Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: Eidesleistung eines Bundesministers
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom 13. Mai 1993 folgendes mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers
den Bundesminister für Verkehr, Herrn Professor Dr. Günther Krause, auf seinen Antrag aus seinem Amt als Bundesminister für Verkehr entlassen sowie
den Bundesminister für Forschung und Technologie, Herrn Matthias Wissmann, zum Bundesminister für Verkehr und
Herrn Dr.-Ing. Paul Krüger zum Bundesminister für Forschung und Technologie ernannt.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 vorgesehenen Eid.
Ich bitte Herrn Bundesminister Dr. Krüger zur Eidesleistung zu mir. Herr Bundesminister, ich bitte Sie, den Eid zu sprechen.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, Sie haben den vom Grundgesetz vorgesehenen Eid abgelegt. Ich möchte Ihnen für Ihre Tätigkeit alles Gute wünschen. Viel Erfolg!
Danke schön.
Meine Damen und Herren, zugleich möchte ich dem ausgeschiedenen Bundesminister Dr. Krause für seine Verdienste um die deutsche Einheit und die Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung danken. Für sein weiteres Wirken begleiten ihn unsere besten Wünsche.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetzt zu den Mitteilungen.Für den verstorbenen Kollegen Walter Rempe hat der Abgeordnete Hans-Peter Kemper am 3. Mai 1993 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.
Dann möchte ich Herrn Kollegen Dr. Schwörer, der am 1. Mai seinen 71. Geburtstag feierte, Herrn Kollegen Karl-Heinz Spilker, der am 3. Mai seinen 72. Geburtstag feierte, und Herrn Kollegen Dr. Horst Waffenschmidt, der am 10. Mai seinen 60. Geburtstag feierte, nachträglich die besten Wünsche des Hauses aussprechen.
Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes scheidet der Abgeordnete Wolfgang Roth als ordentliches Mitglied aus. Als seinen Nachfolger benennt die Fraktion der SPD den Abgeordneten Dr. Uwe Küster, der bisher stellvertretendes Mitglied in diesem Ausschuß war. Neues stellvertretendes Mitglied soll die Abgeordnete Gisela Schröter werden. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? — Ich höre dazu keinen Widerspruch. Damit sind Kollege Dr. Uwe Küster als ordentliches und Kollegin Gisela Schröter als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß bestimmt.Aus dem Vermittlungsausschuß scheidet der Abgeordnete Wolfgang Roth ebenfalls als ordentliches Mitglied aus. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolgerin die Abgeordnete Anke Fuchs, die bisher stellvertretendes Mitglied war, vor. Neues stellvertretendes Mitglied soll die Abgeordnete Gerlinde Hammerle werden. Sind Sie auch damit einverstanden? — Ich höre dazu keinen Widerspruch. Damit sind Kollegin Anke Fuchs als ordentliches und Kollegin
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Präsidentin Dr. Rita SüssmuthGerlinde Hämmerle als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Sicherung der Tarifautonomie — Drucksache 12/4818- 3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zum drohenden Ausbildungsnotstand in OstdeutschlandVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist, abgewichen werden.Des weiteren ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 3 a — Kinderpornographie —, 3 d — Bundesverfassungsgericht — und 3 f — Petitionen —, die Tagesordnungspunkte 7 a und b — Assoziationen mit Ungarn und Polen — und den Tagesordnungspunkt 9 — Gleichbehandlung von politischen Vereinigungen — abzusetzen.Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam. Die in der 156. Sitzung des Deutschen Bundestages am 30. April 1993 überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll nachträglich zur Mitberatung dem Ausschuß für Frauen und Jugend überwiesen werden: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbericht 1993 — Drucksache 12/4652 —.Sind Sie mit den Ergänzungen und Änderungen einverstanden? — Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Beratungen ohne Aussprache Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. März 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Chile fiber Rentenversicherung— Drucksache 12/4888 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnungb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes fiber die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten— Drucksache 12/4889 —Überweisungsvorschlag:Arbeit für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußRechtsausschußAusschuß für Frauen und JugendHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke Liste Donaukanalisierung zwischen Vilshofen und Straubing— Drucksache 12/4802 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Besteht dazu Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 b, 3 c sowie 3e auf — Abschließende Beratungen ohne Aussprache —:b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. Dezember 1991 fiber eine Zusammenarbeit und eine Zollunion zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik San Marino— Drucksache 12/4073 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/4896 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Elke Leonhard-Schmidc) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. April 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Argentinischen Republik fiber die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 12/4075 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/4897 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Rudolf Sprunge) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bei Kapitel 10 02 Titel 652 07 — Zuweisungen für einen sozio-strukturellen Einkommensausgleich- — Drucksachen 12/4364, 12/4784 —Berichterstattung:Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Wolfgang Weng Ernst KastningWir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 b, der zweiten Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
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Präsidentin Dr. Rita Süssmuthsetzes zu dem Abkommen über eine Zusammenarbeit und eine Zollunion zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik San Marino, Drucksache 12/4073. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/4896, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei drei Enthaltungen der PDS/Linke Liste angenommen.Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 3 c:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag mit der Argentinischen Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen— Drucksache 12/4075 —Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/4897, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist ebenfalls bei drei Enthaltungen der PDS/Linke Liste angenommen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 3 e:Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe— Drucksachen 12/4364, 12/4784 —Es handelt sich um die Zuweisungen für einen soziostrukturellen Einkommensausgleich. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen und über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage
— Drucksache 12/4887 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
RechtsausschußHaushaltsausschußInnenausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß TreuhandanstaltAusschuß für WirtschaftNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne damit die Aussprache. Als erster spricht Herr Staatssekretär Echternach. — Darf ich vielleicht darum bitten, daß Sie trotz Beglückwünschung Platz nehmen?
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung bringt heute einen Gesetzentwurf ein, der Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf dem Gebiet der früheren DDR seit dem Jahre 1933 regelt. Dieser Gesetzentwurf ist sicher eines der schwierigsten und kompliziertesten Gesetzesvorhaben seit der Wiedervereinigung.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie bitten, daß Sie einen Augenblick unterbrechen? — Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, entweder Platz zu nehmen oder den Saal zu verlassen.
Angesichts der widerstreitenden Interessen, aber auch angesichts der engen Vorgaben des Einigungsvertrages und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann dieses Gesetz keine der betroffenen Gruppen wirklich voll zufriedenstellen, sondern hier kann sich die Politik nur in der Kunst des Möglichen versuchen, also um einen möglichst fairen Ausgleich bemühen. Erst recht kann dieses Gesetz nicht die unterschiedlichen Lebensschicksale nachträglich korrigieren. Es kann nicht den verschiedenen Personengruppen, die während des Nationalsozialismus, die während der sowjetischen Besatzungsherrschaft oder die nach der Gründung der DDR von Haus und Hof vertrieben worden sind, jetzt jene reine Gerechtigkeit widerfahren lassen, die sich manche erhoffen. Hier spiegelt sich ein Stück deutscher Geschichte der letzten 60 Jahre wider.Dieses Gesetz ist trotz aller Schwierigkeiten dringend nötig. Wir erfüllen damit nicht nur einen Auftrag des Einigungsvertrages, sondern schließen damit auch eine Lücke im Entschädigungs- und Vermögensrecht und räumen vor allem ein wichtiges Investitionshemmnis beiseite.Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung von 1991 bestätigt, daß für das von den Sowjets und dem DDR-Regime begangene Unrecht die Bundesrepublik Deutschland nicht haftet, daß es also keine verfassungsmäßige Pflicht zur wertgemäßen Entschädigung gibt. Vielmehr darf der Gesetzgeber nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die finanziellen Möglichkeiten Rücksicht nehmen, die angesichts der sonstigen Staatsaufgaben bestehen, und diese sind ja wirklich gewaltig. Das Gericht weist in seiner Begründung ausdrücklich auf zwei weitere Fakten hin, nämlich einmal die Erfüllung der neuen Aufgaben aus dem Aufbau der neuen Bundesländer und zum anderen die wirtschaftliche Bankrottlage der ehemaligen DDR, für die nicht die Bundesrepublik verantwortlich ist.Der heute vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt vor allem sicher, daß die Regelung der Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen und deren Finanzierung soweit wie irgend möglich in sich ausgewogen sind. Denn Wiedergutmachung durch Rückgabe des Sachwertes und durch Geldentschädigung dürfen nicht zu sehr auseinanderklaffen. Diese
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Parl. Staatssekretär Jürgen EchternachRegelung muß sich gleichzeitig in das Finanzsystem der Kriegsfolgeregelungen und in das der ordnungsgemäßen DDR-Entschädigungen einfügen. Darüber hinaus dürfen keine völlig unüberschaubaren Kostenrisiken in Milliardenhöhe geschaffen werden, Mittel, die dann für den Aufbau Ostdeutschlands fehlen würden.Daneben gibt es für das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz noch eine weitere Vorgabe, nämlich aus dem Einigungsvertrag: Entschädigungen sind danach aus einem rechtlich selbständigen Entschädigungsfonds, also vom Staatshaushalt getrennt, zu finanzieren. Konkret bedeutet das: Die Leistungs- und die Ausgabenseite des Entschädigungsfonds müssen sich die Waage halten. Denn Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen können nicht aus allgemeinen Haushaltsmitteln und somit zu Lasten der Allgemeinheit der Steuerzahler aufgebracht werden.Wer dagegen den scheinbar bequemen Weg gehen will und fordert, der Staatshaushalt müsse direkt oder indirekt für die Entschädigung aufkommen, übersieht, daß bereits heute der deutsche Steuerzahler in die gesamtdeutsche Solidarität eingebunden ist und gewaltige Leistungen dafür aufbringt. Wir haben bereits eine Abgaben- und Steuerquote beschlossen, die wir nicht noch weiter erhöhen können, sondern von der wir mittelfristig wieder herunterkommen müssen,
soll der Standort Deutschland seine Attraktivität nicht verlieren. Das gleiche gilt für die jetzt notwendige Kreditaufnahme.Deshalb wahrt der Gesetzentwurf das Gebot der Haushaltsneutralität. Forderungen, darüber hinauszugehen, wären mit dem Zwang zur strikten Konsolidierung der staatlichen Haushalte nicht zu vereinbaren.Dieser Gesetzentwurf ist das Ergebnis sehr gründlicher Beratungen nicht nur in der Bundesregierung, sondern auch in verschiedenen Kommissionen und Arbeitsgruppen der Koalitionsfraktionen. Ich möchte allen beteiligten Kollegen dafür herzlich danken und stellvertretend einen Kollegen namentlich nennen, nämlich den Kollegen Johannes Gerster, dem ich von dieser Stelle aus persönlich und gesundheitlich alles Gute wünsche.
Er hat mit der von ihm geleiteten Kommission diesen Entwurf ganz maßgeblich geprägt.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist sich durchaus bewußt, daß wir mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Entschädigungs- und Ausgleichsregelung erlittenes Unrecht nur unvollkommen ausgleichen können. Eine völlige Wiedergutmachung jeden Unrechts kann es jedoch nicht geben. Eine umfassende Aufarbeitung der NS-Unrechts und der mehr als vier Jahrzehnte zurückliegenden Kriegsfolgeschäden würde die Finanzkraft unseres staatlichen Gemeinwesens weit überfordern. Keine Wiedergutmachungsregelung kann einen vollen Schadenersatzgewährleisten. Sie muß sich mit der Milderung von Härten begnügen.Dabei berücksichtigt der Gesetzentwurf die Ausgewogenheit der Maßnahmen zugunsten und zu Lasten der verschiedenen Betroffenen. Die Höhe der Entschädigung orientiert sich im einzelnen am Wert des Vermögensgegenstands zur Zeit und am Ort der Entziehung des Vermögens: bei Grundvermögen am 1,3fachen Einheitswert von 1935, bei Betriebsvermögen am einfachen Einheitswert von 1935 und bei Geldforderungen an dem mit 2:1 umgestellten Betrag.Hohe Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen werden entsprechend dem Sozialstaatsprinzip stufenweise gekürzt. Die Höchstgrenze der Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen beträgt 950 000 DM. Soweit bereits Gegenleistungen oder Lastenausgleich gewährt wurden, sind sie hierauf anzurechnen.Für die Opfer der Bodenreform hat die Bundesregierung außerhalb der formalen Gesetzesebene die Möglichkeit eines Rückerwerbs im Rahmen des Landerwerbs- und Siedlungsprogramms geschaffen.Soweit der enteignete Boden nach für den Bund verfügbar ist, erhalten damit die Opfer der Bodenreform eine Chance, wieder in der angestammten Heimat als Landwirte tätig zu werden — und das zu besonders günstigen Bedingungen. Wir brauchen ihren Einsatz und ihren Idealismus für den Wiederaufbau genauso, wie wir auch den jetzigen Siedlern eine Chance geben müssen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat anläßlich der Verabschiedung des Entwurfs erklärt, daß sie gemeinsam mit dem Haus prüfen will, ob dieses Landerwerbs- und Siedlungsprogramm auch im Gesetz selbst verankert werden kann.Schließlich hat die Bundesregierung vorgesehen, daß über 10 Jahre nach der Vertreibung endlich auch das schwere Schicksal der Heimatvertriebenen in den neuen Bundesländern anerkannt wird. Der Entschädigungsfonds leistet eine einmalige Zuwendung von 4 000 DM an die Vertriebenen, die ihren ständigen Wohnsitz in den neuen Bundesländern genommen haben.Rückgabeberechtigte, die nach dem Vermögensgesetz ihr Haus oder ihren Betrieb zurückerhalten, erfahren dank der Wiedervereinigung einen hohen Vermögenszuwachs. Dagegen kann sich die Höhe der Geldentschädigung nur nach dem Wert im Zeitpunkt der Enteignung richten. Daraus ergibt sich ein gravierendes Ungleichgewicht zwischen Rückgabe und Entschädigung, das durch die vorgesehene Vermögensabgabe gemildert werden soll. Die Vermögensabgabe ist also kein fiskalischer Anschlag, sondern macht die Schere zwischen dem relativ niedrigen Entschädigungswert und dem deutlich höheren heutigen Verkehrswert der Häuser und Betriebe überhaupt erst erträglich und entsprechend der Karlsruher Entscheidung auch rechtlich zulässig.Bei der Gestaltung der Vermögensabgabe orientiert sich die Bundesregierung am Sozialstaatsprinzip und
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Parl. Staatssekretär Jürgen Echternachan ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung. Weil wir wissen, in welchem Zustand sich die Häuser und Betriebe befinden, und um neue Arbeitsplätze zu schaffen, kann die Vermögensabgabe zur Hälfte, bei Betrieben sogar in voller Höhe, abinvestiert werden.Wir nehmen damit Rücksicht auf die Lage im Altwohnungsbestand und die generell ungünstigere Auftragssituation der reprivatisierten Betriebe und ihren hohen Investitionsbedarf. Die Bundesregierung hat durch Einräumung eines Freibetrags von 70 000 DM vor allem für die Rückgabeberechtigten aus den neuen Bundesländern die Tatsache berücksichtigt, daß sie keinen Lastenausgleich erhalten haben und deshalb geringere Chancen hatten, in der Vergangenheit eigenes Vermögen zu bilden.Das Volumen des Entschädigungsfonds beträgt insgesamt 12,5 Milliarden DM. Seine Einnahmen kommen je zur Hälfte aus Beiträgen der öffentlichen Träger, vor allem der Treuhand, für die nicht rückgebbaren Vermögenswerte und zur anderen Hälfte aus dem privaten Bereich, nämlich aus der Vermögensabgabe und den Rückflüssen aus dem Lastenausgleich.Meine Damen und Herren, das Problem von Entschädigung und Rückgabe, das Spannungsverhältnis von früheren Eigentümern und neuen Besitzern, ist nicht neu. Von Cicero wird uns überliefert, daß bereits vor 2 200 Jahren der Herrscher Arat in Sikyon vor ähnlichen Problemen stand, mit denen wir es heute zu tun haben. Arat war es gelungen, den Tyrannen Nikokles zu stürzen und seine Stadt von 50jähriger Herrschaft zu befreien. Mit ihm kehrten die verbannten Bürger in die Stadt zurück und forderten die Rückgabe ihres weggenommenen Besitzes.Wie Cicero berichtet, erkannte Arat schon damals, daß es nicht gerecht sei, die inzwischen geschaffenen Besitzverhältnisse von 50 Jahren umzustoßen, daß es aber auch nicht recht sei, wenn man den Enteigneten nicht mindestens eine Abfindung leiste, wenn schon eine Rückgabe nicht möglich sei. Cicero lobt den Staatsmann Arat in seiner weisen Bemühung um einen Ausgleich der Interessen von Alteigentümern und späteren Erwerbern. Darum hat sich auch die Bundesregierung bemüht.Wichtig ist vor allem, daß das Gesetz jetzt für alle betroffenen Bürger Klarheit über die Entschädigungshöhe und die Abgabeverpflichtung schafft und damit einen neuen Investitionsschub auslösen kann. Dieser wird noch verstärkt durch den gewaltigen Finanztransfer von West nach Ost von mindestens 6 Milliarden DM, den dieses Gesetz auslösen wird. Deshalb hoffe ich, daß dieses Gesetz — trotz aller damit verbundenen Probleme und trotz der deshalb notwendigen intensiven Beratung — noch in diesem Jahr in Kraft treten kann.Ich bedanke mich.
Als nächster spricht der Abgeordnete Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das heute zu debattierende Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, auf das die Menschen zweieinhalb Jahre warten mußten, ist in einem einzigartigen Beratungshickhack zustande gekommen. Es wurden Referentenentwürfe vorgelegt und in Ressortstreitigkeiten wieder verändert. Es wurde etwas auf Kabinettsitzungen aufgesetzt und wieder verschoben. Schließlich blieb ein ganzes Paket von Problemen für den Bundestag offen — d. h. im Klartext: durch die Bundesregierung nicht festgeklopft. Des weiteren wurde vor zwei Tagen von Minister Bohl angekündigt, daß der mühsam gefundene Kompromiß nun nicht durch weitere Änderungen zerstört werden soll. Das war ein Beratungshickhack, meine Damen und Herren, das nicht nur direkte Auswirkungen auf den Inhalt des Gesetzes hatte, sondern vor dem selbst die streitbarsten Sozialdemokraten vor Neid erblassen müssen. Das will etwas heißen, meine Damen und Herren.
Dabei geht es im Kern um eine zutiefst ernste Sache. Seit über zweieinhalb Jahren liegen die offenen Vermögensfragen der Konjunktur in Ostdeutschland wie ein Mühlstein am Hals. Unterdessen streitet sich die Bundesregierung mit der Industrie darüber wie viele Milliarden an Investitionen durch die offenen Vermögensfragen in Ostdeutschland nun tatsächlich steckengeblieben sind.Dabei geht es nicht nur darum, daß das Vermögensgesetz ein Beschäftigungsprogramm für Anwälte und ein Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung ist, sondern es geht immer auch um Menschen, für die für Jahre hinweg bezüglich ihres Eigentums, bezüglich ihrer Ansprüche und bezüglich ihrer Wohn- und Lebensperspektive Ungewißheit bleibt. Das ist ein Problem, meine Damen und Herren, bei dem wir noch längst nicht vor einer Lösung stehen, wie uns das monatlich durch Zahlenspielereien immer wieder vorgegaukelt werden soll.
Ich bringe einfach einmal die Zahlen aus Leipzig von Mitte April 1993 in Erinnerung. Wir haben dort fast 27 000 Anträge auf insgesamt mehr als 56 600 Ansprüche. Davon sind in 45 000 Fällen insgesamt Grundstücke berührt. Statistisch gesehen kommen damit durchschnittlich für die Stadt Leipzig auf ein Grundstück zwei Ansprüche. Bei einer Abarbeitungsquote von 10 bis 13 % — und die Leute, die dorthin gehen, sind wahrlich fleißig — wird dies eine Belastung über Jahre bleiben. Insofern kann man von einer Lösung überhaupt nicht reden.
Meine Damen und Herren, diese verfahrene Situation ist durch einen zentralen Mangel im Vermögensgesetz zusätzlich verschärft worden. Dieser Mangel besteht darin, daß bei der Gestaltung des Vermögensgesetzes 1990 ein Entschädigungsanspruch geregelt worden ist, ohne daß die detaillierten Einzelbestimmungen für die Entschädigung im Gesetz enthalten sind. Die Folge davon war, daß jeder Anspruchsberechtigte in die Restitution strömte, weil hier natürlich
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Rolf Schwanitzder höchste Gegenwert am wahrscheinlichsten war. Ein riesiger Restitutionsstau, der zur Notgeschäftsführung bei Immobilien führte und Investitionen über viele Jahre verhindert hat! Der erste Prüfstein für dieses Entschädigungsgesetz ist deshalb für uns die Frage, was er zum Abbau dieses Restitutionsstaus beiträgt.
Meine Damen und Herren, der Beitrag, den dieser Gesetzentwurf zur Linderung des Restitutionsdrucks in Ostdeutschland leistet, ist aus unserer Sicht gleich Null.
Die Höhe der Entschädigung bietet keinen Anreiz für die Wahl der Entschädigung.
Die Bundesregierung unternimmt offensichtlich noch nicht einmal den Versuch, die Attraktivität der Entschädigung zu verbessern. Folglich wird nach dem Willen der Bundesregierung bei der Wahl zwischen Restitution und Entschädigung auch nur eine Entscheidungsfrist von zwei Monaten eingeräumt, ein Zeitraum, der lächerlich kurz ist und kaum geeignet sein kann, ernsthaft eine Auswahl zwischen Restitution und Entschädigung zu ermöglichen.
Diese Konstruktion, meine Damen und Herren, ist eine Kapitulation der Bundesregierung vor den festgefahrenen Vermögensfragen, der wir im Interesse des wirtschaftlichen Aufschwungs im Osten nicht folgen können.
Worum es gehen muß ist folglich, die Schere zwischen Restitution und Entschädigung zu verringern. Wir werden uns deshalb für eine Verzinsung des Entschädigungsanspruchs ab 3. Oktober 1990 einsetzen und gleichzeitig eine Erhöhung der Vermögensabgabe fordern.Damit dabei keine unvertretbaren Härten und Nachteile, insbesondere auch für ostdeutsche Unternehmen, entstehen, muß die Möglichkeit der Abinvestierbarkeit der Vermögenssabgabe drastisch verbessert werden.Gleichzeitig ist die Wahlfrist zwischen Restitution und Entschädigung so weit zu verlängern, daß ein hinreichender Entscheidungsspielraum für den Anspruchsberechtigten eröffnet wird.Durch diese Vorschläge ist nicht nur eine Milderung des Restitutionsdrucks bei den offenen Vermögensfragen zu erwarten, es werden vielmehr gleichzeitig auch zusätzliche Investitionen nach Ostdeutschland gelenkt, zwei positive Wirkungen, die im Ergebnis des Regierungsentwurfs nicht zu erwarten sind.Der zweite Prüfstein für das Entschädigungsgesetz, meine Damen und Herren, ist der Gerechtigkeitsaspekt, ist die Frage, ob Nutzen und Lasten auf die beteiligten Personen gerecht verteilt worden sind. DieBundesregierung hat sich bei dieser Frage sehr schwer getan. Sie hat den Gesetzentwurf auf Grund des Drucks von verschiedenen Seiten mehrfach angehalten und geändert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an den Druck von seiten der Bodenreformopfer für eine möglichst maximale Entschädigung
und an die Diskussion über die Vermögensabgabepflicht der sogenannten redlichen Erwerber. Das, was sich im Tauziehen zwischen den Ressorts nun als Ergebnis herausgeschält hat, kann nach unserer Auffassung nicht den Anspruch erheben, eine einigermaßen gerechte Lastenverteilung zu sein.
Das Vermögensgesetz regelt im Kern eine Auseinandersetzung zwischen dem Staat und jenen Personen, die zu DDR-Zeiten auf unredliche Art und Weise, durch Repression und Druck durch den Staat um ihr Eigentum gebracht worden sind. Soweit möglich, sollen diese Personen ihr Eigentum vom Staat zurückerhalten. Geht das nicht, soll der Eigentumsverlust entschädigt werden.Gleichzeitig hat der DDR-Staat vor 1989 an bestimmte Personen Häuser und nach 1989 Bodenflächen aus dem Volkseigentum verkauft. Diese Personen sind in den Genuß eines Eigentumserwerbs aus Volkseigentum gekommen, und zwar zu aus heutiger Sicht äußerst günstigen Konditionen. Das ist nichts Verwerfliches, aber es bleibt ein Faktum, daß dieser Personenkreis mit den ehemals volkseigenen Immobilien heute in den vollen Genuß der einigungsbedingten Wertsteigerungen kommt.
Besonders hat trifft dieser Sachverhalt jene Personen, die bereits in der DDR dingliche Nutzer volkseigener Flächen waren, diese nach dem sogenannten Modrow-Gesetz nach 1990 käuflich erwerben wollten, ohne jedoch, wie der gelernte DDR-Bürger sagen muß, daß nötige Vitamin B, also die notwendigen Beziehungen gehabt zu haben und dadurch den Kauf nicht eigentumswirksam in das Grundbuch zur Eintragung bringen konnten.Dieser durch Zufälligkeiten zusammengestellte Personenkreis soll nach dem Sachenrechtsänderungsgesetz künftig die Bodenflächen zum hälftigen Verkehrswert erwerben können. So weit die dinglich genutzten Flächen nicht Volks-, sondern Privateigentum waren — und dies ist in vielen landwirtschaftlichen Bereichen der Fall —, erfolgt ein solcher an den Verkehrswert gebundener Erwerb nach Landwirtschaftsanpassungsgesetz bereits heute.Während die einen noch Volkseigentum erwerben konnten und die einigungsbedingten Wertsteigerungen quasi als Extragewinn zum Nulltarif einstecken konnten, müssen die anderen für ihn heute und morgen bezahlen — und dies teuer. Wegen dieser ungerechten, weil von Zufälligkeiten geprägten Lastenverteilung sprechen wir uns dafür aus, daß jene Personen, die zu DDR-Zeiten Haus- oder Grundver-
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Rolf Schwanitzmögen aus Volkseigentum erworben haben, zur Zahlung einer geringfügigeren Vermögensabgabe verpflichtet werden.
Mit diesem kleinen Lastenausgleich wird ein Teil des mit der deutschen Vereinigung entstandenen Wertzuwachses abgeschöpft.Um dies eindeutig an dieser Stelle klarzustellen: Es geht nicht um das Eigentum an Eigenheimen oder in sonstiger Weise durch eigene Tätigkeit geschaffenen Wert. Diese Wertelemente sind in dieser Kombination überhaupt nicht erfaßt. Es handelte sich hier niemals um Volkseigentum. Außerdem kann die Einführung einer Freigrenze soziale Härten zusätzlich kompensieren. Und es geht vor allen Dingen auch nicht um einen Lastenausgleich, bei dem der Osten für den Westen zahlt. Die Ausgleichsrichtung ist nicht geographischer, sondern sachlicher Natur. Es geht im Kern darum, daß diejenigen, welche zu günstigen Konditionen Volkseigentum erwerben konnten und Nutznießer des einheitsbedingten Wertzuwachses geworden sind, einen Beitrag für jene leisten, die heute nur noch einen geringerwertigen Entschädigungsanspruch für das in Volkseigentum übergeführte und damit entzogene Privatvermögen erhalten können.
Dies, meine Damen und Herren, ist der sachliche Zusammenhang, und hier ist eine Solidarleistung gerecht.Meine Damen und Herren, abschließend noch eine Bemerkung dazu, weshalb wir Sozialdemokraten diese schwierigen Themen überhaupt aufgreifen. Die SPD hat 1990 dieses Vermögensgesetz und diesen auch aus heutiger Sicht immer noch so unseligen Grundsatz der Rückgabe vor Entschädigung nicht gewollt. Wir hätten uns aus diesem Grunde heute eigentlich ruhig zurücklehnen und zuschauen können, wie die Bundesregierung nun mit dem Scherbenhaufen fertig wird, den dieser Grundsatz in Ostdeutschland angerichtet hat.
Wir wollten dies nicht tun, meine Damen und Herren, im Gegenteil. Wenn die Politikverdrossenheit in diesem Land etwas damit zu tun hat, daß die Menschen das Gefühl haben, ihnen wird nicht mehr die Wahrheit gesagt, dann müssen Mut und Verantwortung blanken Opportunismus, blanken Populismus ersetzen. Dann kann man keinen Entwurf hinlegen, meine Damen und Herren, in dem möglichst alle viel erhalten sollen und in dem möglichst keiner etwas bezahlen muß.
Ich sage dies insbesondere an die Adresse der ostdeutschen CDU-Abgeordneten aus der Koalitionsfraktion.
Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, daß wir über dieses Gesetz noch intensiv streiten werden. Aber wir müssen statt dessen auch einen gerechten Ausgleich in dieser Diskussion suchen, der nur zustande kommt, wenn mit Mut auch bittere Wahrheiten genannt werden, auch gegenüber den eigenen Landsleuten in den Wahlkreisen. Wir werden die Bundesregierung bei den Gesetzesberatungen mit diesen Wahrheiten konfrontieren, weil man aus unserer Sicht vor der Realität nicht davonlaufen kann.Danke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Reiner Krziskewitz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was kann in diesem Problemkreis ein Gesetz leisten? Was wird ein Gesetz nie leisten können?
Dieses Gesetz kann Unrecht lindern. Es kann helfen, noch nach Jahrzehnten schmerzende Wunden zu heilen. Es kann Wiedergutmachung leisten.
All dies — und darüber muß man sich im klaren sein — wird nur in höchst unvollkommener Art und Weise möglich sein. Man kann ein halbes Jahrhundert leidvoller geschichtlicher Entwicklung nicht einfach zurückdrehen, nicht ungeschehen machen, nicht einen Status davor erreichen. Nicht die Wiederherstellung eines alten Besitzstandes, sondern das Prinzip der Wiedergutmachung muß hier im Vordergrund stehen.
Große historische Übereinkommen sind klugerweise immer von diesem Grundsatz ausgegangen. So hat der Wiener Kongreß von 1815, darum wohl wissend, den Reichsdeputationshauptschluß auch nicht aufgehoben und die Entwicklung zurückgedreht.Welche Problemfelder zeigen sich?Erstens. Zwischen Rückgabe und Entschädigung klafft eine Lücke, da sich die beabsichtigten Entschädigungsleistungen am Einheitswert von 1935 orientieren und die Rückgabe je nach Zustand oder Grad der Verwahrlosung des betreffenden Objektes zu einem höheren Wert tendiert. So wird vielfach die Forderung erhoben, einen höheren Entschädigungsfaktor in Ansatz zu bringen.Meine Damen und Herren, zu beachten ist hierbei, daß Enteignungen, die in der DDR auf Grund des Aufbaugesetzes oder anderer Vorschriften vorgenommen wurden, im Falle einer Entschädigung mit eben diesem Einheitswert bewertet worden sind; und das kann man nicht ungeschehen machen. Der Staat wäre
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Reiner Krziskewitzüberfordert und würde sich jenseits der Grenzen seiner Möglichkeiten bewegen, sollte er die Flächen, die beispielsweise der Lausitzer Braunkohle oder dem Neubaugebiet von Halle-Neustadt zum Opfer gefallen sind, im nachhinein ebenfalls noch höher entschädigen wollen. Das alles muß man dabei berücksichtigen.Zur wenigstens teilweisen Schließung dieser Wertschere sieht das Gesetz eine Vermögensabgabe vor. Selbstverständlich wird diese Maßnahme von den Betroffenen nicht begrüßt werden. Für die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion aus den neuen Bundesländern war es deshalb von größter Wichtigkeit, Komponenten einer sozialen Verträglichkeit einzubringen. So sieht dieses Gesetz eine Sozialklausel vor, die bei Bürgern mit geringen Einkommen — wir denken hier an Rentner oder Arbeitslose — zu einer Abgabenbefreiung führt.Für Berechtigte, die keinen Lastenausgleich empfangen haben — darunter fallen wohl generell die Bürger aus den neuen Bundesländern — wurde eine Freigrenze von 70 000 DM eingeführt, oberhalb derer dann die Vermögensabgabe erst wirksam wird. Wir sind der Meinung, daß diese Freigrenze noch deutlich erhöht werden muß, und zwar auf 100 000 DM.
Damit wollen wir nicht nur den unterschiedlichen Biographien in Ost und West, sondern der ungleichen wirtschaftlichen Situation Rechnung tragen. Es wäre ein tragischer Irrtum und eine große Ungerechtigkeit, meine Damen und Herren, Ungleiches gleichbehandeln zu wollen.Zweitens. Dieses Gesetz darf nicht durch die Vermögensabgabe zu einem Investitionshemmnis werden. Wir begrüßen deshalb die vorgeschlagene Möglichkeit, die Vermögensabgabe mit Investitionen zu verrechnen. Wir sind der Meinung, daß im Laufe der parlamentarischen Beratung über die einzelnen Faktoren und Modalitäten noch beraten werden muß. Das gilt ganz besonders — das möchte ich ausdrücklich betonen — für die Behandlung der 1972 enteigneten Betriebe.
Meine Damen und Herren, es kann doch auch keinen Sinn machen, auf der einen Seite Investitionszulagen zu geben und auf der anderen Seite eine Vermögensabgabe zu erheben, die diese Investitionszulagen wieder neutralisiert.Dieser Gesetzentwurf wird verständlicherweise Einwände, Wünsche nach Verbesserungen, ja die Frage nach völlig anderen Konzeptionen hervorrufen. Alle Vorschläge, den vorgegebenen haushaltspolitischen Rahmen generell zu durchbrechen und Entschädigungsleistungen etwa in Höhe eines pauschalierten Verkehrswertes einzusetzen, sind verständlich, würden uns aber in Größenordnungen von über 100 Milliarden DM bringen, die wir nicht leisten können. Die Gefahr sehe ich hier in einem Dominoeffekt. Denn eine Vielzahl weiterer Forderungen aus der Geschichte der DDR würde dann folgen.Ich halte auch Vorschläge, solch eine Summe dann in den sogenannten Erblastenfonds abzuschieben oder durch eine generelle, ganz Deutschland umfassende Vermögensabgabe ein lastenausgleichsähnliches Modell wiederaufleben zu lassen, nicht für realisierbar.
Drittens. Ein spezieller Teil dieses Gesetzespaketes ist das Vertriebenenzuwendungsgesetz, nach dem den Heimatvertriebenen in den neuen Bundesländern, die das Vertreibungsschicksal selbst erlebt hatten, ein einmaliger Pauschalbetrag von 4 000 DM zukommt. Meine Damen und Herren, die Verabschiedung eines solchen Gesetzes ist längst überfällig. Sicher erfüllt dieses Gesetz nicht alle Wünsche. Es geht aber von einer realistischen Grundlage aus, besonders was die Höhe dieser Leistungen betrifft. Als nicht realistisch und als nicht annehmbar sehen wir jedoch die Auszahlungsmodalitäten an. Die vorgesehene Zeitschiene kann von uns so nicht akzeptiert werden.
80jährigen, meine Damen und Herren, kann nicht zugemutet werden, bis zum Jahre 1996 zu warten.Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Innenpolitik und den Vertriebenenpolitikern unserer Fraktion fordern wir, das Gesetz so zu gestalten, daß mit der Auszahlung für die ältesten Jahrgänge bereits im Jahre 1994 begonnen werden kann. Wir drängen deshalb auf eine zügige Beratung und schnelle Verabschiedung, um die gesetzliche Grundlage für die Registrierung und Erfassung der Berechtigten in den neuen Bundesländern zu schaffen.Sollte sich im Laufe der Beratungen herausstellen, daß sich die Verabschiedung des gesamten Gesetzespaketes zeitlich so weit nach hinten verschiebt, daß ein ordnungsgemäßer Beginn der Registrierung der Heimatvertriebenen nicht mehr möglich ist, dann werden wir vorschlagen, das Vertriebenenzuwendungsgesetz gesondert zu beraten und zu beschließen, um die nötigen zeitlichen Vorläufe zu gewährleisten.
Lassen Sie mich zu einer Schlußbemerkung kommen. Das Gesamtgesetz stellt in einem sehr hohen Maße Anforderungen an die Kompromißfähigkeit der Beratenden. Es gilt, unterschiedlichste Standpunkte auf gegensätzliche Interessen und Positionen zu vereinigen. Andererseits gibt es aber wohl kaum Zweifel an der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung dieses gesamten Bereiches. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, daß wir jenseits von Fraktions- und anderen Interessen die jetzt vor uns liegenden Beratungen besonders unter diesem letzten Aspekt führen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13367
Reiner Krziskewitz Danke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Günther Bredehorn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße es sehr, daß das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz endlich das Parlament erreicht hat und wir heute während der ersten Beratung unsere grundsätzlichen Positionen deutlich machen können. Das Bundeskabinett hat uns einen Gesetzentwurf vorgelegt, der bei den unterschiedlich Betroffenen nirgendwo große Freude auslösen wird. Das kann auch gar nicht anders sein. Das geschehene Unrecht, zu verantworten von der sowjetischen Besatzungsmacht und von einem kommunistischen Willkürstaat, ist einfach zu groß und einmalig.
Die jetzige Kabinettsvorlage ist auch das Ergebnis der Vorarbeit einer Arbeitsgruppe der Koalitionsfraktionen. Wir haben uns in über 50 Arbeitssitzungen redlich bemüht, der Rechtsstaatlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen und ein kleines Stück Gerechtigkeit für die Betroffenen zu erreichen. Das ändert aber nichts daran, daß der heute vorgelegte Regierungsentwurf umstritten ist, umstritten bleibt und unterschiedlich bewertet wird.
Insgesamt ist der Inhalt nicht danach, freudig hurra zu rufen.
Bundesminister Bohl hat zwar in der FAZ gewarnt, Änderungsvorschläge könnten den Gesetzentwurf ins Wanken bringen; unser gutes Recht hier im Deutschen Bundestag ist aber, Verbesserungs-, Ergänzungs- oder Gegenvorschläge zu machen.
Es ist nicht unsere Pflicht, Regierungsbeschlüsse unverändert bis zur dritten Lesung zu befördern.
Ich werde in den Ausschüssen und in der Fraktion mitarbeiten, daß diese Gesetzesvorlage nach den Beratungen ein anderes Gesicht haben wird als jetzt.
Für mich stehen heute zwei Bereiche im Mittelpunkt: die grundsätzliche Position der F.D.P. als Rechtsstaatspartei zum Eigentum und die Rückwirkung der in Gefahr befindlichen Eigentumsgarantie auf die Landbewirtschaftung.
Bei der Erörterung der Eigentumsproblematik geht es mir vor allem um die Bodenreformopfer, die zwischen 1945 und 1949 zu Unrecht enteignet wurden. Ich möchte hierbei an die Abstimmung über den Einigungsvertrag vom 20. September 1990 hier im Deutschen Bundestag erinnern. Entgegen den Vorstellungen der F.D.P.-Bundestagsfraktion wurde im Einigungsvertrag nicht festgeschrieben, daß auch für die Enteignungen zwischen 1945 und 1949 der
Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung zu gelten habe. Wir konnten uns in dieser Frage nicht durchsetzen, haben aber der deutschen Wiedervereinigung mit freudigem Herzen und aus voller Überzeugung zugestimmt und konnten erreichen, daß der Gesetzgeber entsprechend einer besonderen Öffnungsklausel Ausgleichsleistungen für die Bodenreformgeschädigten vornehmen könne.
In einer Erklärung zum Einigungsvertrag hat dann eine große Mehrheit der F.D.P.-Bundestagsfraktion präzisiert, hierbei könne es sich um Geldzahlungen, Vorkaufsrechte, Pachtrechte und auch die Teilrückgabe von Grund und Boden handeln.
Diese Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage bekräftigt. Es hat dem Gesetzgeber bei der Regelung der Wiedergutmachung durch Ausgleichsmaßnahmen ausdrücklich einen weiten Handlungsspielraum bestätigt und den Betroffenen einen Rechtsanspruch hierauf eingeräumt.
Ein anderer Aspekt kommt noch hinzu. Die Anerkennung der Enteignungen 1945 bis 1949 im Einigungsvertrag wurde auch damit begründet, daß sie nach sowjetischem Besatzungsrecht erfolgt seien und der damalige Generalsekretär Gorbatschow sein Einverständnis zum Einigungsvertrag nicht gegeben hätte, wenn die Bundesregierung an diesen Enteignungen gerüttelt hätte. Inzwischen hat sich aber auf Grund von Nachforschungen und Studien herausgestellt, daß beide Eckwerte, die zur Festschreibung der unrechtmäßigen Enteignungen geführt haben, durchaus in Frage gestellt werden könnten.
Wenn das denn so sein sollte, bedeutet das doch: Die Festschreibung der Unrechtsenteignungen 1945 bis 1949 ruht auf tönernen Füßen. Die von uns durchgesetzte Öffnungsklausel für Ausgleichsleistungen erhält damit eine andere Qualität und sollte neu interpretiert werden: erstens, um das geschehene Unrecht wenigstens zum Teil gezielt gutzumachen und die berechtigten Interessen der Betroffenen wesentlich offensiver aufzugreifen und, zweitens, um die im Grundgesetz verankerte Eigentumsgarantie anzuwenden.
Von solch einer Neuinterpretation des Begriffs „Ausgleichsleistungen" ist in der Regierungsvorlage allerdings nur wenig zu finden. Dabei gibt es schon einen vernünftigen Lösungsvorschlag. Im Konzept zur Verwertung ehemals volkseigener landwirtschaftlicher Flächen haben wir bereits festgelegt, daß Alteigentümer die Möglichkeit bekommen, die Ausgleichsleistungen statt in Geld durch Übereignung landwirtschaftlicher Flächen zu erhalten. Dieser Weg sollte konsequent weitergegangen und zu einer Straße der Versöhnung mit den Bodenreformopfern ausgebaut werden.
Herr Bredehorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Schnittler?
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13368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Herr Kollege Bredehorn, würden Sie mir denn in der Feststellung zustimmen, daß trotz Ihrer Kritik, die zum Teil berechtigt ist, es jetzt vor allen Dingen im Interesse der Menschen in den neuen Ländern darauf ankommt, dieses Gesetz schnell durchzubringen, damit weitere Verzögerungen im Aufbau der neuen Länder vermieden werden?
Sie haben vollkommen recht, darum bemühen wir uns, und ich gehe auf diesen Aspekt gleich noch ein.
Zu Recht, glaube ich, wird kritisiert, daß die Protokollerklärung des Bundeskabinetts zur Möglichkeit des Naturalausgleichs bisher nach meiner Überzeugung nicht ausreicht. Wir müssen mehr tun. Wir sollten den Anteil des Ausgleichs in natura erhöhen, ohne natürlich die Menschen, die den redlichen Erwerb getätigt haben, zu gefährden oder das in Frage zu stellen. Hier darf natürlich kein neues Unrecht entstehen. Darüber sind wir uns auch einig. Aber altes Unrecht muß soweit wie möglich wiedergutgemacht werden, und zwar möglichst schnell, damit die Alteigentümer, die dazu in der Lage und bereit sind, sich unverzüglich und motiviert am Wiederaufbau beteiligen können. Die Entschädigungsfrage darf sich nicht noch weiter zum Investitionshemmnis auswachsen.
Für mich als Liberalen kommt dazu aber noch ein anderer, sehr viel wichtigerer grundsätzlicher Punkt. Die Behandlung der Entschädigungsfrage darf nicht dazu führen, daß die im Grundgesetz verankerte Eigentumsgarantie ausgehöhlt oder gar schleichend in Frage gestellt wird. Ich habe großes Verständnis für die durch die Enteignungen Betroffenen, die so etwas befürchten. Sie wurden enteignet, sie wurden aus ihrer Heimat vertrieben und müssen jetzt nach dem Glücksfall der Einigung feststellen, daß der Staat abermals ihre Eigentumsrechte schmälert. Wir wollen und müssen alles tun, um das Grundvertrauen in die Eigentumsgarantie zu erhalten.
Es dürfen sich hier keine Leichtfertigkeiten einschleichen. Das Recht auf Eigentum darf nicht auf die schiefe Bahn geraten. Die Eigentumsgarantie im Grundgesetz ist ein hohes Gut und die Grundlage unserer freiheitlichen Demokratie. Privates Eigentum motiviert und sichert unsere marktwirtschaftliche Ordnung. Daß wir es mit der Eigentumsgarantie ernst meinen, ist auch im Hinblick auf die Menschen in den neuen Bundesländern wichtig, die in einem sozialistischen System indoktriniert wurden. Es muß deutlich gesagt werden: Das Eigentumsrecht ist keine Beliebigkeit.
Neben den Alteigentümern, die bereit sind, sich wieder für ihr Eigentum zu engagieren, hat dies in der Landwirtschaft auch Bedeutung für ehemalige LPG-Mitglieder, die ein Anrecht auf Privatisierung gemeinsam geschaffenen Eigentums haben. Gleiches gilt für Landwirte, die durch die sogenannten Kreispachtverträge geschädigt wurden. Ich bin daher im Gegensatz zu den Kollegen in der SPD der Auffassung, daß der immer wieder genannte soziale Frieden in den Dörfern eher von Dauer sein wird, wenn die Entschädigungsfragen im Einklang mit der Eigentumsgarantie geregelt werden, als wenn man um den Preis kurzfristiger Befriedung dieses Grundrecht zu Lasten der ehemaligen Eigentümer beugt.
Lassen Sie mich abschließend feststellen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Das uns vorliegende Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz erfordert von uns allen noch harte Arbeit in den Ausschüssen und Fraktionen. Dabei haben wir eine große Verantwortung, dieses Gesetz im Interesse der betroffenen Menschen und der Weiterentwicklung der inneren Einigung unseres Volkes noch zu verbessern. Dabei müssen die enteigneten und vertriebenen Alteigentümer zu ihrem Recht kommen. Dasselbe Recht haben aber auch die Menschen, die oft jahrzehntelang in der LPG gearbeitet und in der DDR ausgeharrt haben. Auch diese Menschen brauchen ihre Chancen für ihre Zukunft. Abraham Lincoln hat einmal gesagt: „Nichts ist geregelt, es sei denn, es ist gerecht geregelt."
Meine Damen und Herren, wir haben eine große Aufgabe vor uns, eine große Aufgabe für die Politik, und ich freue mich, daß wir daran gemeinsam arbeiten können.
Schönen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die schnelle Verabschiedung eines Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes wäre angesichts des nunmehr fast dreijährigen Streites dringend geboten, zumal die fehlende Regelung vieles blockiert. Wir sind also auch für eine schnelle Gesetzesregelung. Wir sind aber für eine gute und vernünftige Gesetzesregelung. Und da uns das zweite aus dem vorliegenden Entwurf nicht ersichtlich erscheint, können wir diesem Entwurf so nicht zustimmen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Ich möchte einige davon anführen.Erstens enthüllt die Begründung des Gesetzentwurfs, daß die Politik der faktischen Aushöhlung der Bodenreform, der teilweisen Restauration der ostdeutschen Eigentums- und Besitzverhältnisse vor 1945, ihre juristische Absegnung erfahren soll. So wird z. B. zu Art. 2 § 2 ausdrücklich auf zweierlei verwiesen, nämlich einerseits auf die Absicht der Treuhandanstalt und der Bundesvermögensverwaltung, beim Verkauf land- und forstwirtschaftlicher Grundstücke den Alteigentümern ohne Restitutionsanspruch den Vorzug zu geben, wenn diese ein gleichwertiges Angebot unterbreiten, und andererseits auf die im Konzept „Verwertung ehemals volkseigener Flächen" als Landerwerbsprogramm vorgesehene Möglichkeit, statt Ausgleichsleistungen in Geld eine Übereignung land- und forstwirtschaftlicher Flächen einschließlich aufstehender Gebäude — wenn möglich aus dem früheren Grundvermögen — einzuräumen.Beide Elemente, die Privilegierung beim Rückerwerb und das Landerwerbsprogramm, stehen im
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13369
Dr. Dietmar KellerGegensatz zum Gesetz der Volkskammer vom 22. Juli 1990 über die Übertragung des Eigentums und die Verpachtung volkseigener Grundstücke an Genossenschaften, Genossenschaftsmitglieder und andere Bürger, das laut Einigungsvertrag fortgeltendes DDR-Recht ist und bleibt. Sie bedeuten in ihrer praktischen Wirkung auch die Aufhebung des Grundsatzes der Nichtrückgabe von zwischen 1945 und 1949 enteigneten Grundstücken,
wie er im Einigungsvertrag und im Grundgesetz enthalten ist und vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde.
Der letzte Ministerpräsident der DDR, Herr de Maizière, der Ihrer Partei angehört, äußerte sich im Februar in einem Interview wie folgt — ich zitiere —: „Nur weil der Staat, der seinerzeit diese Forderung für unabdingbar hielt, nun untergegangen ist", wird heute alles anders gesehen. Er sagte weiter:Es war keine zufällige Reihenfolge. Der Gesetzgeber wählt mitunter Reihenfolgen, um Prioritäten zu setzen. Und genau dies war die Absicht bei dem Gesetz vom 22. 7.Die Begründung dafür war, daß die überwiegende Mehrzahl der ostdeutschen Bauern in Genossenschaften oder in anderen Formen juristischer Personen weiter Landwirtschaft betreiben wollte und, wie die heutige Realität zeigt, auch weiterhin betreiben will. Das entsprach und entspricht auch ihrer Ausbildungssituation als Tierzüchter oder Pflanzenproduzenten, ferner dem Umstand, daß die wenigsten von ihnen in der Lage waren und sind, eine Einzelwirtschaft betriebswirtschaftlich zu führen, und nicht zuletzt ihren sozialen Erfahrungen mit der Gemeinschaftsarbeit. Sie hätten sich gerne — ich zitiere wiederum Herrn de Maizière — „in solche genossenschaftlichen Formen eingebracht und dort angelehnt".Ich zitiere weiter:Wir haben dieses Gesetz nicht ohne Grund im Einigungsvertrag als dort geltendes Recht festgeschrieben. Der Einigungsvertrag ist in seiner Philosophie gedacht, daß man sagt, dies sind die Bedingungen, zu denen die Menschen aus dem Osten Deutschlands, aus der DDR, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten.Wie wahr!Aus diesen Gründen lehnt die PDS/Linke Liste die doppelte Privilegierung der durch die Bodenreform Enteigneten ab
und fordert, daß mindestens die Gleichberechtigungder ortsansässigen Landwirte beim Erwerb ehemaliger volkseigener Flächen gesichert wird, wobei wirnicht zwischen Einzellandwirten und aktiven Gesellschaftern juristischer Personen differenzieren.Im übrigen sei auch daran erinnert: Die Nichtinfragestellung der Bodenreform war auch Wahlaussage aller in der damaligen DDR zur ersten freien demokratischen Volkskammerwahl angetretenen Parteien. Keiner der im Deutschen Bundestag sitzenden OstAbgeordneten der letzten Volkskammer der DDR vertrat damals eine andere Position. Es wäre also konsequent, sich bei der Abstimmung und bei der weiteren Diskussion an die damalige Haltung zu erinnern.
Zweitens heißt es in der Begründung, daß ein Anliegen der Wiedergutmachung die Herstellung einer normalen Eigentumsordnung ist. Ich frage mich: Ist es normal, daß diejenigen, die Grundstücke besitzen, deren Preise in den letzten Jahren explosionsartig gestiegen sind, profitieren sollen, ohne daß diese Nutznießer für die Steigerung des Bodenwertes in den letzten vier bis zwei Jahrzehnten etwas Konkretes geleistet haben?Wir halten es für äußerst fragwürdig, daß in der Begründung auf das Konzept zur Verwertung des ehemals volkseigenen Grund und Bodens verwiesen wird, das unterhalb der Schwelle eines Gesetzes liegt. Es gibt lediglich den Privatisierungsauftrag nach § 1 Treuhandgesetz. Hierzu hat unsere Gruppe bekanntlich eine andere Position. Noch sind keine 3 % des ehemals volkseigenen landwirtschaftlichen Bodens verkauft. Noch ist also die Chance gegeben, eine sozial gerechte Lösung per Gesetz herbeizuführen.Das Vernünftigste wäre die Übertragung der volkseigenen Grundstücke in das Eigentum der Kommunen, verbunden mit der Verpflichtung, diesen Grund und Boden ausschließlich oder zumindest vorrangig in Pacht, Erbbaurecht oder in anderen Nutzungsrechten zu vergeben.
Auch so kommt Boden in privatwirtschaftliche Nutzung. Das hätte auch Vorteile:Erstens sicherten sich die Kommunen eine dauerhafte Einnahmequelle; und die ostdeutschen Kommunen benötigen dringend solche Einnahmequellen.
Zur Zeit verkaufen viele Gemeinden im Osten ihre kommunalen Grundstücke nur, um Haushaltslöcher zu stopfen.
—Ja, nur um Haushaltslöcher zu stopfen. Das ist nicht unverständlich, denn sie können nicht anders. Es ist aber kurzsichtig, denn Sie verkaufen Ihr Tafelsilber auch nicht.
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13370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Dr. Dietmar KellerZweitens würden die Kommunen in die Lage versetzt, eine vernünftigte Politik der Gewerbeansiedlung, der Vergabe von Bauland für Eigentumswohnbauten, des finanzierbaren Baus von Sozialwohnungen und anderen gesellschaftlich dringenden Bauten zu betreiben.Drittens würde verhindert, daß der ehemals volkseigene Boden wieder in die Hände von Privateigentümern gelangt,
die ihn nicht selbst bewirtschaften, d. h. Einkommen erzielen, ohne zu arbeiten. Unsere Option lautet, daß leistungslose Bodenrenten der Gemeinschaft zufließen sollten.
— Es ist doch ganz normal, daß Sie eine andere Politik vertreten. Sie vertreten eine andere Klientel; wir vertreten andere Wähler.
— Wir werden die Haltung dem Eigentum gegenüber, die Sie demonstrieren, nicht akzeptieren.
Sie werden sich daran gewöhnen müssen, daß es im Deutschen Bundestag eine Opposition gibt, die eine andere Meinung hat, als Sie sie haben.
Natürlich ergeben sich die genannten Vorteile nicht automatisch. Es bedarf vielmehr einer anderen Handhabung und eventuell auch der Novellierung beispielsweise des bestehenden Erbbaurechts, um die auch bei diesem Rechtsinstitut gegebene und in den alten Bundesländern anzutreffende Spekulation auszuschließen.Wir sind schließlich deshalb gegen diesen Gesetzentwurf, weil es eine der verschiedenen Merkwürdigkeiten der ganzen Gesetzgebung um die Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern ist, daß das entscheidende Gesetz zur Regelung der noch offenen Vermögensfragen, ein sogenanntes Sachenrechtsbereinigungsgesetz, das vor allem die elementaren Interessen einer großen Anzahl von Eigenheimbesitzern berührt, immer noch nicht vorliegt. Versandt wurde bisher nur ein Referentenentwurf des Justizministeriums. Aber bereits dieser Diskussionsentwurf zeigt, daß angesichts der erheblichen Schwächen des Vermögensgesetzes nur von einem solchen Sachenrechtsbereinigungsgesetz Lösungen zur Klärung der Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern zu erwarten sind.Für entscheidend halte ich dabei die dem Diskussionsentwurf zu entnehmende Absicht, für bestimmteFälle des Eigenheimbaus, des staatlichen und genossenschaftlichen Wohnungsbaus sowie für bestimmte Gebäude, die land- und forstwirtschaftlich genutzt werden oder öffentlichen Zwecken dienen, insbesondere zur Absicherung baulicher Investitionen, den Nutzern die Möglichkeit zu geben, Erbbaurechte zu bestellen oder die Grundstücke ankaufen zu können.Der Diskussionsentwurf zum Sachenrechtsbereinigungsgesetz offenbart aber auch erhebliche Widersprüche zum vorliegenden Entschädigungsgesetz. Damit ist ein neues Konfliktpotential vorprogrammiert. Um solches zu vermeiden, bedarf es eines Gesetzespaketes, in dem die neuen Intentionen des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes mit dem Vermögensgesetz und den Entschädigungsleistungen nach dem Entschädigungsgesetz paßfähig sind, denn sonst taumeln wir von einer Nachbesserungsaktion in die nächste. Wir sind für Tempo, wir sind aber auch für eine vernünftige Qualität.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Michael Luther.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der am 15. Juni 1990 vereinbarten Gemeinsamen Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen haben sich die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik auf Eckwerte geeinigt, die als Grundlage für das heute zur Beratung anstehende Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz maßgeblich sind. Ich zitiere:Rechtssicherung und Rechtseindeutigkeit sowie das Recht auf Eigentum sind Grundsätze, von denen sich die Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland bei der Lösung der anstehenden Vermögensfragen leiten lassen. Nur so kann der Rechtsfriede in einem künftigen Deutschland dauerhaft gesichert werden.Diese Erinnerung ist, so denke ich, nach über einem Jahr intensiv geführter Diskussion um die Fragen der Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen angemessen. Die Grundsätze Rechtssicherung, Rechtsfrieden und Recht auf Eigentum müssen Maßstäbe unseres gesetzgeberischen Handelns sein. Wo stehen für uns Abgeordnete aus den neuen Ländern vor diesem Hintergrund die Probleme?Erstes Thema ist die Vermögensabgabe. Wir haben uns vehement dafür eingesetzt, daß eine Vermögensabgabe für Restitutionsberechtigte der neuen Lander nicht eingeführt wird. Warum? Die allgemeine und auch im einzelnen vorhandene Finanzschwachheit bedeutet, daß zurückerhaltene Grundstücke und Gebäude veräußert werden müssen, wenn Geld als Vermögensabgabe gezahlt werden muß.
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Dr. Michael LutherDie Belastung durch eine solche Abgabe trifft diejenigen, von denen wir die wichtigsten Aufbauleistungen erwarten.
Sie trifft den kleinen und den mittleren Unternehmer, den Hausbesitzer und den Landwirt.Besonders unsinnig ist es, die gerade reprivatisierten Unternehmen zu belasten. Sie leiden ohnehin unter einer hohen Kapitalnot. In diesem Zusammenhang wird mir, Herr Schwanitz, Ihr wahrer Aufschwung-Ost-Wille deutlich, wenn Sie eine 50prozentige Vermögensabgabe unabhängig vom Wohnort fordern. Wir möchten im Gegensatz zu Ihnen ein breitgestreutes Eigentum im Osten erhalten; denn das wird ein wichtiger Pfeiler für die Stabilität unserer neuen Länder sein.
Die fiskalische Verbesserung der Situation der Restitutionsberechtigten in den neuen Ländern wird rechtlich durch die Geltendmachung des gegebenen kapitalisierten Lastenausgleichsnachteils für Nichtlastenausgleichsempfänger in Form eines Freibetrages erreicht, der aber meiner Meinung nach ehrlicherweise direkt auf die Vermögensabgabe angerechnet werden sollte.
Die Frage ist, ob man nicht auf die Vermögensabgabe für Nichtlastenausgleichsempfänger weitestgehend verzichten kann.
Bei Reprivatisierung, so denke ich, müssen wir verzichten.
Zweites Thema: Vermögensabgabe für Rehabilitierte. Das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz und das in der Vorbereitung befindliche verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz verweisen auf das Vermögensgesetz. Demzufolge wird der politisch Rehabilitierte auch mit dem Thema „Vermögensabgabe" konfrontiert werden. Ich glaube, das geht aus moralischen Gründen nicht. Ebenso halte ich den Verweis eines politisch Rehabilitierten aus dem Personenkreis z. B. der Waldheim-Prozeß-Geschädigten, dessen Enteignung im Zeitrahmen 1945 bis 1949 stattfand, auf die Ausgleichsleistungen rechtspolitisch für unmöglich.
Hier müssen Ausnahmetatbestände im Sinn und Geist einer politischen Rehabilitation geschaffen werden.Drittens erwähne ich noch ganz kurz das Thema Vertriebenenzuwendungsgesetz. Ich bin froh, daß es uns gelungen ist, dieses Thema im Entschädigungsgesetz mit zu thematisieren. Es wird keine Entschädigung für die Vertriebenen sein, sondern es wird eine Anerkennung ihrer Situation sein. Deshalb, so denke ich, ist es dringend notwendig, daß wir dieses Vertriebenenzuwendungsgesetz schnell verabschieden, mit Wirkung ab 1. Januar 1994,
und wenn es uns nicht gelingt, das Entschädigungsgesetz in seiner Gesamtheit schnell zu verabschieden, dann müssen wir diesen Teil abtrennen.
Meine Damen und Herren, im Sinne der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Staaten vom 15. Juni 1990, Rechtssicherung, Rechtsfrieden und Recht auf Eigentum zu gewährleisten, wünsche ich uns einen guten Beratungsverlauf.
Als nächster spricht Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über wen muß zuerst geredet werden, wenn sich die Gesetzgebung dem Thema Entschädigung im deutschen Einigungsprozeß zuwendet? Hier müssen die Prioritäten ganz genau stimmen; denn es geht um Gerechtigkeit, um Gerechtigkeit für die, denen sie eine ganze Generation lang vorenthalten worden ist. Also müssen die vorangehen, die das schwerste Unrecht, die größten Ungerechtigkeiten erlitten haben.Darum war es das einzig Richtige, als erstes Entschädigungen für die vorzusehen, die als Opfer unrechtmäßig ausgeübter staatlicher Gewalt geschädigt und in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind, so wie es im Ersten Unrechtsbereinigungsgesetz geschehen ist. Aber schon hier erhebt sich die Frage, meine Damen und Herren: Stimmen denn die Proportionen wirklich, wenn das Kostenvolumen des Ersten Unrechtsbereinigungsgesetzes ca. 1,5 Milliarden DM betrug, das des jetzt vorgesehenen Gesetzentwurfes 12,5 Milliarden DM, also das Achtfache?
Die Frage verschärft sich, wenn wir auf den nächsten Kreis der Entschädigungsanwärterinnen und -anwärter blicken. Das ist die Mehrheit der DDR-Bewohner, das sind alle jene, die die schlechtesten Lebenschancen nach 1945 gehabt haben, die von den Folgen des Krieges am härtesten getroffen wurden, härter als diejenigen, für die jetzt Eigentumsgarantien gefordert werden,
die die niedrigsten Verdienste und die schlechtesten Entwicklungsmöglichkeiten auch im Bereich der Vermögensbildung — das ist auch ein Thema der Eigentumsgarantie — hatten und die jetzt wegen ihrer Chancenungleichheit wieder niedrigere Löhne oder niedrigere Renten hinzunehmen haben.Diese Disproportionen müssen in ein helles Licht gerückt werden; wenn bis auf die Gruppe in Art. 9 des Entwurfes — das sind die Vertriebenen im Bereich der ehemaligen DDR — handelt es sich bei dem Gros der
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Dr. Wolfgang Ullmannhier zu Entschädigenden ausschließlich um solche, die, in Westdeutschland lebend, in vollem Umfang an den hier seit der Währungsreform von 1948 gegebenen Gewinn- und Wohlstandschancen partizipiert haben und die nun noch einmal als große Gewinner der Vereinigung riesige Vermögenszuwächse in Aussicht gestellt bekommen oder schon verbuchen konnten.
Da wirkt es nun schon sehr merkwürdig, wenn den in die DDR geratenen Vertriebenen in dürren Worten erklärt wird, ihnen könnte der seinerzeit in Westdeutschland gezahlte Lastenausgleich nicht gewährt werden, weil das von diesem verfolgte Ziel der Eingliederung ja längst erreicht und Weiteres wegen unüberwindlicher Finanzierungsschwierigkeiten nicht möglich sei. Darum müsse es bei der einmaligen Auszahlung von 4 000 DM als Abgeltung aller materiellen Schäden und Verluste aus dem Zweiten Weltkrieg bleiben. Das steht in dem gleichen Gesetz, das von Millionensummen für nicht zurückgegebene Grundstücke handelt. Hier stimmt nun gar nichts mehr in den Proportionen!
Zu einem solchen Ergebnis mußte es kommen, meine Damen und Herren, weil die zentrale Rechtsfrage des Vereinigungsprozesses, die des Eigentums, durch Fehlentscheidungen belastet worden ist, deren Korrektur zum abermaligen bedrückenden Schaden der Betroffenen, wenn sie überhaupt je möglich ist, noch Jahrzehnte beanspruchen wird.Weil das Jahr 1949 zum Normaljahr der Eigentumsverhältnisse erklärt worden ist, wurden alle seitherigen Eigentumsentwicklungen in der DDR grundsätzlich zur Disposition gestellt — Sie wollen ja noch mehr zur Disposition stellen — und der Rechtspriorität von Alteigentümern unterworfen, die an dieser Entwicklung, aus welchen Gründen auch immer, nicht teilgenommen haben.
Die damit produzierte Rechtsunsicherheit ist ebenso bekannt wie unabsehbar. Der kaum noch auflösbare Wirrwarr offener Vermögensfragen und nachträglicher Investitionshemmnisbeseitigungsbestimmungen zeigt am deutlichsten, in welche Widersprüche sich die auf einem falschen Ansatz beruhende Rechtspolitik notwendigerweise verstricken mußte.Eine an Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit orientierte Eigentumspolitik hätte vom Jahr 1989, dem Beginn des Einigungsprozesses, auszugehen gehabt. Das bedeutete für die Zeit zwischen 1949 und 1989 Revision unrechtmäßiger Enteignungen, vor allen Dingen auch der Grenz- und der Mauergrundstücke sowie der Unternehmensenteignungen, und Rückgabe des Enteigneten, Aufteilung des Volkseigentums in Bürgerinnen- und Bürger-, Kommunal- und Ländereigentum. Für die Zeit nach 1989 würde dann gelten: Alle Immobilienkäufe — alle, sage ich —und -verkäufe im Bereich der DDR zwichen dem 9. November 1989 und dem 2. Oktober 1991 sind zu überprüfen — und ich hoffe, es sind recht viele dabei, auf die man die Gesichtspunkte von Herrn Schwanitz anwenden kann —, und im Falle der Nichtrechtmäßigkeit sind sie zu annulieren.Der Bereich der Entschädigungsverpflichtungen, meine Damen und Herren, der übrigbliebe, wäre verhältnismäßig schmal. Nur die angestrebte Totalrevision der Eigentumsentwicklung in der DDR seit 1949 läßt das Entschädigungsproblem zu den Dimensionen dieses Gesetzentwurfes anschwellen und führt zu Disproportionen und Ungereimtheiten, die von den Betroffenen ganz gewiß nicht hingenommen werden können.Nun muß ich auf ein spezielles Problem eingehen, das etwas ganz anderes darstellt als einen gewöhnlichen Gesetzesmangel oder eine bloße Ungereimtheit. Das ist der schwer verzeihliche Versuch, auch jüdische Verfolgungsopfer und Vermögensgeschädigte zu Vermögensabgaben zu verpflichten. Die Jewish Claims Conference hat alsbald Protest erhoben. Ich kann mich ihrem Protest hier nur anschließen und ihn mir in vollem Umfang zu eigen machen.
Es ist so, wie es in dem Schreiben der Claims Conference heißt — ich zitiere —:Die Vorstellung, daß jüdische Verfolgte sich untereinander entschädigen, ist unerträglich.
Ich muß die Regierung fragen, wo sie ihren Verstand gehabt hat, als sie diesen Text im Kabinett verabschiedet hat. Was der Entwurf hier beinhaltet, ist nicht nur ein unfaßbarer Verstoß gegen die moralischen Verpflichtungen der deutschen Nation gegenüber den Genozid-Überlebenden. Es widerspricht auch ganz eindeutig der Regierungsvereinbarung, die von staatlichen Ausgleichsleistungen spricht, wo Rückübertragungen nicht möglich sind, was in diesem Fall eben auch passiert.Ich sehe keine Möglichkeit, dem Einspruch der Jewish Claims Conference nicht stattzugeben. Ich denke, dieses Parlament sollte sich darin einig sein.Das führt natürlich zwangsläufig zu vermehrtem Kapitalbedarf des Entschädigungsfonds, der unter Umständen durch eine Abgabenerhöhung für diejenigen aufzubringen wäre, die besonders hohen Vermögensvermehrungen entgegensehen. Umgekehrt sollten Nutzer und Erwerber im Bereich der ehemaligen DDR von der Vermögensabgabe befreit oder in dem Sinne, wie es Herr Schwanitz vorgeschlagen hat, behandelt werden.Der Zahlungsaufschub für die zu entschädigenden Vertriebenen — da schließe ich mich meinen Vorrednern an — muß entfallen. Für die auftretenden Aus-
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Dr. Wolfgang Ullmannfälle des Entschädigungsfonds gilt das oben Gesagte.Als ein Ziel des Gesetzentwurfes wird angegeben, normale Eigentumsstrukturen wiederherzustellen. Gut so! Dieses Ziel aber wird nur dann erreicht werden können, wenn die im vorliegenden Entwurf enthaltenen Disproportionen radikal beseitigt werden.Danke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Michael von Schmude.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dieser Gesetzesvorlage soll eine wichtige noch verbliebene Lücke bei der Aufarbeitung von Unrecht in der früheren Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR geschlossen werden. Nachdem auf der Grundlage des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen bisher etwa 20 % der Ansprüche durch Rückgabe von Grundstükken erfüllt sind — bei den Betriebsrückgaben sind es sogar 26 % —, ist es nun dringend an der Zeit, Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen zu regeln.
Dabei bleibt der Gesetzentwurf hinter den verständlichen Erwartungen der Betroffenen zurück. Allerdings hat uns die Bundesregierung durch zusätzliche Ressorterklärungen ausdrücklich zu Abänderungen ermuntert.
Wir haben, Herr Kollege Schwanitz, den Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung aufgestellt.
Ich bin sehr enttäuscht, daß Sie heute eine Position verdeutlichen, die bei Ihrer Fraktion und Ihrer Partei im Bedarfsfall ganz anders gesehen wird. Ihr Fraktionsvorsitzender Herr Klose hat in seiner Eigenschaft als Parteischatzmeister die Rückgabe der SPD-Zeitungen in Sachsen gefordert, nicht die Entschädigung. Es hat ein monatelanges Tauziehen urn diese Frage gegeben.
— Es gilt für Sie im Bedarfsfall so oder so; das habe ich ja ausdrücklich gesagt.
Meine Damen und Herren, wir sagen: Für den Zeitraum von 1949 bis 1989 gilt, daß in der ehemaligen DDR enteignete Vermögensgegenstände grundsätzlich zurückzugeben sind. Wo dies aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich ist, muß Entschädigung geleistet werden.
Für die sogenannte Bodenreformzeit sollen Enteignungen entsprechend der vertraglichen Regelung zum Einigungsvertrag nicht mehr rückgängig gemacht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Grundsatz mit seiner Entscheidung vom 23. April 1991 nicht beanstandet, insbesondere auf Grund der Aussage des damaligen Bundesjustizministers Kinkel, der sozusagen als Kronzeuge zu Protokoll gegeben hat, daß die Sowjetunion bei den Verhandlungen über die Wiedervereinigung die Unantastbarkeit der Bodenreform zur absoluten Vorbedingung für die Wiederherstellung der Deutschen Einheit gemacht hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Stetten?
Ja.
Herr Kollege, stimmen Sie mit mir darin überein, daß das Bundesverfassungsgericht zwar gesagt hat, daß enteignete Objekte nicht zurückgegeben werden müssen, aber in keinem Falle die Naturalrückgabe bzw. die Naturalteilrückgabe als Ausgleich ausgeschlossen hat?
Ja, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu.
Das damit festgeschriebene Unrecht ist in seiner Dimension unterschätzt worden. Die entschädigungslosen Enteignungen hatten keine Rechtsgrundlage; es handelte sich um Willkürakte der Sowjets und ihrer Helfer.In einer persönlichen Erklärung zur Beschlußfassung über den Einigungsvertrag haben in diesem Hause zahlreiche Kollegen — aus unserer Fraktion waren es 67 — zu Protokoll gegeben, daß sie aus moralischen, rechtlichen und politischen Gründen eine wie auch immer geartete Anerkennung der mit brutaler Gewalt erzwungenen Bodenreform ablehnen. Darüber hinaus fordern wir eine angemessene Entschädigung durch Ausgleichsleistungen bzw. Landrückgabe an die Betroffenen.
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nur Barleistungen vor und verweist im übrigen auf ein Rückerwerbsrecht. Meine Damen und Herren, in den Beratungen muß geprüft werden, inwieweit wir eine Zurverfügungstellung von Grund und Boden nutzen können, um Ausgleichsansprüche zu befriedigen, um damit auch dem Wiedergutmachungsgedanken besser Rechnung zu tragen.
Wenngleich sich die Behandlung der zwischen 1945 und 1949 Geschädigten nicht an der Eigentumsgarantie des Art. 14 orientiert, sondern ausschließlich den Wiedergutmachungsgedanken zugrunde legt, gibt es in der Gesetzesvorlage doch den Hinweis auf den
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13374 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Michael von SchmudeGleichbehandlungsgrundsatz aller, die zwischen 1945 und 1989 enteignet wurden. Daraus wird abgeleitet, daß in allen Fällen, wo das alte Eigentum nicht zurückgegeben werden kann, eine Entschädigung oder Ausgleichsleistung auf gleicher Bemessungsgrundlage gewährt wird. Sie orientiert sich grundsätzlich am Wert zum Zeitpunkt der Enteignung.Unstrittig ist für uns, daß empfangener Lastenausgleich zurückzuzahlen oder anzurechnen ist. Bei der Rückgabe von Grundbesitz sollte die Rückforderung von Lastenausgleich sofort geprüft und sofort fälliggestellt werden. Dies ist wichtig, weil Rückübertragungsansprüche oft durch mehrere Hände gehen und es im Zeitablauf immer schwieriger wird, die Beträge wieder hereinzuholen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Ausgleichsleistungen durch Rückgabe oder Teilrückgabe in Naturalien müssen im Gesetz festgeschrieben werden.
Herr Kollege Ullmann, ich kann Ihnen bei Ihren Ausführungen zu den Forderungen der Jewish Claims Conference nicht folgen. Wir haben ausdrücklich das Schicksal der Betroffenen gewürdigt und sie, wie auch die übrigen NS-Verfolgten, so behandelt, daß Enteignungen in der Bodenreformzeit durch Naturalrückgabe, durch Restitution wieder ausgeglichen werden. Wir haben für sie außerdem bei der Vermögensabgabe bereits einen Abschlag von 25 % vorgesehen. Ich glaube nicht, daß wir unter Gleichheits- und unter finanziellen Gesichtspunkten noch weitergehende Forderungen erfüllen können. Die Konferenz hat im übrigen gefordert, zum heutigen Verkehrswert zu entschädigen. Ich glaube, das macht deutlich, daß wir dies nicht können und es deshalb ablehnen müssen.
Im Gegensatz zu den Heimatvertriebenen in den alten Bundesländern haben Vertriebene in den neuen Bundesländern keinen Lastenausgleich erhalten. Die pauschale Abgeltung in Höhe von 4 000 DM hat sicher nur einen Wiedergutmachungscharakter. Nur, die Fälligkeit dieser Leistungen muß 1994, spätestens 1995 eintreten, und zwar einheitlich, unabhängig vom Alter. Wir können uns keine neue TrümmerfrauenDiskussion erlauben.
Die Auszahlung der Entschädigungsausgleichsleistungen selbst soll ab Januar 1996 erfolgen. Deshalb ist es auch richtig, daß wir das bisher unbefristete Wahlrecht zwischen Rückgabe und Entschädigung nun auf zwei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes befristen.
Die Finanzierung der Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen soll über den Fonds geregelt werden. Ob wir mit 5,5 Milliarden DM auskommen werden, die die Treuhand, der Bund und die Gebietskörperschaften aus den nicht rückgebbaren Vermögenswerten aufbringen, mit den 3 Milliarden DM aus dem Lastenausgleich und der geplanten Vermögensabgabe, werden wir noch einmal rechnen müssen. Aber da der Personenkreis, der von einer Rückgabe nach dem Vermögensgesetz begünstigt wird, oft bessergestellt wird — nicht in jedem Fall — als die durch Bargeld Entschädigten, ist diese Vermögensabgabe vorgesehen. Hier gibt es aber noch erheblichen Diskussionsbedarf, wobei ich das vorgesehene Abinvestieren dieser Abgabe ausdrücklich begrüße.
Der Bundesfinanzminister muß nun seine Berechnungsgrundlagen für den Entschädigungsfonds detailliert für eine wirklich kritische Überprüfung und Bewertung durch das Parlament auf den Tisch legen.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz wird der Versuch unternommen, im Rahmen des Machbaren und des Möglichen Entschädigung und Ausgleich im Sinne von Wiedergutmachung zu leisten. Dieser Versuch kann nur unvollkommen bleiben, weil es unmöglich ist, jedem Betroffenen mit seinem Schicksal gerecht zu werden. Die langen Schatten der Bodenreform und der Unrechtshandlungen in der früheren DDR mahnen uns, auch bei den Ausschußberatungen noch einmal sehr sorgfältig die Interessen aller Geschädigten, insbesondere der Bodenreformopfer, abzuwägen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Hans-Joachim Hacker.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen gehören zu den komplizierten Bereichen, die im Zuge der Herstellung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands zu regeln sind. Über 40 Jahre unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklung haben insbesondere bei den Eigentumsverhältnissen und im Rechtswesen zu gravierenden Unterschieden geführt. Ein verträglicher Ausgleich der Interessen im Bereich der Eigentums- und Nutzungsrechte an Immobilien war und ist für die innere Vereinigung der Deutschen unerläßlich.
Die rasche Erfüllung der sich daraus ergebenden Aufgaben und die kreative Gestaltung dieses Prozesses wären Aufgaben der Bundesregierung gewesen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat auf diesem wichtigen Politikfeld versagt.
Die Gemeinsame Vereinbarung vom 15. Juni 1990 zwischen den beiden deutschen Regierungen wäre eine entsprechende Grundlage gewesen, hätte als Grundlage dienen können, den erträglichen Interessenausgleich herbeizuführen. Dagegen wurde mit dem Einigungsvertrag das Investitionshemmnis „Rückgabe vor Entschädigung" eingeführt, an dem wir mit zwei Novellierungen des Vermögensgesetzes herumgedoktert haben.
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Hans-Joachim HackerDen gravierenden Mangel, den Restitutionsberechtigten keine überzeugende Alternative zur Rückgabe anzubieten, will die Bundesregierung nun nach monatelangem Gezerre in der Koalition beseitigen. Das alles kommt zu spät, denn jetzt sind die Verkehrswerte davongaloppiert, der Ausgleich der objektiv unterschiedlichen Interessenlagen wird immer komplizierter.Die Behandlung des Gesetzentwurfes wird Gelegenheit bieten, notwendige Nachbesserungen und Ergänzungen vorzunehmen. Ebenso sehen wir Sozialdemokraten es als dringend notwendig an, eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf durchzuführen. Damit ist schon heute klar: Das Gesetz kann erst im Herbst des Jahres verabschiedet werden.Ich möchte jetzt auf einige Kernpunkte eingehen, bei denen die SPD erheblichen Diskussionsbedarf sieht. Erstens. Es bleibt Ziel der SPD-Bundestagsfraktion, durch gesetzliche Regelungen den Entscheidungsprozeß der Restitutionsberechtigten in Richtung Entschädigung zu lenken. Damit würden die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen entlastet werden. Zugleich könnten Investitionsblockaden abgebaut werden.
Die im Gesetzentwurf vorgesehene Zweimonatsfrist zur Wahl zwischen Rückgabe und Entschädigung wird dazu führen, daß die meisten nicht die Entschädigung wählen oder sich gar nicht äußern werden. Innerhalb einer so kurzen Frist wird es nicht möglich sein, sich grundlegend über die Auswirkungen im Einzelfall kundig zu machen. Wir fordern eine Verlängerung der Wahlfrist auf zwölf Monate. Innerhalb dieser Frist kann der einzelne klären, welche Entschädigungsleistung er zu erwarten hat bzw. mit welchen Belastungen er bei der Rückgabe des Grundstückes rechnen muß.
Zweitens. Das im Art. 2 des Gesetzentwurfes verankerte Ausgleichsleistungsgesetz für Betroffene der Bodenreform sieht vor, die Ausgleichsleistungen in der Höhe an die Leistungen nach dem Entschädigungsgesetz anzupassen und eine Restitution für bewegliche Werte einzuführen. Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen in seinem Urteil vom 23. April 1991 lediglich den Ausschluß jeglicher Ausgleichsleistungen als mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar bezeichnet. Danach ist eine niedrigere Bemessung der Ausgleichsleistungen als der Entschädigungen angezeigt.Statt dessen ist im Gesetzentwurf sogar eine Bevorzugung des Personenkreises der Ausgleichsberechtigten durch die Bundesregierung insoweit beabsichtigt, als bewegliche Güter zurückgegeben werden sollen, soweit dem kein öffentliches Interesse entgegensteht.
Dieses Vorhaben läuft auf eine Revision des Einigungsvertrages hinaus.
Dann müssen wir uns eben dazu verständigen. Die Verständigung werden Sie mit uns aber nicht in der Weise erreichen können, daß wir die Vereinbarung vom 15. Juni 1990 zwischen den beiden deutschen Regierungen aufknacken.Unser Konzept lautet: Erstens. Die Ausgleichsleistungen müssen auf den Einheitswert von 1935 reduziert werden. Zweitens. Die Restitution beweglicher Sachen muß ausgeschlossen bleiben.
Ich fordere die Bundesregierung auf: Bleiben Sie bei der Geschäftsgrundlage, die sich aus der Vereinbarung vom 15. Juni 1990 und aus den Regelungen des Einigungsvertrages ergibt.Ihren Seiltanz, Herr Kollege Bredehorn, verstehe ich nicht. Und ich verstehe Sie doch nicht so, Herr von Stetten, daß Sie an der Stelle fordern, daß die Bodenreform generell oder zumindest partiell in Frage gestellt wird. Ich käme sonst noch einmal zu dem Ergebnis: Dann stellen Sie entscheidende Regelungen des Einigungsvertrages in Frage.
An dieser Stelle unterstreiche ich die Aussagen der SPD-Bundestagsfraktion in anderen Plenardebatten, daß eine gesetzliche Regelung über die Rückgabe landwirtschaftlicher Flächen, die im Rahmen der Bodenreform in Anspruch genommen wurden, abzulehnen ist. Dies würde zu zusätzlichen sozialen Spannungen in den Dörfern der neuen Länder führen.
Vielmehr muß endlich die langjährige Pacht geregelt werden, damit landwirtschaftliche Unternehmen in den neuen Ländern kreditwürdig werden und damit eine wichtige Voraussetzung für ihre wirtschaftliche Perspektive geschaffen wird.
Drittens. Ich komme jetzt zu dem zum wiederholten Mal in der Plenardebatte angesprochenen Thema, nämlich zu dem Problem der Ausgleichsleistungen gegenüber den Vertriebenen, die ihren Wohnsitz im Bereich der früheren SBZ bzw. DDR genommen haben. Zuletzt ist in der Sitzung des Vermittlungsausschusses am 9. Dezember 1992 versucht worden, dieses Problem einer vertretbaren Lösung zuzuführen. Ich erinnere daran, daß gerade von CDU/CSU-Seite vor der Bundestagswahl 1990 den Verbänden oder Gruppierungen der Heimatvertriebenen in den neuen Ländern gerade in dieser Richtung deutliche Wahlversprechen gegeben worden sind. Wir wollten das gemeinsam in der Sitzung des Vermittlungsausschusses regeln. Das ist an der Blockadehaltung der CDU/CSU- und F.D.P.-Seite im Vermittlungsausschuß gescheitert.Ich sage an dieser Stelle auch: Es ist auch deswegen gescheitert, weil sich Funktionäre des Bundes der
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Hans-Joachim HackerVertriebenen hier auf die Seite der CDU/CSU-Fraktion geschlagen und die Interessen der Heimatvertriebenen in den neuen Ländern in Bonn nicht nachdrücklich vertreten haben.Die Zusage, die der Vermittlungsausschuß der Bundesregierung abringen konnte, war, daß ein deutliches Bekenntnis zu dem Entschädigungsbetrag in Höhe von 4 000 DM abgegeben wurde und die Bundesregierung — hören Sie bitte genau zu — Anfang 1993 den gesetzgebenden Körperschaften einen Gesetzentwurf zuleiten wollte, wobei die älteren Berechtigten frühzeitig und zuerst bedacht werden sollten.
Weder hat die Bundesregierung die Terminzusage eingehalten, noch hat sie in dem nun vorliegenden Gesetzentwurf die Zusage für die älteren Berechtigten eingelöst.Meine Damen und Herren, das, was in Art. 9 des Gesetzentwurfes den Heimatvertriebenen angeboten wird, ist für sie erschütternd, ja pietätlos.
Herr Dr. Luther, hier ist kein Platz für Fröhlichkeit, die Sie jetzt verkünden. Wir können nicht froh sein, daß das heute endlich auf die Tagesordnung gesetzt wird. Das ist von uns bereits im Jahre 1991 thematisiert worden.Hier hilft den Leuten auch kein Hinweis darauf, daß Sie gegebenenfalls bereit sind, wenn es mit dem Gesetzpaket nicht klappt, dann das Vertriebenenzuwendungsgesetz vorzuziehen. Wir wissen alle, wie für Gesetzgebungsverfahren in Bonn die Zeiten gestellt sind. Ich denke, auch ein Vorziehen bringt für die Betroffenen überhaupt keinen Gewinn.Wie die Bundesregierung mit den Hoffnungen und Erwartungen der betroffenen Gruppe umgeht, ist ein Skandal. Auch wenn die Bundesregierung nicht das Ziel einer „biologischen Lösung" anstrebt, wird bei den Vertriebenen dieser Vorwurf immer lauter.
In bürokratischer Art und Weise sind die Anliegen dieser Menschen bisher behandelt worden. Jetzt wird erneut ein Leistungsmodell angeboten, das von den Betroffenen als Verhöhnung empfunden wird und daher auf Ablehnung stößt.Es zeugt von völligem Unverständnis und von Ignoranz gegenüber den Hoffnungen der Heimatvertriebenen, daß ihnen in § 3 des Vertriebenenzuwendungsgesetzes Schuldverschreibungen angeboten werden, die für die Gruppe der vor 1916 Geborenen am 1. Januar 1996 fällig werden und für diejenigen, die vor 1928 geboren worden sind, am 1. Januar 1998 fällig werden sollen. Alle übrigen würden nach dem Gesetzentwurf ihre Ansprüche erst am 1. Januar 2000 einlösen können.
Für die SPD-Bundestagsfraktion unterstreiche ich nachdrücklich: Wir sind für einen Beginn der Auszahlungen an die ältesten Bürger ab 1994.
Wir sind für eine Staffelung der Auszahlungstermine nach dem Lebensalter. Und — das nicht zuletzt — wir sind für ein einfaches und für die Betroffenen überschaubares Verfahren in bezug auf die Antragstellung und Nachweisführung.Bisher ist auch im letztgenannten Punkt die Bundesregierung nicht der Empfehlung des Vermittlungsausschusses vom 9. Dezember 1992 nachgekommen, eine Regelung zu treffen, wonach die Vertriebeneneigenschaft schon vor Inkrafttreten des vorgesehenen Gesetzes festgestellt werden kann. Zuständig für derartige Bestätigungen wären die jeweiligen Heimatortskarteien. Bei der Heimatortskartei Lübeck liegen derzeit ca. 15 000 Anträge, die nicht bearbeitet werden, vor, weil die Bundesregierung die zugesagte Verwaltungsanweisung nicht erteilt hat. Antragsteller erhalten von allen Heimatortskarteien eine formelle Mitteilung, aus der hervorgeht, daß hier weiterhin das Prinzip „Warten" gilt. Das führt zu Verdruß. Die Bundesregierung muß jetzt die Hausaufgaben erledigen und endlich konkrete Vorstellungen entwickeln, welches Antrags- und Nachweisverfahren Anwendung finden soll. Das ist nämlich bisher überhaupt noch nicht bedacht worden.Die Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, vor allem aus den neuen Ländern, fordere ich auf: Lösen Sie sich von dem fiskalischen Ansatz bei der Lösung der Frage der Zuwendungen für die Heimatvertriebenen, und schließen Sie sich jetzt den Vorstellungen der SPD an. Stehen Sie zu dem, was heute einige Vertreter von Ihnen gesagt haben.Meine Damen und Herren, am Schluß möchte ich auf zwei Probleme eingehen, die wir bei den Beratungen in den Ausschüssen aufgreifen und einer Lösung zuführen sollten, ja müssen. Erstens. Nach wie vor bestehen Unterschiede in der Behandlung von Ansprüchen der politisch Verfolgten in der Zeit nach 1945 auf dem Gebiet der damaligen SBZ bzw. DDR. Das Prinzip der Gleichbehandlung gebietet es und fordert uns dazu auf, bestehende unbegründete Differenzierungen zu beseitigen. Die nun vorgesehene Novellierung des Vermögensgesetzes in Art. 10 des Gesetzentwurfes bietet dazu die Gelegenheit.Zweitens. Eine Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion in Leipzig zu den Wirkungen des zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes hat ergeben, daß die gegenwärtigen Regelungen und die Verfahrenspraxis bei der Bearbeitung von Anträgen auf Rückgabe jüdischen Eigentums nicht befriedigen können. Ich befinde mich hier weitestgehend in Übereinstimmung mit dem, was Herr Kollege Dr. Ullmann gesagt hat.Die nachrangige Behandlung von Ansprüchen von NS-Opfern dürfen wir im Deutschen Bundestag nicht länger dulden. Die SPD schließt sich insbesondere dem Vorschlag von Fachleuten an, zur Bearbeitung der offenen Vermögensfragen für NS-Verfolgte eine zentrale Stelle einzurichen, z. B. bei der Oberfinanzdirektion in Berlin, um auch dadurch deutlich zu
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Hans-Joachim Hackermachen, daß in diesem Falle eine besondere Verpflichtung besteht.
Dies muß jetzt ohne Zeitverzug eingelöst werden. Ich danke Ihnen.
Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Hedda Meseke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Vorredner aus der Koalition haben schon mit überzeugenden Worten dargetan, daß wir es beim Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz mit einer sehr komplizierten Materie zu tun haben, bei der es immer das Ziel sein sollte, eine gegenüber dem eingebrachten Entwurf verbesserte Fassung zu finden. Ich bin mir darüber im klaren, daß wir in diesem Bereich keine alle berechtigten Interessen befriedigende Lösung finden werden. Aber ich denke, daß wir vor allen Dingen das Ziel anstreben sollten, mit dem vom Bundestag zu beschließenden Gesetz zum Rechtsfrieden — ich unterstreiche ausdrücklich: Rechtsfrieden — beizutragen.
Ich möchte zu der Lösung, die Entschädigungs-
bzw. Ausgleichsleistungen aus einem Fonds zu zahlen, der durch eine Abgabe anderer Unrechtsopfer gespeist wird, nur anmerken, daß ich Zweifel habe, ob dies auch wirklich die beste denkbare Lösung ist. Auf jeden Fall aber vermag ich nicht zu erkennen, daß exakt diese Lösung durch den Einigungsvertrag vorgegeben wäre.
Natürlich kenne ich die Haushaltslage. Auch deswegen müssen wir eingehend prüfen, wie dieser Fonds entlastet werden könnte. Hier geht es mir vor allen Dingen um die Frage, ob nicht in möglichst vielen Fällen anstelle einer Entschädigung bzw. Ausgleichsleistung in Geld eine Rückgabe der enteigneten Sache oder sonst in Natur ermöglicht werden sollte.
Meiner Ansicht nach sollte auch hier die Lösung „Rückgabe oder Ausgleich in Sachwerten" so oft wie möglich angestrebt werden. Dies sehe ich so sowohl für den gewerblich-mittelständischen Bereich, den Haus- und Grundbesitz und die Land- und Forstwirtschaft. Ich denke zwar vor allen Dingen an die Gruppe der von 1945 bis 1949 Enteigneten, aber nicht ausschließlich.
Meine Motivation für diesen Vorschlag ist aber nicht allein die Entlastung des Fonds, sondern schwerpunktmäßig meine Auffassung dessen, was der Begriff des Eigentums erfordern sollte. Ich möchte hier nicht die Regelung des Einigungsvertrages und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. April 1991 kritisieren, da es unumgänglich ist, die jetzige rechtliche Regelung auf dieser Grundlage zu
treffen. Ich muß aber anfügen, daß für mich die Enteignungen von 1945 bis 1949 trotzdem, insbesondere wegen ihrer Begleitumstände, Unrecht sind und bleiben.
Ich kann aber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch nach häufiger Überprüfung nur so verstehen, daß es hier nicht ausgeschlossen hat, die Ausgleichsmaßnahmen, die es für notwendig hält, dem Gesetzgeber ans Herz zu legen, und ihm einen weiten Spielraum eingeräumt hat. Das Urteil schließt den Ausgleich in Sachwerten nicht aus. Wenn hier etwas anderes behauptet wird, ist das in meinen Augen eine Fehlinterpretation sowohl des Einigungsvertrages wie dieses Urteils.
Dabei ist natürlich zu beachten, daß diese Rückgabe oder auch der Ausgleich in Sachwerten nur in Fällen geschehen kann, in denen keine neuen Rechte, z. B. die der Siedler, entgegenstehen. Ich denke auch, daß z. B. Verpachtungen, die zwischenzeitlich erfolgt und nötig sind, natürlich zu beachten sind. Grundsätzlich ist auf einen Interessenausgleich zwischen Alteigentümern und berechtigten neuen Nutzern zu achten.
Ich möchte ausdrücklich dafür plädieren, diese Möglichkeit der Naturalrestitution bzw. des Realausgleichs auch in das Gesetz aufzunehmen.
Ich werde in dieser Forderung dadurch bestärkt, daß ich sehe, daß im Bundesrat bereits Diskussionen über diese Möglichkeit angekündigt sind, bei denen ein Land sie gern möchte und ein anderes Land sie ausdrücklich ausschließen möchte.
Ich meine, meine Damen und Herren, wir sollten uns bei der weiteren Diskussion möglichst einigen, hier nicht Legenden zu bilden und Fehlinterpretationen des Einigungsvertrages zu verbreiten, sondern wir sollten eine Lösung suchen, die, wie gesagt, dem Rechtsfrieden dient.
Frau Meseke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Stetten?
Ja.
Sie haben eben von der Fehlinterpretation gesprochen, nämlich daß das Verfassungsgericht gesagt habe, man dürfe nicht zurückgeben. Ist meine Sorge berechtigt, daß auch die Bundesregierung der Fehlinterpretation mit der sogenannten Schere unterliegt, indem sie sagt, die Schere dürfe nicht zu weit auseinandergehen? Hat nicht auch dazu das Bundesverfassungsgericht deutlich gesagt, daß zwar keiner den Anspruch auf seinen Grund und Boden hat, es aber nicht ausgeschlossen hat, daß auch hier ein weiter Ermessensspielraum gegeben ist?
Das Bundesverfassungsgericht hat nach meiner Auffassung einen außerordentlich weiten Ermessensspielraum eröffnet.
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Dr. Hedda MesekeEs hat nämlich von der Schere nur im Rahmen des Gedankens der Wiedergutmachung und der Relation zwischen denjenigen gesprochen, die real Grundstücke bzw. andere Sachwerte zurückbekommen, und denen, die sie — aus welchen Gründen auch immer — nicht zurückbekommen können. Hier hat sich das Bundesverfassungsgericht insbesondere auf Art. 3 des Grundgesetzes bezogen.Es hat aber in den Ausführungen gleichzeitig dargelegt, daß der Gesetzgeber in diesem Bereich einen weiten Spielraum hat, daß auch die geschichtliche Entwicklung und daß auch soziale Umstände und die Haushaltslage beachtet werden können.Es gibt in diesem Zusammenhang noch ein anderes Problem, das nicht angesprochen wird: Es ist nämlich die Frage, ob es nicht eine zweite Schere gibt und ob die Degression, die im Gesetz vorgesehen ist, in dieser Form tatsächlich gemacht werden sollte. Ich denke, daß man, wenn man versucht, möglichst viele Sachwerte ganz oder teilweise zurückzugeben, der Lösung dieses Problems, das dort liegt, näher kommen könnte.Meine Damen und Herren, zum Abschluß möchte ich noch eins sagen: Wenn immer wieder behauptet wird, daß die Rückgabe die Fortentwicklung der Investitionen hindere, dann ist das in meinen Augen genau der falsche Weg. Das, was den Fortgang der Investitionen hindert, sind überkomplizierte Verwaltungsverfahren.
Alles, was wir tun können, um diese überkomplizierten Verwaltungsverfahren zu verhindern, das müssen wir tun, und zwar auch mit diesem Gesetz.Danke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Manfred Hampel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Echternach hat in seiner Einbringungsrede dargelegt, daß dieses Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz das komplizierteste Gesetz der Bundesrepublik der letzten Jahre sei. Herr Kollege, ich stimme Ihnen insoweit ausdrücklich zu. Weil das so ist, wollen wir uns aktiv an den Gesetzesberatungen beteiligen, denn wir sind der Meinung: Nur dann, wenn es mit einem breiten Konsens verabschiedet werden kann, hat es auch eine Chance, wirksam durchgesetzt zu werden.
Der Kollege Krziskewitz — darauf möchte ich auch noch kurz eingehen — hat einen Grundsatz dargelegt, den ich hoffentlich sinngemäß wiedergeben kann: Nicht die Wiederherstellung alter Besitzstände, sondern eine Wiedergutmachung erlittenen Unrechts muß unser Anliegen sein. Herr Krziskewitz, ich unterstreiche diesen Gedanken doppelt und dreifach. Nur hätte das auch schon im Einigungsvertrag berücksichtigt werden müssen und nicht durch diese unsägliche Eigentumsregelung konterkariert werden dürfen.
Am 1. April 1993 hat das BMF in seinen „Finanznachrichten" den Entwurf des Entschädigungsgesetzes vorgestellt — ein Datum, welches hoffentlich kein böses Vorzeichen hinsichtlich der Wirkung dieses Gesetzes ist, wenn es in Zukunft endlich einmal verabschiedet ist. Zu befürchten ist allerdings, daß bei allem guten Willen, den man der Regierungskoalition unterstellen möchte, die erhoffte und erwartete Wirkung in der Form, wie das Gesetz vorliegt, ausbleiben wird.Wenn Sie die Stellungnahmen der verschiedenen Interessenverbände lesen, dann stellen Sie fest, daß die Meinungen—je nachdem, ob entschädigt werden soll oder ob eine Vermögensabgabe zu zahlen ist — meilenweit auseinandergehen. Bei einer Entschädigungshöhe vom 1,3fachen des Einheitswertes von 1935 bei Grund-, land- und forstwirtschaftlichem Vermögen, bei dem einfachen Einheitswert von 1935 bei Betriebsvermögen, einschließlich der damit dann auch verbundenen Degression, ist sicher auch nichts anderes zu erwarten.Umgekehrt ist das Gefühl, für sein Eigentum, welches in der Vergangenheit enteignet wurde, nun ein Drittel eines pauschal ermittelten Verkehrswertes zahlen zu müssen, nicht übermäßig populär.Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Restitutionsbegünstigten — auch unter Berücksichtigung der Vermögensabgabe — um ein Mehrfaches bessergestellt als im Falle einer Entschädigung. Vor allem gilt das natürlich bei Immobilien in Ballungszentren, in Großstädten und in deren Randlagen; das ist sicher zweifelsfrei. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, daß im Vergleich zum gegenwärtigen Zustand eine Verbesserung der Verfügbarkeit von Grundstücken eintreten wird.Das Ziel des Entschädigungsgesetzes, die Herstellung des sozialen Rechtsfriedens — der ist mehrfach angesprochen worden, und ich unterstreiche, daß das ein Ziel sein muß — und die Beseitigung von Investitionshemmnissen, wird mit diesem Entwurf nicht erreicht. Ich frage mich, ob diese beiden Aspekte bei der Formulierung des Gesetzestextes durch die Bundesregierung überhaupt eine Rolle gespielt haben. Zweifel daran dürfen bei den kurzen Wahlfristen des Gesetzes und der vorgesehenen Haushaltsneutralität des Bundes schon erlaubt sein.Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Auch wir halten eine Haushaltsneutralität bei der derzeitigen Finanzlage des Staatshaushaltes für dringend geboten. Aber die Schere zwischen der Höhe der Entschädigung und der Höhe der Vermögensabgabe klafft unserer Auffassung nach zu weit auseinander, um diesem Grundsatz letztendlich gerecht werden zu können.
Nach diesen allgemeinen Darlegungen will ich mich auf drei speziellere Bereiche konzentrieren, da unsere grundsätzlichen Vorstellungen bereits von
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Manfred Hampelmeinen Kollegen Rolf Schwanitz und Hans-Joachim Hacker dargelegt wurden.Da ist erstens die noch nicht abschätzbare Belastung der neuen Länder und Gemeinden. Die Finanzämter, die Ämter und Landesämter zur Regelung offener Vermögensfragen können den erforderlichen Verwaltungsvollzug nicht ohne erhebliche personelle und räumliche Zuwächse erbringen. Kosten dafür sind in der Einnahmen- und Ausgabenrechnung des Bundes nicht enthalten.Es besteht eine mehrfache Inanspruchnahme zur Finanzierung des Entschädigungsfonds: zum einen durch Abgaben für nicht restituierbare Vermögen der Gebietskörperschaften und zum anderen durch die Abführung von Verkaufserlösen und Entgelten der dinglichen Nutzungsberechtigten. Einerseits macht es Sinn, auch von einer Gebietskörperschaft — wie von jedem anderen — eine Vermögensabgabe zu verlangen. Andererseits werden dadurch den Ländern und Gemeinden natürlich erhebliche Mittel entzogen, die für Investitionen nicht zur Verfügung stehen.Die Stellungnahmen der kommunalen Spitzenverbände bleiben abzuwarten. Ich habe bisher leider keine Position von den kommunalen Spitzenverbänden, Städtetagen usw. vernommen.Eine zweite Frage, auf die ich eingehen möchte, ist die nach der höheren Vermögensabgabe, weil die sicher auch sehr umstritten sein wird. Damit im Zusammenhang muß man aber die Verbesserung der Abinvestierbarkeit sehen. Wir schlagen, wie Sie wissen — ebenso wie auch das BMJ —, eine Erhöhung der Vermögensabgabe auf 50 % vor, bei gleichzeitiger Verbesserung der Abinvestierbarkeit für den Osten. Dann würde z. B., wenn man das von einem Drittel auf 50 % heraufsetzt, ungefähr ein Faktor von 1,67 herauskommen. Damit wäre auch bei einer höheren Vermögensabgabe nicht mit Mehreinnahmen zu rechnen — das steht sicher außer Zweifel —, da durch die Abinvestierbarkeit eine Steigerung der Investitionstätigkeit erfolgen wird, mit all den entsprechenden positiven arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Wirkungen.
— Man kann auch Kredite aufnehmen. Sie müssen sowieso investieren.
Aber, Herr Krziskewitz, man muß doch sowieso investieren. Das ist doch wohl ganz klar. Sie können doch die Buden, so wie sie da stehen, nicht in die Marktwirtschaft einbringen und glauben, Sie könnten mit diesen Betrieben einfach so weiterwirtschaften.
Da sind erhebliche Investitionen notwendig, und durch die Abinvestierbarkeit wird die Vermögensabgabe abgeleistet. So haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Ja, ich bin dazu bereit.
Herr Kollege, würden Sie nicht mit mir Zweifel haben, daß ein Grundstück, bei dem eine 50%ige Belastung im Grundbuch eingetragen ist, die Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers erhöhen könnte?
Der Kollege Diederich hat mir die Antwort schon vorweggenommen. Es ist eine Frage, in welchem Rang die Belastung auf das Grundstück eingetragen wird. Letztendlich wird durch die Abinvestierbarkeit diese Schuld automatisch getilgt, so daß sie sehr schnell wieder gelöscht ist.
Eine weitere Zwischenfrage.
Ja, Herr Kolbe.
Bitte schön.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß bereits die Vermögensabgabe von 33 % für viele ostdeutsche Existenzgründer, die ihr Haus oder ihren Kleingewerbebetrieb zurückbekommen haben, eine ganz erhebliche Gefährdung bedeutet
und daß Ihre 50 % Vermögensabgabe für viele ostdeutsche Existenzgründer das Aus bedeuten? Ich kann Ihre Haltung nicht verstehen.
Herr Kolbe, ich bin selber in der Lage, daß ich ein Unternehmen zurückgenommen habe. Ich kann die Situation relativ gut einschätzen. Ich habe mir das Ganze einfach einmal auf einem Stück Papier ausgerechnet.
— Das ist doch lächerlich. Dieser Einwurf ist nun wirklich lächerlich.
Das, was an Vermögensabgabe zu leisten wäre, und das, was ich in den vergangenen zwei Jahren zu investieren gezwungen war, ist ein Mehrfaches der Vermögensabgabe von 50 %. Man muß wirklich einmal genau in die betriebswirtschaftliche Rechnung einsteigen.
Sind Sie bereit, eine zweitere Zwischenfrage zu beantworten?
Ja.
Sehen Sie nicht auch die Wettbewerbssituation zwischen einem Kleingewerbetreibenden in Leipzig, der 50 % Vermögensabgabe zahlen muß, und einem Kleingewerbetreibenden in Nürnberg, der diese Vermögensabgabe nicht
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Manfred Kolbezahlen muß? Sehen Sie da nicht eine Benachteiligung des Leipzigers bei Ihren 50 % Vermögensabgabe?
Herr Kolbe, was denken Sie, wie glücklich ich wäre, wenn das die einzige Benachteiligung wäre.
Dann wäre es bei uns schon mehrfach bergauf gegangen.
Aber ich möchte jetzt meine eigentlichen Ausführungen fortsetzen. Ich sehe auch keine Zwischenfrager mehr.
Auf eines möchte ich noch eingehen; das geht etwas in Ihre Richtung. Besonderer Beachtung bedürfen auch die 1972 enteigneten Unternehmen. Unmittelbar nach der Wende haben viele Alteigentümer ihre Unternehmen zurückerhalten und mit großem Elan und Zuversicht einen Neuanfang gewagt. Die günstigen steuerlichen und Reprivatisierungsbedingungen waren dafür die Grundlage. Seit dem Einigungsvertrag hat das konzeptionslose Verändern von Gesetzestexten und Übernahmebedingungen ein wesentlich schlechteres wirtschaftsrechtliches und psychologisches Umfeld geschaffen. Das ist Ihrer Bundesregierung anzulasten, Herr Kolbe.
Ohne in diesem Zehn-Minuten-Beitrag auf Einzelheiten eingehen zu können, rege ich an, daß die Bundesregierung für diese Gruppe grundsätzlich neue konzeptionelle Überlegungen anstellt; denn drei Viertel aller 1972 verstaatlichten Unternehmen sind dem industriellen Sektor zuzurechnen. Besonders die produzierenden Bereiche bedürfen als mittelständische Unternehmen einer besonderen Förderung, damit sich auch in den neuen Bundesländern die tragende Säule mittelständischer Betriebe entwikkelt, die in den alten Bundesländern so maßgeblich zum Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft beigetragen hat und weiter beiträgt.
Drittens will ich noch auf einen Punkt aufmerksam machen, den ich beim ersten Lesen des BMF-Papieres als Aprilscherz angesehen hatte. Ich will zitieren, was in diesem Papier unter Punkt 6 — Auszahlung der Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen — steht:
Die durch die Ämter und Landesämter zur Regelung offener Vermögensfragen in den neuen Ländern festzusetzenden Leistungen werden
— jetzt hören Sie gut zu —
nach Maßgabe der verfügbaren Mittel ab dem 1. Januar 1996 unverzinslich gezahlt.
Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: „nach Maßgabe der verfügbaren Mittel". Das heißt im Grunde genommen nichts anderes: Selbst dann, wenn ein Rechtsanspruch besteht und völlig gesichert ist, gibt es kein Geld, wenn nichts in der Kasse ist,
sondern erst dann wieder, wenn erneut etwas hineinkommt. Daß das mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar ist, wage ich zu bezweifeln.
Neben den schon ausgeführten ungünstigen Beeinflussungen des Verhältnisses von Entschädigung und Restitution würde diese Maßgabe das noch bestehende Restitutionsinteresse völlig zunichte machen.
Als Fazit bleibt: Mit diesem Gesetzentwurf hat die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Unstrittig ist bei allem Umwillen, den man mit diesem Gesetz mit Sicherheit hervorrufen wird, die Notwendigkeit, endlich schnell zu handeln. Wir sind bereit, auch unpopuläre Entscheidungen mitzutragen, wenn sie Sinn machen und dazu beitragen, den Restitutions-druck deutlich zu mindern.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Udo Haschke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war schon eine eigenartige Argumentation: Da die Unternehmen in den neuen Bundesländern ohnehin benachteiligt sind, macht es nichts aus, wenn man ihnen noch eins draufgibt.
Das muß man den Menschen in Leipzig, Jena, Dresden usw. einmal ganz langsam verklickern. Das schafft Arbeitsplätze und Motivation!
Herr Abgeordneter, die Abgeordnete Frau von Renesse möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, hier braucht es keine Zwischenfrage; das war ja eindeutig. Ich möchte zu meinem eigentlichen Beitrag kommen.
Bitte sehr, das ist Ihr gutes Recht.
Ich muß schon sagen, manche Argumentation aus den Reihen der Opposition hat mich jäh in das Hin und Her der Diskussionen in der Volkskammer zurückversetzt: Wollen wir nun, oder wollen wir nicht? Wollen wir nun die Einheit, oder wollen wir sie nicht?
Herr Kollege Ullmann, ich habe den Augenblick noch sehr gut im Gedächtnis, als Sie endlich merkten, daß an der DDR wirklich nichts zu retten ist, und im Ausschuß für die Verfassungs- und Verwaltungsreform sagten: Schluß jetzt, Beitritt. Da habe ich gesagt: Die Demokratie ist noch zu retten; es wird gehen.
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Udo Haschke
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, haben wir mit großer Mehrheit den Beitritt nach Art. 23 des Grundgesetzes und damit die Übernahme des gesamten Grundgesetzes, auch des Art. 14, beschlossen.
Herr Schwanitz, mit dem Argument eines natürlich vorhandenen Rückstaus bei der Bearbeitung von Restitutionsanträgen das Grundgesetz aushebeln zu wollen, das scheint mir juristisch höchst fragwürdig zu sein. De facto — das ist das Schlimme — verlängert dies doch nur den Zustand der sozialistischen Zwangsverwaltung von Immobilien.
Ich weiß natürlich, daß mancher sozialdemokratische Bürgermeister seine städtische Immobilienverwaltung in dieser Richtung hätschelt und nicht gerne von dem Ast herunter möchte, auf dem er sitzt. Aber gut, das ist ein anderes Kapitel.Wer durch die Städte in den neuen Bundesländern geht und wer die Augen aufmacht und nicht die ideologischen Scheuklappen immer noch mit sich führt, der sieht doch ganz deutlich, wohin die Geringschätzung, die Mißachtung des Eigentums in Deutschland geführt hat.
Aber für genauso bemerkenswert halte ich: Er sieht auch, daß sich überall aus diesen Ruinenzonen Stück für Stück schöne, attraktive Häuser herauspellen, nämlich dort, wo der Eigentümer wieder in seine Rechte eingesetzt und nicht zuletzt durch die massive Unterstützung des Bundes in die Lage versetzt wurde, auch Art. 14 Abs. 2 Grundgesetz nachzukommen, nämlich daß das Eigentum zum Wohle aller verpflichtet.
Herr Kollege Schwanitz, Sie haben mit dem Recht naiver Unbekümmertheit — anders kann ich das nicht definieren — gefragt, warum erst heute. Sicher nicht nur — Frau Minister, ich bitte um Entschuldigung, aber das muß ich mir doch leisten — weil, wenn zwei oder drei Juristen versammelt sind, zehn oder zwölf Meinungen diskutiert werden müssen.
Das war nicht der einzige Grund. In diesem Fall war das Konfliktpotential einfach nicht wegzudiskutieren. Unser Kollege Graf Lambsdorff hat es in der Debatte am 5. September 1990 exakt beschrieben:Es darf nicht ... früher entstandenes Unrecht durch neues Unrecht wiedergutzumachen versucht werden.Das ist eine Aufgabe, die nur im Kompromiß zubewältigen ist. Ein Kompromiß hat nun einmal diedumme Eigenschaft, daß zwei aufeinander zugehenmüssen — oder drei, vier oder wie viele auch immer.
Ich gehe einmal davon aus, ich neige sogar dazu, daran zu glauben, daß auch die Abgeordneten der in der Tradition der SED stehenden Gruppe in diesem Hohen Haus, also in der Tradition derer, die den ganzen Schlamassel verursacht haben,
eine Fülle von Gutachten, Kommentaren und Petitionen von Betroffenen auf dem Tisch liegen haben.
Wir alle stimmen überein: Wir haben eine Menge Petitionen Betroffener auf dem Tisch liegen. Um diese Betroffenen geht es mir. Herr Kollege Hampel, mir geht es um die Betroffenen und nicht nur um einen einzelnen, der vielleicht zufällig eine positive betriebswirtschaftliche Bilanz hat. Mir geht es auch um die vielen anderen, die das im Moment nicht haben.
Herr Abgeordneter Haschke, der Abgeordnete Hampel möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, natürlich.
Herr Kollege, können Sie mir zustimmen, daß die Enteignung im Jahre 1972 auf Initiative der damaligen CDU in der DDR erfolgt ist?
Das war der erste Schritt. Der zweite war dann —
Meine Damen und Herren, damit der Fragesteller geschäftsordnungsgemäß kurz und präzise fragen kann, dürfen Sie ihn nicht zu oft unterbrechen.
Bitte schön.
Das war die Frage, ob er zustimmen kann. Das ist doch eigentlich schon übergekommen.
Herr Kollege Hampel, ich muß Ihnen sagen, damals hatte ich mit der CDU nicht allzuviel am Hut.
Sie müssen einfach einmal zur Kenntnis nehmen, daßdie CDU der Zeit zwischen 1951 und 1989 in keinerWeise mit der zu vergleichen ist, die zwischen 1945
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Udo Haschke
und 1951 und nach 1989 bestanden hat bzw. besteht. Nehmen Sie das einfach einmal zur Kenntnis.
Ich setze Sie doch auch nicht in die Tradition des Teiles der SPD, der damals mit offenen Armen in die Arme der KPD gegangen ist. Das machen wir doch wohl auch nicht.
Ich muß nun noch ganz schnell folgendes sagen, weil das rote Licht leuchtet; aber ich habe wohl noch etwas Zeit.
Lieber und verehrter Herr Kollege Haschke, selbstverständlich habe ich die Unterbrechungen berücksichtigt, aber nun müssen Sie sehen, daß Sie zu Ende kommen, denn das rote Licht ist ernst gemeint.
Ich halte den Gesetzentwurf unter allen diesen Aspekten für richtig, notwendig und diskussionsbedürftig. Wir müssen die Diskussion nicht führen nach dem Motto: Kommt Zeit, kommt Rat. Das wollen Sie ja; Sie wollen noch einmal zwölf Monate Zeit haben. Wir müssen das schnell machen, vor allen Dingen im Hinblick darauf, daß eine Gruppe keine Zeit hat: Das sind unsere Heimatvertriebenen. Das unterstütze ich nachhaltig. Anfang 1994 muß es losgehen. Ich denke, wenn Sie aufhören zu polemisieren und sich statt dessen der Sacharbeit zuwenden, dann schaffen wir es auch gemeinsam.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau von Renesse das Wort.
Da mir der Kollege leider die Zwischenfrage verweigert hat, bin ich zu diesem Mittel geschritten. Es ärgert mich zutiefst, wenn ein scheinbarer Gegensatz wunderschön populistisch aufgebaut wird, und zwar zwischen dem im Gelde schwimmenden Unternehmen im Westen und dem armen im Osten, das sich natürlich mit dem westlichen nie wird messen können, auch wenn z. B. Vermögensabgaben in Form von Darlehen erfolgen.
Ich bitte Sie, Herr Haschke, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein westliches Unternehmen, von denen die meisten überaus hoch fremdkapitalisiert sind, wie wir wissen, geradezu idiotisch handelte, wenn es nicht entsprechende Belastungen für Investitionen aufnähme, weil es sonst nämlich von vornherein viel zuviel Steuern zahlen würde. Das gibt es also kaum. Dieser populistische Gegensatz, mit dem Sie den Graben zwischen Ost und West vertiefen, ist in der Wirklichkeit nicht vorhanden und sollte nicht, auch
wenn es sich noch so gut in einer solchen Rede macht, immer wieder aufgerissen werden.
Herr von Stetten, ich habe das Wort zu einer Kurzintervention erteilt. Wenn Sie einen Blick in die Geschäftsordnung werfen würden, wäre Ihnen klar, daß das möglich ist.
Nunmehr hat der Abgeordnete Kleinert das Wort.
Herr Präsident! Meinen sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht ganz unwesentlich für die Beleuchtung der Szenerie, für die Beleuchtung dessen, was heute vormittag hier zu besprechen ist, ist auch die Entscheidung, welcher Ausschuß federführend werden soll. Es gibt darüber zur Zeit, wie ich festgestellt habe, noch gewisse Gerüchte. Die Fraktionen haben sich geeinigt, den Finanzausschuß federführend zu machen.Als Mitglied des Rechtsausschusses und nach Rücksprache mit vielen Mitgliedern des Rechtsausschusses bedaure ich das einerseits. Ich möchte aber nicht in den Geruch der Heuchelei geraten und deshalb nicht verschweigen, daß es mich andererseits freut. Wir hätten uns der Aufgabe gestellt, weil mit Sicherheit eine Fülle nicht nur schwieriger rechtlicher, sondern auch verfassungsrechtlicher Fragen durch dieses Gesetz auf das Haus zukommt. Wir sind ein klein wenig erleichtert, daß, da ein Großteil der Verantwortung für das Dilemma — soweit es denn überhaupt in diesem Hause und bei der Bundesregierung Verantwortung gibt — im Finanzministerium liegt, die Verantwortung bei dem dort zugeordneten Ausschuß liegen soll, Herr Staatssekretär. Das haben wir schon ganz gerne.Ich weiß nicht, wer die Idee aufgebracht hat, daß sich die Lösung und die Lösbarkeit rechtlicher Fragen von größter Bedeutung daran zu orientieren haben, daß man einen festen Rahmen von 12 Milliarden DM vorgibt, innerhalb dessen durch Abgaben des einen und Zahlungen an den anderen alles haushaltsneutral zu erledigen ist. Daß ein solcher Vorgang in der deutschen Geschichte, daß ein solches Übermaß an Unrecht haushaltsneutral zu erledigen sein muß, das möchte ich als Finanzminister hier dem Hause nicht so gerne erklären. Insofern ist der Finanzminister auch nicht selbst gekommen, sondern hat den Staatssekretär gebeten, uns das mitzuteilen.
Haushaltsneutralität und dann sorgfältig vor- und zurückgerechnet, so wie das Finanzministerium halt rechnet — zum Schluß geht es zwar auf, aber vorher stimmt nichts.
Das ist eine rein ergebnisorientierte Rechenarbeit, die deshalb diesen Namen nicht so sehr verdient. Deshalb sind wir sehr zufrieden, daß auf Grund der Regeln im Hause, obwohl sie auch eine Ausnahme
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Detlef Kleinert
zugelassen hätten, der Finanzausschuß mit der Sache befaßt wird.Was wir in diesem Zusammenhang allerdings wirklich nicht ertragen hätten, wäre die Zuständigkeit des Haushaltsausschusses;
denn dann hätte man der Katze wirklich die Schelle umgehängt. Man hätte gesagt: Die Sache ist für uns nur ein Kassenproblem.So haben wir nach sehr kollegialer und sehr sachverständiger Zusammenarbeit in vielen Fragen mit dem Finanzausschuß das Vertrauen, daß nicht das Kassenproblem an erster Stelle steht, sondern der Versuch, das fast unlösbare Problem mit großer Energie anzugehen. Der Rechtsausschuß wird sich, wenn auch nur mitberatend, daran beteiligen, aus der Fülle von nicht wiedergutzumachendem unglaublichem Unrecht Regelungen herauszuarbeiten, die wenigstens einigermaßen zwischen den Verletzungen, die alle Beteiligten erleiden mußten, in der Mitte hindurchgehen. Mehr kann man in dieser Situation nicht erreichen.
Vierzig Jahre Unrecht in der DDR sind nicht auszulöschen — nicht mit den Mitteln des Rechts und auch nicht mit finanziellen Mitteln einer zwar reichen, aber auch nicht überreichen Gesellschaft. Deshalb müssen wir versuchen, einen einigermaßen vernünftigen mittleren Weg zu finden.Deshalb halte ich es für hervorragend, daß wir heute von der SPD nur Redner gehört haben, die versuchten, Beiträge zur Sache zu liefern, die versuchten, ihren Sachverstand mit einzubringen, und die dabei der Versuchung widerstanden haben, aus dieser Geschichte ein polemisches Geschäft gegen die Bundesregierung zu machen, die — das möchte ich, nachdem vorhin ein wenig Kritik angeklungen ist, Herr Staatssekretär Echternach, auch sagen — dies alles ja schließlich keineswegs verursacht, sondern geerbt hat. Mit diesem Erbe müssen wir alle gemeinsam fertigwerden. Dafür, daß sich heute vormittag jedenfalls die Ansätze dazu bieten — über alle Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg —, bin ich dankbar.Rechtlich wird sich das alles nicht lösen lassen. Es nützt uns gar nichts, auf Art. 14 zu verweisen. Die DDR hat ihn mit Füßen getreten. Wir haben in einem völkerrechtlichen Vertrag, der am Anfang der deutschen Einigung stand, Rücksichten auf die Geschichte der DDR nehmen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, daß das nach der Verfassung der Bundesrepublik rechtens war. Deshalb müssen wir uns damit abfinden, daß ein Grundrecht auf Eigentum keine Handlungsanweisung für die Arbeit darstellt, die wir gemeinsam zu leisten haben.Die Art der Enteignung sollte bei dieser Gelegenheit aber noch einmal in Erinnerung gerufen werden: Es stimmt nicht — wie man das gelegentlich in oberflächlichen Beiträgen von Teilnehmern an der Diskussion hören kann —, daß viele Menschen einfach abgehauen sind und jetzt, nachdem sie es sich dieganzen Jahre im Westen haben gutgehen lassen, ihren Grund und Boden wiederhaben wollen. Sie sind nicht nur vertrieben worden, sondern sie sind vorher eingesperrt worden, sie sind furchtbar mißhandelt und malträtiert worden. Sie sind unter dramatischen, teuflischen Bedingungen von ihrem Grund und Boden vertrieben worden. Dieser Hintergrund ist mit zu berücksichtigen, bei aller Sachlichkeit, die unserer Arbeit gebührt.
Das, was da an im einzelnen sehr grausamen und unmenschlichen Dingen geschehen ist, wird nur noch von dem übertroffen, was der Nationalsozialismus insonderheit den jüdischen Mitbürgern angetan hat. Deshalb ist es gerechtfertigt, daß wir in diesem Zusammenhang wie auch im Zusammenhang mit einigen anderen einschlägigen Gesetzen die besonderen Interessen der jüdischen Mitbürger und der früheren jüdischen Mitbürger auch rechtlich so betrachten, wie es unserer geschichtlichen Verantwortung für diese jüngere Vergangenheit entspricht. Beide Gruppen sollten insofern berücksichtigt werden.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aussagen, die ich in der Debatte vor allen Dingen von den Rednern der Koalitionsfraktionen zu den Fragen der Verwertung von Land durch die Treuhandanstalt gehört habe, d. h. zu Enteignungen, die auf die Jahre zwischen 1945 und 1949 zurückgehen, veranlassen mich hier zu einer Kurzintervention. Vor allen Dingen stören mich die polemischen Äußerungen, die im Widerspruch zum tatsächlichen Handeln der Bundesregierung stehen. Hier wurde heute mehrfach gefordert, dieses Land zurückzugeben. Was macht die Bundesregierung tatsächlich? — Die ehemaligen volkseigenen Güter, die auf diese Enteignungen zurückgehen, werden von der Treuhandanstalt meistbietend verkauft.
Geht man davon aus, Ihre Forderungen würden umgesetzt, müßte von den Käufern das Geld zurückverlangt werden. Das ist eine völlig unschlüssige Forderung, die ich mehr als Polemik ins Land hinein verstehe, als daß sie in die Realität umgesetzt werden kann.
Ein zweiter Punkt. Es besteht die Gefahr, daß Tatbestände aus DDR-Zeiten im Hinblick auf eine Entschädigung ganz anders behandelt werden als Vorgänge dieser Art aus der Zeit zwischen 1945 und 1949. Zu diesem Problem hat heute keiner gesprochen — Stichwort Kreispachtverträge. Obwohl es mehrfach Forderungen in diese Richtung gab, sind diese aus-
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Dr. Gerald Thalheimdrücklich ausgeklammert worden. Das Gegenteil geschieht: Die Bundesregierung hatte einmal angekündigt, Schäden aus diesen Verträgen auszugleichen, indem 300 Millionen DM eingesetzt werden sollten. Diese sind im Haushaltsansatz gestrichen worden. Man hat hier die Öffentlichkeit in den neuen Ländern also wieder bewußt in die Irre geführt. Daß der Ausgleich im nächsten Jahr erfolgen soll, ist erst einmal eine Ankündigung. Nachdem in der Vergangenheit in so vielen Fällen Ankündigungen nicht eingehalten wurden, muß man das zumindest mit einem riesigen Fragezeichen versehen.Ich wende mich dagegen, daß die Interessen einer Gruppe, die der von 1945 bis 1949 Enteigneten, in einer Art und Weise vorgetragen werden, daß die Gefahr heraufbeschworen wird, daß viele, die zu DDR-Zeiten ähnlich betroffen waren, leer ausgehen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Wilhelm Rawe das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als endlich die deutsche Wiedervereinigung zustande kam und an die Stelle des Unrechtsstaates der Rechtsstaat trat, so wie er in unserem Grundgesetz verfaßt ist, haben daran viele Bürger große Erwartungen in der Hinsicht geknüpft, daß nun das Unrecht, das dieser Unrechtsstaat und die SED bewirkt und hinterlassen haben, in irgendeiner Form wiedergutgemacht wird,
und zwar in ähnlicher Form, wie die Bundesrepublik Deutschland das nach 1945 hier im Westen versucht hat. Diese Erwartungen waren sehr groß.Wir müssen feststellen, daß die Aufgabe, die wir jetzt zu bewältigen haben, außerordentlich schwierig ist. Das hat die ganze Debatte heute morgen gezeigt. Ich bin mit Ihnen einverstanden, daß wir gem einen früheren Zeitpunkt der Vorlage dieses Gesetzes durch die Bundesregierung gesehen hätten.Es entbehrt auch nicht einer gewissen Pikanterie, Herr Staatssekretär, wenn bei der Verabschiedung des Gesetzes im Kabinett Zusatzerklärungen abgegeben werden, wenn der Sprecher der Bundesregierung uns sagt, er erwarte selbstverständlich von uns, daß wir dieses Gesetz entsprechend verbessern, und wenn wir zwei Tage vor der ersten Lesung im Deutschen Bundestag dann durch eine Pressemeldung des Chefs des Bundeskanzleramtes erfahren, er sehe es am liebsten, wenn wir das Gesetz möglichst schnell unverändert über die Bühne bringen. Ich hoffe, lieber Herr Bredehorn, er erinnert sich daran, daß er einmal Parlamentarischer Geschäftsführer war und uns dadurch geradezu ermuntert hat, es kräftig zu verändern,
nämlich dahin gehend, daß es den Anforderungen, die wir an eine gerechte Lösung stellen, auch tatsächlich Genüge tut.Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Schwanitz, daß Sie sich entgegen Ihrer Pressemeldung vom 30. April — bei der ich zunächst die Befürchtung hatte, Sie würden heute morgen einfach nur nein sagen — ausdrücklich dazu bereit erklärt haben, gemeinsam mit uns kräftig zu ringen, so daß etwas Gutes zustande kommt. Denn ich sage Ihnen: Ohne daß wir hier gemeinsam ringen, werden wir dieses Problem nicht lösen. Hier kann nur ein Kompromiß helfen, wenn wir erreichen wollen, daß eine akzeptable Lösung zustande kommt, die sowohl von den Bürgern in den neuen als auch von denen in den alten Ländern akzeptiert wird. Das muß das Ziel unseres gemeinsamen Ringens sein. Wenn wir es so angehen, bin ich ganz sicher, daß wir es auch erreichen werden.
Im übrigen, meine Damen und Herren, freue ich mich natürlich darüber, daß der Kollege Kleinert sehr deutlich gemacht hat, lieber Herr Staatssekretär Echternach, daß man ein so schwerwiegendes Problem nun wirlich nicht nur unter fiskalischen Gesichtspunkten betrachten darf.
Hier sind grundlegende Dinge des Rechts betroffen. Die werden wir uns in den Ausschüssen sehr sorgfältig ansehen müssen. Ich denke, es wird sogar notwendig sein, daß wir zu der einen oder anderen Frage eine Anhörung durchführen; denn sonst werden wir in der Sache nicht vorankommen.Ich begrüße es ausdrücklich, daß sich alle Fraktionen dieses Hohen Hauses darin einig sind, daß wir, wenn wir dieses Gesetz nicht schnell genug verabschieden können, dann die Vertriebenenregelung vorziehen. Ich bin sehr dankbar dafür, daß wir in diesem Punkt übereinstimmen.
Denn es haben schon viele Redner vor mir gesagt, daß das in Wirklichkeit nur eine Anerkennung und alles andere als eine Wiedergutmachung ist. Daher dürfen wir nicht weiter in Verzug geraten. Das geht nicht!
Am Schluß einer Debatte sollte man nicht alles das wiederholen, was schon vorgetragen worden ist. Ich will mich daher auf wenige Punkte beschranken.Es ist heute noch nicht sehr deutlich herausgearbeitet worden, daß die von allen Seiten recht unterschiedlich gesehene Vermögensabgabe — wenn wir uns alle Modelle einmal richtig anschauen — vielleicht entfallen kann. — Ich mache dazu noch einen Vorschlag; ob er tragbar ist, werden wir prüfen müssen. — Ich denke, die Kollegen aus den neuen Ländern haben recht, wenn sie vortragen, daß die Vermögensabgabe vor allen Dingen diejenigen, die nur über ein geringes Vermögen verfügen, die kleinen Häuslebesitzer, in einer ungeheuren Weise belastet.
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Wilhelm Rawe— Doch, doch. Herr Hampel, ich habe viel Verständnis dafür, daß Sie das so abweisen wollen, weil Sie einen anderen Vorschlag haben. Nur, schauen Sie sich einmal das Gehabe der Banken an, die in den neuen Ländern tätig sind, dann werden Sie sehr schnell feststellen, wie sie die Kreditwürdigkeit einzelner Leute beurteilen.
Das ist etwas, was ich einfach nicht ertragen kann. Deswegen will ich diese Frage überprüft haben, notfalls eben auch durch Sachverständige.Zum anderen bin ich der Meinung — auch das ist schon mehrfach angesprochen worden —, daß es völlig unmöglich ist, daß die Schere in den Fällen, in denen eine Restitution möglich ist, und in solchen, in denen wir auf den Entschädigungsanspruch verweisen müssen, in dieser Form auseinanderklafft. Das ist auch von allen Seiten des Hauses zum Ausdruck gebracht worden. Dies werden wir sicherlich sehr sorgfältig überprüfen müssen; denn das ist nicht in Ordnung. Das bedeutet natürlich, daß die Degression von uns sorgfältig überarbeitet werden muß.Nun bin ich, glaube ich, verpflichtet, ein Wort zu dem zu sagen, was über 1945 und 1949 gesagt wird. Es wird hier immer sehr schnell der Spruch des Bundesverfassungsgerichts zitiert, den ich gar nicht angreifen will. Aber es gibt einen berühmten Kollegen in Ihrer Partei, nämlich Professor Wassermann, der auch als Richter einen sehr bedeutenden Namen erlangt hat. Er kommt in seinen Veröffentlichungen zu dem Schluß, daß das Eigentum, egal welche Besatzungsmacht jeweils gehandelt hat, im Sinne unseres Grundgesetzes und unserer Rechtsordnung gar nicht untergegangen sein kann.
Wenn das so ist, dann werden wir uns, Herr Schwanitz, sicherlich darüber unterhalten müssen, ob wir das Eigentum in vollem Umfange so wiederherstellen können, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Ich glaube es nicht.Aber da das Verfassungsgericht das nicht ausdrücklich ausgeschlossen hat — Herr Bredehorn hat es auch gesagt —, bin ich der Meinung: Wir sollten darüber nachdenken, ob wir nicht wenigstens einen Teil des Ausgleichs in natura vornehmen. Denn wenn der Bundesminister der Finanzen einmal endlich die Übersichten herausrückt, aus denen hervorgeht, was er alles in Besitz hat, dann haben wir — davon bin ich fest überzeugt — eine gute Chance, die Entschädigungsregelungen entsprechend niedrig anzusetzen. Auch von daher würde die Schere dann ganz erheblich kleiner. Jedenfalls rege ich an, dieses Problem sehr sorgfältig zu prüfen.
Ich merke, der Herr Präsident läßt die rote Lampe leuchten. Das bedeutet, ich soll Schluß machen. Ich will das auch tun; wir haben uns ja lange genug mit der Materie befaßt.Ich appelliere noch einmal an das ganze Haus: Wir stehen vor einer ungeheuer schweren Aufgabe. Lassen Sie uns versuchen, gemeinsam einen guten Kompromiß zum Wohle unserer Bürger im vereinten Deutschland zu finden!
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Ortwin Lowack das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag! Meine Damen und Herren! Mit diesem sogenannten Entschädigungsgesetz werden in der Tat die Grundlagen des Rechtsstaats in einem wichtigen Punkt in Frage gestellt. Ich meine nicht die Fälle, in denen gutgläubig Eigentum erworben wurde — das müssen wir natürlich mitberücksichtigen —; ich meine die Fälle, in denen der Staat zunächst als Räuber auftrat und jetzt als Hehler in Erscheinung tritt, indem er geraubtes Eigentum nicht zurückgibt, sondern auf einer derart lächerlichen Basis entschädigt oder die Rückgabe des Eigentums an Bedingungen koppelt, daß es einer Enteignung gleichkommt.Die Eigentumsordnung verkommt. Eigentum darf aber keine Sache sein, die ständig neuer Interpretation unterworfen wird. Gerade das hat ja der Niedergang des Sozialismus bewiesen. Eigentum betrifft eine Grundfrage der staatlichen Ordnung, die weit über Generationen hinausweisen muß.Mir hat gestern jemand geschrieben, das SED-System habe den Leib kaputtmachen können, die Seele nicht überall. Diese Regierung aber mache es schlimmer. Sie zerstöre die letzten Hoffnungen auf Gerechtigkeit.Mit einer beim Bundesverfassungsgericht abgegebenen, völlig einseitigen und unnötigen Fehlinterpretation — um es ganz vorsichtig auszudrücken —, wonach die Sowjetunion angeblich auf der Unumkehrbarkeit und nicht nur auf der Legitimierung der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 bestanden habe, wurde für Hunderttausende Unrecht gesetzt. Dies ist eine der traurigsten, beschämendsten und geschichtlich einmaligen Aktionen, an denen sich der heutige Außenminister und sein Staatssekretär beteiligt haben. Auch das hätte der Kollege Bredehorn ansprechen müssen.Unabhängig davon: Selbst wenn die Sowjetunion auf der Unumkehrbarkeit von Enteignungen bestanden hätte — ich frage, warum eigentlich; das ergibt sich nicht zwingend aus den vorliegenden Protokollen; es ergibt sich auch nicht aus den Presseerklärungen des damaligen Außenministers Genscher —, wäre es nach Auflösung der Sowjetunion überhaupt kein Problem, trotzdem eine gerechte, auf der Eigentumsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufbauende Lösung anzustreben. Glaubt die Bundesregierung wirklich, hier nach völkerrechtlichen Grundsätzen in Anspruch genommen zu werden, etwa auf Schadenersatz? Welcher Schaden soll denn entstanden sein? Das Ganze ist lächerlich. Noch nicht einmal die auf falschen Tatsachen aufbauende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zwingt dazu; Herr von Schmude und andere haben das heute herausgestellt.
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Ortwin LowackDie eigenen Leute zu diffamieren, dagegen vorbehaltlos an fremde Staaten zu bezahlen und die Zukunft zu belasten ist leider längst zum Markenzeichen dieser Regierung geworden. Allein Polen kassierte über 15 Milliarden DM an Zuschüssen, die vom deutschen Steuerzahler bezahlt worden sind. Dazu kommen unzählige Milliardenkredite. Es erhielt ein Land mit über 100 000 km2 zur Ausbeutung überantwortet, das einst zu den schönsten und reichsten Europas gehörte.Die alte Sowjetunion durfte sich deutscher Zahlungen in Höhe von über 80 Milliarden DM erfreuen. Wiedergutmachungszahlungen im engeren Sinne wurden in einer Größenordnung von über 90 Milliarden DM geleistet. Aus Strukturfonds, an Beiträgen zu den unterschiedlichsten Organisationen, an Entwicklungshilfe und durch unzählige Zahlungen an fremde Staaten leisten wir ungeheuer viel.Wenn es aber damm geht, die eigenen Landsleute, Deutsche,. die Heimatvertriebenen, deren Rechtstitel an ihrem Eigentum durch von der Bundesregierung abgeschlossene Verträge in Frage gestellt werden, zu entschädigen, dann führt sich diese Bundesregierung schäbig, bösartig, geradezu hämisch auf. Sogar die lächerlichen 4 000 DM — die ich zurückweisen würde —,
die an die Heimatvertriebenen in der früheren DDR gezahlt werden sollen, werden noch bis zum Jahr 2000 gestreckt.Wer ständig in dieser Art und Weise gegen die eigene Bevölkerung arbeitet, wird der Bestrafung nicht entgehen;
ebensowenig derjenige, der die katastrophale Finanz- und Einigungspolitik auf dem Rücken der Schwächsten und derjenigen, die sich am wenigsten wehren können, austragen will. Das führt zu einer Entsolidarisierung in Deutschland in einer Zeit, in der wir gerade Gemeinschaftsgeist und Solidarität bräuchten, wenn wir die großen vor uns liegenden Probleme lösen wollen.Ich bitte Sie, machen Sie dieses Spiel der Bundesregierung so nicht mit!
Zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Grafen von Schönburg-Glauchau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke für die Gelegenheit, hier eine persönliche Erklärung abzugeben.Jeder im Hause weiß, daß ich zu denen gehöre, von denen heute viel die Rede war. Die zwischen 1945 und 1949 Enteigneten, deren Besitz volkseigenes Vermögen, volkseigene Land- und Forstwirtschaft wurde, sehen — ganz anders als andere — ein Elternhaus,eine sonnenüberschienene Wiese und einen hübschen See oder das von der PDS ins Gespräch gebrachte Familiensilber vor sich.Ich möchte diese persönliche Erklärung benützen, um Ihnen zu sagen: Ich arbeite an diesem Gesetz mit; aber ich möchte Ihnen weiter in die Augen sehen können — ich mache es nicht um persönlicher Vorteile willen. Ich bin 50 Jahre ohne das ausgekommen. Ich habe zwei Herzinfarkte hinter mir. Ich brauche nichts mehr, und ich will nichts mehr. Dies als deutliche Erklärung.Aber ich arbeite daran mit, weil ich weiß, daß das Wort wahr ist: Unrecht Gut gedeihet nicht. Ein paar Dinge werden noch bearbeitet werden müssen, damit sie nicht zu „unrecht Gut" werden.An diesem Punkt geht mein Blick hinüber zu dem Kollegen, der zuerst gesprochen hat. Wir sollten uns auch bei der Bodenreform einig sein. Ich gehöre zu denen — und habe immer zu denen gehört —, die gesagt haben: Die Bodenreform muß erhalten bleiben; aber nur, insoweit sie Menschen begünstigt hat. Ein anderer Aspekt der Bodenreform war, daß sie Menschen verfolgt und bestraft hat. Wenn jemand 8 ha aus der Bodenreform bekommen hat, soll er sie behalten. Das ist die eine Seite. Aber wenn das Klavier, das meine Mutter in die Ehe gebracht hat, deswegen weggenommen worden ist und heute noch weggenommen bleibt, um diese „verdammten Junker" zu strafen, dann, meine ich, ist das etwas, was auch Sie nicht aufrechterhalten sollten. Das ist der Unterschied, und da könnten wir uns einig sein. Es sind zwei Aspekte derselben Sache, und wir sollten uns in dieser Art und Weise einig werden.Die Leute, die mich besuchen kommen oder mich treffen — rechts und links und überall, Gott sei Dank haben die Menschen wieder etwas von ihrem Eigentum —, diese Menschen staunen immer: Ich habe nichts, keinen Pfennig und keinen Quadratmillimeter. Ich brauche es auch nicht. Ich kann deswegen aber um so unbefangener mitarbeiten. Das ist das letzte, was ich jetzt beitragen will — außer dem, was ich in Zukunft tue.Die ganze Sache krankt an dein Grundfehler, daß die Geschädigten den Ausgleich für Geschädigte erbringen sollen, daß die Opfer die Opfer entschädigen sollen. Das haben Kollegen wie der Kollege Ullmann oder die Kameraden von der Jewish Claim Conference an sich sehr richtig erkannt. Sie haben gesagt: Das gibt es ja nicht! Das ist ja eine nobelpreiswürdige Erfindung. Das können wir künftig im Kriegsopferrecht auch einführen: Die nichts abbekommen haben, die gesund geblieben sind, werden nicht zur Entschädigung herangezogen, und die Leichtverwundeten entschädigen dann die Schwerverwundeten. Das reimt sich nicht! Ich glaube, wir müssen von diesen Dingen herunter.
Meine Schulkameraden, Wähler und Mitbürger und auch SPD-Wähler zu Hause sind keine großen Rechtsgelehrten; aber sie spüren, daß das nicht stimmt. Sie sagen zu mir: Ich täte verstehen, wenn jeder von uns ein paar Mark fuffzich dazugeben müßte. — Aber daß ausgerechnet diejenigen, die
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Joachim Graf von Schönburg-Glauchaueingesperrt wurden, die haben fliehen müssen und zurückgekommen sind, für alle anderen zahlen müssen, der Herr von Ardenne aber nichts zahlen muß, das geht meinen Leuten nicht ein.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Oostergetelo das Wort.
Ich will nur drei Dinge kurz sagen:
Erstens. Ich will meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß bei dem Thema, das wir heute behandelt haben, im wesentlichen keine Polemik gemacht, sondern versucht wurde, mit den Schwierigkeiten fertigzuwerden. Das gilt für alle Seiten. Das Sich-Bemühen war heute vormittag dominierend.
Zweitens. Ich will als Landwirt und auch als Besitzender sagen, daß ich die Bodenreform in der Art und Weise, wie man sie durchgeführt hat, für ein Verbrechen halte.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Im Stendaler Gebiet gibt es einen größeren Betrieb, der die Fenster des Domes geklaut hat, um sie vor den Nazis und vor den Russen in Sicherheit zu bringen. Ein Nachbar von ihm hat das Benzin geliefert, um die letzten Juden zu verbrennen, bevor die Amerikaner einmarschierten. Beide sind eigentumsrechtlich gleichbehandelt worden. Da soll niemand von Gerechtigkeit reden, auch wenn es Rechtens ist.
Die dritte Feststellung: Ich habe die ganz große Bitte, daß wir bedenken, was dieses Problem im Hinblick auf Gerechtigkeit und was es ökonomisch bedeutet. Dazu zwei Sätze: Der ehemalige Besitzer von 110 ha wurde vertrieben, auch wenn er im KZ gewesen war; der mit 90 ha bekommt sie wieder, auch wenn er eine Stasi-Größe wurde. Dies stimmt nicht mit meiner Auffassung von Gerechtigkeit überein. Deshalb meine große Bitte: Bedenken Sie, was dies bedeutet. Und Herr Kleinert hat recht, Herr Staatssekretär: Das ist nicht nur eine fiskalische Frage.
Meine letzte Anmerkung: Macht es schnell! Ich bin sehr viel in den neuen Bundesländern und stelle fest: Diese offene Frage ist sehr investitionshemmend. Es ist unmöglich, daß fast alle nicht wissen, woran sie eigentlich sind. Aber ich will eines sagen: Ich lasse nicht zu, daß diejenigen, die 40 Jahre dort gearbeitet haben und die um ihre Arbeit gebracht werden könnten, und jene, die man — manchmal mit Greueln — vertrieben hat, ohne sie zu fragen, gegeneinander ausgespielt werden.
Ich sage: Wer das Grab seiner Eltern pflegen will und wieder dahin geht, woher er kommt, egal, wer es ist, dem traue ich eher zu, daß er seine emotionale Bindung in ökonomisches Handeln umsetzt, als anderen, die jetzt von draußen kommen. Deshalb, bitte, keine Verteufelung, auch nicht der ehemaligen Besitz er!
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/4887 an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Wirtschaft vorgeschlagen. Es wird noch einmal ausdrücklich festgestellt, daß die Federführung beim Finanzausschuß liegt.
Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann darf ich feststellen, daß die Überweisung beschlossen ist.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über technische Assistenten in der Medizin
— Drucksache 12/3165 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Gesundheit
— Drucksache 12/4900 —
Berichterstattung: Abgeordnete Sigrun Löwisch
Dazu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und drei Änderungsanträge der PDS/Linke Liste vor.
Interfraktionell wird eine Debattenzeit von einer halben Stunde vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Abgeordneten Sigrun Löwisch das Wort.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Es gibt fast niemanden, der nicht schon einmal auf medizinische Hilfe angewiesen gewesen wäre. Deshalb kennen wir auch fast alle den Stellenwert der Diagnose als Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung. Wir haben alle die Erfahrung gemacht: Wie bei einem Räderwerk müssen die medizinischen Dienste ineinandergreifen.Den MTAs fällt dabei eine sehr verantwortungsvolle Rolle zu, und es ist sowohl in unser aller Interesse als auch im Interesse der MTAs, daß sie die bestmöglichen Voraussetzungen, sozusagen das geeignete Handwerkszeug dafür bekommen.
Wir meinen, der Schlüssel hierzu liegt in der Ausbildung. Deshalb ist das Herzstück des Gesetzentwurfs über MTAs die Verlängerung der Ausbildung von zwei auf drei Jahre. Sie entspricht genau den gestiegenen Anforderungen durch den medizinischen Fortschritt. Von der Ausbildungsverlängerung auf drei Jahre erwarten wir, daß trotz vieler neuer und kom-
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Sigrun Löwischplizierter Techniken der hohe Standard im Labor und in der Radiologie zugunsten der Patienten auch in der Zukunft erhalten bleibt. In diesem Punkte profitieren wir ganz eindeutig von den positiven Erfahrungen in der früheren DDR.Die dreijährige Ausbildung bedeutet, daß in Zukunft 4 400 Stunden statt gegenwärtig 2 800 Stunden für die Ausbildung zur Verfügung stehen. Es können davon — je nach Fachrichtung — bis zu 2 000 Stunden praktische Ausbildung sein. Das finden wir wichtig und gut. Wir kennen ja alle die Ausbildungsinhalte und glauben, daß diese gut geeignet sind, um das zu erreichen, was wir wollen. Das neue MTA-Gesetz ist somit der beste Garant dafür, den hohen Standard sowohl in der Patientenbetreuung als auch in Forschung oder Industrie zu erhalten.Nun zu den Fachrichtungen: Bis jetzt gibt es die Medizinisch-Technischen Laboratoriums-, die Medizinisch-Technischen Radiologie- und die Veterinärmedizinisch-Technischen Assistenten. Es bestand die Gefahr, daß diese Ausbildung zersplittert. Aber dieser Gefahr sind wir nicht erlegen, denn es wird nur ein neuer Zweig eingeführt: die Medizinisch-Technische Assistentin / der Medizinisch-Technische Assistent für Funktionsdiagnostik, MTA-F. Diese Fachrichtung bewährt sich schon seit 1976, also schon seit langer Zeit, in der früheren DDR. Es gibt dort jetzt schon 2 000 MTA-F, aber der Bedarf hierfür ist weitaus größter. Es wird eine Ausbildung der Zukunft sein, denn die Funktionsdiagnostik gewinnt immer mehr an Bedeutung. Man denke nur an die immer besser werdenden Möglichkeiten der Lungen- und Herzfunktionsdiagnostik.Dagegen wird es keine MTA-Z, also MTA für Zytologie, geben. Die Gefahr, daß diese Ausbildung in eine Sackgasse führt, war einer der Punkte, die dagegen sprachen; es gab noch andere. Den Ländern bleibt es aber völlig unbenommen, die zweijährige Ausbildung zu Zytologie-Assistenten weiterzuführen.In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf eines zu sprechen kommen: Kritisch auseinandergesetzt haben wir uns mit der Frage, ob die MTAs zukünftig Präparate auf krankhafte Veränderungen vormustern können sollen. Nach sorgfältigen Überlegungen — wir haben es uns dabei nicht leichtgemacht — haben wir nun den Antrag gestellt, die Verantwortung für die Vormusterung auf krankhafte Veränderungen bei den Ärzten zu belassen.
Das Gesetz stellt die Führung der Berufsbezeichnung MTA unter besonderen Schutz. Neu ist auch, daß in dem Gesetz nun ganz präzise Tätigkeiten genannt werden, die der MTA vorbehalten sind. Wir meinen, dies trägt zur Aufwertung des Berufs der MTA bei.
Genauso schließt das neue Gesetz die selbständige Berufsausübung der MTA nicht mehr aus. Das Grundrecht der Berufsfreiheit, das in anderen Fachheilberufen wie Hebamme, Krankenschwester usw. schonselbstverständlich ist, kommt nun auch den MTAs zugute.Ich verstehe allerdings nicht — nun zur Opposition gewandt —, warum die Opposition diesem Gesetz nicht zustimmt. Ich meine fast, Ihre Einwände sind — jedenfalls, wenn man näher hinschaut — Vorwände, denn wenn die SPD-Fraktion in ihrer Pressemitteilung vom 29. April die Bezahlung der MTA beanstandet, so muß man doch sagen, daß das mit dem Gesetz gar nichts zu tun hat, jedenfalls nicht mit dem hier vorliegenden Gesetz. Für die Regelung der Entgelte sind die Tarifvertragsparteien zuständig. Gerade Sie wollen es dabei belassen, aber wir natürlich auch.Auch für die geforderte Befreiung von Ausbildungskosten ist der Bund schlichtweg der falsche Adressat. Aber niemand hindert die SPD-regierten Länder daran, im Rahmen ihrer Kulturhoheit das Schulgeld für die MTA-Ausbildung zukünftig zu übernehmen. Ich werde sehr interessiert beobachten, ob Ihre Anträge, die Sie in einem Entschließungsantrag vorgelegt haben, nun zukünftig in den SPD-regierten Bundesländern befolgt werden. — Die Anträge der Opposition lehnen wir ab.Das neue MTA-Gesetz wird seiner Aufgabe gerecht. Es räumt den hochspezialisierten MTAs den Status ein, der ihnen auf Grund ihrer verantwortlichen Tätigkeit zukommt. Ich bitte Sie deswegen um Zustimmung zu diesem Gesetz.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Hans-Hinrich Knaape.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie alles, was diese Regierungskoalition vorlegt und mit ihrer selbstgefälligen, den einzigen Lösungsweg immer wissenden Mehrheit dann durchsetzt
— dabei verschließt sie sich prinzipiell sachlichen Argumenten und Vorschlägen sowohl im Gesundheitsausschuß als auch hier im Plenum, bügelt sie teils mit belehrender Überheblichkeit einfach ab oder geht teils, um die offensichtlichen Konflikte innerhalb der Koalition, und dabei sehe ich besonders Sie an, zu überspielen, mit geheuchelter Ruhe darüber hinweg —, so ist auch dieses Gesetz über die technischen Assistenten in der Medizin ein Machwerk aus weiterführenden, die Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung garantierenden Festlegungen neben einem Weiterschieben von Regelungen in eingeschliffenen und heiligen Denk- und Handlungsweisen.
— Ist lang genug, nicht?
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Dr. Hans-Hinrich KnaapeZwar bringt das Gesetz für die überwiegend in diesem Beruf tätigen Frauen eine Verbesserung gegenüber dem bislang gültigen Gesetz von 1971 insbesondere schon dadurch, daß die in der DDR ehemals geltende Ausbildung der MTAs im DreiJahres-Zyklus in Übereinstimmung mit einer künftig rechtskräftigen EG-Richtlinie übernommen wurde. Hierdurch wird der Beruf deutlich aufgewertet, auch mit tarifrechtlichen Konsequenzen, Frau Löwisch.Allerdings haben die sich überwiegend in privater Trägerschaft befindenden Schulen auch 6 Monate länger Zeit, Schulgeld in unterschiedlicher Höhe zu kassieren; im Gesetzestext ist dieser Sachverhalt sprachlich feinfühliger formuliert.Da wir gerade beim Geld sind, sei gesagt, daß der Bundesgesetzgeber zwar nicht in die Länderrechte eingreifen kann, aber die SPD die Position vertritt, daß zusammen mit den Ländern auch für die Berufsausbildung im Gesundheitswesen, so auch für die MTA-Ausbildung, eine Finanzierungsform hätte gefunden werden müssen, die die Zahlung von Schulgeld generell beseitigt.Des weiteren wurde von der Medizin der DDR, aus einer technisch in ihrer Tiefe und Breite rückständigen Medizin, für die hochmoderne, sich technisch ständig verfeinernde Medizin der BRD der Ausbildungszweig Medizinisch-Technische Assistentin für Funktionsdiagnostik übernommen. Erstaunlich, daß sich in der erbkranken DDR solch eine übernehmenswerte Spezialisierung mutieren konnte und dafür hierzulande Bedarf besteht.Aber ja nicht übermütig werden! Der alte Trampelpfad ist ja noch da. Nach § 10 Nr. 6 können „Personen mit einer abgeschlossenen sonstigen medizinischen Ausbildung" — und hier sind Arzthelferinnen nach Auffassung des Gesundheitsministeriums ausdrücklich einbezogen — unter Verantwortung eines Arztes und Heilpraktikers die den MTAs ausdrücklich vorbehaltenen Tätigkeiten ausführen. Also nur keine milchgebende Kuh schlachten, es sei denn, die Qualitätssicherungsstandards der Bundesärztekammer würden hier eine begrenzende Hürde aufbauen.Die Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland verlangt einheitliche Ausbildungsstandards für MTAs in allen Bundesländern, aber ebenso auch weiterführende Bildungswege und Spezialisierungen entsprechend den Erfordernissen der medizinischen Praxis, die aber auch Anreize für die Wahl dieses Berufs, insbesondere durch Frauen geben.So hätte die innere Logik es verlangt, daß die Verordnung über die Mindestanforderungen in Ausbildung und Prüfung der einzelnen Zweige der MTAs als Entwurf bereits bei der Beratung des Gesetzes vorgelegen hätte. Aber ja nichts überstürzen; denn gemäß § 8 muß sich der Bundesminister Gesundheit erst mit dem Bundesminister Bildung und Wissenschaft ins Benehmen setzen, um diese Feststellungen zu treffen. Leider ist er nicht da, aber der Herr Bundesminister scheint ja auch zu sehr mit seinenSchauveranstaltungen zum Gesundheits-Strukturgesetz beschäftigt zu sein.
Vielleicht pflegt er auch seine Selbstgefälligkeit.
Oder aber — so muß man hinterfragen — erfolgte dies bewußt nicht, um Schulen in landschaftlich beschaulichen Gegenden mit Beziehungen zu kleinen Krankenhäusern das Weiterleben zu garantieren?Die SPD-Fraktion bringt deshalb zum Gesetz einen Entschließungsantrag mit grundsätzlichen Forderungen ein.
— Das hatten Sie ja schon gesagt.Die SPD geht davon aus, daß das vorliegende Gesetz nicht genügend berücksichtigt, daß die Berufstätigkeit der MTAs ein breites berufliches Grundwissen erfordert, an das einmal bei der Ausbildung in den speziellen Zweigen des Berufs generell angeknüpft werden kann, aber auch bei der Weiter- und Fortbildung innerhalb der Berufsausübung, wenn entsprechend den medizinischen und technischen Fortschritten das Wissen und die Kenntnis aktualisiert und erweitert werden müssen. Andererseits muß den MTAs die Möglichkeit offenstehen, sich durch Fortbildung innerhalb und zwischen den Berufszweigen auf wechselnde Anforderungen, auf neue Arbeitsplätze einstellen und vorbereiten zu können.Die Spezialisierung auf die Erfordernisse der Zytologie und Morphologie in der Tätigkeit der medizinisch-technischen Assistenzberufe muß besonders im Hinblick auf die Krebsvorsorge bei der Ausbildung berücksichtigt werden. Die Aufgliederung in einen eigenen selbständigen Ausbildungszweig MTA Zytologie/Morphologie erscheint uns in berufspolitischer Hinsicht allerdings als eine zu enge Spezialisierung. Wir sind daher der Auffassung, daß eine Schwerpunktbildung auf dem Gebiet der Morphologie und Zytologie in die dreijährige Ausbildung zur medizinisch-technischen Laborassistentin hätte integriert werden müssen.Es ist Aufgabe der Gesellschaft, jedem jungen Menschen eine berufliche Ausbildung zu gewähren, um ihm die Möglichkeit zu geben, seine Leistung in die Gesellschaft einzubringen und seine Existenz zu sichern. Diese Ausbildung muß unabhängig von der Berufswahl und den finanziellen Möglichkeiten der Familie gewährt werden. Darum ist es nicht mehr zeitgemäß, daß zahlreiche MTA-Schulen von ihren Schülerinnen Schulgeld erheben oder andere Schulen für die Ausbildung eine befristete berufliche Bindung verlangen.Ebenso müssen die Rahmenbedingungen für den Beruf deutlich erweitert werden. Um den Beruf interessant und anspruchsvoll zu gestalten, muß es berufliche Weiterbildungsmöglichkeiten für MTAs geben. Auch sind die beruflichen Aufstiegschancen unbefrie-
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Dr. Hans-Hinrich Knaapedigend. Für die Qualitätssicherung des Berufsbilds müßten daher auch die Anforderungen an die Ausbilder definiert werden, insbesondere auch für die Praktika in den Krankenhäusern.Unser Antrag berücksichtigt, daß die technische, wirtschaftliche und medizinische Entwicklung sowie die Auswirkungen internationaler Vereinbarungen es erfordern, daß die Ausbildung den MTAs berufliche und soziale Beweglichkeit sichert. Die Gerechtigkeit verlangt, daß allen jungen Menschen in unserer Gesellschaft, unabhängig von dem Einkommen der Eltern und ihrer sozialen Herkunft, bei entsprechender Vorbildung ihren Eignungen und Neigungen entsprechende Bildungschancen auch in diesen Berufen der MTAs ermöglicht werden.Gerade in dieser Hinsicht fehlen dem Gesetz Akzente, die auch entsprechend bundesgesetzlicher Kompetenz hätten geregelt werden können. Aus diesem Grund kann die Fraktion der SPD dem Gesetz nicht zustimmen — sie wird sich der Stimme enthalten —, obgleich einzelne Regelungen innerhalb des Gesetzes befürwortet und mitgetragen werden. Ich hoffe, Sie sind zufrieden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Bruno Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war wieder eine ganz neue Erfahrung, die ich heute hier machen konnte, nämlich daß man über ein so sachliches Thema so polemisch reden kann.
Im Endeffekt, Herr Kollege Knaape, haben Sie ja doch zugegeben, daß dieses Gesetz sicher gar nicht so schlecht ist. Daß bestimmte Forderungen, die von Ihnen in den Ausschußberatungen gestellt worden sind, von uns nicht mitgetragen werden konnten, war ja inzwischen bekannt. Ich denke, dafür haben wir auch gute Gründe geliefert.Vielleicht darf ich an dieser Stelle und bei dieser Beratung des Gesetzes auch einmal ganz kurz daran erinnern: Wir sind hier alle im Bundestag ständig gefordert, daß wir uns mit den nun einmal gegebenen Haushaltstatsachen auseinandersetzen. Wenn wir also Forderungen stellen, die wiederum eine zusätzliche Belastung des Haushalts betreffen könnten, dann müssen wir uns sehr genau überlegen, wofür wir das tun und was wir damit erreichen wollen.Trotzdem, meine Damen und Herren, denke ich, ist es eine gute und eine erfreuliche Tatsache, daß wir dreieinhalb Jahre nach der deutschen Einigung mit der Verabschiedung eines Gesetzes über technische Assistenten in der Medizin einen weiteren kleinen, gleichwohl nicht unbedeutenden Schritt zur Herstellung gleicher Rechtsverhältnisse in Ost und West vollziehen. Das ist schon allein aus diesem Grund, glaube ich, sehr zu begrüßen, wenngleich natürlich dem MTA-Gesetz weitere Intentionen zugrunde liegen.Zum einen werden in der Tat die unterschiedlichen Vorschriften harmonisiert, mit denen die Tätigkeiten der MTAs in den neuen und alten Bundesländern bisher geregelt waren. Zum anderen wird — aus rein medizinischer Sicht sicher wesentlich bedeutsamer — die Ausbildung der technischen Assistenten den gestiegenen Anforderungen und breiter gefächerten Aufgaben des Berufs angepaßt.Darüber hinaus bietet das Gesetz nun die Voraussetzung für die Gleichbehandlung der MTAs mit ihren ausländischen Kollegen innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums und gewährleistet nicht zuletzt deshalb eine Gleichstellung mit vielen anderen bundesgesetzlich geregelten Heilhilfsberufen.
Daß bei der Neuordnung der MTA-Ausbildung mit der dreijährigen Ausbildung und dem Berufszweig Funktionsdiagnostik zwei wesentliche Bestandteile der Berufsregelungen der ehemaligen DDR übernommen wurden, findet die ausdrückliche Zustimmung der F.D.P.-Fraktion — weniger aus nostalgischen, denn aus grundsätzlichen Erwägungen bezüglich des berufsspezifischen Tätigkeitsprofils einer MTA sowie aus Gründen der Qualitätssicherung. Denn die rasanten Fortschritte, die seit dem letzten MTA-Gesetz von 1971 auf dem Gebiet der Medizin und der Medizintechnik erzielt wurden, machten einerseits eine Verlängerung der Ausbildungsdauer mit einer Akzentuierung der praktischen Schulung unumgänglich, andererseits mußte den gestiegenen technischen Anforderungen im Bereich neurologischer, kardiovaskulärer und respiratorischer Analyseverfahren mit einer spezialisierten Ausbildung in einem eigenen Berufszweig Rechnung getragen werden.Verändert wurde gegenüber 1971 auch die Ausbildungsstruktur. Das ist richtig. Die gemeinsame Grundausbildung entfällt; denn es hat sich gezeigt, daß die Entscheidung für einen Berufszweig meist schon vor Beginn der Ausbildung gefällt wird und spätere Wechsel die Ausnahme bleiben. Zielsetzung war es vielmehr, den MTAs in der Ausbildung eine möglichst breite Basis an Kenntnissen mit gesetzlich festgeschriebenen Ausbildungszielen
innerhalb des jeweiligen Berufszweigs zu vermitteln, von denen ausgehend sie dann die Möglichkeit haben, in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen dieser Sparten zu arbeiten.Eine wie auch immer geartete Spezialisierung muß Aufgabe der Weiterbildung bleiben. Eine Diversifizierung des Berufs in zahllose Tätigkeitsnischen schon in der Ausbildung galt es zu vermeiden.
Aus diesem Grund konnte auch dem Wunsch einiger Berufsverbände nach Aufnahme eines eigenen Berufszweigs Zytologie/Morphologie in das Gesetz nicht entsprochen werden.Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetz wird die Ausbildung und die berufliche Tätigkeit der MTAs klar umrissen und auf eine Grundlage
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Dr. Bruno Menzelgestellt, die der hohen Verantwortung dieses Berufs entspricht. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Ursula Fischer.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das zur Beratung vorliegende Gesetz über technische Assistentinnen in der Medizin bringt echte Fortschritte, bleibt in wesentlichen Fragen jedoch inkonsequent und ist schließlich — und das ist unsere Hauptkritik — nicht Teil eines erkennbar notwendigen Gesamtkonzepts, um für diesen wichtigen und anspruchsvollen medizinischen Beruf Rahmenbedingungen zu schaffen, die zur Erfüllung seiner Aufgaben in der Patientenversorgung nun einmal erforderlich sind.
Folgende Neuregelungen begrüßen wir ausdrücklich:
Erstens. Die Verlängerung der Ausbildung von zwei auf drei Jahre, weil infolge der damit einhergehenden Verbreiterung und Vertiefung der Ausbildungsinhalte zweifellos Qualitätsverbesserungen ermöglicht werden. Im übrigen ist das angesichts der raschen Fortschritte in den diagnostischen und in den medizinisch-technischen Verfahren ein wahrhaft überfälliger Schritt.
Zweitens, die staatlich geregelte Einführung des neuen eigenständigen Ausbildungszweiges MTA für Funktionsdiagnostik. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, daß ohne spezielles medizintechnisches Wissen und Können Leistungsqualität und Patientensicherheit bei der Anwendung komplizierter technischer Geräte in der Funktionsdiagnostik nicht mehr zu gewährleisten sind.
Eigentlich ist es unvorstellbar, daß bis in die jüngste Zeit hinein unausgebildete Hilfskräfte für diese Tätigkeiten angelernt werden mußten. Die jetzige Neuregelung entspricht im übrigen — ebenso wie die dreijährige Ausbildung — nicht nur geltenden Verfahrensweisen in vielen EG-Ländern, sondern auch einer in der DDR seit den 70er Jahren bereits bestehenden Praxis.
Ich erwähne das hier nur, weil es ja wahrhaftig nicht zu den häufigeren Gepflogenheiten im vereinigten Deutschland gehört, daß Rechtseinheit dadurch hergestellt wird, daß bewährte Erfahrungen aus der ehemaligen DDR in ein Bundesgesetz überführt werden.
Drittens. Schließlich halten wir es für richtig, daß mit dem Gesetz Tätigkeiten geschützt und präzisiert werden, die den medizintechnischen Assistenzberufen ausdrücklich vorbehalten bleiben sollten. Auch damit wird befördert, daß auf diesem Gebiet der Patientenversorgung nur noch entsprechend qualifiziertes Personal eingesetzt werden darf.
Auf Grund der Zeitbegrenzung nun zur Hauptkritik. Was die Heilpraktiker betrifft, so muß allein ihre Aufnahme in dieses Gesetz zwangsläufig in die Irre führen. Besser wäre es gewesen, Modalitäten zu finden, die weder die Arbeitsmöglichkeiten der Heilpraktiker einschränken, noch — wie das hier geschieht — den Gesetzgeber dazu nötigen, einer Berufsgruppe sehenden Auges Kompetenzen zuzusprechen, die sie beim besten Willen nicht ausfüllen kann. Auch mit so etwas machen sich Parlament und Regierung letztlich unglaubwürdig.
Einige Worte zum fehlenden Gesamtkonzept. Um diesen schönen Beruf, der heute paradoxerweise unter zum Teil rückläufigen Bewerberzahlen und hoher Fluktuation leidet, wieder Anerkennung und Attraktivität zu geben, muß — sicher abgestimmt mit den Ländern — viel mehr getan werden, als im Gesetz eigentlich vereinbart werden konnte.
Wir haben die Gründe genannt, warum wir dieses Gesetz ablehnen werden, obwohl wir erkennen, daß für die westlichen Bundesländer zumindest Vorteile vorhanden sind.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich muß doch ein Wort zu den Ausführungen von Herrn Knaape sagen.
Herr Knaape, es ist doch immer wieder festzustellen, wie weit sich die SPD von der Basis entfernt hat,
ansonsten hätten Sie doch merken müssen, daß die MTAs, auf deren Kongreß ich vor 1 000 MTAs gesprochen habe, voll hinter diesem Gesetzentwurf stehen.
Nutzen Sie denn solche Gesetzentwürfe nur dazu, sich selbst hier im Bundestag zu profilieren, statt auf die Basis zu hören und eventuell auch das Gute in dem Gesetz zu sehen?
Meine Damen und Herren, Sie alle wissen: In der Ausbildung der technischen Assistenten in der Medizin ist eine neue Qualitätsanpassung notwendig. Der Stand der Ausbildung hat mit der fortschreitenden Entwicklung in Medizin und Medizintechnik nicht Schritt gehalten. Die Anforderungen an diesen Berufsstand sind gewachsen, die Verantwortung ist größer geworden. Darauf müssen wir reagieren.Die Bundesregierung hat mit dem „Gesetzentwurf über technische Assistenten in der Medizin" auf diese Herausforderungen geantwortet. Ich freue mich, daß
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13392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohlsowohl der federführende Gesundheitsausschuß als auch der mitberatende Ausschuß für Bildung und Wissenschaft mehrheitlich und übereinstimmend die Ziele des Gesetzentwurfes gebilligt haben.Die Ziele heißen: Verlängerung der Ausbildungszeit auf bundesweit drei Jahre; Einführung der Funktionsdiagnostik als neuen Zweig. Diesen Zweig hat es bereits, wie wir gehört haben, in der ehemaligen DDR gegeben, und er wurde in den neuen Bundesländern übernommen.Verstärkung der Ausbildung der medzinisch-technischen Laboratoriumsassistenten auf den Gebieten Histologie und Zytologie; Wegfall der Möglichkeit der Ausführung vorbehaltener Tätigkeiten auch durch ungelerntes Personal und schließlich Aufhebung des bisherigen Verbotes der Ausübung des Berufs in freier Berufstätigkeit durch examinierte MTAs.Meine Damen und Herren, im Mittelpunkt des Gesetzentwurfes steht die Verbesserung der praktischen Ausbildung, die von vielen Absolventen zu Recht als unzureichend kritisiert wurde.Deshalb sollen die Schülerinnen und Schüler mehr als bislang unter den Bedingungen der Berufspraxis ausgebildet werden. Diesem Ziel dient die Verlängerung der Ausbildungszeit von bisher zwei auf drei Jahre. Damit wird die Ausbildung in diesem Beruf den Ausbildungszeiten in anderen gehobenen medizinischen Fachberufen angeglichen. Nicht nur hier wird mit dieser Maßnahme auch der Forderung der Europäischen Gemeinschaft nach einem mittleren Bildungsabschluß und einer mindestens dreijährigen fachlichen Ausbildung in den gehobenen medizinischen Fachberufen entsprochen.Bei den Diskussionen um die Neuordnung der Ausbildung wurde erneut die Frage nach einer Aufnahme neuer Zweige in das Gesetz erörtert. Diesem Wunsch haben wir entsprochen. In Zukunft wird es einen eigenen Berufszweig der MTA für Funktionsdiagnostik geben. Die Bundesregierung ist aber nicht der Auffassung, daß die Aufnahme eines eigenständigen Zweiges der Morphologie/Zytologie-Assistenten notwendig ist. Wir sind uns darin einig, daß die Fortdauer der zweijährigen Ausbildung die Qualität der zytologischen Krebsdiagnostik nicht gefährdet. Sie ist eine Alternative zur zukünftigen dreijährigen Ausbildung.Deswegen sage ich hier auch ganz deutlich an die Adresse der Länder: Es gibt keinen Grund, Ausbildungseinrichtungen für diesen Zweig zu schließen oder zu vernachlässigen.
Meine Damen und Herren, wir sind gemeinsam mit den Ausschüssen der Auffassung, daß die bisher bestehende Möglichkeit der Ausführung von vorbehaltenen Tätigkeiten durch ungelerntes Personal unter ärztlicher Aufsicht nicht mehr zeitgemäß ist. Die Aufhebung dieser Möglichkeit ist fällig.Weder zeitgemäß noch gerecht ist auch das bestehende Verbot der freien Berufsausübung für die MTAs. Hier muß sich etwas ändern; denn dieses Verbot gilt ausschließlich für die MTAs. Die übrigen Heilhilfsberufe waren davon nicht betroffen. Die Aufhebung dieses Verbotes ändert nichts an der uneingeschränkten Diagnose- und Therapiekompetenz der Ärzte.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir hiermit einen guten Gesetzentwurf haben, und ich bitte alle um Ihre Zustimmung.
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf über technische Assistenten in der Medizin liegt Ihnen auf den Drucksachen 12/3165 und 12/4900 vor.Wir stimmen zunächst einmal über die Änderungsanträge der PDS/Linke Liste ab, zuerst über den Änderungsantrag, der Ihnen auf Drucksache 12/4909 vorliegt. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der PDS/Linke Liste? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.Wir kommen nunmehr zum Änderungsantrag auf Drucksache 12/4910. Wer stimmt dafür? — Enthaltungen? — Wer ist dagegen? — Dann ist dieser Änderungsantrag ebenfalls abgelehnt.Wir kommen nunmehr zur Drucksache 12/4911, Änderungsantrag der PDS/Linke Liste. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Änderungsantrag gegen den Rest des Hauses abgelehnt worden.Ich bitte nunmehr um das Handzeichen derjenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion und gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste ist dieser Antrag in der zweiten Beratung angenommen worden.Wir kommen nunmehr zur Schlußabstimmung unddritten Beratung.Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist das Gesetz in der dritten Lesung mit der Mehrheit wie in der zweiten angenommen worden.Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 12/4908. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke schön. Wer ist dagegen? — Danke schön. Dann ist dieser Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.Ich komme nunmehr zu Punkt 6 der Tagesordnung:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes— Drucksache 12/3197 —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13393
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft (21. Ausschuß)
— Drucksache 12/4831 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr.-Ing. Rainer Jork Günter RixeDirk HansenHierzu liegen Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vor.Interfraktionell ist eine Debattenzeit von einer halben Stunde vereinbart worden. Gibt es dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; es ist so beschlossen.Ich kann dem Abgeordneten Dr.-Ing. Rainer Jork das Wort erteilen.
Herr Dr. Jork, ich bitte Sie aber, nicht eher anzufangen, als bis ich für die nötige Ruhe im Haus gesorgt habe.Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, bitte ich, den Saal zu verlassen. — Ich glaube, wir können anfangen. Herr Dr. Jork, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ausbildungssituation in den neuen Ländern ist und bleibt so lange besonders kompliziert, wie noch keine stabilen neuen Ausbildungsstrukturen in der Wirtschaft, vor allem im Mittelstand, also in Handwerk, Gewerbe und Handel, existieren. Uns allen ist bekannt, daß in der DDR diese Bereiche keine tragfähige Existenzgrundlage haben durften, die Berufsbildung also vorwiegend in größeren Betrieben erfolgte, die heute im wesentlichen nicht mehr existieren. Der Zerfall der Berufsschulen in den volkseigenen Betrieben, die oft sehr gut ausgerüstet und organisiert waren, ist nicht nur für die unmittelbar Betroffenen schmerzlich.Um so wichtiger ist es, daß mit dem vorgelegten Entwurf zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes das Ziel erreicht wird, die fünf neuen Bundesländer in die Willensbildung des Bundesinstituts für Berufsbildung einzubeziehen. Dieses und die mit dem Entwurf weiterhin verfolgten Ziele, wie z. B. die verstärkte internationale Zusammenarbeit, sind nur dann erreichbar, wenn die Gremien des BIBB effektiv und rational arbeiten.In dem Regierungsentwurf geht es deshalb darum, beim Gremiengefüge nicht lediglich durch quantitative Erhöhung der Mitgliederzahlen die Konsequenzen aus der Herstellung der deutschen Einheit zu berücksichtigen, sondern auch, Herr Rixe, die Qualität der Gremienarbeit zu verbessern. Da sind wir uns ja wohl einig. Die ursprünglichen Intentionen des Regierungsentwurfes konnten oder wollten jedoch nicht alle Partner bei der Beratung nachvollziehen. Ein Kompromißentwurf, der den Bedenken der Länder in vielen Punkten Rechnung trägt, liegt vor und wurde mehrheitlich im Ausschuß so bestätigt.Es geht auch aus meiner Sicht bei der Arbeit des BIBB darum, einen geeigneten organisatorischen Rahmen für Abstimmungen im Bereich der Berufsbildung zwischen Bund, Ländern und Sozialpartnern zur Verfügung zu stellen. Wichtig für die betroffenen Lehrlinge ist dabei nicht die Frage nach dem Umfang der Repräsentanz von Ländern und Sozialpartnern in Gremien, sondern die Erfüllung der Qualitätsbedingungen in Lehrstellen.
Arbeitsfähigkeit und Kompetenz des BIBB müssen vor Quotensicherung stehen. Insofern muß auch darüber nachgedacht werden, ob die Standpunktfindung auch bei kleineren Interessengruppen tatsächlich in großen Gremien stattfinden soll.Der auch im Ausschuß durch die SPD angeführte, aber aus meiner Sicht verschleiernde Hinweis auf die zuerst allein quantitative Ergänzung des Bundestages um Abgeordnete aus den neuen Bundesländern ist deshalb untauglich, weil er die sicher für längere Zeit noch weitgehend andere Aufgabenstruktur und Zielstellung im Wahlkreis in den neuen Bundesländern ignoriert. Um es einfach zu sagen: Auf Schützenfesten und Vereinsfeiern war ich bisher nicht gefragt, dafür um so mehr zur Arbeitsplatzsicherung in Treuhandbetrieben; und ich werde das so beibehalten.
Die nun vorliegende Kompromißlösung entstand im Ergebnis von Anhörungen, Rücksprachen mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern und im gemeinsamen Bemühen mit Vertretern der Bundesländer. Es ging auch darum, das künftige Gremiengefüge des BIBB so zu gestalten, daß es für den Bundesrat akzeptabel wird.Gegenüber dem Regierungsentwurf ist nunmehr vorgesehen, den Länderausschuß zu erhalten, den Hauptausschuß stärker zu gewichten, die Zahl der Sitzungen auf wenigstens zwei festzulegen — mehr sind bekanntlich möglich —, die Zuständigkeit des Hauptausschusses für Aufstellung und Fortschreibung des Forschungsprogramms festzuschreiben, dem Hauptausschuß das alleinige Einsetzungsrecht für Unterausschüsse zu geben und letztlich das Stellungnahmerecht des Hauptausschusses zum Berufsbildungsbericht zu regeln.Der Hauptausschuß soll in Fragen von Detailarbeit durch den Ständigen Ausschuß entlastet werden und sich bei der nun größeren Mitgliederzahl auf wesentliche Problemlösungen konzentrieren. Dann sind — so hoffe ich — nicht vier bis sechs Sitzungen des Hauptausschusses erforderlich. Schließlich wäre dies aber bei Bedarf möglich, wie bereits gesagt.Es bleibt zu hoffen, daß mit den vorgeschlagenen Gremien und Strukturen vor allem auch Qualitätsfragen behandelt und Impulse gegeben werden können, beispielsweise Abstimmungen zwischen Betrieben und Berufsschulen zur Aktualisierung und Koordinierung der Berufsausbildung.Wie jeder Kompromiß mag das entstandene Ergebnis nicht optimal sein. Ich hoffe aber, daß es tragfähig ist und dazu beiträgt, die auch mit dem Berufsbildungsbericht vorgelegten und am 30. April dieses
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Dr.-Ing. Rainer JorkJahres in diesem Hohen Haus diskutierten quantitativen und qualitativen Anliegen bei der Bereitstellung von Lehrstellen in den alten und neuen Bundesländern zu sichern.Ich bitte, der Beschlußempfehlung zum Berufsbildungsförderungsgesetz in Drucksache 12/4831 zuzustimmen.Danke.
Nunmehr spricht der Abgeordnete Günter Rixe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige abschließende Beratung und Abstimmung über das Gesetz zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes macht wieder einmal deutlich, wie wenig der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen an einer aktiven Berufsbildungspolitik gelegen ist. Außer gelegentlichen Versatzstücken in dem einen oder anderen Zusammenhang ist doch bisher von Ihnen nichts bekanntgeworden; und das, obwohl die Aufgaben von heute und die Herausforderung für eine europäische Berufsbildungspolitik das nötig hätten.Ich habe das schon vor zwei Wochen bei der Debatte über den Berufsbildungsbericht 1993 deutlich gemacht. Ich weiß ja auch, daß Ihnen die ständige Kritik nicht paßt. Deshalb wollen Sie jetzt auch mit dem Gesetz dem Bundesinstitut für Berufsbildung einen Maulkorb umhängen, indem Sie die bewährte Gremienstruktur des BIBB verändern und umorganisieren. Es ist aus Ihrer Sicht, um bei den Unzulänglichkeiten zu bleiben, in der beruflichen Bildungspolitik auch nicht akzeptabel, daß dieses Bundesinstitut und insbesondere der Hauptausschuß schon frühzeitig zu Beginn eines jeden Jahres Ihnen Ihre Fehler aufzeigt und häufig in Minderheitenvoten Vorschläge zu einer aktiven Berufsbildungspolitik macht. Das können Sie in der Tat nicht länger ertragen. Dagegen mußten Sie etwas tun. Das kann man auch noch nachvollziehen.Wir werfen Ihnen aber vor, daß Sie das nicht offen tun, sondern dazu die Veränderungen benutzen, die notwendig geworden waren, um die neuen Bundesländer in die BIBB-Gremien zu integrieren. Daß die neuen Länder in dem gleichen Umfang beteiligt sein müssen wie die alten Länder, ist selbstverständlich und wurde einstimmig gefordert. Dies aber dazu zu mißbrauchen, eine Einrichtung umzuorganisieren, die gut arbeitet und ihren Auftrag gut erledigt, das können wir nicht mittragen.
Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt diesen Gesetzentwurf ab, wenn nicht in unseren Änderungsanträgen vorgeschlagene Änderungen beschlossen werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich weiter auf die einzelnen nicht haltbaren Punkte des Gesetzentwurfes eingehe, muß ich noch ein paar Worte zu den Beratungen im Ausschuß sagen. Zum erstenmal habe ich es erlebt, daß eine Kooperation zwischen Koalitionsfraktionen und Opposition in einer wichtigen Frage der Berufsbildungspolitik nicht stattfand.Sie waren schlicht handlungsunfähig und zappelten bis zuletzt am Haken der Bundesregierung. Was diese mit den Bundesländern — nicht mit allen, nur mit der Minderheit; denn die Mehrheit der Länder wurde nicht gefragt -- vereinbart wurde, das hatten sie mitzumachen. Bis wenige Stunden vor der Sitzung des Ausschusses — ich habe das im Ausschuß schon kritisiert — waren Sie offenbar gar nicht informiert, was Ihnen die Bundesregierung vorgeben würde. Die Aussagen des Kollegen Graf Waldburg im Ausschuß, es sei sowieso alles festgezurrt, und Sie könnten auch nichts mehr daran rütteln, ist dafür beispielhaft. Solche Ausschußberatungen können wir uns sparen.
Das sind dann nur noch Schauveranstaltungen fürs Protokoll.Mir stellt sich dabei aber auch die Frage: Welches Selbstverständnis haben Sie eigentlich von Ihrer parlamentarischen Arbeit.
Das ist aber auch eine Kritik an der Bundesregierung und daran, wie sie mit dem Parlament und wie sie mit der Mehrheit der Bundesländer umgeht. Hierzu wird versucht — dagegen wehren wir uns — das Konsensprinzip in der beruflichen Bildung aufzuweichen.Kolleginnen und Kollegen, die ursprünglich von der Bundesregierung vorgesehene radikale Änderung der Gremienstruktur konnte nicht stattfinden. Die Abschaffung des Länderausschusses, die Beschneidung der Aufgaben des Hauptausschusses und die Einsetzung eines regierungsfreundlichen Ständigen Ausschusses finden nicht im beabsichtigten Umfange statt.Auf Grund der öffentlichen Anhörung und der dort geäußerten Kritik an den Plänen der Bundesregierung sowie auf Druck der Mehrheit der Bundesländer hat die Bundesregierung einiges zurückgenommen, Gott sei Dank. Das wird insoweit von uns auch begrüßt, Herr Lammert. Aber es gibt immer noch gravierende Veränderungen.Erstens. Sie schreiben mit diesem Gesetz dem Hauptausschuß vor, wie oft er tagen darf, nämlich zweimal im Jahr. Weitere Tagungen sollen stattfinden, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder das wollen. Wir sagen dagegen: Die Entscheidung, wie oft getagt wird, muß dem Hauptausschuß selbst überlassen bleiben.
Erstens sind alle, die in diesem Gremium arbeiten, mündige Bürger, und zweitens ist diesem Selbstverwaltungsgremium sehr wohl zuzutrauen, seinen Tagungsplan durch eigene Satzungen, wie es bis jetzt war, selbst zu regeln. Es ist schon ein merkwürdiges Demokratieverständnis bei Ihnen festzustellen, wenn Sie durch derartige Vorgaben per Gesetz verhindern, daß z. B. Probleme der beruflichen Bildung in diesem Hauptausschuß nur noch eingeschränkt beraten werden können.Zweitens. Die Einführung des Ständigen Ausschusses und dessen Besetzung werfen erhebliche Probleme auf. Meine Damen und Herren, wenn Sie für
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Günter Rixeeine mittelständische Einrichtung mit rund 400 Beschäftigten drei selbständige Organe einrichten wollten, würde sich aus unternehmerischer Sicht die Frage nach Ihrer Kompetenz stellen. Das als Beispiel, wie es in der Wirtschaft aussieht. Seit Jahren gibt es dort die Bestrebung, Rechts- und Verwaltungsvorschriften einfacher zu gestalten, Deregulierungsprozesse einzuleiten und die Betroffenen am Entscheidungsprozeß zu beteiligen. Sie machen mit diesem Gesetz und der Ausweitung der Zahl der Gremien genau das Gegenteil. Ein Lehrstück bürokratischen Kleingeistes!Bereits 1969 war bei der Schaffung des Berufsbildungsgesetzes für den Rechtsvorgänger des Bundesinstituts für Berufsbildung vorgesehen, daß die an der Berufsbildung Beteiligten durch Satzung ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln. Das bisherige Berufsbildungsförderungsgesetz hat das fortgesetzt, und durch entsprechende Satzungen konnte das BIBB immer funktionieren. Das zeigt, daß eingeräumte demokratische Befugnisse auch sachgerechte Ergebnisse bringen. Mehr Demokratie wagen — dieses Wort eines großen Deutschen sollte auch heute noch und auch in diesem Politikbereich Ansporn und Verpflichtung sein.
Was die Besetzung des Ständigen Ausschusses betrifft, so ist die Frage berechtigt, wie Sie es mit der Mehrheitspräsenz der Länder halten. Wenn nur noch zwei Ländervertreter die Interessen der 16 Bundesländer vertreten sollen, ist doch sehr fraglich, ob dann noch die Mehrheitsinteressen beachtet werden können. Ich frage Sie: Wie könnte dann die Aufteilung stattfinden: zwei große Länder, zwei kleine Länder, ein A-Land, ein B-Land, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen, Bayern oder Sachsen, Bremen oder Brandenburg? Wie einigen sich die 16 Länder? Wie hätten Sie es denn gern? Immer nach dem Motto: Aussuchen, und dann geht das? Nein, meine Damen und Herren, so geht man nicht mit dem Föderalismus um.
Die Zustimmung des Bundesrates ist durch eine einfache Wortverschiebung, nein, durch das Weglassen eines Satzes, den die Regierung erst selber in ihren Entwurf hineingeschrieben hat, ausgeklammert worden, und das auch noch mit der falschen Behauptung in einem Antrag im Ausschuß, daß das Land NRW schuld sei, weil es die Statistikerhebung geändert hat. Hier wird mit einem Worttrick organisiert, daß die Bundesratszustimmung zu diesem Gesetz nicht stattzufinden braucht. So geht das nicht. Sie können es offenbar nicht ertragen, wenn die Mehrheit der Bundesländer, die dazu noch sozialdemokratisch regiert werden, Ihnen Verbesserungsvorschläge macht. Der Gedanke eines kooperativen Föderalismus scheint bei Ihnen nicht mehr vorzukommen. Dabei hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme deutliche Signale für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern unter dem Dach des BIBB gegeben. In Ihren Gegenäußerungen hierauf hat die Bundesregierung aber mit kleinlichem Kompetenzgenörgel reagiert. So geht es nicht, wenn man weiterhin alle an einer Berufsausbildung beteiligen will.Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben starke Zweifel, ob die beabsichtigte Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes Erfolge für die Berufsbildungspolitik bringen kann. Die Gründe liegen auf dem Tisch. Der Bundesrat und die SPD-Bundestagsfraktion haben sie benannt. Wegen dieser Zweifel haben wir Ihnen heute unseren Entschließungsantrag vorgelegt, damit nachgeprüft werden kann, was die Änderungen im einzelnen gebracht haben.Erstens. Dem Deutschen Bundestag soll in einem Bericht dargestellt werden, wie sich die Arbeit des BIBB und die Arbeit in den Selbstverwaltungsgremien verbessert hat. Außerdem sollten Vorschläge zur Demokratisierung des BIBB anstelle bürokratischer Gesetzesregelungen gemacht werden.Zweitens. Dem Parlament soll im nächsten Berufsbildungsbericht aufgezeigt werden wie die Datenerhebung zum Zweck der Verbesserung der Berufsbildungsstatistik auf Grund der Neuformulierung des § 1 verbessert wurde.Drittens. Über die jetzt beabsichtigte Verbesserung der statistischen Grundlagen sollte auch erreicht werden können, daß die Ausweitung der Weiterbildung auf eine umfassende statistische Grundlage zurückgreifen kann.Viertens. Die Bundesregierung sollte Möglichkeiten entwickeln, daß die erforderliche Koordinierung zwischen Bund und Ländern zu grundsätzlichen Fragen der Berufsbildungspolitik gesichert wird.Meine Damen und Herren, wenn für ein Gesetzgebungsvorhaben in der 12. Legislaturperiode eine saure Zitrone vergeben würde, dann ist die Novellierung des Berufsbildungsförderungsgesetzes dafür sicher preiswürdig.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Abgeordneten Dirk Hansen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal Herrn Rixe fragen, was er und seine Fraktion eigentlich gewollt haben. Wie ich es verstanden habe, wollen Sie eigentlich gar nichts, Sie wollen das alte Gesetz belassen und nicht anerkennen, daß sich im vereinigten Deutschland Veränderungen ergeben haben. Mit Ihrem Änderungsantrag möchten Sie zurück zu den alten Formulierungen, und das berücksichtigt überhaupt nicht, daß Veränderungen stattgefunden haben.
In einem gebe ich Ihnen durchaus ein bißchen recht, indem ich an Ihre Schlußworte anschließe und sage: Der Berg kreißte um die Veränderung dieses Gesetzes seit Monaten, wenn nicht Jahren, und ein Mäuslein ward geboren. Seit mehr als zwei Jahren befassen Sie sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Berufsbildungsförderungsgesetz: die Ausschüsse, Ministeriale von Bund und Ländern, die Parlamentarier hier. Es wurde der Versuch
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Dirk Hansengemacht, das gültige Gesetz — und darum geht es — den veränderten Bedingungen im vereinigten Deutschland anzupassen.Bewegung in den Prozeß der Diskussion ist durch die Anhörung im März dieses Jahres gekommen. Der Entscheidungsprozeß hat sich von daher versachlicht und auch bis zum heutigen Tag beschleunigt. Wir kommen zu einem guten Ergebnis und, wie ich denke, auch zu einem abgewogenen Kompromiß zwischen den Interessen aller Beteiligten.Ein Kernpunkt der Kritik am ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung betraf die Zusammensetzung und die Arbeitsmöglichkeiten der Gremien und Organe des Bundesinstituts für Berufsbildung, BIBB. Hier sollte man sich des römischen Diktators Sulla erinnern, der schon einst bei der Verdoppelung der Zahl römischer Senatoren wußte, daß die Bedeutung eines politischen Gremiums und seiner Mitglieder mit der Größe des Gremiums sinkt. So wichtig der Hauptausschuß in seiner bewährten Dialogfähigkeit auch bleibt, so sehr muß man bei immer größeren Gremien doch auch an deren Effektivität und Entschlußkraft denken,
falls man nicht von vornherein, Herr Kuhlwein, die Stellung der Administratoren und Direktoren, gewissermaßen mit Sulla gesprochen, stärken Will. Das genau wollen wir nicht.Die Beschlußempfehlung des Ausschusses weist den goldenen Mittelweg. Der Hauptausschuß bleibt in seinen wesentlichen Entscheidungen aufrechterhalten. Er kann regelmäßig zweimal im Jahr zusammentreten und beraten und bei Bedarf selber mehrheitlich weitere Sitzungen einberufen. Der Ständige Ausschuß wird als weiteres Organ daneben geschaffen. Er wird paritätisch und repräsentativ zusammengesetzt, um die laufenden Geschäfte zu besorgen.Gespräche und Kontakte in den vergangenen Wochen haben zudem gezeigt, daß von seiten der Länder die Beibehaltung des sogenannten Länderausschusses ausdrücklich gewünscht wird. Das ist in die Veränderungen hineingekommen. Es wird darauf verwiesen: Er kann bleiben. Aber wenn über den Rahmen direktorialer Frühstücksgespräche hinaus dieser Länderausschuß Wirkung haben will, wenn also eine engere Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei Fragen der beruflichen Bildung angepeilt werden soll, dann sollte diesem Wunsch stattgegeben werden, um gerade bei der dualen Berufsausbildung im berufsschulischen Bereich die Probleme stärker unter die Lupe zu nehmen.
Wenn die Frühstücksgespräche dazu beitragen können, kann man nur sagen: Länderausschuß o. k.; dann wird er seinen Sinn haben. Das kann auch deswegen gar keine Frage sein, weil von der Sache her die Kooperation von Schulen und Betrieben wahrhaftig verbesserungsfähig ist.Noch ein letztes Wort zum Entschließungsantrag der SPD. Mir bleibt unerfindlich, Herr Rixe, wieeinerseits die Rolle der Lander respektiert werden soll, wenn andererseits die Bundesregierung aufgefordert wird, auf eben das Wahrnehmen dieser eigenständigen Rolle Einfluß zu nehmen. Der Ausschuß selber sollte sich Spielräume besserer Kooperation und Koordination schaffen. Ebenso scheint mir das Begehren der Opposition, die Bundesregierung möge im Berichtswege die Arbeit der Selbstverwaltungsgremien des BIBB beurteilen, ein Eingriff in die Kompetenz dieser Organe zu sein. Man kann nicht in einem Atemzug die Selbständigkeit des BIBB einfordern und beschwören und zugleich wie einst Sulla die Oberkompetenz beanspruchen.
Wir werben für die Vorlage gemäß der Empfehlung des Ausschusses und verweisen Ihren Entschließungsantrag in den Orkus der Vergessenheit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gestehe ehrlich, daß von den vielen Ausschüssen, in denen mitzuarbeiten ich das Glück oder das Pech habe, mir der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft der sympatischste ist.
— Das entscheide ich und nicht Sie; ich mache es so, wie ich es will.Ich will einmal ehrlich sagen: Es war keine glückliche Kür, wie wir im Ausschuß über diesen Gesetzentwurf diskutiert haben. Ich stelle mir unter parlamentarischer Demokratie etwas anderes vor. Ich sage das für eine Minorität, die es unerhört schwer hat, immer das nachzuvollziehen, was Sie mit der Stärke ihrer Fraktion an neuen Ideen oder auch Nichtideen und Veränderungen einbringen.
Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu Gesichtspunkten, zu denen bisher noch nichts gesagt worden ist. Ich halte die Beratung des Berufsbildungsberichts vor der parlamentarischen Sommerpause für absolut notwendig. Denn aus der Sicht der mit Sicherheit noch auf Jahre hinaus problematischen Ausbildungssitutation in Ostdeutschland ist eine Beratung im Herbst über den Schnee des vergangenen Jahres relativ witzlos und unergiebig. Deshalb sollten der Bericht und damit auch Vorschläge zur Sicherung eines regional und sektoral ausgewogenen Angebots an Ausbildungsplätzen unbedingt bis zum 1. März jeden Jahres vorliegen. Ich denke, daß die SPD in ihrem Antrag eine richtige Position bezogen hat, der ich zustimmen kann.Ich sehe keinen richtigen Sinn in einem Ständigen Ausschuß. Wichtiger erscheint mir, daß die ostdeutschen Länder in dem beizubehaltenden Länderaus-
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Dr. Dietmar Kellerschuß gebührend vertreten sind und ihre Positionen dort einbringen können.Nachdrücklich unterstütze ich auch die im Entschließungsantrag der SPD zum Ausdruck kommenden höheren qualitativen Anforderungen an den Berufsbildungsbericht. Die dürftigen und teilweise falschen Aussagen im Berufsbildungsbericht zur Ausbildungssituation in Ostdeutschland sind eben auch darauf zurückzuführen, daß man sie auf der Grundlage von Angaben der zuständigen Stellen getroffen hat. Solange die Ausbildungssituation im Osten derart unbefriedigend und instabil ist — sie wird auch noch eine Weile unbefriedigend bleiben —, kann man sich offensichtlich keinesfalls allein auf Angaben der zuständigen Stellen verlassen. Ich fordere die Bundesregierung vielmehr dazu auf, im nächsten Berufsbildungsbericht die Spezifik der ostdeutschen Ausbildungssituation gründlicher zu analysieren und zu diesem Zweck auch gezielte Aufträge an dazu geeignete Forschungseinrichtungen zu vergeben.Danke.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Maria Eichhorn das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der heute zu beschließenden Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes werden die neuen Länder als gleichberechtigte Partner in die Organisationsstrukturen des Bundesinstituts für Berufsbildung einbezogen. Darum geht es, Herr Rixe, nicht darum, dem BIBB einen Maulkorb umzuhängen, wie Sie vorhin gesagt haben.
Seit der Einbringung des Gesetzentwurfs im November letzten Jahres wurden in zahlreichen Gesprächen und Anhörungen die Einwände gegen den Regierungsentwurf aufgegriffen. In der abschließenden Beratung des Ausschusses wurden von den Koalitionsfraktionen entsprechende Änderungen vorgenommen, die insbesondere den Einwendungen der Länder Rechnung tragen. Obwohl Änderungen vorgenommen wurden, war die Opposition nicht bereit, diese mitzutragen.So bleibt der Länderausschuß mit Rücksicht auf die Länder erhalten, obwohl er nach unserer Meinung für eine effiziente Arbeit nicht unbedingt erforderlich wäre.
Der Hauptausschuß, der auf Grund der Wiedervereinigung auf 53 Mitglieder anwachsen soll und in dem Sozialpartner, Bund und Länder paritätisch vertreten sind, wird — abweichend vom Regierungsentwurf — nicht nur über das Forschungsprogramm des Berufsbildungsinstituts, sondern auch über dessen Fortschreibung beschließen. Um Einwänden Rechnung zu tragen, soll der Hauptausschuß nicht — wie geplant — einmal, sondern zweimal jährlich tagen. Weitere Sitzungen können mit der Mehrheit der Stimmen anberaumt werden. Angesichts der Größe dieses Gremiums — jeder von uns weiß doch, wie schwer sich dort Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse durchführen lassen —, ist es richtig, daß sich der Hauptausschuß auf wesentliche Probleme konzentriert.
— Aber nicht so schwer wie in der SPD.Der kleinere Ständige Ausschuß wird als neues, drittes Organ den Hauptausschuß bei seiner Arbeit entlasten. Da ihm nur acht Mitglieder angehören, wird er sehr effizient arbeiten können und vor allen Dingen die Routineangelegenheiten und laufende Geschäfte behandeln. Dem von der SPD gebrachten Einwand, daß es schwierig sei, wenn sich 16 Bundesländer auf acht Mitglieder einigen müssen, kann ich nicht zustimmen. Auch im bereits bestehenden ständigen Unterausschuß war es kein Problem, sich auf acht Mitglieder zu einigen.
Die SPD hat zu dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Entschließungsantrag eingebracht. Sie fordern die Bundesregierung in Ziffer 1 auf, dem Deutschen Bundestag über die Arbeit in den Gremien des BIBB zu berichten. Meine Damen und Herren der SPD, ich sehe weder die Notwendigkeit noch die Zweckmäßigkeit eines solchen Berichts. Die Selbstverwaltung wird nicht tangiert, wenn das Gesetz die Zahl der Sitzungen des Hauptausschusses festlegt. Wenn das Ihr wesentliches Problem bei diesem Gesetzentwurf ist, zeigt sich, daß es Ihnen nur vordergründig um die Sache geht.
Ziffer 2 Ihres Antrages verstehe ich überhaupt nicht. Auch in Zukunft werden die zuständigen Stellen statistischer Unterlagen zur Berufsausbildung auf freiwilliger Basis — wie gehabt — liefern. Sie haben ja selbst ein ureigenstes Interesse daran. Aus dem Verzicht auf § 3 des Gesetzentwurfs kann daher keine Qualitätseinbuße bei der Berufsbildungsstatistik abgeleitet werden.Auch eine Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes kann ich nicht sehen. Sie bestünde nur, wenn Verwaltungsstellen im Bereich der Lander zu Tätigkeiten durch Bundesgesetz verpflichtet würden.In den Berufsbildungsberichten der letzten Jahre nimmt die Weiterbildung einen entsprechenden Raum ein. Die Forderung nach einer detaillierteren Darstellung, die auf den Ausbau der Weiterbildung zum vierten Bildungsbereich in öffentlicher Verantwortung abzielt, hat staatlichen Dirigismus zur Folge. Warum wollen Sie die bewährte Weiterbildung in privater Hand in die öffentliche Verantwortung geben? Wirtschaft und Verbände leisten in diesem Bereich hervorragende Arbeit. Es gibt keinen Grund, gegen das Subsidiaritätsprinzip zu handeln, besonders nicht zur jetzigen Zeit.Schließlich fordern Sie die Bundesregierung auf, Vorschläge zu entwickeln, damit der Länderausschuß stärker genutzt wird. Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, die Rolle der Bundesländer im Länderausschuß zu beeinflussen. Im Gesetz ist der Auftrag des
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Maria EichhornAusschusses klar definiert. Im übrigen sind die Länder selbst in der Lage, das zu tun, was sie als notwendig erachten. Wie groß das Interesse der Länder ist, Herr Rixe, sehen Sie an der Besetzung der Bundesratsbank.Wir können dem Entschließungsantrag der SPD in keinem Punkt zustimmen. Ich fordere Sie auf, dem Gesetz, so wie es jetzt vorgeschlagen ist, zuzustimmen.
Ich erteile nunmehr dem Minister für Bildung und Wissenschaft, Professor Dr. Rainer Ortleb, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes, der heute hier in zweiter und dritter Lesung behandelt werden soll, hat im bisherigen Gesetzgebungsverfahren einen langen und, wenn man so will, auch beschwerlichen Weg genommen. In den nunmehr fast zweieinhalb Jahren seit dem ersten Referentenentwurf ist die Novelle innerhalb und außerhalb des parlamentarischen Raums auf verschiedenen Ebenen diskutiert worden und hat im Verlaufe dieses Abstimmungsprozesses eine Reihe von Änderungen erfahren. Ich sage deutlich: Ich sehe keinen Gesichtsverlust der Regierung sondern eher ein Beispiel für Demokratie,
wenn ein erster Entwurf sinnvolle Änderungen erfährt.
Auch im parlamentarischen Raum ist die Novelle Gegenstand intensiver Beratungen gewesen, wie die Tatsache zeigt, daß sich der federführende Ausschuß für Bildung und Wissenschaft seit der Einbringung des Entwurfs am 6. November 1992 in immerhin sechs Sitzungen mit dem Gesetzentwurf befaßt hat. Daß sich auch der Ausschuß vor allem im Hinblick auf die Bedenken des Bundesrates die Entscheidung nicht leichtgemacht hat, wird auch darin deutlich, daß er am 3. März 1993 eine öffentliche Anhörung durchgeführt hat, in der den von den Änderungen unmittelbar betroffenen Sozialpartnern, dem Generalsekretär des Instituts sowie Vertretern der Länder Gelegenheit gegeben wurde, dem Parlament ihren Standpunkt darzulegen.
— Liebe Freunde von der SPD, wer behauptet, daß man dem Generalsekretär Schmidt einen Maulkorb umhängen kann, der kennt ihn nicht.
Im Ergebnis hat sich dieser Aufwand sicherlich gelohnt — davon bin ich überzeugt —, da mit der vorliegenden Beschlußempfehlung ein auch aus der
Sicht der Bundesregierung zufriedenstellender und ausgewogener Kompromiß erreicht worden ist.
Die Knackpunkte sind von den Vorrednern schon genannt worden, so daß ich auf die Problemlage der Häufigkeit der Beratungen des Länderausschusses hier nicht mehr eingehen muß. Ich will aber deutlich sagen: Ein bißchen befremdet hat mich schon, daß man Qualität und Quantität in der Auswirkung auf Demokratie verwechselt. Es wurde auf einen liberalen Minister angespielt, bei dem das passiert sei. Die SPD berät sehr oft, und ihr Verschleiß an Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden ist größer als der der Liberalen.
— Aber mich noch nicht.
Zusammenfassend möchte ich für die Bundesregierung feststellen, daß die vorliegende Beschlußempfehlung eine gute Grundlage für die gemeinsame Bewältigung der großen nationalen und internationalen Herausforderungen auf dem Gebiet der beruflichen Bildung darstellt, bei der in besonderem Maße die Erfahrung und der Sachverstand des Bundesinstitutes — vor dem ich Respekt habe — gefragt ist. Den Zitronenpreis nehme ich nicht an.
Danke.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Somit können wir zur Abstimmung über den von der Bundesergierung eingebrachten Entwurf zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes auf Drucksache 12/3197 und 12/4831 kommen. Die SPD, die den Änderungsantrag auf Drucksache 12/4904 gestellt hat, ist damit einverstanden, daß wir darüber vorab abstimmen, um danach über das ganze Gesetz abstimmen zu können.Ich lasse also zunächst über diesen Änderungsantrag der SPD abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Damit ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist das Gesetz in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.Wir kommen nunmehr zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich von den Plätzen zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist das Gesetz in der dritten
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergLesung mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie in der zweiten angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4831 empfiehlt der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft die Annahme einer Entschließung. Wer für diese Entschließung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer dagegen stimmen will, den bitte ich nun um das Handzeichen. — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 12/4903. Wer dafür stimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist der Entschließungsantrag der Sozialdemokraten abgelehnt worden.Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zum Zusatzpunkt 2:Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Sicherung der Tarifautonomie— Drucksache 12/4818 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftRechtsausschußDer Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. Das Haus ist damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Ich darf das als beschlossen feststellen und dem Abgeordneten Rudolf Dreßler das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich aus den vergangenen Jahren vieler Reden von Regierungsvertretern und Abgeordneten der Koalition in diesem Hause erinnern, die Dankadressen vielfältigster Art enthielten. Ein Dank der Bundesregierung oder von Abgeordneten der Koalitionsfraktionen an die Adresse der organisierten Arbeitnehmerschaft, an die Gewerkschaften, für eine gesamtwirtschaftlich verantwortungsvolle Tarifpolitik und für ein unverzichtbares gesamtgesellschaftliches Engagement ist mir nicht präsent. Ich bin gespannt, ob mich diese Debatte eines Besseren belehrt.Ich will mich deshalb heute ausdrücklich zu diesem Dank an den großen Personenkreis von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern in Ost und in West, an Betriebs- und Personalräte und Vertrauensleute bekennen, die zumeist weit über das notwendige Maß hinaus Kraft und Zeit sozialen Diensten widmen.
Meine Damen und Herren, ich schließe jene ausdrücklich ein, die in den neuen Ländern das Recht für sich in Anspruch nehmen, die Arbeit zu verweigern, weil man ihnen andererseits vertraglich zugesicherte Leistungen verweigert.
Ich will daran erinnern, daß in gewerkschaftlichen Kreisen — und nicht nur dort — ein Satz die Runde macht, der lautet: Was lange gärt, wird endlich Wut. Diese Wut ist das Ergebnis ständiger Tretereien und Sticheleien gegen diejenigen, die im Rahmen der Tarifautonomie Verantwortung übernommen haben. Für mich ist dieses fortwährende Anfeinden und Bekritteln turnusmäßiger gewerkschaftlicher Arbeit, ein ständiges lauerndes Infragestellen gewerkschaftlicher Rechtspositionen das erste aufschlußreiche Indiz, daß Teile von Politik, von Unternehmertum sowie der Medien die Tarifautonomie immer noch für eine Bedrohung und für einen Fremdkörper in der Sozialen Marktwirtschaft halten.
Gleichwohl handeln die Tarifvertragsparteien — zum Leidwesen der Marktradikalen also auch die Gewerkschaften — im Einklang mit unserer Verfassung und in Übereinstimmung mit dem Grundkonsens unserer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ohne Tarifautonomie, ohne die Verläßlichkeit der Lohn- und Gehaltsdaten aus Tarifverträgen und auch ohne den Rationalisierungsdruck aus den Tarifanhebungen wäre die Soziale Marktwirtschaft eine Worthülse geblieben.
Aber immer dann, wenn eine rückwärtsgewandte Wirtschafts- oder Gesellschaftsideologie meint, die Verteilungsposition der Arbeitgeberseite würde zu sehr strapaziert, spielt Vertrauen in die lange, in die positive Geschichte der Tarifautonomie keine erste Geige mehr. Dann übernehmen blitzartig Mißtrauen, Vorwürfe, Beschuldigungen die tragenden Rollen. Es ist so, als ob gewerkschaftliche Forderungen ab einer bestimmten Quantität und erst recht ab einer verändernden Qualität bei einigen eine Art sozialen Beißzwanges auslösen.Wo aber steht eigentlich geschrieben, daß Tarifvertragsparteien auf Veränderungen im Rahmen von Verfassung, von Gesetzen verzichten müssen? Wann lernen Unternehmer, wann lernen auch konservative und wirtschaftsliberale Politiker, daß die deutsche Arbeitnehmerschaft Reformbereitschaft mit Beharrungsvermögen, Verläßlichkeit, mit Bildungs- und Integrationswilligkeit verbindet?
Nur eines, meine Damen und Herren, möchte die deutsche Arbeitnehmerschaft nicht: Revolutionen marktradikaler Art, die sie und ihre Kinder aus Wohlstand und einer sicheren Zukunft drängen.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel für Veränderung nennen, das fast ohne jegliche Kritik hingenommen wurde. Der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Dr. Necker, ist mit seinem brandenburgischen Unternehmen aus Protest gegen den Stufentarifvertrag aus dem Arbeitgeberverband ausgeschieden. Dr. Necker hatte jegliches Vertrauen in die Regelungs- und Kompromißfähigkeit der Tarifvertragsparteien verloren, bevor der Streit über die 26prozentige Anhebung der Löhne in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie überhaupt akut
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Rudolf Dreßlerwerden konnte. Er hat seinem Arbeitgeberverband im Jahr 1991 ade gesagt.Der BDI-Präsident hat damit, wie ich finde, ein verheerendes Zeichen gesetzt.
Dennoch vertritt er ohne jede Irritation weiterhin die Interessen seines Verbandes an der Spitze. Nach meiner Überzeugung ist das, auch im Sinne der Arbeitgeberverbände, ein massiver Verstoß gegen den Grundkonsens in unserer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,
den der BDI, wie jeder von uns weiß, ansonsten hochhält.Ist angesichts solcher Vorfälle, so frage ich, dieser Sachverhalt nicht eigenartig? Immer wieder und ausschließlich stehen Arbeitnehmervertreter in einem Wechselbad von Bewertungen: Mal bescheinigt man ihnen, weil es sich so trifft, gesamtwirtschaftliche Verantwortung. Zwölf Monate später freilich wird denselben Menschen, weil sie den Lebensstandard der Beschäftigten halten wollen, vorgeworfen, sie führten Deutschlands Wirtschaft über die Klippe in den Konkurs.Ich wage zu behaupten: Hätten sich die Gewerkschaften während der vergangenen 45 Jahre stets an die Vorschläge und Klagen der Arbeitgeberseite gehalten, würden in Wolfsburg oder Köln, bei der Volkswagen AG oder Ford Mofas und Fahrräder hergestellt, aber keine Automobile in riesigen Stückzahlen, weil die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich heute noch keine gut ausgestatteten Mittelklassewagen leisten könnten.
Hier besteht ein unverwechselbarer Zusammenhang.Für die Mitglieder in den vielen Tarifkommissionen der Gewerkschaften, aber auch für manche Repräsentanten der Arbeitgeberseite in deren Kommissionen, für Verhandlungsführer, Funktionäre und Mitarbeiter von Stäben waren Hohn, Spott, Besserwisserei auf der Grundlage minimaler Faktenkenntnis sowie der immer wieder zu hörende Vorwurf, die Tarifkontrahenten läuteten der Marktwirtschaft das Totenglöcklein ein, oft nur lästig.Jetzt freilich entwickelt sich Wut. Jetzt wird spürbar, daß manchen der Kragen zu platzen droht; denn jetzt wird für viele plausibel, daß serienweise und über Jahre immer wieder erneute Attacken vor allem von freidemokratischen Bundesministern für Wirtschaft auf die gewerkschaftliche Tariffindung kein Zufall waren,
daß die Arbeit von Deregulierungskommissionen und dementsprechende, richtungsgebende Kabinettsbeschlüsse einen sicheren Zweck verfolgten, daß Gedankenspiele um die Aufhebung von Tarifverträgen zwecks Einführung von Karenztagen auch dasZiel verfolgten, das Klima für die Lockerung der Tarifautonomie vorzubereiten,
daß Forderungen nach Öffnungsklauseln in Tarifverträgen auf den Abbau von tariflichen Mindestbedingungen und auf die Einschränkung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht zielen und daß Forderungen nach Anbindung der Tariffindung für den Bereich des öffentlichen Dienstes an gesetzliche Vorgaben mehr als isolierte Vorstöße ohne weitere Bedeutung sind.Meine Damen und Herren, das gesellschaftliche und politische Klima, in das Tarifverhandlungen immer eingebettet waren, hat sich entscheidend verändert. Diese Veränderung ist ein Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen der 90er Jahre, in denen es mit großer Wahrscheinlichkeit weniger zu verteilen geben wird als in den Jahrzehnten zuvor. Die jetzige Psychologie der Arbeitgeberseite ist auf Demütigung und langfristige Schwächung der Arbeitnehmerschaft im Osten ausgerichtet. Ich halte das für gefährlich; dies läßt Böses ahnen.Dabei erwarten die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, daß sich die Kontrahenten in der Tarifpolitik trotz schwierigster Hürden zusammensetzen, daß vermittelnde Persönlichkeiten respektiert werden und immer wieder Lösungswege gesucht werden. Nach einer infas-Umfrage hätten es 78 % der Ostdeutschen und 65 % der Westdeutschen begrüßt, wenn der Vermittlungsversuch von Sachsens Ministerpräsident, Professor Biedenkopf, von den Arbeitgebern akzeptiert worden wäre.
Dies zeigt: Konsens wird unter den Deutschen immer noch groß geschrieben; von hartköpfigen Vertretern im Arbeitgeberlager aber wird ein Konflikt ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Kosten vorangetrieben.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat ihre Möglichkeiten, einen immer härter werdenden Konflikt durch Signale des Vertrauens in das Institut Tarifautonomie zu entschärfen, nicht genutzt. Auch fehlen die Zeichen des Verständnisses und der Fähigkeit des Mitempfindens gegenüber der Arbeitnehmerschaft von Regionen, in denen sechs Jahrzehnte lang das Wort Streik so fremd war wie das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.Ich glaube, die Bundesregierung verzichtet auf eine klimatische Entschärfung, weil sie indirekt zugeben müßte, daß der Tarifkonflikt im Osten viel mit Politik, mit Enttäuschung durch die Regierungspolitik und mit der Suche nach neuem Selbstverständnis zu tun hat.
Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang abschließend ein Zitat meines Fraktionskollegen Wolfgang Thierse näherbringen, der kürzlich in einer Gesprächsrunde genau den Punkt traf. Er sagte:
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Rudolf DreßlerMeine Beobachtung ist, daß es bei sehr vielen Leuten ein starkes Bedürfnis nach Aufrichtigkeit und nach schonungsloser Beschreibung der Probleme und Aufgaben gibt. Das hat— so Wolfgang Thierse weiter —mit zwei grundlegenden Mängeln zu tun, die die deutsche Einheit bisher begleiten: Ein elementares und dramatisches Wahrheitsdefizit, die Versprechungen waren zu groß. Genauso schlimm ist ein erheblicher Mangel an sozialer Gerechtigkeit.
Deshalb appelliere ich an Sie mit dem Angebot der sozialdemokratischen Fraktion: Ein Wort des Bundestages, von Parlament und Regierung, mit dem der hohe Rang der Tarifautonomie unterstrichen werden soll, sollte nicht versäumt werden; denn unser aller Schutzpflicht gegenüber der Tarifautonomie hat verfassungsrechtlichen Rang.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Kollegen Heinz-Adolf Hörsken das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob es Feigenblätter sind oder nicht, sollten Leute, die nackt dastehen, nicht so betonen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Tarifautonomie ist Garant des sozialen Friedens. Die Idee der Sozialpartnerschaft erfordert funktionsfähige Gewerkschaften und funktionsfähige Arbeitgeberverbände, um im System der partnerschaftlichen Konfliktlösung zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen. Beide Tarifvertragsparteien, Gewerkschaften und Arbeitgeber, sind aufeinander angewiesen. Beide wirken verantwortlich im Rahmen der gegebenen und von der großen Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik Deutschland akzeptierten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Dies ist ein Grundelement im Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Das ist der Grund für den immer noch vorhandenen Wohlstand im Westen und hoffentlich bald auch im Osten unseres Vaterlandes.
Ohne die Tarifautonomie hätten wir in der Bundesrepublik Deutschland nie so gravierende Erfolge erreichen können, wie wir sie erreicht haben. Die Tarifpartner üben großen Einfluß auf die Demokratie aus. Ohne freie und autonome Sozialpartner verkümmert die Demokratie.
Beim Ausbalancieren der Interessengegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist die Tarifautonomie die tragende Säule. In der über 40jährigen Geschichte unseres Staates und der Gesellschaft der Sozialen Marktwirtschaft hat sich dies gut
bewährt. Der Tarifautonomie wurde von den Gewerkschaften und auch von den Arbeitgeberverbänden bisher immer große Bedeutung beigemessen. Die in den Tarifverträgen festgelegten Abmachungen gelten unmittelbar und zwingend für die Mitglieder der vertragschließenden Parteien. Zu diesem Recht der Tarifpartner, die Lohn- und Arbeitsbedingungen eigenständig und ohne Einflußnahme des Staates zu regeln, bekennen sich bis heute uneingeschränkt alle.
Ich möchte ganz deutlich sagen: Der Staat hat keinen direkten Einfluß auf die Entscheidungen der Tarifvertragsparteien zu nehmen. Wer anderes fordert, greift in die Selbständigkeit der Tarifvertragsparteien ein und hebelt ein geschriebenes, gewachsenes und bewährtes Recht aus.
Das gilt in wirtschaftlich guten sowie in schlechteren Zeiten, auch dann, wenn die Politik die Ergebnisse der Verhandlungen nicht gutheißen sollte.
Herr Kollege Hörsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
Bitte.
Kollege Hörsken, in völliger Übereinstimmung mit Ihren Darlegungen, die Sie gerade gemacht haben, frage ich Sie: Sind die pausenlosen, in den letzten Tagen offen gewordenen Einflußnahmen von Kabinettsmitgliedern auf die Tarifautonomie Ihrer Meinung nach direkt oder indirekt?
Ich glaube, daß hier eine Einflußnahme nicht vorgelegen hat, sondern daß hier Meinungen geäußert worden sind.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Jäger?
Bitte.
Wie schätzen Sie dann die Kündigung der Tarifverträge durch die Treuhandanstalt ein? Die Betriebe der Treuhandanstalt unterstehen der Bundesregierung, konkret dem Finanzminister.
Ich werde im Verlauf meiner Ausführungen auf das Verhalten der Arbeitgeber noch zu sprechen kommen. Aber ich will vorab sagen, daß ich die Kündigung für nicht in Ordnung halte.
Wo zwei Tarifvertragsparteien Verantwortung tragen, hilft kein staatliches Getöse, um der einen oder der anderen Vertragspartei zu dienen. Die Einigung muß autonom getroffen werden. Das ist außerdem der gewaltige Unterschied zu totalitären und planwirtschaftlichen Gesellschaften.
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13402 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Heinz-Adolf HörskenWer die Tarifautonomie zerreden will, schädigt den sogenannten Produktionsfaktor sozialer Friede, letztlich auch die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände. Tarifpartnerschaft heißt Austragung der sozialen Konflikte und die Bereitschaft, in sozialen Streitfragen Konsens zu suchen.Gewerkschaften und Arbeitgeber sind Mitträger der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung in unserem Staat. Die Tarifpartner bejahen dieses Ordnungsprinzip ohne Einmischung und Einflußnahme des Staates, weil es, gemessen an allen ausländischen Vergleichen, den sozialen Spannungsausgleich zwischen den gegenläufigen Verteilungsinteressen der Tarifvertragsparteien gewährleistet. Der Staat hat bei Tarifkonflikten nicht einzugreifen. Dies gilt auch, wenn Tarifverträge, wie jetzt in den neuen Bundesländern, außerordentlich gekündigt werden.Ob diese Kündigungen rechtmäßig sind — meine persönliche Position dazu habe ich vorhin schon gesagt — und ob die Voraussetzungen gegeben sind, ist eine Rechtsfrage, die nach der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland die Gerichte zu entscheiden haben. Ich halte es jedoch für gefährlich, mit Gerichtsentscheidungen die Tarifpartner zur Einigung zu zwingen.Den Streik in der ostdeutschen Metallindustrie halte ich in dieser schwierigen Situation nicht für angemessen. Andererseits verurteile ich die Haltung der Arbeitgeber, geschlossene Tarifverträge zu kündigen. Diese Brisanz ist in keiner Weise zu überbieten.Eigenverantwortliches Handeln ohne staatliche Einflußnahme wird von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, übereinstimmend mit allen gesellschaftlichen Gruppierungen und Schichten, als ein wesentlicher Pfeiler unserer Sozialordnung angesehen. Diese Eigeninitiative der Sozialpartner gilt es weder in Wachstumsphasen noch in schwierigen konjunkturellen Lagen — in einer solchen befinden wir uns derzeit — zu schwächen.In einem modernen und stabilen Sozialstaat, wie es die Bundesrepublik nach wie vor ist, ändern sich gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Nicht alles, was in den vergangenen Jahrzehnten zur Gewohnheit geworden ist, wird künftig Bestand haben. Ich warne jedoch eindringlich davor: Wenn das Ausscheren aus Tarifverträgen Schule macht, ist unsere Sozialpartnerschaft ernsthaft in Gefahr.
Wo wir einerseits immer noch die Perspektiven des Industriestandortes Bundesrepublik Deutschland ins Visier nehmen, dürfen wir andererseits nicht unseren bewährten Joker, den sozialen Frieden, verspielen. Der soziale Friede in der Bundesrepublik Deutschland galt und gilt in unseren Nachbarländern als gutes und bewährtes Vorbild. Niedrige Raten von Streiktagen und die Fähigkeit zu Kompromissen der Tarifvertragspartner sorgten für Verläßlichkeit und Vertrauen in der deutschen Wirtschaft.Deshalb geht es jetzt darum, daß die Arbeitnehmer über ihre Gewerkschaften, die Unternehmer über ihreArbeitgeberverbände die Einsicht zur Einigung erlangen und an den Verhandlungstisch zurückkehren. Lange Streiks in der jetzigen angespannten konjunkturellen Lage und in der besonderen Situation im Osten unseres Vaterlandes sind Gift für die Auftragsentwicklung gerade in diesen Bereichen.
Jetzt ist, meine Damen und Herren, keine Kraftmeierei gefragt, sondern es muß eine vernünftige Einigung gefunden werden. Dazu rufe ich die Tarifvertragsparteien auf.
Das Wort hat der Abgeordnete Bernd Henn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine erste Feststellung ist die, daß nach dieser Ihrer Rede, Herr Kollege Hörsken, Sie und Ihre Fraktion der Entschließung eigentlich zustimmen müßten. Wenn das nicht der Fall wäre, würde ich in diesem Hause nichts mehr verstehen. Davon gehe ich zunächst mal aus.
Wir stimmen jedenfalls der eingebrachten Entschließung voll zu. Und wir sagen auch, daß der Zeitpunkt richtig ist. Er ist jedenfalls besser als vor 14 Tagen, als Ihr damaliger Kanzlerkandidat gerade den Vorschlag in die Debatte brachte, einen zweiten Arbeitsmarkt mit untertariflicher Bezahlung zu eröffnen.Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß wir diesen Vorgang hier heute noch intensiver und ausführlicher debattieren können. Es geht ja immerhin um die Frage, welche Rolle künftig die Tarifautonomie in diesem Land spielt. Sie wird heute angegriffen a) durch die tarifwidrige Kündigung der Arbeitgeber, b) durch die Attacken des Bundeswirtschaftsministers und anderer, die Öffnungsklauseln fordern, aber vor allen Dingen durch die Tatsache, daß die Bundesregierung der Treuhand erlaubt, den Rechtsbruch zu begehen. Das ist eine entscheidende Grundlage für den Angriff auf die Tarifautonomie. So besteht die Gefahr, daß die Tarifautonomie auf einen Zustand zurückgebracht wird, wie er in diesem Land vor 1918 galt, oder daß sie sich allenfalls auf einen Zustand zubewegt, wie er durch die Notverordnung von Franz von Papen am 5. September 1932 in Gang gesetzt wurde, als die Unabdingbarkeit von Tarifverträgen außer Kraft gesetzt wurde.Verlierer wären die Gewerkschaften, die ihrer zentralen Aufgabe beraubt wären, nämlich die Verläßlichkeit von Tarifverträgen und die soziale Sicherheit zu gewährleisten. Das aber bedeutet: Wer die Unabdingbarkeit von Tarifverträgen antastet, verschiebt die Koordinaten im Macht- und Sozialgefüge der Bundesrepublik. Er legt aber auch die Axt an ein anderes Element der Tarifautonomie, nämlich die Friedenspflicht, die ja das Gegenstück zur Unabdingbarkeit von Tarifverträgen ist. Das bedeutet, daß wir
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13403
Bernd Hennnoch ganz andere Zustände in diesem Land bekommen könnten, wenn das Schule macht, was zur Zeit ansteht.
„Pacta sunt servanda", diesen Satz hat der frühere CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß in diesem Haus sehr oft gebraucht. Dieser Grundsatz war auch den Metallarbeitgebern sehr heilig, als die IG Metall 1988/89 versucht hatte, den Dreijahres-Tarifvertrag vorzeitig zu kündigen bzw. mit den Arbeitgebern einvernehmlich eine Verbesserung der Tarifverträge zu erreichen, weil man sich nämlich in der Einschätzung der Konjunktur geirrt hatte und - ich sage es mal so — zu billig abgeschlossen hatte. Damals galt für die Arbeitgeber der Satz „Pacta sunt servanda", und sie waren nicht bereit, die Kündigung der Verträge hinzunehmen.Ich meine, man muß abschließend vielleicht noch auf zwei Punkte hinweisen. Erstens. Auch nach der Erfüllung der Tarifverträge in Ostdeutschland, Stufe 1993, würden die Metallerlöhne effektiv nicht mehr als 60 % der Westlöhne betragen. Das muß immer wieder gesagt werden. Zweitens. Die Masse der Arbeitgeber im Osten sind Westfirmen, die durchaus in der Lage sind, die Tarifsteigerung zu bezahlen, oder sie befinden sich unter dem Dach der Treuhand. Aber in diesem Fall ist es eine politische Entscheidung, ob man Rechtsbruch begehen soll oder nicht.Meine Damen und Herren, die Metallarbeitnehmer und Stahlarbeiter erleben zur Zeit, daß trotz parlamentarischer Vertretungsmacht und demokratischer Spielregeln Rechtsfragen letztlich Machtfragen sind. Auch in der parlamentarischen Demokratie stellen sich Recht und sogar Gerechtigkeit nicht von alleine ein, sondern sie müssen täglich neu erkämpft werden,Schönen Dank.
Herr Abgeordneter Paul Friedhoff, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es gibt niemanden in diesem Hause, der das Grundrecht in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes wirklich bestreitet. Ich glaube nicht, daß jemand daran die Axt anlegen will, wie hier eben gesagt worden ist.
— Das ist vielleicht Ihre Einschätzung. Aber lassen Sie mich den Satz zitieren, der im Grundgesetz steht:
Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.
Dieses ist sicherlich etwas, was nicht zur Disposition steht. Ich kenne niemanden, der das ernsthaft will.
Hier ist von einem Recht die Rede, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden. Es besteht folglich keine Pflicht, weder bei Arbeitnehmern noch bei Arbeitgebern, Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden beizutreten. Damit gibt es auch kein Verbot, diese Zusammenschlüsse wieder zu verlassen. Wer von diesem Recht Gebrauch macht, wird wohl seine Gründe dafür haben, und ich halte es auch nicht für unmoralisch, wenn er dieses Recht wahrnimmt.
Die Gründe für Austritte bei den Arbeitgeberverbänden oder den Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften liegen nicht darin, daß irgend jemand die Tarifautonomie gefährden oder abschaffen will. Für eine solche Entwicklung ist nach meiner festen Oberzeugung eine mangelnde Flexibilität auf beiden Seiten der Tarifpartner verantwortlich.
Die Entwicklung der Tarifpolitik strebt in den letzten Jahren tendenziell auf einen Einheitstarif zu, auf einen Einheitstarif in Entgelt und Mantel, unabhängig von dem regionalen Standort, unabhängig von der Branche, unabhängig von der Betriebsgröße und Kostenstruktur, vom Wirtschaftszyklus oder gar der individuellen Situation innerhalb eines Betriebes. Unternehmen verlieren dadurch ihre Anpassungsfähigkeit, sie verlieren ihre Fähigkeit zur Flexibilität bei sich ändernden Marktsituationen.
Hier ist eben gesagt worden, daß es in den nächsten Jahren sicher weniger zu verteilen gibt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß wir in einem Dickicht von festgezurrten Vereinbarungen sind, einem Dickicht, das irgendwann einmal geschaffen worden ist, als für solche Regelungen vielleicht auch eine vernünftige Begründung vorhanden war. Daß dies aber überdacht werden muß, daran darf eigentlich in diesem Haus kein Zweifel bestehen.
Wenn man das nicht tut, sondern diese Dinge mit einem entschlossenen „Nur weiter so! " betrachtet und nicht individuelle, einzelne Verhältnisse berücksichtigt, vermindert man diese Flexibilität. Und das ist — da können Sie noch so viel dagegen sagen — eine Todsünde wider den Markt. Denn dieser Markt erwartet das eben.
— Es ist richtig, daß sie davon nicht leben können. Aber sie können auch nicht davon leben, daß in diesem Land keine Arbeit mehr gemacht werden kann und die Produkte nicht mehr bezahlbar sind. Das müssen Sie gegenrechnen.
Herr Kollege Friedhoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Ja.
13404 Deutscher Bundestag — 12.. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Kollege Friedhoff, würden Sie es als Einheitstarifvertrag bezeichnen, wenn es in der Bundesrepublik in den verschiedenen Branchen 39 000 verschiedene Tarifverträge mit unterschiedlichen Einheiten, Lohnersatzleistungen usw. gibt, oder ist das nicht ein Ausdruck von ausgesprochen großer Flexibilität in unserer Wirtschaft?
Wenn ich 39 000 Tarifverträge oder Arbeitsverträge mache, die alle gleich aussehen
oder im wesentlichen gleich sind, dann bedeutet dies keine Flexibilität, sondern daß man das 39 000mal in ähnlicher Form auf einem anderen Papier geschrieben hat.
Es mag ja sein, daß Sie das so sehen. Ich kann Ihnen nur sagen: Arbeitsplätze kann man nicht dadurch gestalten, daß man die generelle Situation eines Landes völlig außer acht läßt
und daß man die Situation in den einzelnen Branchen nicht berücksichtigt.
Tarifverträge müssen Spielräume für praxisnahe Regelungen lassen. Deshalb tritt die F.D.P. seit langem dafür ein, daß dort, wo Betriebsrat und Unternehmensleitung dies einvernehmlich wünschen, der Verbandstarif durch Betriebsvereinbarungen modifiziert werden kann.
Herr Kollege Friedhoff, der Kollege Weiermann würde auch gern eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Friedhoff, ist Ihnen nicht geläufig, daß die Einkünfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten zehn Jahren im Schnitt um real 11 % gestiegen sind, die Einkommen der Unternehmen aber im Schnitt um real 118 %?
Ja, die erste Frage ist: Von welcher Basis?
Zweitens. Wenn Sie davon ausgehen, daß Unternehmensgewinne nicht dringend erforderlich sind, damit Anpassungen an die entsprechende Marktentwicklung erfolgen können, — —
— Sie rufen „Finanzanlagen" dazwischen. Das ist doch ganz prima. Das bedeutet doch, daß das einen Grund hat.
— Ich möchte in meinem Text fortfahren. Ich glaube, das beantwortet zu haben: Gewinne, die gestiegen sind — auch wie hier von einer niedrigen Basis —, sind aus meiner Sicht durchaus etwas Positives. Denn damit sind manche Arbeitsplätze geschaffen worden.
Die in den letzten Jahren geschaffenen Arbeitsplätze
— über 3 Millionen — sind ja deshalb entstanden, weil Gewinne reinvestiert worden sind.
Aber meine Frage ist: Warum trauen die Gewerkschaften denn den Betriebsräten nicht zu, daß sie Vereinbarungen, die auf die Unternehmen bezogen sind, abschließen?
— Ja, das haben die angeboten. Diese Öffnungsklauseln gibt es entsprechend nicht, und von daher — —
— Wenn Sie genau lesen, was im Moment dort das Arbeitgeberangebot ist, dann bedeutet dies ja, daß sie einen festen Sockel geben und daß das, was darüber hinausgeht, in den einzelnen Betrieben je nach wirtschaftlicher Lage einzeln geregelt werden kann.
Die F.D.P. setzt sich also dafür ein, daß z. B. ertragsorientierte Elemente in den Tarifverträgen vereinbart werden, damit sich zumindest ein Teil der Lohnkosten an der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung der Branche ausrichten kann. Es muß nämlich das Ziel sein, möglichst viele starke und gesunde Betriebe zu haben, damit es sich auch lohnt, dort zu arbeiten, damit die entsprechenden Tarife auch gezahlt werden können.
Wenn man nun Überlegungen anstellt, wie man dies flexibler gestalten kann, dann ist das sicher kein Rütteln am Grundgesetz, sondern eine Überlegung, die notwendig ist, um den veränderten Bedingungen, die sich nun einmal in den 90er Jahren durch die in Europa stattfindenden Umbrüche ergeben, Rechnung tragen zu können. Von daher meine ich, daß wir hier nicht über eine gefährdete Tarifautonomie sprechen sollten, sondern lieber darüber, daß die Tarifpolitik in einer Verantwortung steht und sich hier jetzt bewähren muß.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Kollege Konrad Weiß.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13405
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die einseitige Kündigung der ostdeutschen Tarifverträge durch die Arbeitgeber ist ein weiterer Versuch, demokratische Grundrechte in Deutschland drastisch abzubauen und die Gesellschaft weiter zu entsolidarisieren.
Grundwerte, die bis zur deutschen Einheit unantastbar waren — das Asylrecht, die enge Aufgabenbegrenzung der Bundeswehr, die Tarifautonomie —, werden nun einem konservativen antidemokratischen Zeitgeist geopfert.
Die SPD ist nicht schuldlos daran. Sie ist langst keine wehrhafte Arbeiterpartei mehr, sondern zerrissen und schwach.
Erst das hat es möglich gemacht, daß so tiefe Breschen in demokratische Grundrechte geschlagen werden können.
BÜNDNIS 90 hat ganz klare Positionen, was das Asylrecht angeht, was die Aufgabenbegrenzung der Bundeswehr angeht und auch was die Tarifautonomie angeht.
— Einige aus dem BÜNDNIS 90, lieber Wolfgang.
Deshalb geht es beim gegenwärtigen — —
Darf ich Sie einen Moment unterbrechen, Herr Kollege Weiß. — Ich räume ja ein, daß eine solche Reaktion nach einem etwas verfrühten Applaus überfällig war.
Aber da wir in dieser Debatte ganz kurze Redezeiten haben und der Kollege Weiß nur noch eineinhalb Minuten zur Verfügung hat, bitte ich, die Zwischenrufe zumindest so zu gestalten, daß er sich im Fluß seiner Rede nicht zu sehr beeinflußt fühlt.
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Deshalb geht es auch beim gegenwärtigen Arbeitskampf um mehr als um Tarifverträge. Die ostdeutschen Arbeiterinnen und Arbeiter kämpfen um den Erhalt jener Rechte, die sie sich nach 60 Jahren Diktatur in der friedlichen Revolution des Jahres 1989 neu erkämpft hatten. Die Streiks in Ostdeutschland, die ersten nach 60 Jahren, sind auch politische Streiks. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt diesen
Kampf um gewerkschaftliche und demokratische Rechte, um Menschenwürde und Demokratie. Wir ermutigen die Streikenden, durchzuhalten und so die Arbeitgeber zur Einlösung ihrer Unterschrift zu zwingen. Das einmal gegebene Wort muß gelten. Daß die Wirtschaft im Osten weiter stagnieren würde, muß doch beim Abschluß der Tarifverträge dem Dümmsten klargewesen sein. Oder glauben deutsche Arbeitgeber wirklich an den Weihnachtsmann?
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beobachtet zudem mit Sorge, wie von Arbeitgeberseite mit demagogischen Argumenten, durch eine verlogene Plakataktion und in unheilvoller Seilschaft mit bewährten SED-Kadern versucht wird, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu entsolidarisieren und die Arbeiterschaft in Ost und West zu spalten. Nicht der Streik schadet der deutschen Wirtschaft, sondern die deutsche Wirtschaft schadet sich fortwährend selbst, so auch durch diesen Tarifvertragsbruch und die daraus folgende systematische Schwächung der Kaufkraft. Nicht der Streik gefährdet Arbeitsplätze in Ostdeutschland, sondern die verfehlte Treuhand- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ist für den Verlust Hundertausender Arbeitsplätze verantwortlich.
Der vorliegende Antrag der SPD, meine Damen und Herren, will den Bock zum Gärtner machen. Er ruft nach Autorität des Bundeskanzlers, wo allein die Autonomie und Autorität der Tarifpartner gefragt ist — und unterstützend auch die ungebrochene Glaubwürdigkeit und Autorität der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Die Gruppe BÜNDNIS 90 wird diesem homöopathischen Antrag dennoch zustimmen,
auch wenn wir an seine heilsame Wirkung nicht recht glauben können.
Vielen Dank.
Herr Kollege Dr. Briefs, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Freie, unabhängige Gewerkschaften und die Tarifautonomie sind unerläßliche Schutzeinrichtungen zugunsten der abhängig Beschäftigten in der Marktwirtschaft. Sie sind unerläßlich, weil abhängig Beschäftigte und ihre Angehörigen vom Verkauf der Arbeitskraft leben müssen und weil ihnen wirtschaftlich weit überlegene Unternehmer gegenüberstehen.Nicht ohne Grund schützt das Grundgesetz die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie. Allerdings sind in der Praxis Einschränkungen der Tarifautonomie und von Gewerkschaftsrechten geradezu an der Tagesordnung. Das gilt für die Bundesbank, das gilt für die Bundesregierung, das gilt für die Wirtschafts-
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Dr. Ulrich Briefsforschungsinstitute, die sich mit unschöner Regelmäßigkeit in die Tarifauseinandersetzungen einmischen — ausnahmslos indem sie gegen die Gewerkschaften Position beziehen.In keinem Land Westeuropas gab und gibt es — so vor Jahren schon das unternehmernahe Institut der Deutschen Wirtschaft — so viele formelle, rechtliche Einschränkungen des Streikrechts wie in Deutschland bzw. der alten Bundesrepublik. Was sich aber jetzt anbahnt, droht das Kräfteverhältnis zwischen Unternehmern und Unternehmerverbänden einerseits und Gewerkschaften und abhängig Beschäftigten andererseits grundlegend zu verändern: zuungunsten der Gewerkschaften, zuungunsten der abhängig Beschäftigten. Das geschieht in einer Zeit, in der bei 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen und zunehmender Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, z. B. durch die unsoziale Wohnungsbaupolitik dieser Bundesregierung, gerade im Osten die soziale Schutzbedürftigkeit steigt.Der von der Unternehmerzentrale in Köln offensichtlich geradezu erzwungene ferngesteuerte Ausstieg aus einem grundlegenden, abgeschlossenen gültigen Tarifvertrag stellt einen bisher nicht gekannten aggressiven Akt einer Tarifpartei gegen die andere dar. Wenn dieser Begriff möglich ist: Es ist eine Angriffskündigung. Was nützen künftig Tarifverträge, wenn man einfach so aus ihnen und den eingegangenen Verpflichtungen aussteigen kann?Französische Juristen sagten mir letzte Woche in Paris, daß es in Frankreich durch die Entwicklung der letzten Jahre inzwischen kein Arbeitsrecht mehr gibt. Das heißt, es gibt zwar Bestimmungen — dazu gehören auch die Tarifverträge —, aber es wagt kein Beschäftigter mehr zu klagen, und die Gewerkschaften sind zu schwach zur notwendigen Unterstützung. Wollen das die Herren bei Gesamtmetall auch für die Bundesrepublik erreichen?
Ist das ein weiterer Schritt der bereits vor längerer Zeit eingeleiteten Deregulierungsoffensive auf dem Arbeitsmarkt? Muß das aber nicht einer der berühmten Schüsse nach hinten sein, der die eigenen Interessen in einer Volkswirtschaft trifft, die wegen neuer Technologien und internationalen Wettbewerbs auf Verläßlichkeit, auf Überschaubarkeit, auf Planbarkeit angewiesen ist?Dem SPD-Antrag — das kann ich hier nur kurz sagen — ist voll und ganz zuzustimmen.An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften: Im Wolfssystem der deregulierten Marktwirtschaft von morgen wird euch alles genommen werden, was ihr euch nehmen laßt. Die Verteidigung der Gewerkschaftsrechte ist vor allem Sache aktiver, engagierter, kämpferischer, aber auch demokratischer Gewerkschaftspolitik.
Ich erteile dem Bund es-minister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich nicht mit Vorschlägen in den Tarifkonflikt einmischen, weil ich das nicht für die Sache des Staates halte.
Damit haben wir schon in Weimar schlechte Erfahrungen gemacht. Das muß man den Tarifpartnern überlassen.
Ich halte den Tarifvertrag allerdings für eines der wichtigsten Ordnungsinstrumente einer Sozialen Marktwirtschaft.
In der Planwirtschaft hat er nichts zu suchen.
Herr Bundesminister, dem Kollegen Reuschenbach drängt sich eine Frage auf. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Ja.
In Konsequenz Ihrer Bemerkung, Herr Minister, daß die Tarifautonomie nicht durch den Staat gegängelt, beeinflußt oder eingeschränkt werden soll, stelle ich die Frage, ob denn die stringente Haltung der Treuhandanstalt, die unter der Zuständigkeit des Bundesfinanzministers und damit der Bundesregierung steht, nicht im Gegensatz zu Ihrer eben abgegebenen Sonntagsredenerklärung steht.
Nein, das sehe ich nicht so. Allerdings glaube ich, daß man jetzt auch nichts dazu beitragen sollte — auch nicht von diesem Pult aus —, was die Rückkehr der Verhandlungspartner an den Verhandlungstisch erschweren könnte, nichts, gar nichts!
Lassen Sie mich aber ein paar allgemeine Bemerkungen machen: Die friedensstiftende Kraft des Tarifvertrags sollte sich jeder einmal in Erinnerung rufen. Wir sind das Land —
— ich sage das nach allen Seiten — mit den wenigsten Arbeitskämpfen unter allen vergleichbaren Staaten. Von 1986 bis 1990 sind auf tausend Arbeitnehmer in der Bundesrepublik fünf Tage durch Arbeitskämpfe entfallen, in Frankreich 75, in Polen 84, in Großbritannien 138, in Irland 244, in Italien 271, in Spanien 674, in Griechenland 887. Selbst Japan hat mehr Ausfälle durch Arbeitskampf als die Bundesrepublik. Also hat sich der Tarifvertrag trotz aller Schwierigkeiten bewährt.Ich bin auch für die Differenzierung — die Wirtschaft ist unterschiedlich —, aber ich plädiere ener-
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Bundesminister Dr. Norbert Blümgisch dafür: unter dem Dach und in der Verantwortung der Tarifpartner.
Das läßt auch das Tarifvertragsgesetz zu.Ich möchte hier auch für den Flächentarif plädieren, der in letzter Zeit sehr angegriffen wurde. Seine Schutzfunktion wird häufig unterschätzt. Wer auf den Firmentarif als allgemeine Regelung setzt, der wird sich noch wundern.
In einer vernetzten Wirtschaft, wo jeder auf jeden angewiesen ist, braucht man sich nur die Schnittstellen auszusuchen. Da legt man mit einer strategischen Arbeitskampfführung — von welcher Seite auch immer — eine ganze Volkswirtschaft lahm: 7 500 kolbenherstellende Arbeitnehmer werden in einem Betriebsarbeitskampf zur Erzwingung eines Firmentarifs in den Arbeitskampf geschickt. Die Folge ist, daß in kurzer Zeit eine Million Automobilarbeitnehmer und ihre Zulieferer lahmgelegt sind. Das kann nicht der Sinn des Tarifvertrags sein.Im übrigen, ganz so schlecht
— wenn ich gerade noch die Zahl sagen darf — ist es mit den Firmentarifverträgen nicht: 47 % der Tarifverträge im Osten sind Firmentarifverträge, 28 % der Tarifverträge im Westen sind Firmentarifverträge. Die Landschaft ist also durchaus aufgefächert und differenziert.Ich finde auch, daß die Differenzierung das Gebot der Stunde ist. Es gibt im übrigen auch eine große Bandbreite — Herr Kollege Friedhoff, das ist die Wahrheit —
von unterschiedlichen Lohnabschlüssen; die sind nicht einheitlich. In der Tat ist es eine breit gefächerte Landschaft.
Herr Kollege Dreßler möchte gerne fragen.
Bitte.
Herr Blüm, wären Sie bereit, den Text Ihrer Rede — zumindest bis hierhin —, mit dem ich rhetorisch völlig übereinstimme, in einen Umschlag zu stecken und an den Herrn Bundeskanzler und den Herrn Bundeswirtschaftsminister mit dem ausdrücklichen Stempel „persönlich, vertraulich" zu senden, damit er auch von diesen gelesen wird?
Nein, denn erstens befinde ich mich in Übereinstimmung mit dem Herrn Bundeskanzler, ichnehme an, auch mit dem Herrn Bundeswirtschaftsminister, und zweitens soll es gar nicht vertraulich sein; sonst hätte ich hier nicht gesprochen. Ich bin für eine große Verbreitung meiner Ansichten.
Ich bin an starken Arbeitgeberverbänden interessiert, an starken, und auch an starken Gewerkschaften; sonst sind die nicht vereinbarungsfähig. Mein wirklich verehrter und hochgeschätzter Kollege Friedhoff: Der Herr Necker kann austreten und eintreten, wie er will; das werde ich — wie Sie — verteidigen. Ein gutes Beispiel gibt er als Präsident des BDI nicht, wenn er keinem Arbeitgeberverband angehört.
Denn Sozialpartnerschaft funktioniert nur mit verhandlungsfähigen Verbänden. Herr Necker meint, daß man aus dem Arbeitgeberverband ohne Nachwirkung austreten kann. Welche Gewerkschaft soll mit einem solchen Verband, der für seine Mitglieder gar nicht verbindlich sprechen kann, bei dem man aus- und eintreten kann wie im Omnibus, noch einen Vertrag schließen?
Deshalb teile ich die Ansicht des Präsidenten der Metallarbeitgeber, Gottschol, der diesen Vorschlag als eine Prämie zur Verbandsflucht bezeichnet hat. Solche Vorschläge sägen den Ast ab, auf dem auch die Arbeitgeber sitzen und auf dem unsere ganze Sozialpartnerschaft beruht.
Ich will hinzufügen: Auch den Angriff auf die Allgemeinverbindlichkeit kann ich nicht teilen. Übrigens kommt keine Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrages gegen die Stimmen der Arbeitgeber zustande. Nur 76 von 5 400 Lohntarifen sind allgemeinverbindlich erklärt. Aber hätten wir dieses Instrument nicht, dann wäre das geradezu eine Einladung, nicht dem Tarifverband anzugehören, um machen zu können, was man will. Wenn man die Arbeitgeberverbände vor Trittbrettfahrern schützen will, dann brauchen wir die Allgemeinverbindlichkeit; denn sonst muß — das zeigt ganz Europa — der Staat Mindestlöhne erlassen. Diesen Ehrgeiz habe ich gar nicht. Ohne Allgemeinverbindlichkeit ist der Staat in der Pflicht, Mindestlöhne festzusetzen, auch um den Abstand zwischen Lohnpolitik und Fürsorgepolitik zu garantieren.Ich will nur noch ein paar Bemerkungen machen, ohne mich in Tariffragen konkret einzumischen. Ich glaube, daß man mit mehr Instrumenten arbeiten sollte, daß auch der Investivlohn ein Instrument der Vereinbarung sein sollte und daß man auch ertragsabhängige Komponenten einführen sollte. Ein fixierter Standardlohn und eine ertragsabhängige Komponente, das hätte nämlich zur Folge, daß beide Seiten von der Angst befreit werden, daß die jeweils andere
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Bundesminister Dr. Norbert Blümsie über den Tisch zieht. Gibt es am Schluß keinen Ertrag, gibt es nichts nachzuzahlen. Dann haben die Arbeitgeber keine überhöhten Tarifverträge abgeschlossen. Gibt es etwas nachzuzahlen, wird nachgezahlt. Dann brauchen die Arbeitnehmer keine Angst zu haben, sie hätten zu niedrig abgeschlossen.
Ich glaube schon, daß beide Tarifpartner mehr Kreativität entwickeln müssen.
— Ja gut.
Bitte keine Zwischenrufe mehr; er ist schon am Ende der Redezeit.
: Ein wichtiger Mann!
Da kann man Zwischenrufe machen!)
Ich habe überhaupt keinen Patentschutz hierfür in Anspruch genommen. Ich will nur dafür plädieren, daß man hilft, daß die Tarifpartner vereinbarungsfähig bleiben, daß sie Abschlüsse treffen können, die auch Kraft haben. Deshalb bin ich nicht an einer Schwächung der Gewerkschaften oder der Arbeitgeber interessiert. Das ist mein einziges Wort zum aktuellen Tarifvertrag: Setzt euch zusammen! Ich hoffe, daß wir heute nachmittag in Sachsen einen Schritt vorwärts kommen; denn ich glaube, es kann niemand an einem Arbeitskampf interessiert sein.
Er hätte nur Verlierer; denn Arbeitslose haben von Lohnerhöhungen nichts.
Ich glaube, es kann unser gemeinsamer Appell sein, daß man der Verantwortung der Stunde gerecht wird und sich nicht in Schützengräben eingräbt.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4818 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht damit Einverständnis? — Ist sich die Sozialdemokratische Fraktion einig? Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir treten in eine kurze Pause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wiedereröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/4884 —
Ich rufe den Geschäftsbereich der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Joachim Günther zur Verfügung.
Ich rufe Frage 10 des Kollegen Hubert Hüppe auf:
In welcher Weise wurden die privaten und öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften über die neuen gesetzlichen Bestimmungen zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und Änderung des Belegungsrechtsgesetzes im Zusammenhang mit der vom Deutschen Bundestag beschlossenen Neuregelung des Schwangerschaftsrechtes informiert, und welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, um die Durchsetzung dieser gesetzlichen Vorschriften zu überprüfen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Herr Kollege Hüppe, die für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Minister bzw. Senatoren der Länder sowie die kommunalen Spitzenverbände sind mit Rundschreiben von Frau Minister Dr. Schwaetzer vom August 1992 über die Änderungen der wohnungsbaurechtlichen Vorschriften durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz ausführlich informiert und zur zügigen Umsetzung aufgefordert worden. So haben z. B. die Länder Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein die in ihrem Bereich zuständigen Wohnungsbehörden über die Gesetzesänderung umgehend in Kenntnis gesetzt bzw. die Verwaltungsvorschriften an die Neuregelungen zur Vergabe von Sozialwohnungen angepaßt.
Die Durchführung der Wohnungsbaugesetze, insbesondere die Durchsetzung der geänderten Vergabevorschriften für schwangere Frauen und etwaige Überprüfungen, obliegt im übrigen ausschließlich den Ländern und den in ihrem Bereich zuständigen Behörden. Dem Bund selbst stehen insoweit keine Aufsichtsbefugnisse zu.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Hüppe.
Heißt das, daß diese Regelung in der Praxis überhaupt keine Auswirkungen hat oder haben muß?
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Ich habe Ihnen aufgeführt, daß in der Mehrzahl der Bundesländer dies auch umgehend weitergegeben worden ist. Die Durchführung der Aufsichtspflicht obliegt den Ländern.
Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 11 auf:In welcher Form besteht für schwangere Frauen eine Möglichkeit, Einblick in die „Wartelisten" der privaten und öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften zu nehmen, bzw. auf welche Art und Weise wird die Beachtung der gesetzlichen Vorschriften kontrolliert?Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13409
Joachim Günther, Parl. Staatssekretär: Die Wartelisten werden grundsätzlich nicht von den Gesellschaften, sondern von den für die Durchführung der wohnungsbaurechtlichen Vorschriften zuständigen Behörden — das sind in der Regel die kommunalen Wohnungsämter — geführt. Eine generelle Einsichtsbefugnis von Wohnungssuchenden dürfte aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht bestehen.Zur Sicherung der Zweckbestimmung von Sozialwohnungen und zur Einhaltung vergaberechtlicher Vorschriften stehen jedoch den zuständigen Stellen nach § 2 des Wohnungsbindungsgesetzes bzw. § 3 des Belegungsrechtgesetzes umfassende Kontroll- und Überwachungsbefugnisse zu. Verstöße gegen Vergaberegelungen sowie die Nichtbeachtung des besonderen Vorrangs für schwangere Frauen können nach § 26 Abs. 1 Nr. 2 des Wohnungsbindunggesetzes bzw. § 17 Abs. 1 Nr. 1 des Belegungsrechtgesetzes als Ordnungswidrigkeit mit Geldbußen geahndet werden.
Keine Zusatzfrage.
Danke, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsberich des Bundesministers für Gesundheit auf. Zur Beantwortung steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Die Fragen 29, 30 und 31 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist Ihre Aufgabe bereits erfüllt, Frau Kollegin. Herzlichen Dank.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek ist bereit, die Fragen zu beantworten.
Ich rufe die Frage 32 auf, die unsere Kollegin Frau Siegrun Klemmer gestellt hat:
Daten über die durch die Uranverarbeitungsanlage in Sillamäe/Estland hervorgerufene radioaktive und andersartige Verseuchung, von der auch die Ostsee in hohem Maße betroffen ist und von der ein amerikanischer Bericht angeblich behauptet, sie sei „ebenso gefährlich" wie Tschernobyl, sind der Bundesregierung bekannt, und was unternimmt die Bundesregierung, um dieser Verseuchung unverzüglich Einhalt zu gebieten, wobei sich Rußland offensichtlich seiner Verantwortung entzieht, obwohl gerade zur Unterstützung Rußlands und der anderen GUS-Staaten, auch für die Behebung von Umweltschäden und insbesondere die Sanierung der Energiewirtschaft, hohe internationale Hilfsgelder bewilligt wurden?
Ich bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, um Beantwortung.
Frau Kollegin Klemmer, über die militärische Anlage Sillamäe in Estland, die unter — wie Sie ja wissen —, ehemals sowjetischer, jetzt russischer Zuständigkeit betrieben wird, und über mögliche radiologische Umweltbelastungen aus dieser Anlage sind der Bundesregierung erstmals im Rahmen der Arbeitsgruppe „Nukleare Sicherheit" des Ostseerates Informationen zugänglich geworden. Diese Arbeitsgruppe wurde Mitte Mai 1992 eingesetzt und soll u. a. diejenigen sowohl zivilen als auch militärischen Anlagen und Tätigkeiten identifizieren, von denen eine radiologische Gefährdung des Ostseeraums ausgehen könnte.
Von der Akademie der Wissenschaften Estlands wurde am 28. August 1992 ein Bericht bezüglich Sillamäe vorgelegt. Ende März 1993 wurden anläßlich einer Arbeitsgruppensitzung der Helsinki-Kommission weitere Einzelheiten mitgeteilt.
Danach ergibt sich folgendes Bild: Von 1944 bis 1989 wurde in Sillamäe zunächst in einer Pilotanlage, seit 1948 in geheimen militärisch-industriellen Anlagen Uranerz aus Osteuropa aufbereitet; seit den 80er Jahren werden auch andere Mineralien verarbeitet. Nach Angaben aus Rußland sind dabei 8 bis 9 Millionen t toxische und radioaktive Abfälle angefallen, unter anderem ca. 1 200 t Uran, ca. 800 t des Radionuklids Thorium und ca. 7 kg des Radionuklids Radium. Diese Tailing-Abfälle lagern in einem ca. 40 ha großen und ca. 200 000 m3 fassenden Absetzbecken, das gegenüber dem Finnischen Golf nur durch einen ca. 10 m breiten, aus Uranerz-Aufbereitungsrückständen aufgeschütteten Damm abgegrenzt ist. Die Dammhöhe beträgt ca. 25 m über dem Meeresspiegel.
An der Oberfläche des Absetzbeckens beträgt die Gamma-Dosisleistung etwa 1-2 μGy/h — das bedeutet umgerechnet ca. 100 bis 200 μR/h —, in der Beckenumrandung stellenweise bis 10 µGy/h, umgerechnet 1 000 μR/h. Außerdem werden schätzungsweise jährlich ca. 0,5 Millionen m3 kontaminierte Abwässer in den Finnischen Golf geleitet. Über den Umfang der Kontamination dieser Abwässer liegen der Bundesregierung bislang keine Angaben vor.
Zur Zeit werden eine Aktivitätsbestandsaufnahme für die Anlage Sillamäe erarbeitet sowie mit Unterstützung durch das schwedische Strahlenschutzinstitut und das finnische Strahlenschutzzentrum die radiologischen Umweltbelastungen analysiert. Dazu werden Proben von Wasser, Meeresboden und Algen bis zu 11 km Küstenentfernung untersucht. Erste Ergebnisse lassen den Schluß zu, daß die marine Umwelt nur in unmittelbarer Küstennähe bis zu einem Umkreis von ca. 300 m unterhalb des Deponiedamms meßbar beeinträchtigt wird.
In weiteren Schritten sollen verbesserte Abfallbehandlungstechnologien angewendet und unter Beteiligung der IAEO in internationaler Zusammenarbeit Sanierungsmaßnahmen entwickelt werden. Die EG hat ihre Hilfe im Rahmen von TACIS/PHARE angeboten.
Die Arbeitsgruppe des Ostseerates hat die Anlage Sillamäe in einem Zwischenbericht als eine potentielle Gefährdungsquelle für die Ostsee identifiziert. Im Ostseerat und in dieser Arbeitsgruppe wirkt auch Rußland kooperativ mit, so daß nicht unterstellt werden kann, Rußland entzöge sich seiner Verantwortung.
Eine umfassende, sorgfältig ausgearbeitete Antwort auf eine wichtige und ernste, umfassende Frage. Gleichwohl, verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlaube ich mir die Frage, ob wir mit dieser Art der langen Fragen und der noch
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13410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Vizepräsident Hans Kleinlängeren Antworten das Instrument der Fragestunde nicht ein bißchen in die falsche Richtung bringen und damit auch begründen, daß es nicht den Stellenwert hat, den es eigentlich verdient. Denn das ist ja ein Ort, wo meistens unendlich viele wichtige, interessante und aktuelle Informationen umgesetzt werden.Ich muß das jetzt an dieser Stelle sagen, damit es eindringt. Wenn wir es irgendwo im Hintergrund erklären, hat es keinerlei Wirkung.Bitte, Frau Kollegin, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trotz der so detailliert vorgetragenen Ergebnisse, die sich auch schon auf die Ostseeanrainer, zumindest auf Finnland, zum Teil bezogen haben, möchte ich doch noch einmal nachfragen im Hinblick auf zukünftige Aktivitäten der Bundesregierung: Beabsichtigen Sie eine gemeinsame Vorgehensweise der Ostseeanrainer, vor allen Dingen auch im Hinblick auf finanzielle Unterstützung bei Vorsorge und Sanierung?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, Sie gestatten mir vor der Beantwortung noch eine Bemerkung, die auch ganz im Sinne dessen ist, was Sie gesagt haben. Ein so detaillierter und sehr differenzierter Sachverhalt, den wir hier nicht nur bei solchen — —
Herr Kollege Wieczorek, das war keine Rüge in Richtung Regierung oder gar in Ihre Richtung. Ich habe ja gesagt: Es war eine sehr sorgfältige Antwort auf eine sehr wichtige, ernste, aber umfassende Frage. Es ging nur darum, ob sich dafür das Instrument der Fragestunde besonders eignet.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Gut.
Frau Kollegin Klemmer, ich versuche eine kurze Antwort: Die Bundesregierung wird natürlich, sowohl in der Helsinki-Kommission als auch im Ostseerat und in den bilateralen Beziehungen, die schon einmal Gegenstand einer Fragestunde waren, Einfluß nehmen. Es zeigt sich technologisch eine ähnliche Herausforderung, wie wir sie im Zusammenhang mit der Wismut AG oder auch in anderen Staaten, die ebenfalls Uran aufbereiten, finden.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann darf ich die Frage 33 aufrufen, die ebenfalls die Kollegin Siegrun Klemmer gestellt hat:
Auf welche Weise setzt sich die Bundesregierung für die Durchsetzung des Erlasses von Präsident Boris Jelzin ein, demnach das staatliche russische Komitee für die Kontrolle von Atomanlagen und anderen nuklearen Objekten Zugang zu den entsprechenden Objekten auch des Verteidigungsministeriums hat, und wie schätzt die Bundesregierung die Sinnhaftigkeit internationaler Hilfsgelder zur Sanierung der osteuropäischen Energiewirtschaft ein, angesichts von Zuständen wie der Weigerung des russischen Verteidigungsministeriums, dem genannten Erlaß von Präsident Jelzin zu entsprechen?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, Präsident Jelzin hat verfügt, daß die russische Aufsichtsbehörde auch die militärischen Anlagen und Tätigkeiten überwachen soll; das
umfaßt auch den ungehinderten Zugang der Inspektoren. Der Bundesregierung liegen keine Hinweise darüber vor, daß sich z. B. das russische Verteidigungsministerium dieser Anordnung des Präsidenten und entsprechenden Inspektionen durch die Aufsichtsbehörde widersetzt.
Im übrigen ist die internationale Hilfe bei der Verbesserung der Sicherheit von Reaktoren sowjetischer Bauart unabhängig davon erforderlich, welche organisatorischen Zuständigkeiten in den betroffenen Staaten bestehen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da diese Hinweise in Westeuropa und auch in der Bundesrepublik offensichtlich aber vorliegen, frage ich Sie: Sind Sie bereit, diesen Hinweisen aus Ihrem Ministerium nachzugehen und möglicherweise entstehende Sicherheitsrisiken zum Thema bei bilateralen Gesprächen zu machen?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, Sie können davon ausgehen, daß wir in Vorbereitung der Beantwortung sorgfältig — natürlich auch über das Auswärtige Amt — recherchiert haben. Die Tatsache, daß Sie in Ihrer Frage noch von einem „Komitee" sprechen, das jetzt durch Weisung des Präsidenten Jelzin zu einem ihm unmittelbar nachgeordneten Gremium, einer Aufsichtsbehörde wurde, zeigt, daß sich auch hier entsprechende Entwicklungen abzeichnen.
Es gibt keine weitere Zusatzfrage.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Die Frage 34 des Kollegen Dr. Wolfgang von Gel-dem und die Fragen 35 und 36, die der Kollege Klaus Harries gestellt hat, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Herr Staatsminister Bernd Schmidbauer steht uns zur Beantwortung zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 37 des Kollegen Karl Stockhausen:
Trifft die Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 23. April 1993 zu, daß die sozialliberale Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt Grenzschutzanlagen der ehemaligen DDR mit Millionenbeträgen mitfinanziert hat?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Stockhausen, in der letzten Aprilwoche ist in mehreren Pressemitteilungen über Unterlagen aus dem ehemaligen ZK der SED berichtet worden. In diesen Unterlagen sind Gespräche dokumentiert, die Ende 1977, zur Zeit der SPD-geführten Bundesregierung, zwischen dem damaligen Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin, Staatssekretär Gaus, und Vertretern der DDR u. a. über den Ausbau des Grenz-
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Staatsminister Bernd Schmidbauerübergangs Helmstedt-Marienborn geführt worden sind.Aus den Berichten der DDR-Verhandlungsführer ergibt sich, daß Staatssekretär Gaus über die in der offiziellen Vereinbarung vom 22. Dezember 1977 festgesetzte Summe von 2,73 Millionen DM hinaus eine Zahlung von 5,8 Millionen DM zugesagt haben soll. Dieser Betrag soll sich auf die durch die Verbreiterung der Autobahn erforderlich werdende Erneuerung der Grenzsicherungsanlagen der DDR im Bereich Helmstedt-Marienborn bezogen haben.Die Bundesregierung ist bemüht, den gesamten damaligen Sachverhalt aus der Zeit der SPD-geführten Bundesregierung aufzuklären. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Die Bundesregierung wird demnächst im Haushaltsausschuß über diese Angelegenheit detailliert berichten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Stockhausen.
Herr Staatsminister, sind diese Tatsachen aus den Unterlagen der Regierung Schmidt nicht ersichtlich, und muß man dann annehmen, daß sie bewußt in einer verfälschenden Weise haushaltsmäßig abgesichert worden sind, d. h. daß nicht konkret dargelegt wurde, für welche Zwecke diese Mittel ausgegeben worden sind?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Der Bundesregierung liegen Unterlagen vor, die ich eben teilweise zitiert habe. Teilweise gibt es Unterlagen, aus denen zitiert wird, die uns nicht vorliegen. Das gilt vor allen Dingen für SED-Unterlagen, die u. a. in einem Magazin am 26. April zitiert worden sind. Gleichzeitig liegen Unterlagen aus dem Untersuchungsausschuß KoKo vor. Es gibt drei weitere Unterlagen der ehemaligen DDR.
Aus den Unterlagen des Bundeskanzleramts, des BMF und aus anderen Unterlagen geht nicht eindeutig hervor, wie die Finanzierung realisiert wurde. Ich sagte aber eben, daß wir vor einer abschließenden Bewertung stehen und wir dem Haushaltsausschuß darüber berichten. Es kann auch notwendig werden, daß wir dazu noch die Teilnehmer an einem bestimmten Ministergespräch befragen. Wir sind bemüht, den Sachverhalt, der hier angeführt wurde, aufzuklären.
Zweite Zusatzfrage.
Kann man davon ausgehen, daß solch ein Vertuschen, solch eine unmoralische Handlung
auf unterer Ebene der Regierungsadministration abgesegnet worden ist, oder kann man davon ausgehen, daß dies bis in die Spitzen der Regierung sanktioniert worden ist?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann das nicht bestätigen. Ich kann mich nur auf die Unterlagen stützen, die uns vorliegen, und auf die Untersuchungen, die in den zuständigen Ressorts an Hand der vorliegenden Unterlagen angestellt werden. Es ergibt sich bis heute keine abschließende
Bewertung. Ich kann das also nicht bewerten, kann auch dem, was Sie formuliert haben, nicht zustimmen. Wir sind bemüht, dies rechtzeitig zu tun. Wir können heute, nach dem gegenwärtigen Sachstand, die Vorgänge nicht bewerten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Peter Conradi.
Wie bewerten Sie — unabhängig von der haushaltsrechtlichen Beurteilung — diese Zahlungen angesichts der Tatsache, daß die derzeitige Bundesregierung der Republik Polen Mittel für ihre Grenzsicherungsanlagen zukommen läßt?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, hier handelt es sich um zwei Paar Stiefel, um Birnen und Äpfel, die man nicht vergleichen kann. Ich möchte mich auf ein Magazin beziehen, in dem aus einer Vorlage zitiert wird. Ich will das hier nicht zitieren, weil ich das nicht bewerten kann. Ich hüte mich davor, dies zu tun, bevor die Dinge abschließend beurteilt sind.
In dem einen Fall handelt es sich um Grenzsicherungsanlagen innerhalb Deutschlands, um die Grenze zur ehemaligen DDR. Laut diesen Papieren der SED — dies implizierte die Frage — sollen die Kosten für die Grenzsicherungsanlagen auf eine andere Weise finanziert worden sein. Da mir dies nicht in der abschließenden Bewertung vorliegt, kann ich dies nicht einschätzen. Ich kann Ihnen aber sagen: Wir sind sehr froh — auch im Hinblick auf den Kompromiß und die Debatte in der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Wochen —, daß wir mit Polen abschließend diese Fragen der Rückübernahme von Flüchtlingen geregelt haben.
In diesem Zusammenhang ist es eine Selbstverständlichkeit, daß wir uns gemeinsam bemühen — auch im Hinblick auf das Schengener Abkommen und auf ähnliche Vorgänge —, eine entsprechende Grenzsicherung mit normalen Mittel zu betreiben. Daß es dabei unter Umständen auch gegenseitige Hilfe geben kann, scheint mir bei der Wichtigkeit der Aufgabe selbstverständlich zu sein. Das ist eine ganz andere Situation als die, die hier angeführt wird, wobei ich dies — das sage ich ausdrücklich noch einmal — heute nicht bewerten will.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Freimut Duve.
Herr Staatsminister, Sie haben sich ja eben schon von der herabsetzenden und polemisierenden Form des Fragestellers distanziert. Ich frage die Bundesregierung, ob es zwischen der Bundesregierung und einem Fragesteller des Deutschen Bundestages irgendeine Kontaktaufnahme zwischen der Bundesregierung insgesamt und dem Fragesteller zur Vorbereitung dieser speziellen Fragestellung gegeben hat. Ja oder Nein?Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich kann für mich persönlich erklären, daß es diese vorherige Aufnahme über die Fragestellung nicht gegeben hat. Da ich der Beantworter bin, war ich frei in meiner
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Staatsminister Bernd SchmidbauerEntscheidung, diese Frage zu beantworten. Ich kenne die Praxis, die Sie angesprochen haben, auch nicht.
Dies war eine Frage, die nach unserem Regelwerk eigentlich nicht hierher gehört hätte,
aber doch im Sachzusammenhang steht. Infolgedessen bin ich der Meinung, daß wir jetzt eine zusätzliche Frage zulassen können, mit der Sie, wenn Sie es so geschickt anstellen wie der Kollege Duve, in Frageform darauf eingehen können.
Bitte, Herr Kollege Stockhausen.
Herr Kollege Duve, ich möchte feststellen, daß es für mich nicht der Anregung durch die Bundesregierung bedarf, zu solch einem sensiblen Bereich auch zu meiner Aufklärung eine Frage zu stellen. Ich möchte doch darum bitten, daß Sie nicht Ihre eigenen Praktiken auf mich übertragen.
Schönen Dank.
Herr Stockhausen, wenn Sie wenigstens gesagt hätten: „Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen ...?"
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Präsident, gestatten Sie mir eine Schlußbemerkung: Aus meinen Aussagen kann nicht, auch nicht von Herrn Kollegen Duve, herausgelesen werden, daß ich meinem Parteifreund und Fraktionsfreund in irgendeiner Weise Ratschläge oder entsprechende Rügen erteilt hätte. Ich habe das geantwortet, was auf seine Frage zu antworten war.
Ich rufe die Frage 38 auf, die ebenfalls der Kollege Stockhausen gestellt hat:
Wenn ja, wie beurteilt die Bundesregierung heute diese angeblich am 22. Dezember 1977 geschlossene Vereinbarung, die Verwendung der Mittel zu verschleiern?
Ich bitte um Beantwortung, Herr Staatsminister.
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich habe die Frage bereits dahin gehend beantwortet, daß die Bundesregierung gegenwärtig keine Beurteilung vornimmt und dem entsprechenden Ausschuß die Berichte vorlegen wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Stockhausen.
Ich akzeptiere die Zurückhaltung, weil die Fakten noch nicht endgültig klar sind. Aber, Herr Staatsminister, ich lege Wert darauf, daß die Abgeordneten dann, wenn die Ermittlungen und das, was zur Aufklärung notwendig ist, abgeschlossen sind, wenigstens einen Überblick darüber bekommen, wie alles gewesen ist.
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Ich hatte bereits zugesichert, daß wir den Ausschuß informieren. Damit werden auch alle Abgeordneten entsprechend dem Protokoll informiert.
Herr Kollege Duve.
Herr Staatsminister, seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland bestand ein tiefgreifender Konsens aller politisch tragenden Kräfte, alles zu tun, um —
Bitte, Herr Kollege Duve.
— ich komme zu meiner Frage —
Nach der Geschäftsordnung soll es auch keine Einleitungen dieser Art geben.
— die Sicherheit und Versorgung Berlins durch die Zufahrtswege zu garantieren. Was ist, Herr Staatsminister, das Motiv der Bundesregierung, heute diese Art von Motiv- und Aktenforschung dahin gehend öffentlich zu erörtern, in welcher Weise die Sicherung Berlins unter den Bedingungen, unter denen alle Bundesregierungen diese Politik haben machen müssen, hat erfolgen müssen?
Herr Kollege Duve, das war jetzt nicht in Ordnung. Die Frage lautet:
Wenn ja, wie beurteilt die Bundesregierung heute diese angeblich am 22. Dezember 1977 geschlossene Vereinbarung, die Verwendung der Mittel zu verschleiern?
Wenn Sie zu diesem direkten Thema eine Zusatzfrage haben, können Sie sie stellen. Wenn Sie aber versuchen, die Motive der sozialliberalen Regierung im damaligen gesamtpolitischen Zusammenhang als Gegenposition darzustellen, dann gehört das in eine Debatte, aber nicht in die Fragestunde.
Gut, ich werde es knapp machen. Zusatzfrage zur Frage 38 des Abgeordneten Karl Stockhausen : Was ist das politische Motiv, diese schwierigen Fragen der Verbesserung der Zufahrtswege nach Berlin in der Weise öffentlich zu erörtern, wie sie von dem Kollegen Stockhausen verlangt worden ist?Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege Duve, ich will jetzt, was ich eigentlich nicht vorhatte, aus einer Vorlage zitieren, die wir nicht vorliegen haben — das war ja auch Gegenstand der Frage; jede Regierung ist verpflichtet, dem nachzugehen —:In vertraulichen Gesprächen erklärte Gaus, daß die Regierung der BRD mit Rücksicht auf die Opposition nicht in der Lage sei, neben den reinen Straßenbaukosten die Kosten für die Grenzsicherungsanlagen in die Vereinbarung aufzunehmen. Er sicherte zu, diese Kosten im Rahmen von anderen Zahlungen der BRD an die DDR zu begleichen.Das heißt, hier wird etwas zitiert, aus dem hervorgeht, daß unter Rücksichtnahme auf die damalige Opposition die Dinge in der beabsichtigten Form nicht
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Staatsminister Bernd Schmidbauer„handlebar" seien und man nach Wegen suchen müsse, um dies entsprechend zu finanzieren. Das ergibt sich aus SED-Papieren, die im Rahmen einer öffentlichen Diskussion zitiert werden. Uns liegen aus anderen Ministerien ähnliche Papiere vor. Wir können die Dinge allerdings nicht abschließend bewerten. Wir sind aber natürlich gehalten, solchen Dingen nachzugehen, wenn es um derartige Fragen geht.Da ich aber in meiner Art und Weise der Beantwortung entsprechend verfahren bin, können Sie davon ausgehen, daß dies nicht mißbraucht oder genutzt wird, sondern daß die Betroffenen unter Umständen von der Bundesregierung zu diesen Vorgängen gehört werden. Ob das eine solche Bedeutung hat, daß wir aus diesem Grunde größere Untersuchungen anstellen müssen, will ich in die Obliegenheiten der zuständigen Ministerien stellen.
Die Frage 39 der Kollegin Ingrid Köppe soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 40 auf, die der Kollege Peter Conradi gestellt hat:
Wann wird der Bundeskanzler den für die undemokratischen Praktiken der CDU Hamburg bei der Kandidatenaufstellung für öffentliche Wahlen und damit für das Urteil des Hamburger Verfassungsgerichts, das Neuwahlen in Hamburg notwendig macht, verantwortlichen CDU-Vorsitzenden Hamburgs, den Parlamentarischen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Jürgen Echternach, entlassen?
Ich bitte um Beantwortung.
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Mit großem Vergnügen.
Herr Präsident und lieber Herr Kollege, der Herr Bundeskanzler beabsichtigt nicht, dem Herrn Bundespräsidenten die Entlassung des Herrn Parlamentarischen Staatssekretärs Echternach aus seinem Amt vorzuschlagen. Im übrigen erlaube ich mir den Hinweis, daß Herr Echternach nicht Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, sondern im Bundesministerium der Finanzen ist und seit dem 29. Februar 1992 auch nicht mehr Landesvorsitzender der Hamburger CDU ist.
Zusatzfrage, Herr Kollege Conradi.
Ich danke für den Hinweis. Der Staatssekretär ist mir aus den Augen gekommen.
Sieht der Bundeskanzler nicht den schweren Schaden, der für die parlamentarische Demokratie und das Ansehen der politischen Parteien durch die undemokratischen Praktiken in Hamburg entstanden ist, und sieht er nicht, daß in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie der Mann, der dafür die Verantwortung trägt, den Hut zu nehmen hätte?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege, auch insoweit macht es mir große Freude, Ihnen darauf eine kurze Antwort zu geben. Das Urteil liegt uns nicht in schriftlicher Form vor. Wir können also zu keiner Bewertung gelangen. Da ich aber in etwa annahm, in welche Richtung dies gehen würde, habe ich mir eine Pressemitteilung des Hamburgischen Verfassungsgerichts von der Gerichtspressestelle
besorgt. Als abschließende Bewertung lese ich dort folgenden Satz:
In einer abschließenden Bemerkung
— das kommt dann auch in der Bewertung, die sich auf Herrn Echternach als Vorsitzenden bezieht, zum Ausdruck —
hat das Gericht herausgestellt, daß diese Entscheidung
— gemeint ist die Entscheidung, die das Gericht gefällt hat —
keineswegs ein Verdikt über die CDU in Hamburg, eine große und auch demokratische Volkspartei, sei. Das Gericht sei sicher, daß die demokratische Kraft und Flexibilität in dieser Partei so gefestigt und sicher seien, daß die notwendigen Änderungen im Kandidatenfindungsverfahren schnell und überzeugend bewältigt würden.
Das macht wohl deutlich, wie das Bild der CDU im Rahmen dieses Urteils aussieht. Auch dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Conradi.
Ist dem von Ihnen geäußerten Vergnügen, Herr Staatsminister, zu entnehmen, daß der Herr Bundeskanzler dem Staatssekretär Echternach empfohlen hat, als Spitzenkandidat in Hamburg vor den Wählern für das geradezustehen, was er angerichtet hat?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Aus meinem Vergnügen und meiner positiven Grundhaltung können Sie solche Dinge nicht schließen.
Nächste Zusatzfrage, Herr Kollege Duve.
Da uns allen das Urteil noch nicht vorliegt: Könnte es nicht sein, daß das Lob für die Hamburger CDU, das Sie soeben zitiert haben, auch darin begründet ist, daß der Verantwortliche für die untersuchte Periode, die durch den Klagesteller in Rede stand, nun nicht mehr das Amt des Landesvorsitzenden der CDU in Hamburg ausübt?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Herr Kollege Duve, ich lese nicht im Kaffeesatz. So wenig wie Ihnen liegt mir dieses Urteil vor. Ich will mich keiner Spekulation hingeben und auch nicht zu ähnlichen Schlüssen wie Sie kommen. Ich habe vorhin zitiert, was das Gericht gesagt hat. Es handelt sich um eine längere Presseerklärung. Ich bin bereit, sie Ihnen nachher zur Verfügung zu stellen, zumal sie im Moment die einzige Pressemitteilung des Hamburgischen Verfassungsgerichts ist.
Eine Zusatzfrage von Frau Kollegin Dobberthien.
Herr Staatsminister, teilt die Bundesregierung mit mir die Auffassung, daß der Bock zum Gärtner gemacht würde, wenn in Zeiten öffentlicher Finanznot, in denen die Löcher der
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13414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Dr. Marliese Dobberthienöffentlichen Haushalte zu Lasten und zum Nachteil der sozial Schwachen gestopft werden sollen —
Frau Kollegin, Zusatzfragen müssen zur Frage gestellt und dürfen nicht mit Bewertungen eingeleitet oder kommentiert werden. Wir haben eine Geschäftsordnung.
—, ausgerechnet ein Finanzstaatssekretär, der dafür hauptverantwortlich ist, daß in Hamburg eine Wahl durchgeführt werden muß, die 12 Millionen DM kostet, im Amt bliebe?
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Frau Kollegin, ich kann mich heute nicht über die Entscheidung des Verfassungsgerichts äußern. Warten wir die Entscheidung ab. Ein Satz war richtig: Der Bock kann nie zum Gärtner gemacht werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Stockhausen.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß man, wenn moralische Noten vergeben werden, auch genausogut fragen müßte, ob ein Mann, der seine Pension nicht berechnen kann, noch Ministerpräsident sein kann?
Herr Kollege Stockhausen, Sie sind Ihren Satz zwar losgeworden, aber auch das war nicht im Rahmen der Geschäftsordnung.
Bernd Schmidbauer, Staatsminister: Das erübrigt auch eine Beantwortung. Wer selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
So ist es, Herr Staatsminister.
Ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Die Sitzung wird um 15 Uhr mit der Aktuellen Stunde fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Ich darf die unterbrochene Sitzung wieder eröffnen und rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zum drohenden
Ausbildungsnotstand in Ostdeutschland
Die SPD hat diese Aktuelle Stunde beantragt. Ich eröffne dazu die Aussprache. Als erster hat der Kollege Hilsberg das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Deutschland droht der Ausbildungsnotstand. In Ostdeutschland fehlen die Ausbildungsplätze, und in Westdeutschland fehlen die Facharbeiter. Heute reden wir zwar bloß über den Ausbildungsnotstand im Osten, aber wir müssen uns darüber im klaren sein, daß der Notstand selber sehr viel weiter reicht. Eigentlich ist das ein Thema der Bildungspolitik. Trotzdem muß man vorher einen Ausflug in die Wirtschaftspolitik unternehmen.Jeder weiß, daß der Ausbildungsnotstand im Osten in erster Linie durch die wirtschaftliche Misere in Ostdeutschland selber verursacht wird, und die ist vor 1989 entstanden. Sie ist aber auch durch schlechte Reformen von Modrow und vor allem durch die katastrophale Treuhandpolitik verschuldet worden.Seit 1991 weigert sich diese Bundesregierung, eine konsequente Industriepolitik zu betreiben. Statt zu handeln, sitzt sie eine Liquidation nach der anderen, eine Stillegung nach der anderen schlicht aus. Darunter leiden natürlich auch die Ausbildungsplätze. Aber die Bundesregierung läßt sich von ihrer altbewährten Devise leiten „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht" und tut nichts. Darüber müssen wir heute reden.Die beste Berufsausbildung ist die betriebliche Ausbildung, und diese ist in Ostdeutschland Mangelware. Nach dem letzten Stand finden knapp 56 % aller Jugendlichen einen betrieblichen Ausbildungsplatz und 14 % aller Jugendlichen einen überbetrieblichen Ausbildungsplatz. Das mag noch akzeptabel sein. Aber für die restlichen 30 % ist zur Zeit auch schon Neese.Im letzten Jahr gab es noch die Ausbildung über die freien Trager. Vom Arbeitsamt wurden die ausbildungsplatznachfragenden Jugendlichen direkt an die Ausbilder vermittelt. Diese Ausbildung war zwar, wie Sie alle wissen, nur halb so gut; dafür hatte aber auch jeder eine Ausbildungsplatzgarantie. Diese Regelung — das wissen Sie — ging auf die letzte, immerhin frei gewählte Volkskammer zurück. Sie ist — das sei nur nebenbei bemerkt — von der jetzigen Arbeitsministerin von Brandenburg, Regine Hildebrandt, durchgesetzt worden.
— Ja, in sozialen Fragen ist sie schon immer kompetent gewesen.
— Was die Jugendlichen betrifft, so sehen wir ja das Ergebnis.
Meine Damen und Herren, Sie wissen doch, daß diese Regelung ausläuft, die Regine Hildebrandt in den Einigungsvertrag hineingebracht hat. Das ist seit einigen Jahren bekannt. Und was tut die Bundesregierung? — Sie tut nichts.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13415
Stephan Hilsberg— Entschuldigen Sie, hier, in diesem Raum, habe ich die Bundesregierung gefragt, was sie denn machen will, wenn diese Regelung ausläuft und nicht genug Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen.
Wissen Sie, was sie geantwortet hat? Vor einem halben Jahr war das, und Staatssektretär Wolfgramm hat mir persönlich geantwortet und gesagt, es läge kein Handlungsbedarf vor.
Vor einem halben Jahr hat er gesagt, es gebe keinen Handlungsbedarf.Wissen Sie, was ein Merkmal guter Politik ist? — Vorausschauendes Handeln.
Jeder Autofahrer weiß das. Sehen Sie, das Problem ist doch seit einem halben Jahr bekannt. Ist es inzwischen schon gelöst? Ich sehe das nicht. Offenbar liebt die Bundesregierung den Nervenkitzel. Es geht hier nicht allein um Politik, auch nicht allein um das Verhalten der Bundesregierung. Sie müssen sich in die Situation der 15- bis 16jährigen Jugendlichen versetzen; denn die sind vorausschauend. Sie haben sich Gedanken gemacht und wissen seit Anfang September vorigen Jahres, daß sie in diesem Jahr eine Lehre anfangen wollen. Sie sind herumgewetzt, überallhin, und sie haben versucht, einen Ausbildungsplatz zu finden. Sieben von zehn haben inzwischen einen, drei von zehn haben keinen.Wissen Sie, was die jetzt machen? — Die rennen zur Handwerkskammer, zu beliebigen Betrieben, zur Industrie- und Handelskammer. Sie rennen in die Kreisverwaltung, gehen in ihre Schule und auch zum Arbeitsamt. Sie gehen hin und zurück, und überall sagt man ihnen: Tut mir leid, im letzten Jahr gab es eine Regelung, nach der ihr einen Ausbildungsplatz bekommen hättet; in diesem Jahr nicht.Sie kommen natürlich auch zur mir und fragen, was sie unter diesen Bedingungen machen sollen.
— Ich werde Ihnen sagen, was ich da antworte. Ich habe nämlich meine Erfahrungen mit dieser Bundesregierung gemacht.
— Ja, ich habe durchaus Erfahrungen. —Da sage ich nämlich: Wissen Sie, nach meiner Erfahrung ist es so, daß die Bundesregierung immer dann handelt, wenn ihr das Wasser bis zum Halse steht. Das wird sie auch diesmal tun. Man hört ja gerüchteweise, daß eine Regelung in Anmarsch ist, die etwa der auslaufenden gleichgesetzt werden kann. Nur ist sie bis jetzt noch nicht da. Da kann ich nur sagen: Gut, wartet ab! Dazu gehören aber für jemanden, der noch keinen Ausbildungsplatz hat, ganz schön viel Nerven.Dann muß er vielleicht noch ein oder zwei Monate warten.
— Ich kann mir keine Ausbildungsplätze aus den Rippen schneiden, und ich würde das Problem auch anders angehen.
Kollege Hilsberg, ich darf darauf hinweisen, daß wir uns in einer Aktuellen Stunde befinden, in der es fünf Minuten Redezeit — und nicht mehr — gibt.
Gut, ich komme sofort zum Schluß.
Die Jugendlichen suchen sich jetzt andere Auswege. Einige gehen zum Abitur, manche machen gar nichts, sehr viele gehen in den Westen. Dadurch ist das Problem dann, wenn die Bundesregierung gehandelt hat, weitestgehend vom Tisch, und das ist dann der „große Erfolg" der Bundesregierung, wenn uns im Sommer ihre Lösung paukenschlagartig auf den Tisch purzelt. Das ist dann der „große Erfolg" der Bundesregierung gewesen!
Vielen Dank.
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Vor zwei Wochen standen wir hier am Rednerpult, um zum Berufsbildungsbericht Stellung zu nehmen. Wenn Sie die Reden nachlesen, stellen Sie fest, daß Redner sowohl der Koalition als auch der Opposition bei dieser Debatte auf die Ausbildungssituation im gesamten Bundesgebiet und insbesondere in den neuen Bundesländern eingegangen sind.In den vergangenen 14 Tagen hat sich die Situation nicht verändert. Warum also heute diese Debatte?
Es ist das gleiche Schauspiel wie in den letzten Jahren: Die SPD inszeniert Aktuelle Stunden, um die jungen Menschen in den neuen Bundesländern zu verunsichern und zu verängstigen.
Es ist sicher richtig, auf Ausbildungsplatzprobleme in den neuen Bundesländern aufmerksam zu machen, aber es ist sicher nicht richtig, Hiobsbotschaften zu verbreiten und Schreckgespenster an die Wand zu malen. Das, was in den letzten Jahren der Fall war, wird auch in diesem Jahr wieder eintreten.
Die Opposition spricht im Frühjahr von einer Lehrlingskatastrophe, um dann im Herbst festzustellen, die Zahlen hätten sich doch anders entwickelt als ursprünglich angenommen.
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Maria EichhornIn den vergangenen drei Jahren ist es gelungen, nahezu allen Jugendlichen in den neuen Bundesländern einen Ausbildungsplatz zu verschaffen — ein Ergebnis, das durch die gemeinsamen Anstrengungen aller Verantwortlichen in der beruflichen Bildung erreicht wurde. Wirtschaft, Treuhandanstalt, Bundesanstalt für Arbeit sowie der Bund und die neuen Länder haben in den vergangenen Jahren bewirkt, was auch 1993 unser gemeinsames Ziel ist: Jeder Jugendliche, der dies will, soll einen Ausbildungsplatz erhalten. Wie auch schon in den letzten Jahren weisen die Zahlen der Arbeitsämter zur Zeit natürlich noch eine erhebliche Lücke bei den betrieblichen Ausbildungsplätzen aus. Ausbildungsstellenvermittlung und Ausbildungsplatzsuche sind in dieser Jahreszeit, jetzt im Mai, noch in vollem Gange.Die Betriebe sind daher gefordert, ihr Ausbildungsplatzangebot auszuweiten. Die vorhandenen betrieblichen Ausbildungsplatzreserven in den neuen Bundesländern müssen mobilisiert und ausgeschöpft werden. Die Ausbildung im Betrieb ist eine notwendige und gewinnbringende Investition für die eigene Zukunft.
— Es hat sich in der Vergangenheit immer erwiesen, Herr Rixe, daß jeweils Reserven da waren. Diese müssen wir zunächst einmal nutzen.Im Rahmen eines Spitzengesprächs beim Bundeskanzler zum Solidarpakt haben die Vertreter der Wirtschaft zugesagt, sich verstärkt für die neuen Länder zu engagieren. Dazu gehört auch eine mehrjährige Ausbildungsstellengarantie in Ost- und Westdeutschland. Ich appelliere an alle Verantwortlichen in der Wirtschaft, dafür zu sorgen, daß diese Garantie auch eingehalten wird.In einer Veranstaltung der Wirtschaftsverbände, die vor vier Wochen in Berlin stattfand, verständigten sich die Teilnehmer auf einen Maßnahmenkatalog, der die Unternehmen in den neuen Ländern zur Bereitstellung zusätzlicher betrieblicher Ausbildungsplätze motivieren soll — ein Anfang, dem natürlich noch weitere Taten folgen müssen; aber das Problem ist sicherlich erkannt.Meine Damen und Herren, jeder Ausbildungsplatzsuchende in den neuen Bundesländern soll eine Lehrstelle erhalten. Es wird zwar nicht möglich sein, allen Bewerbern eine Ausbildungsstelle am gewünschten Ort und im gewünschten Beruf zur Verfügung zu stellen, aber ich bin überzeugt, daß durch das Zusammenspiel aller Verantwortlichen auch in diesem Jahr das Ziel erreicht wird, allen Jugendlichen in den neuen Bundesländern eine Ausbildung zu ermöglichen.
Nun spricht der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon tief beeindruckend: Am Freitag der letzten Plenarsitzungswoche haben wir genau dieses Themaim Zusammenhang mit der Einbringung des Berufsbildungsberichtes behandelt.
Alle Fraktionen waren sich dahin gehend einig, daß wir die Situation vor allen Dingen in den neuen Bundesländern bezüglich der Berufsausbildung anzugehen haben, und wir haben darauf verwiesen, daß wir alle gleichermaßen in der Pflicht stehen, für 130 000 junge Menschen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen.
— Herr Rixe, was berechtigt Sie dazu zu sagen, daß diese Zahl falsch ist? Nennen Sie mir eine andere, und geben Sie mir dafür den Beweis an! Ich bitte doch darum, nicht immer das Feuer zu schüren. Man wird langsam müde, Sie hier immer wieder aus Ihrer Sicht sprechen zu hören.
Die Absichtserklärung des Kuratoriums der deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, daß jedem jungen Menschen eine Ausbildungsstelle zur Verfügung gestellt werden soll, müssen wir doch auch irgendwo ernst nehmen.
Sie, der Sie selbst einen Handwerksbetrieb in den alten Bundesländern leiten, wissen doch: Wenn die Kammern so etwas sagen, dann muß man dem doch zunächst einmal Glauben schenken.
Wir sind uns doch in allen drei Fraktionen einig, daß wir die Spitzenverbände des Handels, der Industrie, der Landwirtschaft, des öffentlichen Dienstes usw. auffordern wollen, jetzt — noch im Mai beginnend — eine ordentliche Kampagne zu starten, damit dieses ihr Versprechen auch eingelöst werden kann.Meine Damen und Herren, natürlich sind einige Probleme zu erkennen. Es gibt neu gegründete Industriebetriebe, die natürlich noch keine berufliche Ausbildung betrieben haben. Die Wirtschaftsministerien der Länder stehen in der Pflicht, gerade diesen Betrieben eine Unterstützung zu gewähren, damit sie eine berufliche Ausbildung durchführen können.
In einem von sieben Arbeitsamtsbezirken in Thüringen, aus dem ich komme, hat sich in den letzten zwei Jahren gezeigt, daß es sinnvoll ist, im Mai mit der sogenannten Maikäferaktion zu beginnen. Alle Kollegen und Kolleginnen, die in den Arbeitsämtern die Verantwortung für die berufliche Ausbildung tragen, suchen jeden Ausbildungsbetrieb erneut auf und fordern diesen auf, Ausbildungsplätze über das Maß
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13417
Dr. Karlheinz Guttmacherhinaus, das sie bisher angegeben haben, zur Verfügung zu stellen.
Das ist doch richtig, anstatt hier immer wieder zu jammern.Herr Hilsberg, Sie haben gesagt, daß die jungen Menschen zu Ihnen kommen. Die jungen Menschen dürfen doch gar nicht alleingelassen werden. Die Berufsberater müssen zu den einzelnen Ausbildungsbetrieben gehen,
und zum anderen müssen die Spitzenverbände noch einmal besonders aufgefordert werden. Wir hatten im vergangenen Jahr von Mai bis zur Sommerpause Ende Juli in diesem Bezirk für die 2 500 Jugendlichen, die sich zu einer betrieblichen Ausbildung gemeldet hatten, 80 % betriebliche Ausbildungsplätze, und die anderen Ausbildungen erfolgten über dieses uns allen bekannte Förderprogramm nach § 40c Abs. 4 AFG/ DDR als überbetriebliche Ausbildung.
— Ist doch richtig,
aber jetzt stehen wir in der Verantwortung, daß wir diese Differenz auffangen müssen,
damit die Betriebe, die neugegründeten Betriebe — —
— Wir wissen doch alle, welcher Bauboom jetzt in den neuen Bundesländern Einzug gehalten hat,
wieviel Handwerksbetriebe sich so konsolidiert haben, daß sie mehr ausbilden können als im vergangenen Jahr.
Nur müssen wir sie dazu in die Pflicht nehmen.Meine Damen und Herren, das Jammern nützt hier nichts. Die Ausbildung bzw. Nachwuchssicherung ist und bleibt zunächst eine Sache der Wirtschaft.
Das Bundesbildungsministerium steht natürlich in der Pflicht, Sorge dafür zu tragen, daß die Berufsausbildung so wie auch in den letzten Jahren ohne Ihre Katastrophenmeldungen wieder durchgezogen wird.
Wir haben im Sommer zu entscheiden, wenn Herr Ortleb einen Kabinettsbericht vorlegen wird und wir wissen, wie die Situation dann wirklich aussieht,
ob wir möglicherweise ein neues Programm auflegen.Danke.
Nun spricht der Kollege Dr. Dietmar Keller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kritisiere natürlich auch die SPD — nicht wegen der Aktuellen Stunde, sondern weil sie von einem drohenden Ausbildungsnotstand spricht. Ich sage Ihnen ehrlich: Ausbildungsprobleme gibt es nicht erst seit gestern, sondern seit mehr als tausend Tagen.
— Tausend Tagen.Nun weiß ich — ich bin ja kein Ignorant —, daß die gegenwärtige Situation in der Ausbildung vor allem wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Natur ist und mit der Geschichte der DDR und mit dem Übergang von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft sehr eng zusammenhängt. Das Problem wird auch morgen nicht lösbar sein. Zu diesem Anteil, den die DDR daran hat, spreche ich kritisch und selbstkritisch.Ich frage aber auch kritisch, ob die Regierung und die Koalitionsfraktionen, die die Regierung tragen, alles in ihren Kräften Stehende getan haben, um diese Situation zu verändern. Ich bezweifle, daß sie das getan haben. Sie haben etwas viel Schlimmeres gemacht.Vielleicht haben sie es wirklich nicht gesehen. Dann könnte man es möglicherweise noch entschuldigen. Aber sie sind ja klug. Sie haben ja gewußt, daß dieser wirtschaftliche Aufschwung, diese „blühenden Landschaften" nicht über Nacht entstehen bzw. daß der Aufbau einer Industrie und einer Wirtschaft ein jahrelanges Programm ist.
— Entschuldigung, Herr Hilsberg, ich verstehe Sie überhaupt nicht. Ich habe doch eindeutig gesagt, daß die Entwicklung ihre tieferen Ursachen in der Geschichte der DDR hat. Das kann ich jeden Tag wiederholen, wenn Sie das hören wollen.
— Das ist kein Lippenbekenntnis; das können Sie mir nicht unterstellen. Woher wollen Sie wissen, was ein Lippenbekenntnis ist und was nicht? Sie wissen doch viel zu wenig von dem, was ich mache, was meine tägliche Arbeit ist. Ich unterstelle Ihnen doch auch
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Dr. Dietmar Kellernicht, daß Sie ein Lügner sind. Das ist kein Stil der Arbeit miteinander.Das Problem ist, daß es die Bundesregierung versäumt hat, den jungen Menschen beizeiten zu sagen, daß es Probleme gibt.
Die Problemlösung besteht nicht darin, daß wir jetzt plötzlich glücklich sind, daß vielleicht alle einen Ausbildungsplatz bekommen. Die jungen Menschen haben eine Zielvorstellung, was sie werden wollen. Damit ist doch ihr ganzes Leben verbunden. Wenn sie jetzt etwas lernen sollen, was sie nicht wollen, bei dem sie auch noch gar nicht wissen, ob sie überhaupt die Chance haben, später einen entsprechenden Arbeitsplatz zu bekommen, dann entsteht eine Frustration bei jungen Menschen, die von uns allen nicht mehr kanalisiert werden kann, die in alle möglichen Richtungen geht und nicht dazu beiträgt — ich wiederhole meine Ausführungen vom 30. April an diesem Pult —, daß es zu einer geistigen Einheit in Deutschland kommt. Wir schaffen mit Lücken und mit Versäumnissen in unserer Haltung zu jungen Menschen die Probleme der nächsten Jahrzehnte.Meine Kritik an der Bundesregierung — ich spreche bewußt von der Bundesregierung, weil das für mich nicht in erster Linie ein Bildungsproblem, sondern vorrangig ein wirtschaftspolitisches Problem ist —
lautet: Wenn wir im Osten nichts machen, um die Wirtschaft dort anzusiedeln, werden dort keine Ausbildungsplätze entstehen. Wenn keine Ausbildungsplätze entstehen, dann können wir zwar fördern und organisieren, aber es wird immer nur eine Notnagelsituation bleiben. Mit dieser Notnagelsituation werden wir die jungen Menschen enttäuschen. Nichts ist jedoch schlimmer, als wenn man einen Beruf ergreift, den man nicht ergreifen wollte.Eines kann ich Ihnen aus der DDR-Geschichte sagen: Viele mußten etwas werden, was sie nicht werden wollten, und konnten nicht das werden, was sie wollten. Das hat zu sehr viel Widerstand und natürlich auch zu Frustration sowie zu Widersprüchen geführt, die letztendlich auch den Zusammenbruch der DDR herbeigeführt haben. Das wollte ich hier nur sagen, damit wir nicht in fünf Jahren, wenn wir dann größere Probleme haben, darüber rätseln, wo die tieferen Ursachen dafür liegen.Ich denke, es hat keinen Zweck, Verantwortung hin und' her zu schieben. Es ist die Verantwortung des deutschen Parlaments, die deutsche Regierung darauf aufmerksam zu machen und zu kontrollieren, daß wir nicht mit Worten etwas schönreden, was in der Praxis viel viel komplizierter und schwieriger ist.Danke.
Nun spricht der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Rainer Ortleb.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Versetzen Sie sich einmal in meine Lage.
Sie werden von mir keine Rede finden und mir vorhalten können, in der ich dieses Problem etwa verniedlicht hätte. Ich habe genauso deutlich wie mancher Vorredner — ob nun aus meiner oder aus anderer politischer Sicht dargestellt — darauf hingewiesen, daß die Ausbildungssituation in den neuen Ländern problematisch ist. Aber das Problem ist nicht unlösbar. Wenn wir uns hier gegenseitig darüber verständigen, daß wir Verantwortung für die Jugend tragen, dann bezieht sich das wohl in erster Linie darauf, dieser Situation gemäß zu handeln und keinen parlamentarischen Schaukampf zu veranstalten.
Ich habe das dritte Mal die Aufgabe, dieses Problem zu lösen. Die Situation stellt sich schwieriger als in den beiden vergangenen Jahren dar.
— Das habe ich schon mehrfach gesagt. — Das liegt daran, daß wir erstens den Automatismus des § 40 c AFG/DDR nicht mehr haben und daß wir zweitens mit einem etwas verstärkten Jahrgang rechnen müssen. Das ist uns sehr wohl bewußt.
Ich kann Ihnen aber auch vermitteln, daß es nicht gut tut, wenn man ein schwer überschaubares Gestrüpp von Fördermitteln entwickelt, das möglicherweise gerade verhindert, was Sie ja einfordern, nämlich die Wirtschaft in Ordnung zu bringen.
Wenn wir nach Methoden der Planwirtschaft — bei denen mir sicher auch Herr Keller bestätigt, daß sie nicht ganz erfolgreich waren — Vermittlungen in Stellen vornehmen, die keinen gesunden wirtschaftlichen Hintergrund haben, solange wir noch nicht die Möglichkeiten der Wirtschaft voll ausgeschöpft haben — und ich muß Ihnen sagen: Wir sind erst in der Mitte des Vermittlungsjahres —, dann ist das nicht in Ordnung. Auch wenn das hier nicht jeder glauben will: Bereits vor einem Jahr und vor zwei Jahren hätten wir zur gleichen Uhrzeit in diesem Hause die gleiche Debatte führen können.
Tatsache ist, daß das Problem bisher jedesmal gelöst worden ist. Darauf möchte ich deutlich hinweisen.
Ich werbe um das Vertrauen der Jugendlichen, hier nicht die Flinte ins Korn zu werfen und zu glauben, daß die Bundesregierung untätig wartet. Wenn ich einen Prüfauftrag habe, dann können Sie sich darauf verlassen, daß ich nicht erst am 30. Juni mit der Arbeit anfange, wenn die Ergebnisse am 1. Juli vorliegen sollen.
Bundesminister Dr. Rainer Ortleb
— Ich rechne Ihnen auch gern etwas vor: Drei Monate sind immerhin 25 % der Gesamtzeitspanne. Der Kollege Hilsberg hat ja bestätigt, wenn ich mich nicht verhört habe, daß sieben von zehn Jugendlichen einen Ausbildungsplatz haben, drei allerdings nicht. Ihre Zahl ist sogar günstiger als meine; ich hätte es noch etwas pessimistischer gesehen.
Meine Damen und Herren, ich will auch die Gunst, daß man mir gestattet hat, zehn Minuten zu sprechen, nicht ausnutzen. Das, was gesagt werden mußte, habe ich gesagt. Die Bundesregierung ist sich des Problems bewußt, und wir werden es lösen, ebenso wie vor einem Jahr und wie vor zwei Jahren.
Danke.
Nun spricht der Kollege Dr. Peter Eckardt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, über eines sollten wir uns trotz aller Polemik einig sein: Es geht um ein ernstes Thema. Opposition und Regierung sollten wetteifern, wer die Interessenlage der jungen Leute am besten einschätzt und die Lösung am schnellsten findet. Das, denke ich, ist richtig.
Wenn immer die Geschlossenheit der Opposition angemahnt wird: Hier ist sie vorhanden. Es geht darum, sich in bezug auf die Berücksichtigung der Interessenlage auch der jungen Menschen in den neuen Bundesländern nicht überbieten zu lassen. Es geht nicht darum, sich gegenseitig Versäumnisse vorzuwerfen. Grundsätzlich sollte gesagt werden: Wir müssen dort mehr Ausbildungsplätze schaffen. Herr Minister, das ist auch von Ihnen nicht bestritten worden.Ich will einmal versuchen, Ihnen das an einem Einzelbeispiel zu erläutern. Eine 17jährige junge Frau wird im Juli 1993 in Sachsen-Anhalt die Schule nach der zehnten Klasse verlassen. Im Januar dieses Jahres hat sie sich mit ihren Eltern entschieden: Ich will Versicherungskauffrau werden. Bewerbungsergebnis: keine Chance — trotz guter schulischer Ergebnisse.Im Februar 1993 entschließt sich diese junge Frau, Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz als Einzelhandelskauffrau zu schreiben. Resultat: wiederum kein Ausbildungsplatzangebot.Im März 1993 empfahl ihr das Arbeitsamt Halberstadt, sich als Fleischereiverkäuferin ausbilden zu lassen. Ergebnis: Trotz mehrerer Bewerbungen könne man ihr im August in ihrem Heimatort keinen Ausbildungsplatz anbieten.Im April hat sich die Realschülerin entschlossen, einen Ausbildungsplatz in Niedersachsen zu suchen. Sie will, sofern ihre Suche erfolgreich ist, jeden Tag zweimal — wie etwa 20 000 andere junge Leute aus den neuen Bundesländern auch — über Stunden von Ost nach West und abends von West nach Ost pendeln. Die Statistik erfaßt diese Bewerber um einenAusbildungsplatz nicht, aber sie sind Teil einer traurigen Wirklichkeit.Diese 17jährige Schülerin hat in ihrem Unglück aber noch Glück gehabt: Sie wohnt mit ihren Eltern an der Grenze zu den alten Bundesländern und wird vermutlich einen Ausbildungsplatz bekommen; zwar nicht den gewünschten am Wohnort, aber immerhin. Vielen Jugendlichen wird es 1993 bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, wenn nicht endlich etwas politisch Entscheidendes geschieht, schlechter gehen.38 000 Schulabgängerinnen und Schulabgänger haben bei der Lehrstellensuche vermutlich keinen Erfolg, wenn diese Bundesregierung nicht mehr tut, als bei Verabschiedung des Berufsbildungsberichts im Kabinett titeln zu lassen: Neue Aufgaben nach positiver Bilanz. Deshalb erfolgte übrigens auch die Beantragung dieser Aktuellen Stunde, nicht aber, um Schaukämpfe zu führen.Die Wirtschaft wird dabei zum wiederholten Male aufgefordert, endlich ihre Pflicht im dualen System zu tun und genügend qualifizierte Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Wir gehen allerdings von einem realen Bedarf von 150 000 Ausbildungsplätzen aus, der — deshalb auch das Mißverständnis mit den Zahlen von Stephan Hilsberg — durch Abiturienten, Abgänger aus BVJ-Maßnahmen, Wehrpflichtige und Ausbildungsabbrecher aus dem vergangenen Jahr noch steigen wird. Diese Jugendlichen werden, wie Sie alle wissen, von der amtlichen Regierungsstatistik nicht erfaßt. Sie sind vermutlich schlicht und einfach vergessen worden. Wir müssen deshalb feststellen — das sind keine Unkenrufe, das ist keine Katastrophenmeldung —, die Schere zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsplatzmarkt 1993 öffnet sich in bedenklicher Weise. Politische Appelle, wie sie von vielen Stellen wohlfeil sind, helfen allein nicht. Tatkräftiges Handeln der Regierung ist hier angesagt.Ich denke übrigens auch, daß in den neuen Bundesländen dieser fast nicht mehr zu überbietende Drang, das Gymnasium zu besuchen, u. a. damit zu tun hat, Graf Waldburg, daß es nicht genügend von den Jugendlichen gewünschte qualifizierte Ausbildungsplätze gibt. Schon aus diesem Grund muß man etwas tun.Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Berufsausbildung ist ja mehr als der Gebrauch von Werkzeugen, Bleistiften und Dienstleistungen. Es ist sehr viel menschliches Selbstverständnis, es gibt sehr viel soziale und politische Sicherheit, es gibt soziale Stabilität, es läßt die Leute an ihrem Wohnort verwurzeln und vieles andere mehr. Das Pendeln kann nicht erwünscht sein, und es kann auch nicht erwünscht sein, daß wir in zehn Jahren diejenigen, die jetzt nicht nach ihrem Wunsche ausgebildet werden, durch teure Maßnahmen des Arbeitsförderungsgesetzes nachträglich noch ausbilden.Im Interesse der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse und der Bedeutung der Berufsausbildung in Deutschland müssen wir das kritisieren, was die Regierung bisher nicht getan hat. Eine Änderung der Berufsbildungspolitik ist nötiger denn je. Ausbil-
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Dr. Peter Eckardtdungsplätze, qualifizierte Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern tun not. Wir wollen dabei, so gut es geht, mithelfen, aber die erste und vordringliche Aufgabe, Herr Minister, liegt bei dieser jetzt im Amt befindlichen Regierung.Danke schön.
Nun hat der Kollege Dr. Rainer Jork das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zweifelsfrei ist Handlungsbedarf bei der Lehrstellensicherung in den neuen Bundesländern in diesem Jahr besonders gegeben; denn erstens zeigen die Aprildaten der Bundesanstalt für Arbeit gegenüber denen des Vormonats keine Besserung, zweitens werden mehr betriebliche Plätze benötigt als im Vorjahr, und drittens steht das Instrumentarium des § 40 c AFG der DDR nicht mehr zur Verfügung.
Am 30. April empfahl ich dazu folgende Strategie: erstens Bestärkung der Wirtschaft hinsichtlich der Stellengarantie; zweitens konstruktiv-kritische Begleitung der Bundesregierung — ich ergänze dies heute gern mit dem Hinweis, daß sicher Sondermaßnahmen erforderlich sind; die Bundesregierung möge diese rechtzeitig haushaltswirksam verankern, also finanziell sichern
— das paßt voll rein, Herr Kuhlwein; Sie können gern einmal nachlesen, was ich in der vorigen Woche gesagt habe —;
drittens Ersatzlösungen für die in § 40 c AFG — auch das habe ich vorige Sitzungswoche gesagt — angebotenen Leistungen; viertens für die Folgezeit konzertierte Aktionen zur Lehrstellenbereitstellung.
Diese vier Punkte trug ich also vor genau zwölf Tagen hier im Plenum im Rahmen der Diskussion zum Berufsbildungsbericht vor. Seitdem trat — das ist soeben schon gesagt worden — im wesentlichen keine neue Situation ein. Wozu also diese Aktuelle Stunde? Ich frage die SPD: Wollen Sie die Wirtschaft bereits jetzt aus der selbst formulierten Verantwortung entlassen?
Das ist für mich die Kernfrage.
Handeln, nicht reden! Das möchte ich — leider ist er jetzt nicht da — Herrn Hilsberg sagen. Wir dürfen nicht Angst machen, statt zu helfen. Soll hier blockiert werden, anstatt heute dem zu begegnen, wovor ich vor zwölf Tagen warnte: ein ideologisches Ritual auf Kosten der Bewerber abzuziehen? Da würde ich mich lieber um Schlußfolgerungen aus den letzten Bürgersprechstunden im Wahlkreis bemühen.
Und ich sage Ihnen gerne, Frau Fischer, welche das sind. Zum Beispiel ging es um Arbeitsplatzsicherung — und daran hängen auch Lehrstellen — über Her-
mes-Kredite. Ich habe das auf meinem Schreibtisch liegen. Ich nenne bloß Arzneimittelwerk Dresden und Rapido. Es ging um Eigentumsfragen, damit der Bau vorangeht. Auch daran hängen Lehrstellen. Und es ging um Rückkoppelung zu Treuhandentscheidungen. Herr Rixe, ich erinnere daran, daß die Treuhand ein eigenes Lehrstellenprogramm hat, das gut gegriffen hat. Trotzdem sind in privatisierten Betrieben Maßnahmen nötig. Ich rede gern einmal mit Ihnen z. B. über den Betrieb Keradenta in meinem Wahlkreis.
Der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks erklärte am 20. April in Berlin u. a.: Nicht nur am Rande sei vermerkt, daß uns vor einem Jahr in Frankfurt/Oder noch Schönreden und Zweckoptimismus vorgeworfen wurden, als wir eine Lehrstellenprognose wagten. — Das paßt heute voll mit rein.
An diesem 20. April sind auch Maßnahmen — die haben Sie auf Ihrem Schreibtisch liegen — formuliert worden. Aus Zeitgründen kann und will ich das jetzt nicht wiederholen. Es sind Maßnahmen, die die Wirtschaft angehen.
Geben wir — darum bitte ich — der Wirtschaft die Chance
— Herr Rixe, es sind erst drei Wochen vergangen —, die eigenen Maßnahmen abzuarbeiten! Im Interesse der Lehrstellenbewerber erwarte ich, daß die von mir schon genannten Aktivitäten der letzten Woche — ich habe sie soeben teilweise wiederholt — greifen.
Ich fordere die Bundesregierung auf — darüber sind wir uns insgesamt einig —, in geeigneter Weise dann helfend, wirksam einzugreifen, wenn dies erforderlich wird, sofort aber bereits uneingeschränkt so zu agieren, wie es im Berufsbildungsbericht steht. Ich lese Ihnen jetzt einmal einen Satz vor, Herr Rixe: Mit Blick auf 1993 gilt es deshalb, die laufenden Aktivitäten der Bundesregierung, der Länder und der Wirtschaft unvermindert fortzusetzen.
Ich würde Sie als Opposition und die Bundesregierung dort gern greifen. Und an Sie als SPD die Bitte: Helfen Sie mit, lassen Sie das Katastrophenszenario!
Danke.
Und nun spricht die Kollegin Evelin Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich vor fast zweieinhalb Jahren das erste Mal dieses Wasserwerk betrat — ich gebe zu, mit Herzklopfen, mit einem Gefühl, das ich auch heute noch nur schwer beschreiben kann —, hatte ich keine Ahnung vom parlamentarischen Prozedere. Ich hatte keine Ahnung von dem, was mich wohl hier in diesem Gemäuer erwartet und wie diese Arbeit hier anzupacken sei.
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Evelin Fischer
Heute, zweieinhalb Jahre später, weiß ich, es ist nicht viel anders als bei mir in der Schule: Es werden eine ganze Reihe von Kursen angeboten, mehr oder weniger gut besetzt. Es werden eine ganze Reihe von Hausaufgaben verteilt, mehr oder weniger gut gemacht.
Es wird gelobt, meistens sich selber, getadelt und bewertet.
Frau Eichhorn, die Debatte in der vergangenen Sitzungswoche über die Ausbildungsplatzsituation in den neuen Ländern war die Einführungsstunde. Und da bekanntlich Übung die Erkenntnisse festigt, machen wir heute eine Übungsstunde,
und zwar eine Übungsstunde besonders über die Situation ostdeutscher Frauen und Mädchen in der Berufsausbildung. Wenn schon das Ausbildungsplatzangebot im allgemeinen bescheiden ist, dann muß ich sagen, daß das Ausbildungsplatzangebot für Frauen noch viel trüber aussieht.
Fangen wir einmal bei diesem verballhornten Satz aus dem Berufsbildungsbericht, der mich unheimlich gefesselt hat, an. Da heißt es, daß sich für Frauen angesichts der schwierigen Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation eine geschlechtsspezifische Konzentration auf ein beschränktes Spektrum an Ausbildungsberufen ergeben hat. Das bereits erwähnte Fallbeispiel meines Kollegen Eckardt zeigt aber gerade, daß sich die junge Frau nicht an dieses beschränkte Spektrum halten wollte. Sie hatte gar keine andere Chance.Hinzu kommt, daß gerade in den von Mädchen stark nachgefragten Berufen in erheblichem Umfang eine Berufsausbildung in überbetrieblichen Einrichtungen, jetzt mehrmals schon genannt, die nach § 40 c Abs. 4 AFG gefördert werden, aufgenommen wurde. Das trifft vor allem auf Dienstleistungs- und Verwaltungsberufe zu. 1992 wurden doppelt so viel Mädchen wie Jungen über § 40c Abs. 4 AFG gefördert. Ausgerechnet dieser Paragraph läuft aus, ohne über eine Nachfolgeregelung nachgedacht zu haben oder nachzudenken. Das heißt: Ich will nicht unterstellen, daß nicht nachgedacht wurde, aber entschieden wurde noch nicht. Ich denke, es ist höchste Zeit.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die Bundesregierung durch den Wegfall des § 40c AFG die Konzentration der Mädchen auf ein bestimmtes oder ein beschränktes Spektrum an Ausbildungsberufen auflösen kann. Das kann ja wohl nicht das Ergebnis einer Ursachenforschung sein.Nun könnten meine Kollegen von der Regierungspartei entgegnen, da gebe es doch noch eine Förderung nach § 242h Abs. 3 AFG, mit der Jugendliche in derselben Situation in Regionen mit überdurchschnittlichem Angebotsdefizit in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten ausgebildet werden könnten. — Richtig, dieses Instrumentarium steht zur Verfügung. Bloß sind im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit in diesem Haushaltsjahr nicht die notwendigen Mittel dafür vorgesehen. Vielleicht bekomme ich darauf heute noch eine Antwort.Die Chancen von Frauen im späteren Berufsleben werden also bereits in der Ausbildungsphase beschränkt. Denn in der Regel ist überbetriebliche Ausbildung keine gute Startposition. Frauen werden, wenn überhaupt, auf weniger qualifizierten Arbeits- plätzen beschäftigt, die in einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbssituation einem erhöhten Rationalisierungsdruck ausgesetzt sind. Das heißt, Arbeitslosigkeit von Mädchen und Frauen scheint vorprogrammiert zu sein.Hinzu kommt, daß sich in traditionellen Frauenberufen nun vermehrt männliche Jugendliche ausbilden lassen, weil die Betriebe männlichen Bewerbern um einen Arbeitsplatz zum überwiegenden Teil den Vorzug geben. Als Gründe werden insbesondere höhere Fehlzeiten bei Frauen wegen Familienpflichten angeführt, was bekanntlich zu Massensterilisationen bei jungen Frauen geführt hat und was dennoch keinen Eindruck macht.Hinzu kommt, daß gerade in den von Mädchen angestrebten Berufen eine größere Zahl von Umschülern und Umschülerinnen ausgebildet wird. Ich nenne da nur die Gartenbauberufe.Frauen und Mädchen haben nur dann annähernd ähnliche Chancen wie ihre männlichen Mitbewerber, wenn der Anteil der betrieblichen Ausbildungsplätze erhöht werden kann. Bisher ist das Angebot für sie völlig unzureichend. Es wird wohl fast ausgeschlossen sein, in diesem Jahr ausreichend Ausbildungsplatzangebote für Mädchen bereitzustellen. Ich bezweifle, daß die Appelle an die Wirtschaft greifen werden. Denn das Statement des Hauptgeschäftsführers des DIHT läßt nichts Gutes vermuten. Ich zitiere:Noch im vergangenen Jahr konnten wir uns Hoffnung machen, die betrieblichen Ausbildungsplätze weiter zu steigern. Jetzt müssen wir so realistisch sein und anerkennen, daß die zusätzliche Nachfrage, die auf 20 000 geschätzt wird, durch Angebote von Betrieben kaum gedeckt werden kann.Bitte, ich möchte Ihnen noch etwas sagen: 20 000, das ist eine abstrakte Zahl, an die man sich leicht gewöhnen kann. Und je öfter man sie benutzt, desto mehr gewöhnt man sich an sie. Aber es sind 20 000 Menschen, es sind 20 000 junge Menschen. Deshalb möchte ich mich nicht an diese Zahl gewöhnen. 20 000 ist auch eine Zahl, die man in der Hektik des politischen Alltags schnell wieder vergißt. Aber es sind 20 000 Hoffnungen, 20 000 Träume und Wünsche. Ich möchte diese Zahl nicht vergessen.
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Evelin Fischer
Deshalb ist es wohl allerhöchste Zeit, daß wir alle unsere Hausaufgaben machen.
Nun hat der Kollege Josef Grünbeck das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ende April 1993 wurden in den neuen Bundesländern 63 000 betriebliche Ausbildungsstellen angeboten. Davon waren fast 30 000 noch nicht besetzt. Andererseits gab es 118 000 Bewerber. Davon waren knapp 80 000 noch nicht vermittelt. Diese Zahlen belegen — daran gibt es keinen Zweifel —, daß ein großer Handlungsbedarf besteht. Dabei zeigt sich eine Entwicklung, die man wirklich nicht übersehen darf.
Die Arbeitslosigkeit nimmt insbesondere bei den ungelernten Arbeitskräften immer mehr zu. Die ungelernten Arbeitskräfte haben immer weniger Chancen, weil die Produktion von Massengütern in Billiglohnländer verlagert wird, damit die Unternehmen überhaupt noch weltweit wettbewerbsfähig sind. Die einzige Chance, die drohende Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden, ist eine hohe Qualifikation der Arbeitskräfte. Das heißt, nicht nur der Ausbildung der jungen Generation müssen wir alle Intelligenz und Aufmerksamkeit widmen, sondern auch den ungelernten Kräften, die unbedingt eine qualifizierte und vom Markt geforderte Berufsausbildung erhalten müssen.
Nach wie vor bilden auch die Mädchen eine besondere Gruppe, da viele einen Beruf erlernen, der auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen bietet.
Man darf auch die strukturellen Veränderungen nicht übersehen. Die Vielfalt der Berufsfelder zeigt auf, daß manche ausbildungswilligen Betriebe die entsprechenden Einrichtungen nicht zur Verfügung stellen können und die personellen Voraussetzungen nicht erfüllen können.
Herr Bundesminister, die Idee eines Ausbildungsverbundes könnte hier weiterhelfen. Es geht darum, Ausbildungsbetriebe zu finden, die über den Bedarf hinaus ausbilden, auch wenn sie nicht über alle entsprechenden Einrichtungen verfügen, die für den Beruf notwendig sind.
Hier seien nur folgende Beispiele genannt: Industrielle Elektroniker müssen eine Ausbildung an bestimmten verschiedenen Maschinen haben. Exportkaufleute können in manchen Betrieben nicht ausgebildet werden. Konzerntöchter haben beispielsweise keine eigene Buchhaltung mehr, sonst aber alles, was für eine kaufmännische Ausbildung notwendig ist.
Hier könnten sogenannte Austauschbetriebe gefunden werden, die für eine zeitlich begrenzte Phase sogenannte Gast-Azubis aufnehmen und ihnen die entsprechenden begrenzten Ausbildungsfelder anbieten. Diese Lösung spart Investitionen und Einrichtungen, weil man die in dem Unternehmen vorhandenen nutzen kann. Man spart aber auch überflüssiges Personal, weil man auf die ausbildungsbefähigten und in der Praxis bewährten Kräfte in den Ausbildungsunternehmen zurückgreifen kann.
Der Bildungsminister könnte die Organisation und die Logistik eines sogenannten Ausbildungsverbunds erarbeiten. Die Kammern, die Verbände und die Unternehmen sind bereit, an dieser Aufgabe mitzuarbeiten, weil es auch ihr ureigenstes Interesse ist, qualifizierte Arbeitskräfte für die künftigen großen Herausforderungen auszubilden.
Der Drang zur Hochschule zeigt, daß die Chancen am Arbeitsmarkt vielfach falsch eingeschätzt werden. Dabei muß diese Gesellschaft auch umdenken und, meine Damen und Herren, dem blauen Kittel genau denselben Stellenwert einräumen wie dem weißen Kittel.
Sonst wird es wirklich so weit kommen, daß wir mehr Architekten als Maurer haben und daß es manchen Ingenieur gibt, der einen mikroprozessorgesteuerten Wasserleitungshahn erfindet und entwickelt, aber daß wir niemanden mehr haben, der ihn einbauen und reparieren kann.
Ein Blick auf die Europäische Gemeinschaft zeigt — deshalb bitte nicht von Ausbildungsnotstand reden —,
daß die Qualifikation des Nachwuchses entscheidend ist, um Arbeitslosigkeit zu verdrängen. In den klassischen Industrieländern wie England, Frankreich und Italien liegt die Arbeitslosigkeit junger Menschen unter 25 Jahren bei über 20 %, in den südlichen Ländern wie Portugal, Spanien und Griechenland liegt sie über 25 %. Bei uns liegt sie unter 5 % bei denen, die ausgelernt haben.
Wir haben in der Bundesrepublik ein hochqualifiziertes duales Berufsbildungssystem. Wenn wir jetzt intelligente Lösungen für neue Wege in der Berufsausbildung auch über den Ausbildungsverbund suchen und finden, dann werden wir einerseits das Problem der Arbeitslosigkeit verringern und andererseits den jungen Menschen für ihren Berufsweg auch eine Zukunftsperspektive anbieten. Das ist dringend notwendig.
Die F.D.P.-Fraktion wird Sie, Herr Minister, bei allen konstruktiven Bemühungen unterstützen.
Nun spricht der Kollege Eckart Kuhlwein.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es schon ziemlich makaber, daß das Bemühen der sozialdemokratischen Fraktion, hier immer wieder auf die Ausbildungsplatzsituation in den neuen Ländern hinzuweisen, von der einen Kollegin als Schauspiel, von Herrn Jork als ideologisches Ritual bezeichnet wird.
— Herr Kollege Jork, wir tun nur das, was Sie zu Recht angemahnt haben, daß wir nämlich das Tun und Handeln, aber auch das Nichthandeln der Bundesregierung kritisch begleiten sollten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993 13423
Eckart KuhlweinIch habe aus einigen Reden herausgehört, daß durchaus Handlungsbedarf gesehen wird. Gleichzeitig sagt die Bundesregierung: Aber jetzt noch nicht, vielleicht überhaupt nicht. Wir tun nichts. Warten wir doch, was die Wirtschaft vielleicht tut oder nicht tut. Und dann handeln wir vielleicht — oder auch nicht, weil die Bundesregierung die Größenordnung dessen, was es dann kostet, wenn gehandelt wird, mit diesem Haushalt möglicherweise überhaupt nicht mehr finanzieren kann.Ich folge Ihnen ja insoweit, als ich sage: Es ist Aufgabe der Arbeitgeber, Ausbildungsplätze für alle jungen Leute zur Verfügung zu stellen, die eine Ausbildung haben wollen. Dazu gibt es ein einschlägiges Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 1980. Die Arbeitgeber können aber offenbar dieser Verpflichtung in diesem Jahr in den neuen Ländern nicht nachkommen. Frau Kollegin Fischer hat schon zitiert, was Herr Schoser am 20. April gesagt hat, als er eindeutig feststellte, die 20 000 werden wir als Wirtschaft nicht mehr „wuppen" können.Nun streiten wir um die Frage des Attentismus: Welche Wirkung hat es, wenn die Bundesregierung rechtzeitig einsteigt und sagt: Wir machen da was? — Ich bin freilich noch nicht sicher, ob sie etwas machen wird, wenn es anders nicht funktioniert. — Ich sage Ihnen: Wenn man heute schon weiß, daß 20 000 Plätze fehlen werden, weil die Wirtschaft selber sagt, sie schaffe das unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Neuordnung und Strukturveränderungen in den neuen Ländern nicht, dann muß man jetzt handeln. Dann hat das mit Attentismus der Wirtschaft, der gefördert würde, nichts mehr zu tun, sondern dann, wenn weiter gewartet wird, handelt es sich, Herr Minister Ortleb, um einen Attentismus der Bundesregierung. Ich glaube, es sollte niemanden mehr geben, der angesichts der Angst junger Menschen um ihre berufliche Zukunft heute noch abwartet. Die Angst, Frau Kollegin Eichhorn, müssen wir den jungen Menschen „da drüben" nicht erst machen, die haben sie schon.
— Nein. Wenn man auf Probleme hinweist, erzeugt man keine Angst, sondern man macht den jungen Menschen klar, daß ihre Ängste in diesem Parlament ernst genommen werden.
Ich glaube, daß wir als Deutscher Bundestag die verdammte Pflicht und Schuldigkeit haben, den jungen Menschen in den neuen Ländern zu zeigen, daß die demokratischen Institutionen dieses Staates funktionieren, daß sie zu ihnen Vertrauen gewinnen können, weil wir bereit sind, unseren Anteil zu leisten, um die Probleme dieser jungen Menschen zu lösen.
Die Bundesregierung hat zwei Möglichkeiten, politisch zu handeln: Entweder läßt sie die zusätzlichen Ausbildungsplätze von der Gruppe der Arbeitgeber gemeinschaftlich finanzieren, wie es das Bundesverfassungsgericht 1980 ausdrücklich erlaubt hat, oder sie muß sie aus öffentlichen Mitteln bezahlen.Den Weg der gemeinschaftlichen Finanzierung, also Fondslösung oder so etwas, hält die Bundesregierung traditionell für verwerflich, obwohl er ordnungspolitisch konsequent wäre. Schließlich hat die Wirtschaft eine Lehrstellengarantie für 1993 übernommen. Die Bundesregierung sollte deshalb dringend über einen Aubildungsfonds Ost nachdenken, den die Arbeitgeber im Westen und die Treuhand gemeinsam finanzieren müßten.
Schwierige Zeiten erfordern gelegentlich ungewöhnliche Maßnahmen, und es lohnt sich, gelegentlich ideologische Scheuklappen abzulegen.Wollen Sie das nicht, meine Damen und Herren, müssen Sie in den Bundeshaushalt greifen. Denn Sie können die betriebliche Berufsausbildung nicht plötzlich in die Kompetenz der Lander abschieben, wie das neuerdings Mode wird, während wir auf der anderen Seite immer großen Wert darauf legen, daß in erster Linie wir hier zuständig und gefordert sind, wie das auch bei der Entstehungsgeschichte des Benachteiligtenprogramms historisch nachzuweisen ist, bei dem sich der Bund in der Pflicht sah, für einen bestimmten Personenkreis außerbetriebliche Ausbildungsplätze oder ausbildungsbegleitende Hilfen zu schaffen.Wir erwarten Schritte der Bundesregierung. Wir fordern sie auf, nicht erst am 1. Juli, wie das im Kabinett bei der Beratung des Berufsbildungsberichts beschlossen worden ist, Bilanz zu ziehen und dann vielleicht mühsam eine Gesetzesänderung auf den Weg zu bringen, die vielleicht erst im Dezember wirksam wird, sondern so frühzeitig zu handeln, daß auch diejenigen jungen Leute, die auf der Suche nach betrieblichen Ausbildungsplätzen leer ausgehen, rechtzeitig eine Zusage für eine Lehrstelle bei einem qualifizierten Träger bekommen.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir uns alle einig sind, daß wir es uns nicht leisten können, in den neuen Ländern noch zusätzlichen sozialen Sprengstoff anzuhäufen. Also muß die Bundesregierung handeln, wenn wir diesen Sprengstoff vermeiden wollen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun spricht der Kollege Wolfgang Meckelburg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem die Reihenfolge der Redner etwas durcheinandergeraten ist, verspüren Sie jetzt die geballte Kraft der CDU/CSU mit drei Rednern in Folge.Was das Ausbildungsplatzangebot in den neuen Bundesländern angeht, so ist das Jahr 1993 oder, genauer gesagt, das Berufsbildungsjahr 1993/94, das im Herbst beginnt, nicht leicht; das wissen wir alle. Das ist nicht nur durch den Berufsbildungsbericht bekanntgeworden — Bernhard Jagoda als Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat darauf hingewiesen —, sondern auch die Zahlen, die uns bekannt sind, belegen das. Wir wissen dies alles. Wir haben vor
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13424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Wolfgang Meckelburgetwas mehr als zehn Tagen darüber im Zusammenhang mit dem Berufsbildungsbericht diskutiert.Nun haben wir uns alle gefragt, was in der Zwischenzeit Dramatisches passiert ist, das die SPD veranlaßt, heute eine Aktuelle Stunde „zum drohenden Ausbildungsnotstand" zu beantragen. Sie scheinen jedes Jahr, meine Damen und Herren von der SPD, ein ähnliches Ritual zu zelebrieren,
wie es bei manchen Urvölkern bei anderem Anlaß üblich ist, die bei Sonnenuntergang abends in Panik ausbrechen, weil sie fürchten, am nächsten Morgen könne die Sonne nicht mehr aufgehen.
Tatsächlich scheinen Sie den Brauch inzwischen so liebgewonnen zu haben, daß Sie im Frühjahr gar nicht anders können, als das Ritual durch Aktuelle Stunden hier immer wieder zu praktizieren. Dabei wissen wir aus den letzten beiden Jahren, wie das ausgegangen ist: Im Frühjahr laufen Sie mit der Krisenrassel durchs Land, meine Damen und Herren von der SPD, und verkünden für die neuen Bundesländer regelmäßig den Ausbildungsnotstand, während wir im Herbst dann ebenso regelmäßig feststellen, daß der Ausbildungsmarkt trotz all der Schwierigkeiten ausgeglichen ist.Meine Damen und Herren, ich verkenne nicht, daß es in diesem Jahr schwieriger ist, dieses Ziel im Herbst zu erreichen. Aber wissen wir denn zum jetzigen Zeitpunkt wirklich schon, wie viele Auszubildende aus dem Osten Stellen in den alten Bundesländern annehmen? Im letzten Jahr waren es 19 000. Wer weiß jetzt, wie viele es in diesem Jahr sein werden? Wissen wir wirklich, wie viele Interessenten für Ausbildungsplätze sich schließlich für eine schulische Ausbildung entscheiden? Im letzen Jahr waren es rund 13 % bzw. 18 000 Bewerber. Wissen wir denn wirklich schon, wie viele betriebliche Ausbildungsplätze in den kommenden Wochen noch zur Verfügung gestellt werden? Das ist die Kernfrage, mit der wir uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt beschäftigen müssen.
— Hören Sie ruhig einmal zu! Es ist wichtig, daß in der Aktuellen Stunde, die Sie selber beantragt haben, zur Kenntnis zu nehmen, nachdem wir vor zehn Tagen bereits darüber geredet haben.Es geht darum, von Jahr zu Jahr auch in den neuen Bundesländern mehr betriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Dies ist in den letzten beiden Jahren gelungen. Wir haben die außerbetrieblichen Ausbildungsplätze von 38 000 im Jahre 1991 auf 20 000 im letzten Jahr reduzieren können. Das ist ein richtiger Trend. Das betriebliche Lehrstellenangebot konnte um 20 % auf 78 000 Stellen gesteigert werden. Auch das ist ein richtiger Trend. Wenn wir die März- und Aprilzahlen dieses Jahres mit denen des Vorjahres vergleichen, dann stellen wir fest, daß das betriebliche Angebot zum jetzigen Zeitpunkt stagniert. Wenn wir aber wollen, daß der Trend zu mehr betrieblicher Ausbildung anhält, dann ist es unsere Aufgabe, zumjetzigen Zeitpunkt die Wirtschaft an ihre Garantie zu erinnern, Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern bereitzustellen.
Für uns heißt das, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Das bedeutet — in Kenntnis des Termins, am 1. Juli Bilanz ziehen zu wollen — Mitte Juni ein erneutes Gespräch zwischen der Wirtschaft und dem Bundeskanzler, Thema: Solidarpakt, insbesondere Ausbildungsplatzsituation. Wir erwarten geradezu, daß bis dahin eine deutliche Steigerung der Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze zu verzeichnen ist.
— Wir müssen sie immer wieder daran erinnern. Mich wundert ein wenig, Herr Kuhlwein, daß gerade Sie von der SPD im Moment so zurückhaltend sind, wenn es darum geht, von der Wirtschaft die Garantie einzufordern. Wir tun das jedenfalls, und wir erwarten mit Blick auf das Gespräch, daß bis dahin die Zahlen deutlich gestiegen sind. Denn wir wollen auch in diesem schwierigen Jahr den Umbau von einem sozialistischen Ausbildungssystem zum dualen Ausbildungssystem der Sozialen Marktwirtschaft im Trend hinbekommen. Das bedeutet, zum jetzigen Zeitpunkt betriebliche Ausbildungsstellen zu schaffen und dann das zu tun, was notwendig ist. Der Prüfungsauftrag ist klar. Der Bundesbildungsminister hat darauf hingewiesen, daß er den Auftrag hat, spätestens bis zum 1. Juli zu berichten.Genau das ist die Richtung, in die wir gehen müssen, nicht zu früh die Leine loszulassen. Jetzt ist die Wirtschaft gefordert. Ich bitte auch Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wo immer es möglich ist, dies zumindest zum jetzigen Zeitpunkt mit aller Deutlichkeit zu unterstützen.
Nun hat der Kollege Dr. Gerhard Päselt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gehört zum Ritual des Bundestages in dieser Wahlperiode, daß die SPD im Frühjahr eine Aktuelle Stunde zur Lehrstellensituation in den neuen Ländern verlangt.
Ausgangspunkt ist jedes Jahr ungesichertes Zahlenmaterial. Als Naturwissenschaftler verwahre ich mich dagegen, daß man immer mit solchen Zahlen operiert, weil man damit alles totschlagen kann.Wie groß die Lücke an Ausbildungsplätzen gegen Ende des Vermittlungsjahres 1993 ausfallen wird, läßt sich derzeit noch nicht einschätzen. Tatsache ist aber, daß in diesem Jahr mehr betriebliche Ausbildungs-
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Dr. Gerhard Päseltplätze benötigt werden als im Vorjahr, während sich das Angebotsniveau auf das vorjährige einpegelt.Gegenwärtig unternehmen alle Beteiligten — der Bund, die Länder, die Wirtschaft, das Handwerk und die Bundesanstalt für Arbeit — große Anstrengungen, um die Ergebnisse des Vorjahres zu wiederholen. In der gemeinsamen Erklärung des Bundeskanzlers und der deutschen Wirtschaft zum Solidarpakt wird ausgeführt: „Zu den Zusagen der Wirtschaft gehört auch eine mehrjährige Ausbildungsstellengarantie in Ost- und Westdeutschland. "In der Veranstaltung der Wirtschaftsverbände zur Ausbildungssituation 1993 in den neuen Ländern am 20. April in Berlin verständigten sich die Vertreter der Wirtschaftsverbände auf einen Maßnahmenkatalog. Aber nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Länder wollen ihren Beitrag leisten. Alle neuen Länder führen ihre Sonderprogramme zum Teil in modifizierter Form auch im Jahre 1993 fort. Diese Sonderprogramme sind auf eine Förderung von Betrieben ausgerichtet, und zwar von Betrieben, die mit der Ausbildung beginnen, und von Betrieben, die über den Bedarf hinaus ausbilden. Eine besondere Förderung erhalten Betriebe, die junge Frauen und Mädchen ausbilden. Gefördert wird auch die Weiterbeschäftigung von Lehrlingen aus in Konkurs gegangenen Betrieben; ferner werden Betriebe gefördert, die Benachteiligte ausbilden.Die Förderprogramme in den einzelnen Ländern unterscheiden sich in der Bemessungsgrundlage, in der Größe des Betriebes und im Verhältnis der Zahl der Auszubildenden zur Zahl der Beschäftigten sowie nach dem Angebot und nach der Höchstzahl der Förderfälle.Ich möchte im einzelnen nur folgendes ausführen: Das Land Berlin fördert mit 5 000 DM generell; das Land Thüringen fördert in Höhe von 4 000 DM, Mädchen werden in Höhe von 5 000 DM gefördert; Mecklenburg-Vorpommern fördert in Höhe von 5 000 DM, und Mädchen in frauenatypischen Berufen werden in Höhe von 8 000 DM gefördert.
— Das weiß ich nicht; entschuldigen Sie.
Es muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß über die Förderung der Ausbildungsplätze hinaus unterschiedliche Programme zur beruflichen Bildung existieren; dies betrifft die Bezuschussung bei Bau- und Ausstattung überbetrieblicher Berufsbildungsstätten und reicht bis zur Förderung zusätzlicher Ausbildungsberater. Leider ist Herr Hilsberg nicht anwesend; er hält es nicht für nötig, bis zum Ende hierzubleiben.,
— Er hat die Zahlen genannt, dann darf ich sie ihm doch wohl mitteilen.
Gestatten Sie, daß ich über den gegenwärtigen Stand in einigen Arbeitsamtsbezirken in Thüringen berichte; das sind die realen Zahlen, das ist keine Kaffeesatzdeuterei. Jeweils rund 1 800 Jungen und Mädchen der Arbeitsamtsbezirke Gera und Suhl haben vier Monate vor Ausbildungsbeginn noch keine Lehrstelle in Aussicht. Dem Arbeitsamt Suhl sind derzeit 888 offene Ausbildungsstellen gemeldet. Im Arbeitsamtsbezirk Gera sind es 1 030. In Suhl sind die Stellen für Bau, Landwirtschaft, Metallbranche und Fleischerhandwerk noch nicht besetzt. Das sind nicht irgendwelche Schreibtischberufe. Wir können uns ja darauf verständigen, daß wir die Leute dort in Arbeit vermitteln wollen, daß sie dort Arbeit bekommen werden. Ihnen ging es ja genauso.
In Gera sind Stellen für Schornsteinfeger, Fleischer, Zimmerer, Industriemechaniker, Landwirte und Gärtner unbesetzt. In Suhl ist den Wünschen nach einer Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, zum Floristen sowie nach einer Bank- und Kaufmannsausbildung kaum nachzukommen. Die Verhältnisse in Gera sind ähnlich. Das heißt: Die Bewerbungen beziehen sich nicht so sehr auf die gewerblichen Betriebe, sondern auf ganz andere Bereiche.Die Förderung des Bundes zur Sicherung der Ausbildungsplätze sollte von der weiteren Entwicklung des Lehrstellenmarktes abhängig gemacht werden. Sollte trotz der Bemühungen aller Beteiligten, besonders hinsichtlich der zusätzlichen Bemühungen der Wirtschaft, eine Lücke zwischen Angebot und Nachfrage bleiben, dann muß der Bund seinen Verpflichtungen nachkommen, jedem Jugendlichen eine Lehrstelle zu sichern. Diese Chance müssen die Jugendlichen in ihren heimischen Regionen erhalten.Bei der Einschätzung der Situation ist zu berücksichtigen, daß, wie schon gesagt wurde, § 40 AFG nicht mehr zur Verfügung steht. Die Wirtschaft wies in diesem Zusammenhang — analog zu § 40c Abs. 4 AFG — auf ein Bundesprogramm hin.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen, es ist schon viel geschehen. Es besteht kein Grund zur Panik, aber auch kein Grund zum Ausruhen. Für uns, die CDU/CSU-Fraktion, steht fest, daß die Ausbildung auch in diesem Jahr gesichert wird.
Nun hat der Kollege Alois Graf von Waldburg-Zeil das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich sind parlamentarische Debatten ja dazu da, daß man wechselseitig voneinander lernt. Ich habe heute von einem Zwischenruf des Kollegen Rixe gelernt. Als wir alle uns anfangs, nachdem wir vor zwei Wochen 90 Minuten über dieses Thema debattiert haben und jetzt schon wieder eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt wurde, ein bißchen gewundert haben, hat er dazwischengerufen, die betriebliche Ausbildung junger Leute sei so wichtig, daß wir jede Woche darüber reden könnten. Sie haben mich eigentlich überzeugt.
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Alois Graf von Waldburg-ZeilEs ist in der Tat so, daß die betriebliche Ausbildung junger Menschen enorm wichtig ist, weil, wie Sie vorhin gesagt haben, ein Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Ausbildung und umgekehrt natürlich auch ein Zusammenhang zwischen Ausbildung und Wirtschaft besteht. Wenn ich in einem Betrieb lernen kann, wie man einen Betrieb führt, dann entstehen neue Betriebe, weil sich Menschen selbständig machen können. Das Thema ist ungeheuer wichtig.Ich glaube, wir sind heute auch in dieser Debatte nicht der Versuchung erlegen, so zu debattieren, wie in der Debatte über Politikverdrossenheit argumentiert wird, nämlich daß die eine Seite nur schwarzmalt, während die andere Seite sagt, es werde schon alles gutgehen. Es sind von beiden Seiten vielmehr besinnliche Beiträge geleistet worden.Gerade weil es uns damit so wichtig ist, daß es betriebliche Ausbildungsplätze gibt — die außerbetrieblichen Ausbildungsplätze sind nur die zweitbeste Lösung —, muß ich allerdings noch einmal sagen: Es ist natürlich ganz entscheidend wichtig, daß die Wirtschaft hinsichtlich der von ihr gegebenen Ausbildungsplatzgarantie beim Wort genommen wird.
Weil das so wichtig ist, bitte ich um Verständnis — ich möchte fast unterstellen, daß Sie es, Herr Kollege Kuhlwein, wenn Sie dort als Minister säßen, nicht anders machen würden —, daß jetzt nicht gesagt wird: Die Bundesregierung wird jetzt dieses oder jenes tun, und dann sagen die anderen: Wir legen uns auf die Bärenhaut. Ich glaube, das wird von Ihrer Seite sicher auch so gesehen.Ich darf noch zwei Punkte ansprechen, die mir deshalb am Herzen liegen, weil sie immer etwas abwertend mit angesprochen werden.Der erste Punkt ist: Es ist natürlich schön, wenn jemand, der einen Ausbildungsplatz will, auch einen Ausbildungsplatz bekommt, aber ist es tragisch, wenn er weiterhin in der Schule bleiben muß? Ich glaube, wir sollten das nicht so negativ sehen. Wir diskutieren dieses Problem normalerweise seitenverkehrt. Wenn jemand — statt neun Jahre — zehn Jahre die Schule besucht, wenn jemand eine zweijährige Ausbildung in einer Berufsfachschule absolviert, wenn jemand, der dazu befähigt ist, in Gottes Namen auch einmal bis zum Abitur weitermacht, dann sollten wir das gerade in einer so schwierigen Situation nicht negativ bewerten. Es sind im letzten Jahr 17 000 junge Menschen gewesen; wenn es in diesem Jahr 20 000 sind, dann ist das kein Fehler.Ich nenne zum anderen die Frage der Grenzgänger. Wir haben, als wir das letzte Mal über das Thema berufliche Bildung debattiert haben, in Kurzinterventionen schon darüber gesprochen. In den alten Ländern gehen Ausbildungsverhältnisse auch über die Grenzen. Wenn solche Grenzgänger abends wieder zu Hause sind, ist es überhaupt kein Unglück. Die rund 20 000 jungen Menschen aus den neuen Ländern, die Ausbildungsplätze in den alten Ländern haben, kommen fast alle abends wieder nach Hause. Dafür gibt es auch einen Grund: Die Auszubildenden im Osten sind jünger als im Westen; ihre Eltern wollen sie gern bei sich zu Haus haben. Ich glaube, für Elternist es wichtig zu wissen: Mein Kind hat nicht nur einen guten Ausbildungsplatz, sondern, wenn es woanders in die Ausbildung gehen muß, auch ein gutes Zuhause. So etwas gibt es ja auch heute schon in den alten Ländern, wenn man eine spezielle Ausbildung machen will, die man von zu Hause aus nicht erreichen kann.Wenn man weiß, daß es bei uns viele offene Ausbildungsplätze gibt, die für Nachfrager aus den neuen Ländern interessant sein könnten, dann sollten sich die Kirchen, das Handwerk und die Industrie darum bemühen, wirklich gute Plätze in Familien zu finden, bei denen sich die Eltern der Betroffenen darauf verlassen können, daß ihre Kinder wohlbehütet sind und ihrer Ausbildung nachgehen können.Herzlichen Dank.
Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde angelangt.
Ich rufe nun Punkt 8 der Tagesordnung auf:
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen
— Drucksache 12/3346 —
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen
— Drucksache 12/3533 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
— Drucksache 12/4901 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ursula Fischer
Zum Vertragstext liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und zum Ausführungsgesetz liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu einen irgendwie gearteten Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Werner Ringkamp das Wort.
Frau Präsidentin! Mein sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem heute zur Beratung und Beschlußfassung anstehenden Gesetz handelt es sich um den Beitritt der
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Werner RingkampBundesrepublik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen. Durch den Beitritt zu diesem Vertragswerk wird es nötig, eine Reihe deutscher rechtlicher Regelungen zu ändern. Betroffen sind das Strafgesetzbuch, die Strafprozeßordnung, das Betäubungsmittelgesetz, das Gesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen und das Seeaufgabengesetz.Die Bundesrepublik schließt sich durch dieses Vertragswerk und das Ausführungsgesetz internationalen Verfahrensregeln im Kampf gegen den Drogenhandel an. Der Gesetzentwurf sieht eine umfassende Strafverfolgung des Drogenhandels, eine Ächtung der Geldwäsche sowie internationale Rechtshilfe vor. Ferner soll das Abzweigen von Chemikalien zur illegalen Herstellung von Betäubungsmitteln unter Strafe gestellt werden.Meine Damen und Herren, im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen hat es Irritationen gegeben, ob sich die Bundesrepublik durch diesen Beitritt nicht vorschnell ihrer Gesetzgebungskompetenz begeben oder diese einschränken würde. Um diese Bedenken auszuräumen, wird die Bundesregierung bei Hinterlegen der Ratifikationsurkunde eine entsprechende Interpretationserklärung abgeben.Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, gemeinsam nach denselben Regeln den unerlaubten Verkehr mit Betäubungsmitteln zu bekämpfen. Sie werden dazu länderübergreifend zusammenarbeiten. Diese Maßnahmen sollen das weltweit immer stärker wachsende illegale Drogenangebot eindämmen.Meine Damen und Herren, wir können uns nicht mit kindlichen Sandburgen gegen eine Sturmflut schützen. Wir können menschliches Elend, das im Drogengebrauch entsteht, nicht mit Gesetzestricks wie Entkrirninalisierung oder straffreie Mindestmengen ungeschehen machen. An der Frage, wie wir uns als Politiker mit dem Problem der Drogen und des Drogenhandels auseinandersetzen, wird sehr viel von dem Menschenbild deutlich, das unser Tun bestimmt.Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, daß ein Mensch unter Drogeneinfluß Herr seiner Sinne oder seines Willens sei. Alle wissen, daß bei Drogengebrauch die Gefahr der Abhängigkeit besteht. Drogenabhängigkeit aber ist eine Krankheit, der wir uns mit allen Mitteln — der Prävention, der Repression und der Rehabilitation — entgegenstemmen müssen.Meine Damen und Herren, welche Anstrengungen unternehmen wir nicht, um die Gesundheitsgefahren, die Unausweichlich im Straßenverkehr drohen, auf ein Minimum zu reduzieren: ABS, Sicherheitsgurte, Kindersitze, aktive und passive Sicherheit. Ein ganzer Schilderwald auf unseren Straßen soll dazu dienen, uns vor den Gefahren zu schützen. Auch im Berufsleben tun wir alles, um Beeinträchtigungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglichst abzuwenden: Feuerlöscher, Notarztkoffer, Regeln für Licht, Luft und Lärm. Wir erfinden immer wieder neue Schutzvorrichtungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Das soll nun alles nicht gelten bei mehr als 2 000 Drogentoten, bei einem Anstieg des Heroinkonsums bei Erstkonsumenten um mehr als 15 % pro Jahr? Auch hier müssen wir zu allen Mitteln greifen, um Schaden von unserem Volk abzuwenden.Vorrangiges Ziel des heute zur Debatte stehenden Abkommens ist es, den Kampf aller Staaten gegen das illegale Drogenangebot und die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu verstärken. Aber natürlich nützt dieser — ich sage einmal: präventive Teil des Abkommens nicht, wenn wir bei uns zu Hause nicht auch alles tun, um den Drogenkonsum zu ächten. Meine Damen und Herren, was in einem langen Prozeß beim Suchtstoff Nikotin gelungen ist, nämlich durch Aufklärung zu einer Verminderung des Konsums zu gelangen, kann uns auch bei Drogen gelingen; davon bin ich fest überzeugt.
Wir müssen es nur gemeinsam wollen, und wir müssen die richtigen Schritte gehen.Dafür müssen wir Familie und Schule in ihrer Erziehungsfunktion stärken. Wir müssen ein öffentliches Klima schaffen, in dem es eben nicht schick ist, Drogen zu konsumieren; denn unser Ziel ist nicht der Jammerlappen, der vor Konflikten in den Rausch flieht, sondern unser Ziel ist der Mensch, der kompetent und verantwortlich sein Leben in die Hand nimmt und es selbst gestaltet.Es wäre schon mehr als merkwürdig, wenn wir angesichts der sattsam bekannten Gefahren der Drogen sehenden Auges nicht jedes Risiko für die körperliche und geistige Unversehrtheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger abzuwenden versuchen würden. Ein Zurückweichen vor den drohenden Gefahren käme einem Angriff auf die Selbstbestimmung, den freien Willen und die geistige Gesundheit unseres Volkes gleich.Das Suchtstoffübereinkommen, das wir heute ratifizieren, soll den Kampf aller Staaten gegen das illegale Drogenangebot und die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet verstärken. Das Übereinkommen und das dazugehörige Artikelgesetz sind zwar noch nicht die endgültige Lösung; aber sie sind ein wichtiger Knoten in dem Netz, das es zu knüpfen gilt, damit wir und unsere Kindeskinder in einer gesunden, drogenfreien und damit selbstbestimmten Umwelt leben können.Ich bitte Sie deswegen, die vorgelegten „Weichspüler" -Anträge abzulehnen und dem Vertragswerk in der vorgelegten Form zuzustimmen.
Nun hat Kollege Johannes Singer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Suchtstoffübereinkommen in der Form des Vertragsgesetzes und des Ausführungsgesetzes, wie es uns heute vorliegt, hätte dem Deutschen Bundestag die einmalige Chance geboten, von dem völlig verfehlten Weg der letzten zehn Jahre, das Drogenproblem in den Griff zu bekommen, abzuweichen und eine klare Kurskorrekur vorzunehmen.
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13428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Johannes SingerDie kurzfristige Senkung der Zahl der Drogentoten und der Zahl der Erstkonsumenten darf uns nicht dazu verführen — das sagen uns alle Fachleute —, zu glauben, daß sich die Lage entspannt hätte. Sowohl vom Bundeskriminalamt wie von den Fachverbänden wird darauf hingewiesen, daß es solche Wellenbewegungen immer gegeben hat und wir auch in Zukunft wieder damit rechnen müssen, daß das Problem völlig unverändert auf uns einstürmt und daß wir zu anderen Wegen finden müssen.Ich mache noch einmal klar für die SPD: Wir wenden uns gegen jede generelle Freigabe oder Legalisierung von illegalen Drogen. Nur muß man sehr genau unterscheiden und wissen, was das Strafrecht bewirken kann und wo das Strafrecht in diesem Bereich versagt. Bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität hat das Strafrecht seine Funktion. Um den Noch-nicht-Konsumenten oder den Konsumenten, der noch nicht abhängig ist, abzuschrecken, ist es sinnvoll, das Strafrecht aufrechtzuerhalten, insbesondere zur Bekämpfung der internationalen Händlerringe und der Drogenkartelle.Hier versagt die Koalition total. Seit Monaten schieben Sie das Gewinnaufspürungsgesetz, das von Ihnen selbst für unabdingbar erklärt worden ist, um die Geldwäsche tatsächlich zu unterbinden, vor sich her. Sie lassen sich da von der F.D.P. vorführen; Sie befrachten das Gesetz mit allen möglichen Ausnahmeregelungen wie dem Anwaltsprivileg und machen das Gesetz damit löcherig wie ein Schweizer Käse und unpraktikabel. Sie sind unglaubwürdig, wenn Sie sich hinstellen und sagen, Sie wollten gegen die organisierte Kriminalität, gegen die Rauschgiftkriminalität wirklich etwas tun. Da wird, wie gesagt, nur der Mund gespitzt, aber nicht gepfiffen. Wirksame Maßnahmen stehen aus. Es kommt nichts! Ich gehe soweit zu sagen, schlichten Gemütern in unserem Volk könnte sich der Verdacht aufdrängen, daß insbesondere die F.D.P. in der Person des Berichterstatters aus dem Innenausschuß sich eher als Schutzpatronin des organisierten Verbrechens in der Bundesrepublik versteht denn als Interessenvertreterin des deutschen Volkes.
Aber dort, wo das Strafrecht versagt, nämlich gegenüber dem Drogenabhängigen, dem Suchtkranken, da, wo das Strafrecht überhaupt keinen Sinn macht, da gehen Sie vor. Sie müssen sich doch klarmachen, daß jemand, der suchtkrank ist, nichts anderes im Kopf hat als: „ Wie komme ich möglichst schnell wieder zu Stoff?" Der läßt sich doch durch das Strafrecht überhaupt nicht beeindrucken.Mit dem Suchtstoffübereinkommen — Sie haben ja unsere Änderungsanträge und unseren Entschließungsantrag vorliegen — hätte sich die Gelegenheit geboten, deutlich zu unterscheiden: Repression, unnachsichtige Verfolgung der Kartelle, aber Befreiung des Suchtkranken von der Strafdrohung.
Sie treiben die Leute in die Beschaffungskriminalität;denn dadurch, daß Sie die Strafdrohung für denSuchtkranken aufrechterhalten und hier nicht zuvernünftigen Kurzkorrekturen bereit sind, sorgen Sie für die Fortsetzung des sozialen Elends beim Suchtkranken, Junkie und Fixer. Sie vergeuden Ressourcen von Polizei und Justiz. Sie sind nicht in der Lage, die Kräfte vernünftig umzuleiten, und müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, daß Sie mit dazu beitragen, daß heute jeder fünfte Wohnungseinbruch in der Bundesrepublik von einem Suchtkranken begangen wird, daß jeder dritte Autoaufbruch von Suchtkranken begangen wird. Wenn Sie sich durchringen würden zu sagen: „Einem Kranken begegne ich nicht mit Mitteln des Strafrechts, sondern mit den Mitteln der Gesundheitspolitik. Ich sorge dafür auch über die Methadonprogramme hinaus — und mit unserem Änderungsantrag haben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen — und mit einer kontrollierten, unter ärztlicher Kontrolle stattfindenden Heroinvergabe an den Kranken" , dann würden Sie die Beschaffungskriminalität beseitigen und manch einen kleinen Mann — oder manch eine kleine Frau — auf der Straße davor retten, überfallen und beraubt zu werden. Sie bewahren die Leute vor Wohnungseinbrüchen und vor diesem ganzen Bereich.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage gestatten?
Aber gern.
Herr Kollege Singer, ich weiß nicht, ob Sie Ihre Anträge kennen. Kennen Sie aber Ihren Antrag, nach dem straflos bleiben soll, wer die Betäubungsmittel auschließlich zum Eigenverbrauch anbaut, herstellt, einführt, ausführt und erwirbt? Wissen Sie, daß Ihre Anträge dahin wirken, den Weg zur Straflosigkeit für die Einführung und für den Genuß von Suchtmitteln freizugeben?
Herr Hoffacker, ist Ihnen bekannt, daß die Niederländer diesen Kurs seit vielen Jahren fahren und bessere Erfolge in der Bekämpfung des Drogenproblems erzielen als wir? Wissen Sie, daß die Holländer sowohl die Zahl der Drogentoten als auch die der Erstkonsumenten drastisch gesenkt haben? Wir könnten uns von den Holländern eine Scheibe abschneiden und ähnliche Maßnahmen auch bei uns einführen. Die Holländer sind besser gefahren als wir; sie haben weniger Probleme. Sie sollten diese Vorschläge, die woanders mit Erfolg ausprobiert worden sind, nicht verteufeln.
Die Holländer haben ebenso wie wir einen Vorbehalt im Vertragsgesetz verankert, dessen Einführung wir jetzt in unserem Entschließungsantrag beantragt haben. Die Holländer sind die einzigen Westeuropäer, die in Sachen Drogen mehr Erfolge vorzuweisen haben als wir und alle anderen. Deswegen sollten Sie einen solchen Antrag, ohne die Verhältnisse z. B. in Holland zu kennen, nicht einfach verteufeln, sondern sich damit auseinandersetzen.Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag, der den Vorbehalt viel präziser formuliert als der Vorschlag der Bundesregierung, wie auch unserem Änderungsantrag zu, und kommen Sie von der reinen
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Johannes SingerRepressionsidee ab, immer nur mit Polizei und Justiz ein so schwerwiegendes Gesundheitsproblem in unserem Lande lösen zu wollen! Dies hat versagt. Die bloße Erhöhung der Strafrahmen, die wir seit 10 Jahren mehrfach vorgenommen haben, hat nichts gebracht, hat keinerlei Erfolge gezeitigt. Wenn man irgendwann einmal erkennt, daß bisherige gesetzgeberische Maßnahmen danebengegangen sind, sollte man sich davon verabschieden und mutig genug sein, zu sagen: Wir haben Fehler gemacht, wir müssen eine andere Drogenpolitik betreiben.Danke schön.
Nun spricht Frau Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Schätzungsweise 100 000 junge Menschen konsumieren in der Bundesrepublik harte Drogen. Alkohol und Nikotin sind die wichstigsten Einstiegs- und Begleitdrogen bei Suchtkarrieren. Mehrfachabhängigkeit ist für Süchtige normal. Das Problem ist nicht der Stoff, sondern die Sucht.Die F.D.P. geht von einem Suchtbegriff aus, der Sucht in seiner ganzen Komplexität umfaßt, da Suchtentwicklung auf vielfältige Ursachen zurückzuführen ist.Nichtsdestotrotz, internationale und nationale Anstrengungen sind notwendig, um Sucht vorzubeugen, den unerlaubten Betäubungsmittelverkehr mit allen damit zusammenhängenden kriminellen Tätigkeiten umfassend zu bekämpfen, den Anbau zu verhindern und den Handel zu unterbinden.Von dem heute vorliegenden Gesetzentwurf eines Vertragsgesetzes zum Suchtstoffübereinkommen und dem Ausführungsgesetz erhoffen wir uns eine verbesserte Rauschgiftbekämpfung. So soll die Geldwäsche und die Abzweigung von Chemikalien für die unerlaubte Herstellung von Betäubungsmitteln unter Strafe gestellt und die Nutzung von Verbrechensgewinn erschwert werden. Ziel ist also die Bekämpfung des immer stärker werdenden Zustroms von illegalen Betäubungsmitteln.Wir sollten bei allen anvisierten Maßnahmen nicht aus den Augen verlieren, daß nicht der Anbau und die Herstellung, sondern immer noch die Nachfrage der Auslöser der Drogenproblematik ist. Machen wir uns nichts vor: Auch mit diesem Gesetz wird der zunehmende Drogenkonsum nicht gestoppt werden. Natürlich können wir keine Gegenmafia bilden; denn im Rechtsstaat gibt es keine Waffengleichheit mit dem organisierten Verbrechen, es sei denn um den Preis von staatlich mitorganisierter Kriminalität, von staatlicher Machtkonzentration zu Lasten der Bürgerrechte.Der Forderung der SPD im Änderungsantrag, bei Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde einen Vorbehalt zu erklären, wonach der Besitz einer geringen Drogenmenge zum Eigenkonsum durch nationaleGesetzgebung straflos gestellt werden kann, kann die F.D.P. in dieser Form nicht folgen.Wir haben jedoch, wie Sie wissen, einen Vorbehalt formuliert, den wir dem Abkommen beigefügt haben, den das Bundesjustizministerium formuliert hat. In diesem Vorbehalt steht sehr deutlich, daß das internationale Suchtstoffabkommen kein Land hindert, im Rahmen seiner Verfassungsgrundsätze und der Grundzüge seiner Rechtsordnung die notwendigen Strafregelungen zu treffen.
Wir Liberalen sind der Meinung, daß in der Drogenpolitik zukünftig eine Option für eine Liberalisierung offengehalten werden muß. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht der F.D.P. nicht darum, eine Legalisierung von Drogen durch die Hintertür einzuführen, sondern sich auf nationaler Ebene Türen für eine verantwortungsvolle Drogenpolitik offenzuhalten.Die F.D.P. hat Vorschläge für eine umfassende Anti-Sucht-Politik bereits gemacht. Erstens. Die Grundlagenforschung über Voraussetzung und Auswirkung von Suchtverhalten und Langzeitbegleitforschung von Suchtkarrieren muß stärker gefördert werden.Zweitens. Eine zielgruppenspezifische, kontinuierliche und flächendeckende Prävention muß ab dem Kindesalter einsetzen.Drittens. Eine Legalisierung von harten und weichen Drogen ist aus jugend- und gesundheitspolitischen Gründen derzeit nicht denkbar. Es gibt international keine Erkenntnisse darüber, daß Legalisierung die bestehenden Probleme lösen würde. Legalisierung würde Abhängigen helfen — weniger Kriminalisierungsrisiko und Beschaffungskriminalität; siehe Holland —, aber eine zunehmende Gefährdung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf Grund der Verfügbarkeit der Drogen nach sich ziehen — siehe Holland: keine Trennung zwischen „weichen" und „harten" Märkten; das müßten Sie, Herr Singer, ebenfalls sagen. Durch die Legalisierung würde sich darüber hinaus das Suchtverhalten der Abhängigen nicht ändern.Viertens. Substitutionsprogramme als Hilfe zum Ausstieg sind dann sinnvoll, wenn sie vom zuständigen Arzt geregelt und durch psychosoziale Begleitmaßnahmen sowohl für die Abhängigen als auch ihr soziales Umfeld unterstützt werden. Die Ergebnisse der jetzt laufenden Modellversuche in einigen Ländern sind abzuwarten. Ich denke, daß wir dann auch über eine Ausweitung von Methadonprogrammen sprechen können.Der Ausbau von differenzierten und qualifizierten, stationären und ambulanten Entwöhnungs- und Entzugstherapieplätzen sowie Nachsorgeplätzen ist erforderlich. Selbsthilfegruppen besonders für die Nachsorge sind wichtig. Vorbild: Anonyme Alkoholiker.Fazit: Die F.D.P. stimmt dem Ausführungsgesetz in seiner jetzigen Fassung unter dem Vorbehalt zu, daß die Bundesrepublik Deutschland eine national eigen-
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Dr. Margret Funke-Schmitt-Rinkständige, verantwortliche Drogenpolitik machen kann. Der Schwerpunkt unserer Antisuchtpolitik muß weiterhin bei Prävention, Therapie und Nachsorge liegen, also in der Gesundheitspolitik. Sucht ist eine Krankheit, die durch das Strafrecht nicht geheilt werden kann.Vielen Dank.
Nun spricht Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das Drogenproblem spitzt sich weiter zu. Ein Ende dieser schlimmen Entwicklung ist nicht abzusehen. Im übrigen ist diese Problematik in erster Linie ein gesellschaftliches Problem, nicht nur ein gesundheitliches. Es wird natürlich sehr schnell zum gesundheitlichen Problem.
Angesichts dieser Situation sollte die Bundesregierung das Scheitern ihrer bisherigen Konzepte einräumen und sich endlich für eine neue Drogenpolitik öffnen.
In jedem Fall gilt: Die Politik der Abschreckung und der Kriminalisierung des Umgangs mit Drogen, die Politik unbedingter und alternativloser Abstinenzvorgabe hat das Problem nicht lösen können. Im Gegenteil, erst die Kriminalisierung zwingt den Drogenabhängigen jenen, das soziale Leben und die Gesundheit zerstörenden Lebensstil auf, den uns dann die Medien als vermeintliche Drogenfolge vorführen. Erst die Kriminalisierung treibt zu Überschuldung und sozialer Verelendung und bedingt in hohem Maße die Beschaffungskriminalität.
Mit anderen Worten: Das Bild des verwahrlosten und zu allem bereiten Fixers ist nicht die Folge des Drogenkonsums an sich, sondern seiner noch immer anhaltenden Kriminalisierung. Das geltende Drogenstrafrecht ist das Haupthindernis für eine modernere und humanere Drogenpolitik.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich ist es eine unverzichtbare Aufgabe der Exekutive, den internationalen Drogenhandel, die organisierte Drogenkriminalität so wirksam wie möglich zu bekämpfen. Natürlich ist es zu begrüßen, wenn z. B. die internationale Rechtshilfe in Drogenstrafsachen verbessert werden soll. Wenn aber das Suchtstoffübereinkommen der Vereinten Nationen und die Art und Weise, wie es die Bundesregierung zum geltenden Recht machen will, ausdrücklich die Strafbarkeit des Erwerbs und des Besitzes auch kleinerer Drogenmengen zum Eigenkonsum bekräftigt, dann wird die nun endlich notwendige, uneingeschränkte Anwendung des Prinzips „Hilfe statt Strafe" eher behindert als gefördert.
Um es klar zu sagen: Wir werden immer zustimmen, wenn es gegen mafiösen Drogenhandel, gegen das große Geschäft mit den Drogen geht. Wir verweigern jedoch unsere Zustimmung einer Drogenpolitik der Bundesregierung, die die Konsumenten verfolgt und ins Elend treibt.
Der erste Schritt zu einem hunaneren und zweckmäßigeren Umgang mit den Drogen ist für uns deshalb die Entkriminalisierung und der Übergang zu einer stärker akzeptierenden Drogenpolitik. Solange kontrollierte Methadonvergabe, Drogenräume mit der Möglichkeit von Qualitätsprüfungen für Straßenheroin oder Spritzenaustauschprogramme mit der Gefahr einer Bestrafung belegt sind oder sich zumindest in rechtlichen Grenzzonen bewegen, bleibt die Neufassung des Betäubungsmittelrechts unverzichtbar.
Möglich gemacht werden müssen wohlüberlegte, legale Angebote für Abhängige, die so gestaltet sind, daß sie andere weder verführen noch gefährden. Wer den Drogentod bekämpfen will, muß den Ärzten mehr Möglichkeiten einräumen, im Rahmen ihrer Therapiefreiheit und beruflichen Verantwortung Suchtmittel zu verordnen oder Substitutionstherapien anzubieten.
Das gleiche gilt für die Schaffung einer adäquaten Zahl von Therapieplätzen, insbesondere in Langzeittherapieeinrichtungen speziell für Jugendliche, um der notwendigen Differenzierung der Hilfsangebote besser Rechnung tragen zu können.
Wenn ein offenbar wachsendes Verlangen nach Suchtmitteln ein offenbar wachsendes gesellschaftliches Problem signalisiert, dann ist wohl auch intensive gesellschaftliche Ursachenforschung angezeigt. Und davon höre ich hier einfach zu wenig.
Wohnung, Arbeit, Lebenssinn und Lebensperspektive, kurz: soziale und berufliche Integration, soziale Hilfen zur Wiedereingliederung sind und bleiben nach allen Erfahrungen unverzichtbar, wenn Erfolge von Dauer sein sollen.
Ich bitte Sie, dem Entschließungsantrag der SPD, dem Änderungsantrag und den Anträgen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zuzustimmen und alles andere abzulehnen.
Nun hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte gehofft, wir könnten eine einigermaßen sachliche Debatte führen. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Denn man kann sich nicht mehr sachlich auseinandersetzen, wenn Menschen, die krank sind, die an einer Drogensucht oder einer anderen Sucht leiden, als „Jammerlappen" bezeichnet werden, die nichts anderes im Sinn hätten, als in den Rausch zu fliehen.Diese Einschätzung zeigt für mich ganz deutlich, daß offensichtlich keine Bereitschaft besteht, an Ihrer bisherigen Drogenpolitik etwas zu verändern. Das heißt für uns klar, daß Sie weiter nur den einen Weg sehen, den der Repression, daß sich die Verfolgung gegen Drogenabhängige richtet und nicht im wesent-
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Gudrun Schaich-Walchlichen dagegen, wo sie eigentlich nötig ist: gegen den Drogenhandel, gegen die organisierte Kriminalität.
Mein Kollege Singer hat schon ausgeführt, daß Sie mit Ihren Bemühungen in den Kinderschuhen stekkengeblieben sind. Dabei ist doch allen hier Anwesenden klar: Geld ist Macht. Infolgedessen ist nur der konsequente Zugriff auf dieses Geld in der Lage, die Macht der organisierten Kriminalität und damit auch des Drogenhandels in einigen Teilen zu brechen.Mit dem, was Sie vorgeschlagen haben, wird sich an der realen Situation unserer Drogenabhängigen nichts ändern. Sie manifestieren mit Ihrer Politik verstärkt gesundheitliche und soziale Verelendung der Konsumentinnen und Konsumenten, ohne die abschreckende Wirkung zu erreichen, von der Sie immer sprechen.Wir haben zwanzig Jahre gehabt, zu beobachten, wie groß diese abschreckende Wirkung ist. Ich meine, wir können zur Kenntnis nehmen, daß Prävention nichts ist, was mit Abschreckung zu tun hat, sondern Prävention ist etwas, was mit Familienpolitik zu tun hat, was mit Sozialpolitik zu tun hat und was mit Gesundheitspolitik zu tun hat.
Wenn Sie Ihrer Aufgabe in diesem Bereich endlich nachkommen und das nicht eindeutig immerzu auf die Länder und auf die Kommunen verschieben wollten, dann, denke ich, wäre das tatsächlich ein vernünftiger Beitrag zur Prävention.
Sie haben vorhin angesagt, daß es einen Rückgang der Todeszahlen gibt, daß Sie ihn darauf zurückführen, daß Repression im Prinzip wohl erfolgreich ist. Ich gehe davon aus — das belegen auch Zahlen gerade aus Städten wie Frankfurt —, daß die Erfolge, die wir auf diesem Gebiet erzielt haben, durch Substitution erreicht worden sind. Dagegen haben Sie sich ganz lange gewehrt. Sie wehren sich auch heute noch dagegen, daß Substitution als ein Hilfsmittel eingesetzt werden kann. Sie halten damit die Gruppe der Menschen, die diese Hilfe benötigen könnten, für die es eine Überlebenshilfe wäre, die halten Sie nach wie vor klein.Jetzt möchte ich noch etwas zur Rolle der Bundesrepublik innerhalb Europas sagen. In den letzten Jahren hat nicht nur in Deutschland eine Öffnungsdebatte begonnen, sie hat auch in der Schweiz und in Italien begonnen. Eine breite ideologiefreie Auseinandersetzung ist begonnen worden, und sie zeigt bereits Reaktionen. So ist z. B. die Schweiz auf Beschluß des Bundesrates dazu gehalten, und wird es umsetzen, einen Vorbehalt zum Art. 3 des Übereinkommens abzugeben, mit dem nämlich Besitz, Kauf und Anbau von Betäubungsmitteln für den persönlichen Gebrauch außer Strafe gestellt werden können.Um das noch einmal deutlich zu sagen: Das hat nichts mit Legalisierung zu tun, Frau Funke-SchmittRink, das hat was mit Entpönalisierung zu tun.
— Das ist keine Semantik, das ist eine sehr klare Rechtsfrage.
Die Niederlande haben sich ebenfalls anders verhalten. In Italien hat die Bevölkerung bei einem Referendum immerhin mit 55,3 % ebenfalls für die Straflosigkeit der Drogensüchtigen gestimmt.
Ich habe gedacht, man könnte heute mit einem Appell an Sie noch erreichen, daß Sie sich unserem Vorbehalt anschließen, der klar und deutlich sagt: Wir wollen keine Straflosigkeit des Handelns, aber wir wollen eine Straflosigkeit der betroffenen Drogenabhängigen, und das in sehr klarer Formulierung. Sie konnten dem nicht folgen. Ich denke, mit Ihrem Schritt verbauen Sie wirklich eine Chance für die Zukunft.Ich verstehe es, daß Sie Ihre Drogenpolitik nicht ändern können und nicht wollen. Sie sind nun einmal, wie sie sind. Aber Sie sollten einer künftigen anderen Regierung die Chance dazu nicht verbauen.
Nun spricht der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses Gesetz von 1988 ist nicht nur ein altes Gesetz, es ist ein veraltetes Gesetz. •
Es basiert auf dem Einheitsabkommen über Suchtstoffe von 1961, und es basiert auf der völlig veralteten Konzeption der Repression und des Abolitionismus. Daran ändern auch die markigen Sprüche Ihrer Oberlehrerrhetorik nichts, mit der Sie diese alte Politik soeben wieder verteidigt haben, Herr Kollege.
Wenn Sie unsere Anträge Weichspüler-Anträge nennen, dann nenne ich Ihren Vortrag Verkalkungspolitik.
Die Leute, die etwas von der Sache verstehen, haben eine ganz andere Meinung. So hat etwa der Arbeitskreis II der Innenministerkonferenz in seiner Arbeitsgemeinschaft Rauschgift einmütig ein Posi-
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Dr. Wolfgang Ullmanntionspapier verfaßt, wonach von der unbedingten Strafverfolgung aller Konsumentendelikte abgesehen werden sollte. Das ist moderne Drogenpolitik. Darum wird BÜNDNIS 90 bei seiner Strategie der Entkriminalisierung bleiben.Zum Glück haben Sie sich endlich dazu durchringen können, einen Vorbehalt in den Gesetzestext aufzunehmen, was laut Art. 3 Abs. 2 tatsächlich immer schon möglich war. Aber Sie mußten erst darauf gebracht werden.Wer auf einer fortschrittlichen Linie Drogenpolitik machen will — das Gesetz ist dabei wirklich keine große Hilfe —, der sollte wenigstens für den Entschließungsantrag der SPD stimmen. Ich werde es jedenfalls tun.Danke.
Nun spricht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben lange genug über das Suchtstoffübereinkommen und seine Umsetzung diskutiert. Wenn wir heute das Gesetz zur Ratifizierung des Suchtstoffübereinkommens gegen unerlaubten Drogenhandel und das Gesetz über Maßnahmen zur Anwendung des Übereinkommens abschließend beraten, so hat das nicht nur gesundheitspolitisch, sondern auch außenpolitisch eine hohe Bedeutung.
Es geht heute auch um das Ansehen Deutschlands in der Völkergemeinschaft. Wir können in den Vereinten Nationen, in der Europäischen Gemeinschaft und gegenüber anderen für die Drogenbekämpfung zuständigen Organisationen nicht länger erklären, warum wir zögern. Niemand versteht, daß die Verabschiedung der notwendigen Gesetze nur deshalb nicht voranschreiten konnte, weil wir uns in Deutschland darüber streiten, ob der Haschischkonsument bestraft werden soll oder nicht.
Diese Frage, meine Damen und Herren, hat in der Tat mit Zweck und Ziel des Übereinkommens nichts zu tun. Es geht vielmehr darum, alle Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit auszuschöpfen, um die Drogenflut einzudämmen. Es geht darum, die Produktion abzubauen und den Schmuggel zu unterbinden.
Das Übereinkommen ist für Deutschland so wichtig, weil der Drogenmißbrauch bei uns fast ausschließlich durch eingeschmuggelte Ware ermöglicht wird. Sowohl Produktion als auch Schmuggel nach Westeuropa haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die von Polizei und Zoll beschlagnahmten Dorgenmengen sind in den letzten 10 bis 12 Jahren bei Heroin durchschnittlich um das Siebenfache, bei Kokain durchschnittlich um das Vierzigfache angestiegen. Viel schlimmer ist aber, daß auch die Zahl der
Erstkonsumenten, der Abhängigen und der Drogentoten in den letzten Jahren erheblich gestiegen ist.
Heroin ist und bleibt die Todesdroge Nummer 1.
Auch Kokain taucht immer häufiger in den Polizeiberichten auf. Der illegale Angebotsdruck zwingt uns, alle Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit auszuschöpfen, damit die Drogenflut möglichst schon vor unseren Grenzen gestoppt wird.
Das Übereinkommen richtet sich gegen alle Aktivitäten des illegalen Drogenverkehrs, angefangen vom Anbau des Opiummohns, der Koka- und der Cannabispflanzen, über die Lieferung von Chemikalien, die Geldwäsche, die Drogenproduktion und den Drogenschmuggel bis hin zu Handel und Verteilung in der Drogenszene. Das vorliegende Ausführungsgesetz schafft die Rechtsgrundlagen für neue wirksame Maßnahmen gegen Drogenhändler, die bisher noch nicht möglich waren.
Meine Damen und Herren, dieses wichtige Übereinkommen hat der damalige Außenminister Genscher für die Bundesrepublik Deutschland bereits am 19. Januar 1989 in Wien unterzeichnet, ohne dabei irgendwelche Vorbehalte anzumelden. Dem Hohen Haus sind die Gesetzentwürfe bereits im Oktober vorigen Jahres zugleitet worden. Eine unselige Debatte über angeblich notwendige Vorbehalte hat die Verabschiedung bis heute verzögert.
Frau Staatssekretärin, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Singer zulassen?
Ja.
Können Sie mir bitte sagen, welche Maßnahmen in den beiden Gesetzen stehen, die sich gegen die internationalen Kartelle richten?
Herr Singer, ich denke, daß Sie sich in Vorbereitung Ihrer Rede ausführlich mit dem Gesetzentwurf beschäftigt haben, und ich glaube, daß das jetzt nicht noch unbedingt ausführlich hier berichtet werden sollte. Denn Sie wissen genau, daß ganz neue Maßnahmen zum Drogenverkehr in diesem Übereinkommen stehen.
Ich muß nicht Ihre Hausaufgaben hier im Hohen Haus erfüllen.
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Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-PohlIch habe nur wenig Zeit. Bei vier Minuten muß ich hier nicht auch noch die Gesetze ausführlich vorlesen.
Frau Staatssekretärin, es besteht noch ein Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar von Herrn Kollegen Hans de With.
Frau Präsidentin, ich möchte jetzt nicht noch einmal über den Inhalt des Gesetzes sprechen,
sondern ich möchte zu den Ausführungen der SPD zur Drogenpolitik der Bundesregierung Stellung nehmen, und ich habe nicht mehr viel Zeit.
Ich denke, daß auch die SPD in der Lage ist, Gesetzentwürfe zu lesen.
Eine Debatte des Bundestages ist ja nicht unbedingt dazu da, der SPD die Gesetzentwürfe vorzulesen, sondern über Inhalte streitig zu diskutieren.
Meine Damen und Herren, wir werden an unserer Drogenpolitik festhalten, und das heißt für uns: Der Besitz und Erwerb von Drogen auch für den unerlaubten Eigenkonsum muß als Straftat eingestuft bleiben. Nur eine Strafvorschrift ist eine wirksame Hemmschwelle für Drogenkonsumenten und Drogenhändler. Nur eine Strafvorschrift ermöglicht der Polizei, die notwendigen Ermittlungsmaßnahmen nach der Strafprozeßordnung durchzuführen. Eine bloße Ordnungswidrigkeit oder gar die Freigabe von sogenannten weichen Drogen sind das falsche Signal. Das führt zwangsläufig zum Anstieg des Drogenkonsums. Darüber hinaus beschert ein solches Signal den internationalen Drogenhändlern die Aussicht auf steigenden Absatz in unserem Land. Die Folge wäre eine noch stärkere illegale Aktivität in Deutschland.
Auf der anderen Seite verhindert eine Strafvorschrift nicht, meine Damen und Herren von der Opposition, daß Drogenkonsumenten und Abhängige auch bei uns entkriminalisiert werden können. Drogenabhängige sind Kranke, die Hilfe brauchen. Rund zwei Drittel aller Strafverfahren, Herr Singer, wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz werden nämlich vor der gerichtlichen Aburteilung eingestellt.
Diese Einstellungen betreffen in der Regel Drogenkonsumenten, denen anstelle einer Bestrafung sozialpädagogische oder therapeutische Maßnahmen zuteil werden. Zur Zeit werden 5 000 Substitutionsbehandlungen von den Krankenkassen bezahlt.
Herr Singer, Sie sagten, daß ich das Gesetz nicht kenne. Sie scheinen die niederländischen Gesetze nicht zu kennen.
Sonst würden Sie nämlich wissen, daß die Niederländer außer dem Opportunitätsprinzip die gleichen gesetzlichen Rahmenbedingungen haben wie die Deutschen.
— Sie haben vorhin etwas anderes behauptet. Wie wir haben die Niederländer die Strafbarkeit bei Erwerb und Besitz zum Eigenkonsum beibehalten.
Also machen Sie bitte auch Ihre Schularbeiten.
Diese Maßnahmen werden durch das neue Übereinkommen und das Ausführungsgesetz nicht im geringsten beschnitten, sondern ausdrücklich bestätigt.
Helfen Sie mit, daß Deutschland nicht zum Eldorado für internationale Geldwäscher und Rauschgifthändler wird! Stimmen Sie für uns das neue Suchtstoffübereinkommen und dessen sofortige Umsetzung in unserem Land!
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Jürgen Meyer ums Wort gebeten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede der Frau Staatssekretärin hat gezeigt, daß ihr nicht voll vertraut ist, was die Bundesregierung eigentlich will. Ergänzungsfragen hat sie nicht beantwortet.Ich weise darauf hin: Es gibt nicht „angeblich notwendige Vorbehalte" zu der Vorlage der Bundesregierung, sondern einen Vorbehalt, den die Bundesregierung selber ankündigt. Es gibt auch nicht etwa die Notwendigkeit von Strafvorschriften in der absoluten Form, wie die Staatssekretärin sie vorgetragen hat, sondern die Bundesregierung selbst legt einen Vorbehalt vor, der von der Frau Bundesjustizministerin im Rechtsausschuß wie folgt erläutert worden ist: Die Weiterentwicklung der „Grundzüge der Rechtsordnung" der Bundesrepublik kann erstens die erweitere Einführung des Opportunitätsprinzips bedeuten — was Sie, Frau Staatssekretärin, bestritten haben —, zweitens die Umstellung von Strafvorschriften auf Ordnungswidrigkeiten — was Sie ebenfalls bestritten haben — und drittens sogar das Absehen von Strafe im unteren Deliktsbereich des Besitzes von Drogen zum Eigengebrauch.
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Dr. Jürgen Meyer
Wenn die Bundesregierung mit zwei Zungen redet, halte ich es für notwendig, hier im Plenum festzustellen, was die Bundesregierung unter anderem im Rechtsausschuß erklärt hat. Wer für Klarheit sorgen will, der sollte deshalb dem Vorbehalt, den die SPD-Fraktion beantragt, zustimmen, damit wir genau wissen, was wir hier beschließen und was nicht.
Zu einer Erwiderung auf diese Kurzintervention hat die Frau Staatssekretärin oder die Frau Abgeordnete das Wort. Sie können, weil Sie als Staatssekretärin angesprochen worden sind, vom Rednerpult aus antworten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die SPD hat ihre Hausarbeiten doch nicht gemacht. Sonst wüßte sie, daß wir nicht einen Vorbehalt vorlegen, sondern eine Interpretationserklärung. Denn der Vorbehalt ist schon enthalten.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Daher kommen wir —
— Darf ich einmal bitten: Im Moment hat überwiegend die Frau Präsidentin das Wort.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Suchtstoffübereinkommen 1988 auf der Drucksache 12/3346. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 12/4901 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt zu diesem Vertragsgesetz außerdem, die Bundesregierung aufzufordern, bei der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde eine Interpretationserklärung abzugeben. Mit dem Entschließungsantrag auf Drucksache 12/4914 beantragt die Fraktion der SPD ebenfalls, die Bundesregierung aufzufordern, eine Interpretationserklärung abzugeben. Der Sache nach wird damit eine Änderung der vom Ausschuß empfohlenen Erklärung gewünscht.Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich deshalb über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zuerst abstimmen. — Ich höre keinen Widerspruch; dann können wir so verfahren.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.Wer stimmt für die Ausschußfassung dieser Erklärung? — Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? — Die Ausschußfassung ist damit angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ausführung des Suchtstoffübereinkommens auf den Drucksachen 12/3533 und 12/4901. Dazu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Mit Einverständnis der Antragsteller stimmen wir über die Änderungsanträge jeweils gemeinsam ab.Zunächst kommen wir zu den Änderungsanträgen der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4913. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit sind die Änderungsanträge abgelehnt.Wir stimmen jetzt über die Änderungsanträge der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/4912 ab. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit sind diese Änderungsanträge bei einer großen Anzahl von Stimmenthaltungen abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen! — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer und der Gruppe der PDS/ Linke ListePatentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen— Drucksache 12/4577 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für GesundheitAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitEG -AusschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Dürfte ich darum bitten, daß diejenigen, die den Raum verlassen wollen, das mit der gebotenen Eile und vielleicht auch ruhig tun. — Ich bedanke mich für das Verständnis und bitte diejenigen, die den Beratungen weiter folgen wollen, Platz zu nehmen.Interfraktionell ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. Gibt es dazu anderweitige Meinungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
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Vizepräsidentin Renate SchmidtIch eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Ursula Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit mehreren Jahren erteilt das Europäische Patentamt in München auf Grund abenteuerlicher Rechtskonstruktionen Patente auf Gene, Pflanzen und Tiere. Die Begriffe „Tierarten" und „Pflanzensorten", deren Patentierung vom Gesetz und dem Europäischen Patentübereinkommen ausdrücklich ausgeschlossen wird, sind so uminterpretiert worden, daß sie faktisch keine Pflanze und kein Tier vor Patentierung schützen.Das Europäische Patentamt geht dabei derart hemmungslos vor, daß es selbst jeden Überblick über die bereits genehmigten Genpatente verloren hat — siehe eine Kleine Anfrage und die Beantwortung von uns. Dieses Amt und sein Chef, Herr Braendli, wollen den qualitativ neuen Charakter von Patenten auf die Bausteine der Natur gegenüber solchen auf Erfindungen und Gegenstände Schlichtweg ignorieren.Meine Damen und Herren, uns geht es nicht um einen Angriff auf das Patentrecht, sondern um einen ethisch nicht zu rechtfertigenden Mißbrauch dieses Rechtes. Tatsache ist, daß das Europäische Patentamt Patente auf Pflanzen, Tiere und sogar menschliche Gene vergibt. Auch Ansprüche auf die Gene, die hier enthalten sind, werden vergeben. In Wirklichkeit besteht dazu keine Notwendigkeit.Wir dürfen dem Treiben des Europäischen Patentamtes nicht länger tatenlos zuschauen; wir müssen ihm klare Grenzen setzen. Bei menschlichem und natürlichem Leben muß diese Grenze ganz eindeutig sein. Gene, Pflanzen und Tiere dürfen nicht patentierbar sein. Stellen Sie sich bitte einmal vor, welche Wirkung die Konzentration von Genpatenten in den Industriestaaten für die Länder der sogenannten Dritten Welt haben wird. Es kann keinen Zweifel geben, daß es so kommen wird. Den sogenannten Entwicklungsländern werden ihre genetische Vielfalt und die Natur entrissen. Es ist dann wieder einmal der Norden; der einen Anteil beansprucht, der ihm nicht zusteht. Zum Beispiel hat die Firma Merck für nur 1 Million DM das gesamte genetische Material Costa Ricas aufgekauft. Die Folge wird sein, daß sich die Schere zwischen den reichen und den armen Teilen der Erde immer weiter öffnet. Das jedoch ist das ganze Gegenteil einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik und im übrigen auch einer Innenpolitik.Meine Damen und Herren, die Würde des Menschen muß unser Bezugsrahmen sein, wenn wir über die Patentierung menschlicher Gene diskutieren. Diese spezifische Würde verbietet es uns, Menschen zur privatrechtlichen Verwertung freizugeben. Eine erfolgreiche Gesundheitsfürsorge benötigt keineswegs Genpatente. Es ist deshalb kein Versehen, daß sich Herr Vilmar, der Präsident der Bundesärztekammer, gegen eine Patentierung von Genen aussprach.Ich weise an dieser Stelle darauf hin, daß das Europäische Patentamt zwischen menschlichen, tierischen und pflanzlichen Genen nicht unterscheidet. Es betrachtet ein Gen ausschließlich als biochemische Einheit. Nur die Patentierung menschlicher und tierischer Gene verbieten zu wollen macht insofern keinen Sinn. In der Konsequenz würde das auch heißen, Pflanzen auf die Ebene toter Gegenstände zu stellen. All unsere Erfahrung spräche gegen diese Einschätzung. Wir wollen und müssen die gesamte Natur achten — das sagen Sie ja immer.In der Aktuellen Stunde zum gleichen Thema vor einigen Wochen äußerten einige Rednerinnen und Redner die Ansicht, die von der EG verabschiedete Richtlinie für biotechnologische Erfindungen werde ethischen Erwägungen gerecht. Dieser Ansicht muß ich energisch widersprechen. Diese Richtlinie verbietet mitnichten die Patentierung von Genen; sie formuliert einzig gewisse Auswahlkriterien. Die Interpretierung dieser Formulierungen obliegt wiederum dem Europäischen Patentamt. Wer sagt denn, daß mit den Worten „Teile des Menschen" auch die Gene gemeint sind? Vor allen Dingen, wer macht das dem Europäischen Patentamt klar? Im übrigen müßten auch Sie wissen, daß die Patentierung menschlicher Gene im Zusammenhang mit einer möglichen Krankheitsbekämpfung durch die EG-Richtlinie ausdrücklich zugelassen wird.Ich komme zu einem zentralen Problem. Wer kontrolliert eigentliche das Europäische Patentamt? Wird es sich überhaupt an eine EG-Richtlinie gebunden fühlen? Die bisher außergewöhnliche Rechtsstellung des Europäischen Patentamtes kann nicht weiter geduldet werden. Es muß zumindest eine unabhängige Klageinstanz bei Entscheidungen dieses Amtes geben. Die dem Amt angegliederten Beschwerdeausschüsse sind in erster Linie Alibi-Gremien, wird doch ihre Zusammensetzung durch den Chef des Europäischen Patentamtes wesentlich beeinflußt.Meine Damen und Herren, das darf so nicht bleiben. Möglicherweise muß sogar das Europäische Patentübereinkommen verändert werden.Als wir vor einigen Wochen in der Aktuellen Stunde berieten, verabschiedete zeitgleich das Europaparlament eine Resolution gegen das Patent auf die sogenannte Krebsmaus, den bisher wohl berühmtesten Patentfall. Die EG-Richtlinie war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon verabschiedet und sah kein Verbot der Tierpatentierung vor. Das zeigt, wie wichtig eine erneute Diskussion wäre. Wir plädieren deshalb für eine Zurückweisung dieser Richtlinie.Beim Europäischen Patentamt liegen Anträge für genmanipulierte Schafe, Stiere, Hunde, Katzen und vieles mehr vor. Versuchen wir, diese Patente noch zu verhindern. Gene dürfen nicht Privatbesitz werden.Allein ein Verbot der Patentierung von Genen, Tieren und Pflanzen wird der Würde des Menschen und der Achtung der gesamten Natur gerecht. Menschen, Tiere und Pflanzen dürfen nicht wie Gegenstände behandelt werden. Leben darf nicht patentierbar sein.Ich bitte Sie an dieser Stelle, den Antrag zusätzlich noch an den Umweltausschuß, an den Ausschuß für Frauen und Jugend und an den Ausschuß für Familie und Senioren zu überweisen, weil diese ethische
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Dr. Ursula FischerProblematik dort ganz sicher besprochen werden muß.
Als nächster hat der Kollege Heinrich Seesing das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedaure, daß wir nicht die Zeit haben, eingehend einige Grundfragen zu diskutieren, die durch den Antrag der PDS/Linke Liste aufgeworfen werden. Wir werden die Ausschußarbeit nutzen müssen, um hier Antworten zu finden.
Zur gleichen Zeit werden wir aber auch den geänderten Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für eine Richtlinie des Rates über den Rechtsschutz für biotechnologische Erfindungen zu beraten haben. Mehr ist es nicht, Frau Fischer. Es ist noch keine gültige Richtlinie.
Gerade die ethische Dimension von biotechnologischen Erfindungen steht im Mittelpunkt der Diskussion, z. B. auch im Europäischen Parlament. Ich halte auch die Bestimmung des deutschen Patentgesetzes nicht mehr für ausreichend, wenn es da heißt:
Patente werden nicht erteilt für
1. Erfindungen, deren Veröffentlichung oder Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde;
2. Pflanzensorten oder Tierarten sowie für im wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren.
Diese klassischen Argumente für den Ausschluß von der Patentierbarkeit müssen schon durch entsprechende Leitlinien für das Europäische Patentamt, für die nationalen Patentämter und für die nationalen Gerichte ergänzt werden.
Ich habe hier schon einmal erklärt, daß ich meine Vorbehalte gegen eine Patentierbarkeit von Pflanzen, Tieren und erst recht von Verfahren am Menschen und von Teilen des menschlichen Genoms habe. Aber ich bin nicht so blauäugig, daß ich nicht die Entwicklungen in der Welt sehe. Erfindungen und Entdeckungen gerade im Bereich der modernen Technologien kommen in aller Regel nur nach einem erheblichen Aufwand an finanziellen Mitteln, besonders aber auch an Denkleistungen zustande.
Erfindungen auf dem Gebiet der Bio- und Gentechnologie werden immer mehr in Produkte und Verfahren umgesetzt. Damit können Arbeitsplätze geschaffen und Geld verdient werden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß alle Staaten, die sich dem Europäischen Patentübereinkommen angeschlossen haben, auf die Idee kommen, sich den Vorstellungen der PDS/Linke Liste anzuschließen, und alle Patente des Europäischen Patentamtes wieder zurücknehmen, bei denen Pflanzen, Tiere und Gene eingeschlossen sind. Ich neige mehr dazu, zu versuchen, die wichtigsten ethischen Probleme im Zusammenhang mit der Richtlinie des Rates über den Rechtsschutz für biotechnologische Erfindungen zu lösen. Ich glaube, da haben wir genügend Ansatzpunkte.
Im Grunde ist es ja absurd, wenn wir ethische Probleme im Patentrecht regeln wollen. Es geht wohl, so habe ich den Eindruck, vielmehr darum, die Gentechnologie zu verhindern. Das wird aber nicht mehr möglich sein. Sie ist in der Welt. Die Frage ist nur, was wir daraus machen. Zur Zeit lacht sich die Welt kaputt über die dummen Deutschen, die noch immer dieser Technologie jedes Hemmnis, das nur denkbar ist, in den Weg legen.
Viele von uns lehnen die Chemie ab. Jetzt lehnen sie auch die Biologie ab. Was lehnen sie morgen ab?
Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Kollege Professor Christoph Schnittler. — Er ist mir zwar von der F.D.P. gemeldet worden, ist aber nicht im Saal.
Dann spricht als nächster der Kollege Ludwig Stiegler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die im Antrag angesprochenen Fragen sind in diesem Parlament und in der Enquete-Kommission Gentechnologie bereits mehrfach intensiv erörtert worden, und wir sind noch nicht am Ende dieser Diskussion. Deshalb wird dieser Antrag sicherlich Gegenstand der Beratungen auch im Rechtsausschuß sein. Wir haben heute begonnen, den geänderten Vorschlag der europäischen Richtlinie intensiv zu diskutieren. Wir werden dazu auch eine Anhörung veranstalten. Es ist klar, daß wir gerade im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes die damit verbundenen ethischen Fragen vertieft diskutieren müssen.Wir müssen aber diese Diskussion in ein internationales Umfeld hineinstellen. Wir wissen, wir können national nicht allein handeln. Ja, wir können nicht einmal europäisch allein handeln, jedenfalls nicht über diesen Weg. Es bleibt zwar noch immer möglich, daß man bestimmte Produkte und Verfahren national verbietet; damit sind sie aber nicht aus der Welt. Wir erleben massiv Abwanderungen etwa nach Amerika und in andere Regionen dieser Welt. Das heißt, wenn wir die ethischen Grundfragen in den Griff bekommen wollen, müssen wir darauf achten, daß wir den internationalen Diskussionszusammenhang wahren und einen Code of conduct international mit erarbeiten. Aber, wie gesagt, das schließt Fortschritte in der europäischen Entwicklung nicht aus.Wer sich den ersten Richtlinienvorschlag der Kommission im Vergleich zu dem jetzt geänderten Vorschlag ansieht und berücksichtigt, daß die Diskussion nicht zu Ende ist, sondern daß die Verhandlungen weitergehen, der wird sehen, daß wir die Bereiche der ethischen Überprüfung von Entscheidungen des gewerblichen Rechtsschutzes intensiv erfassen.Ich lese hier aus dem geänderten Vorschlag vor. Nach diesem geänderten Vorschlag sind nicht paten-tierbar der menschliche Körper oder Teile des menschlichen Körpers. Es sind nicht patentierbar Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität des menschlichen Körpers zu anderen als zu thera-
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Ludwig Stieglerpeutischen Zwecken oder unter Verletzung der Menschenwürde. Es sind nicht patentierbar Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität von Tieren, die geeignet sind, ein Leiden oder körperliche Beeinträchtigungen der Tiere ohne jeglichen Nutzen für den Menschen oder für das Tier zu verursachen.Das sind drei Bremsen, die eingebaut sind. Wir werden über ihre Reichweite und über ihre Tragweite intensiv weiter diskutieren. Wir sind uns mit dem Europäischen Parlament in der Ablehnung der Krebsmaus und solcher Entscheidungen einig. Nur, wir müssen uns bei dieser Entscheidung immer klar sein, daß diejenigen, die so etwas betreiben, ihre internationalen Ausweichmöglichkeiten haben. Wir werden nur erfolgreich sein, wenn wir von vornherein alle Entscheidungen auch auf Internationalität einstellen. Deshalb ist es wichtig, daß auf Grund dieses Antrages oder vieler anderer Anträge — es gibt im Forschungsausschuß einen SPD-Antrag, der in seinen Forderungen noch wesentlich weiterreicht als dieser Antrag — die Anregungen diskutiert werden.
— Er ist viel vernünftiger, sagt Herr Seesing. Das ist eine bemerkenswerte Einsicht. Aber Sie haben sich schon immer durch große Liberalität ausgezeichnet. Herzlichen Dank!Auf dieser Grundlage werden wir die Beratungen im Rechtsausschuß führen und werden versuchen, die Beratungen in der Ratsgruppe zu beeinflussen, und, wenn das Ganze demnächst auf die politische Ebene kommt, auch hier die Weichen zu stellen. Aber eines muß uns klar sein: Wir müssen die Zusammenarbeit mit den Europa-Parlamentariern ausweiten. Wir müssen auch mit den anderen nationalen Parlamenten diesen Bereich diskutieren, insbesondere mit den Amerikanern. Sonst werden wir eine Entscheidung sozusagen im Wasserglas treffen, aber der Ozeandampfer fährt in die andere Richtung. Wir müssen den Dampfer umdirigieren, wenn wir die Dinge beeinflussen wollen, und Hans de With muß noch länger warten, bis er für den Lauschangriff seine genetisch manipulierte Wanze hat.Vielen Dank.
Als nächster hat der Kollege Ulrich Briefs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Nukleartechnik sind die Möglichkeiten zum Eingriff in die feinsten Strukturen der toten Materie geschaffen worden. Die Folgen, Tschernobyl und anderes, kennen wir inzwischen. Mit der Gentechnik kommen der Eingriff und die systematische Manipulation der feinsten Strukturen der lebendigen Materie hinzu. Die Folgen kennen wir noch nicht umfassend. Die möglichen Gefahren aber werden von den Profiteuren der industriellen Ausbeutung dieser Technik geleugnet.Sie stehen Gewehr bei Fuß, um sich die erwarteten und erhofften Märkte von Hunderten von Milliardenvon Dollar, Yen und D-Mark zu eigen zu machen. Damit das schnell und wirksam geschieht, brauchen sie die Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen. Statt sich erst einmal voll und ganz über die Gefahren für das menschliche, für das tierische und für das pflanzliche Leben zu informieren, will man ganz schnell die Weichen dafür stellen, daß die Natur restlos privatwirtschaftlicher Verfügung und Verwertung unterworfen wird. Auch das menschliche Erbgut soll ökonomisch verwertbar gemacht werden.Steht uns so etwas wie eine auf High-Tech gegründete, eine auf Spitzentechnologien gegründete neue Leibeigenschaft mehr als 100 Jahre nach ihrer fast vollständigen Abschaffung bevor?
— Hören Sie einmal gut zu; gerade Sie brauchen das.Die Kampagne „Kein Patent auf Leben" schreibt dazu:Schon die gentechnologische Beschreibung eines Gens einer Pflanze, eines Mikroorganismus, kann ausreichen, um direkte Patentansprüche abzuleiten. Nicht eine Erfindung, sondern lediglich die erstmalige Beschreibung dieser speziellen Terminologie genügt, um Besitzrechte zu erhalten. Das gab es nie zuvor. Durch diese Entwicklung wird die Gentechnologie innerhalb kürzester Zeit aus dem Gebiet der Grundlagenforschung in das Zentrum von Macht, Besitz und Kapital hineinkatapultiert. Die Gentechnologie wird zum Instrument zur Inbesitznahme von Nahrungsmitteln, Arzneimitteln, Saatgut, Säugetieren, menschlichen Genen. Diese Möglichkeit unterscheidet die Gentechnologie grundlegend von allen bisher existierenden Technologien.Ich glaube, das spricht ganz klar die Gefahren an.Mit der Biotechnik und der Patentierung biotechnischer Erfindungen wird auch die verdeckte Ausbeutung der „Dritten Welt" — in Anführungszeichen — intensiviert. Diese „Dritte Welt" muß noch mehr ihrer natürlichen Reichtümer und ihrer eh schon geringen Arbeitsproduktivität gegen kapitalintensiv produzierte Biotechnikprodukte aus unseren Ländern, aus der sogenannten Ersten Welt, abliefern.Noch eine Gefahr droht — das sage ich aus der betrieblich-gewerkschaftlichen Erfahrung heraus —: Die Konzerne legen nicht nur über die Gentechnik ihre gierigen Hände auf die lebendige Materie und die natürliche Vielfalt, einschließlich der menschlichen. Sie werden auch die notwendigen Informationen über Gefahren und Folgen, über Pannen und Unfälle — Hoechst läßt schön grüßen — als Betriebs-und Geschäftsgeheimnisse behandeln lassen, wie sie das z. B. gegenwärtig mit Unterstützung dieser Bundesregierung bei umweltrelevanten Informationen bereits in Angriff genommen haben.Ein letztes Wort, Frau Präsidentin, zum Antrag. Ich hätte es in diesem Zusammenhang befriedigender gefunden, wenn die Kolleginnen und Kollegen von der PDS/Linke Liste im Antrag auch ein Wort über die verhängnisvolle produktivistisch, technologieorien-
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13438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Mai 1993
Dr. Ulrich Briefstierte Politik, die in den Ländern des real existierenden Sozialismus — was immer das war — betrieben worden ist, gefunden hätten, wenn man so etwas zumindest als Merkposten — ich denke, das ist nach wie vor ein Problem — in diesem Zusammenhang einmal finden würde.Danke schön, Frau Präsidentin.
Nun hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rainer Funke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte an dem anschließen, was der Kollege Stiegler gesagt hat, nämlich daß der Schutz des geistigen Eigentums auch in der Bundesrepublik eine besondere Rolle spielt.
Die Bundesregierung schützt dieses geistige Eigentum ganz besonders. Wie in anderen Bereichen der Technik verdient auch der Erfinder einer gewerblich nutzbaren Innovation im Bereich der Biotechnologie eine Absicherung durch gewerbliche Schutzrechte.
— Hören Sie ruhig zu, dann werden Sie sehen. Ich muß Ihnen offensichtlich die Rechtsgrundlagen erst einmal erläutern. Ihr Antrag zeigt ja, daß Sie zu den Rechtsgrundlagen bisher noch nicht durchgedrungen sind.
Dieser Schutz wird durch Patente gewährleistet, die für eine begrenzte Zeit dem Erfinder das Recht zuweisen, Nachahmungen seiner vielfach unter großem Zeit- und Kostenaufwand getätigten Erfindungen unterbinden zu können. Ohne diesen Schutz vor Nachahmern, die die erheblichen Forschungs- und Entwicklungskosten für neue Produkte einsparen und daher erheblich günstiger anbieten könnten, wäre der Innovator der Piraterie gegen das geistige Eigentum schutzlos preisgegeben. Der Schutz der geistigen Leistung ist damit nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch der wirtschaftlichen Vernunft, und die geht Ihnen vielleicht noch ab.
Der vorliegende Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste, mit dem die Erteilung von Patenten auf Pflanzen, Tiere und Gene generell unterbunden werden soll, läuft aber nicht nur diesen Grundsätzen, also rechtlichen und wirtschaftlichen Grundsätzen, zuwider.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischer?
Bitte schön.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sind Sie in der Lage, zur Kenntnis zu nehmen, daß es hier um Patentrecht geht, um das Patentrecht auf menschliches Leben, auf anderes Leben usw., nicht um Patentrecht im Allgemeinen? Im übrigen haben sich Rechtsanwälte inzwischen sehr ausführlich damit beschäftigt. Es geht nicht nur um ethische Probleme, es geht nicht um Erfindungen, es geht um keine Anlagen, es geht auch nicht um die Forschung.
Ich frage Sie, ob Sie auch wirklich zum Thema an sich Stellung nehmen wollen.
Ich glaube, ich habe eingangs deutlich gemacht, daß diese Fragen auch Fragen des gewerblichen Rechtsschutzes sind und in diesem Zusammenhang auch im Hinblick — ich werde darauf noch eingehen — auf die internationalen Vereinbarungen, nämlich z. B. das Europäische Patentübereinkommen, zu berücksichtigen sind. Insoweit wäre ich dankbar, wenn Sie die Geduld hätten, sich meine Ausführungen noch anzuhören. Dann werden Sie sehen, daß ich auf Ihre Bedenken noch eingehe.
— Ja, den Eindruck habe ich auch.Wer die Abschaffung des Patentschutzes im Bereich der Biotechnologie fordert, der fordert damit auch eine Verletzung der internationalen Übereinkommen, wie das Europäische Patentübereinkommen, und riskiert eine völlige Isolation der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Bereich. Er stellt die Grundlagen für eine erfolgreiche Forschungs- und Entwicklungstätigkeit im Bereich der Biotechnologie und der Pflanzen- und Tierzüchtung in Frage. Wer zudem fordert, Pflanzen und Tiere dürften nicht wie Gegenstände der Verfügung des Menschen unterliegen, verkennt die rechtlichen Gegebenheiten. Wer der Allgemeinheit neue und verbesserte biotechnologische Verfahren und Züchtungsergebnisse zur Verfügung stellt, verdient auch Schutz dagegen, daß Dritte diese Ergebnisse aus wirtschaftlichen Interessen nutzen wollen. Die Bundesregierung wendet sich deshalb mit Nachdruck gegen den vorliegenden Antrag.Meine Damen und Herren, ich betone diese ganz grundsätzlichen Punkte, weil sich die Bundesregierung zu den Grundsätzen des Europäischen Patentübereinkommens und zum Europäischen Patentsystem bekennt. Patente für lebende Materie werden seit jeher erteilt, wobei erweiterte technische Möglichkeiten auch zu einem entsprechend erweiterten Schutzbedürfnis geführt haben. Nach dem Europäischen Patentübereinkommen sind Patente für biologisches Material einschließlich von Pflanzen und Genen zulässig. Ausgeschlossen sind dagegen Patente für Pflanzensorten, für die mit dem Sortenschutzrecht ein gesonderter Schutz bereits besteht, sowie für Tierrassen und für sittenwidrige Erfindungen. Bei diesen bewährten Grundsätzen soll es nach Meinung der Bundesregierung auch bleiben. Sie werden auch der im Entwurf vorliegenden EG-Richtlinie über den
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Parl. Staatssekretär Rainer Funkerechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen zugrunde liegen.Soweit gegen einzelne Erfindungen ethische Bedenken bestehen — der Kollege Seesing hat darauf hingewiesen —, werden diese durch das im geltenden Recht bereits enthaltene Verbot der Patentierung sittenwidriger Erfindungen berücksichtigt. Keineswegs darf über solche Bedenken hinweggegangen werden. Generell alle Erfindungen, die Pflanzen oder Tiere betreffen, ohne Ansehen des Einzelfalls als sittenwidrig abstempeln zu wollen, geht aber zu weit. Auch wenn man über den Nutzen einzelner Innovationen durchaus streiten kann: Die Frage nach der gesellschaftlichen Wünschbarkeit neuer Technologien kann das Patentrecht nicht beantworten; dazu ist es auch nicht da.Meine Damen und Herren, ebenso wie es technischen Fortschritt nicht zum Nulltarif gibt, kann man die notwendige rechtliche Kontrolle der gentechnischen Forschung nicht durch Einschränkungen oder gar Abschaffung des Innovationsschutzes erreichen. Der vorliegende Antrag der PDS trägt zur Lösung der vielen offenen Fragen im Bereich der Gentechnik, aber auch im Bereich der ethischen Probleme und Fragen der Biotechnologie nichts bei.Lassen Sie mich abschließend sagen: Manchmal hilft ein Blick in das Gesetz auch dann, wenn man wissenschaftliche Ausführungen machen will.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir sind damit am Schluß der Aussprache angekommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vorgeschlagen.
Die Gruppe PDS/Linke Liste wünscht die Federführung beim Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung sowie zusätzlich die Überweisung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuß für Familie und Senioren, den Ausschuß für Frauen und Jugend und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft. Der Ausschuß für Wirtschaft soll die Vorlage nicht erhalten.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der PDS/Linke Liste? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Wer stimmt für den interfraktionellen Überweisungsvorschlag? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der interfraktionelle Überweisungsvorschlag angenommen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angelangt. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 14. Mai 1993, 9 Uhr ein und kann heute nicht einmal eine gute Nacht wünschen, sondern nur einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.