Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
— Drucksache 12/4961 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 1 1/2 Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dr. Gero Pfennig das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Einweihung des neuen Plenarsaals Ende Oktober vergangenen Jahres erläuterte ein Bürger seiner Frau am Informationsstand des Petitionsausschusses die Funktion dieses Ausschusses mit den Worten: Das ist der Ausschuß, wo du mal so richtig auf den Tisch hauen kannst.
Ich meine, diese Charakterisierung trifft die Arbeit des Ausschusses im Jahr 1992, die hier im Tätigkeitsbericht vorgestellt wird, nur unvollkommen. In vielen Fällen haben nämlich die Bürger nicht nur auf den Tisch gehauen. Sie konnten auch erkennen, daß ihre Petition zu konkreten Verhaltensänderungen bei der Behörde, zur Abhilfe in ihrem Fall oder aber auch zur Änderung von Vorschriften geführt hat. Dies wird hoffentlich dazu beitragen, das gestörte Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung, das der Petitionsausschuß in zahlreichen Zuschriften erkennen konnte, wieder in Ordnung zu bringen.Trotz erneut gestiegener Arbeitsbelastung kann ich feststellen, daß der Ausschuß eine recht erfolgreiche Arbeit geleistet hat. Mit nahezu 24 000 Eingaben war die Zahl so hoch wie nie zuvor und ist gegenüber 1991 noch einmal um 3 500 gestiegen. Die Zahl der Neueingaben liegt jetzt insgesamt doppelt so hoch wie 1989. Lediglich bei einem Fünftel aller vom Ausschuß inhaltlich geprüften Fälle wurde den Petenten mitgeteilt, daß ihrem Anliegen nicht entsprochen werden konnte.40 % aller Zuschriften kamen im Jahre 1992 aus den neuen Bundesländern. In der Arbeit des Ausschusses standen im Berichtsjahr die Folgen der Wiedervereinigung im gesamten Bundesgebiet im Vordergrund. Auch 1993 ist dies so.Ich will nicht nur Zahlen und Statistiken nennen, sondern auch auf die inhaltliche Arbeit eingehen:Ein wesentlicher Schwerpunkt waren die Zuschriften zur Rentenumwertung und zur Neuberechnung der Bestandsrenten in den neuen Bundesländern nach dem Rentenüberleitungsgesetz. Das Gesetz räumt den Anspruch auf Überprüfung erst ab Januar 1994 ein. In einzelnen Fällen konnte aber der Petitionsausschuß insbesondere bei hochbetagten Bürgerinnen und Bürgern ein Vorziehen ihrer Überprüfung erreichen.Petitionen, mit denen Regelungen zum Rentenüberleitungsgesetz kritisiert und Änderungen gefordert wurden, konnten im Berichtsjahr noch nicht abschließend behandelt werden; wir hatten aber inzwischen dem Fachausschuß wegen der großen Bedeutung, die wir dieser Thematik beimaßen, das vorläufige Ergebnis unserer Prüfung mitgeteilt. Darüber hinaus habe ich selbst vor Einbringung des Gesetzentwurfs zum Ergänzungsgesetz 1993 der Vizepräsidentin der BfA in einem Gespräch die wesentlichen Vorstellungen des Petitionsausschusses hierzu erläutert. Beides hat zur Folge gehabt, daß sich die wesentlichen Überlegungen des Petitionsausschusses im Ergänzungsgesetz zur Rentenüberleitung wiederfinden.
Nach Auffassung des Ausschusses darf übrigens nicht mehr daran gerüttelt werden, daß die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme ausschließlich in die gesetzliche Rentenversicherung überführt sind. Nicht unterstützen kann der Ausschuß weiterhin Anliegen ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, die sich gegen die Kürzung ihrer Rente wenden. Hier bleibt es bei dem Grundsatz, daß politisch motivierte hohe Rentenleistungen abgebaut sind.Der Ausschuß hat sich im Jahre 1991 besonders für Bürgerinnen und Bürger eingesetzt, die aus politi-
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Dr. Gero Pfennigschen Gründen Anfang der 50er und Anfang der 60er Jahre zwangsweise von der DDR aus dem Grenzgebiet zur Bundesrepublik Deutschland ausgesiedelt wurden. Ich habe hier vor einem Jahr darauf hingewiesen, daß diese Menschen nach der geltenden Rechtslage keinerlei Ansprüche geltend machen können und daß der Ausschuß sich deshalb mit Nachdruck für sie einsetzt. Nach dem Entwurf des Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes, das inzwischen auf den parlamentarischen Weg gebracht worden ist, sollen die Zwangsausgesiedelten grundsätzlich die Vermögenswerte, die ihnen entzogen worden sind, zurückerhalten und nur dann, falls dies nicht möglich ist, Entschädigung für den Verlust bekommen. Der Ausschuß wird sich weiterhin für ein schnelles Inkrafttreten dieses Gesetzes und insbesondere der genannten Regelung einsetzen.Gegenstand des Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes sind auch Themen der beruflichen Rehabilitierung. Hierzu hat der Ausschuß eine Vielzahl von Zuschriften erhalten. Stellvertretend möchte ich nur an den Fall eines Vaters erinnern, dessen Kinder die Oberschule nicht besuchen durften, weil sie sich nicht der sogenannten FDJ anschließen wollten. Dies führte anschließend dazu, daß sie quasi einem Schulverbot unterlagen. Die Reaktionen des SED-Regimes auf Kritik und Ablehnung im beruflichen Bereich waren immer dieselben: Die Betroffenen erhielten keinen Zugang zu Ausbildung, Beruf oder Aufstieg in höhere Positionen; sie wurden teilweise degradiert und ihre Familienmitglieder in Sippenhaft genommen.Der Ausschuß hat die Bundesregierung im Berichtsjahr mit Nachdruck auf das Problem aufmerksam gemacht und Gesetzgebung in diesem Bereich gefordert. Inzwischen liegt der Entwurf eines beruflichen Rehabilitierungsgesetzes vor, und ich hoffe, daß dieses Gesetz auch dank den Vorarbeiten des Petitionsausschusses noch in diesem Jahr in Kraft treten wird.
Im Zusammenhang mit dem Komplex Rehabilitierung war für den Ausschuß auch die Verschleppung von Frauen und Männern in sibirische Arbeitslager durch die Rote Armee nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein wichtiges Thema. In zahlreichen Eingaben schilderten die Betroffenen, wie sie zwischen Januar und Mai 1945 von Mitgliedern der vorrückenden Roten Armee von der Straße weg aufgegriffen und in die Sowjetunion abtransportiert wurden, um dort Lagerarbeiten zu leisten. Besonders betroffen waren offenbar Frauen in den damaligen deutschen Ostgebieten. Sie wurden den Angaben zufolge ohne Rücksicht auf ihr Alter, ihre familiären Bindungen, ihrer Ausbildung oder Tätigkeit wahllos zusammengetrieben und abtransportiert, massenhaft vergewaltigt und seelisch und körperlich grauenvoll mißhandelt. Nach der Entlassung in die DDR wurden die Greueltaten von staatlicher Seite mit Tabu belegt; ja, die betroffenen Bürgerinnen wurden sogar häufig auch noch diskriminiert.Mit Recht verweisen die Petenten darauf, daß diejenigen, die 1948 und 1949 in die BundesrepublikDeutschland entlassen wurden, zumindest Renten- und Heilkostenzuschüsse nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz erhalten haben, während die in die DDR Entlassenen völlig leer ausgegangen sind.Der Ausschuß hat deutlich gemacht, daß eine Einbeziehung dieses betroffenen Personenkreises in den Anwendungsbereich des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes nicht in Frage kommt, weil die SED an diesen Greueltaten ausnahmsweise einmal nicht beteiligt war. Der Ausschuß befürwortet aber eine rasche und möglichst umfassende finanzielle Entschädigung der Opfer im Rahmen anderer Gesetze, z. B. des Häftlingshilfegesetzes. Ich hoffe, daß auch da die Gesetzgebung in Gang kommt.Im Vorjahr habe ich an dieser Stelle die Verjährung von Straftaten im Zusammenhang mit Unrechtsurteilen in der ehemaligen DDR angesprochen und darauf hingewiesen, daß es nach Auffassung des Ausschusses nicht genügt, diese Frage der Entscheidung von Gerichten und Staatsanwälten zu überlassen.Wir haben jetzt das Antiverjährungsgesetz bei SED-Unrechtstaten beschlossen, nachdem der Petitionsausschuß als erster Ausschuß dieses Parlaments ein solches Gesetz gefordert hatte. Wir haben jetzt das Problem, daß mangels ausreichenden Gerichtsaufbaus in den neuen Ländern eine effektive Strafverfolgung nicht möglich ist. Auch hier wird sich der Petitionsausschuß ernsthaft darüber unterhalten, ob eine weitere Hemmung der Verjährung im Gesetz eingeführt werden muß.
Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, daß sich der Ausschuß 1992 — neben allgemeinen Entschädigungsfragen — auch abschließend mit der Entschädigung für Vertriebene in der ehemaligen DDR befaßte. Der Entwurf des jetzigen Vertriebenenzuwendungsgesetzes, wonach die Vertriebenen eine einmalige Zuwendung in Höhe von 4 000 DM erhalten sollen, beruht insoweit auf einem Beschluß des Petitionsausschusses.Im Jahre 1992 — und damit möchte ich Ihnen noch ein paar abschließende Dinge vortragen — nahm die Zahl der Massenpetitionen und der Sammelpetitionen mit gewichtigem politischen Inhalt zu. Allein zu § 218 StGB wandten sich 1992 nahezu 94 000 Bürgerinnen und Bürger an den Ausschuß. Gerade weil solche Aktionen Stimmungen innerhalb der Bevölkerung besonders gut widerspiegeln, widmet ihnen der Ausschuß seine Aufmerksamkeit.Ich habe immer deutlich gemacht, daß das jetzige Verfahren zur Behandlung solcher Petitionen eine angemessene und zugleich ökonomische Prüfung dieser Anliegen ermöglicht. Wenn man im Rahmen einer Verfassungsänderung über eine weitergehende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am politischen Willensbildungsprozeß nachdenken will, dann sollte man den Hebel nicht bei einer Änderung des Petitionsverfahrens ansetzen, etwa in der Richtung, daß ab einer bestimmten Zahl von Unterschriften Anhörungsverfahren o. ä. nötig sind. Der Ausschuß ist ganz
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Dr. Gero Pfennigeinmütig der Meinung, daß dies kein guter Weg wäre.
Die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung funktionierte im Berichtsjahr, insgesamt gesehen, zufriedenstellend. Nur in zwei Fällen wurde den Berücksichtigungsbeschlüssen des Petitionsausschusses nicht nachgekommen. In beiden Fällen hat der Ausschuß die Gründe akzeptiert.Schwerer allerdings tat sich die Bundesregierung mit Erwägungsbeschlüssen. Während in insgesamt 51 Fällen dem Anliegen nicht entsprochen wurde, wurden lediglich 32 solcher Fälle positiv erledigt. Wir werden in Zukunft darauf drängen, daß unserer Auffassung in diesen Fällen noch stärker Geltung verschafft wird.Abschließend lassen Sie mich sagen: Wir werden auch in Zukunft weiterhin die Linie verfolgen — das mag sich die Bundesregierung merken —, daß alle Akten, die der Ausschuß haben möchte, auch tatsächlich vorgelegt werden. Davon werden wir uns nicht abbringen lassen.
Ich glaube, das sind wir dem Selbstverständnis dieses Parlamentes schuldig.Ich versichere den Bürgerinnen und Bürgern, daß wir uns weiterhin bemühen werden, jedem Einzelfall gerecht zu werden. Ich danke den Kollegen und den Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit. Die zahlreichen Dankschreiben aus allen Teilen Deutschlands zeigen, daß der Ausschuß mehr als nur ein bloßes Ventil für Nöte und Sorgen ist.
Frau Kollegin Lisa Seuster, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Pfennig als Vorsitzender hat schon deutlich gemacht, daß der Petitionsausschuß auch im letzten Jahr sehr fleißig war. Das konnten wir aber nur sein, weil wir eine gute Vorarbeit durch das Ausschußbüro erfahren haben; deshalb auch mein Dank im Namen der Fraktion an das Ausschußbüro, dessen Mitglieder hier teilweise anwesend sind.
Ich möchte mich in meinem Part hier heute morgen den sozialen Fragen zuwenden. Im letzten Jahr war ein Anteil von 26 % der eingegangenen Petitionen speziell für den Bereich Arbeit und Sozialordnung bestimmt. Das ist eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 41,2 %. Dies erklärt sich durch die vielen Petitionen aus den neuen Bundesländern. Die Umgestaltungen bzw. Neuregelungen im sozialen System haben vielfach zu Bearbeitungsfehlern, aber auch zu Ungerechtigkeiten geführt. Meine Kollegin Frau Barbe wird auf diese Petitionen gleich noch eingehen.Ein erheblicher Teil der Petitionen, die das Bundeshaus erreichen, erreichen nicht unbedingt auch den Ausschuß; denn im Vorfeld wird manches schonabgeklärt, was dann im Ausschuß nicht mehr behandelt werden muß. Ein solches Beispiel möchte ich aus meinem Wahlkreis nennen.Da eine alleinerziehende Mutter für ihre dreijährige Tochter keinen Platz in einer Tagesstätte bekommen konnte, bekam sie vom Jugendamt der Stadt entsprechend dem Kinder- und Jugendhilfegesetz eine Tagesmutter vermittelt. Die anfallenden Kosten wurden ihr bis auf eine sogenannte häusliche Ersparnis erstattet. Die Wohngeldstelle andererseits berechnete diese Ersparnis der Petentin wiederum als Einkommen. Darin sah die Petentin zu Recht eine Ungerechtigkeit und eine Benachteiligung gegenüber denjenigen, die für ihre Kinder einen Platz in einer Kindertagesstätte bekommen haben, ohne eventuelle Wohngeldkürzungen hinnehmen zu müssen.Als der Widerspruch eines Rechtsanwaltes bei der Stadt ohne Erfolg blieb, wandte sich die Petentin an den Petitionsausschuß. Die eingeholte Stellungnahme des zuständigen Bundesministeriums ergab, daß die Berechnungs- und auch die Argumentationsweise der Stadt falsch war. Mittlerweile ist das Anliegen der Petentin durch die Stadt positiv entschieden worden; denn sie konnte diese Beweislage vorzeigen. Es wurden auch weitere ähnlich gelagerte Fälle überprüft und entsprechend neu bewertet. Man sieht, wenn man hartnäckig genug ist, dann kann sich nicht nur für einen selbst etwas Positives ergeben, sondern durchaus auch für einen größeren Personenkreis.
Schwieriger ist die Situation der ehemaligen deutschen Geiseln im Irak. Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland hatten sie buchstäblich ihre Existenzgrundlage verloren. Der Ausschuß kam zu der Auffassung, daß für die wirtschaftlichen Verluste nach wie vor der Irak als Verursacher haftbar gemacht werden muß. Für die Eingliederung der ehemaligen Geiseln bei uns aber sollte durchaus eine Hilfe, z. B. in Form eines Fonds, geleistet werden. Als Beispiel wurden dazu Regelungen in Frankreich und Großbritannien angeführt, wo es solche Fondslösungen bereits gibt.Ich möchte in diesem Zusammenhang ein weiteres Beispiel erwähnen. Wir haben gestern hier im Bundestag das Opferentschädigungsgesetz verabschiedet, wonach jetzt auch — zu Recht — Ausländer, denen in der Bundesrepublik Schaden zugefügt wird, Anspruch auf finanzielle Hilfe haben. Diesen Anspruch haben Deutsche, die im Ausland Opfer von Gewalttaten werden, nicht.Daß in diesem Bereich noch ein Regelungsbedarf besteht, zeigt auch die Petition eines jungen Mannes, die jetzt erst anhängig ist; ich denke, Frau Dempwolf kennt diesen Fall recht gut. Dieser junge Mann ist 1991 als Tourist in Amsterdam Opfer einer Gewalttat geworden. Er ist seitdem hochgradig querschnittsgelähmt. Die voraussichtlich niedrige Entschädigung aus den Niederlanden wird den Leistungen unseres Entschädigungsgesetzes nicht entsprechen. Sie sehen, meine Damen und Herren, daß da noch eine Lücke klafft und daß wir im Opferentschädigungsge-
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Lisa Seustersetz auch für diesen Personenkreis eine Lösung finden müssen.
Erfolgreich konnten bereits die Petitionen von Aussiedlern entschieden werden, die durch die Stichtagsregelung im Aussiedlerrecht betroffen waren. Für sie wurde mehrfach eine Altfall- und Schlußregelung gefordert. Da sie bereits vor dem Stichtag in die Bundesrepublik eingereist waren, konnten sie weder das nun notwendige Aufnahmeverfahren vom Heimatland aus einleiten, noch wurden sie wie früher Eingereiste als Vertriebene anerkannt. Der Petitionsausschuß übergab die Petition dem Innenminister zur Erwägung. Seit August 1992 existiert eine Altfallregelung für diesen betroffenen Personenkreis — ein Erfolg des Petitionsausschusses.
Positiv entschieden wurde auch die Pflegepauschale im Rahmen der Beihilfeverordnung. Den Eltern behinderter Kinder wurde diese Pflegepauschale von 400 DM monatlich nicht gezahlt, sobald die Kinder tagsüber in einer für sie geeigneten Einrichtung untergebracht waren. Das Bundesinnenministerium begründete die Leistungsvorbehalte damit, daß eine ständige häusliche Pflege nicht gegeben sei. Zu Recht empfanden die Eltern diese Begründung als lebensfremd. Wer von Ihnen, meine Damen und Herren, aus eigener Erfahrung oder vielleicht aus dem Umfeld weiß, wieviel Arbeit, welche Fürsorge ein behindertes Kind täglich benötigt, kann nachvollziehen, daß solch eine Begründung bei den Eltern nur auf Unverständnis stoßen konnte und daß diese sich weiter bemühten, eine Änderung zu erreichen. Diese Bestrebungen hatten auch Erfolg. Seit Januar 1992 wird die Pflegepauschale auch in ihren Fällen gezahlt.
Ich möchte noch im Familienbereich bleiben. Die rentenrechtliche Nichtanerkennung von Kindererziehungszeiten zusätzlich zu gleichzeitigen Beitragszahlungen in die Rentenversicherung wurde in mehreren Petitionen als ungerecht kritisiert. Dieser Kritik schließt sich die SPD-Bundestagsfraktion an. Wir fordern seit langem eine additive Anrechnung von Beitragsleistungen.
— Ich weiß. Der Ausschuß überwies diese Petition der Regierung als Material mit der Maßgabe, bei einer Neuregelung die bisherige Berechnungsweise zu überprüfen. Ich hoffe, daß auch hier der Petitionsausschuß eine neue Denkweise angestoßen hat.
Während meiner Mitgliedschaft im Petitionsausschuß habe ich immer wieder erfahren, daß dieser Ausschuß ein Seismograph der politischen Stimmung in unserem Land ist. Die momentane politische Situation ist geprägt durch die Sorge um die Aktivitäten rechtsradikaler Kräfte, die — wie wir alle wissen — selbst vor Morden nicht zurückschrecken. Es werden zahlreiche Diskussionen darüber geführt, wie es zu diesen Entwicklungen kommen konnte, wo Fehler gemacht wurden, wie es gelingen konnte, rechtsradikales Gedankengut salonfähig zu machen.Ich habe mir in diesem Zusammenhang noch einmal Petitionen von zahlreichen Petenten aus den Jahren 1987 bis 1989 angesehen. Sie forderten schon damals Verbote der FAP, der NF, der DVU und der NPD. Schon damals gab es zahlreiche Gewalttaten rechtsradikaler Kräfte gegenüber Ausländern, ja sogar Todesopfer waren zu beklagen. Diese Übergriffe, insbesondere die der FAP, waren jedoch für den damaligen Innenminister kein Grund, ein Verbot auszusprechen.Eine Einsicht in die alten Petitionsakten beweist, daß der Petitionsausschuß seine Aufgabe damals sehr ernstgenommen hat, daß er sich mehrfach mit diesem Thema beschäftigte. Der Ausschuß forderte mehrmals zusätzliche Stellungnahmen aus dem Innenministerium an. Diese Stellungnahmen waren jedoch unergiebig. Besonders jetzt, bei der Nachbetrachtung, fällt auf, daß das Ministerium beinahe wortgleiche Stellungnahmen abgab, ganz gleich, für welche der eben genannten Parteien in den Petitionen ein Verbot gefordert wurde,
und dies, obwohl sich die Petitionsverfahren über einen Zeitraum von mehreren Jahren, nämlich von 1987 bis 1991, hinzogen.Mühe hat man sich in dieser Hinsicht dem Ausschuß gegenüber nicht gegeben. Es wurden Textbausteine wiederholt, die sinngemäß lauteten, der Verfassungsschutz beobachte die Szene, die Wahlergebnisse seien unbedeutend, so daß eine Gefahr nicht gegeben sei; ein Verbot scheine schon deshalb nicht sinnvoll; statt dessen sollte die politische Auseinandersetzung mit diesen Gruppierungen erfolgen.Die Innenminister und auch die Landtage von Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen waren schon damals anderer Meinung. Sie forderten ein Verbot rechtsradikaler Parteien. Sie vertraten damit dieselbe Auffassung wie der Petitionsausschuß. Auch der Ausschuß sprach sich 1989 einstimmig dafür aus, den Innenminister aufzufordern, ein Verbot der FAP und anderer neonazistischer Vereinigungen erneut in Erwägung zu ziehen. Wie sich heute zeigt, hat der Ausschuß mit seiner damaligen Einschätzung richtig gelegen. Er hat seine Aufgabe, Seismograph der politischen Lage in Deutschland zu sein, erfüllt.
Herr Kollege Günther Nolting, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie schon 1991, setzte sich auch im zweiten Jahr nach der Wiedervereinigung
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Günther Friedrich Noltingdas außergewöhnliche Ansteigen der Anzahl von Eingaben an den Petitionsausschuß fort. Wir hatten 1991 schon einen Anstieg von etwa 4 000 Eingaben und konnten im Jahre 1992 zusätzliche 3 500 Eingaben verzeichnen. Dies ist ein Anstieg allein im Jahre 1992 von über 17 %. Die Zahlen sind von 1980 bis 1987 relativ konstant gewesen; wir hatten in diesen Jahren immer etwa 10 000 bis 11 000 Eingaben. Wenn wir 1987 und 1992 vergleichen, dann müssen wir bei den Eingaben einen Anstieg von über 130 % feststellen. Dies zeigt auch, daß nicht nur der Ausschuß mehr zu tun hatte. Vielmehr war dieser enorme Anstieg des Arbeitsaufwandes auch nur zu bewältigen, weil wir ein Sekretariat haben, das uns sehr gut zuarbeitet. Deswegen möchte ich auch gleich zu Beginn meiner Ausführungen im Namen der F.D.P.-Fraktion dem Sekretariat herzlichen Dank sagen.
Der Vorsitzende hat darauf hingewiesen: Über 40 % der Eingaben kamen aus den neuen Bundesländern. Diese Zahlen belegen die wichtige Funktion des Petitionsausschusses im Zusammenhang mit der Verwirklichung der inneren Einheit. Sie sind allerdings auch ein Beleg für die Fähigkeit und den Willen der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern, Demokratie nicht nur zu erleben, sondern auch zu leben und direkt an ihr teilzuhaben. Diese Zahlen zeigen darüber hinaus, daß wir uns nach wie vor mitten im schon angesprochenen Prozeß der inneren Vereinigung befinden. Sie sind Ansporn für uns, diesen konsequent weiterzutreiben.Die rasante Entwicklung der Eingabenzahlen wie auch deren inhaltliche Schwerpunkte zeigen die Funktion des Petitionsausschusses und seiner Arbeit als Seismograph; die Kollegin Seuster hat schon darauf hingewiesen. Sie zeigen aber auch von vornherein auf, wie die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande aussieht. Auch wir Volksvertreter können uns auf Grund dieser Eingaben, die wir in den Petitionsausschuß bekommen, ein Bild von dieser Entwicklung machen.Ich will darüber hinaus folgendes sagen: Der Petitionsausschuß verstand sich und versteht sich als Anwalt des Volkes, und er wird auch in dieser Funktion angenommen. Das zeigen schon die hohen Eingabenzahlen. Die Bürgerinnen und Bürger wenden sich an uns, weil sie von uns Hilfe erwarten. Ich denke, in dieser Frage kann von Politikverdrossenheit keine Rede sein; denn sonst würden sich die Bürger nicht in dieser großen Zahl an den Petitionsausschuß wenden.
— Sie können gleich Ihre gegenteilige Meinung dazu äußern. Aber ich denke, Herr Kollege, das zeigt sich insbesondere an der Überprüfung z. B. von Beschwerden über das Verhalten von Bundesbehörden durch den Ausschuß. Beispielhaft will ich hier auf den Fall der Rückforderung von angeblich zuviel geleisteten Rentenzahlungen an eine in Kanada wohnende Rentnerin hinweisen, auf die die Bundesversicherungsanstalt erst nach eingehender Intervention des Petitionsausschusses zugunsten der Petentin verzichtete.Ich habe auf die große Anzahl der Eingaben hingewiesen. Hier will ich festhalten, daß es einen besonders starken Anstieg im Ressort der Finanzen, nämlich um über 80 %, und im Ressort für Arbeit und Sozialordnung, nämlich von über 40 %, gegeben hat. Hier ging es in erster Linie um Eingaben zum Lastenausgleich und zum Thema Rentenüberleitung.Ich will an dieser Stelle exemplarisch einige Petitionen erwähnen, wobei ich mich darauf beschränken möchte, Petitionen zu nennen, die allgemeinpolitische Themen behandeln. So wurden wir in mehreren Petitionen aufgefordert, uns für den sofortigen Abzug aller ausländischen Streitkräfte aus der Bundesrepublik Deutschland einzusetzen, wobei sich diese Forderung auf die Truppen der ehemaligen Sowjetunion, aber auch auf die der NATO-Verbände bezog. Der Petitionsausschuß ist solchen Forderungen auf Grund von sachlichen und rechtlichen Gründen nicht gefolgt. Der Abzug der Truppen der ehemaligen Sowjetunion wurde vertraglich bis zum Ende des nächsten Jahres geregelt. Durch weitere Gespräche ist ja erreicht worden, den Abzug schon bis Mitte 1993 abzuschließen. So haben wir uns dann auch für den Verbleib unserer verbündeten Truppen in der Bundesrepublik ausgesprochen. Wir halten diesen weiteren Verbleib für sinnvoll und für wünschenswert. Wir sind gleichberechtigtes Mitglied der NATO. Wir haben diesem Bündnis Frieden und Freiheit zu verdanken. Wir wollen auch zukünftig unserer Aufgabe im Atlantischen Bündnis nachkommen.Eine weitere Eingabe betrifft im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung die Forderung nach einer völligen Streichung der in den Artikeln 53 und 107 der UN-Charta enthaltenen Feindstaatenklausel. Da nach Feststellung des Ausschusses mit der Aufnahme eines ehemaligen Feindstaates in die Vereinten Nationen automatisch der Verlust der Feindstaatenqualität eintritt, sind spätestens mit der Aufnahme beider deutschen Staaten in die Vereinten Nationen die sogenannten Feindstaatenklauseln hinfällig geworden. Dies gilt erst recht, Herr Kollege, für das vereinte Deutschland durch die Erlangung der vollen Souveränität. Auf Grund dieser Sachlage wurde das Verfahren abgeschlossen, da dem Anliegen des Petenten nicht entsprochen werden konnte.So hat es auch Forderungen z. B. nach Abschaffung der Wehrpflicht aus politischen und finanziellen Gründen gegeben. Auch hier konnte nicht im Sinne des Petenten beschieden werden. Wir haben dazu gesagt, die Bindung des Staatsbürgers an seinen Staat durch dessen Verantwortlichmachung für die Landesverteidigung sollte auch im Hinblick auf die unsichere Sicherheitslage mit schwer kalkulierbaren Risiken aufrecht erhalten werden. Allerdings haben wir gesagt, wie wir den sozial- und umweltpolitischen Problemstellungen nachkommen können, um diese auch zeitgemäßer zu gestalten. Das sei diskutierwürdig, und von daher haben wir dies auch den Fraktionen zur weiteren Debatte überwiesen.Es hat Behauptungen gegeben, im Verlaufe der Diskussion um die Hauptstadtfrage sei es zu Bestechung von Abgeordneten gekommen. Dieser Vorwurf
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Günther Friedrich Noltingwurde vom Ausschuß ernsthaft und gewissenhaft geprüft, und wir konnten feststellen, daß dies lediglich eine unbewiesene Vermutung ist.Die in diesem Zusammenhang aufgebrachte Forderung, Bestechung und Bestechlichkeit durch und von Abgeordneten künftig nicht mehr straffrei zu belassen und als Tatbestand in das Strafgesetzbuch aufzunehmen, scheint mir als Anregung für eine entsprechende parlamentarische Initiative geeignet zu sein.Aus diesem Grund, Frau Kollegin, haben wir dann auch die Petition den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis gebracht, und ich hoffe, daß wir dann auch zu einer entsprechenden Regelung kommen können.
Ich will einen Punkt aufgreifen, wo sich ein Petent — ob freiwillig oder unfreiwillig — humorvoll an den Ausschuß gewandt hat. Das war ein Bürger aus Rheinland-Pfalz, den der Lebensstreß — ich zitiere — „voll erwischt hatte und der ihn vor sich her-scheuchte". Der Bitte des Petenten nach Einführung eines achten Wochentages —ich zitiere wieder —, „an dem man eigentlich nur seine Seele baumeln lassen kann", wurde vom Petitionsausschuß nach „kontroverser" Diskussion allerdings nicht stattgegeben.Meine Damen und Herren, hier ist darauf hingewiesen worden, fast die Hälfte aller Eingaben konnte erledigt werden durch Rat, durch Auskunft oder durch Materialübersendung. Die Berücksichtigungsbeschlüsse haben weitgehend Unterstützung durch die Bundesregierung gefunden. Wir haben aber auch feststellen müssen, daß es in bezug auf Erwägungsbeschlüsse nicht die nötige Unterstützung gibt, die wir von der Bundesregierung erwarten. Aber die Vielzahl der Staatssekretäre und Staatssekretärinnen auf der Regierungsbank zeigt ja das hohe Interesse dieser Regierung an der Arbeit des Petitionsausschusses,
und dies, meine Damen und Herren, macht ja dann Hoffnung für die Zukunft. Wir werden im nächsten Jahr darauf zurückkommen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließen. Ich habe eingangs schon dem Sekretariat den Dank ausgesprochen, aber ich möchte hier ausdrücklich festhalten, es war für uns erfreulich, daß es im Berichtsjahr 1992 zu Lösungen, zu einvernehmlichen Lösungen über die Fraktionsgrenzen hinweg kam. Das ist letztendlich den Hilfesuchenden zugute gekommen, und ich würde mir wünschen, daß diese gute Zusammenarbeit, wie wir sie im Petitionsausschuß erlebt haben, auch in anderen Ausschüssen zum Tragen käme, letztlich auch zum Wohle unserer Bürger.Zum Abschluß kann ich nur sagen, der Petitionsausschuß als Kummerkasten der Nation hat sich auch 1992 bewährt.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Heft der Serie „Bundestag von A bis Z" wird der Petitionsausschuß mit dem Beinamen „Kummerkasten der Nation" benannt.Ist man nur Optimist, könnte man im Vergleich des Anstiegs der Anzahl eingegangener Petitionen gegenüber den Vorjahren die Feststellung treffen, daß diese Tendenz als eine Art Vertrauensbeweis der Bürger zum Parlament zu werten wäre. Ist man aber mehr Realist und bezieht vor allem die Inhalte und Schwerpunkte der Eingaben mit ein, so ist es aus meiner Sicht nicht nur legitim, sondern notwendig zu sagen: Auch der Kummer der Bürger, ausgedrückt in Form von Beschwerden gegen staatliche Behörden sowie das bewußte Erleben von Mängeln existierender Gesetze und Verordnungen nimmt immer mehr zu.Es ist so, wie im Bericht festgestellt: Der Petitionsausschuß kann sich als Seismograph der gesellschaftlichen Entwicklung verstehen.Für mich als Bürgerin eines der neuen Bundesländer ist es eine sichtbare Tatsache, daß vor allem von Petenten der neuen Bundesländer die Wirkung von Gesetzen und Verordnungen in bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. in persönlichen Arbeits- und Lebensbereichen mit der Vereinigung beider deutscher Staaten zunehmend als nicht gerecht empfunden und erlebt wird. Die hohe Anzahl von Einzel- und Massenpetitionen, vor allem in den Geschäftsbereichen der Bundesminister der Justiz, der Finanzen sowie für Arbeit und Sozialordnung, wie z. B. Eingaben von ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, die um ihre Rehabilitierung kämpfen, und Petitionen zu offenen Vermögensfragen sowie zum Rentenrecht bringen dies zum Ausdruck.Im ersten Falle wurde dem Anliegen der Petenten durch die Initiative des Petitionsausschusses mit dem Gesetz über die Nichtverjährung von bestimmten, politisch motivierten Straftaten für die Zeit des Bestehens der DDR Rechnung getragen. Für die Eingaben bezüglich offener Vermögensfragen kann ich eine solche Bewertung jedoch nicht treffen.Bei allem Bemühen aller Mitglieder des Ausschusses um eine objektive, sachliche Behandlung jeder Petition sowie in dem Bemühen um eine ausgewogene Darstellung der Arbeitsergebnisse im Jahresbericht ist auch bei der Bewertung dieser Problematik eine parteipolitische Kopflastigkeit mancher Entscheidungen nicht zu übersehen.In der Anlage 1 des Berichts sind die Sammelpetitionen aufgeführt, in der z. B. eine Petition zum Thema „Staatsvermögen Treuhandanstalt", die mit ca. 4 000 Unterschriften belegt war, fehlt. Diese Unterschriften kamen aus 78 Städten und Gemeinden der neuen Bundesländer. Der Petitionsausschuß hat sich korrekt mit der Petition befaßt, in dieser Angelgenheit zweimal das Finanzministerium bemüht und den Petenten insgesamt drei Zwischenbescheide gegeben.
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Dr. Ruth FuchsUnd dennoch: Seit dem Eingang der Petition sind fast eineinhalb Jahre vergangen, und die Angelegenheit ist immer noch nicht abgeschlossen.Warum bin ich gerade an dieser Petition interessiert? Anklagend wird in Reden von Politikern immer nur von Verschuldung, maroder Wirtschaft und Erblast der DDR gesprochen. Ich will die Mängel der DDR-Wirtschaft überhaupt nicht bagatellisieren, aber wenn man Ehrlichkeit einfordert, darf man selbst nicht nur die halbe Wahrheit sagen. Das heißt in diesem Falle, Soll und Haben wahrheitsgetreu aufzeigen, was jedoch — allein bezogen auf das Verwaltungsvermögen der DDR — nicht geschieht. Angaben über das Vermögen der DDR zum Zeitpunkt der Vereinigung zu machen ist vom Bundesministerium der Finanzen mit der Begründung abgelehnt worden, es sei dazu per Gesetz nicht verpflichtet. Verwiesen wird auf den Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sowie auf den Einigungsvertrag.Mit einer solchen Antwort gewinnt man wohl kaum das Vertrauen fragender Bürger, und sie nährt mit Recht die Annahme, daß diesbezüglich politische Motive bewußt eine klarstellende Auskunft zu den 1990 tatsächlich vorhandenen Vermögenswerten der DDR verhindern.Petitionen, die die Rückgabe der für den Bau der Berliner Mauer enteigneten Grundstücke zum Inhalt haben, werden im Bericht zu Recht als eine politisch und rechtlich äußerst komplizierte Frage angesehen. Die derzeit existierende Ablehnung der Rückgabe mit der Begründung, eine Entschädigung sei seinerzeit gewährt worden, kann keinen Betroffenen befriedigen. Die Besitzer dieser Grundstücke hatten objektiv keine andere Wahl, als ihre Grundstücke zu räumen. Das Gesetz, auf dessen Grundlage das geschah — es handelt sich um das DDR-Verteidigungsgesetz — wurde damals von der Bundesrepublik Deutschland für Ost-Berlin nicht anerkannt. Jetzt, wo es um die Rückgabe geht, ist dieses Gesetz plötzlich wieder Rechtens. Der Verdacht, daß hier finanzpolitische Gründe vorliegen, bleibt nicht aus. Die derzeit durch die Bundesregierung getroffene Ablehnung der Rückgabe kann unter diesem Aspekt kein Betroffener verstehen, und so werden uns auch diese Petitionen weiter beschäftigen.Eine sehr große Anzahl von Petitionen aus den neuen Bundesländern nahmen Beschwerden zur gesetzlichen Rentenversicherung ein. Wenn auch durch begleitende Maßnahmen des Rentenüberleitungsgesetzes und durch das erst kürzlich in diesem Haus verabschiedete Rentenüberleitungsergänzungsgesetz dem Anliegen vor allem hoch betagter Petenten in vielen Fällen entsprochen werden konnte, so bleiben doch kritisch die Tatsachen zu bewerten, daß für die Bürger der neuen Bundesländer erst Ende 1994 mit einer zeitlich normalen Laufzeit der Rentenbearbeitung gerechnet werden kann und daß das Rentenüberleitungsergänzungsgesetz nach wie vor politisch motivierte strafrechtliche Züge trägt. Diesbezügliche Petitionen werden somit ebenfalls Aufgabengebiet des Ausschusses bleiben.Zum Abschluß möchte ich mich für die geleistete Arbeit und Unterstützung vor allem der Mitarbeiter des Petitionsausschusses bedanken. Ich möchte esauch in dem Sinne tun, daß ich hier ein Problem benenne, das uns letztendlich allen am Herzen liegen müßte. Wie der Bericht ausweist, zeigt die vorliegende Statistik, daß die Tendenz der Anzahl der Petitionen weiterhin steigend sein wird. Die Arbeitssituation in der Ausschußadministration ist derzeit schon so sehr angespannt, und die vorhandene Personalkapazität wird zukünftig nicht ausreichend sein, um dauerhaft der zu bewältigenden Arbeit gerecht werden zu können. Sparen am falschen Platz kann in diesem Fall nur eine negative Entwicklung vor allem der Qualität des Umgangs mit dem im Grundgesetz verankerten Petitionsrecht zur Folge haben, was wohl — wie ich annehmen darf — für niemand in diesem Saal ein Ziel sein kann.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Konrad Weiß, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte auch ich mich bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes für ihre engagierte Bearbeitung der Eingaben bedanken. Ohne ihre kompetente Zuarbeit wäre mir eine verantwortungsvolle Entscheidung häufig nicht möglich gewesen. Ich sehe aber auch die große Belastung, der sie ausgesetzt sind, und meine, daß eine Aufstockung der Stellen unbedingt notwendig wäre.
Ebenso will ich mich auch beim Vorsitzenden Dr. Pfennig für seine kluge und faire Sitzungsleitung im Ausschuß bedanken,
auch wenn ich natürlich nicht immer mit seinen Votumsvorschlägen einverstanden sein kann.Vor allem gilt mein Dank aber den vielen, vielen Bürgerinnen und Bürgern, die trotz Parteienverdrossenheit und Politikerschelte uns, ihren Abgeordneten, mit ihren Eingaben ihr Vertrauen geschenkt haben und uns zutrauen, ihr oft ganz persönliches Problem lösen zu können.Die Probleme haben zugenommen; die Sorgen der Menschen sind nicht kleiner geworden. Über 17 % mehr Eingaben als im letzten Jahr haben wir zu verzeichnen, und über 40 % dieser Eingaben kommen aus den östlichen Bundesländern. Dies zeigt deutlich, wo in unserem Land die Defizite liegen und wo dringender Handlungsbedarf besteht.Es waren und sind fast immer existentielle Anliegen, Bitten und Beschwerden, mit denen sich vor allem Bürgerinnen und Bürger aus Ostdeutschland an den Deutschen Bundestag gewandt haben. Viele alte Menschen waren zu Recht schockiert und erzürnt über die unzulänglichen und komplizierten Verfahren der Rentenumwertung und der Rentenneuberechnung. Für viel böses Blut und Unverständnis sorgt
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14312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Konrad Weiß
noch immer die Gesetzgebung zu offenen Vermögensfragen. Der Petitionsausschuß war zwar auch hier bemüht, hat aber der falschen Politik der Bundesregierung letztlich nichts Entscheidendes entgegengesetzt. Ebensowenig wurden bisher für die grundsätzlichen Forderungen nach Rehabilitierung in strafrechtlicher, beruflicher und schulischer Hinsicht befriedigende Lösungen gefunden.Kritikwürdig an der Arbeit unseres Ausschusses finde ich nach wie vor, daß sehr oft Ansicht und Meinung der Bundesregierung von der Ausschußmehrheit kritiklos übernommen werden. Es ist im Petitionsausschuß oftmals ein absurdes Schauspiel, wenn Mitglieder der Regierungskoalition im geschlossenen schwarzen Block — pardon! —
— aber kein autonomer Block! —
Herr Kollege Nolting, weisen Sie das Wort geschlossen, das Wort Block oder das Wort schwarz zurück?
— ich nehme es zur Kenntnis — selbst die vernünftigsten Vorschläge und Anregungen von Bürgerinnen und Bürgern zu Gesetzesänderungen ablehnen oder die Ministerialbürokratie von unbequemen und lästigen Aufträgen verschonen. Wir Parlamentarier berauben uns damit selbst unserer Gestaltungskraft und der Möglichkeit zur Korrektur offensichtlich falscher und ungerechter Regelungen.
Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger läge es, wenn auch die Abgeordneten der Regierungskoalition im Petitionsausschuß häufiger den Mut aufbrächten, sich gegen die Fehler der Bundesregierung zu stellen. Nur so kann auch der Petitionsausschuß seiner Rolle als Korrektiv zur Exekutive und letztlich auch zur Legislative gerecht werden. Das Petitionsrecht ist eine zu wichtige demokratische Einrichtung, als daß man es in den Aktenbergen und verkrusteten parlamentarischen Strukturen des Bonner Bundesalltags verschwinden lassen dürfte.
Um das Petitionsrecht erhalten zu können und zu vitalisieren, ist es an der Zeit, neue Wege der Problembewältigung zu gehen, die schließlich auch das Verhältnis zwischen Bürgern und Parlament verbessern werden. Damit die Petenten in Zukunft auch in politisch bedeutsamen Fragen nicht mehr nur dem Mut und Wankelmut der jeweiligen Regierungsmehrheit im Parlament ausgesetzt sind, plädiert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dafür, neben dem Petitionsausschuß einen starken, unabhängigen und weisungsunabhängigen Bürgerbeauftragten beim Deutschen Bundestag einzurichten. Die Einrichtung eines solchen Beauftragten wäre keine Schwächung des Parlaments, sondern könnte die Effizienz des Petitionswesens steigern, die parlamentarische Kontrolle verbessern und dem Bürgerwillen angemessener gerecht werden. In Polen, einem Land mit wesentlich weniger Einwohnern als die Bundesrepublik, verfügt der Bürgerbeauftragte über mehr als 100 Mitarbeiter — ein bemerkenswertes Beispiel.
Einen schwerwiegenden Fehler, den man allerdings nicht voraussehen konnte, hat der Petitionsausschuß im letzten Jahre bei der Behandlung der zahlreichen Eingaben zur Verfassungsänderung gemacht. In der Regel hat der Ausschuß diese Vorschläge an die gemeinsame Verfassungskommission mit der Maßgabe weitergeleitet, daß sie dort engagiert und kompetent in die Beratung zur neuen deutschen Verfassung einbezogen werden. Dies war allerdings eine trügerische Hoffnung. Die Argumente der Bürgerinnen und Bürger wurden von den Regierungsparteien zumeist schlichtweg ignoriert und warten bis heute vergessen in irgendwelchen Postsäcken auf ihre Bearbeitung und Beantwortung. Es ist skandalös, wie hier der Partizipationswille der Bürgerinnen und Bürger mit Füßen getreten wird.
Lange und intensiv haben wir uns auch 1992 wieder mit Fragen der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts beschäftigt. Ich hatte erschütternde Eingaben zu bearbeiten, die dem Bundestag zum Teil noch aus der davorliegenden Legislaturperiode vorlagen. Es ist beschämend, daß 50 Jahre nach Kriegsende viele Opfer des nationalsozialistischen Terrors noch immer um eine angemessene Entschädigung kämpfen und uns um Hilfe bitten müssen. Ich hätte mir sehr gewünscht, daß der Petitionsausschuß gerade in diesem Bereich seine Forderungen an die Bundesregierung noch hartnäckiger und kraftvoller vertreten hätte.
Der Petitionsausschuß hatte mehrheitlich beschlossen, diese Eingaben der Bundesregierung als Material zu überweisen, damit sie in weitere Überlegungen und Initiativen einbezogen werden können. Auf diesen unverbindlichen Beschluß des Petitionsausschusses reagierte die Bundesregierung nur mit der lakonischen Antwort, daß sich die bisherigen Richtlinien bewährt hätten, die Beihilfen bis an den Rand des rechtlich Möglichen ausgeschöpft seien und daß sie für eine Änderung oder Ergänzung der Härterichtlinien keinen Handlungsbedarf sehe. In solchen Fragen, meine ich, muß in Zukunft vom Ausschuß entschiedener argumentiert und selbstbewußter gefordert werden.
Ich wünsche, uns, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt mehr Mut zu Entscheidungen, mit denen wir uns im Interesse einzelner Bürgerinnen und Bürger gegen die Bürokratie stellen, auch geltende, aber unzureichende Gesetze, Verordnungen oder Verwaltungsregelungen großzügig auslegen und — wenn es denn sein muß — auch großzügig umgehen.
Nur wenn es dem Petitionsausschuß gelingt, unsinnige oder unzutreffende Regeln um des Wohls des Petenten willen zu ignorieren und Lösungen zu finden, die dem jeweiligen Einzelfall gerecht werden, erfüllen wir das Petitionsrecht auch mit Leben.
Vielen Dank.
Als nächster hat der Kollege Martin Göttsching das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist nicht nur guter Brauch, sondern das gute Recht dieses Parlaments, auf der Grundlage seiner Geschäftsordnung über den Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses zu debattieren. Dieser Tätigkeitsbericht macht nicht nur die umfangreiche Arbeit der Ausschußmitglieder deutlich — die Arbeit, die sie ja neben ihrer hauptamtlichen Funktion in den klassischen ressortorientierten Ausschüssen in diesem Hause wahrzunehmen haben —, er zeigt auch, wie vielschichtig die Sorgen und Nöte vieler Bürgerinnen und Bürger sind, die sich mit Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag wenden.Im Hinblick darauf, daß unsere Arbeit mehr oder weniger unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet, da wir ja nicht die großen und entscheidenden nationalen Fragen unseres Landes diskutieren und entscheiden, sondern uns nur ganz einfach und bescheiden mit den kleinen und großen Dingen der Hilfesuchenden, also der einzelnen Bürger unseres Landes befassen und für diese Einzelfälle gute Lösungen suchen, begrüßen wir es, daß wir wenigstens heute in den Blickpunkt des Parlaments und auch der Öffentlichkeit gerückt werden.Der vorliegende Bericht aus dem Jahr 1992 macht, wie das die anderen Kollegen schon angedeutet haben, die Steigerung der Eingaben, die aus den neuen Ländern hinzugekommen sind, besonders deutlich. Ursache für diese Entwicklung ist in erster Linie die besondere Betroffenheit der in den neuen Ländern lebenden Menschen durch die im Zusammenhang mit der deutschen Einigung stehenden Veränderungen und die sich daraus ergebenden sozialen, wirtschaftlichen und auch rechtlichen Probleme.Ein Beispiel aus dem Bereich der Neuberechnung der Bestandsrenten aus den neuen Bundesländern. Eine Petentin aus Brandenburg, die bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte einen Antrag auf Witwenrente und auf Vorschuß gestellt hatte, bekam trotz mehrfacher Rückfragen nach Ablauf eines Jahres weder einen Rentenbescheid noch eine sonstige Mitteilung. Erst nachdem sich die Petentin hilfesuchend an uns, den Petitionsausschuß, gewandt und dieser das aufsichtsführende Bundesversicherungsamt eingeschaltet hatte, bewilligte die Bundesversicherungsanstalt rückwirkend einen Vorschuß mit einer Nachzahlung von rund 10 000 DM, so daß dem Anliegen der Petentin damit zunächst entsprochen werden konnte.Der Ausschuß hat sich daher in einschlägigen Fällen nachdrücklich dafür eingesetzt, daß durch Änderung der gesetzlichen Bestimmungen eine beschleunigte Bearbeitung möglich wird. Dieser Aufforderung hat die Bundesregierung inzwischen Rechnung getragen.Zahlreiche Eingaben betrafen auch Fragen der zukünftigen Ausgestaltung von Wiedergutmachungsansprüchen von Opfern des Nationalsozialismus in den neuen Ländern, denen nach dem Recht der damaligen DDR sogenannte Ehrenpensionen in Höhe von 1 700 bzw. 1 400 Mark der Deutschen Notenbank, so die DDR-Währung, zustanden, die nach dem Einigungsvertrag in dieser Höhe auch in D-Mark weitergezahlt wurden.Nach den Beratungen hierzu hatte man sich im Ergebnis auf eine grundsätzliche Vereinheitlichung der Leistungen an Verfolgte des Nationalsozialismus in den neuen und den alten Bundesländern verständigt und die Höhe der künftig als Entschädigungsrenten zu zahlenden Ehrenpensionen bei gleichzeitiger Dynamisierung dieser Leistung an Berechtigte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR generell auf 1 400 DM festgelegt. Gleichzeitig wurde die Neubewilligung einer Entschädigungsrente für solche Personen vorgesehen, denen eine Ehrenpension in der DDR aus rechtsstaatswidrigen Gründen versagt oder entzogen worden war. Außerdem wurde eine Ausschlußregelung für solche Personen eingeführt, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben oder in schwerwiegendem Maße ihre Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer mißbraucht haben. Damit werden Nutznießer des Regimes künftig von den Leistungen grundsätzlich ausgeschlossen.Eine andere Gruppe von Eingaben befaßte sich damit, daß ehemalige Richter und Staatsanwälte, die in sogenannten Unrechtsurteilen zu DDR-Zeiten mitgewirkt haben, strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden konnten, weil die Verjährungsfristen für die von ihnen begangenen Straftaten bereits abgelaufen waren. Der Petitionsausschuß ist an dieser Stelle sehr aktiv gewesen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Gero Pfennig, der dies für die Situation der Bürger der neuen Bundesländer hier deutlich artikuliert hat.
Ein erheblicher Anstieg der Zahl der Eingaben war 1992 schließlich auf massive Versäumnisse im Telekommunikationsbereich der ehemaligen DDR zurückzuführen, wobei zahlreiche Privatpersonen, insbesondere auch neugegründete Unternehmen aus den neuen Bundesländern, um Unterstützung bei der Einrichtung von Telefonanschlüssen baten.Ein Beispiel aus dem Bereich Telekom ist zu erwähnen, das, obwohl in der Zwischenzeit gütlich beigelegt, dennoch viel Unverständnis und Ärger hervorrief. Ein Rentnerehepaar, seit vielen Jahren im Besitz eines Telefonanschlusses, hatte monatlich ca. 45 DM als Gebühren zu bezahlen, und auf einmal war eine Fernmelderechnung in Höhe von 900 DM entstanden. Auf seine Beschwerde bei der Telekom hat dieses Rentnerehepaar die lapidare Antwort erhalten, daß eine Erstattung mangels fehlerhafter Feststellung und Berechnung der Gebühren nicht in Betracht komme. Erst nach Einschaltung des Petitionsausschusses war die Telekom zu einer Kulanzregelung und zur Erstattung des beanstandeten Betrages bereit.Das ist zwar ein Einzelfall gewesen, den ich gerade in Sachen Telekom sagte, aber es gibt eine nicht geringe Zahl weiterer Fälle, die eine ähnliche Problematik anschneiden, noch dazu, wo ich mich auf das Jahr 1992 beziehe und viele aktuelle, medienwirksame Berichte, die gerade in den letzten Tagen in dieses oder in jenes Haus flattern, nicht berücksichtigt habe. Es wird Aufgabe der Deutschen Bundespost und
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Martin Göttschingder Telekom sein, geeignete technische Maßnahmen zur Fehlerermittlung zu entwickeln, um Überforderungen der Telefonkunden künftig zu vermeiden. Eine ganze Reihe von Petitionsverfahren sind in dieser Sache noch anhängig.Zweierlei wollte ich deutlich machen: Zum ersten, daß es bei der Arbeit im Petitionsausschuß in der Regel quer durch die Fraktionen auf die praktische Arbeit, auf die sachgerechte Lösung der Einzelfälle ankommt. Dabei ist festzustellen, daß die Zusammenarbeit im Ausschuß, aber auch die Zusammenarbeit mit den Ministerien und den obersten Bundesbehörden im allgemeinen reibungslos erfolgt. Das schließt nicht aus, daß bei dieser Zusammenarbeit auch Probleme auftreten. Sicher ist es auch nicht in allen Einzelfällen so gut gelaufen, wie wir es uns im Ausschuß gewünscht hätten.Dennoch möchte ich diese Aussprache benutzen, der Bundesverwaltung und den Ministerien für die in aller Regel bereitwillige und auch für die Petenten hilfreiche Arbeit zu danken. In diesen Dank möchte ich auch und vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Petitionsbüros einschließen.
Ein zweites zeigt der Bericht ganz deutlich, daß nämlich der Petitionsausschuß mit seiner Arbeit nicht nur eine wichtige Aufgabe der Verwaltungs- und Gesetzeskontrolle erfüllt, sondern daß er vor allem auch ein wichtiges Bindeglied zwischen Staat und Bürger ist. Diese Brückenfunktion des Petitionsausschusses als unmittelbarer Ansprechpartner des Bürgers wird — wie die Entwicklung der Zahl der Eingaben zeigt — in zunehmendem Maße auch von den Bürgerinnen und Bürgern so gesehen und genutzt. In diesem Sinne ist die Arbeit des Ausschusses nicht zuletzt auch in besonderer Weise geeignet, einen Beitrag zur Stärkung des Ansehens und des Vertrauens der Bürger in das Parlament zu leisten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Barbe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte den Mitarbeitern des Petitionsausschusses und des Petitionsausschußbüros für ihre Arbeit herzlich danken, zumal es in einem Fall bei mir sogar ein Mißverständnis gab und ich den Mitarbeitern eine Schuld anlastete, die sie gar nicht hatten. Ich ging davon aus, daß sie den Petenten nicht verstanden hatten und deshalb das Votum anders ausfiel, als ich entschieden hätte. Es ist nun einmal so, daß auch sie sich an die ungerechte Gesetzeslage halten müssen und dann natürlich dementsprechend begründen müssen. Insofern sei es öffentlich gesagt, daß ich diese Arbeit sehr schätze und nicht nur zur Kenntnis nehme.Bürger wenden sich an uns, weil sie Ungerechtigkeit erleben. Die demokratische Gesellschaft kannUngerechtigkeit sicher nicht abschaffen; aber sie darf sie nicht hinnehmen. Sie muß die Möglichkeit garantieren, gegen Ungerechtigkeit zu protestieren und ihre Ursachen politisch zu bekämpfen.Im Petitionsausschuß erlebe ich mehr als in anderen Ausschüssen — deshalb mein Dank an Herrn Pfennig —, daß auch Kollegen und Kolleginnen der Koalition den Standpunkt derer einnehmen, die Ungerechtigkeit erfahren und empfinden, also die Perspektive der Opfer. Wir geben denen, die Ungerechtigkeit erfuhren, erst einmal Gehör, auch wenn die eine oder andere Klage ungerechtfertigt sein kann, und wir beschäftigen uns eingehend damit.Zahlreiche Eingaben aus den neuen Bundesländern erreichten uns, in denen befürchtet wurde, daß ehemalige Richter und Staatsanwälte, die an Unrechtsurteilen während des SED-Regimes beteiligt waren, heute strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden könnten, wenn Verjährungsfristen für die von ihnen begangenen Straftaten bereits abgelaufen sind. Hier konnte der Petitionsausschuß gegen die damalige Rechtsauffassung des BMJ darauf einwirken, daß ein Gesetz eingebracht wird, das diese Verjährungsfrist ruhen läßt. Der Bundesrat brachte dieses Gesetz ebenfalls ein, und wir verabschiedeten es im Januar.Die offenen Vermögensfragen in den neuen Bundesländern bereiten nicht nur Verdruß, sondern sind, von vielen Sachverständigen bestätigt, eine der Hauptursachen für den verschleppten sogenannten Aufschwung Ost. Viele Mieter und Nutzer von Westgrundstücken brachten und bringen ihre Ängste und Sorgen in ihren Petitionen vor den Ausschuß. Immer wieder bestätigt sich damit, daß das von der CDU/ CSU-F.D.P.-Koalition durchgesetzte Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" weit mehr zu existentiellen Sorgen und Ängsten führt, als es Positives bewirkt hat.Die bestehende Rechtslage führt leider zu größerer Wohnungsnot, zu gesteigerten Mietpreisen in Ballungsgebieten und zu Obdachlosigkeit, für die sich eine reiche Bundesrepublik eigentlich schämen muß. Am Wochenende findet in Berlin die „Nacht der Wohnungslosen" statt. Es reicht dann natürlich nicht, wenn die Bauministerin noch kurz vor der Veranstaltung die Schuld den Ländern und Kommunen in die Schuhe schiebt, nur um damit die zehnjährige falsche Wohnungspolitik zu verdecken. Obdachlose brauchen zuerst einmal Wohnungen und dann soziale Betreuung, nicht umgekehrt, Frau Schwaetzer.Wenn wir schon das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" als das seit drei Jahren vorherrschende Prinzip anerkennen, ist es erst recht unverständlich, wenn es bei den enteigneten Mauergrundstücken erst jahrelange Querelen zwischen den Betroffenen und der Bundesregierung um die Rückgabe gibt. Der Bau der Mauer war völkerrechtswidrig; wir wissen es alle. Er verstieß gegen den Berlin-Status der Vier Mächte. Was geschah damals? Häuser wurden abgerissen, Grundstücke planiert. Bewohner wurden ausgesiedelt; Entschädigungen gab es häufig wenig oder gar nicht. Die Enteignung erfolgte auf Grund des Verteidigungsgesetzes der DDR, das aber in Berlin ungültig war. Es waren keine korrekten Enteignungen, wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger behauptete.
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Angelika BarbeNach dem Grenzgesetz der DDR, das ja auch nicht gerade sehr demokratie- und eigentumsfreundlich war, war die Rückgabe der Grundstücke vorgesehen, falls der Enteignungsgrund wegfiele.
Das Berliner Abgeordnetenhaus hat sich in dieser Frage eindeutig für die Rückgabe entschieden. Ich bitte darum, daß Sie von der F.D.P. diese Entscheidung noch einmal prüfen und überdenken.Eine große Ungerechtigkeit besteht nach wie vor beim ersten Unrechtsbereinigungsgesetz. Wir erinnern uns an die nach Sibirien verschleppten Frauen, an das Schicksal der Eva Stege — das war eine Petition, die ich bearbeitet habe —, für die sich viele Künstler, Bürger aus den neuen Bundesländern eingesetzt haben. Sie sagten: Es kann doch nicht sein, daß diese Frauen, besonders die, die verschleppt und vergewaltigt worden sind, noch immer nicht berücksichtigt wurden.
Eva Stege erzählte, wie es ihr nach der Wende in der DDR ergangen ist. Ich lese Ihnen einmal eine kurze Passage vor:Männer durften ja von ihrer Soldatenzeit reden. Sie durften von Gefangenschaft reden. Das gehörte eben zu einem Mann, daß er Soldat war. Und ich erinnere mich an ein Erlebnis, da saßen so zwei, drei Männer zusammen, auch ein Gewerkschafts- oder Parteifunktionär, und die Männer erzählten, wie schrecklich sie gelitten haben in Sibirien, bis ich dann sagte: Na ja, ich war auch in Sibirien. Eigentlich sehr schüchtern sagte ich das. Und da sagte dieser Funktionär: Die Freunde haben niemanden nach Sibirien gebracht, der nichts verbrochen hat. Das stand fest. Wer in Sibirien war als Zivilist, mußte ein Nazi gewesen sein oder zumindestens Verbrechen begangen haben. Und mit diesem Makel habe ich dann 40 Jahre hier gelebt.Ich muß sagen, wir können dankbar sein, daß diese Frau noch heute den Mut hat, sich aufzulehnen und zu sagen: Dieses Unrecht muß irgendwann einmal ein Stückchen wiedergutgemacht werden.
Zur Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern gäbe es sehr viel zu sagen. Zur Besetzung der Arbeitsämter sage ich heute nichts. Da gibt es eine Petition von mir, die ich an die Bundesanstalt nach Nürnberg geschickt habe, mit der Bitte, doch noch einmal die Überprüfung der Leute, die dort sitzen, vorzunehmen. Denn noch immer gibt es Bürgerinnen und Bürger, die zu uns kommen und unter vier Augen sagen: Den und den habe ich vorher in höherer Funktion erlebt, und weil heute diese Leute wieder in höheren Funktionen im Arbeitsamt sitzen, kriege ich keine Arbeit. — Dieses Problem sollten wir nicht vergessen.Heute häufen sich Beschwerden, bei denen es um die Förderung geht. Da fallen Stellen weg, wenn essich um die Bereiche Frauen, Jugend, Soziales, Umwelt und Kultur handelt. Ich appelliere noch einmal an Sie, meine Kolleginnen und Kollegen: Geben Sie den Weg frei für eine Arbeitsmarktabgabe! Wenn ich bei uns zu Hause erkläre, daß wir als Abgeordnete, daß Selbständige und Minister keinen Beitrag in die Arbeitslosenversicherung zahlen, dann stoße ich häufig auf Unverständnis. Ich sage Ihnen: Mit 4,5 Milliarden DM, die wir in einem Jahr zusätzlich zur Verfügung hätten, könnten wir sehr viel auf dem zweiten Arbeitsmarkt fördern.
Die Bearbeitungsdauer von Rentenanträgen hat uns sehr lange beschäftigt. Wir sind an dieser Stelle parteiübergreifend tätig geworden, und dafür danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen. Aber diese Beschwerden häufen sich noch immer. Ich war gestern mit einer Besuchergruppe im Ministerium für Arbeit und Sozialordnung. Nach wie vor klagen die Bürgerinnen und Bürger darüber, daß es anderthalb bis zwei Jahre dauert, bis die Rentenanträge bearbeitet werden, daß sie — gegen das Gesetz — keine Vorschußleistungen bekommen und einfach nicht wissen, wie sie überleben sollen, denn sie sind auf dieses geringe monatliche Einkommen angewiesen.Die Ungerechtigkeiten im Rentenrecht betreffen auch etwas Strukturelles, und zwar vor allem die Frauen. Wir erinnern uns an das Bundesverfassungsgerichtsurteil vor einem Jahr, das Trümmerfrauenurteil. Auf unsere mehrmalige Nachfrage, wie es nun mit der Umsetzung des Urteils durch die Bundesregierung steht, daß Kindererziehungszeiten auch im Rentenrecht mitbeachtet werden, erhielten wir die Auskunft, ja, man würde es in Zukunft berücksichtigen. Auf meine gestrige Nachfrage bekam ich die Auskunft: Still ruht der See; tun Sie doch etwas, machen Sie politisch Druck! Auch hier fordere ich meine Kolleginnen und Kollegen auf, tätig zu werden und die Bundesregierung zum Handeln zu bewegen.Wie sah es mit den Eingaben in der Verfassungskommission aus? Konrad Weiß hat darauf hingewiesen, und auch für mich ist es ein Ärgernis, wenn die Forderung von über 140 000 Zuschriften, der Tierschutz gehöre in die Verfassung, nicht erfüllt, sondern einfach ad acta gelegt wird. Die Abstimmung in der letzten Woche war wirklich ein trauriges Kapitel in der Geschichte der Verfassungskommission. Dazu gehört auch der Art. 6. Wir Frauen wissen, wovon wir reden, wenn wir bedauern, daß Kindererziehungsleistungen, Pflegeleistungen wieder nichts gelten sollen. Ich denke, hier sind Chancen vertan worden, ostdeutsche Impulse aufzunehmen und das Selbstbewußtsein zu stärken.Ich möchte nicht — jetzt kommt ein makabrer Witz —, daß Bürger über das Parlament oder die Bundesregierung dann nur noch sagen: Besteht unsere Regierung aus Wissenschaftlern oder aus Politikern? Natürlich aus Politikern; denn Wissenschaftler machen ihre Experimente mit weißen Mäusen.Damit es nicht dazu kommt, daß die Bevölkerung uns nicht mehr ernst nimmt, bitte ich Sie, tätig zu werden. Wir haben im Ausschuß erlebt, daß manches Mal durch Recht Ungerechtigkeit erzeugt wird. Des-
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Angelika Barbehalb dürfen wir politisch Verantwortlichen Ungerechtigkeiten nicht aus Bequemlichkeit als Schicksal hinnehmen, sondern müssen auf die Zeichen von Zivilcourage hören, die in allen Petitionen zum Ausdruck kommen. Sich in eigenen Angelegenheiten zu wehren, sich für die Abschaffung von Mißständen einzusetzen, diese erste Bürgerpflicht des Sicheinmischens wird von unseren Bürgern wahrgenommen. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin zu handeln.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In großer Geschlossenheit haben alle Fraktionen unserem Ausschußdienst Dank ausgesprochen. Ich schließe mich dem an und möchte als ein Kollege aus den neuen Bundesländern, der das erste Mal mit der Bearbeitung von Petitionen beauftragt worden ist, darüber hinaus mitteilen, daß ich von der Vorbereitung der Petitionen, die uns zugehen, sehr fasziniert bin. Die Gesetze werden ausgereizt, um den Petenten doch noch irgendwo zu helfen. Gerade die Wechselwirkung zwischen Petitionen einerseits und einer möglichen Gesetzesänderung auf der anderen Seite hat in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung. Gerade durch die Petitionen, indem wir Material an die Bundesregierung überweisen und den Fraktionen zur Kenntnis geben, gelingt es uns, zu kanalisieren, welche Gesetzesänderung in dem einen oder anderen Fall notwendig ist.
Zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, dem Bereich, zu dem neben dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen nun einmal die meisten Petitionen eingegangen sind, wurde an dieser Stelle von allen Fraktionen schon einiges gesagt. Ich möchte besonders auf Probleme, die Petenten aus den neuen Bundesländern vorgebracht haben, Bezug nehmen.Zu Beginn des Jahres 1992 wurden Petitionen zum Bereich der Sozialordnung eingereicht, die in besonderem Maß auf die Rentenumwertung bzw. Rentenneuberechnung Bezug nahmen. Folgende Anliegen wurden mit den Eingaben zum Rentenüberleitungsgesetz verfolgt: Bestandsrentner der neuen Bundesländer führen darüber Beschwerde, daß die zum 1. Januar 1992 durch das BMA in Aussicht gestellte Erhöhung der Rente in Höhe von 11,65 % für sie keine Auswirkungen hatte bzw. sich nur in Pfennigbeträgen ausdrückte. Zahlreiche Petenten aus den neuen Bundesländern klagen an, daß mit der erfolgten Rentenanpassung die gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht aufgefangen werden können. Von einer großen Anzahl der Petenten wird das bei der Rentenumwandlung zugrunde gelegte Einkommen kritisiert. So wird die Zugrundelegung der letzten 20 Arbeitsjahre vor dem Rentenbeginn mit einem Einkommen von 600 DM bei der Rentenumwertung als diskriminierend bezeichnet, da mit diesem Ansatz die eigentliche Arbeitsleistung keine Berücksichtigung findet. Kritisiert wird ferner, daß bei den ehemals sonderversorgten Personen bezüglich der maschinellen Umstellung der überführten Leistung eine um 20 % tiefere Bewertung erfolgte. Mehrere Petenten kritisieren, daß bei der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem und der freiwilligen Zusatzrentenversicherung die Beitragsleistungen letzterer keine Berücksichtigung fanden. Petenten als Rentner mit Zusatzversorgung kritisieren, daß ihnen bei den Rentenanpassungen die Erhöhung ihrer Grundrente auf die Leistung aus der Zusatzversorgung angerechnet wurde. Es wird geltend gemacht, daß die Versorgungsleistungen auf Grund von Beitragszahlungen erworben wurden. Eine Abschmelzung der Versorgungsleistungen beeinträchtige sie daher in ihren Eigentumsrechten.Frau Barbe hat schon angesprochen, daß besonders von Frauen aus den neuen Bundesländern darauf hingewiesen wird, daß bei der Rentenumwertung bzw. der Rentenberechnung nach dem 1. Januar 1992 pro Kind nur noch ein Kindererziehungsjahr angerechnet wird. Die Gesetzgebung der ehemaligen DDR ermöglichte dagegen die Anerkennung von bis zu drei Jahren pro Kind bei der Rentenberechnung. Als unverständlich wird die Tatsache bewertet, daß Frauen pro Kind drei Jahre Erziehungszeit angerechnet bekommen, wenn die Geburt nach dem 1. Januar 1992 erfolgte.Diese und ähnliche Petitionen wurden der Bundesregierung, dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, als Material überwiesen und den Fraktionen zur Kenntnis gegeben, damit sie bei künftiger Gesetzgebung berücksichtigt werden.Eine große Anzahl von Petenten mit Zusatzversorgungen, besonders der Intelligenz, klagen gegen die Bewertung des Arbeitsentgeltes bei der Rentenneuberechnung und gleichzeitig die Zahlbetragsbegrenzung auf 2 010 DM sowie die entsprechenden Höchstbeträge für Hinterbliebene. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte geht davon aus, daß etwa 3 500 Rentnern aus den neuen Bundesländern die ihnen zustehende höhere Rente auf 2 010 DM gekappt worden ist. Dank des Drucks der Petenten und der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom Januar 1993 wurde unter — dies muß man hier einmal so deutlich sagen — Einwirkung des Petitionsausschusses die Kappungsgrenze auf 2 700 DM angehoben. Damit konnte in Verbindung mit dem Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz dem Begehren der Petenten hinsichtlich einer Rentenerhöhung über die Kappungsgrenze von 2 010 DM hinaus entsprochen werden.Andere Petitionen bezogen sich z. B. auf die Anerkennung einer Rentenbezugszeit bei der Umwertung der Rente bzw. einer Vorschußzahlung auf eine Altersrente sowie die Durchführung eines Rentenfeststellungsverfahrens nach Wechsel der Zuständigkeit. Bei den genannten Petitionen konnte dem Begehren der Petenten ebenfalls entsprochen werden.Bei der Petition zur Anerkennung einer Rentenbezugszeit bei der Umwertung der Rente wandte sich eine Petentin aus Dresden an den Petitionsausschuß mit der Bitte um Überprüfung ihres Rentenanspruchs. Die Petentin hatte von 1941 bis 1945 und von 1961 bis
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Dr. Karlheinz Guttmacherzum Erreichen ihrer Altersgrenze 1986 als Drogistin in Dresden gearbeitet. Durch einen Bombenangriff auf Dresden im Jahr 1945 wurde sie in einer Form verletzt, daß sie ab 1945 eine Invalidenrente bezog. Bei der Umwertung der Rente wurde die Zeit, während der sie eine Invalidenrente bezog, aber nicht angerechnet. Daher wandte sich die Petentin an den Petitionsausschuß, ihr dahin gehend behilflich zu sein, daß die Zeit des Invalidenrentenbezugs zusätzlich zu den Arbeitsjahren als Zurechnungszeit angerechnet wird. Im Rahmen der Überprüfung durch das vom Petitionsausschuß eingeschaltete Bundesversicherungsamt wurde Abhilfe geschaffen und ihr zugesichert, daß die Zurechnungszeit gemäß § 307 a SGB VI Anerkennung findet.In dieser Form, meine Damen und Herren, könnten eine Reihe von Petitionen vorgestellt werden, bei denen wir dem Begehren der Petenten entsprechen konnten.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Gertrud Dempwolf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Weiß, Sie haben vorhin in Ihrer Rede den schwarzen Block beklagt. Ich beklage, daß Sie sowenig Zeit für den Petitionsausschuß haben.
Denn wenn wir öfter Ihren Rat mit hören könnten, dann gäbe es auch die Möglichkeit, daß Sie dem schwarzen Block manchmal beitreten. Vielleicht machen wir das in Zukunft so.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, über die Vielzahl der Petitionen wurde bereits gesprochen. Aber auch bei ständig steigenden Zahlen von Petitionen sehen wir uns verpflichtet, gründlich und sachlich eine Lösung im Sinne des Petenten anzustreben. Wir arbeiten bürgernah und können der sogenannten Politikverdrossenheit so am besten begegnen.Zum einen sehe ich die hohe Anzahl von Petitionen als ein gutes Zeichen für die Bereitschaft unserer Bürger, sich mit gesellschaftspolitischen Problemen auseinanderzusetzen. Zum anderen offenbaren uns die Petitionen in der Regel, wo das Gerechtigkeitsgefühl des Petenten verletzt ist. Natürlich können wir nicht jedem Petenten weiterhelfen, das zu bekommen, was er für sich persönlich als Recht betrachtet. Aber wer unseren Jahresbericht liest, der wird keinen Zweifel daran haben, daß es auch 1992 wieder eine Fülle von Fällen gab, in denen wir konkret Einfluß genommen und auch geholfen haben.Es ist schon mehrfach gesagt worden: Unsere Arbeit wäre nicht möglich ohne die gründliche und engagierte Vorarbeit des Ausschußdienstes. An dieser Stelle möchte ich Ihnen ganz herzlich danken.Ich möchte auf einige Petitionen eingehen, die uns besonders beschäftigt haben. Eine Petition bezog sich darauf, daß ein Arbeitsamt die Förderung einer Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation eingestellt hat. Eine ehemalige Friseuse konnte ihren Beruf auf Grund einer Allergie nicht mehr ausüben und hatte eine Umschulung zur Augenoptikerin begonnen. Anfängliche Bedenken wegen der gesundheitlichen Eignung der Petentin waren durch ein arbeitsamtsärztliches Untersuchungsergebnis ausgeräumt worden. Das Arbeitsamt bewilligte die Umschulung, hatte jedoch noch keinen Kostenträger gefunden.In der Folgezeit wurden zunächst auf Veranlassung verschiedener mutmaßlicher Kostenträger sechs weitere ärztliche Gutachten über die gesundheitliche Eignung der Petentin erstellt, die zu widersprüchlichen Ergebnissen führten. Daraufhin stellte das Arbeitsamt die Förderung der Umschulungsmaßnahme ein.Als Berichterstatter suchten Herr Büttner und ich das Gespräch mit der Petentin und stellten fest, daß sie inzwischen ihre Umschulung beendet hat, in dem angestrebten Beruf als Augenoptikerin zufrieden arbeitet und keine gesundheitlichen Beschwerden hat. Wir fragen uns, ob die Gutachter die Petentin wirklich persönlich gesehen und untersucht haben. Wir stehen weiter zu unserem Berücksichtigungsbeschluß.
Noch im vergangenen Jahr hat Frau Klemmer beklagt, daß berechtigte Petitionen in den Ausschüssen auf Eis liegen. Liebe Frau Klemmer, auch dieses Problem haben wir geregelt. Wir haben es gestern erlebt — Frau Seuster hat es vorhin schon erwähnt —: Gerade haben wir im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, dem ich angehöre, durch Überweisung einer Petition nach § 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages einen Entschließungsantrag erwirkt, der einstimmig angenommen wurde und gestern hier im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit dem Opferentschädigungsgesetz einstimmig verabschiedet wurde. Bei diesem Entschließungsantrag geht es um die Entschädigung für Deutsche, die im Ausland Opfer einer Gewalttat werden und von dort keine oder keine angemessene Entschädigung erhalten. Wir versuchen, durch diesen Entschließungsantrag weitere Hilfeleistungen außerhalb des Opferentschädigungsgesetzes zu bekommen.
Dem Bericht der Bundesregierung über Gewalttaten gegen Deutsche im Ausland und den Vorschlägen zur Abhilfe sehen wir entgegen.Meine sehr verehrten Kollegen, wenn wir heute morgen in den Nachrichten hören, daß in Amerika eine deutsche junge Frau aus Hannover heute nacht
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14318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Gertrud Dempwolftödlich verunglückte oder Opfer einer Gewalttat wurde, dann wissen wir, wie richtig wir hier liegen.
Ich hebe nochmals hervor: Die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Petitionsausschuß und Fachausschuß hat auch in dem Fall der Opferentschädigung das Gerechtigkeitsgefühl des Petenten wieder ins Lot gebracht.Ich möchte noch einmal betonen, daß auch das gute Miteinander der Kollegen über alle Fraktionsgrenzen hinweg ein sehr gutes Beispiel für zukünftige Arbeit ist.Eine Petition möchte ich Ihnen noch vorstellen, die uns mit Berücksichtigungsbeschluß bereits seit 1990 begleitet. Im März hatten wir einen Ortstermin, bei dem das Anliegen einer Bürgerinitiative betreffend Lärmsanierung an vorhandenen Schienenwegen auf seine Berechtigung hin zu prüfen war. Auf der fraglichen Strecke verkehren in Abständen von etwa drei Minuten Güterzüge mit extrem hohen Lärmemissionen für die Anlieger. Diese Emissionen würden bei einer Neubaumaßnahme zu wirksamen Schallschutzmaßnahmen führen. Trotz vieler Absichtserklärungen der Fraktionen und des Staatssekretärs des Bundesministers für Verkehr, baldmöglichst Mittel im Haushalt bereitzustellen, müssen wir zu unserem großen Bedauern zur Kenntnis nehmen, daß die Finanzlage des Bundes es nicht zuläßt, 1993 und 1994 Finanzmittel für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen.Um aber auf das dringliche Problem und berechtigte Anliegen der Bürgerinitiative hinzuweisen, wurde die Bundesregierung mit erneutem Schreiben des Petitionsausschusses aufgefordert, im Falle eines zu erstellenden Lärmsanierungsprogramms die genannte Petition vorrangig zu berücksichtigen. So hat der Berücksichtigungsbeschluß des Deutschen Bundestages von 1990 weiter Gültigkeit.Sie sehen daran, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Der Petitionsausschuß läßt nicht locker und verfolgt berechtigte Anliegen auch über sehr viele Jahre hinweg.
Vielleicht noch ein Wort: Ich gehöre dem Petitionsausschuß nunmehr seit fast zehn Jahren an. Ich habe nirgendwo soviel gelernt, und ich habe nirgendwo soviel Kontakte zum Bürger und zur Basis, so daß man das Gefühl der Bürgernähe voll ausleben kann.Danke schön.
Meine Damen und Herren, bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, möchte ich das Haus über die Geschäftslage kurz unterrichten. Der Ältestenrat hat beschlossen, den Tagesordnungspunkt 12 doch noch zu behandeln. Unsere Debatte reicht dann etwa zehn Minuten — wenn sich die Redner kurz fassen, vielleicht weniger — in die Zeit hinein, für die Fraktionssitzungen vorgesehen sind. Wenn wir den Tagesordnungspunkt 12 nicht aufrufen, fallen zu viele Tagesordnungspunkte unter den Tisch. Deswegen scheint uns das ein vernünftiger Vorschlag zu sein. Wir haben die herzliche Bitte an alle Redner zum Tagesordnungspunkt 12, möglichst kurz zu reden, so daß nicht zuviel Debattenzeit in die Zeit der Fraktionssitzungen fällt.
Dann darf ich die nächste Rednerin aufrufen. Frau Abgeordnete Jutta Müller hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahresbericht des Petitionsausschusses, den wir heute hier debattieren, findet sich der Satz:Der Ausschuß versteht sich in erster Linie als „Anwalt der Bürger".Vor allem, was die Einzelfallprüfungen und die Suche nach Lösungsmöglichkeiten angeht, glaube ich, daß der Ausschuß sehr gute Arbeit geleistet hat und auch immer noch leistet. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sehr häufig fraktionsübergreifend, über Parteigrenzen hinweg nach Lösungen gesucht wird. Nur, wenn wir uns schon parteiübergreifend auf Lösungen einigen, ist es natürlich ganz besonders ärgerlich, wenn gemeinsam von uns gefaßte Beschlüsse von der Bundesregierung, auch wenn es um sinnvolle Maßnahmen geht, verschleppt werden.Ich bin Ihnen ganz besonders dankbar, Frau Dempwolf, daß Sie gerade den Komplex Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen ansprechen. Dieses Thema begleitet uns schon lange. Wir haben nicht nur die Petitionen aus 1990 nicht erledigt, sondern es gab mittlerweile auch eine ganze Reihe von weiteren Petitionen, die andere Strecken betreffen.Bei der zur Zeit geltenden Rechtslage, daß ein Rechtsanspruch auf Lärmschutz — natürlich bei Überschreiten bestimmter Grenzwerte — an den bestehenden Schienenwegen nicht besteht — ein Rechtsanspruch besteht nur bei Neubau und bei wesentlichen Veränderungen —, könnte den Betroffenen allerdings damit geholfen werden, daß ein gesonderter Titel für diese Maßnahmen im Haushalt des Bundesministers für Verkehr eingestellt würde. Wir haben das als Petitionsausschuß einstimmig empfohlen.Nun hat bei den Beratungen zum Haushalt 1993 die Mehrheit der Koalitionsfraktionen zum zweitenmal nach 1992 entgegen ihren eigenen Aussagen die Einführung eines gesonderten Haushaltstitels zur Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen verhindert. Ein entsprechender Antrag der SPD-Fraktion wurde abgelehnt.Ein Programm zur Lärmsanierung würde nicht nur den Betroffenen helfen, sondern wäre auch ein wesentlicher Beitrag zur Akzeptanz des öffentlichen Schienenverkehrs. Dies ist wichtig, denn zumindest verbal sind wir uns hier im Haus einig, daß wir mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene verlegen wollen.Nun hat uns der BMV, wie im Bericht zu lesen, mal wieder auf das Haushaltsjahr 1994 vertröstet. Also warten wir mal mit Spannung auf die nächste Abstimmung im Verkehrsausschuß! Aber vielleicht schärft die Tatsache, daß 1994 ein Wahljahr ist, das Problem-
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bewußtsein in den Koalitionsfraktionen. Dieses Problembewußtsein ist im Petitionsausschuß offensichtlich vorhanden. Den Betroffenen, denen wir helfen wollen, wäre dies nur zu wünschen.
— Wenn ich etwas zu Eisenbahnstrecken sage, Herr Nolting, dann möchte ich auch noch etwas zu Straßenbauprojekten sagen. Ich möchte das auch sagen, weil die SPD-Fraktion zur Finanzierung der Lärmsanierung vorgeschlagen hat, Mittel aus dem Straßenbau umzuschichten. Es gibt zahlreiche Eingaben, die sich mit Straßenbauprojekten befassen. Die einen wollen, daß bestimmte Maßnahmen ohne zeitliche Verzögerungen realisiert werden, und es gibt auch zahlreiche Eingaben, die sich gegen Projekte wenden. Ich habe bei der Entscheidung über solche Petitionen immer ziemlich große Schwierigkeiten, weil der einfache Blick auf die Landkarte nicht genügt, um beurteilen zu können, ob diese Maßnahme sinnvoll ist oder nicht. Das heißt, es müßte eigentlich dort, wo das Projekt ansteht, darüber diskutiert werden, ob die Maßnahme sinnvoll ist, ob sie das bringt, was man erwartet, ob Eingriffe in die Natur, die bei Straßenbaumaßnahmen immer vorkommen, gerechtfertigt sind. Nicht zuletzt muß auch die Frage, ob es Alternativen gibt, erörtert werden.Diese Aspekte können wir im Petitionsausschuß, auch wenn es sich um Bundesstraßen oder Bundesautobahnen handelt, von Bonn aus nur sehr schlecht beurteilen. Aus diesem Grund habe ich große Probleme mit der im Jahresbericht des Petitionsausschusses aufgeführten Petition „Weiterbau der A 98". Diese Eingabe wird als Beispiel herangezogen, um deutlich zu machen, daß „ursächlich für die Verzögerungen der Bauarbeiten das Planungsrecht des Bundes und des Landes ist". Weiter heißt es:Die Vorschriften des Bundesfernstraßengesetzes räumen z. B. zu viele Möglichkeiten ein, um gegen Planungen des Regierungspräsidiums in Freiburg als Planfeststellungsbehörde immer wieder rechtlich vorzugehen.Des weiteren begrüßt der Petitionsausschuß, daß die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Planungsverfahrens für Verkehrswege in den alten Ländern beschlossen hat. Ich habe mich damals schon im Ausschuß gegen solche Formulierungen ausgesprochen, erstens weil die A 8 ein denkbar schlechtes Beispiel ist und zweitens weil ich eine dumpfe Ahnung hatte, was da auf uns zukommt. Das schlechte Gefühl, das ich damals schon hatte, hat sich bestätigt. Der Gesetzentwurf zur Vereinfachung der Planungsverfahren für Verkehrswege liegt mittlerweile vor und soll noch heute nachmittag im Verkehrsausschuß beraten werden. Wenn man sich diesen Gesetzentwurf näher ansieht, kann man gleich sehen, was die Regierung will. Planungsverfahren sollen durch das Aushebeln von Bürgerbeteiligung beschleunigt werden. Das ist eigentlich der falsche Weg und müßte auch gerade den Mitgliedern des Petitionsausschusses zuwider sein.Ich möchte an dieser Stelle einmal den Kollegen Nolting zitieren,
der voriges Jahr gesagt hat — heute haben Sie das so ähnlich wiederholt —:
Die Beanspruchung des Petitionsausschusses durch die Bevölkerung sollte als Einflußnahme auf politische Entscheidungsprozesse gewertet werden. Für mich ist das ein Zeichen lebendiger Demokratie. Darauf sollten wir stolz sein. Wir sollten immer wieder darauf hinweisen.
Schön, Herr Kollege Nolting, wobei man natürlich berücksichtigen muß, daß Petitionen auch Ausdruck von Politikverdrossenheit sein können.
Nun hat aber die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, der in diesem Bereich genau das Gegenteil bewirken soll. Für direkt Betroffene vor Ort soll die vielbeschworene lebendige Demokratie unter dem Deckmantel der Verfahrensbeschleunigung abgeschafft werden. Ich denke, Verfahrensbeschleunigung muß dem Ziel dienen, mit einem Verkehrsprojekt verbundene Probleme schneller zu erkennen und zu bewältigen, nicht aber, sie zu ignorieren, und für letzteres wär die A 98 dann wieder ein gutes Beispiel.
Transparenz der Planung, frühzeitige Bürgerbeteiligung und demokratisch geregelte Mitwirkung der Öffentlichkeit wird ebenso unverzichtbar wie umfassende materielle Umweltverträglichkeitsprüfungen.
Wenn dieser Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, Realität wird, werden wir im Petitionsausschuß noch viel zu tun bekommen. Ich gehe aber davon aus, daß es zu diesem beschleunigten Verfahren keine Anregungen, sondern nur noch Beschwerden geben wird.Viele der Eingaben, die Straßenbau, aber auch Verkehr betreffen, sind von der Angst geprägt, daß unsere Umwelt irreparabel geschädigt und die Gesundheit der Menschen beeinträchtigt wird. Dies wird auch durch den starken zahlenmäßigen Anstieg der Eingaben untermauert, die den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit betreffen.Aus Zeitgründen möchte ich hier nur eine Petition herausgreifen, die auch ein bißchen mit dem Verkehrssektor zu tim hat. Es gab eine Petition, in der die Festlegung eines Ozonimmissionsgrenzwerts von 120 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft gefordert wurde — nach Meinung der SPD-Fraktion ein durchaus diskussionswürdiger Vorschlag, den wir unter-
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stützt haben. Die Mehrheit des Petitionsausschusses war allerdings dafür, die Petition abzuschließen; ein entsprechender Gesetzentwurf der SPD wurde im Umweltausschuß abgelehnt.Nun wissen wir aber, daß bei bestimmten Witterungsverhältnissen hauptsächlich der Autoverkehr für die Entstehung von bodennahem Ozon verantwortlich ist, und wir wissen, daß bodennahes Ozon besonders bei körperlicher Betätigung im Freien zu gesundheitlichen Problemen führen kann. Konsequenz aus der Verweigerungshaltung, hier Grenzwerte einzuführen: Wir empfehlen — das wird heute schon über verschiedene Medien gemacht, die die Werte veröffentlichen —, ab bestimmten Werten sich möglichst nicht mehr im Freien zu bewegen, also nicht mit dem Fahrrad zu fahren, sondern lieber das Auto zu benutzen. Käme diese Haltung der Mehrheit dieses Hauses in einer Petition zum Ausdruck, würde sie sicher im Jahresbericht des Petitionsausschusses unter die Rubrik „Kuriose und humorvolle Eingaben" fallen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
und bedanke mich gleichzeitig für die gute Zusammenarbeit im Ausschuß. Trotzdem muß man ab und zu den Finger in die Wunde legen und an Sie appellieren, Beschlüsse, die wir gemeinsam treffen, auch zu vollziehen.Herzlichen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Wolfgang Dehnel das Wort.
Ich hoffe, daß Sie es nicht als unzulässige Einmischung empfinden, wenn ich Ihnen sage, daß ich dankbar wäre, wenn Sie wie Ihre Vorrednerin Ihre Zeit nicht voll in Anpruch nähmen.
Ich werde das berücksichtigen.Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahresbericht 1992 des Petitionsausschusses gibt mir erstmalig auch die Chance, über die Aufarbeitung eines Stücks allgemeiner Politikverdrossenheit zu sprechen. Austritte aus Parteien, Kirchen und Gewerkschaften, die als Eckpfeiler in der Bastion der Demokratie stehen, bereiten mir als Demokraten besondere Sorge. Nun ist der Petitionsausschuß wiederum nur eine Zinne in dieser Bastion.Sicher haben manche Entscheidungen des Ausschusses nicht jeden Petenten zufriedengestellt. Aber es wurde in demokratischer Weise und in gegenseitiger Achtung um den Anschub von Problemlösungen gerungen und dann letztlich auch entschieden. Mit diesem Anschub der Bewegung setzte der Petitionsausschuß sichtbare Zeichen für Gesetzesinitiativen, aber auch Einzelfallentscheidungen.
Die Debatten zum Jahresbericht des Petitionsausschusses gehören gewiß nicht zu den sogenannten Sternstunden des Parlaments.
Diese haben aber wiederum oft nur den Glanz von Kometen, die schnell am politischen Himmel verglühen.
Vergleichbar ist die Arbeit des Ausschusses vielmehr mit dem zarten, aber ausdauernden Leuchten von Fixsternen.
Unser Vorsitzender, Herr Kollege Dr. Pfennig, hat es schon gesagt: 353 Fälle, in denen Petitionen der Bundesregierung zur Berücksichtigung, und 90 Fälle, in denen sie der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen worden waren, sind bis 1. Januar 1992 noch nicht endgültig abgeschlossen worden. Davon wurden aber bis 31. Dezember 1992 298 Berücksichtigungs- und 25 Erwägungsfälle positiv erledigt. Kann sich diese Erfolgsquote nicht sehen lassen?
Meine Damen und Herren, hinter dieser kühlen Statistik verbirgt sich viel Einsatz und Engagement der Mitarbeiter des Ausschußdienstes und der Bundesregierung, wofür ich mich im Namen meiner Kollegen und auch sicher vieler Petenten herzlich bedanken möchte.
Bei den Überweisungen zur Erwägung sind die Exekutive und die Legislative allerdings in der Pflicht, den Wirkungsgrad — das sage ich Ihnen hier als gelernter Techniker — spürbar zu erhöhen.Anschub zur Bewegung konnte der Ausschuß u. a. bei der Änderung zum Renten-Überleitungsgesetz, bei den Vorruhestandsregelungen, den Vertriebenengesetzgebungen, bei Entschädigungsleistungen, Umwelt- und Naturschutzmaßnahmen und vielen anderen parlamentarischen Initiativen leisten.Für mich sind aber diese mehr oder weniger positiven Ergebnisse dieser Arbeit nicht die wichtigste Erfahrung. Die Zahl der Petitionen hat sich vervielfacht. Damit ist die Zahl derer, die von diesem verfassungsmäßigen Grundrecht Gebrauch gemacht haben, stetig angewachsen. Diese Bürger und ihre Abgeordneten haben sich in einer Wechselbeziehung in unseren demokratischen Rechtsstaat eingebracht. Oftmals war dabei der Petitionsausschuß die Notruf-
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Wolfgang Dehnelsäule der Nation, die letztlich die Feuerwehr, sprich: die Bundesregierung und ihre Ämter, zum Löschen der Schwelbrände aufforderte.Viele Mandatsträger n unserem Land bewältigen so auf kommunaler, Landes- und Bundesebene ihre Pflichten und Hausaufgaben. Manche sind über das zähe Ringen, über mangelnde Entscheidungsentschlossenheit oder auch über demokratisch getroffene Entscheidungen — wenn ich nur an unsere Kreisreform denke — politikverdrossen geworden, wollen aufgeben oder aussteigen.Als ehemaliger DDR-Bürger und auch als Mitglied der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland weiß ich, daß Eingaben mit systemkritischem oder rechtsanzweifelndem Charakter eine StasiBespitzelung nach sich zogen. Auch deshalb sollten Demokraten ihre Plätze nicht den Demagogen und Despoten von morgen überlassen.
Denn gestern noch wurden Diktaturen bejubelt und Demokraten geschmäht. Die Demokratie müssen wir heute liebevoll hüten wie einen erzgebirgischen Bergkristall.
Lassen wir gemeinsam nicht zu, daß sie von Chaoten der Gewalt und des Hasses zerschlagen wird!„Wir wollen nicht nur reden, sondern bewegen", war mein Motto einer Rede am 5. November 1989 auf dem Marktplatz meiner Heimatstadt. Vieles ist seitdem auf wunderbare Weise in Bewegung gekommen. Nicht weniges wartet noch auf unseren gemeinsamen Anschub.Ich bedanke mich.
Herr Dehnel, auch ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Sie sind meiner Aufforderung bei Ihrer ersten Rede, die Sie hier im Hause gehalten haben, nachgekommen.
Ich hoffe, daß bei späteren Reden meine Nachfolger mit Ihnen ebenfalls keine Probleme haben.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 106 zu Petitionen — Drucksache 12/5050 —
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Der Ältestenrat hat eine Debattenzeit von einer halben Stunde vorgesehen. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. — Ich stelle das als beschlossen fest. Ich gehe davon aus, daß, wenn der eine oder
andere seine Rede zu Protokoll geben will, niemand etwas dagegen einzuwenden hat.
Zunächst darf ich nun dem Abgeordneten Martin Göttsching das Wort erteilen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der SPD — die sich gerade nachhaltig darüber freut, daß sie mich heute das zweite Mal hört —
hat die Aussprache über die Sammelübersicht 106 zu einer Petition zum Thema Asylrecht beantragt.Zur Sachlage: Der Petent ist pakistanischer Staatsbürger und Mitglied der sogenannten AhmadiyyaGlaubensgemeinschaft. Der Petent beanstandet die Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen einen Anerkennungsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.Im Juli 1991 erkannte das Bundesamt den Petenten als Asylberechtigten an. Hiergegen erhob der Bundesbeauftragte Klage. Das Verwaltungsgericht Hamburg gab der Klage statt und hob den Anerkennungsbescheid auf. Daraufhin wandte sich der Petent an den Petitionsausschuß des Bundestages und bat darum, den Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten anzuweisen, die Klage zurückzuziehen.Ich gestehe offen meinen Kollegen aller Fraktionen und Gruppen, daß es für mich schwierig gewesen ist, das Anliegen des Petenten möglichst objektiv und gerecht zu beurteilen. Dazu war ein gründliches und aufwendiges Studium sowohl der Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes wie auch des Bundesinnenministeriums und verschiedener Gerichtsurteile notwendig.Deshalb zum besseren Verständnis einige Anmerkungen zu den Anhängern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft, den Ahmadis: Der AhmadiyyaBewegung des Islams gehören ca. 4 Millionen Menschen an. Die Situation der Ahmadis ist auf Grund der zunehmenden Islamisierung in Pakistan kritisch. Die Ahmadis betrachten sich selbst als Muslime. Nach ihrem Glauben ist jedoch nicht Mohammed, sondern der vor 100 Jahren verstorbene Mirza Ghulam Ahmed der letzte Prophet.Aus diesem Grunde bestehen Konflikte mit orthodoxen Muslimen, die sich u. a. auch in gegen Ahmadis gerichteten Strafrechtsnormen niederschlagen. So ist es nach dem pakistanischen Strafgesetzbuch für Ahmadis verboten, ihre religiösen Führer mit islamischen Titeln anzusprechen, sich selbst als Muslime zu bezeichnen oder ihren Glauben zu predigen.Aus diesem Grunde erkannte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Petenten als Asylberechtigten an, obwohl er nicht glaubhaft machen konnte, einer individuellen asylerheblichen Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein. In Pakistan liege aber eine Gruppenverfolgung von Mitgliedern der Ahmadiyya-Gemeinde vor.
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Martin GöttschingDagegen führt der Bundesinnenminister in seiner Stellungnahme zu dem vorliegenden Fall aus, es lasse sich nicht feststellen, daß die Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft wegen ihrer Religion asylrelevanten Repressalien unmittelbar von staatlicher Seite ausgesetzt seien.Nicht stark religiös geprägte Ahmadis, die urverfolgt aus ihrer Heimat ausgereist sind — das trifft auf den Petenten zu —, haben derzeit in ihrem Heimatland wegen ihrer Religionszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine staatliche Verfolgung zu befürchten.Der Petent gab an, er habe sich durch die Verbotsnormen nicht in seiner religiösen Identität betroffen gefühlt. Der mithin unverfolgt ausgereiste Petent konnte sich auch nicht auf einen asylrechtlich beachtlichen Nachfluchtgrund berufen. Das heißt, es bestehe keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, daß er in Pakistan gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft Opfer einer staatlichen Gruppen- oder anlaßgeprägten Einzelverfolgung werden könnte. Ich beziehe mich nachdrücklich auf das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom September 1992. Der Petent sei innerlich nicht in einem solchen Maße mit der Glaubenslehre der Ahmadiyya verbunden, daß ihn die in Frage stehenden Strafvorschriften in seiner religiösen Identität träfen, wenn er in seine Heimat zurückkehrte.
— Herr Kollege, Sie können nachher Ihren Part zuspielen.Er hat zwar nachgewiesen, daß er Mitglied der Ahmadiyya-Bewegung ist. Er konnte aber nicht vermitteln, daß er seinen Glauben als so verbindlich empfindet, daß er dadurch in eine ausweglose Lage geriete.Er hat erkennen lassen, daß er zur Sicherung seiner materiellen Existenzgrundlage in der Bundesrepublik Deutschland bereit ist, Kompromisse bei der Erfüllung der nach der Glaubenslehre der Ahmadiyya und damit des Islams zwingenden religiösen Hauptpflichten einzugehen. Er führte aus, daß er sich zwar an den religiösen Veranstaltungen der Ahmadis in der Bundesrepublik beteilige, allerdings nur insoweit, als dies seine Arbeit in der Fabrik und seine zusätzliche Nebentätigkeit als Markthändler zulasse. Außerdem müsse er sich um seine Ehefrau sorgen, die Deutsche und nicht Mitglied der Ahmadiyya sei. Die täglich fünf Pflichtgebete könne er schon wegen seiner Arbeit nicht einhalten. Er verrichte ein Gebet, bevor er zur Arbeit gehe. Mit seiner Arbeit sei es ebenfalls nicht vereinbar, das Fasten im Fastenmonat Ramadan einzuhalten. Das ergebe sich schon aus der Notwendigkeit, bei Kräften bleiben zu müssen.Daß der Petent in der Glaubenslehre der Ahmadiyya nicht fest verwurzelt ist und daher am Rande dieser Glaubensgemeinschaft steht, wird durch eine Mitteilung der Ahmadiyya-Muslim-Jamaat vom 22. September 1992 bestätigt. Danach nimmt der Petent nur unregelmäßig an den Veranstaltungen der Gemeinschaft teil, und auch seine weitere Kooperation mit ihr ist dürftig.Für den Bundesinnenminister liegt auch deshalb keine mittelbare politische Verfolgung vor, weil diskriminierende Aktionen fanatischer Moslems nur temporär und lokal begrenzt stattfänden, so daß die betroffenen Ahmadis immer auch noch die Möglichkeit hätten, innerhalb ihres Heimatlandes ihren Wohnort zu wechseln.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesverwaltungsgericht hat mittlerweile in mehreren Leitentscheidungen eine Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan verneint, weil die konkrete Strafverfolgungspraxis in diesem Land eine tatsächliche Anwendung bestehender — objektiv gegen Ahmadis gerichteter — Strafrechtsnormen nicht erkennen lasse. Dieser Entscheidungslinie haben sich die Oberverwaltungsgerichte weitgehend — zum Teil mit Nuancen — angeschlossen.Auf Grund des von mir aufgeführten Sachverhaltes bleibt die Fraktion der CDU/CSU bei dem im Ausschuß gefaßten Votum, das Petitionsverfahren abzuschließen und es nicht, wie die Kollegen der SPD es wollen, zur Berücksichtigung zu überweisen, weil wir nicht wollen, daß mit dieser Einzelpetition Tür und Tor für vier Millionen Ahmadis in Deutschland geöffnet wird.
Nun hat der Abgeordnete Horst Peter das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Plenum des Deutschen Bundestages und der Petitionsausschuß werden sich in Zukunft häufiger mit Asylpetitionen zu beschäftigen haben. Wir haben heute eine Premiere. Wir haben es mit einer Auswirkung der neuen Asylgesetzgebung zu tun, wonach die Petitionsausschüsse der Länder bei Asylpetitionen ihre bisherige Tätigkeit praktisch an den Petitionsausschuß des Bundestages abgeben werden. Ich mache diese Vorbemerkung vor allen Dingen deshalb, weil ich der Auffassung bin, daß der Bundestag seine Kontrollrechte im Petitionswesen nicht schlechter wahrnehmen darf, als es die Petitionsausschüsse der Länder dankenswerterweise mit viel Arbeitsaufwand jahrelang gemacht haben.Bei der anstehenden Petition — der Kollege Göttsching hat den Sachverhalt dargestellt — geht es um die Rücknahme der Klage des Bundesbeauftragten. Wenn der Petitionsausschuß des Bundestages seine neue Aufgabe wahrnehmen will, dann wird er sich mit den Verfahrensweisen des Bundesbeauftragten für Asylfragen intensiv auseinandersetzen müssen, denn an dieser Stelle bietet sich uns der Ansatz, in die materielle Prüfung einzusteigen.Die Argumentationslinie des Bundesbeauftragten und des Innenministeriums bedarf einer kritischen Analyse. Es wird behauptet, daß die Petenten in der Vergangenheit keiner asylerheblichen Verfolgung ausgesetzt waren. Es wird ferner behauptet, daß unverfolgt ausgereisten Ahmadis im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine politische Verfolgung unmittelbar von staatlicher Seite drohe. Es werden Belege angeführt: Bislang bekanntgewordene Handhabungen der in Rede stehenden
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Horst Peter
Straftatbestände des pakistanischen Strafgesetzes — auch die Einführung der Scharia habe die Lage nicht wesentlich verändert — seien nicht Anlaß für Verfahren und für Strafen gewesen. Den Ahmadis stehe in Pakistan eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Das ist vom Bundesverwaltungsgericht in mehreren Leitentscheidungen in der Tat zum Anlaß genommen worden, eine Gruppenverfolgung der Ahmadis auszuschließen.Wenn man diese Argumentation mit dem vergleicht, was beispielsweise von amnesty international zu den Zuständen in Pakistan gegenüber den Ahmadis und der Verfolgungssituation ausgeführt wird, dann glaubt man, hier wird von einem anderen Land geredet. Die Berichte von amnesty international und auch die jüngsten Berichte des Auswärtigen Amtes gehen von einer Verschlechterung aus. Das Auswärtige Amt sagt, die Sicherheitssituation der Ahmadis in Pakistan sei prekär. Damit wird die Schutzfähigkeit des Staates gegen Ausschreitungen gegenüber Ahmadis in Zweifel gezogen.Von daher sind wir, die SPD-Gruppe im Petitionsausschuß, nicht davon überzeugt, daß in Pakistan die Sicherheit für Leib, Leben und Freiheit des Petenten und seiner Ehefrau gewährleistet wird. Wenn man diese Situationsberichte, die vom Auswärtigen Amt in einem Schreiben an den Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages gestützt werden, mit dem vergleicht, was dort gesagt wird, dann kann ich, dann können auch die Ahmadis und kann auch amnesty international nicht verstehen, warum Bundesinnenminister Seiters im Januar 1993 prüfte, Pakistan in die Liste verfolgungsfreier Staaten aufzunehmen. In diesem Kontext muß die Petition meines Erachtens beurteilt werden.
Nun hat der Kollege Göttsching ja die ständige Rechtsprechung herangezogen. Wenn man einmal ins Detail geht, dann stellt man fest, daß die KontraEntscheidungen, die von der Bundesregierung und vom Bundesbeauftragten herangezogen worden sind, überwiegend aus dem Jahre 1991 stammen. Demgegenüber hat die jüngere Rechtsprechung, beispielsweise der Hessische Verwaltungsgerichtshof im Oktober 1992, gesagt: Es ist erwiesen, daß in der Heimat mit politischer Verfolgung zu rechnen ist, wenn der Betroffene seine Religion im häuslich-privaten Bereich ausübt; d. h. auch dann, wenn er nicht nach außen aktiv, offen auftritt, sondern die Religionsausübung in dem privaten Umfeld betreibt, ist in Pakistan mit Verfolgung zu rechnen. Sie ist zumindest nicht auszuschließen.Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluß vom 21. September 1992, als es sich mit einer Vorlage eines Verwaltungsgerichts auseinandersetzen mußte, gesagt: Es gibt Zweifel an hinreichender Verfolgungssicherheit von Ahmadis. Es wird dem vorliegenden Gericht der Vorwurf gemacht, es habe gegen die Pflicht zu umfassender und erschöpfender Sachverhaltsaufklärung verstoßen.Das zusammengenommen bedeutet meines Erachtens, daß die Motivation des Bundesbeauftragten, mehr Klarheit in der Entscheidung herbeizuführen und auseinanderfallende Entscheidungen der unabhängigen Entscheider zusammenzuführen, durch den Trend der Rechtsprechung und durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht gedeckt ist, so daß nach unserer Auffassung hinreichend Grund dafür gegeben ist, diesen Berücksichtigungsbeschluß, wie wir ihn vorgelegt haben, auch tatsächlich vorzulegen.
Abschließend noch etwas zu einer beginnenden Auseinandersetzung mit der Praxis des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten betreffend Anfechtungsklagen. Ich behaupte: Wenn man sich die Praxis anschaut, so ist festzustellen — das hat die Bundesregierung mir gegenüber auf Grund mehrerer Anfragen belegt —, daß dem Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten eine politische Motivation, von dem Rechtsmittel Gebrauch zu machen, unterstellt werden kann.Die Anfechtungsklagen des Beauftragten bei anerkennenden Entscheidungen vom 1. Januar 1985 bis zum 31. März 1993 umfassen 21 % und im ersten Quartal 1993 35 %. Das heißt, 35 % der Anerkennungen in Asylverfahren werden vom Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten mit einer Anfechtungsklage überzogen.Bei ablehnenden Entscheidungen wurden im gleichen Zeitraum keine Rechtsmittel vom Bundesbeauftragten eingelegt. Dort wird darauf verwiesen, die Betroffenen würden sich privat ihr Recht suchen. Wenn man dann weiß — das ist mir in einer schriftlichen Anfrage von der Bundesregierung bestätigt worden —, daß der Bundesbeauftragte gehalten sei, in laufenden Asylstreitverfahren als Vertreter des öffentlichen Interesses die berechtigten Belange der Asylbewerber in jedem Einzelfall zu berücksichtigen, dann gerät diese Praxis zumindest in die Nähe von Zynismus.
Abschließend noch ein politisches Argument: Zum Zeitpunkt Februar 1993 sind 2 651 Anfechtungsklagen vor den Verwaltungsgerichten, 5 611 Berufsverfahren vor den Oberverwaltungsgerichten oder den Verwaltungsgerichtshöfen und 422 Revisionsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht durch den Bundesbeauftragten anhängig. Nach unserer Auffassung ist bei der Überlastung der Verwaltungsgerichte jedes Verfahren weniger ein Abbau des Entscheidungsstaus vor Gerichten
und ein zusätzlicher Grund, den SPD-Antrag anzunehmen.Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Birgit Homburger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Fraktionssitzungen schon laufen, will ich mich sehr beschränken. Der Herr Kollege Göttsching hat den Fall aus meiner Sicht bereits sehr zutreffend geschildert. Er hat damit auch die Begründung geliefert, warum wir nicht der Meinung sind, auf den Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten einwirken zu sollen, die Klage zurückzunehmen.
Eine Bemerkung zur Aufgabe des Bundesbeauftragten, die der Kollege Peter gerade angesprochen hat. Er ist vor allen Dingen dafür da, in Fällen, in denen in der ersten Instanz uneinheitlich entschieden wurde, eine einheitliche Rechtsprechung herbeizuführen. Insofern fände ich es sinnvoll, wenn der Bundesbeauftragte aus Gründen der Einheitlichkeit nicht nur bei Leuten Klage erheben würde, die anerkannt wurden, sondern auch bei denen, die abgelehnt wurden. Auch da gibt es die Begründung, mit der der Bundesbeauftragte aus meiner Sicht berechtigterweise seine Arbeit tut.
Ich empfehle daher für die F.D.P.-Fraktion, die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses anzunehmen und den Antrag der SPD abzulehnen. Ich gebe den Rest meiner Rede zu Protokoll.*)
Danke.
Ich bedanke mich sehr bei der Abgeordneten Homburger und rufe die Abgeordnete Frau Jelpke auf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meiner Meinung nach ist die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses in zweierlei Hinsicht exemplarisch für eine restriktive Asylpolitik der Bundesregierung. Knallhart gegenüber den Betroffenen und positiven Entscheidungen des Bundesamtes hat diese Linie dazu beigetragen, daß die Verwaltungsgerichte mit Zigtausenden Einspruchsbescheiden des Bundesbeauftragten überlastet sind.
In dem vorliegenden Fall der drohenden Verfolgung einer religiösen Minderheit wird zudem deutlich, wie der Bundesbeauftragte sein Amt und seinen Auftrag mißbraucht, um Flüchtlingen ihren Asylgrund abzusprechen. Aus diesem Grunde hat meine Gruppe den Antrag gestellt, das Amt des Bundesbeauftragten aufzulösen. Im übrigen haben auch zahlreiche Sachverständige in den Anhörungen zum Asylverfahrensgesetz ebenfalls diese Forderung unterstützt.
Meine Damen und Herren, der Sachverhalt, der hier zur Debatte steht, ist ganz einfach: Die Verfolgung der religiösen Minderheit, der die Antragsteller angehören, durch den pakistanischen Staat ist eigentlich unstrittig. Unstrittig ist ebenfalls, daß der pakistanische Staat dieser Minderheit die Todesstrafe androht. Belegt wird das nicht nur durch die Antragsteller selber, sondern auch durch Menschenrechtsorganisa-
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tionen und in diesem Fall selbst durch den Lagebericht des Auswärtigen Amtes. In der Begründung des Bundesamtes wird das auch klar herausgearbeitet.
Das Beharren des Bundesbeauftragten und der Mehrheit des Petitionsausschusses auf einer Grundsatzentscheidung zeigt, wie wenig der so hochgepriesene Grundsatz der Einzelfallprüfung im Asylverfahren wert ist. Dieses Beharren geht weniger von der tatsächlichen Verfolgungssituation aus und ist wohl geleitet vom Geisschen Naturrecht auf „Widerstand gegen Überfremdung".
Ich unterstütze deswegen den Antrag der SPD.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beanstandet ebenso wie die SPD, daß die hier zu behandelnde Petition abgeschlossen werden soll.Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtinge hatte das Asylbegehren der Petenten, die Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Pakistan sind, anerkannt. In der Begründung heißt es, den Antragstellern drohe bei Rückkehr nach Pakistan politische Verfolgung. Das Bundesamt hatte insbesondere darauf hingewiesen, daß das Grundrecht auf freie Religionsausübung in Pakistan nicht gewährleistet ist und daß die Ahmadis durch die erlassenen Rechtsvorschriften zunehmender unmittelbarer staatlicher Verfolgung ausgesetzt sind.Diese Bewertung des Bundesamtes wird durch Berichte des Auswärtigen Amtes und von amnesty international gestützt. Amnesty international weist insbesondere auf den neuen Paragraphen im pakistanischen Strafgesetzbuch hin, wonach vorgeschrieben ist, daß kriminelle Vergehen der Namensentweihung des Propheten Mohammed mit der Todesstrafe bestraft werden kann. Amnesty international berichtet außerdem, daß sich gegenwärtig viele Ahmadis in Haft befinden, nur weil sie ihre Rechte zur freien Glaubensausübung wahrnahmen. Ähnlich bewertet auch das Auswärtige Amt die Situation in Pakistan.Dennoch hat der Bundesbeauftragte eine Anfechtungsklage gegen die Entscheidung des Bundesamtes erhoben. Ich finde diese Klage skandalös, weil sie die unmittelbare Gefährdung von Leib und Leben der pakistanischen Asylsuchenden bewußt in Kauf genommen hat.
Als Ostdeutscher, der wegen seines Glaubens zwar nicht selbst verfolgt, aber der Benachteiligung ausgesetzt war, habe ich für das formalistische und menschenrechtswidrige Vorgehen des Bundesbeauftragten nicht das geringste Verständnis. Ebensowenig kann ich die hier vom Kollegen Göttsching erneut vorgetragene Haltung des Innenministers akzeptieren, der Ermittlungen über die Frömmigkeit der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993 14325
Konrad Weiß
Petenten angestellt hat, anstatt sich ernsthaft mit der Lebenssituation der Ahmadis auseinanderzusetzen.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mißbilligt ausdrücklich die Vorgehensweise des Bundesbeauftragten, der sich mit seiner Fehlentscheidung einmal mehr überflüssig gemacht hat, und schließt sich der Beschlußempfehlung der Mehrheit des Petitionsausschusses nicht an. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Petenten Asyl zu gewähren.
Bevor ich zur Abstimmung komme, möchte ich mich für die kooperative Haltung aller Redner bedanken.
Wir kommen nun zur Abstimmung, zunächst über den Änderungsantrag der SPD-Fraktion. Er liegt Ihnen vor auf der Drucksache 12/5218. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nunmehr über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf der Drucksache 12/5050 abstimmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? — Gegenprobe! — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche nunmehr die Sitzung bis 12 Uhr. Dann soll über den Somalia-Antrag diskutiert und abgestimmt werden, bis etwa 13 Uhr. Anschließend sollen die übrigen Tagesordnungspunkte in der Hoffnung erledigt werden, daß wir so früh fertig sind, daß die SPD ihren Parteitag noch pünktlich erreichen kann.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Beteiligung der Bundeswehr an UNOSOM II — Drucksache 12/5248 —
zu erweitern. Der Antrag soll jetzt gleich mit einer Debattenzeit von einer Stunde behandelt werden.
Tagesordnungspunkt 14 — es handelt sich um das Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuchs — soll abgesetzt werden.
Ich möchte die Zustimmung des Hauses dazu einholen. — Widerspruch erhebt sich nicht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Dr. Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hatte beim Bundesverfassungsgericht den Antrag gestellt, im Wege einer einstweiligen Anordnung den Beschluß der Bundesregierung vom 21. April 1993 über die Beteiligung an der Durchführung der Operation in Somalia auszusetzen und die Bundesregierung anzuweisen, bis zur Entscheidung in der Hauptsache die bereits in Somalia befindlichen Soldaten der Bundeswehr zurückzuziehen und keine weiteren Soldaten nach Somalia zu entsenden. — Das war der Antrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.Das Bundesverfassungsgericht hat auf diesen Antrag hin gestern abend entschieden, daß bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Beteiligung der Bundeswehr an UNOSOM II gemäß dem Beschluß der Bundesregierung aufrechterhalten und fortgeführt werden kann, wenn und soweit der Deutsche Bundestag dieser Entscheidung der Bundesregierung ausdrücklich und förmlich zustimmt.Damit diese förmliche Anforderung des Verfassungsgerichts erfüllt wird, bringen die Koalitionsfraktionen den Antrag, um den die Tagesordnung ergänzt worden ist, ein, daß der Bundestag dem Beschluß der Bundesregierung vom 21. April 1993 in vollem Umfang zustimmen möge, womit der Bundestag seine Entscheidung vom 21. April 1993, mit der er den Beschluß der Bundesregierung schon begrüßt und gebilligt hat, noch einmal ausdrücklich bekräftigt, bestätigt und wiederholt.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Dieses Urteil schafft Klarheit für die Soldaten der Bundeswehr, die einen schwierigen, nicht ungefährlichen, aber lebensnotwendigen Dienst in Somalia leisten, die dabei Anspruch auf die Unterstützung des Bundestags haben und die unseren Dank verdienen, den ich auch von dieser Stelle aus zum Ausdruck bringen möchte.
Die Bundesrepublik Deutschland leistet durch die Soldaten der Bundeswehr einen notwendigen Beitrag zur Hilfsaktion der Vereinten Nationen zugunsten der gequälten Menschen in Somalia. Das ist es, worum es geht. Hunger, Not, Tod und Elend haben Zehntausende von Menschen in Somalia das Leben gekostet. Die Vereinten Nationen mit Soldaten aus 30 Ländern haben einen erfolgreichen Dienst geleistet. Noch ist er nicht zu Ende; wenn er zu Ende wäre, bräuchten wir ja nicht über seine Fortführung zu beschließen. Aber es ist viel an Not, Elend und Leiden in den zurückliegenden Monaten gelindert worden, und es müssen weiterhin Not und Elend gelindert werden.
Es ist ein zutiefst humanitärer Einsatz, den die Soldaten der Bundeswehr und die Soldaten von 29 anderen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in Somalia leisten.Wir als Bundesrepublik Deutschland sind von den Vereinten Nationen dringend um die Beteiligung an dieser Aktion gebeten worden. Die Bundesregierung hat mit Unterstützung der Mehrheit des Bundestags beschlossen, diesen dringend notwendigen und geforderten Beitrag nicht zu verweigern. Die Soldaten
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14326 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Dr. Wolfgang Schäubleder Bundeswehr leisten ihn aus Überzeugung und aus freier Entscheidung, und sie leisten ihn großartig.
Der Antrag, den die Koalitionsfraktionen heute zur Beratung in den Bundestag einbringen, bietet den Sozialdemokraten die Chance, mit ihrer Zustimmung zu diesem Antrag zugleich ihre Unterstützung für den Einsatz der Soldaten der Bundeswehr in Somalia zum Ausdruck zu bringen. Ich lade Sie ausdrücklich ein, unserem Antrag zuzustimmen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von gestern abend stellt erneut klar, daß die Bundesregierung mit dieser Entscheidung wie mit anderen Entscheidungen nicht gegen das Grundgesetz verstoßen, sondern im Rahmen der Verfassung mit ihren Entscheidungen ihre Pflicht getan hat.
Deswegen finde ich, daß die Sozialdemokraten den verantwortungslosen Vorwurf des Verfassungsbruchs nicht mehr erheben sollten, sondern sie sollten ihn ausdrücklich zurücknehmen.
Herr Abgeordneter Schäuble, der Abgeordnete Schily möchte gern eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, dieselbe zu beantworten?
Bitte sehr.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Dr. Schäuble, soll ich Ihren letzten Ausführungen entnehmen, daß das Bundesverfassungsgericht gestern eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen hat?
Aber nein! Herr Kollege Schily, ich weiß nicht, ob Sie meinen Ausführungen von Anfang an zugehört haben. Ich habe ausdrücklich auch den Tenor des Urteils vorgelesen, daß bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Beteiligung der Bundeswehr aufrechterhalten und fortgeführt werden kann, wenn und soweit der Deutsche Bundestag dies ausdrücklich beschließt. — Sie brauchen mich über den Unterschied zwischen einstweiliger Anordnung und Entscheidung in der Hauptsache nicht zu belehren. Aber den Vorwurf, der aus Ihrer Fraktion erhoben worden ist, daß die Beteiligung von Soldaten der Bundeswehr an integrierten AWACS-Einsätzen oder die Beteiligung von Soldaten der Bundeswehr an UNOSOM II in Somalia ein Verfassungsbruch sei, können Sie nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts auch im einstweiligen Verfahren nicht mehr aufrechterhalten.
Herr Dr. Schäuble, sind Sie auch bereit, eine Frage des Abgeordneten Kolbow zu beantworten?
Bitte, gern.
Bitte sehr.
Herr Kollege Schäuble, wie beurteilen Sie im Zusammenhang mit Ihren gerade gemachten Ausführungen die Tatsache, daß in dem gestrigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts immer nur von der „Entsendung" deutscher Soldaten nach Somalia die Rede ist und offensichtlich bewußt der Begriff „Einsatz" vermieden wird?
— Lesen Sie das Urteil, Kolleginnen und Kollegen.
Wie beurteilen Sie im Lichte des jetzt von mir zitierten Satzes dieser Entscheidung Ihre Auffassung, die Sie gerade dargelegt haben, man könne nicht mehr von Verfassungsbruch sprechen, wenn das Verfassungsgericht sagt, Herr Kollege Schäuble: „Die umfassende Abwägung aller für und gegen diese Entsendung sprechenden Gründe bleibt dabei gewährleistet"?
Herr Kollege Kolbow, der erste Teil Ihrer Frage, warum das Gericht von Entsendung spricht, hat wohl etwas damit zu tun, daß der Antrag der SPD-Fraktion in Ziffer 2 lautet, den Antragsgegner anzuweisen, bis zur Entscheidung über den alsbald anzustrengenden Organstreit die bereits in Somalia befindlichen Soldaten der Bundeswehr zurückzuziehen und keine weiteren Soldaten nach Somalia zu entsenden. —Ein Gericht muß immer über den Antrag entscheiden.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage begrifft — das will ich Ihnen bei der Gelegenheit gern aus dem Urteil vortragen —, so sagt das Gericht unter Ziffer 3: In dem Organstreitverfahren wird es um die von der Antragstellerin für den Bundestag geltend gemachten Entscheidungskompetenzen bei der Beteiligung der Bundeswehr an Aktionen auf Grund der Charta der Vereinten Nationen gehen. — Das ist der Punkt, um den es nach Auffassung des Gerichts, wie ich Ihnen soeben vorgetragen habe, bei der Entscheidung in der Hauptsache gehen wird.Und dann sagt das Gericht, daß es bei der Prüfung im Rahmen der einstweiligen Anordnung die Abwägung vorzunehmen hat, welcher Nachteil größer ist: Wenn das Ergebnis sein sollte, daß sich bei der Entscheidung in der Hauptsache herausstellt, daß der Bundestag in einer anderen Weise als mit der Entschließung, die wir am 21. April im Bundestag gefaßt haben, zu beteiligen wäre, und kein förmlicher Beschluß ergangen wäre, dann wäre damit ein von Ihnen behauptetes Mitwirkungsrecht des Bundestags verletzt worden. Auf der anderen Seite sagt das Gericht: Wenn sich herausstellt, daß die Beteiligung des Bundestags nicht erforderlich bzw. die Beschlußfassung vom 21. April ausreichend war, dann ist kein großer Schaden entstanden, wenn der Bundestag noch einmal vorläufig ausdrücklich und förmlich
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Dr. Wolfgang Schäublezustimmt. — Deswegen bringen wir diesen Antrag ein. Das ist alles, was das Gericht entschieden hat.
Deswegen sage ich, Herr Kollege Kolbow, die Sozialdemokraten sollten den Vorwurf des Verfassungsbruchs ausdrücklich zurücknehmen. Es würde der Bereinigung in der inneren Auseinandersetzung dienen.
Ich finde, wenn man zum Gericht geht, dann sollte man das Urteil des Gerichts auch akzeptieren und respektieren.
Wenn man das höchste deutsche Gericht anruft — auch ich bin kürzlich erst Antragsteller in einem Verfahren gewesen —, dann sollte man eine Entscheidung des Gerichts auch dazu nützen, um auf der Grundlage der Entscheidung des Gerichts mehr Einigkeit und mehr Rechtsfrieden herzustellen. Dafür möchte ich gerade werben.
Deswegen sollten Sie die Versuche, Ihr Scheitern vor dem Verfassungsgericht in einen Erfolg umzudeuten, nicht fortsetzen; sie wirken übrigens eher lächerlich.
Das trägt zur Politikverdrossenheit bei.
Das, was Ihre Sprecher gestern abend geliefert haben, war eine solche Verdummbeutelung des Publikums, daß das wirklich nicht zu ertragen war.
Das sollte man dem mündigen Bürger nicht zumuten. Wenn man einen Antrag beim Verfassungsgericht stellt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, Soldaten zurückzurufen, dann kann man, wenn das Verfassungsgericht das Gegenteil entscheidet, nicht sagen, man habe einen großen Erfolg erzielt. Von der Sorte von Erfolgen wünsche ich Ihnen noch viele. Aber Sie sollten bei der Wahrheit bleiben!
Ich finde, wir sollten miteinander die Chance nutzen — ein solches Urteil bietet immer auch Chancen; Herr Kollege Schily, das wissen Sie; denn dafür haben wir die Gerichte —, mehr Rechtsfrieden herbeizuführen. Wir könnten und sollten den Streit über die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr so rasch wie möglich beenden, und wir sollten ihn in Bonn und nicht in Karlsruhe beenden.
Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. haben am 15. Januar einen gemeinsamen Antrag auf eine klarstellende Ergänzung des Grundgesetzes im Bundestag eingebracht. Eine Annahme dieses Antrags würde den Streit über die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr beenden können.
Es gibt manche, die sagen, nach den Urteilen des Verfassungsgerichts sei die Notwendigkeit für eine klarstellende Ergänzung des Grundgesetzes geringer geworden. Ich sage Ihnen für die CDU/CSU-Fraktion: Wir sind nach wie vor zu einer klarstellenden Ergänzung des Grundgesetzes zur Beendigung des Streits und auch zu jedem Zeitpunkt zu Gesprächen über den Inhalt einer solchen klarstellenden Ergänzung bereit. Wozu wir nicht bereit sind, Herr Kollege Verheugen, ist, die nach unserer Überzeugung nach dem Grundgesetz gegebenen Einsatzmöglichkeiten substantiell einzuschränken. Das ist keine klarstellende Ergänzung, und das ist nach den von Ihnen erwirkten Urteilen auch im einstweiligen Verfahren weniger denn je möglich.Was hat das Gericht denn in der Sache noch gesagt? — Das Gericht hat sehr deutlich seine Meinung zum Ausdruck gebracht — die von den allermeisten von uns und auch in unserer Bevölkerung geteilt wird —, daß diese Fragen nicht vor Gericht, sondern politisch im Deutschen Bundestag entschieden werden sollen.
Aber — das sagt das Gericht auch —, politische Entscheidung im Deutschen Bundestag heißt in der Demokratie, die Mehrheit entscheidet. Wer die Mehrheit ist, entscheidet der Wähler. Das ist das demokratische Prinzip.
Sie wollten bisher — auch mit Ihrem Antrag — eine Entscheidung durch die Mehrheit verhindern, indem Sie gesagt haben, es bedürfe eines verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahrens. Das Gericht sagt ausdrücklich: Die einstweilige Anordnung sichert somit nicht das von der Antragstellerin — das ist die SPD-Fraktion — geltend gemachte Recht, vor der Entsendung deutscher Soldaten nach Somalia ein Verfassungsänderungsverfahren durchzuführen.
— Ja. Aber weil dies so ist, sollten Sie nicht auf der Position beharren, daß Sie sagen: Für den Einsatz der Soldaten der Bundeswehr ist eine Verfassungsänderung notwendig.Sie ist wünschenswert, um den Streit zu beenden. Wir sind dazu bereit. Sie beharren ja nicht nur auf einer Verfassungsänderung, die den Einsatz in den integrierten AWACS-Verbänden verhindert. Ich habe Frau Fuchs in der vergangenen Woche gefragt, ob sie denn bereit sei, wenigstens durch eine Verfassungsänderung den Somalia-Einsatz in seiner jetzigen Form zu ermöglichen. Darauf hat sie gesagt, dazu wolle sie sich nicht äußern; das sei jetzt nicht die Frage. — Solange Sie noch nicht einmal diese Fragen beantwor-
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14328 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Dr. Wolfgang Schäubleten können, sind Sie nicht gesprächsfähig, nicht handlungsfähig und nicht entscheidungsfähig.
Ich sage noch einmal — und das hat das Gericht klar zum Ausdruck gebracht —, es soll in Bonn entschieden werden. Das heißt: Es soll mit der Mehrheit des Deutschen Bundestags entschieden werden. Dazu sind wir bereit. Wenn Sie wollen, möchten wir dies gemeinsam mit Ihnen auch durch eine Verfassungsergänzung im Grundgesetz klarstellen. Darüber sollten wir bald miteinander reden. Die Koalition, die CDU/ CSU-Fraktion ist dazu wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft bereit.Der Eindruck der Blockade deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist schädlich für die Bundesrepublik Deutschland nach innen und nach außen. Er sollte nicht länger fortbestehen.
Deutschland muß in einer Welt voller Krieg, Not und Elend seine Verantwortung tragen.
— Wie man am Tag nach einer selber beantragten Entscheidung des Verfassungsgerichts
mit so törichten und schäbigen Zwischenrufen die Debatte hier „bereichern" kann, ist mir unverständlich.
Das wirft ein eher besorgniserregendes Licht auf den Zustand der Sozialdemokraten.
Ich sage noch einmal: In einer Zeit, in der es zuviel Krieg, Not, Elend, Hunger und Tod in der Welt und in Europa gibt und in der Gefahren zuhauf auch für uns drohen, müssen die Deutschen ihren Beitrag im Rahmen der Vereinten Nationen für eine Zukunft mit mehr Frieden und mit mehr Sicherheit leisten. Wenn wir unseren Beitrag verweigern, machen wir uns schuldig. Deswegen muß die Blockade der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik beendet werden. Der Eindruck von Ohnmacht und Hilflosigkeit etwa der Europäer gegenüber dem elenden Krieg im früheren Jugoslawien sollte nicht länger fortbestehen.
Solange wir Deutschen nur an andere appellieren und selber einen uns angemessenen und möglichen Beitrag verweigern, leisten wir einen Beitrag zur Ohnmacht und Hilflosigkeit der zivilisierten Welt. Das darf nicht fortgesetzt werden.
Es reicht nicht aus, für den Frieden zu demonstrieren und sich zu entrüsten, wenn andere das tun, wozu wir selber unseren Beitrag verweigern. Das haben wir zu lange in der Vergangenheit gemacht. Das dürfen wir nicht fortsetzen. Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, werbe ich eindringlich dafür, daß auch wir unseren Beitrag im Rahmen der Vereinten Nationen leisten.
— Ich möchte keine Zwischenfragen mehr zulassen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie stehen am Beginn eines wichtigen Parteitages Ihrer Partei. Wir richten auch die Beratungen des Deutschen Bundestages darauf ein. Ich bedanke mich, daß Sie mitgewirkt haben, damit dieser Antrag heute schon in erster Lesung behandelt werden kann.Wir alle sollten die Entscheidung des Gerichts zum Anlaß nehmen, jetzt den Streit über diese Fragen zu beenden und die Bundesrepublik Deutschland handlungsfähig zu machen.
— Also, verzeihen Sie: Es fällt mir schwer, auszuhalten, daß Sie als Mitglied der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion den Einsatz von 30 Ländern im Rahmen der Vereinten Nationen in Somalia als eine PR-Aktion bezeichnen. Das ist wirklich eine Schande!
Ich wiederhole meine Bitte an Sie: Lassen Sie uns miteinander dieses Urteil zum Anlaß nehmen, den Streit zu beenden und die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland sicherzustellen, damit wir in Zukunft unseren Beitrag leisten können für eine Welt mit weniger Krieg, mit weniger Tod, mit weniger Elend und für eine Zukunft, in der Frieden und Freiheit für Deutsche und alle anderen Menschen in Europa und in der Welt eine größere Chance haben. Das ist das Gebot dieser Stunde. Ich bitte Sie herzlich darum.
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Günter Verheugen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Weil ich, wie der Kollege Schäuble, diese Stunde für ernst und wichtig halte, möchte ich das aufgreifen, was er zum Schluß gesagt hat, und den Versuch unternehmen, an einer bestimmten Stelle Streit zu beenden und nicht neuen anzufangen.Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß nach dem Urteil, das das Bundesverfassungsgericht uns gestern im Verfahren einer einstweiligen Anordnung — nicht mehr — gegeben hat, der Einsatz der Bundeswehr in Somalia, den die Bundesregierung beschlossen hat, verfassungsgemäß ist. Das können wir nicht mehr bestreiten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993 14329
Günter VerheugenVerfassungsgemäß ist er in dem Sinne, daß bis zur Entscheidung in der Hauptsache der Vorwurf, dies sei ein Verfassungsbruch, jedenfalls in den Augen des Verfassungsgerichts nicht mehr erhoben werden kann. Wir werden das auch nicht tun.Das Verfassungsgericht hat eine Brücke gebaut, über die zu gehen die Mehrheit des Hauses offenbar bereit ist. Es ist aber eine Brücke, von der wir heute noch nicht wissen, wie, warm und in welchem Zustand wir alle zusammen das andere Ufer erreichen. Aber dieser eine Punkt ist klar.Weil das so ist, sind wir fest entschlossen, den Auftrag, den uns das Verfassungsgericht gestern gegeben hat, konstruktiv zu erfüllen. Wir haben den Auftrag bekommen, gemeinsam mit der Bundesregierung einen konstitutiven Akt zu vollziehen, d. h. den bereits von der Bundesregierung beschlossenen Einsatz der Bundeswehr in Somalia so abzusichern, daß Parlamentsrechte bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht verletzt werden. Darum geht es.
Deshalb machen wir hier keine taktischen Spielchen, deshalb sind wir bereit gewesen, diese Debatte zu führen. Ich bitte Sie jetzt um Verständnis dafür, daß ein Redner, der den Antrag, der hier beraten wird, erst wenige Minuten vor der Debatte bekommen hat, auch ein bißchen in Schwierigkeiten ist.Wir müssen bei der Entscheidung, die jetzt zu treffen ist, eine sehr sorgfältige Abwägung vornehmen. Bei der Abwägung ist nicht nur das wichtig, was das Verfassungsgericht gestern gesagt hat, sondern es ist auch das wichtig, was es im AWACS-Urteil gesagt hat.Ganz besonders dem Kollegen Kinkel wird ja aufgefallen sein, daß gestern die außenpolitischen Fragen im Urteil keine Rolle gespielt haben, während sie im AWACS-Urteil ganz im Vordergrund gestanden haben. Gleichwohl haben wir bei dem, was jetzt zu geschehen hat, zu bedenken, daß außenpolitischer Schaden von der Bundesrepublik Deutschland abgewendet werden muß. Das haben wir ganz ohne Frage auch als Opposition zu tun,
auch wenn wir der Meinung sind, daß die Bundesregierung willentlich und bewußt eine außenpolitische Zwangslage herbeigeführt hat, die den Schaden, der abzuwenden ist, überhaupt erst möglich macht.
Auch das muß gesagt werden.Wir hatten die Bundesregierung nach dem AWACS-Streit vor zwei Monaten gewarnt, diese Entscheidung, die ja ausdrücklich als vorläufig und auf den Einzelfall bezogen beschrieben worden ist, als Freibrief für weitere Maßnahmen dieser Art zu benutzen.Wenn wir uns jetzt die zeitlichen Abläufe ansehen, dann müssen wir zu unserer Enttäuschung feststellen, daß die Bundesregierung weder unsere Warnung noch das im Verfassungsgerichtsurteil aufgestellte Stoppsignal beachtet hat. Wenn das Verfassungsgericht sagt, dies sei einmalig und auf diesen Fall bezogen, dann ist es nach unserer festen Überzeugung einer Regierung nicht erlaubt, wenige Tage nach einem solchen Urteil einen Einsatz, der noch weiter geht, zu beschließen.
Sie haben die außenpolitische Zwangslage dadurch herbeigeführt, daß Sie, ohne dazu aufgefordert gewesen zu sein, bereits im Dezember der UNO Streitkräfte angeboten haben. Noch im Januar hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen, als er hier in Bonn war, überhaupt nicht von Streitkräften gesprochen, sondern er hat darum gebeten, daß Polizeikräfte zur Befriedung in Somalia zur Verfügung gestellt werden.Dann haben Sie im April nach dem AWACS-Urteil Ihren Beschluß gefaßt. Im Juni haben Sie ihn dann noch einmal deutlich so verändert, daß wir uns veranlaßt gesehen haben, nicht nur die bereits beschlossene Klage in der Hauptsache einzureichen, sondern auch eine einstweilige Anordnung zu beantragen.Meine Damen und Herren, wieso sind wir eigentlich in die Lage gekommen, daß große Teile der Öffentlichkeit und der Presse uns vorwerfen, der Bundestag erledige nicht mehr seinen Auftrag, er schaffe es nicht mehr, politische Fragen zu entscheiden, sondern er gehe damit nach Karlsruhe?
Ich möchte hier sehr präzise sagen: Wir sind nicht mit einer politischen Frage nach Karlsruhe gegangen,
sondern wir sind ausschließlich nach Karlsruhe gegangen, weil wir den rechtlichen Rahmen kennen müssen, innerhalb dessen wir politische Entscheidungen treffen können.
Wir haben diesen rechtlichen Rahmen jahrzehntelang gemeinsam getragen. jahrzehntelang war es außenpolitischer und verteidigungspolitischer Konsens, daß der Einsatz unserer Streitkräfte über den Verteidigungs- und Bündnisfall hinaus für die Bundesrepublik Deutschland nicht zulässig ist. Das ist bis vor kurzer Zeit die gemeinsame Überzeugung der Fraktionen dieses Hauses und aller Bundesregierungen gewesen.
Diesen Konsens, meine Damen und Herren, haben Sie verlassen. Sie haben ihn verlassen, und Sie haben es einseitig getan. Sie dürfen uns doch nicht das Recht absprechen, jetzt Klarheit über die Frage zu verlangen, wer mit dem wichtigsten und gefährlichsten Machtinstrument des Staates, nämlich den bewaffneten Streitkräften, unter welchen Umständen was unternehmen darf. Das ist doch nicht irgend eine
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14330 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Günter VerheugenKleinigkeit; das geht wirklich in das Zentrum des Rechtsstaates und der Politik dieses Staates.
Das Grundgesetz hat doch aus gutem Grund detailgenaue Regelungen, was den Streitkräfteeinsatz angeht. Zu der Streitfrage, die dadurch entstanden ist, daß Sie den Konsens verlassen haben, sagt es ausdrücklich — ich zitiere das Wort „ausdrücklich" — nichts. Sie dürfen uns nicht übelnehmen, daß wir uns an den Wortlaut der Verfassung halten. Das ist die erste Grundregel der Auslegung.Sie, die CDU/CSU — so muß ich jetzt sagen; ich muß hier vorsichtig sein —, und die Bundesregierung brauchen sehr komplizierte und schwierige Ableitungen, um die Rechtmäßigkeit des Beschlusses, den Sie gefaßt haben, begründen zu können, Ableitungen, die so schwierig sind, daß jemand, der die Gnade eines Studiums des Verfassungsrechts nicht genossen hat, sie kaum wird begreifen können.Aber die Mehrheit dieses Hauses — Kollege Solms, ich wende mich an Sie — ist bisher diesen Ableitungen nicht gefolgt. Ich zitiere aus einer Presseerklärung des Kollegen Hoyer vom 5. April:Wir sind der Auffassung, daß eine so schwerwiegende Entscheidung wie der Einsatz von Soldaten der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes erst nach einer Änderung der Verfassung möglich sein soll und möglich sein kann.Das ist präzis unsere Meinung, Herr Hoyer.
Aus diesem Grunde hat Ihre Bundestagsfraktion im AWACS-Fall gegen die Bundesregierung geklagt. Sie haben diese Klage übrigens bisher nicht zurückgezogen. Ich habe diese Klage hier liegen, und ich könnte daraus wunderbare Sätze zitieren, die wir alle unterschreiben können, warum es nicht möglich ist, einen solchen Einsatz anzuordnen, ohne den Art. 87 a Abs. 2 GG vorher zu ändern.Ich sage noch einmal: Um politisch handeln zu können, muß der rechtliche Rahmen klar sein. Das Parlament kann doch eine verfassungsrechtliche Streitfrage nicht mit Mehrheit entscheiden. Wie soll es das tun?
Zur Klärung verfassungsrechtlicher Streitfragen haben wir das Bundesverfassungsgericht.Wir hätten dieses Problem lösen können, indem wir neues Verfassungsrecht geschaffen hätten. Das haben wir nicht getan. Wir konnten es nicht tun, weil die Positionen in der Sache zu weit auseinander sind.
Herr Abgeordneter Verheugen, der Abgeordnete Schmidt, CDU/CSU, hat den Wunsch nach einer Zwischenfrage geäußert.
Bitte schön.
Bitte sehr.
Herr Kollege Verheugen, können Sie dem Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit beantworten, ob Sie, wenn diese Verfassungsänderung, die von Ihnen angemahnt worden ist, bereits vorgenommen worden wäre, der Entsendung der AWACS-Flugzeuge zugestimmt hätten?
Herr Kollege Schmidt, da ich nicht dafür bekannt bin, daß ich mich vor schwierigen Fragen drücke: In einem der folgenden Zettel habe ich das aufgeschrieben. Ich komme auf diesen Punkt zurück. Erlauben Sie mir, diese Frage im Rahmen meiner Konzeption, wie ich sie mir vorgestellt hatte, zu beantworten. Ich verspreche Ihnen, daß ich auf die Frage zurückkomme; aber es paßt mir besser in den Zusammenhang, in dem ich das darstellen möchte. Sie bekommen ihre Antwort.Ich sage noch einmal: Es muß jetzt Klarheit geschaffen werden, was erlaubt ist und was nicht erlaubt ist. Eine Opposition würde ihre verfassungsmäßigen Pflichten verletzen, wenn sie nicht alle politischen und rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen würde, die sie hat, um die Regierung an einem Handeln zu hindern, das sie für von der Verfassung nicht gedeckt hält.
Wir könnten wirklich unsere Arbeit hier einstellen, wenn wir in einer so zentralen Frage sagen würden: Laßt die das mit Mehrheit entscheiden, und damit ist es gut.Die Klarheit, die wir brauchen, Herr Kollege Schäuble, konnte — und das wußten wir — in dem Verfahren über eine einstweilige Anordnung nicht gewonnen werden, weil völlig klar ist, daß die einstweilige Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf. Das ist uns völlig bewußt. Darum sollte bitte jetzt hier auch niemand so tun, als sei die Entscheidung in der Hauptsache bereits gefallen.
Das Gericht hat peinlich genau darauf geachtet, daß dieser Schluß aus dem Urteil nicht gezogen werden kann.Deshalb hat bis zur Entscheidung in der Hauptsache ein jeder das Recht, seine Auffassung, was das Grundgesetz heute erlaubt oder nicht erlaubt, auszudrücken und für diese Auffassung politisch auch hier in diesem Hause zu streiten. Das kann niemandem abgesprochen werden.
Ich glaube nicht, Herr Kollege Schäuble, daß Sie recht haben, wenn Sie unsere Interpretation des Urteils als eine Verdummbeutelung bezeichnen. Auch Sie sind an erster Stelle Parlamentarier, und Sie sollten es mit uns begrüßen, daß das Bundesverfassungsgericht die mögliche Verletzung von Rechten des Parlaments für so wichtig gehalten hat, daß alle anderen möglichen Probleme dahinter zurücktreten.
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Günter VerheugenDas Verfassungsgericht hat das für das Wichtigste gehalten.
Darum ist es richtig, wenn wir sagen, es sei ein Sieg für das Parlament. Es ist richtig, wenn wir sagen, es sei ein großer Fortschritt, daß vorläufig zunächst klargestellt ist, daß solche Einsätze ohne Zustimmung des Bundestages nicht erfolgen können.
Das ist doch keine Kleinigkeit. Genau das ist doch von dieser Bundesregierung und von der größten Fraktion dieses Hauses vehement bestritten worden.
Lesen Sie doch die Schriftsätze Ihrer Prozeßbevollmächtigten! Genau das haben Sie bestritten. Sie sagten, das sei allein eine Sache der Exekutive, das könne die Regierung entscheiden, sie müsse den Bundestag nicht befassen, nicht fragen, nicht entscheiden lassen, wenn sie die Streitkräfte einsetzen wolle. Das ist jetzt erst einmal weg, und wir halten das in der Tat für einen Sieg, den die sozialdemokratische Bundestagsfraktion für das ganze Haus erstritten hat.
Herr Abgeordneter Verheugen, der Abgeordnete Irmer möchte gern eine Frage beantwortet haben.
Nein.
Sie lassen keine zu.
Ich möchte das nicht.
Meine Damen und Herren, das ist sein gutes Recht.
Meine Damen und Herren, das ist vor allen Dingen deshalb so wichtig, weil nach der Auffassung der Bundesregierung und wiederum nach der Auffassung der größten Fraktion des Hauses — wenn die F.D.P. ihre Meinung nicht inzwischen geändert hat; was ich nicht weiß — nicht nur das vom Grundgesetz gedeckt ist, was jetzt in Somalia geschieht. Sie haben es eben noch einmal ausdrücklich bestätigt, Herr Kollege Schäuble: Nach Ihrer Auffassung ist die Grundgesetzänderung nicht nötig.Sie bieten uns lediglich als eine Geste des guten Willens eine ergänzende Klarstellung an, aber Sie sagen, im Grunde sei alles das, wofür wir eine ergänzende Klarstellung verlangen, erlaubt. Das muß man jetzt der Öffentlichkeit erklären, was alles Sie bereits heute für erlaubt halten. Zum Beispiel halten Sie heute die Beteiligung der BundesrepublikDeutschland am Golfkrieg für erlaubt. Das bedeutet das!Daß jetzt an dieser Stelle das Verfassungsgericht eine Grenze gezogen und gesagt hat, daß Sie das wenigstens nicht ohne Zustimmung des Bundestages machen dürfen, ist schon etwas.
Ich erwähne das deshalb, weil ich den Satz ein bißchen zuspitzen und sagen möchte: Es ist klargestellt, daß Entscheidungen über Krieg und Frieden nicht ohne den Deutschen Bundestag fallen können.
Ohne in der Hauptsache irgend etwas vorwegzunehmen, sollten wir in unserem Selbstverständnis als Parlamentarier das festhalten, was uns das Verfassungsgericht gestern gegeben hat. Selbst wenn die Regierung recht bekommen sollte, was ich nicht glaube und nicht hoffe, sollten wir das Grundgesetz ändern und sicherstellen, daß das Parlament in diesen Fragen die letzte Entscheidung behält.
— Ich will das wiederholen, was Kollege Schäuble mir gerade zugerufen hat: „Darauf können wir uns sofort einigen! " Das wird ein wichtiger Punkt sein, wenn es einmal soweit ist.Es gibt auch einen verfassungspolitischen Grund, warum das Grundgesetz geändert werden muß: Die Verfassungsurkunde muß erkennbar bleiben. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Staates müssen, wenn sie das Grundgesetz in die Hand nehmen und lesen, erkennen können, was es eigentlich sagt und will; sie sollen nicht auf komplizierte Ableitungen und Interpretationen angewiesen sein, die zwar vielleicht nach den Regeln der verfassungsrechtlichen Kunst, aber nicht nach dem politischen Verständnis des Normalbürgers abgefaßt sind.Nun komme ich zu der aktuellen Streitfrage: Ist dieser Somaliaeinsatz ein Einsatz nach Art. 87 a Abs. 2 des Grundgesetzes? Sie, die Bundesregierung und die Koalition, bestreiten das.Wir meinen, daß das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil, obwohl es, wie Kollege Kolbow vorhin in einer Zwischenfrage dargelegt hat, den Begriff „Einsatz" in seinem Text ganz bewußt vermeidet, diese Vorstellung in der Substanz zurückgewiesen hat. Denn warum sonst sollte das Bundesverfassungsgericht von uns einen konstitutiven Akt verlangen, mit dem wir heute in dieser Stunde beginnen, wenn dieser Einsatz — so sage ich; Sie sagen: Verwendung — der Bundeswehr in Somalia nicht etwas anderes wäre als die bisher von niemandem hier bestrittene Mitwirkung der Bundeswehr an humanitären Hilfsaktionen nach Erdbebenkatastrophen, Hungerkatastrophen oder ähnlichem, oder, um es etwas zugespitzter zu sagen, wenn es nicht etwas anderes wäre als die Entsendung eines Musikkorps der Bundeswehr zu einem Stadtteilfest. Er hat eine andere rechtliche
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14332 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Günter VerheugenQualität in den Augen des Bundesverfassungsgerichts.Ich finde, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., Sie sollten sich nun um eine klare Aussage nicht herumdrücken.
Wenn bei AWACS, wo die Lage eine völlig andere war, das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, es bestehe keine Gefahr für Leib und Leben, und hier ausdrücklich sagt, es bestehe eine solche, wie können Sie da noch den Unterschied machen und sagen: „AWACS ist ein militärischer Einsatz nach Art. 87 a GG, und Somalia ist es nicht!"? Sie werden es schwer haben, das zu begründen.
Ich sage noch einmal: Unsere Soldaten in Somalia sind gefährdet, weil niemand voraussehen kann — niemand voraussehen kann —, wie sich dieser Einsatz entwickelt. Der humanitäre Zweck, der immer so hochgehalten wird, steht im Hintergrund. Wir bestreiten nicht, daß die Gesamtoperation der Vereinten Nationen einen humanitären Zweck verfolgt,
nämlich den Menschen in diesem gequälten Land ein Leben in Freiheit, in Frieden und in Menschenwürde zu ermöglichen. Aber die Mittel, die dazu eingesetzt werden, um diesen humanitären Endzweck zu erreichen, sind Mittel des Kampfes, sind kriegerische Mittel.Sie können doch einen solchen Kampfauftrag nicht mit gutem Gewissen als eine humanitäre Maßnahme bezeichnen. Dann wäre jeder Krieg, der einen gerechten Grund hat, eine humanitäre Maßnahme. Das ist in der Weltgeschichte wirklich einmalig.
Herr Abgeordneter Verheugen, der Abgeordnete Burkhard Hirsch möchte eine Frage stellen.
Ich habe gesagt, daß ich keine Zwischenfragen zulassen werde.
Also grundsätzlich nicht mehr. Okay.
Sie haben in diesem Auftrag, so wie er jetzt konkretisiert ist, die ursprüngliche humanitäre Zielsetzung auch ganz in den Hintergrund gestellt. Humanitäre Hilfe für die Menschen kann nur noch geleistet werden, insoweit der Verband, der dorthin geschickt werden soll, seinen Versorgungsauftrag für Kampfeinheiten der Vereinten Nationen erfüllt. Darum bleiben wir dabei: Es ist ein militärischer Einsatz nach Art. 87a Abs. 2 GG, genauso wie im AWACS-Fall.Nun konnten wir einen förmlichen Fraktionsbeschluß zu einem Antrag, der uns wenige Minuten vor Beginn der Sitzung erreicht hat, nicht mehr fassen. Das wissen Sie, und das werden Sie verstehen.
Ich erinnere Sie an die bekannten Positionen, die hier des öfteren dargelegt worden sind. Wir haben klare Beschlüsse von Parteitagen und unserer Fraktion, die sagen, daß wir den Vereinten Nationen für Friedensoperationen Einheiten der Bundeswehr zur Verfügung stellen wollen. Die Grenze dessen, was wir zuzugestehen bereit sind, sind Kampfaufträge. Bisher wird niemand behaupten können, daß der Normalfall der UNO-Operationen ein Kampfauftrag ist. Somalia ist der allererste Fall dieser Art.Wir haben eine Grundgesetzänderung bereits vor einem Jahr vorgeschlagen, die die Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen möglich gemacht hätte, die auch den Verfassungsstreit beendet hätte. Im übrigen für die Feinschmecker unter Ihnen: Wir haben die Änderung sowohl zu Art. 24 — kollektives Sicherheitssystem — als auch zu Art. 87 a vorgeschlagen, und das aus guten Gründen. Dieser Antrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion bleibt aufrechterhalten. Er wird in der nächsten Woche dort, wo er hingehört, nämlich in der Verfassungskommission, behandelt.Wir haben, wie Sie wissen, vorgestern vor dem Verfassungsgericht argumentiert, daß der Einsatz der Bundeswehr in Somalia mittelbar oder unmittelbar die Beteiligung an einem Kampfeinsatz bedeutet. Wir haben jetzt die Gelegenheit, in den vor uns liegenden Ausschußberatungen eine Reihe von bisher unbeantworteten Fragen zu stellen.Wir möchten gern wissen: Welche Milizen befinden sich in dem Raum, in dem die Bundeswehr stationiert ist und stationiert werden soll? Welche Waffenlager befinden sich dort? Gehören schwere Waffen dazu? Wer kontrolliert diese schweren Waffen? Wie will die UNO in den Besitz dieser schweren Waffen kommen? Das sind alles Fragen, die für die Beantwortung der in Ihrem Antrag aufgeworfenen Frage von großer Bedeutung sind.Die Ausschußberatungen sind deshalb wichtig. Ich will hier schon an die Adresse der Bundesregierung anmahnen: Wir werden darauf bestehen, daß der Deutsche Bundestag ständig über den Fortgang der Operationen in Somalia unterrichtet wird
und daß Änderungen dieses Einsatzes — auch daran will ich Sie erinnern — eines erneuten Beschlusses des Bundestages bedürfen.Jetzt komme ich auf die Zwischenfrage des Herrn Kollegen Schmidt zurück. Nachdem ich gesagt habe, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion nicht bereit ist, Kampfaufträge der Bundeswehr außerhalb der Bündnis- oder Landesverteidigung zuzulassen, weil wir nicht daran glauben, daß die Probleme in der Welt durch Einsatz militärischer Gewalt gelöst werden können,
und nachdem wir gesagt haben, daß es sich hier um einen Kampfeinsatz handelt, wird es Sie nicht überraschen, welches dann in der nächsten Woche unser endgültiges Votum in dieser Frage sein wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993 14333
Günter VerheugenIch akzeptiere, daß die deutsche Verantwortung in der Welt größer geworden ist. Aber eine Politik der Bundesregierung, die darauf abzielt, mit Hilfe von Bundeswehreinsätzen den Eindruck zu erwecken, wir würden diese Verantwortung wirklich ernst nehmen, ist das genaue Gegenteil von Wahrnehmung der Verantwortung.
Zur Wahrnehmung der Verantwortung hätte es gehört, wenn Sie endlich Initiativen zur Schaffung eines funktionierenden kollektiven Sicherheitssystems in Europa entwickelt hätten, wenn Sie Initiativen zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen entwickelt hätten, bevor es irgendwo zu Kriegen, Konflikten und Bürgerkriegen kommt.
Darüber werden wir auch in Zukunft streiten.Wir haben die Hoffnung, daß wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache sehr bald bekommen werden, daß dann die rechtliche Klarheit über das, was die Regierung und der Bundestag mit der Bundeswehr dürfen und was sie nicht dürfen, geschaffen ist und daß wir dann dieses Thema endgültig beendigen können, um uns den außenpolitischen Fragen der Zukunft zuzuwenden, um die es wirklich geht.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Werner Hoyer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Verheugen, es ist immer beglückend, wenn man plötzlich mit eigenen Presseerklärungen zitiert wird, insbesondere dann, wenn sie sich — das ist ja nicht notwendig immer der Fall —, auch nach einem längeren Zeitraum noch als absolut zutreffend erweisen.
Die Liberalen sind in der Tat der Meinung, daß für Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebiets eine Verfassungsergänzung oder -änderung — in diesen semantischen Streit will ich mich gar nicht begeben; in der Sache handelt es sich natürlich um eine Änderung der Verfassung — erforderlich ist.
Darüber hinaus sind wir uns erfreulicherweise mit unserem Koalitionspartner darüber einig, daß wir — jenseits der Frage, ob wir es für erforderlich halten wie die Liberalen oder für wünschenswert halten wie die Christdemokraten und die Christsozialen — diese Grundgesetzänderung anstreben. Dafür haben wir einen sehr soliden Grundgesetzänderungsantrag vorgelegt.
Darauf bitte ich sehr genau zu achten — Sie haben diesen Dreher soeben selber in Ihrem Beitrag vollzogen —, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung gestern den Begriff „Einsatz" ganz bewußt meidet. Daher besteht für uns zwischen dem
AWACS-Fall und dem Fall, um den es hier geht, ein ganz fundamentaler Unterschied.
Das Bundesverfassungsgericht hat gestern einen sehr wesentlichen Beitrag zur Wahrung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit unseres Landes geleistet. Es hat den Soldaten der Bundeswehr, die sich in Somalia befinden, und denen, die in der nächsten Zeit noch dorthin fliegen werden, die dringend erforderliche Rechtssicherheit verschafft. Dafür sind wir dankbar.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, in eigener Verantwortlichkeit zu bestimmen, ob und in welchem Umfang der Beschluß der Bundesregierung vom April 1993 bis zur Entscheidung in der Hauptsache verwirklicht werden darf. Einen entsprechenden Antrag haben wir dem Hohen Hause heute vorgelegt.
Nach dem Beschluß des Gerichts von gestern kann kein Zweifel daran bestehen, daß dieser Beschluß der Bundesregierung für diese ganz konkrete UNO-Mission vom Verfassungsgericht als zulässig angesehen wird. Damit bricht der zentrale Vorwurf der Sozialdemokraten, die Bundesregierung habe verfassungswidrig gehandelt, in sich zusammen.
Jede andere Interpretation würde ja nahelegen, daß uns das Bundesverfassungsgericht einen Weg empfiehlt, der sich möglicherweise als verfassungswidrig herausstellen könnte.
Das Bundesverfassungsgericht nimmt das Parlament stärker in die Verantwortung hinein, als es bisher der Fall gewesen ist. Zwar befristet das Gericht auch dies bis zur Entscheidung in der Hauptsache, um den Kompetenzstreit zwischen Bundestag und Bundesregierung zu überbrücken, und die einstweilige Anordnung — so das Gericht wörtlich — „sichert somit nicht das von der Antragstellerin geltend gemachte Recht, vor der Entsendung deutscher Soldaten nach Somalia ein Verfassungsänderungsverfahren durchzuführen; sie sichert jedoch insoweit etwaige Mitwirkungsrechte des Parlaments, indem sie die Bundesregierung an die konstitutive Zustimmung des Bundestages bindet".
Herr Dr. Hoyer, der Abgeordnete Ullmann möchte gerne eine Zwischenfrage beantwortet haben. Sind Sie dazu bereit?
Herr Kollege Ullmann, bitte sehr.
Herr Kollege, wie fassen Sie dann den entscheidenden Satz im Urteil auf, wo es heißt, daß diese Einsätze — ich gebrauche dieses Wort mit Bedacht — nur aufrechterhalten und fortgeführt werden können, wenn und soweit der Deutsche Bundestag dies
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14334 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Dr. Wolfgang Ullmannbeschließt? Ist dieser Beschluß nun schon gefaßt oder nicht?
Herr Kollege, ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, aber wir sind gerade dabei, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wir in der nächsten Woche am Freitag diesen Beschluß fassen können.
Ich nehme das Urteil in seiner Gänze vollkommen ernst und interpretiere es ganz präzise so, daß die Soldaten, die in Somalia sind, dort bleiben, und daß, bis weitere dorthin geschickt werden können, der Deutsche Bundestag ausdrücklich in eigener Verantwortlichkeit entscheiden muß.
Hierzu haben wir einen Antrag eingebracht, über den wir jetzt zum erstenmal beraten. Wir werden danach ein ganz normales, sauberes, sorgfältiges Ausschußverfahren durchziehen. Da wir uns auch mit den Sozialdemokraten verständigt haben, wie das vom Zeitablauf her gehen soll, und da sich da keine Verfahrensmätzchen abzeichnen, werden wir in der nächsten Woche am Donnerstag oder Freitag endgültig den von Ihnen gewünschten Beschluß fassen.
Ich finde es außerordentlich bedauerlich, daß erneut eine für die Position und das Ansehen Deutschlands in der Welt und für unsere Rolle in der Völkergemeinschaft so wichtige Frage einem Gericht, und sei es dem höchsten, überlassen bleibt. Wir haben — das wissen wir alle — seit Jahren einen nach unserer Geschichte durchaus verständlichen Verfassungsstreit. Ihn aufzulösen, gibt es nur zwei Wege: Entweder das Parlament setzt neues Verfassungsrecht, und zwar mit den entsprechenden verfassungsändernden Mehrheiten, oder das geltende Verfassungsrecht wird im Rahmen eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht verbindlich ausgelegt. Dies kann frühestens im Hauptsacheverfahren geschehen. Ich denke, das Bundesverfassungsgericht hat außerordentlich weise entschieden und den Ball zu uns ins Parlament zurückgeworfen.
Dort gehört er hin.
Diese sozialdemokratische Bundestagsfraktion, nein, sagen wir es präziser: die nur ihrem Gewissen verpflichteten sozialdemokratischen Mitglieder dieses Hauses wie alle anderen sind gefordert, mit uns zusammen eine glasklare verfassungsrechtliche Lösung herbeizuführen.
Der Koalitionsentwurf vom Januar 1992 bietet hierfür die Grundlage. Ich halte ihn nach wie vor für eine exzellente Gesprächsgrundlage. Und eine Gesprächsgrundlage ist Anfang, nicht notwendig Ende eines Einigungsprozesses, zu dessen Gelingen dann aber alle beitragen müssen.
— Bevor Sie zu Ihrer Zwischenfrage kommen, Herr Kollege Schily, möchte ich noch eines anfügen: Gerade die Liberalen, insbesondere Außenminister Klaus Kinkel, haben sich sehr darum bemüht, ständig wieder Brücken zu bauen. Wir versuchen es immer wieder.
Aber Sie können beim besten Willen nicht erwarten, daß wir bei dem Brückenschlagen nun so weit gehen, daß wir letztlich auf dem Pfeiler landen, den Sie mit Ihrem Antrag vom Juni 1992 gebaut haben; denn wir halten ihn für völlig ungeeignet, weil er uns ja noch nicht einmal die Mitwirkung bei AWACS oder hier in Somalia erlauben würde. Daher geht diese Kalkulation nicht auf.
Der Abgeordnete Schily und der Abgeordnete Professor Meyer haben das Bedürfnis, eine Frage zu stellen. Zunächst der Abgeordnete Otto Schily.
Herr Kollege Hoyer, wenn das Bundesverfassungsgericht, von dem Sie ja sagen, daß es weder im Somalia-Fall noch im AWACS-Fall schon in der Hauptsache entschieden hat, in beiden Fällen zu der Entscheidung kommt, daß die Grenzen der Verfassung mit den jeweiligen Maßnahmen der Regierung überschritten sind,
würden Sie dann nicht zu der Schlußfolgerung kommen, daß auch, was die Zwischenzeit anbelangt, die verfassungsrechtliche Qualität dieser Maßnahmen fragwürdig ist?
Fragwürdig ist sie in keinem Fall. Ich sehe selbstverständlich, daß in der Hauptsache nicht entschieden ist, daß wir das Hauptsacheverfahren abzuwarten haben und daß auch eine gewisse Zurückhaltung geboten ist, bis in dem Hauptsacheverfahren entschieden ist. Das hat die Koalition immer völlig klar gesagt. Aber das Bundesverfassungsgericht, unterstelle ich, wohl mit gutem Recht, würde uns doch nicht in ein Risiko hineintreiben lassen, das hier — anders, als bei der Rechtsgüterabwägung, die ja beim AWACS-Fall stattgefunden hat — Leib und Leben der deutschen Soldaten auf Grund eines Verfahrenshinweises gefährdet würden, den uns das Verfassungsgericht selber gegeben hat, mit der Folge, daß wir hinterher die Verfassungswidrigkeit festgestellt bekommen müßten. Also dieses Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht habe ich.
Herr Professor Meyer.
Herr Kollege Hoyer, da Sie soeben mit Nachdruck und wiederholt auf den Koalitionsantrag zur Änderung oder Klarstellung des Grundgesetzes vom Januar dieses Jahres verwiesen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993 14335
Dr. Jürgen Meyer
haben, frage ich Sie: Haben Sie eine Erklärung dafür, daß dieser Antrag aus den Beratungen des federführenden Rechtsausschusses zurückgezogen worden ist? Steht die F.D.P. nach wie vor zu diesem Antrag, der für militärische Einsätze der Bundeswehr out of area eine Zweidrittelmehrheit dieses Parlaments vorsieht, und wissen Sie insbesondere, ob auch Ihr größerer Koalitionspartner nach wie vor zu diesem Antrag steht?
Herr Kollege, ich gehöre nicht zu den erlauchten Mitgliedern des Rechtsausschusses. Aber nach meiner Kenntnis dieses Antrages — der steht, und dazu stehen wir gemeinsam, Union wie F.D.P. — ist darin die Zweidrittelmehrheit für die Maßnahmen nach Art. 51 UN-Charta vorgesehen und ist die Kanzlermehrheit für die friedenschaffenden Maßnahmen im Rahmen der vereinten Nationen vorgesehen. Das ist der Antrag, zu dem wir gemeinsam stehen.
Ich habe darüber hinaus gesagt — das ist Teil der Bemühungen, nicht zuletzt unseres Parteivorsitzenden und Außenministers —, daß eine Gesprächsgrundlage nicht das Ende der Gespräche darstellen muß. Aber Sie können nicht von uns erwarten, daß wir auf Gespräche eingehen, bei denen das Ende schon feststeht, und zwar hundertprozentig in Ihrem Sinne, den wir von vornherein nicht akzeptiert haben.
Daß für den im Sommer 1992 eingebrachten Entwurf der SPD keine Chance besteht, ist, glaube ich, klargeworden. Ich hoffe, ja ich erwarte, daß nach Beendigung der bemitleidenswerten Führungsdiskussion in der Sozialdemokratischen Partei nunmehr endlich couragierte Entscheidungsträger und Gesprächspartner zur Verfügung stehen, um endlich zielorientiert über Kompromisse zu sprechen.
Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre eine sich noch über Monate oder Jahre hinschleppende Fortsetzung des gegenwärtigen unerträglichen Gezerres, das wir unserer Bevölkerung, vor allem aber den Soldaten der Bundeswehr und ihren Angehörigen nicht länger zumuten können.
Zur Sache selber: Der Deutsche Bundestag hat sich wiederholt mit den Beschlüssen der Bundesregierung zum Somalia-Beitrag befaßt und den großartigen Beitrag der UNO-Soldaten bei der Linderung des Elends und der Not gewürdigt.
Wir danken den Soldaten, insbesondere natürlich unseren Bundeswehrsoldaten, für diesen Beitrag. Wir stehen ganz hinter ihnen.
Wir werden den vorliegenden Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. nach der heutigen Beratung ohne Verzug im üblichen, ganz normalen geschäftsordnungsmäßigen Verfahren in den zuständigen Ausschüssen sorgfältig erörtern und, wie ich hoffe, in der nächsten Woche endgültig beschließen. Da das Verfassungsgericht selber uns diesen Weg gewiesen hat und somit die Rechtszweifel, die einige Kolleginnen und Kollegen gehabt haben mögen — was legitim ist —, ausgeräumt sein dürften, fordere ich die Sozialdemokraten und das ganze Haus auf, diesem Antrag dann auch zuzustimmen.
Ich begrüße es schließlich außerordentlich, daß uns das Bundesverfassungsgericht in unserer Entschlossenheit bestärkt, die weitere Entwicklung hinsichtlich des Fortgangs der Maßnahme der Vereinten Nationen in Somalia sowie hinsichtlich der Einsatzbedingungen des deutschen UNOSOM-II-Kontingents genauestens zu beobachten und uns hierüber stets kontinuierlich unterrichten zu lassen.
Vor allem aber begrüße ich es, daß uns das Bundesverfassungsgericht damit auch ermuntert, für die Zukunft eine stärkere Rolle des Parlaments bei der Entscheidung über die Entsendung von Bundeswehrsoldaten zu reklamieren. Wie immer der Verfassungsrechtsstreit ausgehen mag oder, was sehr viel besser wäre, wie immer wir uns im Parlament auf eine Verfassungsänderung verständigen mögen, eines ist gewiß: Bei der Entscheidung darüber, ob und in welcher Form sich Soldaten der Bundeswehr an Maßnahmen der Vereinten Nationen beteiligen, darf das Parlament nicht außen vor bleiben.
Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten haben durch die entsprechenden Gremien unserer Partei — Parteitag und Hauptausschuß — klargemacht, daß wir unsere Verantwortungsteilnahme im Rahmen der Völkergemeinschaft auch so verstehen, daß wir notfalls bereit sind, die Vereinten Nationen auch mit militärischen Beiträgen zu unterstützen, wenn der Weltsicherheitsrat seinen Resolutionen im äußerten Falle als Ultima ratio auch militärisch Nachdruck verleihen will. Zu dieser Aussage stehen wir.
Ich bedanke mich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt Herr Kollege Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal scheint mir die Interpretation der Bundesregierung und der Regierungskoalition, wonach die vom Bundesverfassungsgericht erlassene einstweilige Anordnung ihr Erfolg und nicht ein Erfolg der SPD ist, zutreffend zu sein; denn die einstweilige Anordnung verhindert wie schon beim AWACS-Einsatz nicht, daß die Bundesregierung ihre Politik der militärischen Intervention fortsetzen kann. Sie benötigt im vorliegenden Fall dafür lediglich eine einfache Mehrheit des Deutschen
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14336 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Dr. Gregor GysiBundestages und damit die Mehrheit der Regierungskoalition, die sie natürlich ohne jede Schwierigkeit bekommen wird.Die Bundesregierung kann auch künftig solche Einsätze planen und durchführen. Damit werden in einem Umfang Tatsachen geschaffen, daß sich jede und jeder schon jetzt ausrechnen kann, wie die Urteile des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache zum AWACS-Einsatz und Somalia-Einsatz aussehen werden. Das ist, glaube ich, kein Sieg — auch nicht des Parlaments —, sondern eine Niederlage in der Politik und vollzieht außerdem eine Wende in dieser Politik.Ich finde es deshalb bedauerlich, daß nicht von Anfang an auch und gerade durch die SPD-Fraktion im wesentlichen eine scharfe politische Auseinandersetzung zu den eigentlichen Fragen geführt wurde und statt dessen daraus eine Rechtsfrage gemacht worden ist
und immer im Nebel blieb, ob die SPD nun letztlich einem solchen Einsatz zustimmen würde und unter welchen Bedingungen oder nicht, wenn sie denn darüber mit zu entscheiden hätte. Ich finde, daß diese politische Auseinandersetzung dringend erforderlich ist; denn es geht doch darum, ob deutsche Soldaten nunmehr weltweit eingesetzt werden können oder nicht.Es geht auch nicht mehr um die Frage, ob sie nur zu humanitären Zwecken oder aber zu Kampfeinsätzen eingesetzt werden können; denn wie das Beispiel Somalia zeigt, ist eine solche Unterscheidung praktisch überhaupt nicht möglich. Es ist ein militärischer Einsatz, und täglich kann es auch zu kriegerischen Handlungen kommen. Damit wird dann Blut auf allen Seiten fließen. Ziel der Bundesregierung und der Regierungskoalition ist, die Menschen in der Bundesrepublik an solche Einsätze und damit verbundene Opfer zu gewöhnen.
In einer politischen Auseinandersetzung muß es doch wohl um folgende Fragen gehen. Der Bundesaußenminister hat gestern darauf hingewiesen, daß durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts garantiert sei, daß die Bundesrepublik auch künftig ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden könne. Bedeutet dies im Umkehrschluß, daß die Bundesrepublik über 40 Jahre lang ihrer internationalen Verantwortung deshalb nicht gerecht geworden ist, weil sie keine deutschen Soldaten in die Welt entsandte? Wenn es das nicht bedeutet, wieso kann man dann heute einer internationalen Verantwortung nur noch dadurch gerecht werden, daß man seine Soldaten weltweit einsetzt? Wieso kann internationale Verantwortung nicht politisch, ökonomisch, sozial und kulturell wahrgenommen werden?
Wie muß sich diese Welt verändert haben, wenn nachWegfall des Ost-West-Konflikts internationale Verantwortung und militärische Einsätze gleichgesetzt werden.
Und eine andere Frage steht ja wohl auf der Tagesordnung: Überall, wo gegenwärtig militärische Konflikte und Bürgerkriege in der Welt ausbrechen, gibt es reichlich Waffen. Woher kommen eigentlich diese Waffen?
Es ist eine Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland zumindest an dritter Stelle der waffenexportierenden Länder steht und um die zweite Stelle kämpft und sie wohl inzwischen auch schon erreicht hat. Wer heute aber Waffen exportiert, exportiert Krieg oder Bürgerkrieg, und er weiß es auch.
Es gibt aber nicht die geringsten Ansätze seitens der Bundesregierung, seitens der Koalition und leider auch nicht seitens der SPD-Fraktion, Waffenexporte durch die Bundesrepublik Deutschland generell zu verbieten. Das aber wäre wirkliche Friedenspolitik.Wir empfinden es als heuchlerisch, zunächst Waffen in die Welt zu entsenden, um nach Kriegs- oder Bürgerkriegsbeginn dann die eigenen Soldaten friedensstiftend hinterherzuschicken.
Ob Amerikaner oder Deutsche, ihre Gegner im Krieg besitzen eine andere Nationalität. Die Waffen aber kommen aus den gleichen Fabriken und Lagern.
— Ja, die dann auch noch durch diese Bundesregierung in solche Länder verkauft worden sind.
— Warum haben Sie denn die NVA-Waffen nicht verschrottet, anstatt sie auch noch weltweit zu verkaufen? Dazu hätten Sie doch die Möglichkeit gehabt!
Tatsache ist, daß weder beim Golf-Krieg noch beim Krieg bzw. Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, noch bei den Konflikten in Somalia die Instrumente der UNO oder anderer internationaler Gemeinschaften auf rechtlichem und ökonomischem Gebiet und zur Unterstützung der Friedenskräfte in den jeweiligen Ländern voll ausgenutzt wurden, bevor an den Einsatz von Militär gedacht worden ist.Inzwischen ist es so, daß in der Regel der Einsatz des Militärs an erster Stelle steht, bevor dann Friedenskonferenzen oder anderes einberufen werden. Der Krieg soll auf diesem Wege wieder zum normalen
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Dr. Gregor GysiMittel der Politik gemacht werden. Dabei will die Bundesrepublik Deutschland nicht unbeteiligt sein.
Damit verletzt aber die Bundesregierung ein Versprechen, das sie zum Zeitpunkt der Einheit abgegeben hat, abgegeben hat durch den damaligen Außenminister, nämlich keine Großmachtrolle anzustreben. Sie strebt diese aber täglich deutlicher an, kämpft um einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat und um eine internationale Stellung, die es ihr ermöglicht, weltweit militärisch einzugreifen. Und das ist Großmachtpolitik.Dabei verkennt sie, daß z. B. viele Menschenrechtsorganisationen Afrikas diesen Einsatz in Somalia, vor allen Dingen seine Art und Weise, verurteilen. Sie geht auch auf diese Probleme überhaupt nicht ein.
Negiert wird vor allem die Tatsache, daß nicht nur die praktische Politik, sondern auch die öffentliche Diskussion immer stärker in die Richtung verläuft, ob Afrika nicht neu kolonialisiert werden soll. Die Zeitschrift „Die Woche" hat bereits eine ganze Seite dieser Frage gewidmet. Ich hoffe, daß es nicht gelingt, das Rad der Geschichte so weit zurückzudrehen.Ich weiß, daß die Herausforderungen im Rahmen des Nord-Süd-Konflikts noch nie so groß und so deutlich in Erscheinung getreten sind wie heute. Ich weiß, daß es um die Durchsetzung einheitlicher ökologischer Mindeststandards geht. Dann aber muß man akzeptieren, daß es auch einheitliche soziale Mindeststandards in dieser Welt geben muß.
Wer auf solche riesigen Herausforderungen nur zwei Antworten hat, nämlich den Einsatz von Militär und die eigene Abschottung, der wird diesen Herausforderungen nicht im geringsten gerecht, sondern spitzt sie weiter zu. Das ist eine Tatsache, mit der wir uns beschäftigen müssen.
Die Migrationsprobleme verursachen wir ja auch noch selbst, um dann hier das Asylrecht praktisch abzuschaffen und unser Militär hinzuschicken — eine unheilvolle Einheit.Ich komme zu meinem letzten Satz.
— Sie müssen wenigstens lernen, sich das anzuhören. Es reicht doch, daß Sie die Macht haben. Sie müssen auch denen zuhören, die sie nicht haben. Das fällt schwer, aber ist ganz wichtig.
— Ich kenne alle möglichen Phasen.Es wird etwas vollzogen, was in der deutschen Geschichte immer katastrophale Folgen hatte: DerPazifismus wird gesellschaftlich ausgegrenzt, an den gesellschaftlichen Rand gedrückt und letztlich verhöhnt. Das war immer der Beginn zur Schürung von Kriegsstimmung.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Gerd Poppe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In ihrer Begründung am 21. April 1993 haben der Bundesaußenminister und der Bundesverteidigungsminister UNOSOM II mit der Feststellung begründet, es handele sich nicht um einen militärischen Einsatz,
es handele sich um befriedete Gebiete, in denen die deutschen Soldaten sein werden.Die Ereignisse der letzten Wochen zeigen, daß die Voraussetzungen für diese Aktion, nämlich die Entwaffnung von Banden, nicht gegeben ist. Die amerikanischen Soldaten, die von den Vereinten Nationen dazu beauftragt waren, haben diese Aufgabe offensichtlich nicht oder nicht vollständig ausgeführt. Und so besteht die Gefahr, daß der vorgeblich rein humanitäre Einsatz zu einem Kampfeinsatz wird. Deshalb kann der bisher immer herangezogene § 7 des Soldatengesetzes keineswegs die Einsatzgrundlage für deutsche Soldaten sein.Wir meinen auch: Wenn es sich um rein zivile und humanitäre Aufgaben handelt, dann können sie von humanitären Hilfsorganisationen, von technischen Hilfswerken oder anderen dafür geeigneten Organisationen gelöst werden.
Falls es sich aber um einen Blauhelm- oder gar um einen Kampfeinsatz handelt, ist die Änderung des Grundgesetzes erforderlich,
so daß im ersten Falle der Einsatz deutscher Soldaten nicht notwendig, im zweiten Fall auf Grund des Fehlens solcher Grundgesetzregelungen nicht möglich ist. So bleiben wir bei unserer Auffassung, daß deutsche Soldaten in Somalia nichts zu suchen haben.
Im übrigen: Fragen Sie doch einmal die Soldaten der Bundeswehr, ob sie das, was sie dort machen, für einen Einsatz halten. Wir haben mehrfach von Soldaten und Offizieren der Bundeswehr gehört — auch gestern abend noch —, daß sie den Einsatz weder als rein zivilen noch als Blauhelm-Einsatz, sondern als
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Gerd Poppeeinen kampfbegleitenden und damit formal als einen Kampfeinsatz betrachten.
— Das haben Bundeswehroffiziere bei einer gestrigen Podiumsdiskussion gesagt. Wir können Ihnen nachher im einzelnen Aufklärung darüber geben, wer das war.Das ist kein Einzelfall. Wenn Sie die Medien aufmerksam verfolgt haben, dann werden Sie das in letzter Zeit öfter gehört haben, eben auch von Angehörigen der Bundeswehr, die sehr verunsichert sind und die eindeutige Regelungen im Grundgesetz für Blauhelm-Einsätze wollen. Sie wollen auch, daß Entscheidungen im deutschen Parlament zu jedem Auslandseinsatz mit einer Zweidrittelmehrheit getroffen werden.
Entsprechende Regelungen im Grundgesetz hätte es längst geben können.
Die erforderlichen Mehrheiten wären vorhanden gewesen, wäre die Koalition bereit gewesen, — —
— An uns ist das nicht gescheitert; unseren Antrag zu Blauhelm-Einsätzen haben Sie wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt, auf jeden Fall haben Sie ihn schon abgelehnt. Die Koalition war bisher nicht bereit, sich auf Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen zu beschränken. Daran sind mögliche Regelungen bis jetzt gescheitert.Erneut wurde das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe um eine Entscheidung gebeten, für die eigentlich der Bundestag zuständig ist. Dies halte ich für ein Armutszeugnis des deutschen Parlamentes. Es war zusätzlich beschämend, gestern abend in den Medien zu verfolgen, wie sowohl die Bundesregierung als auch die SPD bemüht waren, die Karlsruher Entscheidung jeweils für sich als Erfolg zu verbuchen. Da gab es keine Erläuterung des angeblich rein humanitären Einsatzes, keine Worte mehr über die notleidende Bevölkerung, sondern nur noch den Versuch, sich gegenseitig vorzuführen, sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben — ein Parteiengerangel, das nicht gerade eine Werbung für verantwortungsvolle deutsche Politik war.
Nach der gestrigen Entscheidung in Karlsruhe ist die Zustimmung des Bundestages als konstitutiver Akt erforderlich.
— Ich komme darauf zurück. — Da die Entscheidung in der Hauptsache nicht gefällt wurde, sollten wir die in der nächsten Woche anstehende Entscheidung als eine verfassungsrechtlich relevante betrachten undsie deshalb auch schon mit einer Zweidrittelmehrheit treffen.
Im übrigen erwartet das Bundesverfassungsgericht, daß sich der erforderliche Beschluß von der Entschließung am 21. April 1993 unterscheidet. Ich wundere mich etwas, daß in Ihrem heutigen Antrag der gleiche Wortlaut wiederholt wurde.Meine Damen und Herren, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten es für richtig, daß im Falle schwerwiegender Verletzungen der Menschenrechte eine Einmischung der internationalen Staatengemeinschaft nötig sein kann. Diese Einmischung bedeutet aber, daß zivilen Methoden der Konfliktschlichtung die absolute Priorität eingeräumt werden muß.
Nur im äußersten Falle, wenn alle anderen Möglichkeiten versagt haben, wenn es keine anderen Möglichkeiten zum Schutz von wehrlosen Menschen gibt, kann es möglicherweise zu einer Entsendung von UNO-Soldaten kommen. Allerdings nur von UNO-Soldaten. Dazu bedarf es in jedem Falle einer Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages, nachdem eine Grundgesetzänderung, die diese Möglichkeiten klarstellt und insbesondere auch die Priorität der nichtmilitärischen Konfliktschlichtung feststellt, vorhanden ist.Eine andere Möglichkeit, auf Ihren Antrag einzugehen, sehen wir nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor jetzt der Kollege Ortwin Lowack das Wort erhält, gibt es zwei Bitten um Zwischenbemerkungen.
Die erste gemäß § 27 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung will Herr Kollege Albrecht Müller machen. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich habe vorhin dazwischengerufen, daß dieser Somalia-Einsatz zuallererst eine PR-Aktion ist. Der Kollege Schäuble hat sich darüber entrüstet.
Er entrüstet sich zu Unrecht. Mir liegt eine Aktennotiz des UNO-Referats des Auswärtigen Amtes vom 30. März 1993 vor, in der es heißt:Dem Bundesverteidigungsminister geht es demgegenüber nach Aussagen der Arbeitsebene entweder um eine möglichst umfangreiche öffentlichkeitswirksame Beteiligung
oder um eine völlige Abstinenz.
Dies kann ich nur so interpretieren — im Klartext heißt es das auch —: Das Verteidigungsministerium
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Albrecht Müller
beharrte bei der Vorbereitung des Somalia-Einsatzes darauf, daß die Bundeswehr öffentlichkeitswirksam oder gar nicht beteiligt werden soll. „Völlige Abstinenz" heißt es.
Es ging bei diesen Beratungen von seiten des Verteidigungsministeriums für die Bundeswehr zuallererst nicht um die geschundenen Menschen, sondern um Öffentlichkeitsarbeit. Das ist auch politisch ganz verständlich. Es ging darum, eine neue Einsatzmöglichkeit für die Bundeswehr zu schaffen, ein neues Betätigungsfeld zu finden.Wer gestern das Fernsehen verfolgte, konnte erleben, wie diese Art von PR-Aktion abläuft: eine Militarisierung des Denkens und eine Freude darüber. Wenn man dann noch weiß, daß diese armen Menschen, die da unten von Ihnen eingesetzt werden, fast 5 000 DM im Monat mehr bekommen, wird verständlich, warum sie ganz selbstverständlich freudig darüber berichten, was sie dort tun.
Wenn man dieses gesamte Spektrum einbezieht, dann weiß man sehr wohl, was hier mit dahintersteckt. Ich will nicht unterstellen, daß es bei Ihnen nicht auch Leute gibt, die den Einsatz in Somalia auch aus humanitären Gründen wollen. Aber es ist ganz klar, daß hier der Public-Relation-Aspekt, die Öffentlichkeitsarbeit deutlich im Vordergrund steht. Zu dieser Einschätzung stehe ich.
Meine Damen und Herren, jetzt erhält der Abgeordnete Volker Rühe das Wort.
Ich muß das in aller Deutlichkeit und Härte zurückweisen, was hier an Behauptungen aufgestellt worden ist.
Ich bin stolz auf die Soldaten, die gestern abend — und Sie sprechen in unglaublicher Weise von einer PR-Aktion — als erstes gesagt haben: Wir freuen uns für das somalische Volk. Das zeigt, worum es den Soldaten geht.
Wer von Militarisierung des Denkens spricht — ich muß auch Herrn Thierse ansprechen, der heute morgen wieder von der Militarisierung der Außenpolitik gesprochen hat —, dem muß ich sagen: Es ist unglaublich, was an geistiger Umweltverschmutzung durch solche Begriffe angerichtet wird.
Die Soldaten und ich sind von der moralischen Qualität dieses Auftrages zutiefst überzeugt. Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben.
Landes- und Bündnisverteidigung ist etwas sehr Moralisches. Aber wenn man darüber hinausgeht und sagt, wir sind auch bereit, im Auftrag der Vereinten Nationen anderen Völkern zu helfen, dann ist das ein zutiefst moralischer Auftrag. Das müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen.
Damit Sie wissen, was Sie und Ihre Freunde anrichten: Am Sonnabend gibt es eine Demonstration bei mir zu Hause, leider von der Hamburger Polizei genehmigt, bis in die Straße, in der ich wohne. Ich will Ihnen nicht unterstellen, daß sich Ihre Freunde daran beteiligen, aber der Aufruf lautet: „Kriegsminister, wir kommen!"
Deswegen kann ich Ihnen nur in aller Deutlichkeit sagen: Unterlassen Sie solche Formulierungen wie Militarisierung der Außenpolitik, Militarisierung des Denkens. Es ist ein zutiefst moralischer Auftrag, den unsere Soldaten dort durchführen. Das sollten wir unseren Mitbürgern auch immer wieder sagen.
Meine Damen und Herren, nur zur Klarstellung: Der Abgeordnete Volker Rühe hatte gemäß § 27 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung das Recht, hier zu reden.
Es ist egal, wo er redet, entscheidend ist: an einem Mikrophon.
Nun hat als nächster zu einer Zwischenbemerkung gemäß § 27 Abs. 2 unser Kollege Ulrich Irmer das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! Daß dieser unqualifizierte Zwischenruf von vorhin jetzt damit begründet wurde, daß der Kollege offensichtlich in irgendwelchen Papierkörben irgendwelcher Ämter irgendwelche Nichtpapiere herausgestöbert hat, paßt genau ins Bild.
Zur Sache selbst hat der Kollege Rühe das Notwendige gesagt.Ich will noch einmal auf das eingehen, was vorher wieder versucht wurde: auf den untauglichen Versuch, die gestrige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einen Sieg der SPD umzumünzen mit der Begründung, es sei ein Erfolg des Parlamentes durchgeboxt worden. Hier wird zweierlei völlig verkannt.
— Nein, das hat Herr Verheugen gesagt.Erstens. In dem Grundgesetzänderungsentwurf der Koalition steht genau drin, daß wir das Parlament an
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14340 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Ulrich Irmersolchen Entscheidungen beteiligen wollen. Das müssen Sie nur lesen.
Zweitens haben Sie ja beim Bundesverfassungsgericht nicht beantragt festzustellen, daß das Parlament beteiligt werden soll, sondern Sie haben beantragt, daß die ganze Aktion in Somalia gestoppt werden soll. Diesem Antrag hat das Gericht nicht entsprochen.Das Gericht hat etwas zum Ausdruck gebracht, was wir im Verfassungstext auch verankert sehen möchten und was wir auch, wenn Sie nicht blockieren würden, längst hätten verankern können,
daß nämlich die notwendigen militärischen Einsätze unter dem Dach der Vereinten Nationen in diesem Parlament mit entsprechenden Mehrheiten abgesegnet werden müssen. Sie können jetzt nicht darum herumreden und das verschleiern.Wir können Sie nur noch einmal auffordern: Setzen Sie sich mit uns zusammen und beschließen Sie mit uns die notwendigen Verfassungsänderungen. Sonst bleibt Ihnen der Vorwurf nicht erspart, daß Sie es sind, die die Außen- und Sicherheitspolitik dieser Bundesrepublik Deutschland lahmlegen.
Jetzt erhält als letzter Redner in der Debatte unser Kollege Ortwin Lowack das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist tatsächlich eines der weisesten und weitreichendsten, das es in den letzten Jahren beschlossen hat. Die Entscheidung ist geradezu revolutionär, jedenfalls gemessen an der bisherigen Praxis des Deutschen Bundestags. Die Entscheidung war dringend notwendig, um dem Parlament die eigene Verantwortung bewußt zu machen und der leider weitverbreiteten Spielwiesenmentalität ein Ende zu bereiten. Das Urteil könnte sogar ein Meilenstein auf dem Weg zu mehr Selbständigkeit sowohl der einzelnen Abgeordneten als auch des Bundestags insgesamt sein.
In diesem Zusammenhang erinnere ich erneut daran, daß nach den schwerwiegenden Versäumnissen und Erfahrungen im Golfkrieg dieser Bundestag bereits im April 1991 zusammentreten sollte, um die Entscheidung über den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von UN-Sicherheitsratsbeschlüssen zu treffen. Wir hätten längst diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Hauptsache, wenn sich das Parlament damals nicht dem Willen der Bundesregierung gebeugt und diese Debatte auf unbestimmte Zeit verschoben hätte.
Ich muß auch an frühere Beiträge erinnern. Jeder einzelne Abgeordnete muß wissen, daß er mit seinem Mandat über Leben und Unversehrtheit anderer entscheidet und daß hier oft schwierige Güterabwägungen notwendig sind, daß er aber auch diese Entscheidung weder vor sich herschieben noch abschieben noch allein der Bundesregierung überlassen kann.
Ich warne auch davor, bereits jetzt wieder in Angstlichkeit zu verfallen und eine Minimalentscheidung zu treffen, die uns morgen erneut vor neue Probleme stellen könnte. Vielmehr muß der Bundestag die Gelegenheit wahrnehmen, um heute eine Entscheidung zu treffen, die Verantwortung und Weitsicht zeigt. Der Bundestag sollte deshalb klarstellen, daß er bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache von folgendem ausgeht.
Erstens. Die Vereinten Nationen sind im Sinne des Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dem sich der Bund zur Wahrung des Friedens ohne jeden Vorbehalt angeschlossen hat.
Zweitens. Im Rahmen von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates ist die Bundesregierung ermächtigt, alle Maßnahmen zu ergreifen, die zur gemeinsamen Durchsetzung dieser Beschlüsse notwendig sind.
Drittens. Diese Maßnahmen stehen unter dem Vorbehalt einer Entscheidung der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestags. Ich hielte diese Mehrheit der Mitglieder für notwendig, damit hier auch wirklich ein Bekenntnis abgelegt wird und sich sehr viele Abgeordnete an dieser Abstimmung beteiligen.
Dieser Entscheidungsvorschlag orientiert sich im übrigen an der bereits bestehenden Regelung in Art. 80 a des Grundgesetzes, die leider zu oft vergessen wird, und schafft Klarheit für unsere Verbündeten und die Weltgemeinschaft, eine Klarheit, die dringendst geboten ist.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf der Drucksache 12/5248 soll überwiesen werden zur federführenden Beratung an den Verteidigungsausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß und den Rechtsausschuß sowie an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir kommen nun zum letzten Tagesordnungspunkt, den wir heute behandeln wollen. Interfraktionell ist nämlich vereinbart worden, daß wir Tagesordnungspunkt 14 erst in der nächsten Woche aufrufen, weil wir sonst nicht wie vorgesehen fertig würden.Ich rufe also Punkt 13 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEntlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1990 — Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes
zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993 14341
Vizepräsident Helmuth BeckerBemerkungen des Bundesrechnungshofes 1992 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
— Drucksachen 12/2561, 12/3250, 12/5171 — Berichterstattung:Abgeordnete Wilfried BohlsenKarl DeresFür die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Die Aussprache ist eröffnet. Als erster hat unser Kollege Bohlsen das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nach der Debatte, die vorangegangen ist, kehre ich zur nüchternen Haushalts- und Rechnungsprüfungspolitik zurück.Der Rechnungsprüfungsausschuß hat sich in umfangreichen Beratungen mit den Feststellungen des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1990 befaßt. Bei dem Tagesordnungspunkt „Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1990" geht es um die Frage: Wurde ordnungsgemäß gewirtschaftet? Bei dieser umfangreichen parlamentarischen Arbeit geht es um die Wahrung des Kontrollrechtes des Parlaments. Dafür bietet der Bericht des Bundesrechnungshofes die erforderliche Grundlage. Das Haushaltskontrollrecht, das Recht des Rechnungsprüfungsausschusses, den Staatshaushalt zu überwachen, ist eine unserer wichtigsten parlamentarischen Kontrollfunktionen. Die Bedeutung der Haushaltskontrolle hat weiter zugenommen, da die Staatsaufgaben, insbesondere nach der Vereinigung von West- und Ostdeutschland, bei insgesamt knapper werdenden öffentlichen Mitteln erheblich angestiegen sind.Wir nehmen insgesamt eine vergangenheitsbezogene Kontrolle wahr, versuchen aber immer wieder, begleitende Überwachungen des aktuellen Geschehens mit einzubinden.Die ständige Berichterstattung des Bundesrechnungshofes an den Rechnungsprüfungsausschuß ist eine wesentliche und solide Grundlage für die Wahrnehmung einer umfassenden Kontrollfunktion.Als Jahresberichterstatter möchte ich das angenehme Arbeitsklima im Rechnungsprüfungsausschuß besonders hervorheben. Dabei geht mein Dank an den Ausschußvorsitzenden Karl Deres, den wir hier in unseren Reihen sehen.
Karl Deres hat die Sitzungen souverän geleitet. Mein Dank geht auch an die Kolleginnen und Kollegen des Rechnungsprüfungsausschusses, die in gründlicher Vorbereitung und in Wortbeiträgen gute Arbeit geleistet haben. Mein Dank gilt ebenso dem Ausschußsekretär, Herrn Dr. Dr. Kolbe, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die gute Zuarbeit.Einen besonderen Gruß und einen besonderen Dank will ich in diesem Jahr dem Präsidenten desBundesrechnungshofs, Herrn Dr. Zavelberg, abstatten.
Ihnen, Herr Dr. Zavelberg, der Sie zum letztenmal von der Tribüne aus an einer Debatte teilnehmen, möchte ich danken. Sie werden im Herbst dieses Jahres aus Altersgründen ausscheiden. Ihnen möchte ich für die Zuarbeit danken, die wir durch Sie, aber auch durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses erfahren haben. Von dieser Stelle aus herzlichen Dank!
Wir, die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses, waren hart und kritisch in der Sache. Wir waren bemüht, die Beschlußfassungen einvernehmlich zu regeln. Wie in den Vorjahren wurden die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes überwiegend mit Zustimmung zur Kenntnis genommen, was eigentlich ein überzeugender Beweis für die qualitativ hochwertige Arbeit des Bundesrechnungshofes ist.Lassen Sie mich als Jahresberichterstatter zu einigen Besonderheiten dieses Haushaltsjahres etwas sagen. Bei den Feststellungen zur Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 1990, hat sich der Ausschuß u. a. mit den Problemen befaßt, die durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland entstanden sind. Dabei nenne ich drei Bereiche, nämlich das Sondervermögen Fonds Deutsche Einheit, das Sondervermögen Treuhandanstalt und das Sondervermögen Kreditabwicklungsfonds.Der Bundesrechnungshof hat in diesem Zusammenhang auf die steigende Staatsverschuldung hingewiesen und dabei deutlich gemacht, daß der autonome Spielraum des Staates zur Gestaltung der Staatsaufgaben durch die Staatsverschuldung weiter abnimmt.Bei den über- und außerplanmäßigen Ausgaben wurde positiv zur Kenntnis genommen, daß der Gesamtbetrag der ungenehmigten Ausgaben geringer geworden ist. Die Anzahl der Fälle, in denen derartige Ausgaben geleistet worden sind, hat nach Feststellung des Ausschusses jedoch zugenommen.Wir haben in der letzten Woche ein Pressegespräch geführt, an dem einige Kollegen teilgenommen haben. Ich spreche hier den Kollegen Purps an, der ein besonderes Thema aufgegriffen hat, nämlich die Verlagerung von staatlichen Aufgaben auf Gesellschaften des privaten Rechts. Dabei hat er kritisiert, daß dadurch eine Beeinträchtigung der parlamentarischen Kontrollbefugnis entstehen kann.
— Ich will das gern aufnehmen. Der Rechnungsprüfungsausschuß hat sich mit diesem Thema ja auch ausführlich befaßt und ist der Auffassung, daß jede kostenwirksame öffentliche Ausgabe der Kontrolle des Parlaments unterliegen muß.
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14342 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Wilfried BohlsenEs würde dem Selbstverständnis des Haushaltsausschusses widersprechen, wenn er Mittel bewilligen muß, deren Verwendung er anschließend nicht überprüfen kann. Dabei wurde festgestellt, daß bei privatrechtlich organisierten öffentlichen Gesellschaften eine parlamentarische Kontrolle besonders wichtig ist.
Der Ausschuß ist der Auffassung, daß alle Gesellschaften, die öffentliche Gelder aus dem allgemeinen Haushaltsbereich beanspruchen, der vollen Kontrolle des Parlaments und des Bundesrechnungshofes unterliegen müssen.
Wir haben den Bundesrechnungshof um einen Bericht gebeten, welche Auswirkungen die Verlagerung staatlicher Aufgaben auf Gesellschaften des privaten Rechts nach gegenwärtiger Gesetzeslage auf die Prüfungstätigkeit des Rechnungshofes sowie auf die Kontrollfunktion des Parlaments hat. In diesem Zusammenhang haben wir die Bundesregierung gebeten, unter Federführung des Bundesministers der Finanzen zu diesem Problem umgehend Stellung zu nehmen.Lassen Sie mich noch einige wenige Sätze zu den Organisationsstrukturen der Bundesministerien sagen. Der Bundesrechnungshof hat den organisatorischen Aufbau und die personelle Ausstattung der Bundesministerien untersucht. Kritik wurde daran deutlich, daß die Organisationsgrundsätze nicht hinreichend beachtet werden. Vor allem wurden die große Anzahl von Kleinreferaten und eine teilweise zu hohe Personalausstattung beanstandet.Der Rechnungsprüfungsausschuß hat die Kritik des Bundesrechnungshofes als sachlich berechtigt angesehen. Zugleich wurde anerkannt, daß die in der Vergangenheit erfolgte Stellenvermehrung zum Teil gerechtfertigt ist, und zwar wegen der immer komplizierter werdenden Umsetzung von Gesetzen und wegen der Arbeitszeitverkürzung.Übereinstimmung bestand darin, daß die Überprüfung der Organisationsstrukturen in erster Linie auch eine Daueraufgabe des jeweiligen Ministeriums ist.Meine Damen und Herren, an dieser Stelle hätte ich gern einige Fälle aus meinem Berichterstatterbereich aufgezählt. Aber wir alle mußten leider zur Kenntnis nehmen, daß eine vorgesehene Debatte von 60 Minuten auf Grund der vorhergehenden Somalia-Debatte auf die Hälfte verkürzt wurde, so daß auch ich meine Redezeit reduzieren muß. Andere Kollegen haben ganz verzichtet. Ich wäre dem Präsidenten dankbar, wenn er erlauben würde, daß die Kollegen, die nicht zu Wort kommen, ihre Redetexte gegebenenfalls zu Protokoll geben.
Zu dem umfangreichen Berichterstattungsbereich, den ich im Rechnungsprüfungsausschuß wahrgenommen habe, gehört auch der Postbereich. Ich kann auf diese Berichterstattung leider nicht mehr eingehen, weil die Zeit es nicht erlaubt, und wäre dankbar, wenn ich diesen Teil meiner Rede mit in die Protokollierung einbringen könnte, Herr Präsident.*)s) Anlage 3Zum Schluß will ich ein Thema ansprechen, das zwar mit der Post nichts zu tun hat, aber für meine Region einen besonderen Stellenwert hat. Das ist der Einsatz von Fischereiaufsichtsbooten. Der Bundesrechnungshof hatte die Ansicht vertreten, daß die vier vorhandenen Fischereiaufsichtsboote abgeschafft werden können. Der Bundesrechnungshof war der Meinung, daß die Wahrnehmung der Aufgaben durch die Luftüberwachung geschehen könne.Als Abgeordneter eines Wahlkreises von der Küste bin ich mit diesen Dingen natürlich vertraut, und ich konnte im Rechnungsprüfungsausschuß noch einmal deutlich machen, welch wichtige Aufgaben von den Fischereiaufsichtsbooten vor Ort wahrgenommen werden. Insbesondere das Eindringen niederländischer Fischereiflotten in deutsche Fanggründe ist ein wichtiger Grund, die Fischereiaufsicht so zu belassen, wie sie jetzt organisiert ist. Immer wieder geschieht es, daß die niederländische Fischereiflotte mit nicht zulässigen PS-Zahlen bei den Schiffsmotoren sowie mit zu grobem Fanggeschirr in deutsche Fanggründe eindringt. Dies bedeutet für die deutsche Fischerei einen nicht wiedergutzumachenden Schaden auch bei den Jungfischbeständen.Daher, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, war es dringend erforderlich, die bisher vorhandenen Fischereischutzboote weiterhin vor Ort zu behalten. Ich bedanke mich bei den Mitgliedern des Ausschusses, daß sie sich einstimmig dafür ausgesprochen haben, die Fischereischutzboote nicht abzuschaffen.Gestatten Sie mir eine Schlußbemerkung. Als Jahresberichterstatter habe ich dem Rechnungsprüfungsausschuß die Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1990 empfohlen. Inzwischen hat sich auch der Haushaltsausschuß dieser Empfehlung einstimmig angeschlossen. Die Entlastung der Bundesregierung umfaßt auch die Rechnung der Sondervermögen des Bundes, für die kein abweichendes Entlastungsverfahren vorgesehen ist.Die Bundesregierung wird aufgefordert, a) bei der Aufstellung und Ausführung der Bundeshaushaltspläne die Feststellung des Haushaltsausschusses zu befolgen, b) Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Ausschusses einzuleiten und c) die Berichtspflichten fristgemäß zu erfüllen, damit eine zeitnahe Verwertung der Ergebnisse bei den Haushaltsberatungen gewährleistet ist.Hiermit, liebe Kolleginnen und Kollegen, beantrage ich die Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1990.
Meine Damen und Herren, es liegt bisher der Wunsch des Kollegen Karl Deres **) vor, seine Rede zu Protokoll zu geben, und wir haben eben gehört, daß der Kollege Wilfried Bohlsen einen Ausschnitt aus seiner Rede ebenfalls zu Protokoll *) geben möchte. Wir kennen alle die Ursa-*) Anlage 3 **) Anlage 4
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993 14343
Vizepräsident Helmuth Beckerche: daß wir die Debatte um eine halbe Stunde verkürzt haben.
— Ich höre jetzt, daß Kollegin Thea Bock ihre Rede ebenfalls zu Protokoll geben will.*)Nun kann ich das nicht allein entscheiden, sondern ich muß fragen: Sind alle einverstanden? — Dann haben wir in diesem Augenblick die Geschäftsordnung in diesem Sinne geändert, und die Reden sind zu Protokoll gegeben.Nun hat als nächste Rednerin unsere Kollegin Uta Titze-Stecher das Wort.
Von wegen!Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, die Luft ist aus der Debatte heraus. Ich frage mich, wie man es aushält, hier ohne Spannung einem solchen Bericht zuzuhören. Auf der anderen Seite muß ich in Richtung Zuschauertribüne darauf aufmerksam machen: Selbst die Gelder für den Somalia-Einsatz bedürfen der Bewilligung durch den Haushaltsausschuß, und nach dieser Bewilligung wird im Rechnungsprüfungsausschuß geschaut,
ob die Gelder auch zweckvoll verwendet worden sind. Das heißt, auch die Verwendung solcher Gelder unterliegt der Haushaltskontrolle.
Deswegen ist es nicht ganz unwichtig, das zu tun, was wir heute machen, nämlich die Wirtschafts- und Rechnungsführung des Bundes zu kontrollieren, zu begleiten und den Bund zu entlasten.
Auf den Tag genau vor einem Jahr, liebe Kolleginnen und Kollegen, nämlich am 24. Juni 1992, haben Kolleginnen und Kollegen des Rechnungsprüfungsausschusses, der ein Unterausschuß des Haushaltsausschusses ist, zur Vorlage der Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes sowie zu den Bemerkungen des Bundesrechnungshofs zur Haushalts- und Wirtschaftsführung Stellung genommen, damals allerdings auf das Jahr 1989 bezogen. In Vorbereitung auf die heutige Debatte habe ich mir die Redebeiträge von damals zu Gemüte geführt, und siehe da, ich stelle fest, es sind akkurat die gleichen Probleme, die uns, das Parlament, aber auch den Bundesrechnungshof nach wie vor beschäftigen. Ich stelle sogar fest, Herr Kollege Bohlsen, daß Sie in Ihrer Rede schwerpunktmäßig auch das angesprochen haben, was mir Herzensangelegenheit ist. Das spricht für uns.*) Anlage 4Das bedeutet zweierlei: Erstens. Selbst wenn Probleme erkannt und benannt sind, ja, selbst wenn Lösungsvorschläge und Empfehlungen für eine effektivere Handhabung bei der Verwendung öffentlicher Gelder aufgezeigt worden sind, selbst wenn die so abstrakten Ziele wie Wirtschaftlichkeit der Verwaltung, Sparsamkeit und Effizienz in der Handhabung finanzieller Ressourcen für das Gemeinwohl in Handbüchern festgelegt und nachlesbar sind, bedeutet das noch lange nicht, daß auch entsprechend gehandelt würde, denn sonst wären unsere Arbeit und die Arbeit des Bundesrechnungshofs doppelt gemoppelt und schlicht umsonst. Eben deshalb lautet die erste Schlußfolgerung: Die begleitende und kontrollierende Arbeit des Rechnungsprüfungsausschusses auf der Grundlage der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Bundesrechnungshof — ein Blick auf die Tribüne zu Herrn Zavelberg — ist und bleibt ständige Aufgabe nach dem Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle aber immer noch besser".
Schließlich kann wohl keiner von einer Verwaltung erwarten, daß sie ihre Ausgaben selbstkritisch prüft oder im Extremfall sogar in Frage stellt. Das müssen andere tun. Wie sagte der Rechnungsprüfungsausschußvorsitzende Karl Deres auf der Pressekonferenz am vergangenen Freitag auf die Frage eines Reporters, was denn diese Arbeit unter dem Strich bringe, so schön? „Seien Sie versichert, wir machen uns bezahlt. "Zweite Schlußfolgerung: Daß hier im Plenum wie im Rechnungsprüfungsausschuß selbst Jahr für Jahr ein Thema mit Variationen vorgetragen wird, liegt nicht nur an die Dickfälligkeit von Verwaltungen, sondern schlicht und einfach daran, daß die jährliche Beschäftigung mit der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes aus Anlaß der Entlastung der Bundesregierung für das jeweilige Haushaltsjahr nicht nur aus dem eben genannten Grund, nämlich der Haushaltskontrolle, notwendig ist. Nein, im Klartext kommt eines noch hinzu: Jedes Jahr hat das Parlament zu prüfen — deswegen eingangs die Bemerkung zu Somalia —, ob Mittel ausgegeben worden sind, die nicht bewilligt wurden — auch das kommt vor —, und ob Mittel, die bewilligt wurden, zweckwidrig verwendet wurden; auch dies kommt vor. Dies bietet Gelegenheit, Parlament und Öffentlichkeit gegenüber zu dokumentieren, daß wahrgenommene Kontrollrechte in dem einen oder anderen Fall auch positive Wirkungen hatten. Ohne diese positive Rückmeldung aber — Kollegin Bock und Kollege Wagner können wegen der verkürzten Debattenzeit genau solche Beispiele jetzt leider nicht vorführen — wäre die Arbeit sowohl für den Rechnungsprüfungsausschuß als auch für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Bundesrechnungshofs schlicht frustrierend, denn im allgemeinen — auch das wurde vom Kollegen Bohlsen schon angesprochen — läuft die Kontrolle nachträglich ab.Dies ist ein, wie ich denke, struktureller Nachteil, der dazu führt, daß oftmals der eingetretene Schaden von uns zwar benannt und beziffert, aber nicht beseitigt werden kann. Sinn machte das Ganze eigentlich nur, wenn gewährleistet wäre, daß die Regierung auf Grund der festgestellten Fehler der Vergangenheit ihr
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14344 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993
Uta Titze-Stecherkünftiges Vorgehen ändern würde. Um Mißverständnissen vorzubeugen — Zwischenrufe erwarte ich von den Kollegen hier nicht —: Ich beziehe mich hier strikt auf den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit im Umgang mit öffentlichen Geldern und auf sonst nichts. Dies ist eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Da dem aber nicht so ist, achten Haushalts- und Rechnungsprüfungsausschuß im Sinne einer vorbeugenden Kontrolle in zunehmendem Ausmaß darauf, daß von der Regierung beabsichtigte unvernünftige Maßnahmen von vornherein unterbleiben.
— Da würde ich keine Regierung ausnehmen, Kollege Purps.
Das war die staatstragende Bemerkung. — Daher nimmt die Zahl der Fälle zu, in denen Haushaltsausschuß und Rechnungsprüfungsausschuß den Bundesrechnungshof mit der Prüfung von beabsichtigten Maßnahmen der Regierung beauftragen, denn es ist immer noch leichter — das wissen wir aus dem konkreten Leben —, Geldausgaben zu vermeiden, als verschwendete Gelder über Regreßforderungen wiederzugewinnen, wie wir aus leidvoller Erfahrung mit dieser Thematik wissen.
— Freut mich, Herr Kollege Thiele.
Ich denke, daß eines deutlich geworden ist: Der Rechnungsprüfungsausschuß kann ohne die vermittelnde Tätigkeit des Bundesrechnungshofs, ob nun in die Vergangenheit oder in die Zukunft hinein gesehen, seine Kontrollaufgabe schlechterdings nicht erfüllen. Deshalb an dieser Stelle erstens ein ausdrückliches Wort des Dankes an den Bundesrechnungshof für seine Arbeit und zweitens eine klare Aussage zur Rolle des Bundesrechnungshofs aus unserer, aus parlamentarischer Sicht. Wir — ich denke, ich darf die Kolleginnen und Kollegen hier mit einbeziehen —, die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses, sind nur so gut, wie der Bundesrechnungshof gut ist, d. h. unabhängig und in ausreichender personeller Besetzung arbeiten kann. Wenn also laut Aussage des Präsidenten des Bundesrechnungshofs — gestern abend —
— richtig! — von 104 Stellen im höheren Dienst lediglich 69 besetzt sind, d. h. 35 Stellen unbesetzt sind, dann müssen wir als Parlamentarier an der Beseitigung dieses unerquicklichen Zustands höchst interessiert sein, uns aber auch fragen, wie es zu dieser Situation kommen konnte.Vielleicht passend aus parlamentarischer Sicht einen Rat an den Bundesrechnungshof im Zusammenhang mit dem Stichwort Personalgewinnung, Gewinnung von qualifizierten Kräften für diese Arbeit: Um der Klage in diesem Bereich abzuhelfen, sollte man sich seitens des Bundesrechnungshofs vielleicht überlegen, selbst für Nachwuchs zu sorgen und ihn durch Ausbildung heranzuziehen, wie dasbeispielsweise beim Nachbarn Frankreich bereits gemacht wird.
Auf den Punkt, daß die Prüfung da anders organisiert ist, gehe ich hier nicht ein.Zwei Themen möchte ich noch ansprechen, die bereits bei der Debatte vor einem Jahr eine sehr große Rolle vor allem in der Rede des Jahresberichterstatters Thiele gespielt haben. Diese Themen möchte ich speziell ansprechen, weil sie den Rechnungsprüfungsausschuß nicht nur im vergangenen Jahr begleitet haben, sondern mit Sicherheit auch in den nächsten Jahren beschäftigen werden. Es ist dies einmal der Aufbau der Finanzverwaltung in den neuen Ländern, und zum anderen sind es die Folgen der zunehmenden Privatisierung von Bundesunternehmen bzw. die Tendenz, die Sie, Herr Kollege Bohlsen, auch schon mit Vorschlägen versehen, beschrieben haben, öffentliche Aufgaben durch privatrechtlich organisierte Gesellschaften erbringen zu lassen, und die Folgen dieser Handhabung.Sowohl im Haushaltsausschuß als auch im Rechnungsprüfungsausschuß wurde nicht verkannt, daß die Probleme in den Bereichen Finanz- und Steuerverwaltung in den neuen Bundesländern zunächst auf das Konto anlaufbedingter Schwierigkeiten gehen. Inzwischen aber hat, wie wir alle wissen, Verwaltungshilfe stattgefunden, wenn auch nach Meinung der SPD nicht in ausreichendem Maße. Beweis: Es gäbe ja sonst weniger Defizite. Nun stellt sich heraus, daß unsere vor einem Jahr geäußerten Befürchtungen Wahrheit geworden sind, erstaunlicherweise aber in unterschiedlichem Ausmaß, betrachtet man die einzelnen Bundesländer. Namen möchte ich hier nicht nennen; Sie warten vergeblich darauf. Das Ganze decken wir einmal mit dem Mantel der Nächstenliebe zu, bis der Hammer der Rechnungsprüfung die Länder erwischen wird.Solange dieser Zustand anhält, solange also die Steuerverwaltungen in diesen Ländern nicht ordnungsgemäß funktionieren,
— nein, nein, ich schaue nach Osten, Herr Kollege, im Saarland sind die Probleme inzwischen geprüft, kontrolliert, und es liegen Lösungsvorschläge auf dem Tisch, wie Sie wissen —, wird die Bereitschaft zur Gewährung neuer Gelder vom Bund an die neuen Länder auch unter diesem Gesichtspunkt kritisch unter die Lupe zu nehmen sein.
— Das freut mich. Denn in diesem Falle müssen wir wirklich schauen, wo Staatsgelder hingehen und wie sie verwendet werden.Zum zweiten Dauerthema: In letzter Zeit häufen sich Fälle, in denen privatrechtlich organisierte Gesellschaften Zuschüsse in Millionenhöhe erhielten und diese unsachgemäß verwendeten. — Ich weiß, Herr Präsident; ich sehe die rote Lampe leuchten. — Beispiele sind die GFBA, bahnabhängige Gesellschaften und Großforschungseinrichtungen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993 14345
Uta Titze-StecherIch komme zum Schluß, weil dieses Gebiet ja von Ihnen, Herr Bohlsen, bereits angesprochen wurde. Ich denke, daß diese Situation, nämlich öffentliche Aufgaben privatrechtlich zu organisieren und dann die entstehenden Verluste zu sozialisieren, d. h. durch den Bund ausgleichen zu lassen, nicht mehr hingenommen werden kann und daß wir in Zukunft darauf achten müssen — da hoffe ich auf die Unterstützung aller Kollegen in diesem Haus; Sie haben sie ja bereits angekündigt —, daß der Umfang der künftigen Haushaltskontrollbefugnis durch das Parlament vertraglich in all den Bereichen abgesichert wird, in denen auch nur eine einzige müde Mark an öffentlichen Geldern beansprucht wird.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Meine Damen und Herren, als letzter Redner zu Tagesordnungspunkt 13 erhält nunmehr unser Kollege Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die verbundene Debatte über die Jahresrechnung 1990 sowie über die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes findet nicht die öffentliche Resonanz, die dieses Thema eigentlich verdient hätte.
Gleichwohl möchte ich an dieser Stelle dem Bundesrechnungshof, insbesondere Ihnen, Herr Präsident Zavelberg, aber auch Karl Deres als Vorsitzendem des Rechungsprüfungsausschusses herzlich danken.
Das Jahr 1990, über welches wir uns hier unterhalten, war das Jahr der deutschen Einheit. Dies hat auch haushaltsmäßige Auswirkungen, deren teilweise bittere Realität uns erst langsam bewußt und inzwischen immer klarer geworden ist, aber in den Auswirkungen bis zum heutigen Tage noch immer nicht richtig verarbeitet wurde. Inzwischen spüren wir allerdings viel deutlicher, welche Erblast uns der real existierende Sozialismus tatsächlich beschert hat.
Da wir hier über den Haushalt sprechen, möchte ich auf die zukünftige Haushaltslage des Bundes eingehen. Der Bundeshaushalt beträgt derzeit etwa 460 Milliarden DM. Hiervon entfallen allein 120 Milliarden DM, d. h. 26 % des Gesamtetats auf das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, auf den Etat von Norbert Blüm. Dies ist eine gigantische Zahl. Sie beträgt das Zweieinhalbfache des Verteidigungsetats.Der nächstgroße Ausgabenposten des Bundes ist der Zinsdienst, für den 1993 60 Milliarden DM eingestellt sind. Bei einer geplanten Nettoneuverschuldung von 70 Milliarden DM pro Jahr und einem Zinssatz von 8 % erhöht sich der Zinsdienst des Bundes durch die Neuverschuldung um gut 11 Milliarden DM Zinsen pro Jahr. Das bedeutet, daß wir allein aus diesem Grund im Etat 1995 durch die dann in den Haushalt eingestellte Neuverschuldung 1993/94 70 Milliarden DM Zinsen pro Jahr zu zahlen haben.Im Jahre 1995 werden dann die Schulden aus der Konkursmasse des SED-Regimes in Höhe von etwa 500 Milliarden DM in den Haushalt eingestellt, was weitere 40 Milliarden DM kosten wird.
— Die deutsche Einheit haben wir nicht verschuldet. Über die deutsche Einheit sind wir glücklich; andere hatten eine andere Auffassung.Der Anteil des Zinsdienstes am Gesamthaushalt beträgt dann 110 Milliarden DM, fast ein weiteres Viertel des Gesamtetats.Wir müssen also feststellen, daß 1995 — bei unterstellten ähnlichen Rahmenbedingungen des Haushaltes wie zur Zeit — ca. 50 % des Etats durch das Ministerium für Arbeit und Soziales sowie durch den Zinsdienst gebunden sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen dadurch in die Situation, daß die politische Gestaltungsfähigkeit innerhalb der Bundesrepublik Deutschland nicht nur gegen null geht, sondern ins Minus geht.Wir müssen erkennen, daß der Staat und die Staatsquote in einem Ausmaß wachsen, das nur noch Angst und Sorge verbreitet.
Der Haushalt der Bundesrepublik Deutschland steigt nach dem bisherigen Stand —leider, muß ich sagen — um 7,3 %. Der Staat entwickelt sich zum Inflationstreiber Nummer eins in diesem Land. Zeitgleich steigt die Belastung für unsere Bürger immer stärker. Die Belastbarkeit der Bürger ist aber nicht unbegrenzt.
Wir müssen aufpassen, daß sich Leistung in unserem Staate noch lohnt und daß nicht die Leistenden in einer Form zur Kasse gebeten werden, die jeden Anreiz zu mehr Leistung erstickt.Wir als Parlament haben die Pflicht — das sage ich gerade als Koalitionsabgeordneter —, auf notwendige Veränderungen zu drängen und diese auch herbeizuführen. Noch schöner wäre es allerdings, wenn die Regierung mit klaren Richtlinien und eindeutigen Handlungen vorangehen würde.
Nicht alles vermeintlich Unpopuläre ist auch wirklich unpopulär. Daß bei Sparaktionen die Betroffenen aufschreien und sich dagegen zur Wehr setzen, ist normal. Die Politik versagt aber, wenn sie sich der Summe von Einzelinteressen beugt und dadurch das Gesamtinteresse aus den Augen verliert. Dies setzt aber z. B. voraus, daß der Finanzminister bei Vorlagen der Ministerien für den Haushaltsausschuß nicht nur als reine Durchreichungsbehörde agiert, sondern end-
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Carl-Ludwig Thielelich eine selbständige und an den Notwendigkeiten des Haushalts orientierte Vorprüfung vornimmt.Hinzu kommt teilweise noch, daß die Öffentlichkeit und die Abgeordneten mit populistischen Vorschlägen einzelner bekannter Politiker befaßt werden, z. B. die Zahl der Bundestagsabgeordneten auf 500 zu reduzieren.
Ich halte solche Überlegungen für ausgemachten Unfug. Vor der deutschen Einheit wurde die Zahl von 518 Abgeordneten zu 60 Millionen Einwohnern, d. h. 115 000 Einwohner pro Abgeordneten, nie in Frage gestellt. Nachdem sich die Bevölkerung durch die deutsche Einheit um knapp ein Drittel vergrößerte, wurde auch die Zahl der Abgeordneten um knapp ein Drittel erhöht.
— Nun hören Sie doch erst einmal zu!Nunmehr, in einer Zeit, in der über Bürgerferne der Politiker und Staatsferne der Bürger geklagt wird, soll das Verhältnis um ein gutes Drittel verschlechtert, nämlich auf 160 000 Einwohner pro Abgeordneten gesenkt werden. Dies ist in meinen Augen grober Unfug.
Zudem müßten für die Durchsetzung eines solchen Vorhabens sämtliche Wahlkreise neu geschnitten werden. Da insbesondere die beiden großen Parteien in jedem Wahlkreis eigene Interessen haben, die nicht ohne weiteres unter einen Hut zu bringen sind, und da das Neuschneiden von Wahlkreisen von den direkt gewählten Abgeordneten, die immerhin die Hälfte dieses Hauses darstellen, abgelehnt werden dürfte, ist dies eine reine Beschäftigungsmaßnahme, die außer Schlagzeilen nicht viel bringt.Man muß sich fragen — auch ich frage mich dies —: Warum kommen solche Vorschläge von Abgeordneten, die in ihren hohen Funktionen — auch in Gesamtverantwortung für den Haushalt — eigentlich wichtigere und finanziell bedeutsamere Aufgaben zu erfüllen haben?
Herr Kollege Thiele, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Diller?
Gerne nach drei Sätzen, die ich eben noch aussprechen will.
Bitte, gerne.
Ist es etwa die Sucht nach der Schlagzeile? Ist es etwa billiger Populismus? Oder ist es der Versuch, die Medien von den wirklich drängenden Problemen abzulenken? Ich weiß es nicht; aber wir alle und gerade wir Haushälter sollten uns von der vor uns liegenden schweren Aufgabe der Etatüberprüfung nicht durch solche Phantomdiskussionen abhalten lassen.
Bitte, Herr Kollege Diller.
Herr Kollege Diller zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Thiele, da Sie die letzten Bemerkungen Ihrer Rede völlig am Thema vorbei plaziert haben, möchte ich Sie doch bitten, wieder zum Thema zurückzukommen und dem Hohen Hause einmal zu berichten, wie das mit der Umschulung des Generals war.
Herr Kollege Diller, die Frage, wer hier am Thema vorbei redet oder fragt, kann ich direkt zurückgeben; denn ich vermute, Sie waren in den Sitzungen des Rechnungsprüfungsausschusses dabei und brauchen von mir keine Nachhilfe darüber, wie die Situation war.
— Ich kann Ihnen den Bericht gerne zur Verfügung stellen, Herr Struck.
Das ist überhaupt kein Problem. Das ist alles auch öffentlich bekannt. Ich weiß nicht, ob wir angesichts der Zeit — in zwei Minuten haben wir eine Fraktionssitzung; und die Zuhörer auf der Besuchertribüne sind inzwischen gar nicht mehr da, Herr Struck; wenn Sie sich einmal umdrehen könnten — die Diskussion jetzt weiterführen müssen.
— Insofern bitte ich, von weiteren Zwischenfragen abzusehen, Frau Matthäus-Maier.
— Ich bitte um Nachsicht. Aber es war vorher viel spannender; da hätten Sie sich doch melden können.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages und insbesondere des Haushaltsausschusses: Lassen Sie uns stärker als bisher nach dem Gewaltenteilungsprinzip das originäre Recht des Parlamentes, nämlich das Recht der Etatkontrolle, wahrnehmen. Wenn wir dies tun, erfüllen wir unsere Pflicht und Verantwortung gegenüber der Verfassung, gegenüber unserem Volke und insbesondere gegenüber unserer Jugend, die morgen nicht alle Fehler bezahlen kann, die heute gemacht werden.
Ich bedanke mich.
Herr Kollege Thiele hat recht, die Zuschauer sind gegangen. Der Rechnungsprüfungsausschuß wird natürlich nicht darüber entscheiden, wie viele Mitglieder der Bundestag 1998 hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Juni 1993 14347
Vizepräsident Helmuth BeckerMeine Damen und Herren, hier ist gedankt worden dem Präsidenten des Bundesrechnungshofs, Herrn Zavelberg, hier ist gedankt worden dem Kollegen Karl Deres und vielen, die in diesem Bereich mitgearbeitet haben, dieses Werk zusammenzustellen, über das wir jetzt abstimmen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen zur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1990 und zu den Bemerkungen des Bundesrechnungshofs zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes 1990 — Drucksache 12/5171. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden — das will ich noch einmal wiederholen —, Tagesordnungspunkt 15 — Beratung des Antrags der Gruppe PDS/Linke Liste zu einem Verfahrensgesetz zu Art. 44 des Einigungsvertrages — von der heutigen Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? — Dem wird nicht widersprochen. Dann ist es so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 30. Juni 1993, 13.00 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.