wirtschaft in dieser schwierigen wirtschaftlichen Frage für richtig. Auch als Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe sage ich: Wir sind gern bereit, diesen Beitrag zur Überwindung der Krise zu erbringen, und deswegen halten wir es für richtig, daß jetzt eine Überkompensation durchaus in Kauf genommen wird.
Die Pflegeversicherung führt in der jetzigen schwierigen wirtschaftlichen Phase nicht zu einer Belastung, sondern zu einer Entlastung der Wirtschaft.
— Die Menschen werden vor allen Dingen dann belastet, wenn immer mehr Arbeitsplätze verlorengehen.
Wir müssen die Sozialpolitik — das gehört zum Umbau des Sozialstaates — mit der Wirtschaftspolitik verbinden.
— Machen Sie ruhig noch mehr solche Zwischenrufe— ich komme auf den Lohnraub noch zu sprechen —, das offenbart nämlich Ihre totale Unfähigkeit mitzuhelfen, daß wir die wirtschaftliche Strukturkrise überwinden.
Ich wiederhole: Die Arbeitsplätze können nicht mit weiteren realen Personalkosten belastet werden. So schwer es mir auch fällt, aber auf Grund meiner Überzeugung sage ich: Wir müssen weitergehen; wir müssen den Menschen in Westdeutschland sagen, daß ihre Kaufkraft in der nächsten Zeit abnehmen wird. Wir müssen ihnen sagen, daß wir mehr arbeiten müssen, und wir müssen auch an Tagen, an denen nicht gearbeitet wird, auf Entgelt in bescheidenem Umfang verzichten.Je früher wir den Menschen sagen, daß diese Opfer jetzt notwendig sind, desto geringer werden diese Opfer letzten Endes sein. Das ist auch soziales Verhalten.
Das heute zu verabschiedende Gesetz ist ein weiterer Etappenerfolg zur Verwirklichung der Pflegeversicherung zum 1. Januar 1994. Ich muß mich bei den Beamten des Bundesarbeitsministeriums sowie bei den Mitarbeitern des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung und den Mitarbeitern der Fraktionen dafür bedanken, daß sie bei einer teilweise unvorstellbaren Arbeitsbelastung mitgeholfen haben, daß dieses Gesetz heute verabschiedet werden kann.Ich bedanke mich auch bei der Opposition im Bundestagsausschuß für Arbeit und Sozialordnung,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15539
Heribert Scharrenbroichdaß sie nicht alle geschäftsordnungsmäßigen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, sondern den Mehrheitswillen dieses Parlaments respektiert hat.
Lassen Sie mich zu den Verleumdungen und Verdrehungen der SPD deutlich sagen: Das, was wir heute beraten, ist kein von den Arbeitgebern so gewolltes Gesetz. Der heute zur Debatte stehende Vorschlag, nämlich an zehn bundeseinheitlichen Feiertagen Löhne und Gehälter um 20 % zu senken, stammt nicht von den Arbeitgeberverbänden.Ich gebe zu Protokoll, daß erstens dieser Vorschlag von unserer Kollegin Sigrun Löwisch am 25. April dieses Jahres dem Vorsitzenden unserer Fraktion übersandt wurde, daß zweitens die Christlich-Soziale Arbeitnehmerschaft Bayerns am 17. Juli 1993 unter Vorsitz unseres Kollegen Peter Keller einen im Grunde gleichen Vorschlag auf ihrer Landestagung verabschiedet hat
und daß sich drittens die Arbeitnehmergruppe unter meinem Vorsitz am 1. September 1993 diesen Vorschlag zu eigen gemacht hat und am gleichen Tag der Presse vorstellte.
Danach erst haben die Arbeitgeberverbände, und zwar mit einer ganz anderen Zielsetzung, einen ähnlichen Vorschlag gemacht.Da Sie immer so gerne versuchen, die CDA, die Sozialausschüsse hier in die Pflicht zu nehmen, darf ich aus dem Beschluß des Bundesvorstandes der CDA vom 10. September 1993 zitieren:Die CDA schlägt als Kompensation eine Feiertagsregelung vor, wonach an zwei Feiertagen im Jahr die Entgeltfortzahlung entfällt, sofern sich der einzelne Arbeitnehmer nicht zwei Urlaubstage anrechnen läßt.Das ist im Grunde genau das, was wir heute beschließen.
Ich gebe zu, der Weg bis hierhin war schwierig. Wir haben die Bürger im Lande zu keiner Zeit darüber im unklaren gelassen, daß das Projekt Pflegeversicherung nicht einfach durch Ausgabenerhöhung gelöst werden kann, sondern zwangsläufig mit einem Umbau des Sozialstaates verbunden sein wird. Dies bedeutet den teilweisen Verzicht auf Leistungen, an die wir uns gewöhnt haben, und zwar zugunsten eines höherwertigen Gutes, nämlich des Anspruchs auf Leistungen aus der Pflegeversicherung. Die Konzeption der Pflegeversicherung war deshalb von Anfang an darauf angelegt, daß die auf die Arbeitgeber zukommenden Mehrausgaben zu kompensieren sind. Auch dieses bedeutet Umbau des Sozialstaates.
Herr Kollege Scharrenbroich, würden Sie gegebenfalls eine Zwischenfrage vom Kollegen Ilja Seifert gestatten?
Nein, ich glaube nicht, daß ich den Kollegen Seifert überzeugen kann. Er ist so festgelegt
— das hat er durch seine Zwischenrufe bewiesen —, so daß ich das nicht machen möchte.
— Nein, überhaupt nicht. Das hält nur auf. Ich möchte das jetzt gern im Zusammenhang vortragen. Wenn jemand wirklich Fragen hat, dann trete ich gern in den Dialog ein.Vorgesehen ist folgendes: Die durch Bundesgesetz angeordnete volle, hundertprozentige Lohnzahlung an Feiertagen wird an den zehn Feiertagen, die in allen Bundesländern einheitlich bestehen, um jeweils 20 % gekürzt. Also lediglich 20 % Einbuße an maximal zehn Tagen des Jahres, an denen ohnehin nicht gearbeitet wird, und dieses über das ganze Jahr verteilt. Der Einkommensverlust für diese enorm wichtige Aufgabe der Pflegeversicherung beträgt für den Durchschnittsverdiener im Westen netto ganze 18 DM pro Feiertag, für den Durchschnittsverdiener im Osten 13 DM im Monat.Aber selbst diese doch verhältnismäßig geringe finanzielle Einkommenseinbuße kann durch die Anrechnung von zwei Urlaubstagen vermieden werden. Mit durchschnittlich etwa 30 Urlaubstagen liegt Deutschland international mit an der Spitze. Selbst wenn alle Arbeitnehmer auf zwei Urlaubstage zugunsten der Pflegeversicherung verzichten, haben die deutschen Arbeitnehmer immer noch mehr Urlaub als ihre Kollegen in anderen westlichen Ländern.
Keiner soll also davon sprechen, daß unser Vorschlag sozial unverträglich sei.
Die Nachteile bei der Feiertagslohnzahlung sind vernachlässigenswert gering,
setzt man sie ins Verhältnis zu den großen Vorteilen, die im Falle der Pflegebedürftigkeit nunmehr jedem gewährt werden. Deswegen machen wir das.
Wer da von Lohnraub spricht, der verhetzt die Arbeitnehmer,
behindert den Strukturwandel, gefährdet den sozialen Frieden, und gefährdet viele Arbeitsplätze. Damit geht die Sozialdemokratische Partei heim.
Metadaten/Kopzeile:
15540 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Heribert ScharrenbroichIch weiß, daß mit unserer Regelung gewisse verfassungsrechtliche Fragestellungen aufgeworfen werden.
Die gesetzliche Einführung der Feiertagslohnabsenkung beruht jedoch auf einer Wertentscheidung des Gesetzgebers im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums zum grundlegenden Umbau des Sozialstaates. Der Gesetzgeber folgt seiner Verpflichtung zur Konkretisierung des Gemeinwohls, während Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften hier ihre durchaus legitimen Interessenvertretungen einbringen. Deshalb ist dieser Eingriff auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Insoweit kann ich auf die bereits geführte Debatte über die Bleichgelagerte Problematik bei der ursprünglich geplanten Einführung einer Selbstbeteiligung der Arbeitnehmer im Krankheitsfall verweisen.Nach den Äußerungen der Verfassungsressorts der Bundesregierung und namhafter Rechtswissenschaftler zu diesem Thema sind die Mehrheitsfraktionen dieses Hohen Hauses überzeugt, daß dieser Eingriff in die Tarifautonomie zulässig ist. Dies wird schon dadurch begründet, daß es auch für diesen Bereich den Tarifvertragspartnern in Zukunft weiter überlassen bleibt, eigenverantwortlich Regelungen zu treffen. Ebenso wie bei dem sogenannten Karenztagsmodell bleibt auch hier die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien für die Zukunft unberührt. Ein solcher punktueller Eingriff in die Tarifverträge verletzt die verfassungsrechtlich gewährleistete Tarifautonomie auf keinen Fall in ihrem Kernbereich. Und darauf kommt es an.Daß es sich bei der Lohnzahlung an Feiertagen nicht um den Kernbereich der Tarifautonomie handelt, ergibt sich im übrigen auch daraus, daß der Gesetzgeber diese Frage in einem eigenen Gesetz seit 1951 generell geregelt hat. Wäre dies Kernbereich, hätte der Gesetzgeber gar nicht tätig werden dürfen.Im übrigen ist der Eingriff als sozialstaatlich gebotener Ausgleich für die zusätzlichen Belastungen durch die soziale Pflegeversicherung gerechtfertigt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dadurch berücksichtigt.Zu dem sehr formalen Einwand des Kollegen Schreiner, die Protokolle der letzten Anhörung seien noch nicht geschrieben, will ich einmal ganz deutlich sagen, daß mit Ausnahme der Gewerkschaften und eines Wissenschaftlers alle Sachverständigen im letzten Hearing keinen Zweifel hatten, daß das, was wir machen, verfassungsrechtlich nicht anzuzweifeln ist. Das ist wichtig.
Herr Kollege Scharrenbroich, es gibt nochmals den Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Hans Büttner.
Bitte schön.
Herr Kollege Scharrenbroich, würden Sie mir zumindest zugeben, daß die zu dieser im Schweinsgalopp durchgeführten Anhörung am Montag dieser Woche eingeladenen Verfassungswissenschaftler nur von Ihrer Seite geladen worden sind, weil wir innerhalb dieser kurzen Zeit gar nicht die Möglichkeit hatten, entsprechende Wissenschaftler hinzuzuziehen?
Nein, Herr Kollege Büttner, überhaupt nicht. Das Datum dieser Anhörung ist gemeinsam ausgehandelt worden,
und ab sofort konnten die Experten eingeladen werden. Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben und freuen uns, daß diese Herren gekommen sind.
Die neu gefundene Lösung belastet alle Arbeitnehmer in gleicher Weise. Einen gleichwertigen Beitrag werden wir — das ist selbstverständlich — für alle Beamten und Richter im eigentlichen Pflegegesetz regeln. Selbstverständlich werden auch die Minister und Staatsminister in gleichem Umfang herangezogen.Die Eile, mit der wir dieses Kompensationsgesetz durch den Bundestag gebracht haben, ist vor allem dadurch entstanden, daß wir unser ursprüngliches Pflegekonzept in einem entscheidenden Punkt verbessert haben. Das muß man den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Denn nicht erst ab Januar 1996 soll dieses Gesetz die Pflegebedürftigen absichern, nein, wir haben die Hilfe für die häusliche Pflege um zwei Jahre auf den 1. Januar 1994 vorgezogen. Aber wir sind gerne bereit, diese Eile hinzunehmen, wenn es denjenigen, die zu Hause gepflegt werden, und denjenigen, die zu Hause diese Pflege leisten, hilft.
Die fast 2 Millionen Menschen, die in aufopfernder Weise zu Hause ihre Angehörigen und Freunde pflegen, sollen diese Hilfe vom 1. Januar 1994 an bekommen. Deswegen sind auch die Gewerkschaften aufgefordert, mit ihrer Kampagne gegen das Entgeltfortzahlungsgesetz innezuhalten.
Es hat mich erschüttert, daß sich die Gewerkschaftsvertreter im Hearing sogar zu der Behauptung verstiegen haben, wir brauchten keinen Umbau des Sozialstaates. Auf Nachfrage ist dies bestätigt worden.
Die Gewerkschaften sollten innehalten, sonst gehen die Gewerkschaften ebenso wie die SPD mit dem Vorwurf heim, daß sie nicht die Lobby der Pflegebedürftigen sind. Die Gewerkschaften dürfen nicht nur die Lobby der Erwerbstätigen sein, sondern sie müs-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15541
Heribert Scharrenbroichsen die Sorge und Nöte der Pflegebedürftigen und der pflegenden Angehörigen auch sehen.Meine Damen und Herren, es wundert einen allmählich nicht mehr, daß die Gewerkschaften — ich sage das eigentlich mit Trauer — zunehmend an Mitgliedern und Bedeutung verlieren,
wenn sie sich unfähig erweisen zum sozialen Umbau. Wir können nicht mehr draufsatteln, sondern wir müssen umbauen. Das heißt, wir müssen irgendwo anders etwas wegnehmen.
Wer dies nicht sieht, der gefährdet Arbeitsplätze. Ich weiß, daß die Gewerkschaften Arbeitsplätze sichern wollen,
aber dann müssen sie auch darüber nachdenken, welche Konsequenzen sich aus dieser Haltung ergeben, die sie an den Tag legen.Herzlich wenig haben sich Opposition und Gewerkschaft mit einem zumindest ebenso wichtigen Teil dieses Gesetzes beschäftigt, nämlich der Regelung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Sie beinhaltet eine umfassende Neugestaltung der Entgeltsicherung im Krankheitsfalle für alle Arbeitnehmer sowie für die im Bereich der Heimarbeit Beschäftigten.Durch das neue Gesetz wird die verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten beseitigt. Darüber hinaus werden auch alle geringfügig und kurzzeitig Beschäftigten in die Entgeltfortzahlung einbezogen. Damit steht die Neuregelung im Einklang mit EG-Recht und trägt der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesarbeitsgerichtes Rechnung.Die bisher für die neuen Bundesländer noch fortgeltenden Vorschriften des Arbeitsgesetzbuches der DDR über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall werden aufgehoben und durch die für das gesamte Bundesgebiet einheitliche Regelung ersetzt.Wie im geltenden Recht hat der Arbeitnehmer auch künftig einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für eine Dauer von bis zu sechs Wochen. Um Mißbrauch zu verhindern, werden allerdings zukünftig die Vorschriften über die Anzeige- und Nachweispflicht der Arbeitnehmer verschärft. Dies war ein politisch streitiger Punkt im Ausschuß. Ich möchte deswegen noch einmal sagen: Zwar muß jeder Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit nach dem dritten Tag durch Vorlage eines ärztlichen Attestes nachweisen. Der Arbeitgeber kann aber auch verlangen, daß dies am ersten Tag geschieht. Hierdurch entsteht eine flexible Regelung, die den Arbeitgeber in den Stand setzt, einem Mißbrauch vorzubeugen.Ich sage: Diejenigen, die nur dann der Arbeit fernbleiben — das sind die meisten Arbeitnehmer —, wenn sie krank sind, werden mit dieser Regelung zur Mißbrauchsbekämpfung sehr einverstanden sein; erst recht, wenn sie öfter für Kolleginnen oder Kollegen mitarbeiten mußten, bei denen der starke Verdacht bestand, daß sie nicht krank waren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte die restliche Zeit noch dazu benutzen, die Mär zu zerstören, daß wir — wie Herr Schreiner in seiner Sprache sagt — dies im „Schweinsgalopp" beraten haben. Im Ausschußbericht heißt es, daß wir dieses Gesetz am 1. Juli, am 15., 22., 23., 27. und 29. September 1993 beraten haben, und wir haben zwei Anhörungen durchgeführt. Dies muß um der Wahrheit willen gesagt werden.
Wir sind nicht die Absegnungsmaschine der Regierung, sondern wir machen das, was wir als Parlamentarier wollen!
Das Entgeltfortzahlungsgesetz ist ein weiterer wichtiger Schritt bei der Fortentwicklung des Sozialstaates und auf dem Weg zur Vereinheitlichung des Arbeitsrechtes.
Wer diesem Gesetz, obwohl er die Pflegeversicherung will, seine Zustimmung verweigert, bestätigt, daß er nur über geringen wirtschaftlichen Sachverstand verfügt,
daß er ein Hindernis beim dringend notwendigen Umbau des Sozialstaates ist und daß er in der Regierungsverantwortung viele Arbeitsplätze gefährden würde.Deswegen empfehlen wir, diesem Gesetz zuzustimmen.
Und nun hat der Kollege Rudolf Dreßler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das heute zur Verabschiedung anstehende sogenannte Entgeltfortzahlungsgesetz stellt nach Auffassung der sozial-demokratischen Bundestagsfraktion einen traurigen Höhepunkt in der Gesellschaftspolitik der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. dar. Es verstößt in besonders flagranter Weise gegen die zentralen Gebote der parlamentarischen Demokratie: die Gebote der Wahrheit und die Gebote der Klarheit.
Das fängt schon mit dem Titel an: Entgeltfortzahlungsgesetz. Dieser Titel läßt vermuten, damit würde geregelt, wann und unter welchen Bedingungen die Entgelte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fortgezahlt werden.
Metadaten/Kopzeile:
15542 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Rudolf DreßlerIn Wahrheit aber wird geregelt, wann deren Entgelte nicht fortgezahlt werden. Schon im Titel liegt ein Akt der Täuschung.
Der Verstoß gegen Wahrheit und Klarheit setzt sich fort in dem Anliegen, das die Verfasser mit diesem Gesetzentwurf verbinden. Er dient einer Art verbalen Unterfütterung eines Trugbildes. Er muß nämlich dazu herhalten, daß CDU/CSU und F.D.P. bei der Verabschiedung des eigentlichen Pflegeversicherungsgesetzes weiter so tun können, als werde diese Pflegeversicherung wie die anderen Sozialversicherungszweige auch je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert.
In Wahrheit aber macht das sogenannte Entgeltfortzahlungsgesetz die hälftige Finanzierung der Pflegeversicherung zu einer formalen Farce. Denn es regelt, wie den Arbeitgebern ihre Finanzierungshälfte rückerstattet werden soll. Das sogenannte Entgeltfortzahlungsgesetz dient also der Vernebelung von Wahrheit, meine Damen und Herren.
Wir alle kennen die Vorschläge, die jüngst der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf zur Pflegeversicherung gemacht hat. Die SPD lehnt dies mit Entschiedenheit ab, aber eines muß man den BiedenkopfVorschlägen zugute halten: Sie sind wenigstens ehrlich.
Sie verkleistern und vernebeln nichts, sondern sagen klipp und klar: Die Arbeitnehmer sollen die Pflegeversicherung alleine zahlen.Was haben CDU/CSU und F.D.P. in den letzten Wochen und Monaten dazu nicht alles an Polittheater geboten. Herr Blüm und die Seinen wollten weiterhin so tun, als teilten sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Pflegebeiträge; Herr Solms und die F.D.P. wollten ihrer Klientel beweisen, daß die Arbeitnehmer die Zeche alleine zu zahlen haben. Da wurde die Abschaffung von Feiertagen erwogen, Karenztage in der Lohnfortzahlung sollten eingeführt werden, und was weiß ich noch für Klimmzüge und Varianten wurden bei der Rückerstattung der Arbeitgeberbeiträge veranstaltet oder hin und her bewegt.Das mit dem sogenannten Entgeltfortzahlungsgesetz nunmehr vorliegende Ergebnis zeigt allerdings deutlich: Nicht Herr Blüm, sondern Herr Solms und die F.D.P. haben sich durchgesetzt.
Herr Blüm wollte ja so gerne als jener Minister in die Sozialgeschichte eingehen, mit dessen Namen die Komplettierung der deutschen Sozialversicherung durch Schaffung einer Pflegeversicherung verbunden wird. Daraus wird wohl nichts. Aber eines wird mit seinem Namen verbunden werden: der erste Versuch eines deutschen Sozialministers, den zentralen Finanzierungsgrundsatz jeder Sozialversicherung, den der hälftigen Beitragszahlung von Arbeitnehmern undArbeitgebern, auf kaltem Wege zu unterlaufen und so zu zerstören.
Herr Blüm, wir haben uns in der Aktuellen Stunde zur Pflege in der vergangenen Woche in diesem Zusammenhang einiges von Ihnen anhören müssen. Keiner denke an die Pflegebedürftigen, sagten Sie. Das Gezetere der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über die paar Mark Mehrbelastung gehe Ihnen auf die Nerven, dafür sei Verständnis nicht angebracht und dergleichen mehr.Sie müssen sehr weit von der Wirklichkeit entfernt sein, Herr Blüm, wenn Sie nicht erkennen, daß die Arbeitnehmer, die Rentner, ja selbst die finanziell besonders gebeutelten Arbeitslosen zu Opfern für die Pflegebedürftigen bereit sind. Selbstverständlich sind sie das. Aber was diese Menschen so erzürnt, ist, daß nach alledem, was ihnen diese Regierung an sozialen Einseitigkeiten und Grobheiten bis heute zugemutet hat, bei der Schaffung einer Pflegeversicherung diejenigen von einem Opfer für die Pflegebedürftigen freibleiben sollen, die es sich eigentlich am ehesten leisten können, meine Damen und Herren.
Diese Menschen erzürnt, daß es abermals sie alleine sind, die die Lasten zu tragen haben. Machen Sie den Ärger dieser Menschen also nicht als mangelnde Bereitschaft zur Solidarität verächtlich, Herr Blüm.Sie spielen im übrigen die Interessen der Arbeitnehmer, der Rentner, der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger mit solchen Reden gegen die Interessen der Pflegebedürftigen aus, übrigens zum Wohlgefallen der Verbände von Industrie, von Handel und Handwerk. Das, Herr Blüm, damit auch das klar ist, nenne ich ein schändliches Verhalten.
Ich frage: Geht es bei der öffentlichen Diskussion wirklich um jene 0,7- oder 0,85-Beitragssatzpunkte der Unternehmen für die Pflegeversicherung? Sind es wirklich jene 0,7 oder 0,85 % zusätzlichen Beitrags, die die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bedrohen? Es ist mit den Händen zu greifen, daß es darum in Wirklichkeit nicht geht. Es geht auch nicht um Pflege, sondern um etwas ganz anderes. Es geht um eine grundsätzliche Neuverteilung der Finanzierungslasten unseres Sozialversicherungssystems.
Das wird von den Unternehmensverbänden hinter verschlossenen Türen auch gar nicht in Abrede gestellt. Die Arbeitgeberseite probt den Ausstieg aus der Finanzierungsverpflichtung für die Sozialversicherung.
Die Pflegeversicherung dient dabei nur als Vehikel, diese Absichten zu thematisieren. Sie ist gleichsam nur der Probelauf.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15543
Rudolf DreßlerMan braucht nicht allzuviel Phantasie: Wenn die einseitige Finanzierung eines Sozialversicherungszweiges ausschließlich durch die Arbeitnehmer bei der Pflege politisch durchsetzbar würde, wer wollte bezweifeln, daß dann die anderen Sozialversicherungszweige die nächsten Ziele bilden? Das ist der eigentliche strategische Ansatz dieser Bundesregierung und dieser Koalition, meine Damen und Herren.
Wenn die Funktionäre der Wirtschafts- und Unternehmensverbände für diese Operation die Pflegebedürftigen nehmen und alles auf deren Rücken austragen, so ist das, Herr Scharrenbroich — und Sie beteiligen sich noch daran — eine grobe Verwilderung der sozialen Sitten, der dieses Haus eigentlich geschlossen entgegentreten müßte.
Ein Sozialminister — und auch Sie, Herr Scharrenbroich —, der sich gewollt oder ungewollt zum Büttel dieser Absichten macht oder machen läßt, sollte sich nicht nur die Frage stellen, ob er noch der richtige Mann am richtigen Platz ist, sondern er sollte sich auch einmal im stillen Kämmerlein prüfen, ob er das wirklich mit seinem Gewissen vereinbaren kann.
Herr Kollege Dreßler, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharrenbroich gestatten?
Ja, bitte.
Herr Kollege Dreßler, glauben Sie, daß die Rabulistik, die Sie an den Tag legen, angebracht ist, wenn der Durchschnittsverdiener — ich wiederhole es — auf 18 DM pro Feiertag verzichten muß?
Herr Kollege Scharrenbroich, unabhängig von der Tatsache, daß es mehr Geld ist, haben Sie so lange nicht das Recht, diese 18 DM einem Durchschnittsverdiener abzunehmen, wie Sie sich weigern, sie auch sich selbst in diesem Gesetzgebungsverfahren abnehmen zu lassen. So lange haben Sie nicht das Recht!
Wenn ausgerechnet diese Regierung ihre Position zur Einführung einer Pflegeversicherung über die Höhe der sogenannten Lohnnebenkosten definiert, muß das mehr als nur erstaunen. Es ist der reichlich dreiste Versuch, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen.Die Wahrheit nämlich ist, meine Damen und Herren, daß die in den letzten Jahren gestiegenen und im kommenden Jahr weiter steigenden Lohnnebenkosten ausschließlich auf das Konto der Politik dieser Koalitionsfraktionen und dieser Bundesregierung gehen.Sie hat die Arbeitslosenversicherungsbeiträge vor zwei Jahren um 2,5 % in die Höhe getrieben, weil sie die gesamten Arbeitsmarktprobleme, die mit der deutschen Einheit verbunden waren, dem Beitragszahler statt dem Steuerzahler aufgebürdet hat. Und Sie von der Koalition sind verantwortlich für die exorbitante Steigerung der Beitragssätze in der Rentenversicherung, die uns ins Haus steht, weil Sie durch einen Griff in die Reserven der Rentenkassen und nicht über die öffentlichen Haushalte die deutsche Einheit finanziert haben.Die Rentenreform 1992 hätte die Rentenversicherungsbeiträge bis zur Jahrtausendwende relativ stabil gehalten. Dieser Regierung ist es gelungen, in zwei Jahren diese auf zehn Jahre angelegte Stabilität zu zertrümmern.
Deshalb sage ich: Sie, Herr Scharrenbroich, und die Mitglieder der CDU/CSU und der F.D.P. sind die letzten, die sich über die Steigerung von Lohnnebenkosten beklagen dürfen; denn Sie haben sie selbst herbeigeführt.
2,5 % Steigerung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge, 2 % Steigerung der Rentenversicherungsbeiträge!
Zu all dem haben genau die gleichen Funktionäre aus den Büros der Wirtschaftsverbände geschwiegen, die heute wegen 0,7 % Beitragssatzsteigerung für die Pflegeversicherung die halbe Republik in Aufruhr versetzen. Nichts stützt doch schlagender die These, daß es gar nicht um Pflege geht, als dieses sehr merkwürdige Verhalten.
Mit dem sogenannten Entgeltfortzahlungsgesetz, das CDU/CSU und F.D.P. heute mit ihrer Mehrheit verabschieden wollen, soll den Arbeitgebern ihr Beitragsanteil an der Pflegeversicherung rückerstattet werden. Die Arbeitnehmer sollen für die Pflegeversicherung also den doppelten Preis bezahlen. Dabei sollte nicht außer acht bleiben, daß dieser gesellschaftspolitisch so fatale Preis für ein ungewöhnlich dürftiges, ja, inakzeptables Produkt verlangt wird.Das Pflegegesetz der Bundesregierung, für das unsere Gesellschaft in eine so schwere Belastungsprobe gestürzt wird, ist diesen Preis nicht wert, meine Damen und Herren.
Metadaten/Kopzeile:
15544 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Rudolf DreßlerEs ist nicht solidarisch finanziert. Es nimmt eine grundlegend falsche Weichenstellung in der Sozialversicherung vor, und es enthält einen nur kümmerlichen Leistungsrahmen.
Dieses Gesetz ist deshalb nicht solidarisch finanziert, weil es an die Stelle einer umfassenden, gemeinsamen Solidargemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger zwei Solidargemeinschaften setzt, eine Solidargemeinschaft für die normalen Menschen und eine zweite Solidargemeinschaft de Luxe. Bei dieser Regierung versteht es sich dann auch von selbst, daß die Solidargemeinschaft für die Normalen ihre Leistungen mit relativ höherem finanziellen Einsatz selbst finanziert, als dies bei der Solidargemeinschaft de Luxe der Fall ist. Aber die Menschen haben mittlerweile begriffen, daß es sich bei der Politik dieser Regierung empfiehlt, lieber jung und gesund als älter und krank zu sein. Das alles hat nichts mit Sozialpolitik zu tun.
Das ist vielmehr die Übertragung des indischen Kastenprinzips auf unsere Sozialversicherung, meine Damen und Herren.
Ich merke an dieser Stelle an: Mit dem Pflegegesetz ist eine grundlegend falsche Weichenstellung verbunden, weil es durch eine dürftige Ausgestaltung des Leistungsrahmens für Pflegebedürftige auf schleichendem Wege ein System von Grund- und Zusatzversorgung einführen will. Die unzureichende Grundversorgung in der gesetzlichen Pflege muß nämlich ergänzt werden durch eine Zusatzversorgung im Privatversicherungsbereich, wenn man gegen das Pflegerisiko wirksam abgesichert sein will. Das ist das eigentliche Ergebnis der Pflegeversicherungskonstruktion der Koalition.Ich will keinen Zweifel daran lassen: Dieses Pflegegesetz ist aus inhaltlichen Gründen für die SPD unannehmbar. Selbst wenn es nicht mit dem heute zu verabschiedenden sogenannten Entgeltfortzahlungsgesetz inhaltlich verknüpft wäre, könnten wir dieses Gesetz in keinem Falle akzeptieren.
Ich frage mich, ob den Vertretern der CDU/CSU und F.D.P. wirklich klar ist, was sie im Bewußtsein der Menschen anrichten. Die setzen nämlich große Hoffnungen auf eine Pflegeversicherung. Sie hoffen, daß sie endlich nicht mehr Sozialhilfeempfänger sein werden, nur weil sie pflegebedürftig sind. Sie hoffen, daß sie zukünftig auch im Pflegefall angemessen versorgt sein werden. All dies würde mit diesem Gesetz nicht erreicht.
Der Großteil der Menschen bleibt in der Sozialhilfe. Fast eine halbe Million Menschen, die bisher Leistungen in Anspruch nehmen konnten, werden zukünftig überhaupt keinen Anspruch mehr auf Leistungen haben.
All die Hoffnungen, die die Betroffenen und ihre Angehörigen mit der Einführung einer Pflegeversicherung verbinden, werden bitterlich enttäuscht werden, und das alles zu dem Preis, daß den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Feiertagen der Lohn und das Gehalt gekürzt werden. Dies ist ein sozialpolitisch unerträglicher Zustand.Ich wiederhole, damit es jedem auf seiten der Koalitionsfraktionen klar ist: Zum Pflegegesetz der Koalition wird es keine Zustimmung geben. Ich füge an: Selbst wenn ein vernünftiges Pflegegesetz zur Abstimmung stünde, könnten wir ihm so lange nicht zustimmen, wie Sie es an die Lohn- und Gehaltskürzung oder andere Eingriffe in die Tarifautonomie koppeln.
Wenn in den Köpfen von CDU/CSU und F.D.P. die Überlegung bestehen sollte, erst mit dem sogenannten Entgeltfortzahlungsgesetz die Lohn- und Gehaltskürzung politisch durchzusetzen, um dann der SPD die Zustimmung zu einem Pflegegesetz abpressen zu können, so irren Sie sich. Wenn Sie meinen, Sie könnten den Menschen mit Ihrem sogenannten Entgeltfortzahlungsgesetz einen gesellschaftspolitischen Misthaufen auf den Tisch legen und dann von der SPD erwarten, dazu die soziale Garnierung zu liefern, damit das Ganze nicht so unappetitlich aussieht, dann wird das nicht funktionieren. Das macht die Sozialdemokratie nicht mit, meine Damen und Herren.
Wir wollen ein Pflegegesetz, das seinen Namen wirklich verdient. Das Pflegegesetz von CDU/CSU und F.D.P. gehört nicht in diese Kategorie. Wir werden ihm nicht zustimmen.Darüber hinaus gilt folgendes: Wir lehnen jeden Eingriff in die Tarifautonomie, jede Lohn- und Gehaltskürzung, ob nun an Feiertagen oder im Krankheitsfall, entschieden ab, erst recht das heutige sogenannte Entgeltfortzahlungsgesetz.
Wenn die Bundesregierung also ihren bisherigen Kurs beihält, dann wird sie im nächsten Jahr ohne ein Pflegegesetz, aber mit Lohn- und Gehaltskürzungen vor die Wählerinnen und Wähler treten müssen. Das sollten Sie sich sehr gut überlegen.Wenn die Koalition heute die Verabschiedung des sogenannten Entgeltfortzahlungsgesetzes durchführt, werden CDU/CSU und F.D.P. vorsätzlich verhindern, daß in dieser Wahlperiode des Bundestages ein ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15545
Rudolf Dreßlernünftiges Pflegeversicherungsgesetz verwirklicht werden kann.Ich danke Ihnen.
Nun spricht die Kollegin Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Entgeltfortzahlungsgesetz erreicht den Bundestag heute in einer gründlich veränderten Fassung. Es soll in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden. Es enthält neben ganz unscheinbarer Rechtsmaterie wie der Angleichung der Regelungen für Arbeiter und Angestellte bei der Lohnfortzahlung politischen, aber nicht rechtlichen Sprengstoff,
nämlich die Bestimmungen, nach denen an zehn Feiertagen der Lohn auf 80 % abgesenkt wird, die Kompensation Nummer 2.Die Koalition macht ernst mit ihrem Vorhaben, die umlagefinanzierte Pflegeversicherung auszugleichen und Lohnkosten zu senken. Ohne die Kompensation soll und wird es die Pflegeversicherung nicht geben. Heute legen wir den Beweis vor, daß sich diese Absicht in gesetzgeberischem Tun niederschlägt.
Wir beginnen mit der schwierigeren Wegstrecke, bevor wir das neue soziale Versicherungssystem einrichten.Warum der Wechsel von der Selbstbeteiligung im Krankheitsfall zur Lohnabsenkung an Feiertagen? Die F.D.P. hatte der Einführung von sechs Karenztagen im Jahr zugestimmt, obwohl wir uns zu keiner Zeit Illusionen über die Hürden machten, die hier zu überwinden waren. Uns hat die Anhörung zu diesem Punkt auch nicht überrascht, wonach beide Tarifpartner in der Ablehnung einig wären und sich auch die Verfassungsrechtler dazu kritisch äußern würden. Überrascht hat uns allenfalls, wie das Echo diesen Vorschlag vom Tisch fegen konnte und ein Scheitern im Bundesrat — auch am Veto der unionsgeführten Landesregierungen — wahrscheinlich machte. Da wir von der F.D.P. aber immer zugesagt hatten, auch Alternativen zur beschlossenen Kompensation zu akzeptieren — wir hatten in der Tat jedoch immer an die Abschaffung von Feiertagen gedacht —, beteiligten wir uns auch an der Suche nach einer anderen Lösung für den Bundesgesetzgeber und tragen den Vorschlag, der hier vorliegt — Lohnabsenkung an Feiertagen —, mit.Am Zeitplan, das Gesetz zum 1. Januar 1994 in Kraft treten zu lassen und zuerst die Kompensation zu beschließen, soll nicht gerüttelt werden. Das erklärt das halsbrecherische Tempo der Beratung: Anberaumung einer Ergänzungsanhörung, Abschluß in dieser Woche und heute die Verabschiedung. Meine Damen und Herren, auch von der Opposition, nur das außerordentliche Gewicht des gesetzgeberischen Vorhabens, die Pflegeversicherung und ihre Kompensation rechtzeitig zu verabschieden, rechtfertigt als eine Ausnahme die Verfahrenskürze.
Ansonsten möchte ich in Richtung Opposition sagen, daß ich den Protest an dieser Stelle durchaus verstehen kann.Zum Inhalt: Die Rechtfertigung des Entgeltfortzahlungsgesetzes in seiner ursprünglichen Form mit der Selbstbeteiligung im Krankheitsfall stützte sich auf zwei Argumente: Das eine war Umbau des Sozialstaates,
das andere war Bekämpfung von Mißbrauch. Ich meine das Krankfeiern, das zwar von der SPD bestritten wird, aber meiner Ansicht nach allen als Alltagswirklichkeit in allen Betrieben bewußt ist. Beide Begründungselemente sind im neuen Vorschlag wieder enthalten.Die Lohnabzüge an Feiertagen mit dem Wahlrecht, auf zwei Urlaubstage zu verzichten, entsprechen der Vorstellung, daß Lohn für Arbeit höher sein sollte als Lohnersatz für Nichtarbeit.
Meine Damen und Herren, ich weiß gar nicht: Wie viele Bürger dieses Landes sind sich der Tatsache eigentlich bewußt, daß wir für Nichtarbeit so viel Lohn zahlen wie für Arbeit?
Ich glaube, das ist schon das richtige Signal, das mit einer solchen Bestimmung hier gegeben wird.
Dies neu festzulegen und die günstigeren Bestimmungen, die ja der Gesetzgeber — nicht die Tarifpartner — beschlossen hatte, durch andere und weniger vorteilhafte zu ersetzen, ist schwer. Es ist schwer in einer Gesellschaft — Herr Dreßler, Sie sprechen dann ja sofort von Verwilderung der Sitten
und geben sich dem Schattenboxen hin —, die sich auch bei den Arbeitsbedingungen an einen hohen Komfortstandard gewöhnt hat. Er kann in Zeiten von Wirtschaftszusammenbrüchen und wachsender Arbeitslosigkeit nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Meine Damen und Herren, das, was Sie hier vortragen, ist eigentlich sehr unsolidarisch gegenüber denen, die keine Arbeit haben.
Metadaten/Kopzeile:
15546 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Dr. Gisela BabelEs kann dies auf gar keinen Fall aufrechterhalten werden, wenn es darum geht, eine neue Sozialversicherung einzurichten und damit ein dringendes soziales Problem lösen zu wollen, nämlich die Verbesserung der Lage von pflegebedürftigen Menschen.Es ist offenkundig, daß dem Gesetzgeber nur wenige Wege offenstehen, um einen solchen Ausgleich zu regeln. Der Aufschrei der Gewerkschaften im gellenden Ton von Frau Engelen-Kefer und der Aufschrei der SPD von Herrn Dreßler, daß es hier um einen Eingriff in die verfassungsmäßig geschützte heilige Tarifautonomie gehe, sind uns dabei immer gewiß.
Meine Damen und Herren, ein demokratischer Rechtsstaat, in dem der Gesetzgeber nach sorgfältiger Abwägung der Belastungen von Lohnkosten und Lohnansprüchen gar keine Möglichkeit hätte, eine Entscheidung wie die hier vorliegende zu treffen, wäre handlungsunfähig, entscheidungsunfähig und könnte seiner Verantwortung nicht gerecht werden.
Ein solcher Staat wäre die institutionalisierte Ohnmacht. Beim Thema Umbau des Sozialstaates erweist es sich, ob der Souverän oder die Tarifpartner entscheiden.
Die Kompensation ist eine Kraftprobe. Ich meine, der Gesetzgeber hat das verfassungsmäßige Recht, die Lohnkürzung an Feiertagen mit der vorgesehenen Wahlmöglichkeit des Verzichts auf zwei Urlaubstage vorzunehmen. Dieses Recht gibt es unbeschadet dessen, ob Tarifvertragsrecht entgegensteht oder nicht, dann nämlich, wenn es wie hier begründet und notwendig ist. In der letzten Anhörung ist diese Auffassung von den Verfassungsrechtlern überwiegend bestätigt worden. Unstrittig ist — das wird von Ihnen gar nicht erwähnt —, daß die Tarifpartner neue Vereinbarungen treffen können, die diese Balance zwischen Lohn- und Urlaubskürzungen im Wege der Verhandlungen auch wieder verändern können.
Frau Kollegin Babel, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Andres gestatten?
Nein, lassen Sie mich bitte fortfahren.
Das enthebt aber den Gesetzgeber nicht seiner Verantwortung, im Sinne des Umbaus sozialer Rechtsansprüche zu handeln.
Meine Damen und Herren, Mißbrauchsbekämpfung bei Krankschreibung bleibt auf der Tagesordnung. Wir haben Anzeige- und Nachweispflichten verschärft. Man könnte der Meinung sein, Mißbrauch zu bekämpfen, indem man die Kontrollmöglichkeiten verschärft, gehöre nicht zum Umbau des Sozialstaates, weil das das Eingeständnis wäre, daß wir in diesem nicht umgebauten Sozialstaat den Mißbrauch fröhlich zuließen und nur in Zeiten der Rezession Auswüchse, Schlendrian und Betrug bekämpften.
Diese Diskussion ist müßig. Auf alle Fälle ist es richtig, daß sich wohl im Steuerrecht wie im Umwelt- und im Sozialrecht die Maßstäbe ändern müssen,
um die Mittel für die notwendigen staatlichen Aufgaben zu erhalten.
Ich komme zu den Beamten. Durch Herausnahme der Bestimmungen über die Beamten aus dem vorgelegten Entgeltfortzahlungsgesetz sind in der Öffentlichkeit Zweifel geweckt worden, ob es der Koalition noch ernst ist mit ihrer Absicht, wirklich von allen, also auch den Beamten, auch den Abgeordneten, einen Beitrag zur Kompensation einzufordern. Ich sage klar und deutlich: Ja, alle werden in diese Solidarität eingebunden.
Die Absicht besteht nach wie vor. Ich sage der Opposition, daß die entsprechenden Bestimmungen im Pflegeversicherungsgesetz getroffen werden. Und ich sage noch mehr: Das Pflegeversicherungsgesetz ist nicht zustimmungsfähig, ohne daß den Beamten und Abgeordneten etwas Entsprechendes zugemutet wird.
Auch Lehrer und Hochschullehrer mögen sich da keinen Illusionen hingeben, daß etwa nur unverbindliche Urlaubsregelungen getroffen würden. Ebenso wie Arbeiter und Angestellte vor die Wahl zwischen Lohn- oder Urlaubskürzungen gestellt werden, muß es bei Beamten und Abgeordneten Lohnverzicht etwa bei den Sonderentgelten mit der Wahlmöglichkeit Urlaubsverzicht oder Verzicht auf Arbeitszeitverkürzung geben.
Mir liegt daran, dieses heute klarzustellen, damit wir in dieser Frage auch als Koalition hier die richtigen Entscheidungen treffen.
Frau Kollegin Dr. Babel, der Kollege Seifert möchte eine Zwischenfrage stellen. Darf ich fragen, ob Sie diese Zwischenfrage zulassen oder nicht?
Ja, bitte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15547
Frau Kollegin Babel, wollen Sie nicht wenigstens zugeben, daß es ein gewaltiger Unterschied ist, ob Sie hier eine Absicht erklären, daß Sie die Beamten und die anderen, denen es gutgeht, auch einbeziehen wollen, oder ob Sie heute nicht nur die Absicht erklären, sondern festklopfen wollen, daß diejenigen, die gerade so zurechtkommen, zur Kasse gebeten werden? Denn ob das andere Ihnen gelingt, wissen Sie ja noch gar nicht.
Herr Seifert, ich kann Ihre Frage sehr gut verstehen und will sie so beantworten: Daß wir die Bestimmungen für die Beamten herausgenommen haben, liegt an der Tatsache, daß wir sonst das Risiko gelaufen wären, im Bundesrat in eine Diskussion über die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit des Entgeltfortzahlungsgesetzes zu geraten. Das hätte das Verfahren verzögert. Es ist also ein verfahrenstechnischer Vorgang gewesen, aber keine politische Umorientierung dergestalt, daß wir daran dächten, diese Personengruppe auszunehmen. Mir liegt daran, das hier so deutlich zu sagen.
Frau Kollegin Babel, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Andres?
Bitte schön, Herr Kollege Andres.
Frau Dr. Babel, nachdem Sie vorhin meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, möchte ich sie jetzt unterbringen.
Sie haben vom Aufschrei der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie gesprochen. Wie bewerten Sie die Äußerung des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Julius Cronenberg — den ich persönlich sehr schätze —, er gehe davon aus, daß dieses Gesetz „wahrscheinlich verfassungswidrig" sei, und wie bewerten Sie die Aussage Ihres Kollegen Dr. Thomae in der HAZ vom 21. September 1993, dieses Gesetz sei verfassungswidrig?
Vorab möchte ich, Herr Kollege Andres, so wie auch Sie bemerken, daß ich den Vizepräsidenten und auch den Kollegen Thomae sehr schätze.
Die verfassungsrechtlichen Bedenken kann ich insofern nachempfinden, als man hier tatsächlich die Auffassung vertreten hatte — erinnern Sie sich an die Diskussion vor einem Jahr —, daß es dem Gesetzgeber verwehrt wäre, in dieser Weise zu handeln.
Auf Grund des Gutachtens von Herrn Löwisch haben wir in dieser Frage eine Ermutigung erfahren, daß der jetzt eingeschlagene Weg rechtlich zulässig und verfassungsgemäß ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt bitte weiterreden. Ich komme zur SPD. Ich nehme an, daß Ihnen das noch viel wichtiger ist.Die SPD hat in den letzten Tagen deutlich gesagt, daß sie die Kompensation als Grundidee ablehnt, die Einführung von Karenztagen ebenso wie die Lohnkürzung an Feiertagen wie die Abschaffung von Feiertagen. Herr Scharping wie auch Herr Dreßler haben nur geheimnisvoll angedeutet, daß nach — wie Sie es ausdrücken — gründlicher Verbesserung des Produkts — damit meinen sie die Pflegeversicherung — die Frage der Finanzierung noch an die Reihe gekommen wäre. Was ist das für ein merkwürdiges Verständnis von Politik, wo der Öffentlichkeit, den Bürgern des Landes, vorenthalten wird, wie man die Sache finanzieren will,
ob die Pflegeversicherung ausschließlich durch Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bezahlt wird und die Last auf den Lohn draufgepackt werden soll
oder ob man ganz konkret Entlastungsschritte vorschlagen wird.
Nebel streuen Sie über das Ganze!
Daß Sie uns das in Windhagen nach ermattetem Nachgeben in allen inhaltlichen Punkten unsererseits schließlich verraten hätten, können Sie doch nicht einmal sich selbst vormachen. Geben Sie doch offen zu: Über Kompensation konnten Sie sich intern nicht einigen. Jetzt tun Sie so, als gäbe es Geheimkonzepte.
Nun nehmen wir Ihnen diese Bürde ab, meine lieben Kollegen von der Opposition.
Wir beschließen allein das Entgeltfortzahlungsgesetz
Metadaten/Kopzeile:
15548 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Dr. Gisela Babelund werden es durch den Bundesrat bringen, allerdings nur, wenn es mit der Pflegeversicherung klappt.
Sie können sich also unbelastet, Ihre sozialen Händchen in Unschuld waschend, dem Thema der Pflege stellen.
Wie wollen Sie argumentieren, daß auch die Pflegeversicherung für Sie nicht annehmbar ist? Herr Dreßler stellte gestern der Presse eine Mängelliste vor, was dem Gesetzentwurf alles fehlt. Das ist ein übles Gebräu von Unterstellungen, falschen Behauptungen und falschen Versprechungen.
Es bräuchte mehr Zeit zur Widerlegung. Ich will nur drei Aussagen bringen:Es ist falsch, daß der Gesetzentwurf Leute aus dem Leistungsbezug drängt. Das Gegenteil ist richtig: Mehr Menschen als vorher erhalten durch die Pflegeversicherung Pflegeleistungen. Es ist falsch, daß eine Sozialversicherung die ganze Bevölkerung versichern kann. Der SPD-Entwurf ist in diesem Punkt verfassungswidrig.
Es ist falsch, daß Ihr Beitragssatz von 1,4 % durch die Versicherungspflichtgrenze von 7 200 DM gehalten werden kann. Ihre gesamte Finanzierung ist leichtfertig und entschärft nirgends die unvermeidbaren Kostenexplosionen.
Das wird ein zweites Holland, meine Damen und Herren,
wo jeder Pflegebedürftige 2 000 Gulden Selbstbeteiligung zahlen muß. So sieht es aus!Die SPD hat bisher in keinem Punkt eine brauchbare Alternative angeboten. Wenn Sie gegen den Gesetzentwurf stimmen, haben Sie zu verantworten, daß im nächsten Jahr Pflegebedürftige, die zu Hause sind, keine Geldleistungen bekommen,
daß Sachleistungen im Werte von 2 100 DM nicht gewährt werden können
und daß Pflegepersonen keine Rentenansprüche bekommen.
Das kann unmöglich das letzte Wort sein. Die Koalition hält jedenfalls am Entwurf, am Zeitplan und an der Kompensation fest. Nervenstärke und Unerschütterlichkeit sind jetzt angesagt!
Vielen Dank.
Frau Kollegin, es gibt noch zwei Zwischenfragen. Sie haben auch noch eine Menge Redezeit. — Also, Frau Babel steht noch für zwei Zwischenfragen zur Verfügung, weil sie noch fünf Minuten Redezeit hat. Zuerst der Kollege Dreßler, dann der Kollege Seifert.
Frau Kollegin Babel, unabhängig von der Tatsache, daß Sie den Gesetzentwurf der SPD augenscheinlich immer noch nicht gelesen haben — ich sage dies in bezug auf die Rentenanwartschaften für pflegende Personen —, meine Frage: Stimmen Sie mir zu, daß Ihre These, die Inhalte unseres Gesetzentwurfs seien unbrauchbar, im Analogieschluß beinhaltet, daß die Aussagen Dutzender von Sachverständigen, hochkarätigen Mitarbeitern von Sozialverbänden und Wissenschaftlern, die im Reichstag in Berlin drei Tage lang unseren Gesetzentwurf im Anhörungsverfahren begutachtet haben, ebenfalls unbrauchbar wären? Sind Sie sich darüber im klaren?
Herr Kollege Dreßler, ich weiß nicht, wie es Ihnen in diesen Anhörungen ergeht. Ich halte diese Anhörungen nicht in dem Sinne für repräsentativ und bindend,
weil das, was ich da höre, oft eine Kumulation von Egoismen ist. Da spricht jeder Verband im Sinne seiner eigenen Wertigkeit. Je mehr Geld in diese Felder hineinfließt, desto gelungener finden sie die Sache. Je teurer, je mehr de luxe, desto besser ist der Entwurf. Keiner außer den Arbeitgebern war da anwesend, der einmal gefragt hätte: Wie soll dies eigentlich für die nächsten Generationen finanziert werden?
Sie haben auf die Frage, wie das für die nächsten Generationen zu finanzieren ist, in dem Entwurf nie eine Antwort gehabt.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage des Kollegen Dreßler? — Bitte. Danach der Kollege Seifert.
Frau Dr. Babel, wenn ich Ihre These über den Wert von Anhörungen in ein Verhält-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15549
Rudolf Dreßlernis zu dem soeben hier getätigten Redebeitrag des Abgeordneten Scharrenbroich setze, der seine ganze Philosophie der Zustimmung zu dem hier in Rede stehenden Gesetz auf die Anhörung am letzten Montag stützt und behauptet, die Koalition stütze sich darauf, muß ich fragen: Merken Sie denn eigentlich gar nicht, daß Sie sich selbst in einem gravierenden Widerspruch befinden?
Herr Kollege Dreßler, ich merke das deswegen nicht, weil es nicht stimmt. Diese Anhörung war eben keine Versammlung von Verbänden,
die in dieser Frage aus ihrem ganz eigenen Interesse geredet haben.
Die Gewerkschaften braucht man eigentlich wirklich nicht mehr einzuladen.
Wir wissen, wie Frau Engelen-Kefer redet.
Es ist an der Schmerzgrenze, diese Frau zu diesen Fragen immer wieder zu hören.
Damit mag meine persönliche Meinung zum Wert dieser Veranstaltung begründet zu sein.
Aber Ihre eigentliche Frage war ja, wie ich das bewerte, was in der Anhörung zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit gesagt wurde. In der Tat werden Sie zugeben, daß sich die Äußerungen der Verfassungsrechtler zu diesem Punkt — das war der entscheidende Punkt für die Argumentation — maßgeblich von den Äußerungen der Verfassungsrechtler in bezug auf die Karenztage unterschieden haben. Insofern ist es schon berechtigt, sich darauf zu berufen. Ich wollte die Sache in keiner Weise in Abrede stellen.
Zum Abschluß — dann bitte keine weiteren Fragen mehr — hat der Kollege Seifert das Wort.
Erlauben Sie mir zuvor einen Satz. Frau Babel, ich hatte Sie bisher für eine ernst zu nehmende Kollegin gehalten. Was Sie jetzt gesagt haben, tut mir für Sie selbst leid.
Soviel zur Vorbemerkung. Es tut mir wirklich leid.
Im Grunde habe ich zwei Fragen. Erstens. Wie wollen Sie bei Abgeordneten zwei Urlaubstage entfallen lassen, wenn Sie genau wissen, daß wir gar keinen Urlaub haben?
Die zweite ist eigentlich die wichtigere Frage, die ich stellen möchte: Wie bewerten Sie die Feststellung von Sachverständigen, daß das, was Sie heute auf den Weg bringen möchten, höchstens dann geeignet wäre, wenn es der erste Schritt einer sechsstufigen Einführung der Pflegeabsicherung wäre, daß also nur dann am Ende für die Betroffenen vielleicht etwas wirklich Sinnvolles herauskäme?
Herr Seifert, zum ersten: Die Abgeordneten — da gebe ich Ihnen völlig recht — könnten sich nicht auf Urlaubstage beschränken. Abgeordnete sind sowieso immer im Dienst. Urlaub ist für sie ein Fremdwort. Also sollte man dieses Fremdwort für die Abgeordneten auch nicht einführen. Ich gehe davon aus, daß es hier tatsächlich auf einen Gehaltsverzicht hinausläuft. Dies ist noch nicht abgestimmt, aber das ist meine Meinung.
Zweiter Punkt: Sie sagen, es ist der erste Schritt von mindestens sechs Schritten zu dieser Pflegeversicherung. Ich gebe zu, daß wir bei einem so riesigen Gesetzeswerk von vornherein nicht erwarten können, daß es in allen Punkten so funktioniert und die richtige Hilfe der richtigen Stelle gibt. Das werden wir herausfinden müssen. Wir werden als Gesetzgeber mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes zu dem Thema Pflegeversicherung nicht ein für allemal das letzte Wort gesagt haben. Das ist völlig klar. Dort gibt es Entwicklungen. Ich halte es deshalb auch nicht für richtig, von vornherein zu sagen, daß die Pflegeversicherung, so wie sie hier vorgelegt wird, von der wir glauben und hoffen, daß sie eingeführt wird und finanziert werden kann, keine weitere Entwicklung verträgt. Das ist ganz eindeutig.
Frau Kollegin Babel, der Kollege Hörsken hat sich vorher gemeldet. Ich habe ihn nicht gesehen. Möchten Sie seine Zwischenfragen noch beantworten? Aber danach ist definitiv Schluß. — Herr Kollege Hörsken!
Frau Dr. Babel, habe ich Sie vorhin richtig verstanden, daß Sie gesagt haben, bei Anhörungen werde es außerordentlich schwierig, objektive Tatbestände zu erfahren, und daß Sie in dem Zusammenhang gesagt haben, die Gewerkschaften hätten fest vorgeprägte Vorstellungen?
Metadaten/Kopzeile:
15550 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Heinz-Adolf HörskenDies gilt sicher für andere auch. Ich denke, daß Sie dies kritisieren wollten und es nicht speziell den Gewerkschaften zuschieben wollten.
Herr Kollege Hörsken, es ist völlig richtig, daß Sie sich hier für die Gewerkschaften äußern. Ich billige Ihnen das auch zu. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es die dritte Veranstaltung gewesen ist: die Berliner Anhörung zum SPDEntwurf, die Anhörung zum Koalitionsentwurf und jetzt eine weitere Anhörung. Bei dem Thema „Umbau des Sozialstaates", welches eigentlich der Grundtenor war, gab es doch im Grunde überhaupt kein Verständnis.
Das ist eigentlich das, was ich besonders empfunden habe, nämlich daß in dieser Frage keine Bewegung festzustellen ist, obwohl sich die Wirtschaftslage entscheidend verschlechtert hat.
Als nächste hat die Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das heute zur Beschlußfassung vorliegende Gesetz zur Entgeltfortzahlung ist ein Musterbeispiel dafür, wie der Parlamentarismus von den Mehrheitsfraktionen zur Schimäre gemacht wird.
In Windeseile ist hier ein Gesetz durch die Ausschüsse gepeitscht worden, von dem nicht einmal die antragstellenden Vertreterinnen und Vertreter von CDU/ CSU und F.D.P. im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung so genau wußten, welches nun seine endgültige Zielbestimmung sein sollte.
Blamabel war dann auch die abschließende Beratung. Jedenfalls konnten Sie nicht erklären, warum in letzter Minute Änderungen der Änderungen auf dem Tisch lagen. Ihr Rettungsanker: Die Regierungsbürokratie übernahm die Arbeit und gab die gewünschte Aufklärung. Sie ließ keinen Zweifel daran zu, daß das heute vorliegende Gesetz nur noch den einen Sinn hat, die Arbeitgeber durch Lohnkürzungen zu entlasten. Damit hat sich binnen Wochenfrist die Zielbestimmung des Entgeltfortzahlungsgesetzes grundlegend geändert.In der ersten Fassung ging es noch darum, mit der Einführung von Karenztagen im Krankheitsfall vor allem einen Beitrag zur entschlossenen Bekämpfung des angeblichen Mißbrauchs durch die abhängig Beschäftigten zu leisten. Durch die Karenztage sollten gleichzeitig die Arbeitgeberbeiträge für ein solidarisch finanziertes Pflegegesetz kompensiert werden. Dazu hatten wir eine umfängliche Sachverständigenanhörung mit viel Zündstoff und Kontroversen. Insbesondere über den leidigen MiBbrauchsvorwurf wurde heftig gestritten, und die Arbeitgeber blieben jeden Beweis für ihre Blaumacher- und KrankfeiertageTheorie schuldig. Das war ein etwas peinlicher Auftritt nach dieser miesen Diffamierungskampagne.
Alles in allem war dies jedenfalls eine Riesenpleite für den Regierungsentwurf. Durch die Bank lehnten die angehörten Expertinnen und Experten die vorgeschlagene Regelung ab. Ganz unterschiedliche Motive spielten dabei eine Rolle. Die Gewerkschaften, aber auch die meisten Verbände wandten sich gegen ein Finanzierungsmodell, das einseitig die abhängig Beschäftigten belastet und zudem in ihre tariflichen Rechte eingreift. Den Arbeitgebern waren die Angebote der Regierung hingegen nicht üppig genug. Sie plädierten schon bei dieser Anhörung dafür, das Einkommen im Krankheitsfall während der ersten zwei Wochen auf 80 % zu senken.Die Regierungsfraktionen reagierten prompt und legten Änderungsanträge zum Entgeltfortzahlungsgesetz vor. Damit sind die Karenztage vom Tisch. Wir haben es jetzt mit der Feiertagslösung zu tun. Danach sollen den abhängig Beschäftigten an zehn gesetzlichen Feiertagen die Bezüge um 20 % gekürzt werden. Der verringerte Entgeltanspruch gilt auch, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an einem dieser Feiertage arbeiten müssen und zum Ausgleich dafür an einem anderen Arbeitstag frei bekommen. Die Bundesregierung läßt den Beschäftigten die Wahl. Wenn sie keine Lohneinbuße wollen, können sie auch auf zwei Urlaubstage verzichten. Dies müssen sie dann zu Beginn des Kalenderjahres erklären. So weit, so schlecht.Aber was bitte ist nun eigentlich die Zielbestimmung dieser Kürzungsmaßnahme? Die Bekämpfung des Mißbrauchs im Krankheitsfall kann es ja nun nicht mehr sein, denn um Kranke geht es überhaupt nicht mehr. Es geht, worum es in dieser Diskussion von Beginn an ging, um Geschenke für Unternehmer und neue Lasten für die abhängig Beschäftigten.Die Sprachregelung der CDU im Ausschuß war denn auch eindeutig, Mißbrauchsbekämpfung entfalle bei der jetzigen Regelung. Es gehe allein um die Entlastung der Wirtschaft. Ein Regierungsbeamter griff korrigierend ein, indem er erklärte, es gehe auch um Eindämmung des Mißbrauchs. Dies regele der veränderte § 5 des Gesetzentwurfs, wonach zwar generell erst ab dem dritten Krankheitstag Attestpflicht bestehe, dem Arbeitgeber aber das Recht zukomme, schon am ersten Tag der Erkrankung eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu verlangen.Gemessen am ersten Entwurf bedeutet meiner Auffassung nach diese Regelung eine völlige Kehrtwende. Wieso sie nun dennoch ausreichen soll, um Mißbrauch zu bekämpfen — falls es ihn gibt, und ich habe schon in der letzten Debatte angedeutet, daß ich das nach wie vor bezweifle —, müssen diejenigen erklären, die hier die pauschale Diffamierungskampagne gegen kranke Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders gefördert haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15551
Petra BlassIn Wahrheit ging es doch darum, ein Klima dafür zu schaffen, jetzt ein Gesetz durchzupowern, das in die unternehmerfreundliche Landschaft paßt und einseitig den Arbeitgebern zugute kommt, weil sie weit über das hinaus entlastet würden, was sie zur Finanzierung der Pflege aufzubringen hätten.Selbst wenn jetzt in der Beschlußempfehlung des Ausschusses, über die hier heute abgestimmt werden soll, wieder von Kompensation der Arbeitgeberanteile bei den Beiträgen zur Pflegesicherung die Rede ist, glaube ich nicht, daß das die wirkliche Zielbestimmung des neuformulierten Entgeltfortzahlungsgesetzes ist.Ich halte es für keinen Zufall, daß dieses Gesetz in aller Eile durchgezogen wird, nicht aber gemeinsam mit Ihrem Pflegegesetz, zu dessen Finanzierung es angeblich erdacht war, zur Verhandlung ansteht. Ich habe den Verdacht, daß die Kürzung des Feiertagsentgelts ganz bewußt vom Pflegegesetz abgekoppelt wurde. Mein Verdacht rührt vor allem daher, daß inzwischen namhafte Vertreter der Regierungsparteien längst ein ganz anderes Finanzierungsmodell für die Pflege propagieren. Nach ihrer Auffassung sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Pflege von vornherein allein bezahlen, das sei viel ehrlicher.Da muß ich den Herren ausnahmsweise einmal zustimmen. Ihrer Logik vom notwendigen Umbau des Sozialstaats entspricht es, wenn künftig die Absicherung sozialer Risiken von den Betroffenen allein getragen wird. Das Pflegegesetz sollte dafür der Einstieg sein; zunächst etwas kaschiert über Kompensation der Arbeitgeberbeiträge, nun ganz offen. Da die endgültige Fassung des Pflegegesetzes hier nicht vorliegt, geschweige denn mitverhandelt wird, bin ich mir nicht sicher, ob Sie nicht, wie auch der Kollege Louven, ebenfalls Gefallen an dem Lösungsvorschlag von Herrn Biedenkopf finden. Und meine Frage ist: Was wird, wenn das Pflegegesetz platzen sollte? Gilt dann das Entgeltfortzahlungsgesetz eigenständig?Deshalb noch einmal die Frage: Welchen Handlungsbedarf gibt es jetzt für ein Entgeltfortzahlungsgesetz, das über notwendige Anpassung an die Rechtsprechung oder den Einigungsvertrag hinausgeht? Ich sage, es gibt keinen anderen politischen Grund als den, die Unternehmer zu entlasten und den abhängig Beschäftigten Lohnkürzungen zu verordnen. Die ungerechte Verteilung des Einkommens in der Bundesrepublik wird damit weiter vertieft.Dazu trägt im übrigen auch bei, daß entgegen Ihrem ersten Vorschlag nicht einmal alle Einkommensbezieherinnen und -bezieher von den Kürzungen des Feiertagsentgelts betroffen sein sollen. Ursprünglich wollten Sie Beamte, Abgeordnete, Soldaten und Richter dadurch beteiligen, daß ihnen der Erholungsurlaub um zwei Arbeitstage gekürzt wird. Mit einem weiteren Änderungsantrag haben Sie sich von diesem Vorhaben mit dem vagen Hinweis, daß dazu eine Regelung im Pflegegesetz vorgesehen ist, wieder verabschiedet.Ich will gar nicht darüber spekulieren, ob Sie ein besonderes Interesse haben, gerade die genannten Gruppen nicht zu verprellen. Klar ist nur, so auch die Auffassung von Expertinnen und Experten: Die für diese Gruppen vorgesehene Regelung ginge nicht ohne Zustimmung des Bundesrates, und das würde ein Durchpauken des Entgeltfortzahlungsgesetzes behindern.Zum Abschluß noch etwas zum heiklen Punkt der Verfassungsmäßigkeit Ihres neuen Modells, zu der Frage, ob es sich bei der vorgeschlagenen Feiertagsregelung um einen Eingriff in die Tarifautonomie und damit um eine Verletzung der Koalitionsfreiheit handelt. Die Gewerkschaften sind der Auffassung, daß dem so ist, und kündigen an, daß sie sich dagegen mit all den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen werden. Ich habe keinen Grund, ihre Auffassung anzuzweifeln.Wichtiger ist mir aber in diesem Zusammenhang die dazu im Ausschuß geführte Diskussion. Dort wurde von dem Vertreter der Bundesregierung sinngemäß gesagt, daß die Tarifautonomie nicht schrankenlos gelte, sondern dort ihre Beschränkung erfahre, wo es um übergeordnete Gesichtspunkte gehe, etwa um die Finanzierung des Sozialsystems. Dazu könne man einen anderen Verfassungsgrundsatz heranziehen, nämlich das Sozialstaatsprinzip.Diese Argumentation ist wirklich schizophren. Mit den Kompensationsvorschlägen für den Arbeitgeberanteil beim Pflegegesetz hebeln Sie gerade das verfassungsrechtlich garantierte Sozialstaatsprinzip aus, um es dann wieder hervorzuzerren, um die Einhaltung eines weiteren Verfassungsgrundsatzes wegzudiskutieren.Meine Damen und Herren, die PDS/Linke Liste wird gegen das Entgeltfortzahlungsgesetz stimmen.
Nun hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kreativität der Bonner Sozialbürokraten ist erstaunlich. Fast täglich, ja stündlich werden die Bürgerinnen und Bürger mit immer neuen Variationen zum Thema Pflegeversicherung beglückt. Aber leider ist die eine immer unsinniger als die andere.Ein neuer Höhepunkt dieser regierungsamtlichen Anwendung der Chaostheorie ist das vorliegende Entgeltfortzahlungsgesetz. Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: „Entgeltfortzahlungsgesetz". Denn Inhalt dieses Gesetzes ist nun nicht, wie jeder, der des Deutschen mächtig ist, meinen sollte, die Fortzahlung von Entgelt, sondern die Streichung bisheriger Leistungen. Im Klartext heißt es: An Feiertagen soll künftig ein Fünftel weniger bezahlt werden — angeblich, um damit eine Pflegeversicherung zu finanzieren. Das mag sein, das mag aber auch nicht sein.Es ist doch geradezu absurd und ein unglaublicher Bubenstreich, die Finanzierung für etwas durchpeitschen zu wollen, das es noch gar nicht gibt und dessen Realisierung angesichts dieser auseinanderberstenden Koalition mehr als fraglich ist. Mir und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fehlt jedenfalls das Vertrauen in diese Bundesregierung, um einen solchen Blankoscheck auszustellen.
Metadaten/Kopzeile:
15552 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Konrad Weiß
Wieder einmal hat die Bundesregierung nicht zuerst das Wohl der Pflegebedürftigen bei uns im Lande im Auge, sondern die ach so bedürftige und sieche deutsche Wirtschaft. Das vorliegende Gesetz der christlichen und der freien Demokraten beinhaltet schlicht und einfach eine pauschale Lohnkürzung um 500 bis 600 DM im Jahr. Unter dem Strich sind das je nach Berechnung 10 Milliarden bis 16 Milliarden DM jährlich, von denen vor allem die Wirtschaft profitiert.
Die Koalition sollte ihr Gesetz besser „ Wirtschaftspflegegesetz" nennen. Erneut sollen die Fehler der Bundesregierung, die nach eigenem Bekenntnis den Standort Deutschland verwahrlosen ließ, denen angelastet werden, die ohnehin benachteiligt sind. Wieder einmal wird die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ausgehebelt, die das Grundgesetz von allen Besitzenden, auch und gerade von Unternehmern fordert. Aus dieser Verantwortung können sich weder die Wirtschaft noch die Regierung fortstehlen. Doch Wirtschaftsethik ist seit der geistig-moralischen Wende der CDU unter ihrem Vorsitzenden Kohl wohl ein Fremdwort geworden.Mich erreichte rechtzeitig zu dieser Debatte der Brief eines deutschen Unternehmers, der Panne GmbH im Lahn-Dill-Kreis. Der Mann kann nichts für seinen Namen. Dort steht:Der mündige Bürger versichert sich selbst. Wer das nicht macht, ist nicht mündig; und wer nicht mündig ist, darf nicht wählen. Wenn der Sozialklimbim— ich wiederhole: Sozialklimbim —nicht abgebaut wird, gehen immer mehr Firmen ins billiger produzierende Ausland.Lassen Sie es sich auf der Zunge zergehen, meine Damen und Herren auf der rechten Seite. Ist das die Klientel, für die Sie so lebhaft einstehen?Zu dieser Art Politik gehört anscheinend auch, daß das Grundgesetz beliebig ignoriert oder zumindestens umgangen wird. Erst die Karenztage, nun die Feiertage. Beide Male stellt die Bundesregierung skrupellos die Autonomie der Tarifpartner zur Disposition, ein Grundrecht, das für den sozialen Frieden im Lande unabdingbar ist. In vielen geltenden Tarifverträgen ist die Fortzahlung an Feiertagen ausdrücklich garantiert. Aber auch dann, wenn in den Tarifverträgen die monatliche Entgeltfortzahlung vorgesehen ist, stellt eine pauschale Kürzung, so wie Sie sie vorsehen, einen potentiell verfassungswidrigen Eingriff dar.Neben diesen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken bleiben beim Vorschlag der Koalition eine Menge offener Fragen und Ungereimtheiten. Haben Sie überhaupt einmal die Arbeitgeber konsultiert, ob Ihre Fünftelung der Feiertagsbezahlung praktikabel ist, und, wenn ja, zu welchen Kosten? Haben Sie einmal durchgerechnet, was der öffentlichen Hand durch die Mindereinnahmen aus Lohn- und Einkommensteuer verloren geht? Wie wollen Sie das entstehende Haushaltsdefizit ausgleichen, durch eine neue Pflegesteuer oder durch weitere willkürlicheEingriffe in tarifliche Vereinbarungen? Wie wird die Bundesregierung die zu erwartenden Ausfälle in der Sozialversicherung kompensieren, vielleicht durch neue Beitragserhöhungen? Wie wollen Sie die Arbeitslosigkeit abbauen, wenn Sie durch die Verlängerung der jährlichen Arbeitszeit um immerhin zwei Tage potentielle Arbeitsplätze vernichten? Fragen über Fragen, auf die es keine vernünftige Antwort gibt.Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt eine derart unsolide Finanzierung ab. Wir verwahren uns zudem gegen den Taschenspielertrick, über den Preis entscheiden zu sollen, ohne daß wir die Ware kennen. Wir kaufen nicht die Katze im Sack. Ich habe es hier oft gesagt und wiederhole es: Auch wir erachten eine Pflegesozialversicherung für dringend notwendig und wollen sie so bald als möglich. Aber wir lassen uns nicht auf krumme Geschäfte ein. Wir halten eine steuerfinanzierte Absicherung des Pflegerisikos für die beste Lösung, wissen aber auch, daß sie sich kaum in unser gegenwärtiges Sozialsystem einpassen läßt und politisch nicht — noch nicht — durchsetzbar ist. Deshalb haben wir in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagen, die Pflegeversicherung nach dem bewährten Modell der Sozialversicherung zu gestalten und zu finanzieren und dabei Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen zu belasten. Wir halten das für angemessen und leistbar, auch wenn es eine zusätzliche Belastung für beide Seiten bedeutet.In diesem Zusammenhang sind wir der Auffassung, daß gegenwärtig die Bemessungsgrenze der Krankenversicherung zu niedrig ist und auf das höhere Niveau der Rentenversicherung angehoben werden sollte. Um die Pflegeversicherung alsbald wirksam werden zu lassen, halten wir eine Anschubfinanzierung aus Mitteln des Bundes für unerläßlich. Dies wäre z. B. durch den Verzicht auf Blauhelmabenteuer und eine deutliche Reduzierung der ohnehin sinnlosen Rüstungsausgaben möglich oder durch eine konzertierte Aktion gegen die Steuerhinterziehung und Gewinnverschleierung deutscher Unternehmen und Wohlstandsbürger.Es ist schon heute gewiß, daß es künftig immer mehr Pflegebedürftige im Lande geben wird. Eine verantwortliche Politik muß schon jetzt die demographische Entwicklung nach dem Jahre 2000 im Auge haben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat deshalb im Entwurf einer Pflegeversicherung vorgesehen, ein Sechstel der Einkünfte in einem Kapitalstock zu sammeln, durch den dann auch in acht oder zehn Jahren noch die erforderlichen Pflegeleistungen abgesichert werden könnten, ohne daß man mit einer starken Progression der Beiträge rechnen muß.Wir wenden uns entschieden gegen alle Versuche, das abzubauen und auszuhöhlen, was Arbeiterinnen und Arbeiter in jahrzehntelangen Kämpfen errungen haben. Wir sagen ein klares ja zum Ausbau, nicht zum Abbau sozialer Leistungen in unserem Land. Wir sind der Meinung, daß sie gerecht finanzierbar sind, wenn sowohl die öffentliche Hand wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen in die Pflicht genommen werden. Das Beste, was für den Standort Deutschland getan werden kann, ist, den sozialen Frieden zu bewahren und soziale Gerechtigkeit zu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15553
Konrad Weiß
gewährleisten. Wer dies leichtfertig aufs Spiel setzt, so wie es diese Koalition mit ihrem Pflegeverwirrspiel tut, schadet unserem Land und seinen Menschen.Vielleicht kann Sie wenigstens das zur Besinnung bringen: Diese Politik ist für die Parteien, die sie betreiben, selbstmörderisch. Vor allem aber gefährdet sie unsere Demokratie und gibt jenen Aufwasser, die die Diktatur wollen.
Als nächster spricht nun unser Kollege Dr. Alexander Warrikoff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Entgeltfortzahlungsgesetz steht, wie inzwischen hinlänglich bekannt und mehrfach angesprochen, im Zusammenhang mit dem Pflegesicherungsgesetz.Es wäre natürlich sehr viel einfacher gewesen, auf dem politischen und parlamentarischen Weg nur die Pflege einzubringen. Die Proteste wären möglicherweise auch gekommen; sie wären aber mit Sicherheit weniger heftig gewesen, weil es prinzipiell leichter und populärer ist, Leistungsgesetze im Sozialbereich zu verabschieden als zu kürzen. Es wäre insbesondere deswegen einfacher gewesen, weil das Leistungsgesetz, von dem wir reden, die Pflege, in jeder Beziehung in unserer Gesellschaft in ihrer Notwendigkeit unumstritten ist, weil ausnahmslos alle der Auffassung sind, daß wir denen, die zu pflegen sind, und denen, die die Pflege sowohl zu Hause als auch in Heimen übernehmen, ihr nicht ganz einfaches Schicksal leichter machen müssen.Es wäre sehr viel einfacher gewesen — deswegen geht die SPD diesen Weg; sie macht es sich sehr leicht —, aber trotzdem falsch, weil dem Ausbau des Sozialstaates — man kann, wenn man will, „leider" sagen — auch Grenzen gesetzt sind. Wir dürfen diese Grenzen nicht überschreiten.Meine Damen und Herren, ich möchte nicht unnötig dramatisch wirken, möchte uns aber Schlagzeilen, wie sie jetzt in Holland erscheinen, ersparen.
Diese Schlagzeilen lauten: Der Sozialstaat ist bankrott. — Dies wollen wir unter gar keinen Umständen. Das geht nur dann, wenn wir die Grenzen sehen.Wir haben natürlich an den Protesten, die wir mannigfach gehört haben — wir haben Beispiele dafür —, keine Freude. Wer hat als Politiker schon Freude an Protesten, insbesondere wenn diese von Institutionen kommen, die von großer gesellschaftlicher Bedeutung sind?
— Die Kunst der Politik, Herr Kollege, ist die, daß man auch Sachen macht, die nicht populär sind, und daß man sich nicht nach Protesten richtet.
Wer immer nur danach geht, wo am lautesten geschrien wird, kann wirkliche Politik für die Zukunft nicht gestalten.
— Wir nehmen Proteste ernst, setzen uns aber über sie hinweg, wenn wir glauben, daß das unsere Pflicht ist.Wir erleben jetzt, meine Damen und Herren, einen dramatischen Verlust an Arbeitsplätzen. Natürlich müssen wir uns die Frage stellen, warum das der Fall ist. Wir alle wissen die Hauptgründe: Unsere Betriebe entlassen Mitarbeiter, weil sie keine Aufträge haben, aber — das ist bereits angesprochen worden — eine zweite überaus beunruhigende Tatsache ist, daß Dienstleistungen und vor allem Produktion durch unsere eigenen Betriebe von Deutschland in das Ausland verlagert werden. Ein besonders prominentes Beispiel haben wir jetzt gerade erlebt.Die Frage ist natürlich: Warum machen das die Betriebe? Auch darauf gibt es eine Antwort. Sie machen es nicht etwa deswegen, weil unsere Arbeitnehmer nicht qualifiziert sind — keineswegs, Sie sind sehr qualifiziert. Sie machen es auch nicht deswegen, weil die Infrastruktur für das Wirtschaften in Deutschland nicht gegeben ist — keineswegs, wir haben eine hervorragende Infrastruktur. Und sie machen es auch nicht etwa deswegen, weil sie sich in Deutschland nicht wohlfühlen, ganz im Gegenteil. Es fällt ihnen schwer, hier wegzugehen, weil es auch schön ist in Deutschland. Es ist schön; ab und zu darf man das auch einmal sagen, weil man das so selten hört.Sie gehen vielmehr weg, weil die Produktion bei uns in Deutschland zu teuer ist. Dieses liegt nicht nur an der Arbeit, es liegt auch an anderen Dingen, und ich finde besonders die Tatsache schmerzlich, daß wir Menschen, die sich entschließen, hier irgendwo ein Werk zu bauen, die größtmöglichen Hindernisse in den Weg legen.
Das ist also auch eine Problematik, bei der es schön wäre, wenn sie einmal aufgegriffen würde. Aber es liegt eben auch an den Arbeitskosten. Nun kann man sagen, die Arbeitskosten berühren uns weiter gar nicht, denn das sollen die Arbeitgeber bezahlen, aber die Arbeitgeber können das nur in begrenztem Umfang bezahlen. Wenn sie es nicht mehr bezahlen können, verschwinden — so bedauerlich das ist — die Arbeitsplätze.
Dieses ist nicht vermeidbar. Es ist eine zwingende Folge, daß die Arbeitslosigkeit steigt und daß das natürlich ganz besonders und intensiv, was wir alle sehr bedauern, zu Lasten der Arbeitnehmer geht.Nun ist in den Anhörungen zu meiner Verblüffung, so muß ich sagen, mehrfach geäußert worden, daß ja schon so viel gespart ist. Ich sehe jetzt den Gesundheitsminister nicht. Er ist zitiert worden, wir hätten durch das Gesundheits-Strukturgesetz ja schon genug
Metadaten/Kopzeile:
15554 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Dr. Alexander Warrikoffgespart. Das von Ihnen mit Recht verfolgte Gesundheitsreformgesetz wird gar nicht mehr erwähnt, obwohl es auch sehr viel gespart hat, Herr Minister Blüm, aber auch das Gesundheits-Strukturgesetz wird als Finanzierungselement für die jetzt anstehende Pflege benutzt.Meine Damen und Herren, es ist schön, daß die Ersparnisse hier anerkannt werden, unter anderem vom DGB, aber es genügt ganz offensichtlich nicht. Es genügt nicht deswegen nicht, weil irgendwelche volkswirtschaftliche Seminare das behaupten, sondern weil es die Investitionsströme nicht umkehrt. Die Investitionen deutscher Unternehmen im Ausland sind sehr viel höher als die Investitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland, und das verstärkt und verschärft sich weiter. — Ich bin darüber aufgeregt, ich finde das schrecklich, und ich will, daß wir das sehen und etwas dagegen tun.Nun wollen wir aber, obwohl das so ist, jetzt nicht sagen, jetzt machen wir Schluß mit dem Sozialstaat, wir lassen alles so, wie es ist, und machen überhaupt keine wichtigen weiteren Entwicklungen. Das wollen wir nicht.Wir wollen keine Pause. Wenn wir aber keine Pause wollen, dann kommen wir in den schwierigen Prozeß der Abwägung, in dem wir nämlich gezwungen werden, an etwas heranzugehen, was in unserem Lande Elemente hat, die schon fast überirdisch sind, nämlich den heiligen Besitzstand.
Wir sind der Auffassung, daß wir an Besitzstände herangehen müssen, und wenn man an Besitzstände herangeht, muß man sich daran gewöhnen, daß man in jedem Falle lautstarken Protest bekommt.Für mich war wirklich interessant festzustellen, daß bei unseren Diskussionen über die Pflege und Kompensation, bei denen natürlich die Pflege immer Nummer eins war, die öffentliche Diskussion sich mehr oder weniger auf die Kompensation konzentriert hat,
weil man die Besitzstände bzw. deren Abbau als sehr viel wichtiger als das empfunden hat, was hier wirklich dahintersteht, nämlich die Sicherung des schweren Schicksals der Pflegenden und der zu Pflegenden.
Kollege Warrikoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Herr Kollege, da Sie gerade so vehement die Besitzstände und die Besitzstandswahrung angreifen, frage ich Sie: Warum gehen Sie da nicht einmal an die Besitzstände derjenigen 90 000 Menschen in Deutschland, die im Jahr mehr als 1 000 000 DM an Einkommen haben, und nehmen dort 1 % mehr weg?
Zuerst einmal sind die Leute mit dem Millioneneinkommen in der höchsten Steuerstufe, was Sie sicher wissen, und zum zweiten deswegen, weil diese Forderung zwar populistisch ist, weil sie aber unter dem Strich so gut wie gar nichts bringt.
— Natürlich, wenn Sie einmal ausrechnen — ich empfehle Ihnen jetzt wirklich einmal die Grundrechenarten —, was zusammenkommt, wenn man die Millionäre höher besteuert, so ist das sehr, sehr wenig, weil es eben verhältnismäßig wenig Millionäre gibt, meine Damen und Herren.
Die Opposition hat hinreichend klar erkannt, daß große soziale Leistungen überhaupt nur finanzierbar sind, wenn sie auch die mittleren Einkommen treffen, weil sich bei uns das Gesamteinkommen glücklicherweise ganz besonders stark bei den mittleren Einkommen konzentriert.
Wir haben bei dieser Anhörung an die Verbände die Frage gestellt — ich habe diese Frage mehrfach gestellt —: Wie wäre es denn, wenn ich Ihnen jetzt die realistische Alternative vorstelle: ein Pflegegesetz mit einem Eingriff in Besitzstände auf der einen Seite oder weder Pflegegesetz noch Eingriff? Die Antwort darauf wahr sehr unklar. Eines war aber sehr klar: daß die jeweiligen institutionalisierten Interessen unter gar keinen Umständen bereit sind, Opfer zu bringen, die ihre eigene Klientel berühren. Das ist legitim.
Jeder kann für seine eigene Klientel eintreten.
Als ich gefragt habe: Wie sollen wir denn kompensieren, wenn ich unterstelle, daß wir es nur mit einer Kompensation machen?, da wurde mir geantwortet: Dafür sind Sie zuständig. Das heißt — und ich akzeptiere das —: Für das Schwierige, für das Unangenehme, für das, mit dem wir andere Leute ärgern müssen, ist nach dem Selbstverständnis der Mehrheit unserer Menschen — wogegen ich nicht protestiere — die Politik zuständig. Ich bedaure, daß das nicht gesehen wird. Die Menschen laden alles, was schwierig ist, bei uns ab, identifizieren uns gewissermaßen mit diesen ganzen dauernden Schwierigkeiten und sagen dann: Die Politik ist unbeliebt. Die Politik ist deswegen unbeliebt, weil sie alle unangenehmen Sachen lösen muß.
Diese Bemerkung war überparteilich.
Herr Kollege Warrikoff, von der Kollegin Kolbe wird noch eine Zwischenfrage gewünscht.
Bitte sehr.
Kollege Warrikoff, wenn Sie sagen, daß man an die mittleren Einkommen herangehen muß, um unter dem Strich überhaupt etwas herauszubekommen, frage ich Sie: Warum sind die Beamten nicht in diesem Paket enthalten, warum
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15555
Regina Kolbenicht die Selbständigen, warum nicht die Abgeordneten? Können Sie mir das beantworten?
Frau Kollegin, sehen Sie mir bitte kollegialerweise nach, daß ich darauf an einer anderen Stelle meines gewaltigen Manuskripts eingehe. Ich beantworte die Frage, bitte aber um Nachsicht, daß ich es erst später tue.
— Ich kann das jetzt nicht mehr ändern.
Die Koalition stellt sich dieser unangenehmen Aufgabe, die auf die Politiker zukommt. Wir sagen: Wir machen beides, wir wollen die Pflegeversicherung, aber wir wollen sie nur dann und können sie nur dann wollen, wenn gleichzeitig kompensiert wird. Dies ist übrigens auch eine sehr wichtige programmatische Aussage: Es wird weder das Kompensationsgesetz allein Bestand haben dürfen noch das Pflegegesetz. Wir werden im gesetzgeberischen Prozeß dafür sorgen, daß beides gemeinsam kommt.
Wir stellen uns der Aufgabe und machen also beides: sowohl Eingriffe in Besitzstände wie auch Pflegeversicherung. Wie wir das machen, will ich aus Zeitgründen jetzt nicht ausführen. Sie wissen, wie wir uns das vorstellen. Auf alle Fälle wird unser Ziel erreicht: Wir schaffen die Kompensation, die wir brauchen. Diese Kompensation trifft übrigens alle Arbeitnehmer gleichmäßig.
Bei der Auswertung der öffentlichen Diskussion und auch der Anhörung zum Problem der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall trat eine Schwäche zutage, zu der wir uns bekennen. Es gibt ja Leute, die nie etwas dazulernen. Wir haben in diesem Prozeß die klare Einsicht gewonnen, daß es nicht angemessen wäre, wenn jetzt die Kranken die Kosten für die Pflegeversicherung tragen sollten. Das ist eliminiert. Die Feiertage gelten für alle. Auf die Beamten, Frau Kollegin Kolbe, komme ich zurück. Alle zahlen gleichmäßig, denn die Feiertage gelten für alle gleichermaßen.
Allerdings verzichten wir dabei ein wenig auf das Element der Mißbrauchsbekämpfung, was wir bedauern. Aber ich darf daran erinnern, daß unser Gesetz und das zu verabschiedende Pflegegesetz weiterhin wichtige Elemente der Mißbrauchsbekämpfung — Meldepflichten, medizinischer Dienst, Pflichten der Ärzte — enthalten werden, so daß keineswegs ganz auf Mißbrauchsbekämpfung verzichtet wird. Aber anstelle der Karenztage halten wir dies durchaus auch auf der Grundlage des Dialogs, den wir mit der Öffentlichkeit geführt haben — auch das gehört ja zu unseren Aufgaben —, für nicht richtig.
Meine Damen und Herren, die Gleichmäßigkeit der Belastung beschränkt sich nicht nur auf das Formale, sondern sie gilt auch substantiell, also in der Höhe. Denn derjenige, der mehr verdient, verliert ja durch die Kürzung von 20 % am Feiertag — das hatten Sie bereits in der Geschäftsordnungsdebatte mit Recht angesprochen — mehr als einer, der weniger verdient. Wir orientieren uns daher auch bei den Kürzungsgesichtspunkten sehr zu Recht, wie ich glaube, an der Krankenversicherung, wo die Leistungen, die der einzelne aus der Krankenversicherung bekommt, völlig unabhängig von der Höhe der Beiträge sind, im Gegensatz übrigens zur Rentenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung, wo das anders ist.
Wir glauben, daß das an dieser Stelle so gemacht werden muß, was natürlich ein soziales und solidarisches Element hat. Diejenigen — die es gibt; auch das wissen wir —, denen der Verzicht auf diese knapp zwei Tage Entlohnung im Jahr schwerfällt, können stattdessen Urlaub nehmen. Dabei darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß wir in Deutschland nicht so ganz wenig Urlaub haben. Unter nicht ganz wenig verstehe ich die Weltspitze. Wir haben den meisten Urlaub in der Welt. Das gilt nicht ganz für die Feiertage, bei den Feiertagen sind wir nicht ganz Weltmeister, da gibt es irgendwen, der hat noch einen mehr. Aber ich glaube, wir sind bei den Feiertagen Vizeweltmeister.
Meine Damen und Herren, nun wird diesem entgegengehalten, vor allem wenn Urlaub genommen wird, daß dadurch die Menschen mehr arbeiten und daher in Zeiten der Arbeitslosigkeit durch die in der Tat steigende Produktivität die Gefahr zusätzlicher Arbeitslosigkeit entsteht. — Wer so argumentiert, und das tun viele, denkt einfach und schlicht zu kurz.
Wir sind der Überzeugung, daß wir mehr Beschäftigung und schließlich Vollbeschäftigung nur dann bekommen werden und bekommen können, wenn wir an den Märkten wettbewerbsfähiger sind,
das heißt, wenn wir unsere Produkte billiger herstellen als jetzt.
Die Firma Mercedes Benz hat ihre Fabrikation nach Alabama verlegt, nicht etwa in ein Niedriglohnland,
mit der Begründung, daß dort die Löhne so viel niedriger sind, mit der ausdrücklichen Aussage, daß Arbeitsplätze in Deutschland nicht verlorengehen; denn wenn man dieses Fahrzeug in Deutschland bauen würde, würde man es überhaupt nicht bauen, weil es dann nämlich zu teuer wäre. Das ist die Situation.
Wir müssen also unter anderem die Arbeitskosten senken; denn nur auf diese Weise kommen wir zu einem Wachstum. Meine Damen und Herren, wir werden unsere Pobleme mit Sicherheit nicht lösen können, wenn wir kein Wirtschaftswachstum bekommen. Dies gilt nicht nur für den Arbeitsmarkt, sondern das gilt auch für den Sozialhaushalt, für den Haushalt des Bundes, und wofür es noch gilt. Wir brauchen wieder Wachstum, und das muß zu einer höheren Leistung führen.
Herr Kollege Warrikoff, es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Metadaten/Kopzeile:
15556 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Ja, bitte sehr.
Kollege Dreßler, bitte.
Herr Kollege, weil Sie gerade Alabama angesprochen haben. Ist Ihnen bekannt, daß die Firma Mercedes die Motoren für die Autos, die in Alabama hergestellt werden, in Deutschland produzieren läßt?
Und wenn ja, welche Schlüsse ziehen Sie daraus im Verhältnis zu Ihrer hier gerade vorgetragenen These?
Ich schließe daraus mit Freude, daß es halt noch Produktion gibt — Gott sei Dank, das ist ja schön —, die wir in Deutschland machen können, weil der Qualitätsstandard offenbar nur hier erreicht wird.
Aber ich stelle gleichzeitig auch fest, daß die Assemblierung der Fahrzeuge, die in Alabama erfolgt, in Deutschland nicht mehr wirtschaftlich möglich ist. Diesen Schluß ziehe ich. — Wissen Sie, Herr Dreßler, was ich für Schlüsse ziehe, ist eigentlich gleichgültig. Wichtig ist, was die Wirtschaft für Schlüsse zieht.
Und die Wirtschaft hat den Schluß gezogen, daß in Amerika investiert wird. Das können Sie nicht ignorieren!
Kollege Warrikoff, noch eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Kauder, dann noch eine Zwischenfrage der Kollegin Weiler.
Ja bitte, natürlich.
Herr Kollege Dr. Warrikoff, ist Ihnen bekannt, daß es Diskussionen gibt, sowohl im Volkswagenwerk als auch bei Daimler Benz, Motoren in Zukunft in der Tschechoslowakei produzieren zu lassen?
Ich habe davon gelesen. Ich kann immer wieder nur mit großer Intensität hoffen, daß es gelingt, diese Pläne zu verhindern, aber nicht so zu verhindern, daß die Produktion ganz entfällt, sondern daß sie in Deutschland mit Hilfe von allem, was da gemacht werden kann, gehalten werden kann.
Nun noch die Zwischenfrage der Kollegin Weiler.
Ganz kurz, Herr Kollege Warrikoff. Im Rahmen der Verlagerung nach Alabama habe ich im Fernsehen gehört, daß ein wichtiger Grund dafür gewesen sein soll — und meine Frage ist, ob Ihnen das bekannt ist —, daß dort eben der Einfluß oder die Möglichkeiten der Mitbestimmung der Gewerkschaften praktisch auf null ist. Fänden Sie diese Schlußfolgerung, die Sie daraus gezogen haben, im Sinne der Sozialpartnerschaft in Deutschland?
Nein, das würde ich nicht finden. Frau Kollegin Weiler, wir beide zitieren jetzt — ich jedenfalls — die Fernsehsendung aus dem Gedächtnis. Ich hatte diese Zusatzinformation, die ich ähnlich bewerte wie Sie, so verstanden, daß das eine Information des Fernsehsenders ist. Ich habe es nicht so verstanden, daß die Firma Mercedes-Benz erklärt hätte, wir gehen nach Alabama, weil es dort keine Gewerkschaften gibt.
Ich kann mich nur an den Informationen im Fernsehen orientieren.
Jetzt gibt es noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege Dr. Warrikoff. Das wird alles nicht auf Ihre Redezeit angerechnet. Das dient der Lebendigkeit der Diskussion.
Herr Kollege Weiß.
Halten Sie es für patriotisch und mit dem Gebot des Grundgesetzes in Einklang stehend, wenn deutsche Unternehmen nach Alabama gehen, statt in Zwickau, Sachsen oder in Schwerin zu investieren?
Die deutschen Unternehmen haben unter anderem die Pflicht, selbst im harten Wettbewerb zu überleben. Wenn wir dem Unternehmen Pflichten aufbürden, die sie nicht tragen können, und treiben sie in Verluste oder Schlimmeres, dann verschwinden damit Arbeitsplätze endgültig.
Die Firma Mercedes-Benz hat — ich wiederhole dies — ausdrücklich erklärt — wenn Sie das anzweifeln, was Ihr gutes Recht ist, dann zweifeln Sie bitte nicht mich an, sondern stellen Sie die Fragen bei der Firma Mercedes-Benz —, daß diese Produktionsschritte, die in Alabama vorgesehen sind, in Deutschland wirtschaftlich nicht möglich sind. Wenn das die Alternative ist, kann ich das verstehen. Aber die Konsequenz, die wir ziehen — das ist der Gesetzentwurf, den wir hier behandeln —, muß doch sein, daß wir die Arbeitskosten und insbesondere auch die Lohnnebenkosten nicht weiter erhöhen. Bitte sehen Sie doch einmal diese Konsequenz!
Im übrigen handelt es sich um ein klassisches Feld der Lohnnebenkosten, denn hier werden Aufwendungen für Zeiten gemacht, in denen nicht gearbeitet wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15557
Herr Kollege Warrikoff, der Kollege Siegfried Hornung würde gern noch eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne.
Herr Kollege Warrikoff, nachdem Daimler-Benz mehrfach angesprochen worden ist: Wissen Sie, daß einer der Vorsitzenden ein Sozialdemokrat ist?
Das weiß ich, ja. Er ist auch der Sohn eines ganz außerordentlich verdienstvollen und großartigen Mannes der deutschen Sozialdemokratie, Ernst Reuter. War da übrigens nicht irgendein Geburtstag oder Todestag? In der Bewertung der Lebensleistung des früheren Berliner Bürgermeisters Reuter meine ich eine allgemeine Übereinstimmung in diesem Haus sehen zu können. — Ich wäre dankbar, wenn jetzt mal geklatscht würde. Das hat er verdient.
Meine Damen und Herren, wenn wir das so machen, wie die Opposition es vorhat und einfach nur die Pflege einführen, dann hätte das, abgesehen von den ganzen wirtschaftlichen Gesichtspunkten, auch psychologisch eine katastrophale Wirkung. Denn die Wirtschaft würde sagen: „Wir haben das Gefühl, bei denen geht es nicht mehr mit rechten Dingen zu. Die wissen, daß wir mit dem Rücken an der Wand stehen und um jeden Arbeitsplatz und jeden Standort kämpfen, und die da oben knallen uns noch eins drauf."
Unabhängig davon, ob das im Einzelfall einer Firma — es gibt ja auch Firmen, die immer noch gut verdienen — berechtigt ist, wäre das psychologische Signal, das damit verbunden ist, in jedem Fall verhängnisvoll, weil es eine Verachtung der Probleme der Wirtschaft darstellt. Aus diesem psychologischen Grund können wir das nicht machen.
Meine Damen und Herren, ich komme nunmehr zu den Nichtarbeitnehmern, also den Beamten, Abgeordneten, Parlamentarischen Staatssekretären, Ministern, Soldaten, Richtern. Die können wir in dieses Gesetz nicht aufnehmen, weil wir leider annehmen müssen, daß der Bundesrat dieses Gesetz ablehnen wird. Durch die Aufnahme der Beamten würde das Gesetz zustimmungspflichtig.
Das wollen wir unter gar keinen Umständen.
Wir werden es im Pflegegesetz mit absoluter Sicherheit unterbringen. Das sage ich Ihnen verbindlich zu, wobei ich darauf hinweisen möchte, daß dann ein interessanter Punkt sein wird, ob der Bundesrat das Pflegegesetz, das ja zustimmungsbedürftig ist, ablehnen wird.
Meine Damen und Herren, wir haben verfassungsrechtlich heute eine ganz besondere Sache erlebt. Der
Abgeordnete Dreßler hat erklärt, wir würden vorsätzlich das Pflegegesetz verhindern. Diese vorsätzliche Verhinderung ist nur dann möglich, Herr Kollege Dreßler, wenn der Bundesrat es endgültig ablehnt. Ich habe mit großem Erstaunen festgestellt, daß Sie in dieser Form über den Bundesrat und stolze Ministerpräsidenten auch Ihrer Partei reden. Da stellt sich schon die Frage, ob Sie die Regierungen der deutschen Bundesländer allesamt in Ihrem Sack haben. Mit welcher Begründung geben Sie hier solche Erklärungen für den Bundesrat ab? Ich kann mich nur wundern.
Meine Damen und Herren, ich muß jetzt in der Tat auf die Uhr blicken, obwohl mir die Frau Präsidentin bzw. der Herr Präsident vorhin die Zeit nicht abgezogen hat.
Ich möchte zur Verfassungsmäßigkeit nur einen Satz sagen. Es kann einfach nicht sein, daß die Tarifvertragsparteien durch ihre Zuständigkeit, sei sie benutzt oder unbenutzt — in bezug auf die Feiertage wird ja behauptet, es sei gar keine tarifliche Regelung —, dem Gesetzgeber jede Art von Weiterentwicklung unmöglich machen. Ich halte es verfassungsrechtlich für undenkbar, daß man zu einer solchen Konsequenz kommen könnte.
Kollege Warrikoff, lassen Sie es dabei bewenden; Ihre Redezeit ist abgelaufen.
In dieser Sekunde. Herr Präsident, ich stelle fest, daß ich einen ungeheuer wirkungsvollen Schlußsatz hatte, der jetzt dem Hohen Haus vorenthalten bleibt. Ich stelle auch fest, daß ich mit großer Strenge behandelt worden bin.
Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gerd Andres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Warrikoff, es wäre schon besser gewesen, Sie hätten sich ein Redemanuskript aufgeschrieben; dann wären die Aussagen nicht ganz so wirr und durcheinander gewesen wie das, was Sie uns hier geboten haben.
Ich möchte Ihnen zu einem zentralen Argument, das immer wieder genannt wurde, noch etwas sagen: Die Bundesrepublik Deutschland ist unbestreitbar ein Land mit hohen Arbeitskosten. Aber Ihre Strategie in der ökonomischen Debatte ist, alle Schwierigkeiten, die die Bundesrepublik Deutschland ökonomisch gegenwärtig unbestreitbar hat, auf die Frage der Arbeitskosten zu reduzieren. Wenn Sie sich einmal anschauen, wo unsere Schwierigkeiten eigentlich liegen, dann sage ich Ihnen als meine Position: Wir
Metadaten/Kopzeile:
15558 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Gerd Andreshaben eine massive Modernisierungslücke bei Produkten und bei modernen Produktionsverfahren.
Wenn Sie glauben, die Bundesrepublik Deutschland könne ökonomisch überleben, wenn sie sich in bezug auf die Arbeitskosten auf Größenordnungen der Tschechoslowakei, Taiwans oder anderer einstellt — Herr Kauder hat das ja vorhin gefragt —, dann wird dies in der Bundesrepublik Deutschland ökonomisch zu einem Trümmerhaufen führen.
Deswegen empfehle ich Ihnen, auch im Zusammenhang mit der Pflege ein bißchen vernünftiger und sachlicher den Versuch zu unternehmen, zu argumentieren und nicht die SPD in eine Ecke zu schieben und so zu tun, als seien wir zuständig für die Einführung und Finanzierung aller Wohltaten, ohne daß wir uns ein Gramm Gedanken darüber machen, wie sie eigentlich zu finanzieren sind. Sie wissen selbst, daß diese Argumentation schlicht unredlich ist, Herr Dr. Warrikoff.
Herr Kollege Andres, der Kollege Kauder möchte eine Zwischenfrage stellen.
Herrn Kauder lasse ich momentan noch nicht zu. Ich bitte ihn, sich ein bißchen später zu melden.
Ich möchte zu einem zweiten Aspekt etwas sagen. Frau Dr. Babel, ich bin froh, daß Sie wieder hereingekommen sind, weil ich Ihnen sagen muß: Ihre Antwort auf die Zwischenfrage meines Kollegen Dreßler, die lautete, man solle in Zukunft die Gewerkschaften zu Anhörungen überhaupt nicht mehr einladen, halte ich exakt für den Ausdruck dessen, was in Ihrem Kopf vorgeht.
Ich bin entschieden der Meinung, man muß Sie häufiger ohne Manuskript reden lassen, weil dann wirklich das an Sozialdarwinismus zum Vorschein kommt, was in Ihrem Kopf steckt und was die Begründung für Ihre ganze Strategie in der Auseinandersetzung um die Pflegeversicherung ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Babel?
Ihr gestatte ich eine Zwischenfrage, gern.
Herr Kollege Andres, geben Sie zu, daß es von den Kollegen der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. keinen gibt, der bei diesen drei Anhörungen von den Äußerungen der Gewerkschaft in irgendeiner Weise überrascht war, weil wir alles dies schon oft und immer so gehört haben? Es war vorhersehbar. Darauf wollte ich hinweisen. Es ist eine Gebetsmühle, der wir ausgeliefert sind, und ich frage mich, ob das sinnvoll ist. Und das kann ich in einer vorbereiteten Rede genauso sagen.
Also, Frau Dr. Babel, ich weiß nicht, wie die Koalitionsabgeordneten die Sachverständigen wahrgenommen haben. Ich habe sie anders wahrgenommen. Ich halte es für außerordentlich entlarvend, wenn eine deutsche Parlamentarierin in einer Parlamentsdebatte erklärt, künftig sollten die deutschen Gewerkschaften nicht mehr zu Anhörigen eingeladen werden. Das halte ich für sehr entlarvend.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am vergangenen Samstag erschien ein bundesdeutsches Wirtschaftsmagazin mit einem Artikel zum Entgeltfortzahlungsgesetz und zur Pflegeversicherung, der mit dem Titel überschrieben war: „Blüms Lohnraub". Der Untertitel lautete: „Der Arbeitsminister steht mit dem Rücken zur Wand. Ein Ausweg ist nicht in Sicht. " Die prägnante Charakterisierung des hier zur Beratung vorliegenden Gesetzes als Lohnraub wird offensichtlich nicht nur von Milllionen von Arbeitnehmern und von uns so gesehen, sondern ist in der Zwischenzeit auch schon die Beurteilung von Wirtschaftsjournalisten.Am vergangenen Mittwoch, meine sehr verehrten Damen und Herren, wurde den Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung eine Drucksache überreicht, versehen mit Drucksachennummer 12/945. Darin teilten die Beschäftigten einer Bielefelder Firma folgende Protestresolution mit:Sehr geehrte Damen und Herren, mit Empörung haben wir erfahren, daß nun die Feiertagsbezahlung an zehn Feiertagen im Jahr um 20 % gekürzt werden soll. Diese Streichung eines Tarifrechts ist Verfassungsbruch. Die Tarifverträge sind durch die Tarifautonomie der Verfassung geschützt. Wir erwarten, daß eine Pflegeversicherung eingeführt wird, die zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert und bei der auf jegliche Kompensation verzichtet wird.
Wir fordern Sie auf, den Gesetzentwurf zur Finanzierung der Pflegeversicherung durch Streichung der Feiertagsbezahlung abzulehnen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ist die Mitteilung einer Belegschaft. Ich sage Ihnen, ich denke, daß in dieser Resolution, in dieser Drucksache, stellvertretend die Wut und die Empörung, die es bei Hunderttausenden von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Lande über dieses Gesetzeswerk gibt, zum Ausdruck kommt.Das Gesetz ist schon im Titel eine bewußte Täuschung. Hier haben mehrere Rednerinnen und Redner schon darauf hingewiesen. Korrekt müßte es heißen: „Gesetz über die Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle, der Entgeltkürzung an
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15559
Gerd AndresFeiertagen zum Zwecke der Abwälzung der Beitragsanteile der Arbeitgeber auf die Arbeitnehmer bei Einführung einer Pflegeversicherung."
Dieser Titel, meine sehr verehrten Damen und Herren, würde relativ exakt wiedergeben, worum es in diesem Gesetz geht.Bei allen unsozialen gesetzlichen Maßnahmen der Bundesregierung bringt meiner Auffassung nach dieser Gesetzentwurf das Faß zum Überlaufen.
Hiermit wird die Koalition nachhaltig den sozialen Frieden zerstören. Sie hebeln am Tage seines Inkrafttretens alle bestehenden Tarifverträge aus. Sie nehmen bewußt in Kauf, daß damit der Gesetzgeber seine Neutralitätspflicht gegenüber den Tarifvertragsparteien aufgibt. Diese Regierungskoalition, eine Koalition der Widersprüche und nicht erfüllter Versprechungen, entwickelt sich meiner Auffassung nach als größte Gefahr für den Standort Deutschland.
Durch die Verabschiedung dieses Gesetzentwurf es legen Sie die Grundlage für eine Konfrontation der Tarifvertragsparteien, die erstens völlig unnötig ist und sich zweitens negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken wird. Man muß kein Prophet sein, um zu erkennen, daß Sie mit diesem Gesetz Wind säen und Sturm ernten werden.
Zur Farce, meine sehr verehrten Damen und Herren, geriet Ihnen auch das parlamentarische Beratungsverfahren. In Wahrheit ging es Ihnen zu keiner Zeit um die Tatbestände, die das Gesetz regelt. Es war von Anfang an ein Vehikel, mit dem die Einführung eines bitter notwendigen Pflegeversicherungsgesetzes über Ihre koalitionspolitischen Hürden gebracht werden sollte.Die Begründung für eine Rechtsetzungsnorm hat, wie Sie wissen, besondere Bedeutung. Von Anfang an ging es nur um die Kompensation bei der Pflegeversicherung. Alle bombastisch aufgeblasenen Begründungen, wie „Mißbrauchsbegrenzung", „Prinzipien der Selbstbeteiligung" und andere Gesetzgebungsabsichten wurden achtlos zur Seite geräumt, was man an den seltsamen Mutationen des Gesetzes über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle sehr leicht nachweisen kann.Eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und Regelungsbedingungen für Arbeiter, Angestellte, geringfügig Beschäftigte und Heimarbeiter im Krankheitsfalle ist sinnvoll. Das Reagieren auf höchstrichterliche Urteile sowie die Entwicklung im EG-Bereich durch den Gesetzgeber im Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle ist zu begrüßen. Hier gesetzgeberische Initiativen zu ergreifen, macht Sinn und ist deshalb auch nicht zu kritisieren. Aber diese Gründe waren von Anfang an nicht die Begründungszusammenhänge, mit denen dieses Gesetz eingebracht wurde. Es ging Ihnen ausschließlich darum, durch die Einführung vonKarenztagen Ziffer 11 Ihrer Koalitionsvereinbarung zum Pflegeversicherungsgesetz umzusetzen.Bei der Sachverständigenanhörung, die in einer öffentlichen Sitzung am Montag, den 6. September 1993 in der Bonner Beethovenhalle durchgeführt wurde, erlebten Sie bei Ihrer Forderung nach Einführung von Karenztagen Ihr Waterloo. Der Ausschußbericht, der als Drucksache dem Deutschen Bundestag vorliegt, formuliert es etwas vornehmer. Dort heißt es:In der Anhörung am 6. September 1993 erfuhr die Karenztageregelung nahezu einhellige Ablehnung.Nach dieser öffentlichen Ohrfeige für das erste Entgeltfortzahlungsgesetz legte die Koalition am vergangenen Donnerstag den Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ein umfangreiches Änderungspaket vor, mit dem sie die Karenztageregelung durch die 20 %igen Abschläge bei der Feiertagsbezahlung ersetzt. Unserer Auffassung nach, meine sehr verehrten Damen und Herren, handelt es sich dabei um ein völlig neues Gesetz.
Mit Ihrer Mehrheit haben Sie in einem entwürdigenden Verfahren diese völlig neue Gesetzeskonstruktion binnen einer Woche durch das Parlament gepaukt.Mit den Feiertagsabschlägen haben Sie eine Regelung aufgenommen, die bereits im Sommer des vergangenen Jahres in einem Rundschreiben enthalten war, das Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm an seine „lieben Freunde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion" verschickte. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Kollege Scharrenbroich: In Ihrer Rede haben Sie schlicht die Unwahrheit gesagt. Der Vorschlag des Feiertagsabschlags stammt aus dem Bundesarbeitsministerium und ist schon im vergangenen Jahr im Sommer als eine der drei Alternativen durch das Bundesarbeitsministerium an Ihre Fraktion, im Briefkopf Herr Dr. Blüm, verschickt worden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharrenbroich?
Wenn die Uhr angehalten wird, j a.
Die wird immer angehalten.
Herr Kollege Andres, haben Sie Verständnis dafür, daß ich nicht alle Schreiben des Arbeitsministeriums zur Kenntnis nehme, daß es mir vielmehr darum geht, Ihre Polemik, daß dies ein Arbeitgebervorschlag wäre, ad absurdum zu führen. Darum ging es in meinem Redebeitrag. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Herr Scharrenbroich, ich bin nicht bereit, das zur Kenntnis zu nehmen,
Metadaten/Kopzeile:
15560 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Gerd Andresund möchte Ihnen auf Ihre Frage wie folgt antworten: Sie haben hier, angefangen bei einer Bundestagskollegin bis hin zur CDA, aufgezählt, wer die Erfinder dieses Vorschlages sind. Ich sage Ihnen: Sie haben dadurch, daß Sie einen Teil der Wahrheit weggelassen haben, die Unwahrheit gesagt. Die Erfinder dieses Vorschlages sitzen schon seit längerer Zeit im Bundesarbeitsministerium und haben diesen Vorschlag schon im Sommer des vergangenen Jahres in einem Anlagepapier zum Rundschreiben des Bundesarbeitsministers an alle Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion verschickt.Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang noch etwas sagen, Herr Scharrenbroich. Ich finde es außerordentlich bedauerlich — ich muß das schon sagen —, angesichts der Tatsache, daß es große Teile der Christlich-Sozialen Arbeitnehmerschaft gibt, die natürlich auch den Prinzipien von sozialer Gerechtigkeit, von Gemeinsinn und von Solidarität verbunden sind, daß Sie sich hier in dieser Art und Weise verbiegen und dieses Monstrum an Gesetz für die Arbeitnehmergruppe im Bundestag begründen.
Herr Scharrenbroich, ich denke, man kann sich kaum noch mehr prostituieren, als Sie das gegenüber den Inhalten, die die Christlich-Sozialen Arbeitnehmer sonst immer vertreten, getan haben.
Unter Ziffer 6, einer Anlage zu diesem Brief, zur Änderung der Lohnfortzahlung konnte man nachlesen:Demgegenüber fällt die Regelung der Entgeltfortzahlung an allen Feiertagen in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Änderungen der Entgeltfortzahlung an Feiertagen sind rechtlich grundsätzlich möglich. Eine solche Änderung ist jedoch nur sinnvoll, wenn sie auch auf die für viele Arbeitnehmer vereinbarten Monatsvergütungen wirkt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, besonders der letzte Satz dieses Zitates ist verräterisch. Um es klipp und klar zu sagen: Nicht die Änderungen des Feiertagsentgeltgesetzes halten wir für verfassungswidrig. Der Gesetzgeber kann, so wie er seit 1951 die volle Bezahlung der Feiertage geregelt hat, eine andere Bezahlung regeln. Diese Regelung allein wäre aber für die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer völlig folgenlos, da für sie entsprechend dem letzten Absatz des Schreibens von Herrn Blüm Monatsvergütungen vereinbart sind.Im neuen Art. 12 des Gesetzes — Schlußvorschriften — wird in § 2 Abs. 2 folgendes geregelt:Abweichend von Absatz 1 treten die im Zeitpunktdes Inkrafttretens dieses Gesetzes bestehendenVereinbarungen — insoweit außer Kraft, als sieArtikel 1 § 2 Abs. 2 und 3 des Entgeltfortzahlungsgesetzes nicht berücksichtigen... .Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, greifen Sie mit diesem Gesetz in bestehende Tarifverträge ein. Diese Regelung halten wir für verfassungswidrig.
Nach dem Grundgesetz darf der Gesetzgeber in die Tarifautonomie nur dann eingreifen, wenn es um ein höheres Rechtsgut geht. Mit dieser gesetzlichen Regelung verletzt meiner Auffassung nach der Gesetzgeber in eklatanter Art und Weise die Neutralitätspflicht gegenüber den Tarifvertragsparteien. Mit dem Gewicht staatlichen Rechts schlägt er sich auf dem Felde des Tarifrechts parteilich auf die Arbeitgeberseite.
Überzeugt davon, daß die bisherigen Tarifverträge, was Entgelt und Urlaubsregelung angeht, nicht in die Ertragslage der Wirtschaft passen, führt sich die Koalition auf wie ein Elefant im Porzellanladen und setzt die auf komplizierte Weise zwischen den Tarifparteien ausgehandelten Kompromisse einfach außer Kraft. Gleichzeitig stärkt sie die Verhandlungsposition der Arbeitgeber in den nächsten Tarifrunden; denn das Gesetz läßt ausdrücklich zu, daß sein Inhalt durch neue Tarifverträge rekompensiert wird. Also sind wohl auch nach Meinung der Koalition Feiertagsentgelte und Urlaubsregelung ureigenes Feld von Tarifverhandlungen. Nur werden bereits von den Partnern erzielte Ergebnisse erst einmal kräftig gesetzlich zugunsten der Arbeitgeberseite korrigiert.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies geschieht zu einem Zeitpunkt, bei dem die Arbeitgeber erstmals mit einer eigenen Kündigung der Tarifverträge über Lohn und Urlaub in der westdeutschen Metallindustrie einen Frontalangriff gegen den sozialen Frieden gestartet haben. Wir halten das zeitliche Zusammentreffen beider Maßnahmen für keinen Zufall.Wie Hohn muß es für die betroffenen Arbeitnehmer klingen, wenn die Bundesregierung für die Feiertagsabschläge wahlweise Urlaubstage anbietet und gleichzeitig die Arbeitgeber Urlaubshöhe und Urlaubsgeld massiv unter Beschuß nehmen.
Wen wundert es, wenn diese Bundesregierung die Tarifautonomie zur Disposition stellt und im gleichen Atemzug die Hardliner im Arbeitgeberlager den Versuch unternehmen, in der Tarifpolitik das Rad der Geschichte zurückzudrehen? Wen wundert es! Ich halte es für empörend, was hier mit diesem Gesetzentwurf gemacht wird, Herr Arbeitsminister Blüm.
Hinzu kommt, daß Sie unserer Auffassung nach auch mit dem möglichen Verzicht auf Urlaubstage gegen die Unabdingbarkeit von Tarifverträgen ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15561
Gerd Andresstoßen. Auch dies ist ein weiterer Punkt, der in unsere verfassungsmäßige Beurteilung hineinpaßt.Im Oktober 1989 hat die Bundesregierung in Übereinstimmung mit den Sozialpartnern Vorschläge für soziale Mindeststandards für die Europäische Gemeinschaft formuliert. Neben dem Jahresurlaub, dem Mutterschutz, dem Gesundheitsschutz und der Sicherheit am Arbeitsplatz enthalten diese Mindeststandards auch die Entgeltfortzahlung an Feiertagen. Hier liest man erstaunt folgende Formulierung:Arbeitnehmer dürfen an anerkannten Feiertagen keinen Entgeltausfall haben. Einzelheiten bestimmt die innerstaatliche Rechtsordnung.Wohlgemerkt, meine sehr verehrten Damen und Herren: eine Position der Bundesregierung, die mit allen Sozialpartnern abgestimmt war. In dieser Position stimmen wir Ihnen nachdrücklich zu.
Herr Kollege Andres, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Darf ich einen letzten Satz sagen, Herr Präsident?
Einen Satz!
Der letzte Satz: Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Gesetz ist überhaupt nicht geeignet, Fragen, die in ihm angeblich niedergelegt sind, sachgerecht zu lösen. Dieses Gesetz ist überhaupt nicht in Zusammenhang zu bringen mit einem völlig unzureichenden Pflegegesetz, das wir — so wie dieses Gesetz auch — hier im Deutschen Bundestag ablehnen werden. — Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich gleich dem Kollegen Scharrenbroich das Wort. Ich möchte aber vorher noch an Ihre Adresse und an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen, die die Debatte am Lautsprecher verfolgen, sagen, daß wir etwa gegen 11.45 Uhr zur namentlichen Abstimmung kommen werden.
Bitte, Herr Kollege Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Vorwurf des Kollegen Andres zurückweisen, daß ich die Unwahrheit gesagt hätte. Ich will das mit meinem Manuskript belegen.
Ich finde es ausgesprochen lächerlich, so etwas zu behaupten, wenn ich darlegen will — das habe ich wörtlich gesagt —, daß dies nun nicht ein Vorschlag der Arbeitgeber ist, und ich erwähne, daß die Kollegin Löwisch das am 25. April zum erstenmal vorgeschlagen hat. Ich habe mich sachkundig gemacht. Im Arbeitsministerium sind damals nur alle Möglichkeiten geprüft worden. Aber als Vorschlag ist es von der Kollegin Löwisch gekommen, von der CSA Bayerns, von der Arbeitnehmergruppe dieser Fraktion, erst dann von den Arbeitgebern.
Das war meine Aussage. Aber es hat Ihnen nicht gepaßt, weil Sie wieder einmal sagen wollen, wir würden uns einer Politik anschließen, die bei den Arbeitgebern formuliert wird.
Das ist nicht wahr. Ich bedaure sehr, daß Sie, wenn ich der Kollegin Löwisch die Ehre erweise und sage, daß der Vorschlag von ihr kam, hier so kleinlich herumrechnen, Herr Andres. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis.
Ich erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wollt ihr die Pflegeversicherung, oder wollt ihr sie nicht?
Das ist die entscheidende Frage.
Am Schluß der ganzen langen Rede wird hier im Bundestag entschieden: Wollt ihr den Pflegebedürftigen helfen, oder wollt ihr nicht helfen? Sie können noch so viele Worte machen: Diese Preisfrage wird jedem hier im Saale gestellt.
Was mir und sicherlich auch vielen anderen heute morgen aufgefallen ist: Das Vorhaben, Pflegebedürftigen zu helfen, leidet nicht, wie zu Beginn der Debatte behauptet wurde, an zuwenig Beratung und zuwenig Diskussion. Dieses Vorhaben leidet eher an zu vielen Worten, an zuviel Diskussion und zuviel Beratung. Es gibt kein neues Argument mehr. Auch ich weiß keines mehr. Jetzt muß entschieden werden, und zwar ganz klar: Wollt ihr den Pflegebedürftigen helfen, oder wollt ihr nicht helfen? Alle Solidaritätsbekundungen sind kostenlos und helfen niemandem.
Ich habe heute morgen versucht, mir das Ganze mit Ruhe anzuhören.
Herr Bundesminister, der Kollege Seifert möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Lassen Sie mich zuerst meine Eindrücke von heute morgen im Zusammenhang zu Protokoll geben.
Metadaten/Kopzeile:
15562 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Bundesminister Dr. Norbert BlümWenn die Debatte heute morgen in Pflegeheime, in die Wohnung von Menschen übertragen worden wäre, die ihre Angehörigen pflegen — meistens sind das Frauen —, hätten diese Menschen über weite Strecken gar nicht gemerkt, daß es um sie geht. Sie hätten gedacht, es geht um etwas ganz anderes.
Ich habe heute morgen Worte gehört wie „schändlich", „dreist", „Lohnraub" und „empörend". Ich dachte, die Welt bricht zusammen. Was wir hier beraten, ist Hilfe für die Hilflosen und kein Lohnraub. Es ist nicht dreist und nicht schändlich.
Beim Wort „Lohnraub" kommen mir ganz andere Bilder. Ich habe dann die Vorstellung, die SPD sitzt in der Festung und verteidigt die Besitzstände. Sie kümmert sich nicht um diejenigen, die nicht in der Festung sind. Das ist das Bild, das Sie heute morgen vermittelt haben.
Solidarität besteht nicht allein im Nehmen; es besteht auch im Geben. Solidarität ist keine Einbahnstraße.Lieber Kollege Andres, „mit dem Rücken zur Wand": lieber mit dem Rücken zur Wand als auf den Zinnen der Festung der Besitzstandswahrer. Da stehen Sie nämlich.
Herr Kollege Büttner möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte nicht.
Wenn Sie doch heute morgen die Güte gehabt hätten, in Ihren Erklärungen endlich einmal das bestgehütete Geheimnis der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu lüften, Herr Kollege Dreßler und Herr Kollege Andres — aber der Kollege Heyenn hat noch Gelegenheit dazu —, wie Sie kompensieren wollen,
und zwar auf Mark und Pfennig! Sie haben jetzt noch die Gelegenheit dazu.
Sie haben gesagt, Sie wollten es. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
— Jetzt wird im Zusammenhang abgerechnet, Kollege Dreßler. Sie haben noch eine ganze Menge Fragen zu beantworten.
Nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! " werden hier große Solidaritätsbekenntnisse ausgesprochen. Aber es ist nichts dahinter, alles ist heiße Luft — Worte, Worte, Worte! Wir handeln.
Es ist allgemein bekannt, daß wir die Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung vorgeschlagen hatten. Wir wollten das System damit steuern. Wir sind dann auf Ihr Argument getroffen — mit großem Nachdruck und eindrucksvoll vorgetragen —: Kompensation ja, aber doch nicht von den Kranken. Die Kranken bezahlen dann die Pflegeversicherung. Jetzt gehen wir auf Ihren Einwand ein, jetzt sollen es alle bezahlen, und trotzdem wollen Sie nicht. Mit anderen Worten: Sie wollen überhaupt nichts, Sie wollen das ganze Projekt gefährden. Habe ich Sie heute morgen richtig verstanden?
— Ich komm ja darauf noch zurück.
— Ja, das tut weh, Kollege Schreiner, Sie mit Ihren eigenen großen Sprüchen zu konfrontieren. Herr Schreiner heute morgen zur Kompensation: „Die große Kompensation-Nullnummer".
Auch Modelle unter Einbeziehung von Feiertagen sind lange diskutiert worden. Gut, es gibt mehrere Möglichkeiten, gehen wir sie einmal durch: Zwei Feiertage zu streichen wäre eine Möglichkeit gewesen. Nur brauchen wir dafür die Zustimmung von 16 Ländern. Ich gehe nicht mit dem Kollektekorb durch die Länderparlamente und warte, bis das letzte Land den letzten der beiden Feiertage geopfert hat. Dann werden schon einige Pflegebedürftige gestorben sein. So lange wird jetzt nicht mehr gewartet. Jetzt wird nach 20 Jahren gehandelt. Schon die Debatte hier ist zu lang, viel zu lang.
Dann gab es die Möglichkeit, an zwei Feiertagen die Löhne ganz zu streichen. Damit hätten wir die Feiertage materiell entwertet, wir hätten in die Feiertagsstruktur eingegriffen. Also liegt doch eine kleine Lohnreduzierung nahe, der die Arbeitnehmer ausweichen können, indem sie dafür Urlaub nehmen. Zwei Tage Urlaub — aber die SPD weigert sich, in einem Land mit der höchsten Anzahl Urlaubstage, in einem Land mit der geringsten Jahresarbeitszeit die-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15563
Bundesminister Dr. Norbert Blümses Solidaritätsopfer für die Ärmsten im Lande zu erbringen.
Wohin seid Ihr eigentlich gekommen? Ein solches Opfer bei einem solchen Urlaubsstandard muß zu bringen sein.
Selbst wenn alle Arbeitnehmer zwei Tage Urlaub nehmen, haben sie noch mehr Urlaub als in allen anderen Ländern Europas. Und da reiten Sie auf dem hohen Roß von „Heuchler" herum! Sie wollen den Pflegebedürftigen nicht helfen. Das muß man Ihnen heute morgen sagen.
Nun hat der Kollege Dreßler, den ich, wie jedermann weiß, schätze, heute morgen gesagt, die hälftige Zahlung der Beiträge sei ein zentraler Grundsatz der Sozialversicherung. Richtig!
— Also, die Sozialdemokraten pfeifen auf dem letzten Loch. Sie müssen schon zu Beleidigungen greifen.
Noch einmal: Die hälftige Beitragszahlung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist ein zentraler Grundsatz. Richtig.
Ein noch wichtigerer Grundsatz ist, daß die Sozialversicherung mit ihren Beiträgen die Arbeitsplätze nicht runiert. Denn wenn ein Arbeitsplatz verlorengeht, zahlt weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer die Hälfte. Da zahlt überhaupt niemand. Null können Sie nämlich nicht hälften.
Insofern muß ein zentraler Grundsatz der Sozialversicherung sein, daß sie ihre Quelle nicht verstopft. Ihre Quelle ist die Arbeit.Wenn wir kompensieren — ich habe das allerdings schon einmal gesagt, aber ich sage es noch einmal —, dann kompensieren wir doch nicht zur finanziellen Entlastung der privaten Haushalte der Arbeitgeber. Es geht um eine Entlastung der Wirtschaft. Es geht darum, keine zusätzlichen Lohnkosten entstehen zu lassen. Das ist doch auch im Interesse der Arbeitnehmer. Arbeitsplätze erhalten ist doch im Interesse der Arbeitnehmer. Damit wird doch der Grundsatz „halbe-halbe" nicht außer Kraft gesetzt.Nennen Sie mir einmal ein Beispiel — vielleicht fällt Ihnen eines ein —, wo die Sozialdemokraten eine neue soziale Leistung durch Einschränkung an anderer Stelle finanzieren wollten. Mir fällt kein Beispiel ein. Für Sie heißt sozialer Fortschritt offenbar immer nur: mehr, mehr, mehr! Damit haben schon einmal die Turmbauer in Babel schlechte Erfahrungen gemacht. Dann läßt sich der Sozialstaat überhaupt nicht mehr ausbauen. Wenn er nicht bezahlbar ist, läßt er sich nicht mehr ausbauen.
Insofern fängt die soziale Gerechtigkeit nicht erst bei der Ausgabenseite an, sie fängt schon bei der Einnahmeseite an.Egal, was Sie für ein System konstruieren, bezahlt wird es immer von denjenigen, die Arbeit haben.
— Warum denn die Aufregung, Frau Kolbe? Ich komme kaum durch. Also versuchen wir es noch einmal beide ganz ruhig.
— Frau Kolbe, soll ich es Ihnen noch einmal sagen? Natürlich werden auch Beamte, Minister und Abgeordnete in die Regelung einbezogen, zwar nicht bei der Lohnfortzahlung, also nicht in diesem Gesetz, sondern in einem anderen Gesetz. Wer, nachdem es heute morgen dreimal gesagt wurde, etwas anderes behauptet, der hört entweder nicht zu oder spricht wider besseres Wissen.
Meine Damen und Herren, deshalb noch einmal die Frage: Was steht in diesem Gesetz außer dem, was heute morgen so bestritten wurde? Die Lohnfortzahlung wird neu geregelt. Heute morgen ist ganz aus der Debatte geraten, daß in diesem Gesetz endlich die Lohnfortzahlung in den neuen Bundesländern gesetzlich abgesichert wird. Diese ist nämlich bis heute noch gar nicht abgesichert.
Dies ist ein sozialer Fortschritt für 6,7 Millionen Arbeitnehmer, der heute morgen von der SPD noch nicht einmal zur Kenntnis genommen wurde. Es ist an der Zeit, daß wir die noch immer bestehenden Unterschiede in der Lohnfortzahlung zwischen Arbeitern und Angestellten beseitigen.
Dieses Gesetz beseitigt diese Unterschiede, sowohl was den Beginn der Lohnfortzahlung anbelangt als auch was die Lohnfortzahlung während einer Kur und bei chronisch Kranken anbelangt. Hier werden bis zum heutigen Tage — das wissen viele gar nicht — Arbeiter und Angestellte unterschiedlich behandelt. Ist das kein sozialer Fortschritt, wenn wir das jetzt ändern, daß die geringfügig Bezahlten einbezogen werden, die Heimarbeiter, die kurzfristig Beschäftigten und daß Arbeiter und Angestellte bei Arbeitsunfähigkeitsmeldungen gleichgestellt werden? Die Regelung der Lohnfortzahlung beim Schwangerschaftsabbruch nimmt die noch zu treffenden gesetzlichen Regelungen nicht vorweg. Die Regelung entspricht lediglich dem jetzigen Rechtszustand nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und ist keine Vorwegnahme der endgültigen Regelung.Meine Damen und Herren, bei dem Streit um die Kompensation gerät aus dem Blick, für was wir die ganze Anstrengung unternehmen. Deshalb möchte
Metadaten/Kopzeile:
15564 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Bundesminister Dr. Norbert Blümich die Gelegenheit nutzen; es ist die beste. Frau Babel hat verdienstvollerweise schon einen Teil zur Mängelliste an unserem Gesetz — so hat es Herr Dreßler überschrieben — vorgetragen, die gestern der Öffentlichkeit vorgelegt wurde. Er kommt auf acht Mängel. Jetzt gehen wir doch einmal einen nach dem anderen durch.
Erster Mangel: der versicherte Personenkreis. Die SPD rügt, daß unser Grundsatz „Pflegeversicherung folgt der Krankenversicherung" eine soziale Pflegeversicherung einerseits und Privatversicherung andererseits zur Konsequenz hat. Sie setzt ihren Vorschlag einer Volksversicherung dagegen. Ich stelle fest: Volksversicherung ist verfassungswidrig. Die trägt unsere Verfassung nicht.
Also halten wir zum ersten Mangel aus der Mängelliste fest: 0:1.Zweiter Mangel: Die SPD rügt die im Koalitionsentwurf vorgesehene Beitragsbemessungsgrenze der Krankenversicherung von 5 400 DM. Sie will die Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung. Wenn allerdings die Pflegeversicherung — auch nach dem Willen der SPD — unter das Dach der Krankenversicherung kommt, gibt es eigentlich keinen logischen Grund dafür, mit einer anderen Beitragsbemessungsgrenze zu arbeiten, zumal der Beitragseinzug dann nur noch komplizierter würde. Mangel Nr. 2: 0:2.
Dritter Mangel: Die SPD behauptet, die Leistungen des Koalitionsentwurfs seien nicht dynamisiert. § 26 unseres Entwurfes ist überschrieben mit „Dynamisierung". Also eine Falschaussage: 0:3.
Vierter Mangel: Die SPD behauptet, es fielen 465 000 Pflegebedürftige, die heute bereits Leistungen erhielten, aus dem Koalitionsentwurf heraus.
Das ist das, was Frau Babel schon attackiert hat. Ich sage es noch einmal: 915 000 Menschen erhalten erstmals Versicherungsleistungen. 465 000 erheblich Pflegebedürftige haben bisher keine Versicherungsleistungen erhalten, 450 000 Menschen in stationärer Pflege haben bisher nichts erhalten. 460 000 Schwerpflegebedürftige, die bislang 400 DM erhalten haben, erhalten jetzt 800 DM. Die Schwerstpflegebedürftigen, die bisher 400 DM erhalten haben, erhalten jetzt 1 200 DM. Die einen bekommen 400 DM mehr. Die andern bekommen 800 DM mehr. Fast eine Million Menschen erhalten zum erstenmal Leistungen.Trotz dieser Tatsachen stellt sich Herr Dreßler mit seiner Mängelliste hin und will uns hier ein Manko bescheinigen. Ich sage: 0 :4. Das Tor müßte eigentlich doppelt gezählt werden.
Ich zähle es aber nur einmal.Mangel Nr. 5: Die SPD beklagt, daß das Pflegegeld für Schwerstpflegebedürftige mit 1 200 DM monatlich nur 3 DM über den Leistungen der Sozialhilfe liegt. Sie verschweigt dabei, daß wir für diesen Kreis Sachleistungen bis 2 100 DM bezahlen und daß zu den1 200 DM noch 500 DM Sozialversicherungsbeiträge kommen, die die Pflegeversicherung bezahlt.Heute erhalten 80 000 Personen das Höchstpflegegeld der Sozialhilfe. Nach unserem Entwurf werden es 190 000 Personen sein, und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung. Das ist doch der eigentliche Fortschritt gegenüber der Sozialhilfe.
Ich sage doch nicht, daß die Sozialhilfe in ihren Leistungen schlechter wäre. Der eigentliche Fortschritt aber ist, daß keine Bedürftigkeitsprüfung stattfindet. Das ist der eigentliche Fortschritt.
Wenn ich richtig gezählt habe, dann steht es jetzt 0:5.Mangel Nr. 6: Ich hoffe, ich habe noch so viel Zeit, die ganzen Mängel vorzutragen. Die SPD behauptet, die Leistungen für die stationäre Pflege mit 2 000 DM seien zu niedrig. Dabei muß man allerdings hinzufügen, daß das für das Jahr 1991 gilt. 1993 wären es schon 2 300 DM. 1996 wären es wahrscheinlich2 600 DM. Des weiteren kommt hinzu: Wir wollen, daß die Ersparnisse der Kommunen auch für die Investitionen eingesetzt werden, so daß auf diese Weise auch Pflegesätze gemindert werden.Ich fasse zusammen: Die Behauptung stimmt nicht. Es steht 0:6.
Mangel Nr. 7: Die SPD behauptet, der Koalitionsentwurf führe nicht zu den angegebenen Einsparungen bei der Sozialhilfe. Nach unseren Berechnungen, bestätigt von den Ländern — dabei sind die SPDLänder der Einladung nicht gefolgt —, ergibt sich eine Ersparnis von 7 bis 8 Milliarden DM bei der Sozialhilfe.
Somit steht es jetzt 0 :7.Der achte Mangel liegt bei der Investitionsfinanzierung. Im Grunde will hier die SPD nur die pflegebedingten Investitionen finanzieren. Kann mir einmal jemand sagen, wie das mit der Verpflegung aussieht?
Ist die Verpflegung pflegebedingt, oder ist sie nicht pflegebedingt? Dabei will die SPD 1,8 Milliarden DM einsetzen. Der Höhepunkt von allem ist, daß die SPD weniger Geld hat als wir, aber mehr bezahlen will.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15565
Bundesminister Dr. Norbert BlümDafür müßte ich fast drei Tore zählen. Aber ich zähle auch hier nur eines. Also steht es 0:8.
Lieber Kollege Dreßler, Sie sollten einmal die Mannschaft auswechseln. Sie haben keine Stürmer vorne zum Tore-schießen, und sie haben keine Verteidiger hinten, um Tore abzuwehren. Scheinbar haben Sie keinen Tormann.
0:8 haben Sie verloren, sagen aber, unser Gesetz sei schlecht. 0:8, das ist schon ein Hallenfußballergebnis.
Sagen Sie ja nicht, es habe am Ball gelegen. Es liegt daran, daß Sie kein ordentliches Gesetz haben.Deshalb — das ist mein letztes Wort; aber ich mußte heute manches klarrücken —: Hört auf mit der Rechthaberei! Denkt daran, um wen eigentlich die ganze Debatte geht. Hört auf mit dieser Rechthaberei. Schlagt die Tür nicht zu!Ich habe meinen Ohren heute morgen gar nicht getraut, als der Kollege Dreßler die Katze aus dem Sack gelassen und gesagt hat: Selbst wenn dieses Lohngesetz nicht vorhanden wäre, würde das Gesetz abgelehnt. Habe ich also richtig gehört: Ihr wollt eigentlich gar nicht?
Wenn das so ist — dabei habe ich bis jetzt immer unterstellt und die Hoffnung nicht aufgegeben, es gehe nicht um Rechthaberei —, dann werde ich allerdings, wenn Ihr wirklich nicht wollt, von Kiel bis Konstanz und von Frankfurt an der Oder bis nach Aachen ziehen und die große Sozialdemokratische Partei als die große Pflegeverweigerungspartei in ganz Deutschland auf allen Marktplätzen darstellen.
Ich will noch etwas hinzufügen: Laßt die Tassen im Schrank, und schlagt die Tür nicht zu. Sagt hier nicht ein letztes Nein; denn wer sich diesem Projekt verweigert — das sage ich an alle Seiten, auch an mich —, der treibt eine kostenlose Wahlwerbung für die Partei der Nichtwähler. Gewinner wird es dabei nicht geben. Es wird nur der Überdruß in der Bevölkerung wachsen, daß die Parlamente drängende Probleme in Streit und Rechthaberei untergehen lassen.Auch ich kann nicht mit dem Kopf durch die Wand. Auch ich weiß noch schönere Lösungen. Ich weiß ein Traumschiff und eine Pflegeversicherung auf dem Traumschiff. Ich weiß märchenhafte Vorstellungen. In der Politik kommt es aber auf Fortschritt Schritt für Schritt an.Wer aus Rechthaberei, aus kleinlichem Parteiengezänk mit Blick auf Wahlurnen dieses Projekt verweigert, versündigt sich an den Hilflosesten, an denen, die auf Hilfe angewiesen sind.
Meine Damen und Herren, die namentliche Abstimmung wird wohl nicht vor 12 Uhr stattfinden können. Ich habe noch zwei Begehren auf Kurzinterventionen und einen Redebeitrag mit zehn Minuten auf der Liste. Bevor ich den ersten Redner zu seiner Kurzintervention aufrufe, muß ich versuchen, etwas in Ordnung zu bringen.
Unser Kollege Uwe Lambinus hat an einer sehr hitzigen Stelle der Rede des Bundesarbeitsministers einen Zwischenruf gemacht, der unzulässig ist und im Normalfall eine Rüge verdiente.
— Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das lächerlich finden, wenn der Präsident versucht, eine Sache ohne Ordnungsruf fair in Ordnung zu bringen, dann tun Sie mir leid.
Herr Kollege Lambinus, ich würde es vorziehen, wenn Sie sich dazu erklären würden und der Minister darauf reagieren kann. Sind Sie bereit, ein Wort der Entschuldigung zu sagen?
Herr Minister, ich nehme den Ausdruck mit Bedauern zurück. Aber ich möchte Sie doch bitten, ein bißchen mehr bei der Wahrheit zu bleiben.
Ich fürchte, Herr Kollege Lambinus, mit dieser Formel tun wir uns schwer. Aber ich möchte die Reaktion des Ministers hören.
Es gibt nicht ein bißchen Wahrheit und auch nicht ein bißchen mehr oder weniger. Aber wenn die Glättung der Wogen dazu dient, daß in der Pflegeversicherung nicht alle Fäden reißen und die Vernunft siegt, dann nehme ich das an.
Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Dr. Seifert das Wort.
Herr Präsident, vielen Dank für die Möglichkeit. — Der Herr Minister hat mir leider nicht die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage gegeben, so daß ich diese Gelegenheit nutze.Herr Blüm hätte sich gewünscht, daß diese Debatte in die Wohnungen und Heime derjenigen übertragen
Metadaten/Kopzeile:
15566 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Dr. Ilja Seifertwird, die von Pflegebedürftigkeit betroffen sind. Ich habe den Eindruck, diese Leute brauchen keine Fußballübertragungen, sie brauchen eine Übertragung einer Sachdebatte über diejenigen, die gepflegt werden müssen, und über diejenigen, die pflegen. Das ist hier von Ihnen leider nicht geleistet worden.
Vor allem, Herr Blüm — das ist das Problem —, Sie fangen hier an mit der großen Frage: Wollen Sie die Pflegeversicherung oder nicht? Als zweites fragen Sie: Wollen Sie den Bedürftigen helfen oder nicht? Als ob Ihre Pflegeversicherung das einzige wäre, was den Bedürftigen helfen würde! Das ist schon die erste Unterstellung.Zweitens. Das größte Problem in dieser Debatte ist für mich dies: Es geht hier doch überhaupt nicht um die Pflegeabsicherung. Es geht darum, daß Leute, die arbeiten, an Feiertagen weniger Geld bekommen sollen, um sonst nichts.
Es ist gar nicht gesagt, daß Sie das andere Gesetz überhaupt auf den Weg und hier durchbringen. Wenigstens das müssen Sie ehrlicherweise den Menschen dazusagen. Frau Babel hat wenigstens eine Zwischenfrage dazu gestattet. Und ich will, daß das wenigstens in den Häusern und in den Wohnungen und Heimen der Betroffenen gehört wird.Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte darum, daß nicht vollendete Tatsachen geschaffen werden, die dann Sachzwänge entstehen lassen, aus denen man angeblich nicht mehr herauskommt.Meine Damen und Herren, wenn wir nachher abstimmen: Folgen Sie Ihrem Gewissen, und lehnen Sie dieses Gesetz ab.
Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege Dreßler das Wort.
Herr Sozialminister, ich habe sehr großes Verständnis dafür, daß Sie in einer relativ hoffnungslosen Lage sind,
nachdem Sie von Ihrem Bundeskanzler und vom Koalitionspartner F.D.P. dermaßen im Stich gelassen wurden.
Mein Mitgefühl mit Ihnen kann aber nicht so weit gehen, daß ich Ihnen durchlasse, daß Sie das deutsche Parlament mit Halbwahrheiten beglücken.
Deshalb will ich Ihnen in den paar Sekunden, die ich zur Verfügung habe, zwei Dinge sagen.
Erstens. Wenn Sie das Eintreten der deutschen Opposition in diesem Hause für Gleichberechtigung der einzelnen Gruppen in Deutschland untereinander, derart, daß es keine Gruppen geben soll, die von einer Pflegeversicherung begünstigt werden — wie das Ihr Entwurf vorsieht —, und daß alle gleich behandelt werden sollen, wie es die Verfassung unseres Staates zum Ausdruck bringt, als verfassungswidrig deklarieren, dann, Herr Minister Blüm, geht das einfach zu weit. Das können auch Sie sich mit Ihren Emotionen nicht leisten.
Zweitens. Sie selbst haben im September 1991, als die deutsche Sozialdemokratie ihren Gesetzentwurf vorgestellt hat, eine Stunde nach Vorstellung — er war Ihnen ja vorher bekannt — in einer Pressemitteilung Ihres Ministeriums öffentlich erklärt, daß dieser Gesetzentwurf der SPD von Ihnen begrüßt würde und in die richtige Richtung gehe. Wenn Sie nun im Laufe der letzten zwei Jahre das Niveau unseres Gesetzentwurfs in Ihrer Koalition nicht durchbringen konnten und sich heute dazu versteigen, zu sagen, die SPD hätte keine Gesetzentwürfe, die der Pflegeversicherung gerecht werden würden, dann, Herr Blüm, kann ich das so nicht stehenlassen. Sie sollten in Ihrer verständlicherweise schlimmen Situation in der Koalition wenigstens den Mut haben, dies hier vor dem Parlament zuzugestehen, und nicht so tun, als ob das, was vor zwei Jahren von Ihnen selbst öffentlich anerkannt und gelobt wurde, heute plötzlich nichts mehr gilt. Das, Herr Blüm, ist ein ganz mieser Stil.
Zur Erwiderung erteile ich dem Bundesminister Blüm das Wort.
Herr Präsident! Ich finde die Intervention deshalb gut, weil sie der Klarstellung dient. Ich begrüße auch jetzt noch den Gesetzentwurf der SPD; denn er zeigt ja die gleiche Richtung auf wie der Gesetzentwurf der Koalition.
Wenn es zwischen diesen beiden Positionen keine Brücke gäbe, wäre ja jeder Versuch einer Einigung von vornherein ausgeschlossen. Dennoch müssen Sie doch erlauben, daß ich, wenn Sie auf Mängel unseres Gesetzes hinweisen, aus der Mängelliste einen Plus-Katalog mache. Das kann Sie ärgern, aber das muß doch erlaubt sein.
Richtig ist auch, daß ich in Übereinstimmung mit den Verfassungsressorts dabei bleibe, daß unsere Verfassung für eine Volksversicherung nicht die Grundlage bietet. Auch das gehört zu einer gerechten und richtigen Beurteilung Ihres Gesetzentwurfs.
Ich bleibe dabei: Es lassen sich Brücken schlagen, und der Versuch sollte nicht unterlassen werden.
Das Wort hat der Kollege Heyenn.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15567
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn hier dazu aufgerufen wird, Brücken zu schlagen, dann frage ich: Warum zerstören Sie die mögliche Brücke mit diesem Gesetzentwurf? Wenn er vom Tisch ist, gibt es Brücken.
Dann ist es wohl pharisäerhaft, sich hinzustellen und zu sagen: Wollen wir die Pflegeversicherung oder wollen wir sie nicht? Ich sehe auf die Tagesordnung, da steht Engeltfortzahlungsgesetz und nichts von der Pflege. Sie täuschen die Menschen in diesem Land, Herr Arbeitsminister.
Allein diese Täuschung und ihr permanentes Versagen in den vergangenen zwei Jahren zur Pflege ist geeignet, das Vertrauen in die Lösungskompetenz unserer Demokratie weiter zu untergraben. Hier wird von der Regierung gesagt: man habe schon viel zuviel Zeit verbraucht. Meine Damen und Herren, wer hat denn die Zeit verbraucht?
Wer hat jahrelang koalitionsintern einen ermüdenden Streit darüber geführt, ob man sich überhaupt in der Koalition auf eine soziale Pflegeversicherung einigen kann? Das waren Sie, meine Damen und Herren von der Rechten.
Jetzt täuschen Sie die Öffentlichkeit. Sie gefährden den inneren Frieden und sind dabei, tragende Säulen unseres Sozialstaats zu demolieren. Sie täuschen doch die Öffentlichkeit, wenn Sie glauben machen wollen, bei dem Entgeltfortzahlungsgesetz ginge es um notwendige Opfer für die Pflege. Das mögen Sie noch so oft behaupten, es wird nicht richtig.
Es geht Ihnen nicht um die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Es geht auch nur vordergründig darum, die sogenannten Lohnnebenkosten zu stabilisieren und den Sozialstaat umzubauen. Es geht Ihnen um das, was Frau Dr. Babel in dankenswerter Offenheit erklärt hat: Es geht um eine Machtprobe mit den deutschen Gewerkschaften und darum, die Grenzen des für den Gesetzgeber Machbaren auszutesten. Das ist die Grundlage.
Ich kann verstehen, daß die Liberalen mit den Gewerkschaften nichts am Hut haben. Das haben sie heute morgen wieder ausgedrückt. Aber sie sollten auch offen bekennen, daß der Ausstieg aus unserer Sozialversicherung ihr Ziel ist.
Mich stört, daß die Liberalen in der Sozialpolitik bestimmen, daß sie den Bundesarbeitsminister zur Bedeutungslosigkeit degradiert haben, daß sie den Bundeskanzler ungestraft und öffentlich der Uniformiertheit bezichtigen und dann mit Billigung und Unterstützung der Union die Pflegeversicherung nicht als notwendige Ergänzung unseres Sozialsystems etablieren, sondern sie als Vehikel zum Ausstieg aus unserem Sozialversicherungssystem benutzen. Daß die Union das zuläßt, meine Damen und Herren, spricht für ihren jämmerlichen Zustand.
Auch in der Union sollte man wissen, daß unser Sozialstaat keine Schönwettereinrichtung ist, sondern Verfassungsrang hat. Seine Einrichtungen sind keine Kostgänger und Ballast für das, was Sie die Wirtschaft nennen; im Gegenteil.
Herr Kollege Heyenn, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Meine Damen und Herren, im neuen Plenarsaal sind die akustischen Verhältnisse, was die Gespräche anbetrifft, zwar etwas angenehmer als im Wasserwerk. Gleichwohl ist es für den Redner ungewöhnlich störend, wenn mehrere Gruppen im Hintergrund stehen und laute Unterhaltungen führen.
Bitte nehmen Sie darauf Rücksicht. Da der Plenarsaal gläsern ist, können Sie von außen erkennen, wann die Abstimmung beginnt. Wenn Sie wichtige Gespräche zu führen haben, führen Sie sie bitte außerhalb des Plenarsaals.
Herr Kollege Hörsken möchte eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Heyenn, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß der Entwurf der Koalition und der Entwurf der Sozialdemokratischen Partei in ihren Inhalten beinahe dekkungsgleich sind?
Daß wir nur aus einem Grund, über den hier mehrmals gesprochen worden ist, nämlich wegen der Situation der deutschen Industrie und damit der deutschen Arbeitsplätze, eine Kompensation wollen, möchten Sie daraus die inhaltliche Feststellung treffen, daß wir für die Pflegebedürftigen nichts tun wollen?
Unsere Sozialversicherungssysteme — das wird auf meine Redezeit nicht angerechnet; danke, Herr Präsident — werden seit Bismarck von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Das ist die richtige Grundlage auch für eine neue Säule der Sozialversicherung — so steht es auch im Bericht des Ausschusses — als Alternative zu dem, was Sie wollen.Wenn wir jetzt eine Pflegesicherung wollen, dann lassen Sie uns doch zunächst über die Pflege reden; und wenn wir gemeinsam meinen, die Lohnnebenkosten seien wegen der einseitigen Belastung der Arbeitnehmer mit den Kosten der deutschen Einheit in erheblichem Umfang gestiegen, dann lassen Sie uns doch anschließend darüber reden, was wir mit den Lohnnebenkosten dort machen, wo sie unerträgliche Höhen erreicht haben, nämlich wo die deutsche
Metadaten/Kopzeile:
15568 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Günther HeyennEinheit von den Arbeitnehmern finanziert wird und nicht von der gesamten Gesellschaft.
Aber was ist das für ein Weg, zu sagen, man kümmere sich um die Pflegebedürftigen, und in Wirklichkeit redet man hier über Kompensation!
Lassen Sie mich noch eines zu dem Fußballspiel ohne Gegner des Herrn Arbeitsministers sagen.
Er stellt sich hier hin und bewertet eine richtige Fehlerliste der Sozialdemokraten mit oberflächlichen und teilweise falschen Skizzierungen.
Herr Bundesarbeitsminister, die Sozialdemokratische Partei stand auf dem Sportplatz in Windhagen, aber wir hatten keinen Gegner.
Sie hatten nicht den Mut, sich mit unseren Argumenten auseinanderzusetzen.
Oder Sie waren durch die F.D.P. gezwungen, nicht zu erscheinen,
weil die F.D.P. Angst davor hat, daß — wenn da Fachleute beisammensitzen — ihre ideologisch fixierten Vorbehalte wie ein Kartenhaus zusammenfallen.
Und was macht dann der Bundesarbeitsminister? In Windhagen hat er gekniffen, aus welchen Gründen auch immer, und dann stellt er sich in die Rheinaue auf den alten Sportplatz, auf die restlichen Teile davon, wo noch ein Tor steht, und schießt immer in das leere Tor. Dann geht er nach Hause und ins Plenum und sagt, er hat 8:0 gewonnen. Das ist Politik, Herr Bundesarbeitsminister.
Lassen Sie mich noch einmal in drei Punkten zusammenfassend begründen.Sie geben vor, eine beitragsfinanzierte Pflegeversicherung als neuen Zweig in die Sozialversicherung einführen zu wollen. Ich habe schon darauf hingewiesen: Seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts gehört es zu den elementaren Prinzipien dieses Sozialversicherungssystems,
daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer es gemeinsam tragen und damit die soziale Sicherung finanzieren. Dies ist nicht nur aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit entscheidend; dies ist auch Voraussetzung dafür, daß sich beide Seiten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, für die Stabilität in der Sozialversicherung verantwortlich fühlen. Jetzt wollen Sie die Kosten für die Pflege allein den Arbeitnehmern aufbürden und die Arbeitgeber entschädigen.Nur am Rande sei erwähnt, daß Sie den Arbeitgebern mehr zurückgeben, als diese für die Pflege aufbringen sollen.Damit ist auch offensichtlich, daß Sie auch die Pflegeversicherung auf dem Rücken der betroffenen pflegebedürftigen und der sie pflegenden Personen als Instrument der Umverteilung von unten nach oben mißbrauchen wollen, meine Damen und Herren.
Mir geht es um den Systembruch, der in diesem Vorhaben angelegt ist. Sie nehmen Abschied von dem bewährten solidarischen System unserer Sozialversicherung und schaffen den Einstieg für den Ausstieg aus diesem System. Hier wird ein ordnungspolitischer Berufungsfall geschaffen, der schnell Vorbildcharakter für andere Zweige der Sozialversicherung hat. Wann kommen Sie mit solchen Regelungen für die Rentenversicherung oder für die Krankenversicherung?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharrenbroich?
Nein, nicht mehr, Herr Scharrenbroich.Zu Ihrer Feiertagslösung, die Sie sich nach Ihrem Waterloo, das Sie mit den Karenztagen erlebt haben, haben einfallen lassen: Was Sie jetzt vorhaben, ist ein einmaliger Vorgang. Sie schaffen nichts anderes als ein gesetzlich fixiertes Arbeitgeberrecht zur Lohnkürzung.
Für Millionen von Arbeitnehmern — keineswegs nur für Angestellte — sind in Tarifverträgen Monatseinkommen festgeschrieben. In all diese Tarifverträge wollen Sie jetzt eingreifen. Sie nehmen bewußt in Kauf, daß Sie die Tarifautonomie verletzen. Da bin ich dankbar, daß es auch bei der F.D.P. noch einige Mutige gibt, die sagen, dies ist verfassungswidrig, wie Graf Lambsdorff, wie Dr. Thomae und wie heute morgen Herr Cronenberg. Aber das übersehen Sie, das übergehen Sie.Sie verkennen, meine Damen und Herren, offenkundig den Wert der Tarifautonomie für die soziale Stabilität in unserem Land. Die Ausgestaltung der Tarifautonomie zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in freien Verhandlungen, in Tarifverträgen, gehört zu den sozialen Mindeststandards in unserer Arbeitswelt. Indem Sie als Alternative zur Kürzung der Feiertagsbezahlung den wahlweisen Verzicht auf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15569
Günther Heyennzwei Urlaubstage ermöglichen, machen Sie die Unabdingbarkeit tariflicher Regelungen zu einer Farce.
Sie stellen damit tarifvertragliche Vereinbarungen zur beliebigen Disposition und untergraben einen der wenigen noch vorhandenen Fixpunkte, der Verläßlichkeit und Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei uns garantiert.
Wir lehnen dieses Entgeltfortzahlungsgesetz ab. Es ist in Wahrheit ein Gesetz zur Lohn- und Gehaltskürzung; es ist ein Gesetz zum Lohnraub.Wir erachten die Fragen der Lohnkosten und der Lohnnebenkosten nicht etwa als irrelevant.
Herr Kollege Heyenn, die Redezeit ist abgelaufen.
Ich darf einen letzten Satz sagen.
Wir lehnen dieses Koalitionsvorhaben ab, weil wir uns dem Grundgesetz verpflichtet fühlen, das Sozialstaatsgebot ernst nehmen und verhindern wollen, daß unsere Gesellschaft ins 19. Jahrhundert zurückgeht.
Vielen Dank.
Herr Kollege Thomae zu einer Kurzintervention.
Meine Damen und Herren, mein Name wurde genannt. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich gesagt habe: Bei den Karenztagen habe ich verfassungsrechtliche Bedenken. Ich habe keine verfassungsrechtlichen Bedenken bei den Feiertagen.
Zur Erwiderung Herr Kollege Heyenn.
Herr Kollege Dr. Thomae, nur, damit wir das gleich richtigstellen, zitiere ich aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" vom 21. September 1993.
— Ja, darauf will ich ja erwidern.
Thomae ist sich in der Beurteilung des neuen Kompensationsvorschlages mit dem SPD-Sozialexperten Andres einig, daß, wenn schon die Karenztage wegen eines Eingriffs in die Tarifautonomie verfassungswidrig seien, die Gehaltskürzung an Feiertagen gewissermaßen noch verfassungswidriger sein dürfte.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Thomae hat von der Möglichkeit eines Wortbeitrags nur wenige Sekunden Gebrauch gemacht. Da der Kollege Heyenn etwas zitiert hat, was keine Aussage von Herrn Thomae ist, sollte Herr Thomae die Gelegenheit haben, seine Meinung noch einmal in einem Satz zusammenzufassen.
Ich habe in der Tat mit der „Hannoverschen Zeitung" zur Zeit der Karenztage gesprochen. Ich habe mit der „Hannoverschen Zeitung" nicht gesprochen, als es um das Thema „Feiertage" ging.
Ich wiederhole: Bei den Karenztagen hatte ich massive verfassungsrechtliche Bedenken. Bei der Feiertagsabsenkung habe ich nie darüber gesprochen, daß ich verfassungsrechtliche Bedenken habe.
Dies ist keine Worterteilung. Es gibt auf Kurzinterventionen keine Kurzinterventionen.
Es gibt auf Kurzinterventionen nur Antworten der Betroffenen.
Wir kommen zur Abstimmung. Bevor wir in die Abstimmung eintreten, darf ich bekanntgeben, daß die Kollegen Hubert Hüppe, Wolfgang Lüder, Herbert Werner und eine Reihe weiterer Kollegen, Claus Jäger, Birgit Homburger und Dr. Vondran schriftliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben haben.' )Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Entgeltfortzahlungsgesetzes, Drucksachen 12/5263, 12/5616 und 12/5798.
Meine Damen und Herren, ich kann die Abstimmung nicht vornehmen lassen, wenn Sie dahinten herumstehen. In irgendeinem Stadium ist dann nicht mehr erkennbar, wer dafür und wer dagegen ist. Nehmen Sie also bitte Platz.Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Ausschußfassung der inhaltsgleichen Gesetzentwürfe zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratung und Schlußabstimmung.*) Anlagen 2 und 3
Metadaten/Kopzeile:
15570 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Vizepräsident Hans KleinDie Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. — Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Das ist offenkundig nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung.Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*)Wir setzen die Beratungen fort.Ich rufe den Punkt 11 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes— Drucksachen 12/5145, 12/5614 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
— Drucksachen 12/5789, 12/5809 — Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Hans-Peter Voigt
Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/5804 — Berichterstattung:Abgeordnete Roland Sauer Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)Uta Titze-StecherDazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5810 vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Damit herrscht offensichtlich Einverständnis. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hans-Peter Voigt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir kommen heute zur zweiten und dritten Beratung unseres Antrags, das Gentechnikgesetz zu ändern.Lassen Sie mich zwei Vorbemerkungen machen. Zwei Probleme kommen mit erschreckender Geschwindigkeit auf uns zu. Das erste Problem ist die rapide Zunahme der Bevölkerung in den Entwicklungsländern, und das zweite ist der ungebremste Bedarf an neuen Therapeutika gegen bis heute nicht beherrschbare und noch nicht erkennbare Infektionskrankheiten.Im Jahr 2000 müssen wir 8 Milliarden Menschen ernähren, davon mehr als 5 Milliarden auf der Basis Reis. Den einzelnen Menschen werden dann ca. 200 g Reis vor dem Verhungern bewahren; der Kilogrammpreis darf 1 DM nicht übersteigen. Aber nur 3 bis 4 % der Erdoberfläche sind für die Nahrungsmittelproduktion geeignet, heute wie auch in zehn Jahren. Abhilfe ist einzig und allein durch die Optimierung von Pflanzen- und Tierzüchtung sowie die Bodenbearbei-*) Seite 15572Atung zu erreichen. Dabei kommt der Verbesserung der 20 wichtigsten Nutzpflanzen eine zentrale Rolle für die Ernährung der Weltbevölkerung zu.Zehn Jahre, meine sehr verehrten Damen und Herren, braucht ein Züchter, um eine verbesserte Getreide- oder Hackfruchtsorte zu entwickeln. Im gleichen Zeitraum nimmt die Weltbevölkerung um 1 bis 2 Milliarden zu. Ohne das breite Spektrum der modernen Molekularbiologie, besonders der Gentechnik, kann die Pflanzenzüchtung die an sie gestellten Forderungen in so kurzer Zeit nicht erfüllen. Der Rückgriff auf die Methoden der Väter taugt hier als Problemlösung nicht. Gentechnologie muß als eine der wichtigsten Erweiterungen des Methodenspektrums in der Züchtung begriffen werden.Lassen Sie mich auf den zweiten Punkt eingehen, den ich eingangs erwähnte. In den nächsten Jahrzehnten werden Infektionskrankheiten und Krankheiten infolge von Veränderungen des genetischen Materials die Menschheit vor neue, dramatische Herausforderungen stellen. Sowohl die Diagnostik als auch die Entwicklung von Therapeutika gegen diese Krankheiten sind ohne die Anwendung gentechnologischer Methoden überhaupt nicht denkbar.
Vor drei Jahren haben die CDU/CSU und die F.D.P., also die Koalitionsfraktionen, im Deutschen Bundestag das Gentechnikgesetz verabschiedet und damit einen über viele Jahre laufenden Diskussionsprozeß zwischen den Bürgern, der Wissenschaft, der Industrie und der Politik abgeschlossen.Dieses Gesetz hatte zwei Ziele. Zum ersten sollte es Tier, Umwelt und Mensch vor möglichen Gefahren durch die Anwendung gentechnologischer Methoden schützen. Zum zweiten sollte es die politisch Handelnden dazu auffordern, die Gentechnik als eine förderungswürdige, beherrschbare Schlüsseltechnologie zu betrachten und ihrer Weiterentwicklung besondere Aufmerksamkeit zu widmen.Vor einem Jahr haben die Koalitionsfraktionen einen Antrag eingebracht, um deutlich zu machen, daß das Gentechnikgesetz in bestimmten Bereichen novellierungsbedürftig ist. Die Schutzwirkungen dieses Gesetzes haben sich voll erfüllt. Es hat in der Vergangenheit keinen Anhaltspunkt dafür gegeben, daß die Sicherheitsphilosophie dieses Gesetzes überdacht und korrigiert werden müßte.Dagegen hat sich gezeigt, daß das Gesetz zu enge Grenzen und Beschränkungen beim Zulassungs- und Genehmigungsverfahren enthält.
Unser Wunsch war es, bürokratische Hemmnisse und bestimmte Formen der Öffentlichkeitsbeteiligung zu verändern. Wir sahen in diesen restriktiven Maßnahmen eine eindeutige Benachteiligung der deutschen Wissenschaft und Industrie im Vergleich mit anderen Ländern.Um den Wissenschafts- und Forschungsstandort Bundesrepublik Deutschland zu sichern, stellten wir damals den Antrag und die Forderung, die Sicher-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15571
Dr. Hans-Peter Voigt
heitsstufe 1, die in dem Gesetz als „Ohne Risiko" eingestuft ist, aus dem Gesetz herauszunehmen. Die EG-Richtlinien hindern uns daran. Wir werden an diesem Problem aber weiter arbeiten und fordern den federführenden Minister erneut auf, diesen Wunsch seinen Gesprächspartnern auf europäischer Ebene vorzutragen, um langfristig auch eine Deregulierung der EG-Richtlinien zu erreichen.So mußten wir versuchen — das ist in dem Ihnen vorliegenden Gesetz geschehen —, innerhalb der von der EG vorgegebenen Richtlinien unser Gesetz so zu ändern und neu zu formulieren, daß der Umgang mit den Organismen, die in den unteren Sicherheitsstufen 1 und 2 anzusiedeln sind, erleichtert wird. Ich denke, das ist uns gelungen, und wir haben damit für den Wissenschafts- und Forschungsstandort Bundesrepublik Deutschland einen wichtigen Schritt eingeleitet.
Es ergeben sich folgende Schwerpunkte unseres Änderungsgesetzes, die ich kurz erwähnen möchte.Erstens. Der Begriff des In-Verkehr-Bringens wird neu definiert, um sicherzustellen, daß der nationale und internationale Austausch gentechnisch veränderter Organismen zwischen Forschungseinrichtungen nicht einer Genehmigung bedarf.Zweitens. Die Genehmigungs- und Anmeldefristen für gentechnische Anlagen und gentechnische Arbeiten in den unteren Sicherheitsstufen 1 und 2 werden verkürzt; die obligatorische Einbindung der Zentralen Kommission für Biologische Sicherheit wird auf das notwendige Maß reduziert.Drittens. Bei der Anmeldung von gentechnischen Anlagen der Sicherheitsstufe 1 wird zwischen der gentechnischen Entscheidung und daneben erf order-lichen außergentechnikrechtlichen Genehmigungen ein zeitlicher und sachlicher Entscheidungsverbund hergestellt.Viertens. Das Erfordernis eines Anhörungsverfahrens für gentechnische Anlagen zu gewerblichen Zwecken in der Sicherheitsstufe 1 wird aufgehoben und in der Sicherheitsstufe 2 auf die gentechnischen Anlagen beschränkt, die nach § 10 des BundesImmissionsschutzgesetzes genehmigungspflichtig wären.
Fünftens. Die Verfahren für die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen werden erleichtert.Sechstens. Für den Anwendungsbereich des Gentechnikgesetzes wird klargestellt, daß die unmittelbare Anwendung von gentechnisch veränderten Organismen am Menschen nicht vom Gentechnikgesetz erfaßt wird.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte auf einige Veröffentlichungen aus dem amerikanischen Büro „Office for Technology Assessment" aus den letzten Jahren zurückkommen. In einem Bericht, in Washington veröffentlicht, wird festgestellt, daß die Biotechnologie das Potential zurEntwicklung neuer, verbesserter, sichererer und weniger teurer Produkte und Produktionsprozesse enthält. Als andere Anwendungsbereiche werden ausdrücklich erwähnt: Pharmazeutika und Diagnostika in der Human- und Tiermedizin, Saatgutentwicklung, gentechnisch modifizierte Pflanzen und Tiere, Pflanzenschutz in der Landwirtschaft, Nahrungsmitteladditive, industrielle Enzyme sowie Umweltverschmutzung und ölabbauende Mikroben, um nur einige Bereiche zu nennen. Ich glaube, wir sollten uns als Bundesrepublik Deutschland mit unserer Verantwortung für unsere Wissenschaft und Wirtschaft an der Entwicklung dieser Prozesse beteiligen und sollten dem mit einer Änderung des Gentechnikgesetzes Rechnung tragen.Lassen Sie mich aus dieser Studie noch eine Bemerkung zitieren, die ich für ganz besonders wichtig halte:Sehr aktiv bei der Biotechnologie für die Landwirtschaft seien die großen Agrarexporteure wie Australien, Frankreich, Kanada und die USA. In nordeuropäischen Ländern finde zwar auch intensive biotechnologische Agrarforschung statt, aber speziell in Deutschland und Dänemark hätten Bedenken über Umweltrisiken und ethische Aspekte zu rechtlichen Regulierungen geführt, die Freilandtests von gentechnisch modifizierten Pflanzen nicht eben förderten.Originalton einer amerikanischen Studie!Dieser Tendenz, meine sehr verehrten Damen und Herren, wollen wir mit unserem Novellierungsantrag entgegentreten.
Ich hoffe auf eine breite Zustimmung im Deutschen Bundestag zu unserem Antrag. Um das zu untermauern, zitiere ich unsere Kollegin Dr. Helga Otto, SPD, aus der Bundestagssitzung vom 18. Juni 1993.
Herr Kollege Voigt, bitte zitieren Sie die Kollegin nur noch mit einem Satz. Sie haben Ihre Redezeit bereits voll genutzt.
Ich verlese nur einen Satz; er ist der wichtigste:
Ich will nicht, daß deutsche Studenten nach Amerika oder nach Japan auswandern müssen, um das Handwerkszeug für ihre zukünftigen Arbeitsplätze zu erlernen.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen und schließe daraus, daß die Sozialdemokraten in großem Umfang unserem Gesetz zustimmen werden.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die nächste Worterteilung vornehme, gebe ich Ihnen das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Entgeltfortzahlungsgesetzes, den Drucksachen 12/5798, 12/5263, 12/5616, 12/5760 und 12/5773, bekannt.
Metadaten/Kopzeile:
15572 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Vizepräsident Hans Klein493 Kolleginnen und Kollegen haben ihre Stimme abgegeben. Mit Ja haben 287 gestimmt, mit Nein 191; 15 haben sich der Stimme enthalten.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 489; davon:ja: 286nein: 188enthalten: 15JaCDU/CSUDr. Ackermann, Else Adam, UlrichDr. Altherr, Walter Franz Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-GünterDr. Bauer, Wolf Baumeister, Brigitte Bayha, RichardBelle, MeinradDr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-DirkDr. Blank, Joseph-Theodor Blank, RenateDr. Blens, Heribert Bleser, PeterDr. Blüm, Norbert Dr. Böhmer, Maria Dr. Bötsch, Wolfgang Bohl, FriedrichBohlsen, Wilfried Breuer, PaulBrudlewsky, Monika Buwitt, DankwardCarstens , Manfred Dehnel, Wolfgang Dempwolf, GertrudDeb, AlbertDiemers, Renate Dörflinger, Werner Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Eichhorn, Maria Engelmann, Wolfgang Eppelmann, RainerErler , Wolfgang Eylmann, HorstEymer, AnkeFalk, IlseFeilcke, JochenDr. Fell, Karl I I.Fischer , Dirk Fockenberg, Winfried Frankenhauser, HerbertDr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.Fuchtel, Hans-JoachimGanz , Johannes Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Geis, NorbertGerster , Johannes Gibtner, HorstGlos, MichaelDr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin Götz, PeterGrochtmann, Elisabeth Grotz, Claus-PeterDr. Grünewald, JoachimGünther , Horst Harries, KlausHaschke , Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, RainerHauser , Otto Hauser (Rednitzhembach),HansgeorgHeise, ManfredDr. Hellwig, RenateDr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, ErnstHintze, Peter Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, Joachim Hollerith, JosefDr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, HubertJaffke, SusanneDr. Jahn ,Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, KarinDr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, RainerDr. Jüttner, EgonJung , Michael Dr. Kahl, HaraldKalb, Bartholomäus Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, VolkerKeller, PeterKlein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, UlrichKöhler ,Hans-UlrichDr. Köhler ,VolkmarKors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Kraus, RudolfKrause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, ArnulfKronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, KarlDr. Lammert, Norbert Lamp, HelmutDr. Laufs, Paul Laumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Limbach, EdithaLink , Walter Lintner, EduardDr. Lippold ,Klaus W.Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun Lohmann ,WolfgangLouven, Julius Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael Männle, Ursula Magin, TheoDr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, ErwinDr. Mayer , MartinMeckelburg, Wolfgang Meinl, RudolfDr. Meseke, Hedda Dr. Meyer zu Bentrup, ReinhardMichalk, MariaMichels, Meinolf Dr. Möller, FranzMüller , Elmar Müller (Wesseling), Alfons Nelle, EngelbertDr. Neuling, Christian Neumann , Bernd Niedenthal, ErhardNitsch, Johannes Nolte, ClaudiaDr. Olderog, Rolf Ost, FriedhelmOswald, EduardOtto , Norbert Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, UlrichPfeifer, AntonPofalla, RonaldDr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Pützhofen, Dieter Dr. Ramsauer, Peter Rau, RolfRawe, Wilhelm Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, NorbertDr. Riedl , Erich Riegert, KlausDr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden),HanneloreRomer, FranzRossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, HeinzDr. Ruck, Christian Rühe, VolkerDr. Rüttgers, Jürgen Sauer , Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Schätzle, OrtrunDr. Schäuble, Wolfgang Scharrenbroich, Heribert Schartz , Günther Schell, ManfredSchemken, Heinz Scheu, GerhardSchmalz, UlrichSchmidbauer, Bernd Schmidt , ChristianDr.-Ing. Schmidt , JoachimSchmidt , Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),Hans PeterDr. Schockenhoff, Andreas Graf von Schönburg-Glauchau, JoachimDr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer, ReinhardSchulhoff, WolfgangDr. Schulte , Dieter Schwalbe, Clemens Schwarz, StefanDr. Schwörer, Hermann Seehofer, HorstSeesing, Heinrich Seiters, RudolfSikora, JürgenSkowron, Werner H. Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-Dieter Dr. Sprung, RudolfSteinbach-Hermann, Erika Dr. Frhr. von Stetten,WolfgangStockhausen, Karl Strube, Hans-Gerd Stübgen, Michael Susset, EgonTillmann, Ferdinand Dr. Töpfer, KlausDr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, GunnarVerhülsdonk, Roswitha Vogel , Friedrich Vogt (Duren), WolfgangDr. Voigt ,Hans-PeterDr. Waffenschmidt, Horst Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, JürgenDr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wiechatzek, GabrieleDr. Wieczorek ,BertramDr. Wilms, Dorothee Wilz, BerndDr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, MatthiasDr. Wittmann, Fritz Wittmann ,SimonWonneberger, Michael Wülfing, ElkeWürzbach, Peter Kurt Yzer, CorneliaZeitlmann, Wolfgang Zöller, WolfgangF.D.P.Albowitz, InaDr. Babel, GiselaBaum, Gerhart Rudolf Bredehorn, Günther Engelhard, Hans A. van Essen, JörgFriedrich, HorstFunke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink, MargretGallus, GeorgGenscher, Hans-Dietrich Günther , Joachim Hackel, Heinz-Dieter Hansen, DirkDr. Hoyer, Werner Irmer, UlrichKleinert , Detlef Dr. Kolb, Heinrich L.Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Leutheusser-Schnarrenberger,SabineLühr, UweDr. Menzel, Bruno Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, RainerPeters, LisaDr. Pohl, EvaRichter , Manfred
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15573
Vizepräsident Hans Klein Rind, HermannDr. Röhl, KlausSchäfer , Helmut Dr. Schmieder, Jürgen Dr. Schnittler, Christoph Dr. Schwaetzer, Irmgard Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, SigridDr. Solms, Hermann Otto Dr. Starnick, JürgenDr. Thomae, DieterTimm, JürgenWolfgramm , TorstenWürfel, UtaNeinCDU/CSUBüttner , HartmutDoss, HansjörgenLattmann, HerbertRauen, Peter HaraldSchulz , Gerhard Seibel, WilfriedSPDAndres, GerdBachmaier, HermannBarbe, AngelikaBartsch, HolgerBecker , Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bindig, RudolfBock, TheaDr. Böhme , Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, AnniDr. Brecht, EberhardBüttner , Hans Burchardt, UrsulaBury, Hans Martin Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, PeterDr. Däubler-Gmelin, Herta Daubertshäuser, KlausDr. Diederich , Nils Diller, KarlDr. Dobberthien, Marliese Dreßler, RudolfEbert, EikeDr. Eckardt, PeterDr. Ehmke , Horst Eich, LudwigDr. Elmer, KonradErler, GernotEwen, CarlFerner, ElkeFischer , Lothar Fuchs (Vert), Katrin Fuhrmann, ArneGanseforth, MonikaGansel, NorbertDr. Gautier, FritzGilges, KonradGleicke, IrisGroßmann, AchimHaack , Karl-HermannHabermann, Michael Hämmerle, GerlindeHampel, Manfred Hanewinckel, ChristelDr. Hartenstein, LieselHasenfratz, Klaus Heistermann, DieterHeyenn, Günther Hilsberg, Stephan Horn, ErwinIwersen, Gabriele Jäger, Renate Janz, IlseKemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, Marianne Klemmer, Siegrun Körper, Fritz RudolfKolbe, Regina Kolbow, Walter Koltzsch, Rolf Koschnick, Hans Kubatschka, Horst Kuessner, Hinrich Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigittevon Larcher, DetlevLennartz, Klaus Lörcher, Christa Dr. Lucyga, ChristineMaaß , Dieter Mascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Meckel, MarkusMehl, Ulrike Meißner, HerbertDr. Mertens ,Franz-JosefMosdorf, SiegmarMüller , Albrecht Müller (Völklingen), Jutta Müller (Zittau), Christian Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, EdithDr. Niese, Rolf Odendahl, Doris Oesinghaus, GünterOpel, Manfred Ostertag, Adolf Dr. Otto, Helga Palis, KurtPaterna, PeterDr. Penner, WillfriedPeter , HorstDr. Pick, Eckhart Rennebach, RenateReschke, Otto Schaich-Walch, Gudrun Scheffler, Siegfried Willy Schily, OttoSchloten, Dieter Schmidbauer , HorstSchmidt , Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt-Zadel, ReginaDr. Schmude, JürgenDr. Schnell, Emil Schöler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela Schütz, DietmarSchulte , Brigitte Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf Seidenthal, BodoSeuster, Lisa Sielaff, Horst Simm, ErikaDr. Skarpelis-Sperk, SigridDr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, WielandSteen, Antje-MarieSteiner, Heinz-AlfredStiegler, LudwigTappe, JoachimDr. Thalheim, Gerald Thierse, Wolfgang Toetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, SiegfriedDr. Vogel, Hans-JochenVoigt , Karsten D. Vosen, JosefWallow, HansWalter , Ralf Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weiler, Barbara Weisheit, Matthias Weißgerber, GunterWeisskirchen , Gert Wester, HildegardWestrich, Lydia Wettig-Danielmeier, IngeDr. Wetzel, Margrit Weyel, GudrunWieczorek , Helmut Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, DieterDr. de With, Hans Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, HannaZapf, UtaF.D.P.Grüner, MartinHeinrich, Ulrich Homburger, Birgit Lüder, Wolfgang Sehn, ManilaPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Enkelmann, DagmarDr. Fuchs, RuthDr. Heuer, Uwe-JensDr. Höll, BarbaraJelpke, UllaDr. Keller, DietmarLederer, Andrea Dr. Modrow, flans Philipp, Ingeborg Dr. Schumann ,FritzDr. Seifert, IljaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, IngridPoppe, GerdSchenk, ChristinaSchulz , Werner Weiß (Berlin), KonradFraktionslosDr. Briefs, UlrichEnthaltenCDU/CSUFrhr. von Hammerstein, Carl-DetlevJäger, ClausDr. Vondran, RuprechtF.D.P.Beckmann, KlausDr. Blunk , Michaela Eimer (Fürth), Norbert Friedhoff, Paul K.Ganschow, JörgDr. Guttmacher, KarlheinzDr. Hoth, Sigrid Koppelin, Jürgen Schüßler, Gerhard Türk, JürgenZywietz, WernerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wollenberger, VeraDamit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir fahren in unserer Aussprache fort. Ich erteile der Kollegin Gudrun Schaich-Walch das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit das Gentechnikgesetz besteht, ist es beständiger Kritik unterworfen. Ich denke, wir müssen uns die Frage stellen, ob es wirlich so schlecht ist, wie immer behauptet wird, und ob es tatsächlich das Gesetz ist, das Innovationen, wirtschaftliche Entwicklung oder sogar Entwicklung im therapeutischen Bereich behindert. Es ist auch die Frage zu stellen, ob dieses Gesetz die Technikfeindlichkeit in unserem Land angeblich begünstigt und ob es die Ursache aller Probleme ist, die bei der Umsetzung dieses Gesetzes entstanden sind.Ich bin der Überzeugung, diese Fragen hätten ehrlich beantwortet werden müssen, bevor das Gesetz über Entbürokratisierung und EG-Anpassung hinausgehend wesentlich geändert wird. Eine sachliche und
Metadaten/Kopzeile:
15574 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Gudrun Schaich-Walchausgewogene Gegenüberstellung der legitimen Interessen von Technik, Forschung und Industrie, aber auch der Bedenken jener, die der Gentechnik kritisch gegenüberstehen oder sie ängstlich begleiten, hätte stattfinden müssen. Diese Aufgabe ist meiner Meinung nach von der Bundesregierung nicht geleistet worden. Zumindest läßt sich eine derartige Ausgewogenheit bei der Novellierung des Gesetzes nicht finden.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben die Chance zur Versachlichung der Diskussion um die Regulierung der Gentechnik nicht wahrgenommen. Sie haben auch nicht den Mut gehabt oder sich nicht die Zeit genommen, die Ergebnisse des Gutachtens des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik, das umfangreiches Material über Gentechnikregelungen in anderen wesentlichen und wichtigen Industrieländern wie USA und Japan vorgestellt hat, in die Debatte um die Novellierung einzubringen.Sie haben meiner Meinung nach eine einseitige Diskussion in Richtung Deregulierung geführt, und damit werden Sie den notwendigen gesellschaftlichen Konsens für eine positive Entwicklung der Gentechnik in der Zukunft nicht herbeiführen können. Im Gegenteil: Sie verfestigen bestehende Positionen. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Politik wirklich berechtigt ist, wenn man alle vorhandenen Fakten berücksichtigt.Das Gentechnikgesetz ist Mitte 1990 in Kraft getreten. Allen damals Beteiligten war, denke ich, klar, daß es nur ein Einstieg in die Regulierung sein könnte und daß Veränderungen notwendig würden. Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt ist die Dauer der Genehmigungsverfahren. Diese Kritik, denke ich, ist aber im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß das Know-how, das notwendig war, um dieses Gesetz reibungslos in Kraft treten zu lassen und umzusetzen, in den Ländern nicht vorhanden war. Man muß aber davon ausgehen, auch wenn man die Anhörung berücksichtigt, die wir durchgeführt haben, daß diese Probleme weitestgehend bereinigt sind und im allgemeinen die Fristen jetzt eingehalten werden. Das heißt für mich, daß diese Schwierigkeiten weitestgehend überwunden sind.Allerdings — damit kein Mißverständnis aufkommt —: Auch die SPD-Fraktion hält die Beseitigung unnötiger Hemmnisse für dringend erforderlich. Deshalb haben wir entsprechende Anträge eingebracht und tragen Vorschläge im Gesetzentwurf mit, die wir für eine sinnvolle Straffung halten.Erstens. Wir schlagen wie der Bundesrat eine Verkürzung der Genehmigungsfrist für gentechnische Arbeiten der Sicherheitsstufe 2 zu Forschungszwekken bei bereits eingestuften, vergleichbaren gentechnischen Arbeiten vor. Die von der Bundesregierung geplante Verkürzung auf einen Monat halten wir allerdings für unrealistisch, wie sich auch in den Gesprächen mit den Ländern ergeben hat.Zweitens. Zur Zeit kann die Verzögerung der Verfahren zu einem großen Teil mit der unumgänglichen Beteiligung der ZKBS begründet werden. Daher soll nach unseren Vorstellungen in der Sicherheitsstufe 1 die ZKBS nicht mehr beteiligt werden, und sie soll aus dem Verfahren in der Sicherheitsstufe 2 herausgehalten werden, wenn vergleichbare Arbeiten vorliegen. Im Gegensatz zur Bundesregierung sind wir jedoch der Meinung, daß eine bundeseinheitliche Handhabung gegeben sein sollte und infolge dessen das Bundesgesundheitsamt über die Vergleichbarkeit entscheidet.Drittens. Weiterhin schlagen wir zur Straffung vor, daß inhaltlich zusammenhängende gentechnische Arbeiten zu einem Projekt zusammengefaßt und im Anmelde- und Genehmigungsverfahren gemeinsam behandelt werden. Für die Einstufung soll die Arbeit mit der jeweils höchsten Sicherheitsstufe ausschlaggebend sein. Wir glauben, daß das etwas ist, was gerade der Praxis der Wissenschaft ganz besonders entgegenkommt.Aber nun zu der anderen Seite, zu der Seite der Bürger und Bürgerinnen. Wir sind der festen Überzeugung, die Straffung des Verfahrens muß mit einem Mehr an Transparenz kombiniert sein.
Denn die vorhandenen Sorgen und Ängste oder auch Wissensdefizite der Menschen bezüglich der Gentechnik und ihrer Folgen lassen sich nicht beseitigen, indem man die Öffentlichkeit ausschließt.
— Sie, Herr Dr. Voigt.Der Zweck des Gesetzes, nämlich der Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen und sonstiger Umwelt, darf von dem Ziel der Förderung von Forschung und Wirtschaft nicht überlagert werden. Der Gedanke der vorsorgenden Gefahrenabwehr darf unserer Meinung nach nicht konterkariert werden.Es ist ein Beitrag zur Vertrauensbildung, daß die Verfahren transparent gemacht werden. Wir schlagen dazu ein bundesweites, jedermann zugängliches Register vor, das alle Angaben über angemeldete und genehmigte Arbeiten von der Sicherheitsstufe 2 aufwärts beinhaltet.Wenn man Vertrauen in neue Technik schaffen will, ist es völlig kontraproduktiv, daß in den Ausschußberatungen von seiten der CDU/CSU ein weiterer Abbau der Öffentlichkeitsbeteiligung vorgenommen worden ist. Die Regelung, bei Freisetzungsverfahren nur noch schriftliche Einwendungen zu ermöglichen, die dann schriftlich beantwortet werden, kommt meiner Meinung nach einer nahezu gänzlichen Aussperrung der Öffentlichkeit gleich.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15575
Gudrun Schaich-WalchHier möchte ich Sie mit den Worten des Kommissariats der deutschen Bischöfe noch einmal eindringlich davor warnen, „der notwendigen Akzeptanz der Gentechnik in der breiten Bevölkerung durch eine Einschränkung der Öffentlichkeitsbeteiligung entgegenzuwirken".Wir von der SPD sehen durchaus die Probleme, die auftreten, und wir sehen auch die hohen Kosten, die verursacht werden, besonders im Bereich der Freisetzung. Sie hätten mit uns auch darüber reden können, wie man derartige Verfahren modifziert. Wir wären sicher mit Ihnen einer Meinung gewesen, daß es nicht sein kann, daß wenn zehnmal die gleiche Kartoffelsorte an verschiedenen Plätzen erprobt werden soll, dazu immer eine entsprechende öffentliche Anhörung gehört. Diesen Weg wollten Sie aber nicht gehen.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, bei dieser Novellierung geht es der SPD nicht darum, der Wirtschaft oder der Forschung Steine in den Weg zu legen,
sondern Sicherheit und Transparenz mit zu gewährleisten. Es gilt, die Gentechnologie zum Wohle der Bevölkerung zu ermöglichen. Das heißt für uns neben Erleichterungen für Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft, Entscheidungswege transparent zu machen und die Öffentlichkeitsbeteiligung beizubehalten.
Denn Mißtrauen in der Bevölkerung wird sich langfristig negativ auf die Gentechnik selbst und auf ihre Produkte auswirken. Entsprechende leidvolle Erfahrungen sind in den USA und in England gemacht worden. Es ist schade, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, daß Sie diese internationalen Erfahrungen nicht angemessen bewertet haben, sondern einen einseitig ausgerichteten Novellierungsvorschlag unterbreiten.Weil dieses so ist, können wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen, obwohl er, was Forschung und Wirtschaft betrifft, unserer Meinung nach in die richtige Richtung geht.
Aber der nahezu totale Ausschluß der Öffentlichkeit stößt bei uns auf absolute Ablehnung, und daher enthalten wir uns der Stimme.
Unser Kollege Professor Dr. Karl-Hans Laermann hat das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe, wir sind uns darin einig, daß von der heute zu verabschiedenden Gesetzesänderung ein Signal ausgeht, das weit über die Anwendungsbereiche der Gentechnik hinauswirkt. Nach all den vielen Ankündigungen und Forderungen im Zusammenhang mit dem vielfach strapazierten Schlagwort vom Standort Deutschland ist dies die erste konkrete Tat zur Sicherung desselben, jedenfalls ein wesentlicher Beitrag dazu.
Das von ihr ausgehende Signal fällt noch deutlicher und überzeugender aus, weil auch große Teile der SPD die Kernforderung der Novelle von Anfang an mitgetragen haben. Ich möchte hier im Gegensatz zu der Meinung der Kollegin Schaich-Walch ganz ausdrücklich sagen, daß ich den Eindruck habe, daß wir sehr sachlich und auch sehr kooperativ miteinander diskutiert haben.
Ich möchte das ausdrücklich feststellen. Das gilt jedenfalls für die Bereiche, in denen wir gemeinsam über die Dinge diskutiert und beraten haben.
Gegenwärtig gibt es in der SPD zwar offenbar nur schwankende Mehrheiten, wenn es um die symbolträchtigeren Passagen geht, aber ich denke, im Kern — auch da haben Sie nicht widersprochen, Frau Kollegin —, in den Grundzügen sind wir uns doch einig.Sie haben das ISI-Gutachten angesprochen und gesagt, daß es notwendig gewesen wäre, sich ausführlich damit zu beschäftigen. Es ist aber kurzfristig vorgelegt worden, und es hat auch kurzfristig für Verwirrung gesorgt. Es war nämlich eine unvollständige Vorabveröffentlichung eines Teilgutachtens des Büros für Technikfolgeabschätzungen zur biologischen Sicherheit der Gentechnik.
— Ich kannte es. Deswegen sage ich: Es ist der falsche Eindruck entstanden, die ausländischen Unternehmen wären froh, wenn sie unser Gentechnikgesetz hätten und dafür aus der Haftung entlassen würden.Es gibt jedoch zwei Schwachpunkte. Erstens haben die Gutachter nicht untersucht, wie es in den Universitäten und Forschungseinrichtungen aussieht. Zweitens haben sie offenbar auch die Frage ignoriert, warum bei uns eigenartigerweise, obwohl es doch angeblich um soviel einfacher und leichter ginge, weder ausländische Forscher noch ausländische Industrie geforscht und produziert haben.
Im Gegenteil: Unsere Firmen sind ins Ausland abgewandert. Diesen Widerspruch müßte man aufklären.Meine Damen und Herren, wenn wir die Gesetzesnovelle verabschiedet haben, hat im nächsten Schritt der Bundesrat die Verantwortung für diese Maßnahme zur Sicherung des Standorts Deutschland. Wir hoffen, hier mit den Ländern am selben Strang zu ziehen, weil es um die Zukunft der gesamten Bundesrepublik geht. Wir, Parlament und Regierung, müssen derweil zügig den nächsten Schritt tun, nämlich die Umsetzung der Signale dieser Novelle in nachgeordnete Verordnungen. Sie sind, verbunden mit dem
Metadaten/Kopzeile:
15576 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Dr.-Ing. Karl-Hans LaermannVollzug, die eigentlichen Hemmschuhe der Gentechnik in Deutschland. Die neuralgischen Punkte im Gesetzesvollzug sind bereits im Entschließungsantrag vom November 1992 aufgezeigt worden.Ebenso drängen wir seit damals die Bundesregierung, die übrigen EG-Mitgliedstaaten von der Notwendigkeit einer Novellierung der EG-Richtlinie zu überzeugen und auf eine einheitliche — ich betone: einheitliche — Umsetzung dieser Richtlinie innerhalb der EG hinzuwirken.Mit der vorliegenden Novelle wird der Sicherheits- und Schutzzweck des Gentechnikgesetzes, so behaupte ich, nicht beeinträchtigt.
Verehrte Frau Kollegin, Bürokratie war noch nie eine Garantie für mehr Sicherheit.
Es geht bei der Novelle darum, auf Grund der bisherigen Erfahrung unnötig die Forschung und die Entwicklung wie auch die Produktion behindernden bürokratischen Aufwand abzubauen. Ich bin sicher: Wegen der weiter zuwachsenden Erfahrungen und Erkenntnisse im Umgang mit der Gentechnik kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß das Gentechnikgesetz bei zukünftigen Fortschreibungen zur Disposition steht. Wir sind sicher, daß mit der zügigen Durchführung der Schritte, die wir jetzt vorgesehen haben, die Gentechnik, eine der großen neuen Technologien unseres auslaufenden Jahrhunderts in Deutschland, wieder nachdrücklich Fuß fassen kann und damit die Mitarbeit in dieser innovativen und zukunftsträchtigen Branche international möglich wird.Wir wollen — ich betone das mit allem Nachdruck — Risiken, die aus der Anwendung gentechnischer Verfahren erwachsen könnten, weitgehend vermeiden. Das ist der Schutzzweck dieses Gesetzes. Dabei soll es bleiben. Dafür wollen wir uns gleichzeitig um so nachdrücklicher um die Förderung des vielfältigen Nutzens für die Menschen in aller Welt kümmern. Der Kollege Voigt hat eine ganze Liste von positiven Effekten genannt, die wir von der Genforschung für den Menschen, aber auch zum Schutz von Natur und Umwelt erwarten können.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle meinen Dank an Minister Seehofer und seine Beamten sowie an die beteiligten Ressorts für deren Bemühen um die zügige Umsetzung des Parlamentsbeschlusses vom November 1992 aussprechen.
Ich äußere noch einmal die dringende Bitte, die entsprechenden Verordnungen zügig zu erlassen bzw. die nunmehr erforderlichen Veränderungen dieser Verordnungen zügig vorzunehmen, d. h. das Gesetz in seiner Gänze umzusetzen. Ich schließe mit der dringenden Bitte an die Länder, die neuen Regelungen zu akzeptieren und zügig umzusetzen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, kann ich Ihre Zustimmung unterstellen, daß die Kollegin Vera Wollenberger ihre Rede zu Protokoll *) gibt? — Es erhebt sich kein Widerspruch.
Ich erteile der Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als in den deutschen Kinos der Film „Jurassic Park" startete,
fühlte sich der Gesundheitsminister genötigt, eine Presseerklärung zur Gentherapie herauszugeben. Er hatte die Befürchtung, dieser Film — in ihm werden mittels Gentechnologie Dinosaurier gezeugt — würde irrationale Ängste vor der Gentechnik schüren.Damit hat er sicher nicht ganz unrecht gehabt. Seine Kritik ist jedoch in dem Maße unberechtigt, wie er selbst unbegründete Heilversprechen benutzt, um den Menschen die Gentechnologie schmackhaft zu machen. AIDS, Krebs und ähnliche Krankheiten sollen mit ihrer Hilfe angeblich besiegt werden.Mit diesen bisher — und auch auf lange Sicht —nicht erfüllbaren Zukunftsvisionen im Gesundheitsbereich soll der Bevölkerung das Ja zur gesamten Gentechnologie entlockt werden. Genmanipulierte Tiere und Pflanzen sowie mißglückte Freisetzungen sollen aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit verdrängt werden. Ich habe es noch nicht erlebt, daß die Verbraucherinnen und Verbraucher vom Gesundheitsminister über gentechnische Zusatzstoffe bei Cola, Käse oder Waschmitteln informiert wurden. Statt dessen wird seit Monaten eine gespenstische Diskussion um den Gentechnikstandort Deutschland geführt. Dabei wird fast so getan, als ob sämtliche wirtschaftlichen Probleme in Deutschland von einem restriktiven Gentechnikgesetz herrührten.Meine Damen und Herren, die Gentechnologie wurde überhaupt nicht durch ein Gesetz behindert; das ist ein Mythos. Fast 1 000 genehmigte gentechnische Arbeiten belegen das sehr deutlich. Erst in den letzten Tagen hat das Gesundheitsministerium auf die Anfrage meiner Kollegin Frau Dr. Fischer hin eine Liste der in Deutschland zugelassenen gentechnisch hergestellten Diagnostika und Medikamente veröffentlicht. Sie ist einige Seiten lang, und jeder sieht, daß die Industrie mitnichten behindert wird.Zudem möchte ich darauf hinweisen, daß in die Gentechnologie viel zu hohe Erwartungen gesetzt werden. Ich zitiere: „Optimistische Marktprognosen der Vergangenheit", so kürzlich das Resümee im „Handelsblatt", „haben sich bisher nicht erfüllt." Richtig ist, daß in diesem Land im internationalen Vergleich wenige Freisetzungen stattgefunden haben. Entscheidend hat das mit dem mangelnden Vertrauen der Bevölkerung in die Gentechnologie zu tun. Der offenkundige Versuch, diesem Problem durch eine Beschneidung der Öffentlichkeitsbeteiligung zu begegnen, wird sich auf lange Sicht als Bumerang für die Gentechnik erweisen. Die Bürgerin-*) Anlage 4
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15577
Dr. Barbara Höllnen und Bürger werden ihr nur mit noch größerer Skepsis begegnen — und das, wie ich meine, zu Recht.Das neueste Freisetzungsvorhaben im Landkreis Fürstenfeldbruck dient der Erprobung des AllroundHerbizids „Basta" der Firma Hoechst. Wo sind dort die so oft beschworenen ökologischen Vorteile der Gentechnik? Meine Damen und Herren, diese Vorteile gibt es nicht; sie sind nichts weiter als eine Fata Morgana. In Wahrheit bedeutet Gentechnologie Industrialisierung der Landwirtschaft mit negativen ökologischen Folgen. In Wahrheit bedeutet Gentechnologie die totale Verwertung der Natur, wobei wir heute noch nicht in der Lage sind, alle Folgen abzuschätzen.Meine Damen und Herren, ich muß sagen, es war schon fast rührend, wie sich der Abgeordnete Vosen von der SPD in der Anhörung im Ausschuß beim Vertreter der chemischen Industrie beschwerte, das Gentechnikgesetz sei doch für die Industrie gemacht, nun werde es für die Industrie verändert, und trotzdem ginge die Firma Bayer mit 500 Millionen DM ins Ausland. Die angebliche Bürokratie war eben nie ein wahres Argument in dieser Gentechnikdebatte.Das eigentliche Problem der Wissenschaftler und der Industrie ist die begründete Skepsis der Menschen angesichts der Gentechnologie. Genau deshalb will die Regierungskoalition keine Kennzeichnung von Lebensmitteln und eine Beschneidung der Öffentlichkeitsbeteiligung und der Fristen.Meine Damen und Herren, das vorliegende Gesetz sowie in Teilen auch der Antrag der SPD sind Geschenke an die Industrie und die Wissenschaft, Zeugnis einer großangelegten Verdrängungskampagne, die wir eindeutig ablehnen.
Dabei möchte ich betonen, daß wir nicht gegen eine Novellierung dieses Gesetzes sind,
nur müßte sie das Ziel des Schutzes von Mensch und Natur konsequent einlösen.
Das heißt für mich: Verbot der Freisetzung genetisch manipulierter Organismen, Wegfall des Förderungszieles in Art. 1 und die Veränderung der Definition der Sicherheitsstufe 1.Eine gentechnische Arbeit ohne Risiko ist eine reine Abstraktion, Gentechnologie ohne Risiko gibt es nicht. Weil es einen gefahrlosen Einsatz dieser Technologie nicht gibt, werde ich und mit mir viele Menschen in diesem Land weiterarbeiten, bis allen Menschen klar ist: Eine ökologische und soziale Zukunft ist eine Zukunft ohne Gentechnologie.
Frau Kollegin Höll, nur noch einen Satz bitte.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch eine Bemerkung machen: Auf Grund der Novelle des Gentechnikgesetzes sind wir mit einer Regelung der Genomanalyse nicht vorangekommen. Wir müssen es schon als Täuschung empfinden, wenn hier versucht wird, eine Genomanalyse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinterrücks über die Arbeitsschutzgesetzgebung zu legalisieren.
Ich erteile dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum jemand plädiert in diesen Tagen nicht für Deregulierung und Entbürokratisierung. Diese Novelle des Gentechnikgesetzes ist ein Prüfstein dafür, wie ernst man es dann nimmt, wenn Deregulierung und Entbürokratisierung Realität werden. Dort, wo dies ohne Gefahr für die Sicherheit von Mensch und Umwelt beim Umgang mit der Gentechnik möglich ist, sind wir für einen konsequenten Abbau der Bürokratie.
Deshalb werden wir hier im Deutschen Bundestag, aber auch im Bundesrat an diesem Konzept der Novelle des Gentechnikgesetzes festhalten.
Das sind wir unserer Wissenschaft und unserer Wirtschaft, aber auch den Beschäftigten in den Forschungslabors und Industriebetrieben schuldig.Meine Damen und Herren, wenn man ständig auf Kongressen unterwegs ist, auf denen heute noch nicht beherrschbare Krankheiten behandelt werden, wenn man die Hoffnungen der Menschen mitverfolgen kann, die diese in die Gentechnik setzen, wenn man sieht, welche Erfolge der Gentechnik im Bereich der Medizin den Menschen auch schon zugute kommen, dann ist es — so denke ich, Frau Kollegin Höll — auch eine ethische Verpflichtung, daß wir die Möglichkeiten der Gentechnik nutzen.
Sie weisen mit Recht darauf hin, daß es heute schon insgesamt über 250 Arzneimittel gibt, die mit gentechnischen Methoden gewonnen werden. Aber das ist nicht — so wie Sie es darstellen — der Beleg dafür, daß es beim Vollzug dieses Gesetzes keine Schwierigkeiten gibt. Denn die meisten dieser gentechnisch hergestellten Arzneimittel sind nicht in Deutschland erforscht worden und werden auch in Deutschland nicht produziert. Das ist das Problem.
Es gibt etwa 250 Arzneimittel, die mit gentechnischen Methoden gewonnen werden. Ich nenne gerade vor dem Hintergrund aktueller Probleme die
Metadaten/Kopzeile:
15578 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Bundesminister Horst SeehoferHerstellung des rekombinanten Faktors VIII zur Behandlung von Blutern, der die potentiellen Restrisiken einer HIV-Infektion durch Blut bzw. Blutprodukte beseitigt. Meine Damen und Herren, das ist eine ganz wichtige Frage. Bei der herkömmlichen Übertragung von Blutprodukten wird immer ein Restrisiko der Infektion bleiben. Durch ein gentechnisch hergestelltes Blutprodukt können wir dieses Restrisiko gewissermaßen eliminieren.
Ich nenne weiter die Entwicklung des Medikaments EPO, durch das vielen chronisch nierenkranken Patienten langwierige und risikoreiche Bluttransfusionen erspart geblieben sind. Ich erwähne das als TPA bekanntgewordene Medikament, das bei der Therapie des akuten Herzinfarkts zur Auflösung von Gefäßverstopfung verwendet wird und bereits viele Herzinfarktpatienten in Deutschland vor schweren Komplikationen oder sogar dem Tod bewahrt hat.Zu dieser Liste gehört auch die Herstellung von Humaninsulin mit dem Vorteil, daß dieses Insulin für viele Patienten verträglicher und wirksamer ist als das herkömmliche.Dies alles wäre ohne die Gentechnik nicht möglich gewesen. Ohne Gentechnik wüßten wir heute auch über viele Krankheitsmechanismen weit weniger. Das gilt z. B. für die Alzheimer Krankheit, für Diabetes, Krebs und Aids.Auch auf die somatische Gentherapie werden große Hoffnungen gesetzt. Zwar sind derzeit die Erfahrungen noch begrenzt, aber wir gehen davon aus, daß die somatische Gentherapie die Chance einer wirklich kausalen Therapie von schweren Krankheiten in sich birgt. Das heißt, es besteht damit die Chance auf eine wirkliche Heilung von Krankheiten, die heute noch nicht beherrscht werden.
Diese Chancen müssen wir nutzen. Das sind wir den Menschen schuldig. Deshalb gilt für die Bundesregierung und die Koalition nach wie vor als oberstes Ziel: Wir müssen auf der einen Seite die Risiken vermeiden — das ist durch das Embryonenschutzgesetz geschehen —, aber auf der anderen Seite die Chancen nutzen.Meine Damen und Herren, ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an Vorträge, die ich noch vor zehn Jahren bei Wirtschaftsbeiräten zu dem Thema gehalten habe, ob die Mikroelektronik und der Roboter Arbeitsplätze gefährden. Damals haben wir eine neue Technologie mit ihren Risiken überbetont. Während wir in der Bundesrepublik Deutschland über diese Risiken diskutiert haben, haben andere diese Technologie erforscht und dann produziert. Wir importieren heute das, was andere produzieren.
Das darf uns in der Gentechnik nicht passieren. Ich betone, wie alle Vorredner der Koalition, noch einmal, daß der Schutz von Mensch und Umwelt beimUmgang mit der Gentechnik oberstes Ziel der Bundesregierung bleibt. Die Vorschriften, die wir erlassen haben, um dieses Ziel zu erreichen — auch dieses Gentechnikgesetz dient diesem Ziel —, enthalten aber eine ganze Reihe von Regelungen, die nach neuem Erkenntnisstand nicht notwendig sind, um den Umgang mit der Gentechnik sicher zu machen.Das ist schon seit der vom Bundestag im Frühjahr 1992 durchgeführten Anhörung unbestritten. Eine weitere Anhörung im Juni 1993 hat dies bestätigt.Das Gentechnikrecht kann also entbürokratisiert werden. Wenn wir das Gentechnikrecht entbürokratisieren können, dann müssen wir es auch tun.
Die Gentechnik ist eine wichtige Schlüsseltechnologie. Ihre Entwicklung darf durch administrative Hemmnisse nur insoweit eingeschränkt werden, als dies zum Schutz von Mensch und Umwelt geboten ist. Dort aber, wo der Schutzzweck es nicht erfordert, sollten wir auf staatliche Eingriffe verzichten.Leider erlaubt uns der vom EG-Recht gesetzte Rahmen nicht alle möglichen und auch gebotenen Änderungen. Wo aber das EG-Recht nicht entgegensteht, da muß unser Gentechnikrecht entrümpelt werden. Das ist das Ziel der vorliegenden Novelle, ohne den Schutzzweck des Gesetzes zu verletzen.Die Novelle sieht folgendes vor:Erstens. Der Anwendungsbereich des Gentechnikgesetzes wird zielgenauer gefaßt. Insbesondere reine Transportvorgänge werden ausgegliedert.Zweitens. Das Genehmigungsverfahren in den niedrigen Sicherheitsstufen wird in ein Anmeldeverfahren umgewandelt.Drittens. Genehmigungs- und Anmeldefristen werden verkürzt.Viertens. Die Öffentlichkeitsbeteiligung — das halte ich für besonders wichtig — wird zum einen bei Anmelde- und Genehmigungsverfahren auf die wirklich notwendigen Fälle beschränkt, zum anderen wird sie dort, wo sie zu kompliziert ist, maßgeblich vereinfacht, ohne die Beteiligung der Öffentlichkeit dadurch zu verhindern.
Damit setzen wir — da bin ich ganz anderer Aufassung als Sie, Frau Schaich-Walch — zugleich ein Signal, mit dem wir die Akzeptanz der Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland verbessern und unsere Wissenschaft und Industrie zu neuen Anstrengungen in Forschung und Anwendung ermuntern wollen.Das war bei der ersten Lesung im Juni noch alles etwas anders. Damals traf unser Konzept noch auf breite Zustimmung, auch bei der Opposition.
Ich habe die Redebeiträge von Herrn Catenhusen und von Frau Dr. Otto sowie auch die besonders ermunternden Zwischenrufe vom Kollegen Vosen noch im Ohr. Was, meine Damen und Herren von der SPD, istDeutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den i. Oktober 1993 15579Bundesminister Horst Seehofereigentlich seit Juni geschehen? Was ist eigentlich in Sie gefahren?
Nachdem Sie ja eine Enthaltung angekündigt haben, lasse ich in meiner Rede vieles weg, was mir aufgeschrieben wurde. Trotzdem muß ich Ihnen sagen: Wenn wir Ihren Anträgen folgten, die Sie uns letzte Woche im Ausschuß präsentiert haben, würde sich das Ausmaß der Entbürokratisierung im Gentechnikgesetz der Null-Linie nähern.
Sachlich durch nichts gerechtfertigte bürokratische Hemmnisse würden bestehen bleiben. Das beabsichtigte positive Signal für die Gentechnik würde ins Gegenteil verkehrt.Ich stelle einfach einmal die Frage: Was spricht eigentlich dagegen, in der Sicherheitsstufe 1, bei der per gesetzliche Definition keine Gefahr für Mensch und Umwelt besteht, von dem heute noch notwendigen Anmeldeverfahren in ein reines Anzeige- oder Registrierungsverfahren umzusteigen, was für die Forschung und für die Produktion den Vorteil hätte, sofort mit den Arbeiten beginnen zu können, ohne daß lange Fristen eingehalten oder Kommissionen beteiligt werden müssen?
Ich bin der Meinung, daß, wenn es das EG-Recht erlaubte, die Sicherheitsstufe 1 in dieses Gesetz überhaupt nicht hineingehörte.
Sie wollen dies jetzt mit Ihren Änderungsanträgen gegenüber unserem Entwurf verbösern.
Meine Damen und Herren, man muß sich, was die Öffentlichkeitsbeteiligung betrifft, auch einmal in der Praxis umsehen.
Es gibt trotz aller emotionalen Widerstände und oft auch Unkenntnis immer noch tapfere Unternehmen, die sich einem Freisetzungsverfahren unterziehen. Ich habe ein Unternehmen besucht und ohne Zweifel bei allen Fachleuten registrieren können, daß die Erörterungstermine im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung keinen neuen Erkenntnisgewinn für diejenigen Behörden bringen, die über die Anmeldung oder Genehmigung zu entscheiden haben. Diese Erörterungstermine werden vielmehr durch Anreise aus der ganzen Bundesrepublik Deutschland von Menschen, die ansonsten nicht in der Lage sind, ein Bügeleisen zu reparieren, dazu benutzt, bei der Gentechnik die Menschen in der Öffentlichkeit zu verunsichern, indem Fundamentalisten gegen die Gentechnikrechte insgesamt losziehen. Das führt nicht zu einer Erhöhung der Akzeptanz, sondern das zerstörtuns die Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland.
Deshalb sagen wir ja zur Öffentlichkeitsbeteiligung. Aber die Öffentlichkeitsbeteiligung muß so gestaltet werden, daß sie Genehmigungsverfahren nicht zertrümmert und daß die Unternehmen, die ein solches Verfahren jemals durchgeführt haben, nicht zu uns sagen: Das haben wir einmal gemacht, aber zum zweitenmal machen wir das in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr.Da sind von seriösen Leuten Millionenbeträge und viel persönlicher Kraftaufwand eingesetzt worden. Mir haben sowohl die Beschäftigten in diesen Betrieben wie die Unternehmer selbst gesagt: Das halten wir psychisch, materiell und von der Kostenbelastung her ein zweites Mal nicht mehr aus. Das zweite Mal wird dies außerhalb der Bundesrepublik Deutschland stattfinden.Das müssen Sie sich immer vor Augen halten, wenn Sie Ihre Vorschläge, die sich gewissermaßen noch in der Nullrunde der Entbürokratisierung befinden, wirklich ernsthaft aufrechterhalten wollen. Ich finde, wir machen uns in der Öffentlichkeit lächerlich, wenn wir ein gewaltiges Gesetzgebungsverfahren in die Wege leiten und am Schluß ein Gesetz verabschieden, das das Etikett Entbürokratisierung im Grunde nicht verdient. Wenn wir das tun, dann müssen wir auch die Kraft haben, wirklich zu deregulieren und wirklich zu entbürokratisieren.
Meine Damen und Herren, ich möchte auch noch einmal betonen: Dies ist ein erster Schritt zur Vereinfachung des Gentechnikrechts. Weitere Schritte müssen auch nach meiner Überzeugung folgen.
Wir werden, Herr Kollege Laermann, an der Änderung der Verordnungen ganz, ganz zügig arbeiten. Wir wirken auch seit vielen Monaten in der EG darauf hin, daß das EG-Recht unter den heutigen Erkenntnissen verändert wird.
Wir weisen auch immer wieder darauf hin, daß es nicht angeht, daß in der EG Richtlinien einheitlich beschlossen werden und nur ein Teil der Staaten diese so vollziehen, wie wir das in der Bundesrepublik Deutschland tun.
Ich sage: Das ist ein erster wichtiger Schritt, und wir werden weitere folgen lassen; insbesondere was die Verordnungen betrifft, sind wir voll dabei. Dieser erste wichtige Schritt verbessert deutlich die Arbeitsbedingungen zur Gentechnik in Wissenschaft und Industrie. Deshalb ist es für die Gentechniker in Forschung und Industrie jetzt an der Zeit, die Klagemauer zu verlassen. Wir haben ihre Beschwerden gehört, wir haben sie ernst genommen, und wir haben schnell, in wenigen Monaten, die erforderlichen Maßnahmen getroffen.
Metadaten/Kopzeile:
15580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Bundesminister Horst SeehoferMehr ist zur Zeit nicht möglich. In dem jetzt geschaffenen Rahmen müssen und können sich Wissenschaft und Industrie bewähren. Ich zitiere: „Man kann eine Wirtschaft auch kaputtjammern. Ich warne hier vor deutscher Gründlichkeit." Das ist eine Aussage des Vorstandsvorsitzenden der Siemens AG, und sie gilt auch für die Gentechnik.Deshalb gehen das Signal und die Forderung an Wirtschaft und Forschung. Sie stehen jetzt hinsichtlich der Grundlagenforschung, der Vermarktung von Forschungsergebnissen sowie der Herstellung entsprechender Produkte in der Pflicht, dieses Gesetz zu nutzen. Das ist die ureigenste Aufgabe von Wirtschaft und Forschung.Die Politik entscheidet nicht über die Aufnahme von Forschungsarbeiten, die Einstellung qualifzierter Mitarbeiter, die Bereitstellung der erforderlichen Mittel. Die Politik entscheidet auch nicht über den Aufbau von technischen Anlagen und Produktionsstätten oder über die Entwicklung innovativer Produkte. Die Politik sorgt für die nötigen Rahmenbedingungen. Mit der Verabschiedung der Novelle des Gentechnikgesetzes, Herr Kollege Thomae, verbessern wir diese Rahmenbedingungen. Das ist nicht nur eine Absichtserklärung, nicht nur ein Soll, sondern wir tun es auch. Jetzt müssen Wirtschaft und Forschung diese Chancen ergreifen.Ich appelliere an die SPD-geführten Bundesländer, diese Novelle im Bundesrat mit zu befördern und nicht zu verhindern.Ich betone noch einmal, was für mich als Gesundheitsminister mit das Wichtigste ist. Wenn ich an den letzten internationalen Aids-Kongreß in Berlin denke, wenn ich jenen Menschen gegenübersitze, die heute noch mit dem sicheren Tode rechnen müssen und die auf die Forschungsergebnisse der Gentherapie und der Gentechnik hoffen, dann sage ich: Wir dürfen nicht durch überzogene Regulierungen und Bürokratisierungen diesen Menschen jede Hoffnung nehmen, weil in der Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht nichts mehr stattfinden kann.
Deshalb sage ich Ihnen, Herr Kollege Catenhusen, Frau Schaich-Walch und insbesondere Herr Vosen: Helfen Sie mit, daß der Bundesrat, in dem Sie die Mehrheit haben, dieses Gesetz pünktlich verabschiedet, damit es am 1. Januar 1994 der Wirtschaft, der Forschung und letztlich dann auch den Menschen zugute kommt!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Wolf-Michael Catenhusen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns Sozialdemokraten geht es bei der anstehenden Novellierung des Gesetzes darum, den Schutz von Mensch und Umwelt vor im Einzelfall möglichen Risiken und Gefahren durch praktikable, dem jeweiligen Risiko angemessene und in möglichst kurzer Zeit zur Entscheidung führende Regelungen umzusetzen. Eine in diesem Sinne angemessene Regulierung der Gentechnik ist auch für uns für den Erhalt der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit unserer Grundlagenforschung wichtig; sie ist wichtig für Forschung, Entwicklung und Produktion vor allem in der pharmazeutischen Industrie.Es geht dabei natürlich auch um ein Stück Standortpolitik für den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland. In diesem Sinne gilt das, Herr Seehofer, für die Sozialdemokraten und für die Koalition.Ein Ergebnis der Diskussion, die wir von der SPD Anfang 1992 im Parlament angestoßen haben, verdient schon jetzt, festgehalten zu werden: Mittlerweile haben die Bundesländer, die für die Genehmigungspraxis verantwortlich sind, bereits durch eigene Anstrengungen, ohne Gesetzesänderungen, den bürokratischen Genehmigungsaufwand deutlich gesenkt. Sie haben sich auch in der Praxis weitgehend den Fristen des Gesetzes angenähert. Das hat der Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums in den Ausschußberatungen noch am Mittwoch auf mein Befragen ausdrücklich versichert. Wie können wir als Sozialdemokraten den Versicherungen der Bundesregierung in dieser Frage denn mißtrauen?Wer heute von seiten der Industrie, der Wissenschaft oder der Politik immer noch die Situation der Gentechnik in Deutschland schwarz in schwarz malt, tut dies wider besseres Wissen und schadet dem Standort Deutschland; denn das Bild, das in anderen Ländern über die Situation am Standort Deutschland gezeichnet wird, wird durch unsere eigenen Aussagen zum Standort geprägt. Ich denke, die Situation ist nicht derart schwarz in schwarz, wie das vielleicht noch zu Anfang des letzten Jahres zu befürchten war.Wir sehen natürlich durchaus noch Veranlassung zu einer Novellierung dieses Gentechnikgesetzes. Denn für die Anwendung des Gesetzes im Verwaltungsvollzug sind praktische Erleichterungen vor allem in der Sicherheitsstufe 1 notwendig und sinnvoll, die die Verfahren entbürokratisieren und soweit wie möglich beschleunigen.Auch dieses, Herr Minister Seehofer, ist von unserer Seite im Juni erklärt worden. Daß Sie heute vergessen und verdrängt haben, daß wir damals zu konkreten Dingen Änderungsanträge angekündigt haben — z. B. zu der Frage, in welchem Ausmaß wir eine Entbürokratisierung in der Sicherheitsstufe 2 für akzeptabel halten, und zur Frage des Abbaus der Öffentlichkeitsbeteiligung —, ist etwas, was nicht ganz Ihrer sonstigen Redlichkeit in der politischen Auseinandersetzung entspricht.Auch wir sehen Gründe, warum die Verfahren entbürokratisiert werden müssen. Aber das muß sachgerecht und realitätsbezogen geschehen. Wenn wir etwa dafür plädieren, daß Fristverkürzungen mit Augenmaß auf 60 Tage, im Höchstfall auf drei Monate vorgenommen werden, dann geht es einfach um die praktische Frage, ob überall dort, wo Anlagengenehmigungen zu erteilen sind, eine Frist von 30 Tagen nicht nur eine psychologische Augenwischerei ist.Geben wir jetzt allen Beteiligten endlich das, was sie brauchen: Wir müssen im Gesetz die Fristen verkürzen, aber so, daß wir überzeugt sind, daß bei gutem Willen alle Beteiligten auf sie bauen können.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15581
Wolf-Michael CatenhusenEine 30-Tages-Frist bei Anlagengenehmigungen halte ich, mit Verlaub gesagt, Herr Minister, für eine symbolische Geste, bei der ich fürchte, daß die Kluft zwischen den Fristen im Gesetz und der Wirklichkeit bestehenbleiben wird. Das wollen wir vermeiden.Es ist darüber hinaus bedauerlich, daß in der Zeit zwischen der Einbringung des Antrages und der heutigen Entscheidung über solche praktischen Fragen im Parlament nur einmal drei Stunden diskutiert werden konnte.Es wäre gut gewesen, wenn Sie von der Koalition zu einer ernsthaften Prüfung unserer praktischen Vorschläge in diesem Bereich bereit gewesen wären, denn zwischen unseren Ideen und Ihren Erwägungen liegen durchaus keine Welten. Dazu wäre im Gesetzgebungsverfahren die Gelegenheit gewesen. Sie haben diese Gelegenheit nicht genutzt.Sie haben in den Ausschüssen nicht ernsthaft über die Frage reden oder gar verhandeln wollen, welchen Sinn es macht — das ist eine Frage, zu der in der SPD unterschiedliche Meinungen vertreten werden —, der Industrie jetzt einen großen Schritt im Bereich der gewerblichen Anlagen der Sicherheitsstufe 1 entgegenzukommen, indem Sie vom Genehmigungsverfahren auf ein Anmeldeverfahren heruntergehen, während Sie gleichzeitig wissen, daß nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz Anlagen, in denen mit biotechnischen Verfahren Medikamente hergestellt werden, einem Genehmigungsverfahren unterliegen, auch wenn hier die Gentechnik nicht genutzt wird.Ich weiß nicht, was Sie sich dabei gesetzestechnisch vorstellen. Hat das überhaupt einen praktischen Vorteil? Das bezweifeln wir. Wir sind der Meinung, in der Einheitlichkeit des Gesetzvollzuges ist es besser, wenn wir auf der Ebene des Genehmigungsverfahrens stehenbleiben, weil es die Konzentrationswirkung erleichtert.Wenn wir im Gesetz gleichzeitig vorschlagen — im Unterschied zum Bundesrat —, die Höchstfrist auf drei Monate, nicht auf fünf Monate, wie der Bundesrat vorschlägt, zu verkürzen, dann wäre es vielleicht denkbar gewesen, daß Sie in den Ausschußberatungen oder unter sich auch über solche Sachen praktisch geredet hätten. Aber die Standortdiskussion ist manchmal am einfachsten zu führen, wenn wir den praktischen Fragen ausweichen und symbolische Signale in der Öffentlichkeit vermitteln.
Diese Art von Gesetzesberatung finden wir nicht besonders ideal und nicht in Ordnung.Ebenso fällt auf, daß von den 46 Punkten der Stellungnahme des Bundesrates, von denen eine Reihe auch von den CDU- oder CSU-regierten Ländern unterstützt worden sind — denn auch das Land Bayern ist der Meinung, daß die Fristverkürzung auf 30 Tage nicht angemessen ist und nicht einem vernünftigen Genehmigungsvollzug entspricht , weitgehend nur redaktionelle Anregungen aufgenommen wurden.Sie haben gemeint, man brauche über diese Dinge im Bundestag nicht zu beraten und sich nicht differenziert eine Meinung zu bilden. Es ist ja auch einfacher, wie diesmal ein Gesetzgebungsverfahren mit einer Lesung im Gesundheitsausschuß innerhalb von drei Stunden abzukürzen. Der Ausschußvorsitzende eröffnete die Sitzung mit der Frage: Gibt es noch Wortmeldungen, oder können wir zur Abstimmung kommen? Das ist eine Art von Verantwortung gegenüber den Pflichten des Parlaments, die ich schon für erstaunlich halte.
— Ich habe mich zu Wort gemeldet; das wissen Sie doch.Nach unserer unveränderten Einschätzung sind Anpassungen des Gesetzes an die Erfordernisse der Praxis notwendig, aber ohne Abstriche an den Sicherheitsstandards des Gesetzes und ohne Einschränkung der Informations- und Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger machbar.Wir halten übrigens Ihren Weg, faktisch die Öffentlichkeitsbeteiligung im Rahmen der Gentechnik abzuschaffen, für falsch. Herr Minister Seehofer, das ist auch etwas, was man einmal deutlich aussprechen muß. Wie schön ist es, wenn ein Minister sagt, ich bin für Öffentlichkeitsbeteiligung, und gleichzeitig mit der Novellierung, die er unterstützt, die Öffentlichkeitsbeteiligung in dem Bereich abschafft. Das halte ich für eine ganz tolle politische Botschaft. Den Umweltverbänden sagt man: Ich bin für die Öffentlichkeitsbeteiligung. Der Industrie sagt man: Leute, ihr braucht nicht aufgeregt zu sein, wir schaffen sie faktisch gerade ab.Wir halten das jedoch auch für unintelligent. Denn langfristig wird gerade der kommerzielle Erfolg der Gentechnik davon abhängen, daß die Bürgerinnen und Bürger die Produkte dieser Technik kaufen. Das ist im Medikamentenbereich erfolgt, im Lebensmittelbereich jedoch überhaupt nicht. Eine Strategie, den mündigen Konsumenten mit Vorenthaltung von Transparenz und Abbau von Öffentlichkeitsbeteiligung zu bedenken, halte ich für etwas Kontraproduktives und auch nicht für eine intelligente Standortpolitik.Die F.D.P., die sonst immer für Bürgerrechte eintritt, wirkt an dieser Stelle offensichtlich leichten Herzens daran mit. Man kann es wohl so verstehen, daß der F.D.P. die Bürgerrechte vor allem dann am Herzen liegen, wenn sie nicht im Konflikt mit Industrieinteressen stehen.Der Erfolg der Gentechnikindustrie wird auf Dauer vor allem von den Entscheidungen der Verbraucherinnen und Verbraucher über ihre Produkte abhängig sein. Deshalb meinen wir, daß Transparenz und Öffentlichkeit notwendig sind. Daß Sie etwa ein Register ablehnen, was selbst in die nationale Gesetzgebung Großbritanniens — Sie wissen, es ist konservativ regiert — aufgenommen worden ist — für mich ein erstaunlicher Vorgang —, zeigt, wie bewegungsunfähig Sie in diesen Fragen sind.Sie haben Ihren Novellierungsvorschlag in der gleichen Weise durch das Parlament geschickt wie seinerzeit das Gesetz. Das war seiner Qualität schon
Metadaten/Kopzeile:
15582 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Wolf-Michael Catenhusendamals nicht zuträglich. Ich sage auch: Einige der Novellierungsvorschläge, die auch wir für notwendig hielten, sind nur die Folge dessen, daß Ihnen 1990 bei der gleichen Gesetzgebungspraxis dicke Pannen unterlaufen sind. Ich will nur eine nennen: Wenn Sie jetzt sagen, wir regeln die Frage des Transports gentechnisch veränderter Organismen, so liegt das doch nur daran, daß Sie offensichtlich 1990 vor lauter Eile und Furcht vor einer Änderung der Mehrheit im Bundesrat gar nicht die Zeit gefunden haben, über solche Fragen ernsthaft im parlamentarischen Verfahren nachzudenken.
Sie können ja einmal im Protokoll der Ausschußberatungen nachlesen, worauf wir hingewiesen haben. Da kann ich Ihnen sagen, Herr Laermann: Vorsichtig, vorsichtig! Ich weiß noch genau, daß ich darauf hingewiesen habe. Sie können es nachlesen.Sie können, denke ich, unter diesen Umständen keine Zustimmung zu Ihrem Gesetzentwurf erwarten. Ihr Entwurf ist verbesserungsbedürftig und im Bereich der Öffentlichkeitsbeteiligung unakzeptabel.Wir werden uns der Stimme enthalten, weil wir das Ziel einer Entbürokratisierung der Genehmigungspraxis bei allen Differenzen im einzelnen nicht aus den Augen verlieren. Wir hoffen sehr, daß zwischen Bundesrat und Bundestag die notwendigen Korrekturen und Verbesserungen erörtert — und dann auch vorgenommen — werden können, die die Basis dafür schaffen, daß dieses zustimmungspflichtige Gesetz noch in diesem Jahr endgültig verabschiedet werden kann. Dieses Ziel behalten wir unverändert im Auge.Lassen sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen, den Herr Seehofer genannt hat. Herr Seehofer, ich denke, in der Diskussion über Gentechnik in Deutschland — Stichwort Standort — darf immer nur das versprochen werden, was die Gentechnik auch wirklich halten kann. Wenn man wie Herr Fuchtel wieder die Lösung der Welternährung bemüht, muß man vorsichtig sein, weil ja bekannt ist, daß die Probleme der Welternährung nicht einfach über bessere Züchtungsmethoden, sondern über eine vernünftige Verteilung der vorhandenen Lebensmittel erreicht werden kann und daß soziale und strukturelle Ursachen wichtiger sind.
Der zweite Punkt ist aber: Sie haben, Herr Minister Seehofer, das Medikament Faktor VIII als positives Beispiel dargestellt. Dieses neue Medikament halte auch ich uneingeschränkt für positiv. Aber dann müssen sie die Frage, warum das in Berkeley und nicht in Deutschland produziert wird, vielleicht doch einmal richtig darstellen. Ich würde Ihnen für die nächste Rede gern vorschlagen, sich an der Stelle vielleicht doch auf den aktuellen Stand der Probleme zu bringen.Die Situation sieht doch so aus: Das Patent für diesen Blutfaktor VIII hat die Firma Genentech Anfang der 80er Jahre in der Nähe von Berkeley entwickelt. Bayer hat dieses Patent in Lizenz erworben. Die Produktionstechnik für dieses Medikament stammt von der Firma Genentech 30 km von Berkeley. Daß sich die Firma Bayer 1984 entschieden hat, ein Forschungszentrum für solche Bereiche in der Nähe dieser Firma, 30 km entfernt, aufzubauen, hat vielleicht etwas mit einer Abhängigkeit deutscher Firmen im Bereich der Gentechnik vom kommerziellen Know-how amerikanischer Genfirmen zu tun.
— Warum das so ist, müssen an erster Stelle die deutschen pharmazeutischen Unternehmen beantworten, aber nicht wir Politiker; denn 1982 oder 1984 gab es kein Gentechnikgesetz, gab es noch nicht einmal eine Riesendiskussion in der Öffentlichkeit, sondern das Problem war, daß unsere Industrie in diesen Bereichen später aufgewacht ist als risikokapitalfinanzierte Gentechnikfirmen in Amerika.Ich meine, meine Damen und Herren, Diskussionen über solche Dinge sollten wir uns auch im deutschen Parlament nicht ersparen; denn — Herr Seehofer, das haben Sie im anderen Zusammenhang auch dargestellt, und damit bin ich eigentlich fast am Schluß —wir selbst müssen ein Interesse daran haben, daß bei der Diskussion um eine Verbesserung der Standortbedingungen für die Gentechnik in Deutschland die Politik dort ihre Verantwortung übernimmt, wo sie auch Verantwortung hat. Sie sollte sich aber nicht voreilig den Schwarzen Peter von der Industrie zuschieben lassen, wo diese selbst Innovationsschwächen gezeigt hat. Das gilt auch für den Bereich der Gentechnik,Ich denke, wir haben durch unsere Diskussion in der Verwaltungspraxis eine Menge gemeinsam angeschoben. Es ist auch ermutigend, daß wir uns im Forschungsausschuß gemeinsam für eine weitere Erhöhung der Mittel für die gentechnische Forschung in Deutschland eingesetzt haben. Das zählt langfristig.Meine Damen und Herren, wenn Sie die Chance nutzen, mit dem Bundesrat zusammen hinsichtlich der Frage, wie Bürokratie in der Praxis wirksam abgebaut werden kann, die Diskussion nachzuholen, die Sie uns in den Ausschüssen nicht gewährt haben, dann glaube ich, daß wir eine gute Chance haben, daß Ende des Jahres etwas zustande kommt, was auch der Industrie hilft, was der Wissenschaft hilft. Wir hoffen auch nach wie vor, daß dies der Öffentlichkeit hilft, die ein berechtigtes Interesse an Transparenz und Beteiligung hat.Schönen Dank, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, zu einer Intervention nach § 27 der Geschäftsordnung hat unser Kollege Dr. Hans-Peter Voigt das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15583
Lieber Herr Catenhusen, Sie haben einige Bemerkungen über die letzte Sitzung gemacht. Ich möchte da einiges korrigieren.
Es gab in der Sitzung die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen. Zwei Anhörungen, viele Diskussionen, die wir in den letzten Monaten und Wochen geführt haben, haben eigentlich ausreichend die Möglichkeit geboten, sich über die Gesamtthematik zu unterhalten.
Wenn Sie sich schon in das Fegefeuer dieses Gesprächs hineinbegeben — Sie hatten sich extra für diese Beratung als stellvertretendes Mitglied in den Ausschuß zurückgemeldet —, müssen Sie doch bedenken: Jeder Ausschuß hat sein Eigenleben und seine eigene Form, mit Themen umzugehen. Wenn Sie dann plötzlich nur zu der Beratung kommen, ist es für Sie natürlich ganz besonders schwer, die eigene Kultur, die jeder einzelne Ausschuß entwickelt, sofort zu übernehmen.
Nächster Redner ist unser Kollege Heinrich Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch in der heutigen Debatte wurde wieder deutlich: Viele Menschen fragen nicht nach den Chancen, sondern vielmehr nach den Risiken der Gentechnologie. Muß man nach der Rede von Frau Höll nicht die Frage stellen: Kommen die Dinosaurier, oder kommen sie nicht?Millionen von Menschen strömen ja in die Kinos, um sich anzuschauen, was Gentechnologie angeblich kann:
aus einer winzigen Menge DNA eine ganze Generation von vor Jahrmillionen ausgestorbenen Tieren wieder ins Leben rufen. Der Film „Jurassic Park" provoziert solche Äußerungen wie: Wenn schon Dinosaurier wiederauferstehen, dann ist es doch bestimmt möglich, Menschen und Tiere von heute so zu manipulieren, daß sie zu neuen Lebewesen werden.Ernster nehmen als „Jurassic Park" sollten wir die Gentechnologie doch schon. Völlig neue Lebewesen, — das ist nicht das Ziel der Gentechnologie. Was kann sie? Wir können heute einzelne Erbinformationen, die in lebenden Zellen vorhanden sind, analysieren, d. h. einzeln auf ihre Eigenschaft hin bestimmen. Wenn wir wollen, können wir dieses Verfahren Genomanalyse nennen. Mit Hilfe der Gentechnik kann man die Erbinformationen aus ihrer Umgebung herauslösen und — auch über Artengrenzen hinweg — in andere Organismen übertragen. Es geht also darum, Erbanlagen gezielt zu verändern, den Organismen neue Fähigkeiten zu verleihen oder unerwünschte aus ihnen zu entfernen.Interessant ist, daß zunächst weder Politik noch Kulturkritiker nach den Risiken der Gentechnologie fragten, sondern die beteiligte Wissenschaft selbst. Im Jahre 1975 fand in Asilomar, Kalifornien, eine Konferenz statt, auf der rund 140 Molekularbiologen aus 17 Ländern der Erde ausführlich und vorbehaltlos über Konsequenzen ihrer Arbeit diskutierten. Ich hatte gedacht, das wäre mittlerweile schon in allen Köpfen. Aber heute ist mir deutlich geworden, daß es doch noch nicht soweit ist. Sie beschlossen gezielte Sicherheitsmaßnahmen, durch die das Risiko gentechnischer Experimente eingegrenzt werden kann. Das führte z. B. in den USA und bei uns in Deutschland zum Erlaß von Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in-vitro-neukombinierte Nukleinsäuren.Aus diesen Richtlinien ging das Gentechnikgesetz mit seinen Verordnungen hervor. Jetzt soll es geändert werden, weil der unveränderte Fortbestand der bestehenden gesetzlichen Regelungen sowie die gegenwärtige Vollzugspraxis — ich muß zugeben, Wolf-Michael Catenhusen, daß sie beträchtlich besser geworden ist — auf Dauer eine Gefährdung des Forschungs- und Wirtschaftsstandortes Deutschland darstellen. Im Bereich der Gentechnik sind weltweit wissenschaftliche Erkenntnisse zugewachsen, die zu einer präziseren Bewertung von Risikopotentialen geführt haben, so daß eine Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung ohne Abstriche beim Schutz von Mensch und Umwelt vertretbar ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf kann den Erf ordernissen der Entbürokratisierung im Gentechnikrecht nur teilweise entsprechen. Weitergehenden Wünschen können wir noch nicht folgen, weil das Recht der Europäischen Gemeinschaft uns dabei im Wege steht. Wir möchten gern auch in diesem Punkt besser sein als andere. Deswegen können wir die Bundesregierung nur bitten, in Verhandlungen mit der EG und den anderen Mitgliedstaaten — und das scheint mir am wichtigsten zu sein — eine vernünftige, zukunftsträchtige Lösung zu erreichen.Aber auch national können wir noch einiges für die Beschleunigung der Anmelde- und Genehmigungsverfahren tun. Ich denke mir, daß die entsprechenden Rechtsvorschriften dazu bald auf den Weg kommen. Der Minister hat das ausdrücklich gesagt.Die Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz haben mich nun zu Überlegungen veranlaßt, was wir in unserer Art, Gesetze zu produzieren, besser machen können. Bei allen Reden und Gesprächen behaupten auch wir immer, daß „ die ausufernde staatliche Gesetzes- und Verordnungsflut das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in Deutschland zu ersticken droht". Das sind Zitate aus Bundestagsreden, mehrfach so gehalten. Dennoch produzieren wir fleißig weitere Gesetze. Vielleicht müssen wir doch eines Tages eine Einrichtung schaffen, die den Bundestag in Fragen einer Gesetzesfolgenabschätzung berät, wie wir sie heute schon in Fragen der Technikfolgenabschätzung haben.
Genauso wichtig ist auch die Frage, wie wir die Akzeptanz der Gentechnologie in unserem Lande verbessern können. Ohne Gentechnik verspielen wir ein Stück Zukunft. Wir brauchen sie für die Lösung vieler Probleme. Das müssen wir den Menschen sagen. Es kann aber auch hilfreich sein, wenn diejenigen, die Gentechnologie betreiben, sagen, wo sie
Metadaten/Kopzeile:
15584 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Heinrich Seesingdie Grenzen ihres Handelns sehen. Das schafft Vertrauen.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist Herr Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Koalition ist ein Meister in Deutschland — ein Meister im Aufbau von Popanzen. Sie braucht diese Popanzen, um sie anschließend mit ihren Gesetzesvorhaben einzureißen, mit bitteren Folgen für Bürgerinnen und Bürger, für Arbeitslose und abhängig Beschäftigte, für Minderheiten und für Flüchtlinge.
Auch im Falle der Gentechnik scheint zunächst mit tatkräftiger Hilfe der interessierten Industrie, besonders der Chemieindustrie, ein solcher Popanz, nämlich der der angeblichen Behinderung und Verschleppung bio- und gentechnischer Forschung, aufgebaut worden zu sein. Darauf deutet zunächst das bereits zitierte Gutachten des Technologiefolgenabschätzungsbüros beim Bundestag hin.
Im Ausland, kurz zusammengefaßt, wird gentechnische Forschung meist strenger reguliert als in Deutschland.
Doch lassen wir einen Insider sprechen. Professor Gassen von der TH Darmstadt, zitiert in der „Frankfurter Rundschau" vom 24. April 1993, äußert sich dazu wie folgt:
Die Forschung läuft in Deutschland sehr gut und praktisch unbehindert.
Als „Bremser" wirke die Verwaltung in rund 10 % der Fälle. Der Darmstädter Wissenschaftler macht für den Rückstand der deutschen Gentechnik in erster Linie falsche oder unterlassene unternehmerische Entscheidungen in den 80er Jahren, halbherzige und zu geringe internationale Kooperationen sowie fehlende langfristige Forschungskonzepte bei Politik und Wirtschaft verantwortlich. „Aber es geht bergauf" — wieder wörtlich zitiert —, gibt er sich dennoch optimistisch.
Diese Koalition nutzt die von ihr — ein weiterer derartiger Popanz — aufgebrachte Standortdebatte und die Verunsicherung der Öffentlichkeit dazu, um jetzt politische Projekte durchzuziehen, z. T. durchzupeitschen, an die sie vor einigen Jahren nicht im Traum gedacht hätte.
In diesem Zusammenhang werden Phantasiezahlen über zu erwartende Arbeitsplätze in die Welt gesetzt. Zwei Millionen Arbeitsplätze in der EG bei einem Weltmarkt für Bio- und Gentechnikprodukte von 160 Milliarden DM im Jahr 2 000 — das beispielsweise kündigt der Bundesminister für Forschung und Technologie an. Ich habe damit das „Handelsblatt" vom 28. Mai 1993 zitiert.
Aber das ist schon in sich nicht stimmig. Das würde bedeuten, daß unter der Annahme, der gesamte Weltmarkt würde von Europa aus bedient, je Beschäftigter im Jahre 2 000 ein Umsatz von 80 000 DM erreicht würde. Die Wertschöpfung, die nur ein Teil des Umsatzes ist, wird in Deutschland im Jahr 2 000 im volkswirtschaftlichen Durchschnitt bei etwa 100 000 DM liegen. Dieses Zahlenbeispiel kann vorn und hinten nicht stimmen — aber es ist typisch für die Debatte —, oder es stimmt nur, wenn die Bio- und Gentechnik unterdurchschnittlich produktiv ist und zudem auch noch ohne alle Kapital- und Rohstoffkosten produzieren würde.
Das kann doch einfach nicht sein. So kann man mit der Sache und mit Zahlen nicht umgehen. Nein, die Zahl der Arbeitsplätze wird sehr viel geringer sein. Auch die Bio- und Gentechnik wird keinen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Massenarbeitslosigkeit bringen.
Um so größer sind indes die Risiken dieser neuen Technologien. Die Bio- und Gentechnik bringt vor allem die Gefahr mit sich, Gespenster zu rufen, die man nachher nicht mehr loswerden kann.
— Was Sie an rechten Gespenstern mit sich herumtragen, das will ich lieber in diesem Moment nicht ansprechen.
Lassen wir aber einmal die grundsätzliche Debatte über die Bio- und Gentechnik und die Manipulationsgefahren in bezug auf Gesundheit und Leben beiseite. Die geplanten Lockerungen des Genehmigungs- und Anmeldeverfahrens für gentechnische Anlagen in den Sicherheitsstufen 1 und 2 sind in jedem Fall abzulehnen, u. a. deshalb, weil die Schäden unter Umständen erst nach langer Zeit erkennbar sind.
Das Öko-Institut — ich komme damit zum Schluß, Herr Präsident —
— das sollten Sie sich sehr genau anhören; die verstehen erheblich mehr davon als Sie — fordert dagegen zu Recht: Nutzung bio- und gentechnischer Verfahren nur in geschlossenen Anlagen, Inaktivierung und Tötung der rekombinanten DNS, Verzicht auf Freisetzungen, keine Vermarktung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Das, nicht jedoch die jetzt geplante Lockerung von Vorschriften, ist ein verantwortungsbewußter Umgang mit den Risiken der Bio- und Gentechnik.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Damit sind wir am Ende der Debatte.
Zur Abstimmung möchten zwei Kollegen eine Erklärung gemäß § 31 abgeben. Zunächst hat der Kollege Siegmar Mosdorf das Wort.
Herr Präsident! Ich möchte eine Erklärung zur Abstimmung abgeben. Ich gebe diese Erklärung auch für die Abgeordneten Dr. Helga Otto, Bodo Seidenthal, Ursula Schmidt und Klaus Lennartz ab.Wir wollen die enormen Chancen der Bio- und Gentechnologie für die Gesundheit der Menschheit nutzen, ohne daß wir die Risiken übersehen. Die Weiterentwicklung der Bio- und Gentechnologie hat für die Zukunft des Standorts Deutschland einen außerordentlich hohen Stellenwert. Deshalb haben
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15585
Siegmar Mosdorfwir uns mit Nachdruck für eine Novellierung des Gesetzes, das ja Sie 1990 durchgesetzt haben, eingesetzt.Die Bundesrepublik Deutschland kann ihren ökonomischen und sozialen Spitzenplatz nicht dadurch erhalten, daß wir in Kostenkonkurrenz mit Thailand treten, sondern nur dadurch, daß wir Spitzentechnologien produzieren. Dazu gehört neben der Informations- und Kommunikationstechnik und der Umwelttechnik auch der Sektor Bio- und Gentechnologie. Deshalb ist eine Novellierung sehr wichtig.Wir werden uns bei Ihrem Novellierungsvorschlag der Stimme enthalten, weil wir in einem Punkt der Meinung sind, daß es eine Veränderung gibt, die nicht gut ist. Sie haben in der Frage der Öffentlichkeitsbeteiligung bei Freisetzungen — das ist § 18 — eine faktische Abschaffung der Öffentlichkeitsbeteiligung durch ein schriftliches Verfahren vorgesehen. Gerade in dem sensiblen Bereich der Freisetzungen glauben wir allerdings, daß es nur mit den Menschen geht, nicht gegen die Menschen. Deshalb werden wir uns enthalten.Ich möchte aber ausdrücklich sagen, daß wir es ungeachtet dieses Punktes begrüßen, daß es zu einer raschen Novellierung des Gentechnikgesetzes kommt. Es ist jetzt an der Zeit, daß die bio- und gentechnische Industrie und Forschung selber Initiativen ergreift, um den Standort Deutschland auf diesem Gebiet wieder zu festigen. Wir brauchen diese Wirtschaft für die Zukunft unbedingt. Ich glaube, wir haben durch unser auf Konsens bedachtes Novellierungsverfahren wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen.Ich hoffe sehr, daß wir im Verfahren mit dem Bundesrat zu schnellen Einigungen kommen, um damit einen wichtigen Schritt nach vorne zu tun.
Nun hat der Kollege Josef Vosen gemäß § 31 zu einer Erklärung zur Abstimmung das Wort.
Herr Präsident! Ich hätte mich dieser Erklärung anschließen können; das habe ich aber bewußt nicht getan, weil ich einen weiteren Punkt habe, weshalb ich mich anders verhalten möchte, und zwar ist das der Produktionsbereich bei der Sicherheitsstufe S 1. Ich bin der Meinung — die auch viele Kollegen im Beratungsverfahren mit vertreten haben —, daß hier keine Gefährdung für Mensch und Umwelt zu erwarten ist — so sagt es die EG-Richtlinie — und daß daher eine Genehmigung auch für Produktionsanlagen nicht erforderlich ist, sondern daß es ausreicht, eine Anmeldung vorzunehmen, nicht eine Anzeige — das ist auch ein Unterschied zum Gesetzentwurf —, und daß wir von daher nicht nur im Bereich der Lehre, sondern auch im Bereich der Produktion Erleichterungen schaffen sollten.
Es ist auch für alle — ich will das ganz klar sagen —, die die Sicherheit hoch einstufen, so denke ich, verantwortbar, den S-1-Bereich so zu handhaben.
Deswegen werde ich sowohl dem Änderungsantrag der SPD als auch dem Gesetzentwurf der Koalition nicht zustimmen. Ich werde mich in beiden Fällen der Stimme enthalten.
Wir sind damit am Ende der Debatte und der Erklärungen.Ich möchte noch auf zwei Punkte aufmerksam machen. Der Kollege Wolf-Michael Catenhusen hat von „Tricksereien" gesprochen. Das ist ein unparlamentarischer Ausdruck. Man kann dafür sicher eine bessere Wendung finden, auch in Anbetracht derjenigen, die uns zuhören oder zusehen.
Das gleiche gilt für den Kollegen Dr. Briefs, der davon gesprochen hat, daß jemand einen Popanz aufbaut. Auch das kann man in diesem Haus vielleicht etwas anders und parlamentarischer darlegen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes auf den Drucksachen 12/5145 und 12/5789. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5810 vor, über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei einer Reihe von Gegenstimmen und Enthaltungen ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist dieser Gesetzentwurf in der Ausschußfassung gegen Stimmen aus der SPD-Fraktion, der Gruppe PDS/ Linke Liste und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Stimmenthaltungen aus der SPD-Fraktion in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dieser Gesetzentwurf ist in dritter Beratung bei Gegenstimmen aus der Fraktion der SPD, bei Stimmenthaltungen aus der Fraktion der SPD und gegen die Stimmen der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen.Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 12/5789 weiterhin, den inhaltsgleichen Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 12/5614 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Debatte von heute morgen sind während der Rede unseres Kollegen Arbeitsministers Dr. Norbert Blüm eine Reihe von Zwischenrufen gefallen. Der Kollege
Metadaten/Kopzeile:
15586 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Vizepräsident Helmuth BeckerOttmar Schreiner hat Herrn Minister Blüm als „größten Heuchler der Republik" bezeichnet. Ich erteilte ihm dafür einen Ordnungsruf. Herr Kollege Schreiner hat in einer zweiten Zwischenbemerkung den Kollegen Blüm „Heuchler und Pharisäer" genannt. Ich erteile ihm dafür einen weiteren Ordnungsruf.Der Kollege Uwe Lambinus hat einen Zwischenruf „Volksbelügner" gemacht und sich dafür ausdrücklich entschuldigt.Frau Kollegin Regina Kolbe hat dem Minister Blüm vorgeworfen: „Sie lügen ja schon wieder! " Sie erhält dafür einen Ordnungsruf.Schließlich geht es um den Kollegen Erich Fritz, der bei einer Rede des Kollegen Schreiner „Oberschreier" dazwischengerufen hat. Auch dafür erhält er einen Ordnungsruf.
Ich bitte bei all dem, was wir hier tun, immer ein bißchen daran zu denken, daß wir zwar in der Sache streiten wollen, aber doch niemanden persönlich beleidigen wollen.
Das sollten wir uns für die weiteren Debatten, die wir hier führen, auch merken.Ich rufe nunmehr die Zusatzpunkte 3 bis 5 der Tagesordnung auf:ZP3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze— Drucksache 12/5774 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung,Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschuß Finanzausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOZP4 Beratung der Unterrichtung durch den BundespräsidentenEmpfehlungen der Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung— Drucksache 12/4425 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Ausschuß für Wahlprüfung,Immunität und Geschäftsordnung RechtsausschußFinanzausschußHaushaltsausschußZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Gerd Poppe, Dr. Wolfgang Ullmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFörderung der Selbstbeschränkung der Parteien durch eine transparente Neuregelung der staatlichen Parteienfinanzierung— Drucksache 12/5777 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung,Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschuß Finanzausschuß HaushaltsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch und bitte, damit wir mit der Debatte beginnen können, die Kolleginnen und Kollegen in der Mitte des Saales, Platz zu nehmen.Wir beginnen mit der Aussprache. Als erstem Redner erteile ich unserem Kollegen Joachim Hörster das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten mit den eben aufgeführten Tagesordnungspunkten heute in erster Lesung im Kern über ein Gesetz über die Neuregelung der Parteienfinanzierung. Anlaß für die Neuregelung der Parteienfinanzierung ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. April 1992, das wichtige Regelungen der derzeit gültigen Parteienfinanzierung, insbesondere die über den Sockelbetrag, über den Chancenausgleich sowie über die Wahlkampfkostenerstattung, als mit der Verfassung für nicht vereinbar erklärt hat. Darüber hinaus wurde dem Gesetzgeber aufgegeben, die steuerliche Behandlung von Mitgliedsbeiträgen und Spenden neu zu regeln.Der Bundespräsident hat unverzüglich nach diesem Urteil eine Kommission unabhängiger Sachverständiger gemäß § 18 Parteienfinanzierungsgesetz einberufen, die sich am 3. September 1992 konstituiert hat. Der Bericht dieser Kommission wurde am 19. Februar 1993 veröffentlicht. Die Empfehlungen der Kommission — es gibt ein Mehrheits- und ein Minderheitsvotum — sollen hilfreich sein, können dem Gesetzgeber die Aufgabe jedoch nicht abnehmen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts selbst zu bewerten, eigene Schlüsse daraus zu ziehen und sich auch im Gesetzgebungsverfahren des Rates weiterer Sachverständiger zu versichern.Daher legen wir größten Wert darauf, daß auch dieses Gesetzgebungsverfahren von einer öffentlichen Anhörung des Parlamentes begleitet wird und daß damit auch in der Öffentlichkeit transparent gemacht wird, was die Neuregelung der Parteienfinanzierung in Mark und Pfennig bedeutet und welche zentrale Rolle ihr in der Verfassungwirklichkeit zukommt. Dies ist auch deswegen geboten, weil selbst der Wohlmeinende, der sich nicht an der allgemein üblich gewordenen oberflächlichen, teilweise auch dümmlichen Parteienkritik beteiligt, Schwierigkeiten hat, die wiederholten Änderungen des Parteienfinanzierungsgesetzes nachzuvollziehen.Daß eine direkte staatliche Finanzierung der Parteien im Hinblick auf deren besonderen Verfassungsauftrag nach Art. 21 des Grundgesetzes eine öffentli-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15587
Joachim Hörsterche Aufgabe ist, hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 24. Juni 1958 festgestellt. Es ging damals allerdings davon aus, daß eine Steuerbegünstigung von Spenden deswegen unzulässig sei, weil die Folgen wegen der unterschiedlichen Steuersätze für die Spender ungleich wären.Acht Jahre später — die wenigsten in diesem Hause werden sich daran erinnern — erklärte dasselbe Gericht die Bereitstellung von Mitteln aus dem Haushalt für die gesamte politische Tätigkeit für nichtig; nur die Wahlkampfkostenerstattung sollte zulässig sein. Resultat dieses Urteils war die Verabschiedung des Parteienfinanzierungsgesetzes von 1967, in dem insbesondere die Wahlkampfkostenerstattung, die das Bundesverfassungsgericht zuvor für zulässig gehalten hatte, geregelt wurde. Die Voraussetzungen für den Erstattungsanspruch waren später nochmals Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Streites. Das Quorum für die Wahlkampfkostenerstattung wurde von 2,5 auf 0,5 % abgesenkt.Anfang der 80er Jahre ergab sich erneut die Notwendigkeit einer umfassenden Diskussion und Neuregelung der Parteienfinanzierung, weil wegen der sattsam bekannten sogenannten Parteispendenaffäre eine weitere Verunsicherung über das eingetreten war, was überhaupt im Bereich der Finanzierung der Parteien rechtlich zulässig war. Es wurde eine Sachverständigenkommission eingesetzt, die einen umfassenden Bericht vorlegte, und zwar am 18. April 1983. Dieser Bericht hat auch in seinen grundsätzlichen Ausführungen heute noch Gültigkeit.Damals war die breite Mehrheit im Bundestag der Ansicht, daß die Vorschläge der Kommission eine ausgewogene Regelung darstellen, die für lange Zeit Bestand haben könnte. Der Bundestag änderte in Anlehnung an die Vorschläge der Kommission das Parteiengesetz und Art. 21 des Grundgesetzes. Die Wahlkampfkostenerstattung als unmittelbare staatliche Leistung wurde auf 5 DM je Wahlberechtigten festgesetzt und zusätzlich der Chancenausgleich eingeführt. Zwei Jahre später hielt das Bundesverfassungsgericht die neue Regelung für nicht ausreichend und forderte zusätzlich einen Sockelbetrag zur Wahlkampfkostenerstattung für die Parteien, die über 2 % der Zweitstimmen erreichen. Ferner forderte es eine Korrektur des Chancenausgleiches.Der Bundestag nahm die erforderlichen Änderungen vor; jedoch war auch dieser Neuregelung kein langfristiger Erfolg beschieden. Auf Klage der GRÜNEN entschied das Bundesverfassungsgericht im April des letzten Jahres, daß dieser Sockelbetrag, der Chancenausgleich und die Wahlkampfkostenerstattung durch Bund und Länder, alle eingeführt durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, verfassungswidrig seien.Zugleich wurde eine absolute Obergrenze für Leistungen an Parteien in Höhe von insgesamt 230 Millionen DM jährlich ermittelt — dies nach den Maßstäben des Jahres 1992, was nach unserem Willen auch 1994 gelten soll.Auf die Änderungen der mittelbaren Parteienfinanzierung im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte — es wäre interessant, auch sie hier vorzutragen — will ich im Detail nicht eingehen. Deutlich machen will ich aber, daß die ständigen Änderungen des Parteienfinanzierungsrechtes durch das Bundesverfassungsgericht unsere Aufgabe, die wir als Gesetzgeber haben, außerordentlich erschweren. Wir können nicht umhin, festzustellen, daß es angesichts der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zumindest sehr schwierig geworden ist, Regelungen vorzuschlagen, bei denen man sicher sein kann, daß sie der jeweiligen Bewertung des verfassungsmäßig Gebotenen durch das Verfassungsgericht Rechnung tragen. Dennoch habe ich die Hoffnung, daß mit Hilfe dieses sorgfältig vorbereiteten Gesetzentwurfes und im Zuge seiner Bewertung durch die Anhörung im Innenausschuß eine Regelung gefunden werden kann, die länger Bestand hat als ihre Vorgängerregelungen.
Dies ist auch dringend geboten, da es im Interesse unseres politischen Gemeinwesens liegt, daß die politischen Parteien nicht dauernd durch diese ständigen Veränderungen dem Verdacht ausgesetzt werden, sie würden sich auf unseriöse oder gar verfassungswidrige Weise finanzieren. Genau das Gegenteil ist der Fall, trotz der Fehler und Mängel, die immer wieder vorkommen, wenn Menschen handeln, wie man an der ständigen Änderung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nachvollziehen kann.In einer Demokratie — die wir alle doch wollen —, braucht man Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich engagieren:
im Gemeinderat, im Kreistag und im Landtag, im Bundestag — schlicht auf allen Ebenen. Wer sollte sozusagen dieses Personal gewinnen und es den Wählerinnen und Wählern präsentieren, wenn es die politischen Parteien nicht gäbe?
Sollen dann die Berufsverbände, die Wirtschaftsverbände, die Gewerkschaften oder gar dieser nicht definierbare Bund der Steuerzahler die Vorschläge unterbreiten?
Gerade wer im Interesse einer funktionierenden Demokratie verhindern will, daß sich mächtige Berufs- und Wirtschaftsverbände den Staat unter den Nagel reißen, kommt zu dem Ergebnis, daß politische Parteien nicht nur um der Diskussion und der Suche nach dem besten Weg willen oder wegen des nur zwischen Parteien erzielbaren demokratischen Grundkonsenses unverzichtbar sind, sondern vor allem deswegen, weil sie durch ihre politische Arbeit ein breites Personalangebot für die Wählerinnen und Wähler, aber auch für die demokratischen Institutionen organisieren.
Metadaten/Kopzeile:
15588 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Joachim HörsterParteien erarbeiten Ziele und Programme und bieten dadurch politische Alternativen.Gerade die Lehren der Weimarer Demokratie und ihres Untergangs haben den Parlamentarischen Rat 1949 veranlaßt, durch einen besonderen Parteienartikel, den Art. 21 des Grundgesetzes, die Notwendigkeit der Parteien im geschriebenen Verfassungsrecht unzweideutig festzuhalten und sie als Sicherung gegen Gefährdungen der Demokratie mit der besonderen Aufgabe, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, zu betrauen. Diese integrierende Funktion der Parteien ist bislang von niemandem direkt in Frage gestellt worden. Natürlich bedeutet dies auch Einfluß. Nur, dieser Einfluß war und ist von Verfassungs wegen gewollt.In einer Entscheidung vom 5. April 1952 — in der Anfangsphase der Bundesrepublik, als das Desaster der Weimarer Republik und des Dritten Reiches allen noch gegenwärtig war — hat das Bundesverfassungsgericht zur Auslegung des Art. 21 des Grundgesetzes folgendes ausgeführt:Der Zweck dieser Bestimmung ist, die in der Weimarer Verfassung zwischen der politischen Wirklichkeit und dem geschriebenen Verfassungsrecht bestehenden Spannungen zu beheben. Dadurch ist von Bundes wegen der moderne demokratische Parteienstaat legalisiert; die Parteien sind in die Verfassung eingebaut. Ein solcher Einbau enthält die Anerkennung, daß die Parteien nicht nur politisch und soziologisch, sondern auch rechtlich relevante Organisationen sind.
Sie sind zu integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaus und des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens geworden.Dieser Definition des Bundesverfassungsgerichtes ist nichts hinzuzufügen. Sie ist auch hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Parteien trotz der derzeit anhaltenden Kritik an bestimmten Erscheinungsformen nicht zurückzunehmen oder abzuschwächen.Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß bestimmte Erscheinungsformen in der Praxis politischer Parteien der Korrektur oder auch der Reform bedürfen. Dies ist ein immerwährender Vorgang. Niemand kann die Augen davor verschließen, daß gelegentlich auch durch Parteien oder Parteimitglieder mögliche Einflußnahmen den Ruch der Mißbräuchlichkeit haben. Dennoch: Nichts an den Erfahrungen, die die Deutschen in der Bundesrepublik mit ihren Parteien gemacht haben, gibt Anlaß dazu, in der zur Zeit üblichen herabsetzenden, ätzenden Weise über Parteien und Politik herzuziehen und das ganze System in Zweifel zu ziehen oder es doch zumindest verächtlich zu machen. Dieses System hat dazu beigetragen, daß die Bundesrepublik einer der wohlhabendsten, der liberalsten, der sozialsten Staaten in der Welt überhaupt ist.
Parteienaversion in Deutschland ist kein Phänomen des Jahres 1993. Es hat sie schon früher gegeben, und sie läßt im wesentlichen drei Verhaltensweisen erkennen:Zunächst gibt es da die privatisierende Politikabstinenz, die sozusagen vom Erker des Wohnzimmers aus beobachtet, wie sich die Politiker im Gelände tummeln und sich die Hände schmutzig machen. Dies entspricht der früher weit verbreiteten großbürgerlichen Überzeugung, daß Politik ein schmutziges Geschäft sei, an dem sich intelligente und anständige Leute nicht beteiligen.Eine weitere Verhaltensweise ist die Vorstellung, man könne Demokratie von der Basis ohne politische Parteien praktizieren. Das mag in kleineren Gemeinden vielleicht noch möglich sein, aber Landkreise, Länder oder gar einen Industriestaat wie die Bundesrepublik Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern kann man nicht basisdemokratisch regieren.Die dritte Verhaltensweise ist wohl die schlimmste und gefährlichste, nämlich der Glaube, daß das Volk vor allem jemanden brauche, der ihm sagt, wo es langgeht. Danach wäre es eigentlich nur konsequent, auf Parlament und politische Parteien, da störend, überhaupt zu verzichten. In der Weimarer Republik wurde das Parlament von den Rechtsradikalen als Schwatzbude diffamiert. Die alten Geister rühren sich wieder. Die Darstellungen in der Boulevardpresse, die das Parlament und die Parlamentarier fast regelmäßig verächtlich machen und das Bild der demokratischen Institutionen einseitig verzeichnen,
wecken böse Erinnerungen an eine Medienarbeit, die unter dem Begriff Hugenberg historisch belegt ist.
Wenn sich dieses öffentliche Klima noch länger fortsetzt, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn sich Bürger abwenden und die rote und braune Brühe wieder hochkocht.Wir müssen für unsere Demokratie auch weiterhin die Voraussetzung erhalten, daß die Parteien in der Lage sind, unterschiedliche Interessen zu bündeln und auf das Gemeinwohl auszurichten, daß die Parteien in der Lage sind, die Droh- und Störpotentiale, mit denen machtvolle Verbände politische Entscheidungen erzwingen wollen, in Schach und Proportionen zu halten. Die Parteien müssen weiterhin in der Lage bleiben, die mit den weltweiten politischen Veränderungen und der inneren Einheit Deutschlands natürlicherweise verbundenen Spannungen auszuhalten und die damit einhergehenden schweren Konflikte zu überwinden und auch auszusöhnen.Diese Aufgabe können die Parteien nur erfüllen, wenn sie Unabhängigkeit von wichtigen wirtschaftlichen Interessen bewahren können, was wiederum nur über eine klar — auch unter Inanspruchnahme öffentlicher Mittel — geregelte Finanzierung erreicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15589
Joachim Hörsterwerden kann. Deswegen ist dieses Gesetz notwendig, und deswegen dient es dem Ganzen.
Der nächste Redner ist unser Kollege Hans Gottfried Bernrath.
Herr Präsident! Verehrte Damen, meine Herren! Das Stichwort Parteienfinanzierung ist nach wie vor ein delikates Thema. Es war schon immer schwierig, und es ist auch in diesen Jahren nicht leichter geworden. Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als wieder einmal über Parteienfinanzierung zu beraten und auch zu beschließen, denn Parteienfinanzierung muß gesetzlich festgelegt werden, nicht zuletzt deshalb, weil die Öffentlichkeit eine unverbindlichere Form dieser Regelungen nicht akzeptieren würde.Parteienfinanzierung ist zulässig, ja, sie ist in Maßen sogar geboten. Das ergibt sich nicht zuletzt aus einer langen Kette von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Gerade seine jüngste Entscheidung betont, daß da, wo die Parteien staatsnotwendige, in der Verfassung legitimierte Aufgaben wahrnehmen, diese auch finanziell honoriert werden, allerdings begrenzt, und daß nicht nur die Wahlkampfkosten erstattet werden sollen.Die Notwendigkeit einer Begrenzung ergibt sich daraus, daß Parteien, die sich ausschließlich oder überwiegend aus Steuern finanzieren würden, bald ihre Legitimität verlieren würden. Parteien dürfen nicht lediglich eine Etage im Staatsganzen sein. Nur so kann sichergestellt werden, daß neue politische Impulse sie auch erreichen, daß sie gehört werden und damit eine größer werdende Distanz zwischen Parteien und Bürgerschaft vermieden wird.Komplementäre Finanzierung ist also geboten. Dazu: Ja. Eine überwiegend staatliche Finanzierung der Parteien dagegen ist schädlich. Darum dazu: Nein.Mit seiner Entscheidung vom 9. April 1992 hat das Bundesverfassungsgericht einen spürbaren und, so möchte ich sagen, grundlegenden Wandel vollzogen. Es hat — das wurde schon erwähnt — nunmehr eine staatliche Teilfinanzierung der den Parteien allgemein nach dem Grundgesetz obliegenden Aufgaben für zulässig, ja, für wünschenswert erklärt, dabei allerdings auch Grenzen und Verfahrensweisen aufgezeigt.Der uns vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich streng an diesen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und an anderen Empfehlungen, insbesondere Empfehlungen der vom Bundespräsidenten eingesetzten Kommission unabhängiger Sachverständiger. Er bewegt sich damit — so hat es eine sonst kritische Zeitung geschrieben — in die richtige Richtung. Das sollten wir auch aufnehmen. Denn bei aller Zustimmung zu Ihren Ausführungen, Herr Hörster, meine ich doch, wir sollten nicht zu defensiv diskutieren, sondern maßvoll selbstbewußt — nach der alten Devise, daß, wer sich verteidigt, sich auch anklagt und damit in eine schwierigere Lage kommen kann, als es nötig ist.Für die Parteien bringt der Gesetzentwurf allerdings noch nicht absehbare Veränderungen im bisherigen Finanzgefüge.
Das Spendenverhalten von Bürgerinnen und Bürgern und Parteimitgliedern als Folge der drastischen Reduzierung der Steuerabzugsfähigkeit auf weniger auf ein Zehntel ist nicht einschätzbar. Das wird zu Veränderungen im Finanzgefüge der Parteien führen. Ebensowenig kann abgeschätzt werden, wie sich die Tatsache auswirkt, daß Spenden von juristischen Personen steuerlich überhaupt nicht mehr begünstigt werden sollen.Die vom Bundesverfassungsgericht definierte absolute Obergrenze staatlicher Zuschüsse errechnet sich auf rund 230 Millionen DM. Dabei, so meine ich, sollte es bleiben, auch wenn sich die den Parteien gesetzlich zugebilligten staatlichen Mittel vor der Karlsruher Entscheidung im Jahresdurchschnitt auf rund 260 Millionen DM beliefen.Der Gesetzentwurf sieht — das wird in der öffentlichen Diskussion bisher übersehen — im übrigen vor, daß diese Mittel mit Rückwirkung bereits ab 1991 auf 230 Millionen DM pro Jahr begrenzt werden. Das ist angesichts der Finanznot in den öffentlichen Kassen ein verständlicher, wenn auch für die Parteien — nicht zuletzt aus praktischen Gründen — schwieriger Einschnitt.
— Ja, es ist ein Verzicht.Der Gesetzentwurf verzichtet darüber hinaus auf eine vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eingeräumte Kompensationsmöglichkeit. Denn für den vom Gericht verfügten sofortigen Wegfall des sogenannten Sockels zur Wahlkampfkostenerstattung könnte die Pauschale von 5 DM auf 6,50 DM angehoben werden. Wir tun das nicht und bleiben damit um 36 Millionen DM unter der vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Grenze.Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, daß wir die gebotene Sorgfalt und Öffentlichkeit der Beratungen gemeinsam sicherstellen werden. Darum hat der Innenausschuß bereits zu einer ganztägigen öffentlichen Anhörung am 18. Oktober eingeladen, wo wir auf die in der Öffentlichkeit noch nicht richtig bewerteten, auch für uns selbst teilweise noch unklaren Punkte eingehen werden und uns mit den Sachverständigen dazu in aller Offenheit austauschen werden.Ich persönlich bin zuversichtlich, daß der vorliegende Entwurf verfassungsfest ist. Ich halte es auch für gut, daß wir damit einen neuen Weg beschreiten, der dazu beitragen kann, daß sich das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder festigt. Dies wird — das füge ich ausdrücklich hinzu — um so eher gelingen, wenn wir, also die Parteien, diese Finanzierung nicht routinemäßig nutzen. Mehr Effizienz in den Parteiapparaten kann nicht schaden. Von Zeit zu Zeit muß jeder Betrieb rationalisiert, d. h. vernünftiger geordnet werden.
Metadaten/Kopzeile:
15590 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Hans Gottfried Bernrath
In den Wahlkämpfen wird der Bürger es als angenehm empfinden, wenn wir auf den inzwischen oft peinlich gewordenen Schnickschnack verzichten.
Schließlich benötigen wir diesen Rahmen auch für das große, breite ehrenamtliche Engagement unzähliger Mitglieder in den Parteien. Gerade die Bereitschaft der ehrenamtlichen mitarbeitenden Frauen, Männer und Jugendlichen in unseren Parteien ist die wichtigste Grundlage parteipolitischer Willensbildung.Danke schön.
Nun hat der Kollege Wolfgang Lüder das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Bundestagsdebatte zieht die Konsequenzen aus dem letzten Parteienfinanzierungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. April 1992. Herr Hörster und Herr Bernrath haben dazu schon einiges gesagt. Ich möchte auf einen weiteren Aspekt hinweisen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil neue Positionen zur Parteienfinanzierung eingenommen, zum Teil Positionen, die gegen die eigenen, früheren Entscheidungen des Gerichts stehen. Das wird häufig übersehen und häufig vergessen. Aber wer allein die Leitsätze sieht, weiß dies zu beurteilen. Ich erwähne das deswegen, weil es natürlich gilt, das Urteil zu respektieren. Aber es gilt zugleich festzuhalten, daß wir uns bei dem letzten, vom Bundesverfassungsgericht aufgehobenen Gesetz zur Parteienfinanzierung von 1988 noch nicht auf die spätere, auf die jetzige Rechtsprechung berufen konnten. Wir hatten uns vielmehr an der damals geltenden Rechtsprechung zu orientieren. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß wir dieser Verantwortung damals, 1988, nach bestem Wissen und Bemühen entsprochen haben. Nicht Leichtfertigkeit bestimmte vor fünf Jahren unser gesetzgeberisches Handeln, wie heute der eine oder andere leichthin meint, sondern verantwortungsbewußtes Bemühen um die Sache.
Wir müssen sehen, daß Karlsruhe uns jetzt neue Orientierungsdaten gesetzt hat. Das ist nicht zu kritisieren. Auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung kann und darf sich fortentwickeln. Es ist dann unsere Aufgabe als Gesetzgeber, dem nachzukommen. Dieser Aufgabe stellen wir uns heute.
Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird — das ergibt sich auch aus den Darlegungen des Gutachtens der vom Herrn Bundespräsidenten dankenswerterweise berufenen Kommission unabhängiger Sachverständiger — der Gürtel der staatlichen Zuwendungen enger geschnallt werden. Ob wir damit unserer Demokratie einen guten Dienst erweisen, versehe ich in allem Freimut mit einem vorsichtigen Fragezeichen. Ich glaube, es ist notwendig, daß wir uns hier nicht nur über die Bedeutung der Parteien für
unseren Staat, für unsere demokratische Willensbildung austauschen, sondern daß wir auch — ich nehme das Wort von Herrn Bernrath auf — selbstbewußt darlegen, was diese Parteien in diesem Staat, auch im Wege der Vereinigung, für Deutschland getan haben und ständig tun.
Kollege Lüder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Aber das war doch nicht falsch, was ich gesagt habe.
Bitte schön.
Vielleicht will er Sie nur bestätigen.
Kollege Lüder, sind Sie, da Sie von einer neuen Position des Bundesverfassungsgerichtes sprechen, bereit, mit zu berücksichtigen, daß z. B. der Südschleswigsche Wählerverband in Schleswig-Holstein — ich will ihn einmal gezielt als Partei einer nationalen Minderheit ansprechen — keine Möglichkeit mehr erhält, Mittel der dänischen Regierung zu bekommen? Denn das ist zukünftig, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, nicht mehr zulässig. Das ist im Gesetzentwurf — ich finde: leider — nicht berücksichtigt worden. Sind Sie bereit, das bei der Ausschußberatung mit zu berücksichtigen?
Herr Koppelin, ich bin gerne bereit — wobei ich bitte, Verständnis dafür zu haben, daß ich jetzt hier zur Sache nicht Stellung nehme —, diese Frage mit in die Anhörung aufzunehmen und zu prüfen, was man tun kann. Ich werde Ihnen dann, falls Sie an der Anhörung nicht selbst teilnehmen können, meine Meinung sagen, wie sie sich aus den Beratungen ergeben hat.Meine Damen und Herren, wir wollen und wir werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ohne Wenn und Aber erfüllen. Das Gutachten der unabhängigen Sachverständigen hat uns im Vorfeld dieser Gesetzgebung viele nachdenkenswerte Überlegungen und auch Anregungen gegeben. Das Gutachten der Sachverständigen kann aber nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten. Es hat eine wichtige beratende Funktion, aber nicht eine entscheidende und unsere Entscheidung ersetzende. Auch in einer von Sachverstand geprägten Demokratie muß die politische Entscheidung von denen getroffen werden, die die politische Verantwortung dafür zu übernehmen haben.Neben diesem Gutachten werden wir uns in einer gründlichen öffentlichen Anhörung in wenigen Wochen im Innenausschuß des Bundestages der kritischen Reflexion des heutigen Gesetzentwurfes stellen. Da ich die Liste der Sachverständigen einigermaßen überschaue, kann ich schon heute sagen: Dort wird ein breites Spektrum von Meinungen insbesondere zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der gefundenen Lösung zu erwarten sein. Dies ergibt sich schon
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15591
Wolfgang Lüderallein aus den Namen, auf die wir uns für die Anhörung verständigt haben.Ich möchte noch eines ergänzen und sage dies auch in Richtung von Herrn Koppelin: Ich bin gern bereit anzuregen, daß wir die Meinung der Sachverständigen, die nicht zur Anhörung geladen worden sind, sich aber rechtzeitig schriftlich bei uns melden, mit einbeziehen. Bei uns im Innenausschuß ist es üblich, daß wir auch die Meinung der Sachverständigen berücksichtigen, die sich schriftlich melden. Daher ist die Anzahl der Personen, die als Begrenzung festgelegt werden mußte, keine absolute Grenze. Ich lade gern diejenigen ein, die meinen, hierzu etwas beitragen zu sollen, uns dieses auch zu sagen, aber bitte bis zum 18. Oktober, damit wir unsere Meinung rechtzeitig bilden können.Meine Damen und Herren, wir brauchen die kritische Reflexion um der eigenen Glaubwürdigkeit willen. Wir brauchen sie, um verfassungsgerichtsfest entscheiden zu können, soweit es eben geht. Auch ich bin der Überzeugung, daß das, was wir gemacht haben, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts so interpretiert, wie es gemeint ist, also den Rahmen, den das Bundesverfassungsgericht gibt, voll respektiert.Wir sagen ja zur Demokratie. Wir sagen ja zum Parteienstaat. Wir wollen eine verfassungskonforme Parteienfinanzierung. Wir wollen damit zeigen, daß wir bereit sind für Parteienverantwortung mit Augenmaß.Dabei darf und soll nicht übersehen werden, welche großen ehrenamtlichen Leistungen die zahlreichen Mitglieder und Funktionsträger in allen Parteien auf allen Ebenen für den Staat und damit für uns alle leisten. Das freiwillige Engagement, der ehrenamtliche Einsatz, die unbezahlte Wahlkampfarbeit vor Ort gerade von den Mitgliedern der Parteien, die weder die Absicht noch die Möglichkeit haben, ein eigenes Mandat in der Gemeinde, im Land oder im Bund zu erreichen, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die staatlichen Finanzierungsbeiträge an die Parteien sind eben nur ein Teil der Aufwendungen, die in unserem Land für die Parteien aufgebracht werden. Der weitaus größte Teil dessen, was den Parteien hilft, kommt ehrenamtlich von der Basis. Gerade dies gilt es in einer Parteienfinanzierungsdebatte zu unterstreichen.Meine Damen und Herren, diese Wahrheit gehört dazu, wenn wir uns dem Thema staatlicher Parteienfinanzierung stellen. Gerade wir Parlamentarier sollten unseren Parteifreunden im Land danken, die ohne Mandat Zeit und Kraft zur politischen Arbeit für das Gemeinwesen Staat aufwenden.
Ich bin zuversichtlich, daß wir heute ein Gesetzeswerk auf den Weg bringen, das nach der Beratung in den Ausschüssen und der Auswertung der Anhörung der Sachverständigen eine Regelung der Parteienfinanzierung schaffen wird, die Augenmaß und verfassungsrechtliche Bestandskraft gleichermaßen beweist.
Nun hat die Frau Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes, in dem der politische Auftrag der Parteien als Beitrag zur politischen Willensbildung des Volkes beschrieben ist, bildet die Grundlage der heutigen Diskussion. Der weit verbreitete Eindruck, die Parteien würden jedoch den Staat als Selbstbedienungskasse zum puren Eigennutz nutzen, wirkte und wirkt kontraproduktiv gegenüber diesem gegebenen Verfassungsauftrag.Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. April 1992 und die durch die auf der Grundlage dieses Urteils vom Bundespräsidenten eingesetzte Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung ausgearbeiteten Vorschläge zur Neuordnung der staatlichen Parteienzuwendungen haben hier tatsächlich Eckpunkte gesetzt, die unserer Meinung nach in die richtige Richtung weisen.Der von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gemeinsam vorgelegte Gesetzentwurf wirft in diesem Zusammenhang jedoch die grundlegende Frage auf, warum Sie bewußt hinter den Vorschlägen der unabhängigen Parteienkommission zurückbleiben.
Geht es vielleicht doch nur weiter mit der Selbstbedienungsmentalität, nur anders strukturiert? Das ist eine Frage, die sicher in den Beratungen weiter diskutiert wird.Lassen Sie mich hier auf einige Punkte eingehen. Wir begrüßen nachdrücklich die Festsetzung einer absoluten Obergrenze von 230 Millionen DM staatlicher Zuwendungen jährlich, meinen aber, eine eventuelle Anhebung der Ausgleichszahlung sollte frühestens nach den Wahlen 1998 folgen. Den Grundsatz, daß die jährlich selbst erwirtschafteten Einnahmen die relative Obergrenze für die staatliche Teilfinanzierung darstellen, halten wir ebenfalls für richtig.Allerdings sollten sich die für diese Berechnung zu zählenden Einnahmen auf die Mitgliedsbeiträge und Spenden beschränken. Ansonsten werden vermögende Parteien, also die, welche hohe Einnahmen aus Vermögen erzielen, eindeutig bevorzugt.
— Wenn Sie eine Frage haben, dann können Sie die gern stellen. Ansonsten geht es um meine Redezeit. Dabei wissen Sie genau, daß das Vermögen der PDS bei der Treuhand in Verwaltung liegt und die PDS derzeit wohl die einzige Partei ist, die sich nur aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert. Hier muß man einmal die Realitäten beachten.
Ich denke, genau bei diesem Punkt sind wir auch beim Kernpunkt der Diskussion jeglicher staatlicher Zuwendungen für Parteien, dem Gleichheitssatz. Der Bericht der unabhängigen Parteienkommission hebt hervor, daß der Gleichheitssatz bei der staatlichen
Metadaten/Kopzeile:
15592 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Dr. Barbara HöllParteienfinanzierung nicht als bloßes Willkürverbot, sondern, wie es auch das Bundesverfassungsgericht betont, im Sinne einer strikten Gleichheit zu verstehen ist.Ich möchte hier nochmals auf den Bericht zurückgreifen und zitiere: „Zugleich besteht die Gefahr, daß die einzelnen Bürger unterschiedlich behandelt, ihr Recht auf demokratisch-politische Gleichheit beeinträchtigt und Reichtum auch politisch prämiert wird. "Bei der ersten Säule der Parteienfinanzierung, den staatlichen Zuschüssen zur Wahlkampfkostenerstattung, wurde dies durch die Beschränkung auf die tatsächlich abgegebenen Stimmen verbessert. Wir lehnen jedoch die vorgeschlagene finanzielle Regelung von 1,30 DM für die ersten fünf Millionen Stimmen — vielleicht als Geschenk an CSU und F.D.P. gedacht — ab und würden hier den Vorstellungen der Sachverständigenkommission folgen.
Was allerdings dann schwarz auf weiß im Gesetzesvorschlag fixiert und leider auch in dem Vorschlag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN enthalten ist, nämlich die Bezuschussung von Mitgliedsbeiträgen und Spenden, finden wir schlicht skandalös. Ich meine, das schlägt dem Gleichheitssatz ins Gesicht.Im Gleichheitssatz wird ausdrücklich von den Bürgern gesprochen. Indem Sie aber pro Mitgliedsmark und pro Spendenmark die staatliche Bezuschussung regeln wollen, wird diesem Gleichheitsgrundsatz entgegengewirkt. Es wird hier nur der Gleichheit des Geldes, das natürlich dann bei den verschiedenen Personen auch sehr unterschiedlich hoch angehäuft ist, Rechnung getragen.Etwas drastisch ausgedrückt hieße das: Falls die CDU von Daimler-Benz eine Spende von 1 Million DM bekommt, erhält sie zusätzlich noch eine staatliche Bezuschussung von 500 000 DM.
Erhält die PDS oder das BÜNDNIS 90 einen Zuschuß von 25 DM einer Arbeitsloseninitiative, der dann sicher auch wirklich abgespart ist, dann kommt ein Zuschuß von 12,50 DM heraus. Das ist wirklich schlicht skandalös.
Wir halten auch die Gleichbehandlung von Spenden und Mitgliedsbeiträgen für politisch nicht richtig und weichen in diesem Punkt bewußt von dem Vorschlag der unabhängigen Parteienkommission ab.
— Wovon Sie reden, das weiß ich nicht. Ich rede hier von dem Gesetzesvorschlag, der vorliegt.
Ich möchte abschließend noch sagen, daß wir die vorgeschlagene Herabsetzung der Publizitätsgrenze bei Spenden auf 10 000 DM in dem Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausdrücklich unterstützen. Wir kritisieren jedoch die Übergangsregelung, die, wenn man sie genau auseinanderklamüsert, weil sehr klug verpackt, ausschließlich gegen die PDS gerichtet ist. Dies wird deutlich, wenn man die Regelung insbesondere bezüglich der letzten Europawahl und der Wahlen verfolgt, die 1994 anstehen.Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner spricht der Kollege Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Natürlich sind Parteien wichtig, egal wie wichtig sich die einzelne Partei nimmt. Natürlich muß die Arbeit der Parteien auch finanziert werden. Darüber gab es nie einen Dissens zwischen uns. Die Frage ist nur: Auf welcher Basis steht diese Finanzierung, findet sie transparent statt, entspricht sie den Verhältnissen in diesem Land, und berücksichtigt sie, daß auch andere Bürger außerhalb von Parteien politisch engagiert sind?Eigentlich haben die Parteien einen Ordnungsruf bekommen. Doch ähnlich, wie das Verhalten in diesem Haus bei solchen Ordnungsrufen Achselzucken ist, habe ich den Einruck, daß sich die Altparteien hier gegenseitig auf die Schulter klopfen, wie passabel und bravourös sie diese Rüge verarbeitet haben.Von Sündern erwartet man eigentlich Reue oder zumindest Einsicht und guten Willen, das verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen. Den Parteien ist durch mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts und zuletzt durch das Organstreitverfahren, das die GRÜNEN initiiert haben, bescheinigt worden, daß Art und Umfang der bisherigen Parteienfinanzierung verfassungswidrig, also Unrecht war.Ich weiß nicht, Herr Hörster, was Ihre Aussage bedeuten soll, daß Sie die Stimmung, die momentan in diesem Land vorhanden ist, als „dümmliche Parteienkritik" abklassifizieren.
Das hat doch überhaupt kein Niveau. Denn die Parteienverdrossenheit ist doch kein künstliches Phänomen, ist doch nicht herbeigeredet. Ich habe keinen Krümel Selbstkritik in Ihren Ausführungen gefunden.
Die Parteienfinanzierung ist doch nur ein Aspekt eines endlosen Skandals. Ich glaube, das Problem, vor dem wir stehen, ist wesentlich schwieriger. Das ist die Ausbreitung der Parteien in dieser Gesellschaft, die Beherrschung dieser Gesellschaft von den Parteien. Da gibt es Stichworte wie Ämterpatronage, Parteibuchjournalismus und ähnliche Dinge mehr. Die Bür-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15593
Werner Schulz
ger reagieren doch sensibel auf das, was die Parteien in diesem Staat im Moment kaputtmachen. Ich glaube, wir sind eher gefordert, uns darüber den Kopf zu zerbrechen.Aber ich habe den Eindruck, Sie haben diese Chance hier nicht oder wenig genutzt.
Eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith, die Sie offensichtlich gestatten.
Herr Schulz, ich hätte Sie nur gern gefragt, ob Sie mit dem, was Sie soeben von sich gegeben haben, das hessische Umweltministerium meinen.
Meinen Sie wirklich, daß ich darauf antworten soll?
Das ist eine billige polemische Zwischenfrage.
Ich weiß nicht, ob sich das hessische Umweltministerium im ZDF oder in der ARD oder in SAT 1 ausgedehnt hat oder ob das hessische Umweltministerium mit in der „Bonner Runde" sitzt, wenn das Hamburger Wahlergebnis diskutiert wird, Herr Rossmanith, so wie Ihr Generalsekretär Huber, der dann in so einer Runde sitzt und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bescheinigt, daß es nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen würde.
Diese Art von Parteienausdehnung und diese doch kesse Inanspruchnahme des Staates meine ich.
Ich meine, daß in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eine Chance lag. Wenn Sie von vornherein wirklich den Anschein hätten vermeiden wollen, daß die Parteien ihre verkrampfte Hand in der Staatskasse haben, dann hätte man sich von vornherein nach den Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission gerichtet und sie voll und ganz übernommen. Das ist in dem Maße nicht geschehen.
Es sind zwar einschneidende Veränderungen vorgenommen worden, im Gegensatz dazu haben wir aber diese Empfehlung im großen und ganzen akzeptiert. Wir meinen — auch das wäre unser Vorschlag, und wir könnten das ja wirklich überprüfen und auf den Punkt bringen —: Es wäre sinnvoll, daß, bevor eine weitere Diskussion über ihren Gesetzentwurf abläuft und eine Anhörung von Sachverständigen stattfindet, die Weizsäcker-Kommission wieder zusammentritt und das beurteilt, was hier vorgelegt wird.
— Gut.
Wir sind der Meinung, daß im Gegenteil viele Momente des alten Gebarens wiederzufinden sind. So ist die absolute Obergrenze von 230 Millionen DM nur scheinbar eingefroren. Die Anhebung dieser Obergrenze ist durch den Rückgriff bei der Kostenangleichung auf das Jahr 1991 regelrecht vorprogrammiert. Auch der Chancenausgleich, der eigentlich als verfassungswidrig eingeschätzt worden ist, ist 1993 noch einmal vorgesehen.
Es ist der als verfassungswidrig eingeschätzte Sockelbetrag wiederzufinden, in Gestalt der von Ihnen vorgeschlagenen degressiv gestalteten Einnahmen der Parteien bei Wahlen. Die Institutionalisierung der ständigen Kommission kommt überhaupt nicht vor. Sie haben sich offensichtlich für die künftigen Jahre eine kompetenzlose, nickende Altherrenriege vorgestellt, womöglich dann von einem Bundespräsidenten Heitmann geleitet.
— Was haben Sie denn gegen Herrn Heitmann? Ich habe doch nur gesagt „womöglich geleitet".
Die von Ihnen vorgesehenen Steuerfreibeträge entsprechen nicht dem Durchschnittseinkommen. Wir meinen, daß das Signal des Verfassungsgerichtsurteils das Einfrieren der Obergrenze bis Ende 1997 bedeutet hätte.
Wir haben Ihnen zu unseren Vorschlägen, die ich im Detail jetzt hier gar nicht alle mehr nennen kann, einen eigenen Antrag vorgelegt. Wir sind der Meinung, daß dieser Antrag
den Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission bei weitem näher kommt als der vorgelegte Gesetzentwurf. Wir sollten die Möglichkeit nutzen, in den Ausschüssen und auch nach der Anhörung das eine oder andere Detail noch in Ordnung zu bringen. Ich glaube, dieser Gesetzentwurf bedarf in jedem Falle der Nachbesserung.
Als nächster spricht nun der Kollege Wolfgang Zeitlmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben dieses Gesetz zur Finanzierung der Parteien auf Grund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts in erster Lesung zu behandeln, eines Urteils, das — das ist heute schon ausgeführt worden — nach mehrmaligen Kehrtwendungen der Rechtsprechung zu der Parteienfinanzierung ergangen ist. Vorab möchte ich vielleicht eine Definition dessen versuchen, was Parteien sind, nach unserem Gesetz und nach unserer Verfassung.Es ist schon erwähnt worden, Art. 21 Abs. 1 Grundgesetz beschreibt nur eine Aufgabenzuteilung, nämlich daß Parteien „an der politischen Willensbildung mitwirken". Im Gesetz über die politischen Parteien, das in diesem Hause 1984 verabschiedet wurde, ist eine nähere Definition der Aufgaben der Parteien erfolgt. Ich meine, wenn man sich den Umfang der hier einvernehmlich geregelten Aufgaben und die Stellung der Parteien einmal bewußt macht, dann
Metadaten/Kopzeile:
15594 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Wolfgang Zeitlmannwird man finden, daß Ihre Kritik, Herr Kollege, wohl doch sehr fraglich wird. In diesem Gesetz haben wir folgendes formuliert:Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens ... mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluß nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluß nehmen .. .Es folgen noch zwei weitere Formulierungen. Ich meine, das ist ein breites Spektrum. Wenn man dann bedenkt, daß die politischen Parteien in Deutschland knapp 2 Millionen Mitglieder haben und die große Mehrheit davon ehrenamtlich tätig ist, dann wird man finden, daß der Umfang der staatlichen Förderungen für die Parteien, der hier diskutiert wird, weiß Gott angemessen ist.Meine Damen und Herren, das vorliegende Gesetz geht gemäß dem Urteil von der Wahlkampfkostenerstattung ab und stellt bei der Zuschußregelung auf die Wählerstimme ab. Zusätzlich sollen die Parteien Geld für jede Spende und für jede Beitragsmark erhalten.Jetzt fühle ich mich natürlich veranlaßt, auf folgendes hinzuweisen: Das, was die Kollegin von der PDS hier bezüglich der Spende von Daimler-Benz in Höhe von 1 Million DM erklärt hat, ist natürlich blanker Unsinn. Das Gesetz deckelt die staatliche Förderung bei Spenden von Körperschaften ausdrücklich bei einer Obergrenze von 6 000 DM. Mehr als das, was der Durchschnittsbürger steuerabzugsfähig spenden kann, kann wirksam auch von den Körperschaften nicht gespendet werden.Wir orientieren uns mit diesem Gesetz am Urteil und setzen damit den Maßstab der jeweiligen demokratischen Verwurzelung der Parteien um. Das ist im Urteil ausdrücklich festgehalten. Wir schaffen damit ein Spiegelbild in der Förderung der Aktivitäten der Parteien und führen meiner Meinung nach zu einem sehr transparenten und einfach erklärbaren Modell.Man kann jedem Bürger sagen: Eine Partei, die viele Mitglieder hat, wird entsprechend ihrem Beitragsaufkommen honoriert. Eine Partei, die ein Spendenaufkommen hat, wird honoriert. Ferner ist es angemessen, auf die Wählerstimme abzustellen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die in diesem Gesetz vorgesehene absolute Obergrenze für die staatliche Finanzierung der Parteien ist entsprechend dem Urteil sehr moderat — so glaube ich — ausgefallen. Es ist schon ausgeführt worden: Wenn wir tatsächlich von 260 Millionen DM nachgewiesenen Kosten auf 230 Millionen DM heruntergehen und erst ab 1995 eine Anhebung entsprechend der Inflationsrate oder entsprechend der Steigerung der Ausgaben vornehmen, dann ist das durchaus richtig und vertretbar.Die im Gesetz vorgesehene Degression bei der Bezuschussung der Wählerstimmen halte ich für richtig. Es ist kein Sockelbetrag festgelegt, sondern mit der Degression wird auf die Verwurzelungsvorgabe, die das Gericht gesetzt hat, Rücksicht genommen. Es ist keine Frage, daß es betriebswirtschaftlich logisch ist, daß die ersten fünf Millionen Stimmen — da werden Bundes-, Länder- und Europastimmen zusammengerechnet — die Parteien teurer zu stehen kommen als die Erreichung weiterer Stimmen. Wenn Sie an die teure Werbung in unserer Mediengesellschaft denken, dann wird das deutlich.Ein Punkt stößt mir allerdings auch am Urteil sehr negativ auf. Das ist die Frage der Abzugsfähigkeit der Spenden, nicht die jetzige Regelung im Parteiengesetz. Ich fürchte, wir müssen in den Ausschußberatungen überprüfen, ob wir noch richtig liegen, wenn wir den politischen Parteien diese Abzugsfähigkeit bei den Körperschaften so beschneiden.Sie wissen, vor acht Jahren waren ursprünglich 100 000 DM steuerwirksam bei Körperschaften vom Gericht vorgesehen. Der Gesetzgeber hat dann 60 000 DM in Anspruch genommen. Nun wird die Abzugsfähigkeit bei Körperschaften völlig abgeschafft. Da beginnt für mich die Ungerechtigkeit, daß jeder Pampelesverein im Lande — so er gemeinnützig ist — und jede Bürgerinitiative, die im übrigen politisch ungemein aktiv sein können — ich habe gerade in meinem Umfeld sehr agile Vereine und Initiativen, die politisch gewaltigen Druck erzeugen und eine Hitzigkeit der Debatten zur Folge haben —, nach der jetzigen Rechtslage weiterhin abzugsfähig Förderungen von Körperschaften erhalten können. Hier muß die Chancengleichheit für die politischen Parteien und andere politisch tätige Gruppierungen noch geprüft werden.
Die Höhe der Förderung mit abzugsfähigen Spenden von Einzelpersonen orientiert sich am Durchschnittseinkommen. Es ist keine Frage, das Durchschnittseinkommen der deutschen Bevölkerung liegt derzeit bei 73 000 DM. Das ist eine statistisch ausgeworfene Zahl, die nachgeprüft werden kann.Daß ein Gesetz, das für die Zukunft gelten soll, von der Basis von etwa 80 000 DM ausgehen kann, ist angemessen. Damit ist der Vorwurf stark entkräftet, die Parteien würden hier in die Staatskasse greifen.Die Parteien werden durch dieses Gesetz erheblich weniger an staatlichen Zuschüssen erhalten als bisher. Das muß man einmal ganz deutlich sagen. Nicht nur durch die 30 Millionen DM, die bei der Obergrenze erwähnt wurden, sondern durch den Wegfall der Spendenabzugsfähigkeit dürfte es bei manchen Parteien zu ganz erheblichen Einbußen kommen. In meiner Partei, der CSU, rechnet man mit einem Minus in der Größenordnung von insgesamt etwa 40 % gegenüber den bisherigen Einnahmen.Meine Damen und Herren, ein Punkt reizt mich noch ein bißchen zur Darstellung, und zwar, wenn hier immer wieder auf die Öffentlichkeit, die Parteienverdrossenheit, die Stimmungslage in der Bevölkerung in bezug auf die Parteien und die angeblich ach so
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15595
Wolfgang Zeitlmannteure Staatsfinanzierung der Parteien verwiesen wird.Ich habe mir heute einmal den Haushaltsüberschlag in dem Beiblatt zum Bundeshaushalt 1994 angeschaut und bin auf ganz interessante Positionen gekommen, wenn wir jetzt von 230 Millionen DM Parteienteilfinanzierung ausgehen. Die Bundestagswahl wird allein in der technischen und verwaltungstechnischen Abwicklung, den Druckkosten und allem, was damit zusammenhängt, den Steuerzahler 79 Millionen DM kosten, die Europawahl 99 Millionen DM. Im Haushalt 1994 haben wir für Kulturstiftungen 254 Millionen ausgeworfen.
— Kulturstiftungen; ich rede jetzt nicht von den politischen Parteien. Das Informationswesen des Bundes kostet den Steuerzahler 238 Millionen DM, und da höre ich immer wieder, daß das so ungenügend gemacht würde, daß man viel besser informieren müßte. Der Statistische Dienst des Bundes ist mit 233 Millionen DM veranschlagt, die Datenverarbeitung mit 200 Millionen DM; für Sport und Erholung werfen wir im Haushalt 404 Millionen DM aus, für den Wetterdienst 392 Millionen DM.
— Das kann man auch so sehen.Ich will zum Abschluß sagen, weil das in der Diskussion auch viel zu diesem angeblichen Minusbild der Parteien beigetragen hat: Der Haushalt des Bundespräsidenten kostet den Steuerzahler ca. 30 Millionen DM — immer ins Verhältnis gesetzt zu 230 Millionen DM, die die gesamten politischen Parteien mit etwa 2 Millionen Mitgliedern in Bund und Ländern im Jahr den Steuerzahler kosten sollen.
Ich hoffe, daß es in Zukunft möglich ist, daß wir die politischen Parteien hier offensiv in der Öffentlichkeit vertreten. Darm können wir am besten dieser Verdrossenheit entgegenwirken.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun zu einer Kurzintervention der Kollege Rüttgers.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Kollegen Schulz veranlaßt mich zu dieser Kurzintervention. Ich muß sagen, er hat mich etwas betroffen gemacht.Es ist wohl wahr, daß die Parteien in der Kritik stehen, daß viele Bürger mit den Parteien unzufrieden sind. Es ist auch wahr, daß die Parteien nicht alles richtig gemacht haben, aber es ist ebenso wahr, daß die Parteien auch nicht alles falsch gemacht haben, wie ja nun die Geschichte der Demokratie 40 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland eindrucksvoll belegt.Gerade dies zeigt, daß man auch, wenn man über Parteien und Parteienfinanzierung redet und nachdenkt, differenzieren sollte. Es ist sicherlich auch richtig, daß man Demokratie ohne Parteien organisieren kann, so wie wir sie kennen. In anderen demokratischen Systemen spielen die Parteien nicht die Rolle, wie sie in unserem Land ausgeprägt ist. Denken Sie an die Vereinigten Staaten, wo die Parteien sicherlich deutlich weniger Bedeutung haben!Aber man muß auch wissen, daß der Preis, der dafür gezahlt wird, darin besteht, daß es möglich ist, über den Einsatz von viel Geld, über den Einsatz von zur Verfügung gestellten Werbeminuten im Fernsehen und im Radio einen politischen Einfluß auszuüben,
der in unserem Land noch — Gott sei Dank, sage ichundenkbar ist.Oder denken Sie an unser Nachbarland Frankreich, wo es zwar Parteien gibt, wo aber eine Ausbildungselite in vieler Hinsicht das politische Geschehen, die politischen Entscheidungen stark prägt, um es vorsichtig zu formulieren.Ich bin persönlich der Auffassung, daß die Parteien nicht unbedingt so bleiben müssen, wie wir sie heute kennen. Ich bin der Auffassung, daß es richtig ist — Kollege Hörster hat das gesagt —, immer wieder darüber nachzudenken, was verbessert werden kann, aber auch darüber, was an Fehlentwicklungen zurückgenommen werden muß.Ich persönlich glaube schon, daß eines der Probleme der Parteien ist, daß sie sich in den letzten 20 Jahren in gutem Willen, übrigens zum Teil auch auf Anforderung der Bevölkerung und der Bürger, zu weit in viele Bereiche vorgewagt haben. Hier also sollten sich die Parteien zurücknehmen.Aber was zu akzeptieren ich nicht bereit bin, ist die selbstgerechte Überheblichkeit, die in dem Beitrag des Kollegen Schulz hier zum Ausdruck kam,
und dies vor allen Dingen auf dem Hintergrund, daß jedem, der sich mit dem Thema befaßt hat, bekannt ist, daß die Vertreter von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in den Gesprächen, die zur Erstellung dieses Gesetzentwurfs geführt haben, diesem Gesetzentwurf weitestgehend zugestimmt haben und erst in der letzten Minute abgesprungen sind,
indem sie zu einigen wenigen Punkten Vorbehalte angemeldet haben. Das ist Unglaubwürdigkeit in höchster Potenz und vielleicht sogar schlimmer als der eine oder andere Fehler, den Parteien gemacht haben. Wir sollten uns das nicht antun.Ich wollte das benennen, weil sich sonst der Eindruck ergibt, als ob hier wieder Leute sitzen, denen es nur darum geht, sich irgendwelche Gelder zu sichern, während die anderen die hehren Bannerträger einer
Metadaten/Kopzeile:
15596 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993
Dr. Jürgen Rüttgersbesonderen öffentlichen Moral sind. In der Regel sind diejenigen, die ihre Moral vor sich hertragen, diejenigen, die dem Gesamtwohl am wenigsten dienen.Vielen Dank.
Nun erhält der Herr Abgeordnete Peter Conradi das Wort.
„O wie gar unbegreiflich sind die Gerichte des Herrn und wie unerforschlich seine Wege", heißt es im Römerbrief. Unbegreiflich und unerforschlich sind auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Parteienfinanzierung.1958 erklärt das Gericht die allgemeine Parteienfinanzierung für zulässig, nicht nur für Wahlen. 1966 kommt die erste Kehrtwendung: Die öffentliche Mitfinanzierung der gesamten Tätigkeit der Parteien wird untersagt. Fortan sollen nur noch die Kosten eines angemessenen Wahlkampfes erstattet werden. 1992 kommt dann die Wende rückwärts: Das Bundesverfassungsgericht hält es — wie früher — für richtig, daß die Parteien allgemein für die ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden Tätigkeiten finanzielle Hilfen des Staates bekommen.Zweites Beispiel: 1986 sagt das Bundesverfassungsgericht, die Chancenausgleichsregelung, die den Vorteil aus der steuerlichen Begünstigung von Spenden und Beiträgen ausgleichen soll, sei eine — Zitat — verfassungsrechtlich gebotene Ergänzung der steuerlichen Regelungen. 1992 Kehrtwendung: Das gleiche Gericht erklärt den Chancenausgleich für unvereinbar mit dem Grundgesetz.Drittes Beispiel: 1958 sagt das Bundesverfassungsgericht: Eine unterschiedliche steuerliche Behandlung von Spenden und Beiträgen verträgt sich nicht mit dem Grundsatz der formalen Gleichheit in der freien Demokratie. Goldene Worte! Auf dieser Grundlage hat dann der Gesetzgeber geregelt, daß ursprünglich 600 DM und später 1 800 DM an Spenden steuerlich absetzbar sein sollten. Aber 1986, nach der Flick-Affäre, vergißt das Gericht seine hohen Prinzipien und legt fest, daß jetzt Parteispenden bis zu 100 000 DM — Ehepaare immer das Doppelte — absetzbar sein sollen, also eine Steigerung um das 55fache. Abenteuerlich!So weit wollte der Bundestag nicht gehen. Wir haben dann die Grenze — übrigens gegen die SPD; wir wollten noch niedriger gehen — auf 60 000 DM festgesetzt.Aber wer beschreibt unser Erstaunen, als dann im Frühjahr 1992 das Bundesverfassungsgericht von seiner Privilegierung der Großspender abrückt und jetzt festlegt, die steuerliche Begünstigung von Beiträgen und Spenden müsse so begrenzt werden, daß sie von der Mehrzahl der Steuerpflichtigen in gleicher Weise genutzt werden kann.Das waren drei Beispiele. Der Gesetzgeber ist den Entscheidungen aus Karlsruhe in der Regel brav gefolgt. Das wollen wir auch diesmal tun. Aber es ist schon schwer für uns, in vorauseilendem Gehorsam zu erkennen, wie die Verfassungsrichter ihr letztes Urteil nächstens wieder ändern werden.
Einzigartig ist die Berichterstattung der deutschen Presse zur letzten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im April 1992. Es hieß nicht: „Sensationelle Kehrtwendung in Karlsruhe" — „Bundesverfassunsgericht korrigiert sich" — „Allgemeine Parteienfinanzierung erlaubt" — „Karlsruhe hebt seine Privilegierung von Großspendern auf". Nichts davon! Ich gebe Ihnen einige Schlagzeilen der deutschen Presse: „Den Parteien wird der Zugriff auf die Staatskasse erschwert" ; „Karlsruher klopft den Parteien auf die Finger" (Frankfurter Neue Presse); „Reinigendes Gewitter, Kahlschlag" (Frankenpost); „Der Selbstbedienungsmentalität der Parteien wird ein Riegel vorgeschoben" (Darmstädter Echo); „Dem schamlosen Griff in die Staatskasse werden enge Grenzen gesetzt" (Weser-Zeitung) und natürlich „Bild": „Karlsruhe kippt die Parteienfinanzierung". Es gibt einige erfreuliche Ausnahmen in diesem Chor.
— Nein, ich zitiere ein Blatt ganz anderer politischer Richtung als den „Vorwärts", Herr Kollege.„Ein Urteil gegen die Parteien? Wohl kaum", schreibt die „FAZ". „Das Gericht hat sich von großen Teilen seiner früheren Rechtsprechung distanziert", schreibt „Die Welt" . „Das Gericht ist unberechenbar geworden", schreibt die „Stuttgarter Zeitung". Der Tenor der Kritik ging aber nicht gegen das Verfassungsgericht, sondern gegen die Parteien.Nun hatte ich gehofft, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts würde uns gegen diese ungerechtfertigte Schelte in Schutz nehmen und öffentlich darlegen, daß nicht wir die Übeltäter seien, sondern daß das Gericht seine Meinung geändert habe; das hat er aber nicht getan. Er hat vielmehr bei der Einweihung dieses Saals hier an dieser Stelle im Zusammenhang mit den Parteispenden von den „schlimmen Unsicherheiten im steuerlichen Bereich" gesprochen. Die tätige Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichts an diesen „schlimmen Unsicherheiten" hat er leider nicht erwähnt.
Die Parteien haben Rat und Kritik nötig, auch wenn gelegentlich der Verdacht des „Populismus von oben" aufkommt. Aber es wäre gut, wenn der eine oder andere hohe Kritiker der Parteien bei seiner Schelte nicht ganz vergessen würde, woher er kommt und wie er in dieses Amt gekommen ist.
Wir werden den Gesetzentwurf sorgfältig beraten. Wir wollen die Verfassungsrechtler, wir wollen die Praktiker hören: zur Obergrenze, zur steuerlichen Abzugsfähigkeit, zur degressiven Bezuschussung. Wir werden das alles immer mit dem Blick nach Süden, nach Karlsruhe, und unter größter Anspannung unserer Phantasie tun: Wie machen wir es dem Bundesverfassungsgericht recht? Was könnte den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Oktober 1993 15597
Peter ConradiBundesverfassungsrichtern das nächste Mal einfallen?Nun ein Wort zur Dimension der staatlichen Parteienfinanzierung. Herr Zeitlmann, auch ich habe mir Beispiele gesucht. Ich fand Ihre sehr erhellend. Ich will eines ergänzen: Die Obergrenze soll bei 230 Millionen DM liegen, und zwar auf allen Ebenen, bei Bund und Ländern.Zum Vergleich: Das Bundespresse- und -informationsamt kostet im Jahr 1993 den Steuerzahler 304 Millionen DM. Dort sind 750 Menschen damit beschäftigt, die Bundesregierung über die Welt und die Welt über die Bundesregierung zu informieren. Die SPD beschäftigt in Bonn in der „Baracke" etwa 200 Menschen, bei der CDU werden es ein paar mehr sein, bei der CSU in der Lazarettstraße ein paar weniger. Die Zentralen der Parteien in Deutschland beschäftigen insgesamt, wenn ich noch die kleinen Parteien hinzurechne, weniger Menschen als die 750, die allein bei der Bundesregierung im Bereich Information beschäftigt werden.In unseren Parteizentralen werden doch politische Programme entwickelt, da wird koordiniert und organisiert, da müssen Mitglieder betreut werden, da müssen die Finanzen geführt werden.Wenn alle, die von den „machtversessenen", „machtvergessenen" und „raffgierigen" Parteien reden und schreiben, gelegentlich die tatsächlichen Zahlen und Relationen überdenken würden, wäre die Diskussion über die Parteienfinanzierung ein wenig sachlicher.
Die Forderung, die absolute Obergrenze für die staatliche Parteienfinanzierung sollte ein für allemal festgeschrieben werden, werden wir erfüllen, und zwar dann, wenn alle Zeitungen, in denen das gefordert wird, ihre Verkaufspreise ebenfalls unabhängig von steigenden Löhnen und Kosten für alle Zeiten festschreiben. Dann werden auch wir das tun.
Übrigens ist die Wahlkampfkostenerstattung in 25 Jahren von 2,50 DM pro Wahlberechtigten auf 5 DM gestiegen, wenn ich rechnen kann: um 100 %. Der Verkaufspreis des „Spiegel" ist in der gleichen Zeit von 1,50 DM auf 5 DM gestiegen, das sind 233 %.Ohne freie Presse gibt es keine Demokratie, aber eine Demokratie ohne Parteien gibt es auch nicht. Wer denn anders als die Parteien könnte die Vielzahl der öffentlichen Meinungen aufnehmen, diskutieren, zu abstimmungsfähigen Alternativen bündeln und mit Kandidatinnen und Kandidaten den Bürgern zur Entscheidung vorlegen?Die Parteien machen Fehler, sie haben Defizite, und sie brauchen Kritik. Sie brauchen aber auch Zuspruch, und sie brauchen die Verteidigung gegen ungerechte, bösartige und herabsetzende Schmähkritik. Die Parteien sind nicht irgendwelche anonymen, finsteren Apparate, gesteuert von einigen miesen, korrupten Abgeordneten, denen es nur ums Geld geht, sondern die Parteien sind zu allererst Hunderttausende von Menschen, die, ohne Geld dafür zu bekommen, Zeit, Kraft und Geld für die politische Auseinandersetzung um die Zukunft unseres Gemeinwesens aufbringen.
Mit welchem Recht werden diese Menschen geschmäht? Man kann eine Demokratie auch kaputtschreiben.
Die Kritik etablierter Schriftsteller und etablierter Journalisten in etablierten Verlagen und etablierten Zeitungen an den etablierten Parteien übersieht, daß die etablierten Institutionen unseres Gemeinwesens — dazu gehört die Presse ebenso wie das Bundesverfassungsgericht, dazu gehören inzwischen auch die GRÜNEN, die das aber nicht wahrnehmen wollen — gerade in schwierigen Zeiten unerläßlich für den Bestand der parlamentarischen Demokratie sind. Deshalb sollten wir aufhören, sie zu schmähen, sondern sollten sie kritisieren, wo sie es verdienen, im anderen Fall aber sie in ihrer Rolle stärken, zum Bestand dieser parlamentarischen Demokratie.
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5774, 12/4425 und 12/5777 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich wünsche viel Vergnügen bei unseren Parteiversammlungen in den nächsten Tagen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 20. Oktober 1993, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.