Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen!Der Ältestenrat hat in seiner Sitzung am 20. September 1990 vereinbart, in der Sitzungswoche vom 2. Oktober 1990 keine Fragestunden und keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Das sehe ich so.Interfraktionell ist ferner vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Intervention von Getreide ab sofort, spätestens ab 1. Oktober 1990, auf Drucksache 11/7954 zu erweitern. Über den Antrag soll im Anschluß an Tagesordnungspunkt 10 abgestimmt werden. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Laufs, Dr. Wittmann, Eylmann, Frau Augustin, Austermann, Börnsen , Breuer, Clemens, Dörflinger, Dr. Fell, Fischer (Hamburg), Francke (Hamburg), Frau Geiger, Dr. Grünewald, Frau Dr. Hellwig, Herkenrath, Hornung, Dr. Jobst, Dr.-Ing. Kansy, Dr. Kappes, Kossendey, Lenzer, Maaß, Magin, Marschewski, Dr. Möller, Müller (Wadern), Müller (Wesseling), Nelle, Oswald, Pesch, Dr. Pohlmeier, Frau Rönsch (Wiesbaden), Rossmanith, Frau Schätzle, Schmidbauer, Dr. Schroeder (Freiburg), Schwarz, Dr. Schwörer, Seesing, Spilker, Dr. Stercken, Dr. Uelhoff, Frau Verhülsdonk, Frau Dr. Wisniewski, Zierer und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kleinert (Hannover), Baum, Cronenberg (Arnsberg), Dr. Feldmann, Frau Folz-Steinacker, Funke, Gattermann, Irmer, Kohn, Dr. Graf Lambsdorff, Richter, Ronneburger, Frau Dr. Segall, Frau Seiler-Albring, Dr. Weng (Gerlingen), Wolfgramm (Göttingen), Frau Würfel und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes— Drucksache 11/7423 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußb) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Sechsunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes— Drucksache 11/10 —Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 11/7905 —Berichterstatter:Abgeordnete Bachmaier EylmannHäfnerKleinert
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Umweltschutzes als Grundrecht und als Staatsziel— Drucksache 11/663 —Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 11/7905 —Berichterstatter:Abgeordnete Bachmaier EylmannHäfnerKleinert
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Sechsunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksache 11/885 —
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17962 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Präsidentin Dr. Süssmuthaa) Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 11/7905 —Berichterstatter:Abgeordnete Bachmaier EylmannHäfnerKleinert
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/7939
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung eine Stunde vereinbart worden. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Eylmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mütter und Väter des Grundgesetzes standen auf Grund ihrer Weimarer Erfahrungen normierten Staatszielen skeptisch gegenüber; aber was sie in jenen Nachkriegsjahren besonders bewegte und bedrängte, fand doch seinen Niederschlag in der Verfassung. Die schmerzliche Teilung unseres Vaterlandes führte zum Wiedervereinigungsgebot, das sich in diesen Tagen vollendet, die furchtbaren Kriegserfahrungen spiegelten sich im Friedensgebot und im Verbot des Angriffskrieges wider, die Not der Nachkriegsjahre und das Bestreben, ein gerechteres Deutschland zu schaffen, bildeten den Hintergrund des Sozialstaatsprinzips.Wäre den Schöpfern des Grundgesetzes die ökologische Bedrohung unserer Tage bewußt gewesen, ich bin einigermaßen sicher, sie hätten die Sicherung der natürlichen Grundlagen unseres Lebens als Ziel staatlichen Handelns im Grundgesetz erwähnt. Was sie damals nicht wußten und taten, wollen wir heute nachholen.Der Satz „Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem Schutz des Staates" ist klar und bedarf allenfalls insoweit einer Erläuterung, als hier von den Lebensgrundlagen „des Menschen" die Rede ist. Manche wollen das Leben „an sich" schützen. Mir erscheint diese Differenzierung wegen der allgemeinen Vernetzung aller Lebensvorgänge wenig bedeutsam.Gestritten wird merkwürdigerweise vor allem über den zweiten Absatz unseres Entwurfs: „Das Nähere regeln die Gesetze". Die Opposition sagt, dies sei ein Gesetzesvorbehalt, und will damit suggerieren, das Staatsziel Umweltschutz könne jederzeit durch einfaches Gesetz eingeschränkt werden. Das ist falsch. Dieser Satz ist kein Gesetzesvorbehalt in dem uns bei den Grundrechten geläufigen Sinn eines Eingriffsvorbehalts,
sondern ein Gesetzgebungsauftrag. Er verdeutlicht, wer in erster Linie Adressat einer Staatszielbestimmung ist: wir, der Gesetzgeber, das Parlament. Wer denn sonst?Ich habe den Eindruck, manchen in diesem Hause schwebt vor, in Zukunft könne jede Bürgerinitiative die Gewährleistung des Staatsziels Umweltschutz vor Gericht erstreiten. Denen empfehle ich nachzulesen, was das Bundesverfassungsgericht zu dem vergleichbaren Sozialstaatsprinzip gesagt hat — ich zitiere —:Das Sozialstaatsprinzip enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. Es zu verwirklichen ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers.Sehen Sie, meine Damen und Herren, genau das besagt der Satz „Das Nähere regeln die Gesetze".Daß dieser Satz den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu einem Staatsziel zweiter Klasse machen soll, ist ausgesprochener Unfug. Mit einer solchen offensichtlich abwegigen Argumentation sollte man auch in Wahlkampfzeiten seine eigene juristische Kompetenz nicht in Frage stellen. Dieser Gesetzgebungsauftrag nimmt dem Staatsziel Umweltschutz kein Gran seiner Bedeutung und seiner Reichweite.Der Einwand, nun könne der Gesetzgeber ja mit einfacher Mehrheit die Durchsetzung dieses Staatszieles regeln, ist gleich aus mehreren Gründen nicht stichhaltig. Zunächst: wäre es denn anders, wenn dieser Satz fehlen würde? Doch wohl nicht, wie die gesetzgeberische Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips zeigt. Außerdem: jedes Gesetz, das ein Staatsziel vollzieht, muß im Einklang mit den Grundentscheidungen der Verfassung stehen, insbesondere mit den dort normierten Staatszielen. Andernfalls ist es verfassungswidrig und damit nichtig. Es kann also keine Rede davon sein, daß jedes einfache Gesetz ohne Rücksicht auf seinen Inhalt das Staatsziel des Umweltschutzes leerlaufen lassen könnte.Und schließlich, meine Damen und Herren, fassen Sie doch einmal die Situation beim klassischen Gesetzesvorbehalt, dem Eingriffsvorbehalt ins Auge. Da heißt es in Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes: In das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit der Person dürfe auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Wären Sie konsequent, müßten Sie doch schon längst eine Streichung dieses Gesetzesvorbehalts verlangt haben mit der Begründung, es gehe doch nicht an, daß in elementare Menschenrechte auf Grund eines einfachen Gesetzes eingegriffen werden dürfe.Nein, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihre Argumentation ist ausgesprochen unseriös. Das gilt auch für Ihre Behauptung, die Hinzufügung des Satzes „Das Nähere regeln die Gesetze" würde dazu führen, daß es sich beim Staatsziel Umweltschutz nur noch um einen Handlungsauftrag an den Gesetzgeber ohne unmittelbare Auswirkungen auf
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17963
EylmannExekutive und Judikative handeln würde. Wiederum muß ich Sie auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes hinweisen, wonach jedes staatliche Handeln in allen drei Staatsgewalten im Einklang stehen muß mit den Wertentscheidungen der Verfassung. Werden die natürlichen Lebensgrundlagen unter den Schutz des Staates gestellt, so ist dies eine elementare Wertentscheidung unserer Verfassung, die die Exekutive bei der Ausübung ihres planerischen Ermessens, um nur ein Beispiel zu sagen, genauso bindet, wie die Gerichte bei der Auslegung unbestimmter Rechtbegriffe.Sie sagen, andere Staatsziele hätten keinen Gesetzgebungsauftrag, oder, wie Sie es nennen, keinen Gesetzesvorbehalt. Das trifft zu für das Sozialstaatsprinzip, das aber auch nur aus einem einzigen Wort, nämlich aus dem Wort „sozial" abgeleitet wird. Es trifft nicht zu für die konjunkturpolitische Direktive in Art. 109 des Grundgesetzes. Dort ist in den Absätzen 3 und 4 ausdrücklich davon die Rede, daß diese Direktive durch Bundesgesetz durchgesetzt werden könne.Ich meine, meine Damen und Herren, ein Gesetzgebungsauftrag, im Grundgesetz ausgesprochen, ist ehrlicher; denn alle stimmen darin überein, daß ein Staatsziel vom Parlament umzusetzen ist. Es ist klarer, denn es läßt bei den Bürgern nicht den falschen Eindruck entstehen, allein mit einer Änderung des Grundgesetzes sei der Umwelt schon geholfen. Es beugt auch der nicht seltenen Neigung der Gerichte vor, sich selbst als Gesetzgeber zu betätigen; es wahrt den Vorrang des Parlaments und nimmt uns zugleich in die Pflicht.Sie, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, versäumen heute eine Chance, wenn Sie nicht zustimmen. Sie treten seit Jahren für das Staatsziel Umweltschutz ein und lehnen es jetzt aus wahltaktischen Gründen ab. Gewiß, Sie mögen auf Art. 5 des Vertrages über die deutsche Einheit hoffen, wo empfohlen ist, innerhalb von zwei Jahren die Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz zu überlegen. Ich warne Sie vor übertriebenen Erwartungen.
Der bunte Strauß von Staatszielbestimmungen in der Weimarer Verfassung hat nichts bewirkt. Wir sollten unserer bewährten Verfassung nicht dadurch zu nahe treten, daß wir sie mit allerlei modischem Schnickschnack anzuhübschen versuchen.
Ich bin gegen eine Inflationierung von Staatszielen im Grundgesetz. Wegen der im wahrsten Sinne existentiellen Bedeutung der natürlichen Lebensgrundlagen ist es geboten, hier eine Ausnahme zu machen, genauso wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes Ausnahmen gemacht haben, z. B. beim Sozialstaatsgebot. Damit sollte es dann aber auch sein Bewenden haben.Sie, die SPD, verweigern sich, weil Sie der Koalition den Erfolg nicht gönnen
und im Wahlkampf mit dem Argument operieren wollen, wir hätten das, was wir uns vorgenommen haben, nicht geschafft.
Solche kleinkarierten wahltaktischen Überlegungen stellen Sie über die Sache, meine Damen und Herren. Aber Sie werden sich genauso täuschen, wie Sie sich bei der Deutschlandpolitik getäuscht haben, wo Sie jetzt auf den fahrenden Zug aufzuspringen versuchen.
Die Wähler mögen solche taktischen Neinsager nämlich nicht.Selbst wenn ich Ihren unrichtigen Standpunkt, der Gesetzgebungsauftrag schränke das Staatsziel ein, einmal übernehme, befinden Sie sich doch in der Position eines Mannes, der den Leuten draußen erklären muß, warum er 80 % dessen, was er verlangt, nur deshalb ablehnt, weil er 100 % nicht bekommen kann.
Außerdem: Worauf gründet sich denn Ihre Hoffnung, in einem gesamtdeutschen Parlament eine Zweidrittelmehrheit für Ihre Vorstellungen zu gewinnen? Eine solche Mehrheit erfordert Kompromißfähigkeit auf beiden Seiten. Wir haben diese Kompromißfähigkeit gezeigt. Wir wollten zunächst eine Abwägungsklausel aufnehmen. Sie wissen, daß ich mich im Rechtsausschuß zu einem Zeitpunkt, als ich noch nicht das Votum meiner Fraktion hatte, für das Fallenlassen dieser Abwägungsklausel ausgesprochen habe, um einen Kompromiß in dieser Frage zu erzielen. Meine Damen und Herren, Sie haben dieses Entgegenkommen nicht honoriert. Sie sind nicht darauf eingegangen, sondern Sie sind völlig stur bei Ihrer Forderung geblieben.Alle, denen die Bewahrung der natürlichen Grundlagen unseres Staates am Herzen liegt, werden das Scheitern der Grundgesetzänderung bedauern. Sie, die Sozialdemokraten, tragen die alleinige Verantwortung dafür, und das werden wir in den nächsten Wochen klarmachen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Stahl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der gestrigen Debatte über den Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten haben wir diese uns nach über vier Jahrzehnten der Trennung gegebene Chance des Zusammenschlusses mit großer Freude — mit fast 90 %iger Zustimmung ergriffen. Ich gebe gerne zu, daß mich die letzten Monate als Abgeordneter in der Politik in Bonn sehr bewegt haben. Das gilt vor allem für die nun endlich aus dem Streit kommenden Grenzfestschreibungen mit den polnischen Nachbarn an
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17964 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Stahl
Oder und Neiße. Ich habe ja dort meine Kindheit verbracht und mußte als Jugendlicher 41/2 Jahre im Arbeitslager als Internierter verbringen. Ich bin dem Schicksal dankbar, daß es mich in die Politik geführt hat und daß ich ein Stückchen dazu beitragen konnte, unter die leidige, mich oft belastende Kriegsfolgezeit einen offiziellen Schlußstrich der Versöhnung zu ziehen.Wir haben heute ebenfalls ein Gesetz zu beraten, das das Grundgesetz um einen neuen wesentlichen Punkt verändern, ja verbessern kann. Durch die Einfügung eines Art. 20a in das Grundgesetz soll eine Staatszielbestimmung zum Schutz der Umwelt in das Grundgesetz aufgenommen werden.Vergegenwärtigt man sich die Auswirkungen des über 40jährigen Wirtschaftens des kommunistischen Staates drüben — bezogen auf die Berücksichtigung des Umweltschutzes und die Einhaltung diesbezüglicher Gesetze —, dann besteht die Notwendigkeit — das wird sicherlich jeder von uns verstehen —, dem Schutz der Umwelt dadurch, daß ihm die Bedeutung eines Staatsziels zukommt, Rechnung zu tragen.Wir, die SPD-Fraktion, haben von Ihnen, von den Regierungsparteien, erwartet, daß Sie die Formulierung der SPD-Fraktion verwenden würden und daß diese heute beschlossen würde. Dabei ist wohl unbestritten, Herr Eylmann: Alle Fraktionen des Hohen Hauses sind sich darin einig, daß eine Grundgesetzänderung mit dem Ziel einer stärkeren Gewichtung des Umweltschutzes sinnvoll und notwendig ist. Versuche unsererseits, in zahlreichen Gesprächen — ich nenne in diesem Zusammenhang meine Kollegen Hermann Bachmaier und Dietmar Schütz, die bei uns vor allen Dingen für das Gesetz verantwortlich sind — eine einvernehmliche Formulierung für die Grundgesetzänderung zu finden, sind von Ihnen erst einmal auf die lange Bank geschoben worden.Die Vorgeschichte ist allen, die hieran besonders beteiligt waren, bekannt. Das Staatsziel Umweltschutz — der SPD-Entwurf sieht folgende Formulierung vor: „Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates." — ist prinzipiell, Herr Eylmann, doch wohl unbestritten. Der strittige Punkt liegt in einer Zusatzformulierung — Sie haben das ja eben gesagt — , einem Gesetzesvorbehalt, wie ihn die Koalitionsfraktionen vorschlagen. Zur rechtlichen Bedeutung dieses Zusatzes wird hier der Kollege Bachmaier, der ja diesen Gesetzentwurf federführend über fast ein Jahrzehnt im Hause behandelt hat, etwas sagen und auch die Wertung vornehmen.Deshalb ist es an dieser Stelle wohl sinnvoll, auch einiges zur Bedeutung und zum Wandel der Umweltpolitik in den letzten Jahren zu sagen. Nach Tschernobyl wurden im Juni 1986 das Amt des Bundesministers und der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit geschaffen. Ob dies auch ohne die Katastrophe und ohne die nicht sehr effiziente Arbeit des damals für Umweltschutz zuständigen Innenministers, verbunden mit bevorstehenden Wahlkämpfen, so rasch geschehen wäre, ist, wenn man es heute betrachtet, sehr zweifelhaft.Der Ausschuß hat in vielen Bereichen des Umweltschutzes im großen und ganzen wohl seine Arbeit getan. In manchen umweltpolitischen Fragen gingen und gehen die politischen Meinungen verständlicherweise weit auseinander. Viele umweltpolitische Maßnahmen — ob Programme, Gesetze oder Verordnungen — gingen der SPD-Fraktion nicht weit genug. Es gab aber auch in sehr zahlreichen Fragen einen Konsens. Ob der Blick für das Machbare mit der wünschenswerten Klarheit immer vorhanden war, ist bei Nähe besehen schwer zu beurteilen. Aber wir haben uns redlich bemüht.Es wurde aber durch die Arbeit des Ausschusses sehr deutlich, welcher Stellenwert dem Umweltschutz in einer Industriegesellschaft zukommt. Die immer stärkere Vernetzung der einzelnen Politikfelder mit der Umweltschutzpolitik, besonders z. B. der Energie-, der Verkehrs- und der Agrarpolitik, ist ein deutliches Zeichen für den in der Tat enormen Bedeutungsgewinn der Umweltpolitik und damit des Umweltschutzes für unsere Gesellschaft, unser Land, aber auch inzwischen für Europa und den Ostblock.Wir sollten uns bei der Umweltpolitik von der Erkenntnis leiten lassen, daß wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen nur in der Industriegesellschaft und mit den Möglichkeiten der Industriegesellschaft sichern können. Die Option des Ausstieges aus der arbeitsteiligen Industriegesellschaft steht uns nicht offen, und wir wollen sie auch nicht öffnen. Wir wollen dies nicht nur deshalb nicht, weil die materielle Sicherheit der Menschen unseres Landes von ihr abhängt, sondern vor allem deshalb nicht, weil viele der heute schon bekannten und erkannten Umweltprobleme aller Fähigkeiten einer technologisch hochentwickelten Industiegesellschaft bedürfen. Herr Eylmann, dies ist ja wohl auch ein Punkt, der hier besonders angesprochen werden muß. Denken Sie nur an das Problem der Altlastensanierung oder denken Sie an die Bewältigung der ungeheuren Müllberge. Es geht also nicht um die Abschaffung, sondern um die stärkere ökologische Orientierung unserer Industriegesellschaft.Das Recht auf Arbeit hat schon Verfassungsrang. Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen soll nun den gleichen Rang erhalten. Die Gleichrangigkeit von Arbeit und Umweltschutz, von Ökologie und Ökonomie in praktische Politik umzusetzen,
das ist eine ständige Aufgabe. Durch eine Verfassungsänderung, wie die SPD sie vorschlägt, würden wir uns alle in Politik, Wirtschaft und anderen Lebensbereichen selbst verstärkt in die Pflicht nehmen. Damit würden wir sogleich dem Anspruch gerecht, den Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Antrittsrede am 1. Juli 1984 so formuliert hat:Die wichtigste Aufgabe für uns, die wir heute Verantwortung tragen, ist die lebenswerte Zukunft für nachfolgende Generationen. Unsere Nachfahren werden nicht fragen, welche Zukunftsvisionen wir für sie bereithielten; sie werden wissen wollen, nach welchen Maßstäben wir
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Stahl
unsere eigene Welt eingerichtet haben, die wir ihnen hinterlassen.Die SPD fordert nun heute, Herr Eylmann, den eingangs erwähnten einfachen Satz in die Verfassung aufzunehmen. Wenn ich es richtig sehe, hatte die FDP diese Formulierung ohne Einschränkung unterstützt, worauf Frau Segall ja schon in einigen Beratungen hingewiesen hatte.Die CDU/CSU und einige Kollegen von der FDP, wie der Herr Kollege Baum, wollen einer Staatszielbestimmung nur mit dem Gesetzesvorbehalt „Das Nähere regeln die Gesetze" zustimmen. Dies ist für uns, die SPD, nicht tragbar und auch nicht akzeptabel, weil wir ein Staatsziel Umweltschutz zweiter Klasse nicht haben wollen. Hans-Jochen Vogel hat als Kompromiß z. B. die Formulierung angeboten: „Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates."Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP, ich meine, vor allem Sie sollten sich endlich auf eine akzeptable Formulierung mit uns einigen, um die Absichtserklärung, die Sie vor Jahren gegeben haben, auch tatsächlich umzusetzen. Ihre Haltung, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, hat uns und besonders mich enttäuscht. Ich habe gehofft, daß auf Grund der zu Beginn meiner Rede erwähnten Situation bei gutem Willen aller eine Einigung hätte erzielt werden können.
Diese Chance der Regelung dieses wichtigen Punktes in der Verfassung wird nun auf längere Zeit vertan sein, da der neue Deutsche Bundestag viele andere Probleme wird erledigen müssen.Lassen Sie mich, da ich nach 18jähriger Tätigkeit freiwillig aus dem Bundestag ausscheide, noch einige persönliche Bemerkungen machen. Die Arbeit hier in Bonn hat mir Spaß gemacht. Ich gebe zu, daß ich oftmals mit Ihnen, ja vielleicht in einem gewissen Zeitraum in verschiedenen Politikbereichen auch mit meinen Kollegen in der eigenen Fraktion querlag.
Meine Art, weniger um die Ecken zu schauen und zu taktieren als eine pragmatische Sprache und pragmatische Lösungen anzustreben, war für manche — ich hoffe, für nicht zu viele — Kolleginnen und Kollegen auch einmal beschwerlich. Dafür bitte ich alle, auch die GRÜNEN, um Nachsicht.
Ich habe mich über viele Vertrauensbeweise, die manchmal sichtbar und manchmal unsichtbar waren, gefreut. Ich verlasse das Parlament ohne Groll und mit Zufriedenheit über diese Tätigkeit, um mich mit anderen, neuen Aufgaben zu befassen.Ich wünsche Ihnen allen persönliches Wohlergehen und vor allem dem neuen gesamtdeutschen Parlament eine gute Arbeit zum Wohle unseres schönen Landes. Dabei wäre es gut — nur noch einmal als Hinweis zum Abschluß —, ein wenig mehr über den Tellerrand des eigenen Landes hinauszuschauen.In diesem Sinne ein herzliches Glückauf!
Herr Abgeordneter Stahl, da Sie sich mit dieser Rede zu einem zentralen Bereich unserer Politik gleichzeitig vom Parlament und von Ihrer Parlamentsarbeit verabschiedet haben, möchte ich Ihnen von hier aus in unser aller Namen für Ihre Leistungen über 18 Jahre herzlich danken.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Kleinert.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Stahl, unser Beifall galt Ihrer Person und Ihrer Tätigkeit als Parlamentarier, naturgemäß aber nicht Ihren Ausführungen zu dem uns heute beschäftigenden Thema.
Dabei wäre es sinnvoll gewesen, wenn Sie sich bei dieser Gelegenheit als Parlamentarier der Kernfrage unserer heutigen Auseinandersetzung gewidmet hätten: Welches Verständnis haben wir vom Parlament, wenn wir nicht das Äußerste tun, im Zusammenhang mit einer hier einzubringenden Staatszielbestimmung die Gewaltenteilung, also das, was der Legislative, dem Parlament, und was der Exekutive gebührt, fein säuberlich zu trennen? Das ist doch das, worüber wir uns hier unterhalten.Herr Baum hat als Innenminister im Gegensatz zu dem, was ich hier vorhin zu meinem Bedauern gehört habe, viel früher, als das in anderen Ländern der Fall war, sehr wohl eine ganze Reihe außerordentlich wichtiger Vorlagen zum Schutz unserer Umwelt vorgelegt. Daß die Aufgaben bis heute fortdauern und daß wir längst nicht alles geleistet haben, ist uns so bekannt wie Ihnen; das sehen wir ja ein. Aber schließlich handelt es sich um einen ungewöhnlich umfangreichen Prozeß. Dazu hat auch Herr Baum einen wesentlichen Beitrag geleistet. Auch Herr Vogel hat zur gleichen Zeit einen wesentlichen Beitrag geleistet
— als unser Justizminister, Ihr Fraktionsvorsitzender. Wir hatten einen sehr guten Justizminister; ich erinnere mich gern an die Zusammenarbeit.Ich bin sehr verwundert, daß er Ihnen all das durchgehen läßt, was sich in diese Debatte an juristischen Ungenauigkeiten eingeschlichen hat.
An sich achtet er sonst ganz penibel auf die feinen Unterscheidungen.
Heute morgen wird hier einfach so dahingehobelt, als ob es diese segensreiche Tätigkeit des früheren Justizministers Jochen Vogel nicht gegeben hätte.Herr Baum und Herr Vogel haben nämlich Herrn Professor Denninger gebeten, eine Kommission einzusetzen, um die Frage der Einführung gewisser
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Kleinert
Staatsziele zu prüfen. Diese Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, daß man, wenn unmittelbare Auswirkungen einer Staatszielbestimmung auf die Exekutive vermieden werden sollen, der Klarheit halber hinzufügen soll, daß das Nähere die Gesetze regeln.Präzise dies tut der Antrag, den wir Ihnen hier vorgelegt haben.
Wir wollen einfach nicht, daß in einer so wichtigen Frage jeder, der meint, dies wäre etwas zuviel oder etwas zuwenig, nach seinem Gusto freischaffend dort tätig wird, wo wir im Interesse der Sicherheit aller Bürger und auch des Ziels, die Umwelt zu schützen, klare gesetzliche Regelungen brauchen.
Ich frage mich sehr ernsthaft: Warum erzählen Sie in der Öffentlichkeit immer wieder, Sie wollten ein Staatsziel in das Grundgesetz einfügen, wenn Sie gleichzeitig die damit verbundene Klarheit, daß nämlich das Nähere die Gesetze regeln, nicht wollen? Staatsziel heißt nun einmal ein allgemeines Programm, eine allgemeine Verpflichtung des Gesetzgebers, die Selbstinpflichtnahme, die wir in diesem wichtigen Fall auch wollen. Das wollen wir so deutlich wie möglich machen.Dadurch, daß Sie auf der einen Seite immer wieder von einem Staatsziel sprechen und sich auf der anderen Seite der notwendigen Klarheit, die wir mit unserem Antrag verlangen, versagen, verwirren Sie die öffentliche Diskussion.
Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wiefelspütz?
Ich sehe auf dieser seltsamen Anzeige vor mir die eindrucksvollen Zahlen „Null, Null".
Ich halte die Uhr an.
Bitte schön, Herr Wiefelspütz.
Sehr geschätzter Herr Kollege Kleinert, mit meiner Frage werden Sie Gelegenheit haben, noch etwas länger am Pult stehen zu können. Können Sie uns, die wir gebannt Ihren Ausführungen lauschen, vielleicht einmal vermitteln, warum die Väter und Mütter des Grundgesetzes beim Staatsziel Sozialstaatsgebot genau das, was Sie hier einzubringen verlangen, unterlassen haben, nämlich den Gesetzesvorbehalt?
Erstens, weil sie die verdienstvollen Ergebnisse und Ausführungen der von mir erwähnten Denninger-Kommission damals aus zeitlichen Gründen noch nicht kennen konnten,
zweitens, rückblickend betrachtet aus dem ganz pragmatischen Grunde, daß die Fülle von Maßnahmen, die zum Schutz der Umwelt notwendig sind, eine sehr genaue und sehr vielfältige gesetzgeberische Tätigkeit verlangt, die unübersichtlich werden würde, wenn sie durch freischaffende, richterliche und exekutive Tätigkeit ergänzt würde. Dagegen haben sich im Bereich des Sozialstaatsziels diese Herausforderungen ganz offensichtlich, weil nicht dieser allgemeine Druck auf der Sache gelastet hat, nicht so gestellt. — Übrigens mußten wir vorgestern, Herr Wiefelspütz, in Müchen zu diesem Thema einen ungewöhnlich verwirrenden Vortrag anhören.
— Herr Bachmaier, es ist für Sie sehr nützlich, wenn Sie solche wichtigen Veranstaltungen aufsuchen, damit Sie hinterher wissen, wovon wir hier reden.
Jedenfalls möchte ich solche Verwirrung vermeiden und bitte Sie, keine weiteren Ausflüchte zu finden, sondern dem Antrag der Koalitionsfraktionen zuzustimmen.
Als nächster hat Herr Abgeordneter Häfner das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Herr Kleinert, ich habe mich lange gefragt, worauf sich die Zahl, die Sie eben hier genannt haben,
beziehen könnte. Sie könnte sich auf einen Ort beziehen, an den man so während des Redens dringlich denkt. Aber so war es wohl nicht. Ich bin zu der Auffassung gekommen: Sie bezieht sich auf die Wirkung des Gesetzesvorschlages, den Sie heute hier vorgelegt haben: 00.
Mehr kann dieser Vorschlag nicht bewirken.Meine Damen und Herren, man muß sich oft wundern, mit welchem Weitblick unser Grundgesetz verfaßt worden ist. Es gibt aber auch Punkte, die die Eltern des Grundgesetzes damals noch nicht sahen und auch nicht sehen konnten. 1949 waren der Wiederaufbau und die Erholung der Wirtschaft die Hauptsorgen der Menschen. Der qualmende Schornstein wurde zum Symbol der wirtschaftlichen Gesundung der Bundesrepublik. Nur die wenigsten ahnten zum damaligen Zeitpunkt, daß Schadstoffe und Umweltzerstörung eines Tages unser aller Lebensgrundlagen bedrohen würden.Heute ist die Lösung der ökologischen Frage zur Überlebensfrage überhaupt geworden. Eine moderne Verfassung muß sich solchen Veränderungen anpassen und muß sich den Herausforderungen der Gegenwart und der Gestaltung der Zukunft stellen.Nichts ist gegenwärtig so wichtig und so tief im Bewußtsein der Öffentlichkeit verankert wie der Umweltschutz. Es waren die Menschen hierzulande undDeutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21, September 1990 17967Häfnerin anderen Ländern, die sich in diese Frage — z. B. durch Bürgerinitiativen — mit Entschlossenheit eingemischt haben, die Bauplätze besetzt und die Akteneinsicht gefordert haben. Es waren die Bürgerinitiativen und die GRÜNEN, die die Regierungen und ihre Parteien zwangen, sich mit der dramatischen Verschärfung der Situation unserer Umwelt und mit möglichen Auswegen zu befassen.Immer mehr Menschen sind heute bereit, zum Schutz der Natur auch persönliche Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Sie sind sehr viel weiter als die meisten Politiker, weil sie erkannt haben, daß nur durch einen tiefgreifenden ökologischen Wandel der Wirtschaftsordnung, des Steuersystems und unseres ganz persönlichen Lebens das Fundament unser aller Existenz vor der Vernichtung bewahrt werden kann.Gleichzeitig wird aber das Vertrauen der Menschen in die Politiker immer geringer. Die Menschen wollen mitreden, sie wollen selber entscheiden, selber handeln, selber Verantwortung tragen. Sie wollen gegenüber Verwaltungen, vor Gericht und in ihrem persönlichen Alltag alles tun können, was zur Erhaltung der Natur erforderlich ist. Eine zeitgemäße Verfassung muß sich daran messen lassen, ob sie diesem breiten gesellschaftlichen Konsens, dem Bewußtseinswandel und den dringenden gesellschaftlichen Aufgaben Rechnung trägt.Uns liegen heute zwei Gesetzentwürfe zur Entscheidung vor, die eine Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz vorsehen. Der eine stammt von meiner Fraktion, von den GRÜNEN, der andere ist ein von der CDU/CSU-Mehrheit im Rechtsausschuß umfrisierter und dadurch vollständig entwerteter SPD-Entwurf. Er war — nebenbei bemerkt — auch vorher schon nicht viel wert, aber immerhin sehr viel mehr als der von der Union entstellte Entwurf.Dieser Entwurf sieht nun vor, durch die Einfügung eines neuen Art. 20 a in das Grundgesetz eine Staatszielbestimmung aufzunehmen: Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen werden unter den Schutz des Staates gestellt. — Schon in diesem Satz liegt eine Einschränkung. Es geht nur noch um die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen, nicht mehr um die Natur als solche. Das Schlimmere aber kommt noch: „Das Nähere regeln die Gesetze. "Diese Formulierung, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist ein verfassungsrechtlicher Offenbarungseid. Die Koalitionsfraktionen sind offenbar nicht bereit, den Menschen selbst und den Umweltverbänden mehr Verantwortung bei der Durchsetzung der Belange der Natur zuzugestehen. Vor allen Dingen sind sie nicht bereit, ihnen einen Rechtsanspruch zuzugestehen.Sie begnügen sich mit einer unverbindlichen Staatszielbestimmung, die sie durch einen Gesetzesvorbehalt noch weiter aushöhlen. Alle übrigen ernsthaften Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes — das Sozialstaatsgebot und andere — haben wenigstens einen gewissen Einfluß auf die Auslegung von Gesetzen und sind mit gewissen Einschränkungen auch verfassungsjustitiabel. Sie sind jedenfalls nichtdurch einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt.
Hier aber schaffen Sie etwas Neues, ein Staatsziel zweiter Klasse. Das wird der Umwelt wirklich nicht gerecht, und das ist der Aufgabe, vor der wir stehen, nicht angemessen. Ein solcher Entwurf ist das Papier, auf dem er steht, und die Bäume, die dafür gefällt wurden, nicht wert.Die Diskussion in der Gesellschaft dauert nun schon 20 Jahre. Die Diskussion im Rechtsausschuß hat allein in dieser Legislaturperiode fast vier Jahre in Anspruch genommen.
Wir haben eine große Anhörung durchgeführt. Aber auch in der Anhörung hat sich gezeigt: Zahlreiche Sachverständige, insbesondere die von der Unionsfraktion benannten, haben deutlich gesagt, daß sie eigentlich keine Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz wollten. Sie seien strikt dagegen. Aber da sich die Koalitionsfraktionen festgelegt hätten, es zu machen, müsse man es wenigstens so machen, wie es mit dem geänderten Entwurf nun geschieht, damit es nur ja niemandem weh tut und damit es auch wirklich gar nichts an der Wirklichkeit ändert. Bei diesem anrüchigen Vorhaben — das werden Sie verstehen — können wir nicht mitmachen.Der von Ihnen unterbreitete Formulierungsvorschlag ist nichts anderes als ein verfassungsrechtlicher Luftballon: schön anzusehen, aber vollkommen hohl. Er ist, wie ich in der ersten Lesung gesagt habe, eine verfassungsrechtliche Seifenblase, die glänzt. Wenn man sie anfassen will, verpufft sie, weil nichts da ist, was man anfassen kann.Ich bin froh, daß die Sozialdemokraten doch der Versuchung widerstanden haben — übrigens: erwartungsgemäß —, sich an einer derart überflüssigen und lediglich symbolischen Grundgesetzänderung zu beteiligen.
— Ich kenne Sie so herum und so herum. Gerade deshalb sage ich das. Ich bin nämlich nie ganz sicher, wie sich die Sozialdemokraten entscheiden werden. Ich könnte Sie hier an viele andere Vorgänge erinnern, tue das aber aus Zeitgründen nicht.Ich sage aber deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: besser keine Norm als eine Scheinnorm.
Wer umweltpolitisch weiterkommen will, muß den Menschen das geben, was sie mit vollem Recht verlangen, nämlich mehr Handlungsspielräume und ganz konkrete Rechte. Sie müssen in die Lage versetzt werden, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen als Verletzung ihres persönlichen Rechts vor Gericht geltend zu machen. Nur ein individuell einklagbares Grundrecht — das unterscheidet uns von der SPD — vermag die Rechtsposition des einzelnen so zu stärken, wie dies angesichts der gewaltigen Umweltprobleme notwendig ist.
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17968 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
HäfnerWir haben deshalb ein Umweltgrundrecht vorgeschlagen, übrigens, Herr Kleinert, auch Ihre Partei schon vor 20 Jahren. Damals waren Sie weiter.
— Das weiß ich nicht. Er war damals schon dabei. Das habe ich festgestellt. Wie groß sein Einfluß war, das wissen wir nicht. Das wissen ohnehin nur die Chronisten.Die FDP hat in den Freiburger Thesen ein Umweltgrundrecht gefordert. Das bringen wir GRÜNEN heute ein. Wir wollen es in Art. 2 des Grundgesetzes verankert wissen — Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit —, weil wir sagen, daß ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit überhaupt nur noch möglich ist, wenn der Schutz der Umwelt hinzukommt; denn die Umwelt ist nichts anderes als der erweiterte Leib des Menschen. Wir werden nicht mehr gesund leben, uns gesund ernähren, gesunde Luft atmen, gesundes Wasser trinken können usw., wenn wir nicht in einer gesunden Umwelt leben.Deshalb schlagen wir das Umweltgrundrecht in Art. 2 vor, ein Staatsziel mit einer Abwägungsdirektive, die den Vorrang der Ökologie vor wirtschaftlichen Interessen festschreibt. Darüber hinaus sehen wir in unserem Entwurf auch eine Ergänzung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums durch dessen Umweltpflichtigkeit und damit verbunden auch die Möglichkeit vor, Enteignungen dort, wo notwendig, nicht nur aus Gründen der Sozialpflichtigkeit des Gemeinnutzes, sondern auch aus Umweltgründen vorzunehmen.Dies ist ein Entwurf, der die Wirklichkeit tatsächlich in dem dramatischen Sinne, wie es von uns gefordert wird, verändern würde und zu einer ökologischen Wende unserer Rechtskultur führen würde.Ich fordere Sie auf, unserem Entwurf zuzustimmen.
Zu einer Kurzintervention von zwei Minuten erteile ich das Wort Herrn Dr. Knabe.
Ich habe eine Frage an die Verfasser dieses neuen Artikels im Grundgesetz.
— Es ist einer, der bisher noch nicht existiert hat.
Ich verstehe nicht, daß Sie nicht mindestens eine andere Formulierung gewählt haben, nämlich: Das Parlament, der Gesetzgeber, ist verpflichtet, die entsprechenden Gesetze zu erlassen. So bleibt alles wirklich sehr, sehr unverbindlich. So steht dort nur ein Staatsziel. Wenn die Gesetze nicht erlassen werden, was in vielen Fällen leider zu erwarten ist, dann passiert nichts. Im anderen Fall wäre der Druck auf den Gesetzgeber so stark, daß er sich dem nicht entziehen könnte. Dann müßte er reagieren.
Das zweite. FDP und CDU haben zusammen mit den GRÜNEN und der SPD einstimmig einem Paragraphen im Gesetz über den Auswärtigen Dienst zugestimmt, der lautet:
Der Auswärtige Dienst ... dient ... der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen der Erde und dem Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit . . .
In diesem Gesetz steht klar drin, welcher Aufgabe der Auswärtige Dienst dient. Das hätten Sie beim Staatsziel Umweltschutz genauso formulieren können. Ich bedaure sehr, daß das nicht erfolgt ist, und würde hier dringend um eine Änderung ersuchen.
Ich sehe zur Zeit niemanden, der darauf antworten möchte. Doch, Herr Abgeordneter Eylmann.
Die Antwort, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ist sehr einfach. Wenn das Staatsziel Umweltschutz im Grundgesetz verankert ist, dann ergibt sich daraus von allein eine Verpflichtung für das Parlament, alles zu tun, um diesem Staatsziel zur Geltung zu verhelfen. Eine besondere Verpflichtung braucht nicht ausgesprochen zu werden. Es steht im Grundgesetz auch nicht, daß das Parlament verpflichtet ist, dem Sozialstaatsprinzip zur Durchsetzung zu verhelfen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Frau Präsidentin! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Ich war sehr erstaunt, daß man sich hier selbst in Kenntnis der totalen Umweltzerstörung streitet, was nun richtig ist. Ich selbst war einmal fünf Jahre Liberale: FDP, Karl-Hermann Flach, Freiburger Thesen. Ich war fünf Jahre in der SPD und fünf Jahre in der FDP. Die FDP hat sich dermaßen gewandelt, daß man sich fragen muß: Was haben Sie aus den Freiburger Thesen, Ihrem Grundsatzprogramm gemacht? Die SPD darf ich bitte folgendes fragen: Sie sind sehr lernfähig gewesen, streiten sich dann aber eigentlich in Ihrer Verwirrung so, daß niemand mehr weiß, was Sie denn eigentlich wollen.
Deshalb kann ich Ihnen grundsätzlich sagen: Ohne die GRÜNEN, ohne uns aus den Bürgerinitiativen würden Sie noch immer nicht daran denken, den hier geforderten Schutz des Menschen wirklich als ein Umweltgrundrecht zu betrachten.Ich kann nur sagen: Ich habe mit Herrn Dr. Gruhl — das ist das dritte —
aus ganz bestimmten Gründen die „Grüne Aktion Zukunft" mitgegründet. Mit euren Köpfen, liebe CDUler, könnt ihr ja gar nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die das Parteibuch hinwerfen und sagen: Es ist unnötig, dort eigene Kraft, eigenes Geld zu verschwenden. Ich habe dann bei Herrn Dr. Gruhl gelernt — als Politiker muß man sehr lernfähig sein —, was dem Volke dient. Ich möchte sagen: Die GRÜNEN wären eigentlich 30 % mehr wert, wenn sie es geschafft hätten, sehr zielgerecht Ökologie zu betrei-
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Frau Unruhben, was letztlich das gesamte Lebensumfeld von uns Menschen betrifft.
— Nein, ich war nie Mitglied der GRÜNEN. Nun lassen Sie auch das einmal wieder.In Ihren Köpfen muß sich etwas bewegen. Die Bürgerinitiativen — das sage ich Ihnen — werden weiter drängen und drängen und nochmals drängen. Wir wollen Sie weiter in Schwung bringen. Sie setzen sich für das ungeborene Leben ein; das habe ich gestern extrem erfahren müssen. Aber was ist denn die Grundlage für werdendes Leben?
Wissen Sie, wieviel Kinder mißgestaltet auf die Welt kommen? Sie wissen doch alle, daß der Atommüll Jahrtausende strahlt. Jetzt kommen Sie doch endlich zu der Erkenntnis, daß wir als Volk Schutz brauchen.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Herr Engelhard.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stehe im Moment hier als ein Mitglied der Bundesregierung und nicht, um, Frau Kollegin Unruh, Ihre Frage hinsichtlich der FDP zu beantworten.
Aber vielleicht nur soviel: In der FDP ist über die Jahre und Jahrzehnte hinweg mit großer Kontinuität gearbeitet worden.
Dadurch hat sich ein weit größeres Gleichmaß ergeben als bei der Art Ihres so unterschiedlichen parteipolitischen Engagements.
Meine Damen und Herren, Aktualität und Dringlichkeit des Umweltschutzes haben sich immer weiter gesteigert. Das wird ganz besonders deutlich werden, wenn in der übernächsten Woche dem vereinten Deutschland im Gebiet der dann ehemaligen DDR die Aufgabe zuwächst, die verantwortungslose und für die Umwelt ruinöse Politik des SED-Regimes aufzuarbeiten und zu bewältigen. Durch die vorgeschlagene Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel im Grundgesetz würde er — wie etwa auch das Sozialstaatsprinzip — zur normativ verpflichtenden Leitlinie aller staatlichen Gewalt: der Gesetzgebung, der Verwaltung wie auch der Gerichte.
Herr Kollege Kleinert hat bereits einmal in die Vorgeschichte des Staatsziels Umweltschutz, wie wir es anstreben, zurückgeblättert. Ich erinnere nochmals daran, daß es schon im Jahr 1983 war, als das Gutachten der Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen — Gesetzgebungsaufträge" vorgelegt wurde. Es hat dann im Rechtsausschuß auch eine
Sachverständigenanhörung stattgefunden, die wertvolle Hilfe geleistet hat.
Ich habe dann bereits in der Diskussion Anfang 1988 den Formulierungsvorschlag vorgelegt, der von den Koalitionsfraktionen übernommen worden ist. Ich habe das getan, um einen Ausgleich zwischen dem Vorschlag des Bundesrates auf der einen und dem Vorschlag der Sozialdemokratischen Partei auf der anderen Seite zu suchen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Häfner?
Ja bitte, Frau Präsidentin.
Herr Minister, da Sie Ihre Vorstöße in der Sache jetzt noch einmal hervorheben, möchte ich fragen: Trifft es zu, daß Ihnen nach diesem Vorstoß innerhalb der Bundesregierung die Federführung für die Frage der Aufnahme des Umweltschutzes in das Grundgesetz entzogen worden ist und diese an den Bundesinnenminister — damals Herr Zimmermann — überging? Trifft es weiter zu, daß uns daraufhin gesagt wurde, Sie hätten dazu keine Auskünfte mehr zu erteilen, vielmehr obliege das Herrn Zimmermann? Ich frage deshalb: Warum sprechen heute wieder Sie für die Bundesregierung? Hat sich die Zuständigkeit inzwischen geändert?
Nein, Herr Kollege Häfner, alle Ihre Vermutungen beruhen auf einem totalen Irrtum. Ich darf Sie kurz aufklären, daß die Zuständigkeit für diesen Bereich ganz klar beim Bundesinnenminister lag, ich aber den Vorschlag unterbreitet habe, weil es mir in einem Rechtsstaat, in einer liberalen Demokratie, selbstverständlich auch ohne Zuständigkeit jederzeit freisteht, Gedanken zu haben und dieselben anderen zur Abwägung zu unterbreiten.
So bin ich auch heute in der Lage, hier zu sprechen, ohne mich auf irgendeine Bestimmung in der Geschäftsordnung der Bundesregierung stützen zu können.
— Ich spreche auch für die Bundesregierung, wenn Sie das beruhigt und Sie meinen Ausführungen mit um so größerer Aufmerksamkeit zuzuhören bereit sind, Herr Kollege Häfner.
Meine Damen und Herren, der Verlauf der Beratungen hat gezeigt, daß es zwischen der Koalition und der SPD in weiten Bereichen durchaus Gemeinsamkeiten gibt. Durch intensive Bemühungen aller Seiten sind
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Bundesminister EngelhardHindernisse aus dem Weg geräumt worden. Man ist sich ziemlich nahegekommen. Auch das Stichwort des anthropozentrischen Ansatzes ist ja kein strikter Hinderungsgrund mehr.Um so bedauerlicher wäre es, wenn es nun dennoch nicht zu einer breiten verfassungsändernden Mehrheit kommen sollte. Es muß die Frage gestellt werden, was uns denn eigentlich noch trennt. Nun meint die SPD — das ist bereits von Herrn Kollegen Stahl vorgetragen worden — , daß in Abs. 2 des vorgeschlagenen Art. 20a des Grundgesetzes mit dem Wortlaut: „Das Nähere regeln die Gesetze" etwas enthalten sei, was man nicht mittragen könne. Die SPD mißt ohne einen triftigen Grund diesem Satz einen Inhalt zu, der, wenn er zuträfe, in der Tat ein Grund wäre, schleunigst von allen Bemühungen in dieser Richtung abzulassen. Dem ist aber nicht so. Denn durch den Satz „Das Nähere regeln die Gesetze" erhält der Gesetzgeber keinerlei Dispositionsbefugnis über das Staatsziel Umweltschutz. Für praktisch wortgleiche Regelungen des Grundgesetzes, etwa beim Recht der Kriegsdienstverweigerung, hat das Bundesverfassungsgericht dies ja längst entschieden. Damit kann man noch einmal unterstreichen — auf die Frage des Herrn Kollegen Knabe eingehend — : Im Staatsziel Umweltschutz ist vorgegeben, daß dem Staat die besondere Fürsorge für die Lebensgrundlagen des Menschen obliegt, daß alle drei Gewalten dafür etwas tun müssen. Wenn es dann heißt „Das Nähere regeln die Gesetze", so ist der Gesetzgeber derjenige, dem aufgegeben ist, nicht nur zu handeln, sondern ganz gezielt auf das hin zu handeln, was in Abs. 1 steht: alles zu tun, um das Staatsziel Umweltschutz auch und vor allem in der Gesetzgebung umzusetzen und zu verwirklichen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Koschnick?
Ja, bitte.
Koschnick: : Herr Minister, habe ich Sie richtig verstanden: Die Bundesregierung vergleicht die Staatszielbestimmung Umweltschutz mit dem Staatsziel Kriegsdienstverweigerung?
— Darauf haben Sie sich eben bezogen.
Bei beiden ist nachzulesen, daß das Nähere die Gesetze regeln.
Darauf habe ich Bezug genommen.
Herr Kollege, ich weiß nicht, wie ich Ihre Frage einschätzen soll, ob sie wirklich ernst gemeint war. Nehmen wir es etwas gelockert. Ich darf Ihnen sagen: Bei all unserem vollen Engagement — dem Ihren wie dem unseren — für den Umweltschutz sind wir uns dessen bewußt, daß mit Waffengewalt dasselbe nicht durchzusetzen ist und wir deswegen auch eine besondere
Bestimmung über Kriegsdienstverweigerung nicht benötigen.
— Ich bitte um Verständnis, wenn ich einen Schritt weitergehen möchte und abschließend, meine Damen und Herren, darauf hinweisen und noch einmal ganz klarstellen möchte,
daß die von uns vorgeschlagene Regelung klarmacht: Niemand kann sich beruhigt zurücklehnen und sagen, nun sei umweltpolitisch alles geregelt. Nein, wenn der Koalitionsentwurf verabschiedet wird, heißt die verfassungsrechtliche Vorgabe: Der Gesetzgeber hat nicht nur, wie es dem SPD-Entwurf unausgesprochen zugrunde liegt, eine Befugnis zur näheren Regelung, sondern der Gesetzgeber hat den ganz konkreten verfassungsrechtlichen Auftrag, sich in Bewegung zu setzen und zu handeln.
Wir debattieren hier, meine Damen und Herren, zu einem bereits sehr vorgerückten Zeitpunkt in dieser Legislaturperiode. Ich meine, man sollte sich, auch wenn die Zeit knapp geworden ist, noch einmal sehr gewissenhaft überlegen, ob man auseinandergehen kann, ohne zu einer Zweidrittelmehrheit gekommen zu sein. Ich will das unterstreichen, was der Kollege Eylmann heute in seinem Beitrag gesagt hat. Umweltschutz im Grundgesetz wird dann ein Thema des Bundestagswahlkampfes werden. Ich bin nicht Ihr Berater. Das steht mir nicht zu. Sie werden dies selbst abzuschätzen wissen und abzuschätzen haben. Nur wird derjenige, der einem so grundsoliden Vorschlag, wie er seitens der Koalitionsfraktionen unterbreitet worden ist, seine Zustimmung verweigert, weil er nicht hundertprozentig das durchsetzen konnte, was er wünscht, in der Öffentlichkeit nicht gut aussehen. Er wird jedenfalls schlechter aussehen als diejenigen, die sich wie ich und die Koalitionsfraktionen von meiner Seite her, aber auch von den Koalitionsfraktionen bis zum heutigen Tag mit Kompromißvorschlägen bemüht haben, doch noch zu einer Zweidrittelmehrheit zu kommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Bachmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 18. März 1987 erklärte: „Wir wollen den Umweltschutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufnehmen", und damals weiter wörtlich sagte:Eine zukunftsorientierte Wirtschaft benötigt die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagengingen wir an und für sich davon aus, daß die in der letzten Legislaturperiode so heiß umstrittene Frage, ob der Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden solle oder nicht, endgültig der Ver-Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung, Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17971Bachmaiergangenheit angehört, so daß es letztlich nur noch darum gehe, einvernehmlich alsbald eine gute Lösung zu finden.Als es dann allerdings zur Sache ging, sprich: als die konkreten Formulierungen zur Beratung und Entscheidung anstanden, wurde bald deutlich, daß sich zwar die Methode der Koalitionsparteien geändert hatte, das Ziel aber unverrückbar das gleiche geblieben war. Es sollte mit allen erdenklichen Mitteln verhindert werden, den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz so zu verankern, daß er verbindlicher Handlungsmaßstab für alle staatlichen Gewalten wird.
Haben diejenigen in der Koalition, denen dieses Staatsziel — und, Herr Kleinert, ich rechne Sie in vorderster Front dazu und andere auch — schon von Anfang an ein Dorn im Auge war, in der letzten Legislaturperiode noch durchsetzen können, daß die Koalitionsmehrheit offen ein solches Staatsziel ablehnte, so lautete das Motto in dieser Legislaturperiode, zwar verbal eine Festschreibung des Umweltschutzes im Grundgesetz hinzunehmen, aber nach Formulierungen zu suchen, die keinerlei verpflichtenden Charakter haben.Schon früh war erkennbar, meine Damen und Herren, daß diese weitgehende Relativierung des Staatsziels über das Instrument eines Gesetzesvorbehaltes oder Gesetzgebungsauftrages, wie immer Sie dieses nennen, herbeigeführt werden sollte. Der kleine Zusatz „Das Nähere regeln die Gesetze" bedeutet letztlich nichts anderes, Herr Bundesjustizminister — und das wissen Sie — , als die Reduzierung des Staatszieles auf einen reinen unverbindlichen Gesetzgebungsauftrag. Von einem alle staatlichen Ebenen verpflichtenden Staatsziel, das sich an Verwaltung und Justiz mit gleicher Verbindlichkeit wendet wie an den Gesetzgeber, kann natürlich bei einer solchen Formulierung nicht mehr die Rede sein. Wir haben Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, schon früh darauf hingewiesen, daß wir uns an einer derartigen Alibiveranstaltung, die ausschließlich den Zweck hat, verfassungsrechtlichen Umweltschutz vorzugaukeln, nicht beteiligen werden.Es ist ja auch nicht gerade uninteressant, Herr Bundesjustizminister, daß ausgerechnet Sie noch im Juni 1987 vor dem Bundesrat davor warnten, eine Staatszielbestimmung Umweltschutz mit einem Gesetzesvorbehalt zu versehen. Auch damals lautete die Formulierung „Das Nähere regeln ..."Damals haben Sie wörtlich ausgeführt: „Andernfalls würde man nämlich nicht eine Staatszielbestimmung, sondern lediglich einen Gesetzgebungsauftrag schaffen." Dies war Ihre wörtliche Formulierung.Da wird uns täglich unmißverständlich vor Augen geführt, daß unsere natürlichen Lebensgrundlagen und das Existenzrecht künftiger Generationen in hohem Maße gefährdet sind und daß es wohl kaum eine wichtigere Aufgabe gibt als die, diese Lebensgrundlagen zu schützen, zu erhalten und, wo es not tut, wiederherzustellen. Ausgerechnet diese Aufgabe lediglich als ein Staatsziel zweiter Klasse, lediglich als einen unverbindlichen Gesetzgebungsauftrag in dieVerfassung aufzunehmen — meine Damen und Herren, das bleibt Ihnen vorbehalten. Dies kann doch nicht Ihr letztes Wort sein.Noch eines. Nach anderen unionsgeführten Ländern wie z. B. Bayern ist zur Zeit Hessen dabei, den Umweltschutz als Staatsziel in der hessischen Landesverfassung festzuschreiben. Von einem Gesetzesvorbehalt ist weder dort noch in anderen Bundesländern bislang die Rede gewesen.Soll also Ihr gespaltenes Verhalten im Bund und in den Ländern etwa signalisieren, daß Sie das, wofür Sie sich in den Bundesländern feiern lassen, durch bundesverfassungsrechtliche Regelungen wieder relativieren wollen? Die überfällige Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel im Grundgesetz und in den Länderverfassungen eignet sich, meine Damen und Herren, nicht für so kurzfristige wahltaktische Spielchen.
In diesen Tagen wird unser Grundgesetz allenthalben als eine Verfassung gerühmt, die sich als gute Grundlage für unser Gemeinwesen in den letzten 40 Jahren bewährt habe.
Ein Grund dafür — so wird immer wieder völlig richtig festgestellt — sei, daß das Grundgesetz auf jedwede unverbindliche Verfassungslyrik verzichte und nur solche Wertentscheidungen treffe, die mit hoher verfassungsrechtlicher Verbindlichkeit versehen sind. Ein mit einem Gesetzesvorbehalt versehenes Staatsziel Umweltschutz würde diesem hohen Anspruch sicherlich nicht gerecht werden, weil es lediglich ein unverbindliches, reines Verbalbekenntnis bliebe.
Unser Antrag hingegen, meine Damen und Herren, den wir nach langen und eingehenden Beratungen auf der Basis des Vorschlags der sogenannten Denninger-Kommission bereits in der letzten Legislaturperiode vorgelegt haben, würde dem Umweltschutz endlich den verfassungsrechtlichen Rang einräumen, der ihm schon lange gebührt. Die karge und verbindliche Feststellung, daß die natürlichen Lebensgrundlagen unter dem besonderen Schutz des Staates stehen, würde alle staatlichen Organe, also nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch Verwaltung und Justiz, gleichermaßen in die Pflicht nehmen. Aber in diese Pflicht wollen Sie sich offensichtlich nicht nehmen lassen. Ein so formuliertes verbindliches Staatsziel träfe auch Vorsorge dafür, daß der Umweltschutz bei der Abwägung mit anderen Interessen und Belangen nicht unter die Räder käme.Meine Damen und Herren, Grundgesetzänderungen sind Konsensentscheidungen — darauf wurde heute schon richtigerweise hingewiesen — , Konsensentscheidungen des Bundestags und des Bundesrats. Sie verlangen die Kompromißbereitschaft aller Beteiligten. Das starre Festhalten der Koalitionsfraktionen an einem Gesetzesvorbehalt wird heute verhindern, daß der Umweltschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen wird. Weil wir es ernst meinen mit
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Bachmaierdem Anliegen, der Umwelt verfassungsrechtlich verbindlichen Schutz zu gewähren, können wir einer so weitgehend wirkungslosen Formulierung, wie sie von Ihnen beabsichtigt ist, nicht zustimmen. Wir fordern Sie auf, unserem klaren und eindeutigen Votum für ein Staatsziel, das gleichrangig neben anderen wichtigen Staatsaufgaben steht, zuzustimmen.
Unser Kollege Jürgen Schmude hatte recht, als er im Januar 1986 hier im Bundestag feststellte, daß diese Entscheidung sicher auch ein Maßstab dafür ist, wie ernst wir es mit dem Umweltschutz tatsächlich meinen
und ob wir tatsächlich bereit sind, uns auf dieses Ziel verfassungsrechtlich verbindlich festlegen zu lassen. Darum geht es — um nicht mehr und nicht weniger — bei der heutigen Entscheidung.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Laufs.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich — das ist nach den Einlassungen der Oppositionssprecher erforderlich — die Überlegungen in meiner Fraktion nochmals mit wenigen Strichen umreißen.Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen, die der Staatstätigkeit mit rechtlich bindender Wirkung vorschreiben, bestimmte Aufgaben fortlaufend zu beachten und zu erfüllen. Ein Gesetz oder eine sonstige Rechtsvorschrift, die eine Staatszielbestimmung mißachtet, wäre verfassungswidrig.Unser Grundgesetz ist jedoch kein Staatsprogramm. Es hat auf Programmsätze und sonstige Aufgabennormen mit guten Gründen nahezu vollständig verzichtet. Wortreiche Verheißungen, wie z. B. die Umschreibung des Umweltschutzes in der Verfassung der DDR, sind dem Grundgesetz fremd. Es legt vielmehr auf konkret durchgeformte Regelungen allergrößten Wert. Man könnte das Grundgesetz geradezu als „staatszielfeindlich" bezeichnen.
Mit allergrößter Skepsis beurteilen wir daher den Vorstoß der Gewerkschaften, eine Fülle weiterer Staatsziele im Grundgesetz zu verankern.
Dieser Vorstoß findet, wie wir in diesem Hause immer wieder erfahren können, auch die Sympathie der Opposition. Der Versuch, z. B. ein Recht oder gar Grundrecht auf Arbeit oder auf Wohnen oder auf Berufsbildung in der Verfassung zu garantieren, würde unser Grundgesetz nicht verbessern, sondern uns auf den Weg in eine andere Republik führen.
Es wäre eine Republik der staatlichen Gängelung, derMißwirtschaft und Unfreiheit — mit allen traurigenAspekten, die wir von den im Osten zusammenbrechenden sozialistischen Staaten kennen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich mit der Frage von Staatszielbestimmungen lange Zeit auseinandergesetzt, bevor sie gemeinsam mit der Fraktion der FDP — in Abweichung von ihrem Grundsatz der großen Zurückhaltung bei der Festlegung weiterer Staatsziele — die Einführung des Staatsziels Umweltschutz in unsere Verfassung vorgeschlagen hat. Sie läßt sich dabei von der Überlegung leiten, daß der Schutz der Umwelt nicht nur eine Aufgabe neben vielen anderen, sondern eine Zukunftsaufgabe mit hoher Priorität ist und bleiben wird. Die Natur und die natürlichen Ressourcen sind ein einzigartiges, kostbares Gut, das nicht unbegrenzt genutzt oder gar ausgebeutet werden darf, sondern im eigenen Lebensinteresse und im Interesse zukünftiger Generationen geschützt und erhalten werden muß.Aus der Verantwortung des Menschen für die Schöpfung muß der Staat die natürlichen Grundlagen des Lebens schützen. Ein Staatsziel Umweltschutz, definiert als verfassungsrechtlicher Auftrag, wird dem Umweltschutz einen kräftigen Impuls geben. Bei Abwägungen mit anderen Belangen wird der Stellenwert des Umweltschutzes nachhaltig gestärkt werden.Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist weiterhin von entscheidender Bedeutung, an wen sich das Staatsziel Umweltschutz richtet. Umweltentscheidungen, die bedeutende Wirkungen entfalten sollen, sind typische Abwägungsentscheidungen zwischen regelmäßig widerstreitenden Interessen. Wir sind daher der Auffassung, daß das Staatsziel Umweltschutz an den Gesetzgeber gerichtet sein muß.Ein Staatsziel bedarf der Konkretisierung, die schon aus Gründen der Einheitlichkeit des Rechts durch den Gesetzgeber selbst vorgenommen werden muß. Wir verstehen deshalb unseren Zusatz „Das Nähere regeln die Gesetze" nicht als Einschränkung, sondern als Gesetzgebungsauftrag.
Der Kollege Knabe weiß als profilierter Umweltpolitiker, wie umfassend und vielfältig hier die Aufgaben sind. Es ist doch absolut unmöglich, die einzelnen Anliegen im Grundgesetz mit einem Regelungsgebot einzeln aufzuführen.
Das schließt nicht aus, daß das Staatsziel auch als Auslegungsleitlinie Bedeutung entfalten kann. Wir verstehen daher nicht, wenn die Opposition, die nach langem Ringen schließlich doch unseren Vorschlägen weitgehend gefolgt ist, in diesem Punkt noch eine abweichende Meinung vertritt. Das Gesetzgebungsverfahren wird erweisen, daß ein solcher Gesetzgebungsauftrag unverzichtbar ist und, wenn das Vorhaben scheitert, an wem es scheitert. In Verfassungsfragen sollten taktische Spielereien zurücktreten.
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Dr. LaufsWir bedauern zutiefst diese Blockadehaltung der Opposition bei einem so wichtigen, fundamentalen Anliegen.
Als letzter hat das Wort der Abgeordnete Herr Wüppesahl.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer hier taktische Spielereien macht, dürfte wohl klar sein, Herr Dr. Laufs. Das ist die Regierungskoalition, die sich heute — im Gegensatz zu gestern, als die tollsten Formulierungen gefunden wurden —, wo es um die konkrete Sache geht, mit allen möglichen Tricks und Geschick zu drücken versucht.
Gerade an Sie gerichtet möchte ich sagen: Genauso wie die Christdemokraten, Gestalter der Marktwirtschaft in den 50er Jahren, einsehen mußten, daß eine Marktwirtschaft allein keine soziale Gerechtigkeit schafft — wobei wir heute natürlich auch noch weit von sozialer Gerechtigkeit entfernt sind — , und Sie somit die Soziale Marktwirtschaft konzipierten, muß man heute einsehen, daß der Markt allein keine umweltverträgliche Produktion und keine umweltverträglichen Produkte hervorbringt. Da darf man sich auch nicht durch die wohlklingende Werbung z. B. der Waschmittelindustrie täuschen lassen.
Es geht das Wort von den globalen Umweltproblemen der Menschheit um. Daß die Bundesregierung diese nicht im Auge hat, ist allein schon aus dem uns vorliegenden Gesetzentwurf ersichtlich. Die Soziale Marktwirtschaft muß um das staatliche Regulativ Ökologie ergänzt werden.
Die Bundesrepublik Deutschland ist — um ein aktuelles Beispiel aufzunehmen — inzwischen flächendeckend mit dem Seveso-Gift Dioxin verseucht. Schönes, sonniges Wetter wird zu einer Gefahr für Wohl und Leben der Menschen durch den steigenden Ozongehalt der Luft. Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken aufwachsen, müssen mehr als andere Kinder damit rechnen, an Leukämie zu erkranken.
Dieser kleine Ausschnitt einer erschreckenden Umweltbilanz zeigt: Die Umweltschutzpolitik der Bundesregierung verdient nicht diesen Namen. Sie taugt allenfalls dazu, den entstandenen Schaden durch rhetorische Bereinigung und Verschiebung der Grenzwerte nach oben zu „entsorgen" .
Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen ändert nichts an dem bestehenden defensiven Konzept des Umweltschutzes, dessen Versagen jedem tagtäglich vor Augen geführt wird. Mehr noch: Die Deklaration des Umweltschutzes als Staatsziel mit diesem Gesetzesvorbehalt reiht sich nahtlos in die genannte rhetorische Schadensabwicklung ein.
Die Proklamierung des Umweltschutzes als Staatsziel rückt diesen paradoxerweise in weite Ferne. Mit dem Verweis auf ein hehres Ziel läßt sich so manches mutwillige Versäumnis in der Ökologie und Wirtschaftspolitik auch zukünftig bemänteln. Daher plädiere ich für die Aufnahme des Umweltschutzes als Grundrecht in das Grundgesetz.
Nur als Grundrecht hat der Umweltschutz verbindliche Wirkung. Die Erfüllung dieses Grundrechtes kann jederzeit eingeklagt werden. Alle staatlichen Maßnahmen müssen sich dann an diesem Grundrecht orientieren. Ein Grundrecht auf Umweltschutz hat sofortige Wirkung und ist für eine moderne demokratische Industriegesellschaft wesentlicher Bestandteil.
Ein Kurswechsel in der landläufigen, völlig ineffektiven Umweltpolitik kann nur die Hinwendung zum präventiven Umweltschutz bedeuten, was durch nichts als dem Grundrecht auf Umweltschutz abgesichert werden kann und in seiner Konkretisierung mit Umweltverträglichkeitsprüfungen, Umweltverträglichkeitserklärungen und anderen Institutionen seinen Niederschlag fände.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und hoffe, daß den vorliegenden Gesetzesinitiativen der SPD und der GRÜNEN eine Mehrheit zuteil wird.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes in der Ausschußfassung.Ich rufe Art. I in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/7934 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wegen vorgerückter Zeit und um das Verfahren zu beschleunigen, wird von seiten der SPD auf namentliche Abstimmung verzichtet. Ich stelle den Änderungsantrag zur Abstimmung. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Wer stimmt gegen den Änderungsantrag? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit ist der Änderungsantrag gegen die Stimmen der CDU/CSU und FDP bei vier Enthaltungen der GRÜNEN abgelehnt.Ich komme nun zu der Frage: Wer stimmt für Art. I in der Ausschußfassung? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Art. I ist mit den Stimmen der CDU/ CSU- und FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD und der GRÜNEN bei einer Enthaltung aus der Fraktion der GRÜNEN angenommen.Ich rufe Art. II, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Art. II, Einleitung und Überschrift sind mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein. Nach Art. 79 des Grundgesetzes bedarf ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Das sind 346 Stimmen. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —
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17974 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Präsidentin Dr. SüssmuthDer Sitzungsvorstand stellt fest, daß die erforderliche Mehrheit der Abgeordneten dem Gesetz nicht zugestimmt hat.
Das Gesetz ist damit gegen die Stimmen der SPD und GRÜNEN bei drei Enthaltungen nicht angenommen.Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel und Grundrecht. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN abzulehnen.Ich rufe die Art. i und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes.Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/7905 unter Buchstabe c den Gesetzentwurf des Bundesrates für erledigt zu erklären.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU und der FDP zur 36. Änderung des Grundgesetzes auf Drucksache 11/7423 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Austermann, Börnsen , Carstensen (Nordstrand), Eigen, Dr. Hennig, Dr. Olderog, Frau Roitzsch (Quickborn), von Schmude, Würzbach, Spilker, Seesing, Hornung und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Bredehorn, Heinrich, Paintner und der Fraktion der FDPIntervention von Getreide ab sofort, spätestens ab 1. 10. 1990— Drucksache 11/7954 —Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen z> r Abstimmung.Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der CDU/ CSU und FDP auf Drucksache 11/7954? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion und mit einigen Stimmen aus der Fraktion der SPD angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 f auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Müntefering, Conradi, Großmann, Häuser, Menzel, Dr. Niese, Dr. Osswald, Reschke, Scherrer, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Wohnungsnot— Drucksache 11/7356 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GOb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
zu dem Antrag der Fraktion der SPDSofortprogramm für eine aktive Wohnungspolitikzu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerlin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNENÖkologische und soziale Offensive gegen Wohnungsnot— Drucksachen 11/4083, 11/4181, 11/7828 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau Rönsch Münteferingc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNENKonzeption für einen neuen sozialen Mietwohnungbau— Drucksache 11/7771 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
FinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschußd) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für unverheiratete Paare, homosexuelle Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften— Drucksache 11/1955 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 11/ 6876 —Berichterstatter:Abgeordnete Scherrer Frau Rönsch Frau Oesterle-Schwerin
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17975
Präsidentin Dr. Süssmuthe) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNENMenschenwürdige Zimmer für Kinder und Jugendliche— Drucksachen 11/2259 , 11/7483 —Berichterstatterinnen:Abgeordnete Frau Rönsch Frau Oesterle-Schwerinf) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr.-Ing. Kansy, Dr. Daniels , Dörflinger, Dr. Friedrich, Geis, Link (Frankfurt), Magin, Dr. Möller, Oswald, Pesch, Frau Rönsch (Wiesbaden), Ruf und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Dr. Hitschler, Dr. Feldmann und der Fraktion der FDPZur Städtebaupolitik— Drucksachen 11/4914, 11/6880 —Für die gemeinsame Beratung sind zweieinhalb Stunden vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Müntefering.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hätten eine namentliche Abstimmung ankündigen sollen, dann hätten wir jetzt ein paar Leute mehr im Saal. Es ist wichtig, daß wir uns heute morgen die Zeit nehmen, in Ausführlichkeit über die wohnungspolitische Situation in der Bundesrepublik Deutschland zu sprechen.Die Koalition hat sich in dieser Woche nun endgültig wohnungspolitisch blamiert. Sie hat nach vielen Anläufen und vielen Ankündigungen sich in dieser Woche mal wieder nicht einigen können und ist ohne ein klares wohnungspolitisches Ziel auseinandergelaufen. Der Kanzler hat nicht gekämpft, die Frau Ministerin ist mit ihren Vorschlägen gescheitert. Es sind viele Scherben entstanden; diese Scherben werden der Union und auch der CSU zur Bayernwahl kein Glück bringen.Trotzdem sagen wir Sozialdemokraten: Zur Schadenfreude ist absolut kein Anlaß. Während 1 Million, wahrscheinlich aber sehr viel mehr Menschen eine Wohnung suchen, während viele Mieter Angst haben, die Miete bald nicht mehr bezahlen zu können, während Mieter verdrängt werden, während immer mehr Menschen obdachlos sind, kann sich diese Koalition nicht auf eine Wohnungspolitik einigen, die diesen Dingen gerecht wird. Kohl, Lambsdorff und Waigel verlieren sich in kleinlichem Gezänk. Die Herren haben offensichtlich kein Interesse, oder sie nehmen sich keine Zeit für die Not der Menschen, die eine Wohnung brauchen, die eine Wohnung suchen, die keine Wohnung haben.Der Kanzler hat die Wohnungspolitik vor Monaten zur Chefsache erklärt, aber er ist in dieser Sache unsichtbar geblieben.
Von diesem Kanzler und seiner Regierung haben die Wohnungssuchenden, diejenigen, die in Wohnungsnot sind, und die Mieter in unserem Lande ganz sicher nichts Gutes zu erwarten.Frau Hasselfeldt und die CSU verweisen nun auf die unwillige FDP, die nun an allem schuld sein soll. Wir Sozialdemokraten haben weiß Gott keinen Grund, die Wohnungspolitik der FDP zu loben, aber wenn Herr Kohl und Herr Waigel, wenn die CDU und die CSU wirklich kämpfen würden, dann würde sich an der Stelle auch etwas bewegen, aber sie haben nicht gekämpft. Daß der Schwanz mit dem Hund wackelt, ist doch etwas Neues. Deshalb sagen wir: Die Verantwortung liegt bei Kohl und bei Waigel; sie liegt bei der CDU/CSU, die an dieser Stelle nicht gekämpft hat.
Das Verhalten der Bundesregierung in diesen Tagen steht allerdings in Übereinstimmung mit ihrer Wohnungspolitik in den Jahren seit 1982/83. Seit Ihrer Regierungsübernahme heißt die Parole: Nieder mit dem sozialen Wohnungsbau, der Markt wird es richten. — Das Mietrecht wurde geschleift, die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wurde minimiert. Die Wohnungsgemeinnützigkeit wurde abgeschafft. Der soziale Mietwohnungsbau wurde überhaupt nicht mehr gefördert; die Wohnungsprobleme wurden schlichtweg für erledigt erklärt. Kanzler Kohl und Bauminister Schneider stehen für eine mißratene Wohnungspolitik, die die soziale Aufgabe, die dabei zu lösen ist, nicht aufgenommen und nicht akzeptiert hat.
Frau Hasselfeldt weiß es besser, aber sie macht es nicht besser. Sie wendet das Blatt nicht. Sonntags den Forderungen der Sozialdemokraten zustimmen, Frau Ministerin, und alltags im alten Trott weitermachen, das löst die Probleme nicht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Einheit wird die Wohnungsprobleme zunächst einmal nicht erträglicher machen, sondern sie eher verschärfen. Das gilt für die Finanzierungsprobleme, das gilt für die Kapazitätsprobleme. Statt hier aber nun aufs Gaspedal zu treten und die Chancen zu nutzen, die in der DDR, in den neuen Bundesländern, bestehen, um im Bereich Instandsetzung und Modernisierung und Neubau standortgebunden Arbeitsplätze zu schaffen und die Wohnungsnot der Menschen zu beheben, hat die Bundesregierung das Jahr 1990 untätig verstreichen lassen. Sie hat die Chancen verpaßt, die es in der DDR gegeben hat, im Bereich des Hoch- und Tiefbaus Arbeitsplätze zu schaffen und einen Teil der Wohnungsnot abzubauen, die es auch dort gibt.Es ist ja absurd, wenn wir in diesen Tagen hören, daß Baufirmen, Handwerksbetriebe in der DDR, die mit viel Engagement gegründet worden sind, inzwischen schon wieder schließen müssen, weil sie keine Aufträge bekommen. Wer die Situation in der DDR kennt, der weiß, daß der Bedarf an Instandsetzung,
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17976 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
MünteferingModernisierung und Umbau zum Himmel schreit. Es ist unglaublich, gleichzeitig erfahren zu müssen, daß keine Arbeit vorhanden ist, weil Handwerksbetriebe, die erst vor kurzem gegründet worden sind, wieder eingehen, da sie keine Aufträge bekommen.Meine Frage an den Bundeswirtschaftsminister ist — er ist jetzt nicht hier, aber wann ist er auch schon einmal hier? — : Was hat denn der Bundeswirtschaftsminister, der sonntags so viel über Mittelstand redet und der immer nur appelliert, in den vergangenen Monaten eigentlich getan? Er hat nichts getan, um diese Probleme zu lösen. Das ist eines der schwersten Versäumnisse der Bundesregierung im Prozeß der deutschen Einheit im Jahre 1990.
Aber die Sache ist ja noch schlimmer. In diesen Tagen wird ja deutlich, daß sich auch nach dem 3. Oktober nichts ändern wird. Die Bundesregierung teilt mit, nach dem 3. Oktober werde nichts Neues passieren; alles habe Zeit bis zum nächsten, bis zum übernächsten Jahr. Selbst wenn man im Augenblick noch kein fertiges Konzept für die Wohnungspolitik in den neuen Bundesländern hätte — das wäre ja wohl verständlich —, dann gäbe es doch konkrete Aufgaben, die in Angriff genommen werden müßten.
Ich nenne z. B. ein wirkungsvolles Programm zur Förderung von Investitonen im Bereich Instandsetzung und Modernisierung. Zinshilfen in Höhe von 3 % sind an dieser Stelle keine Lösung.Ich nenne weiter ein Programm „Eigene Wohnung", mit dem diejenigen, die ihr privates Geld aufwenden, um ihre Wohnung oder die Mietwohnung instandzusetzen, zu modernisieren, neuzubauen, umzubauen, gefördert werden. Das wäre ein Anreiz für solche Vorhaben. Es ist sinnvoller, dafür Geld auszugeben, als es für Gebrauchtwagen auszugeben, die aus dem Westen dorthin transportiert werden.
Damit würden viele Probleme auf einmal gelöst.Oder nehmen wir ein Energiesparprogramm: Wir wissen doch, wie mit Energie geaast wird, aber keiner redet darüber, wie zwar mit kleinen Ansätzen, aber doch energisch darangegangen werden könnte, da sehr schnell Impulse zu geben und dafür zu sorgen, daß sich die Dinge bewegen.
Das ganze Verhalten der Bundesregierung in Sachen Wohnungsbau, Mieten, Städtebau in bezug auf die DDR, auf die neuen ostdeutschen Länder, zeigt nur, einen wie geringen Stellenwert dieser Politikbereich bei dieser Bundesregierung hat.
Trotz der Sorgen, die wir in bezug auf diese Bundesländer haben, bleibt es auch nötig, hier in der bisherigen Bundesrepublik, in unseren Bundesländern, eine neue Wohnungspolitik, eine sozial orientierte Wohnungspolitik zu betreiben.Die Pleite des Systems Honecker ist keine Rechtfertigung für die Wohnungsnot bei uns. Jeder, der meint,er könne das, was dort noch schlimmer ist, zum Anlaß nehmen zu sagen, dann bräuchten wir bei uns nicht viel zu tun, der irrt sich sehr.
Die Wohnungsnot bei uns im Lande nimmt zu, und wir müssen handeln. Deshalb haben wir Sozialdemokraten einen Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt, in dem wir zusammen mit dem Bundesrat wollen, daß noch dieser Deutsche Bundestag Beschlüsse faßt, die den Menschen helfen und zwei Dinge im Auge haben: erstens den Neubau verstärken und zweitens die soziale Funktion des Bestandes sichern.
Uns geht es um Neubau als Mietwohnungsbau und als Eigenheimbau, Neubau als ungebundenen, sogenannten frei finanzierten Wohnungsbau und als sozialen Wohnungsbau, aber z. B. auch um Neubau als Arbeitgeberwohnungsbau. Wir geben den Unternehmen auf, daß sie für ihre Arbeitnehmer Parkplätze ausweisen. Wir sollten sie auch ermutigen — vielleicht ein bißchen mehr — , für ihre Arbeitnehmer auch Wohnungen zu besorgen,
mitzufinanzieren und zu helfen, daß sich die Dinge da bewegen. Wir haben in unserem Antrag Vorschläge, die auch an dieser Stelle hilfreich sein können. Wer sich in der Wohnungspolitik auf eine Fördermethode kapriziert, der irrt sich. Das ist der Fehler, den diese Bundesregierung, den die Koalition von Anfang an gemacht hat.
Wir haben in der Bundesrepublik faktisch einen gespaltenen Wohnungsmarkt. Wir haben einen großen Teil ungebunden, sogenannten frei finanzierten Wohnungsbau, und wir haben einen kleineren Teil, den sozialen Wohnungsbau, dessen Anteil immer kleiner wird. Heute sind noch ungefähr 18 % der Wohnungen in der Bundesrepublik Wohnungen, die gebunden sind, die Sozialwohnungen sind. Wer davon redet, die Sozialdemokraten seien immer nur dabei, sozialen Wohnungsbau zu machen, den will ich an das erinnern, was in unserem Gesetzentwurf steht. Wir wollen 350 000 bis 400 000 Wohnungen in jedem Jahr haben; die brauchen wir, um überhaupt einen Ausgleich zu schaffen. Damit wird der Berg noch gar nicht abgebaut. Von diesen 350 000 bis 400 000 Wohnungen, so sagen wir, müssen 100 000 bis 120 000 Sozialwohnungen sein.
— Ich meine Sozialwohnungen mit langfristigen Bindungen; darauf komme ich gleich noch. Was Sie da an Überschriften für ganz andere Dinge wählen, ist ja etwas Falsches.Wir wissen, daß wir beides brauchen: den frei finanzierten, ungebundenen und den sozialen Wohnungsbau. Aber Ihr Problem ist, daß Sie einseitig darangegangen sind, den sozialen Wohnungsbau kleinzumachen und nur noch zu versuchen, den Weg über den
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17977
MünteferingMarkt zu gehen. Aber der Markt ist nun einmal, wie er ist. Er macht genau das, was wir immer gesagt haben. Wer in der Bundesrepublik Deutschland für einen Quadratmeter Wohnung 15 DM, 20 DM oder 30 DM im Monat zahlen kann, der bekommt natürlich auch seine Wohnung; sie wird schnell für ihn gebaut. Das ist der ungebundene freie Markt; er funktioniert. Wer aber nur 5 DM oder 6 DM zahlen kann und wer bei 10 DM passen muß, weil da das Wohngeld auch nicht mehr greift, der bekommt in der Bundesrepublik auf dem freien Wohnungsmarkt keine Wohnung.
Deshalb müssen wir Wohnungen bauen, die stärker gefördert sind und die für Menschen innerhalb bestimmter Einkommensgrenzen gebunden sind. Es geht um langfristige Bindungen, nicht um drei, fünf oder sieben Jahre. Die Wohnungen müssen langfristig zur Lösung dieser Probleme zur Verfügung stehen.
Wer das jetzt verpaßt, muß wissen, daß bis Mitte der 90er Jahre die Hälfte der Sozialwohnungen, die es heute noch gibt, aus den Bindungen herausfallen werden. Das heißt, wir werden dann einen Bindungsbestand von vielleicht 9 oder 10 % haben. Damit schieben wir alle die Kommunen vor dieses Problem; denn die stehen ja vor der Frage, was sie mit den Menschen machen sollen, die zu ihnen kommen und eine Sozialwohnung brauchen, weil sie keine andere am Markt bekommen. Die Kommunen sollen dann in diesen 9 oder 10 % Sozialwohnungen, die es dann noch geben wird, alle Problemfälle, die es gibt, unterbekommen. Das ist auch für die Sozialstruktur solcher Wohngebiete überhaupt nicht gut. Deshalb ist es so zwingend, daß ein stärkerer Impuls für den Bau von Sozialwohnungen, insbesondere von Sozialmietwohnungen gegeben wird.
Wir fordern aber nicht nur Mietwohnungen, sondern auch gefördertes selbstgenutztes Wohneigentum und schlagen dazu vor, von der heutigen Förderung — § 10e des Einkommensteuergesetzes; die Freibetragsregelung mit all ihren sozialen Ungerechtigkeiten und mit ihrer Unfähigkeit, an der entscheidenden Stelle die unteren Einkommensgruppen auch zu erreichen und ihnen den Bau möglich zu machen — auf den Abzug von der Steuerschuld umzustellen, verbunden mit einem entsprechenden Baukindergeld.Diese Bundesregierung hat immer gerne über Wohneigentum geredet. Sie hat es aber jämmerlich im Stich gelassen, jetzt wieder durch die Zinstreiberei, die betrieben wird.
Wer heute bauen will und 150 000 Fremdkapital braucht, der bezahlt pro Monat 400 DM mehr für Zinsen und Finanzierungskosten als noch vor zwei oder drei Jahren. Diese Zinstreiberei lassen Sie zu; Siemachen auch gar nichts dagegen. Das verharmlosen Sie; da gehen Sie beiseite. Der Bundeswirtschaftsminister sagt sogar, das sei ja alles gar nicht so schlimm.Nun kündigen Sie noch an, die deutsche Einheit solle ganz überwiegend durch Schuldenmacherei finanziert werden. Für jemanden, der weiß, was das für den sozialen Wohnungsbau und für die Mieten, worauf es ja inzwischen ebenfalls durchschlägt, für den Eigenheimbau und für diejenigen, die heute schon nicht mehr, in ihren Eigenheimen sitzend, ihre Verpflichtungen erfüllen können und die vor Zwangsversteigerungen stehen, bedeutet, ist diese Art der Schuldenmacherei, die sich jetzt andeutet, noch einmal eine ganz böse Perspektive wohnungspolitischer Art.Aus diesem Grunde muß alles getan werden, damit die Zinsen herunter- und nicht weiter heraufgehen.
Wir haben in unserem Gesetzentwurf Vorschläge, wie wir denn diesen Bereich der Hochzinsphase überbrücken wollen.Wir haben in unserem Gesetzentwurf zur Sicherung der sozialen Funktion des Bestandes unter Punkt 2 ausführliche Vorschläge zum Bereich des Mieterschutzes. Dies wird hier gleich noch breiter erläutert werden.Der Schutz der Mieter vor spekulativem Umgang mit Wohnungen, z. B. durch Umwandlungsdruck, der Schutz der Mieter vor ungerechtfertigten Eigenbedarfskündigungen und der Schutz der Mieter vor exorbitanten Mieterhöhungen ist auch und gerade in dieser Situation der Wohnungsnot erforderlich. Wer da sagt, wir müssen es hinnehmen, daß es viele bzw. immer mehr Menschen bei uns gibt, die keine Wohnung haben, die Angst haben und keine Chance haben, der ist in der Tat sozial kalt.
Ich nehme das auf, was von anderer Seite in Ihre Richtung gesagt worden ist. Ich finde es schlimm, daß die FDP und Teile der CDU offensichtlich nicht bereit sind, sich an dieser Stelle wirklich für die Menschen, die in bitterer Not sind, einzusetzen. Die Wahrheit ist: In diesem Augenblick läuft im Unterdeck in der dritten Klasse das Wasser ein.
Da muß gepumpt werden, und da muß das Leck dicht gemacht werden; da kann man nicht sagen: Wir brauchen das Geld für irgend etwas anderes. Denen, die keine andere Chance haben, muß geholfen werden. Deshalb sagen wir, im Mieterschutz muß etwas passieren.
Die Bekämpfung der Wohnungsnot, liebe Kolleginnen und Kollegen verträgt keinen Aufschub. Dieser Bundestag muß noch im Oktober Entscheidungen treffen. Die Sozialdemokraten sind bereit, im Ausschuß nötigenfalls auch über Sondersitzungen zu erreichen, daß wir in den letzten Oktobertagen an dieser Stelle in Verbindung mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates über die Dinge entscheiden, die zum Neubau
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17978 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Münteferingund zum Mieterschutz aufgeschrieben und von uns vorgeschlagen sind. Wir sind zu Kompromissen bereit, wenn das, was da aufgeschrieben wird, keine Farce ist.Jeder in diesem Haus, der für die Mieter Gutes will, der den Neubau will und der die Wohnungspolitik voranbringen und sozial orientieren will, der soll wissen: Er kann in diesem Haus zusammen mit den Sozialdemokraten eine Mehrheit bekommen. Es liegt an Ihnen, ob Sie bereit sind, sich in dieser Sache wirklich zu bewegen. Wir sind dazu bereit.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Kansy.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man ist wirklich nicht zu beneiden, Herr Conradi, wenn man zu Ihnen sprechen muß und kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fragen der Wohnungs- und Städtebaupolitik — wir haben heute nicht nur eine Wohnungsbaudebatte — stehen wieder auf der Tagesordnung — Herr Müntefering, das ist richtig — , und zwar nicht nur hier bei uns im Plenum des Deutschen Bundestages, sondern generell. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge erinnere ich mich daran, daß wir hier noch vor wenigen Jahren mit allen Ministerpräsidenten, einschließlich der SPD-Ministerpräsidenten, die unbedingt das Wohnungsbauministerium in Bonn auflösen wollten, weil angeblich nichts mehr im Wohnungsbau zu tun war, gerungen haben. Auch das gehört zur Wahrheit.
— Ich freue mich immer, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn Sie laut werden. Laut wird man meistens, wenn es piekt. Das war nämlich die Wahrheit.Es ist auch peinlich, Herr Müntefering, Ihren Vortrag hier anhören zu müssen. Wir haben jetzt monatelang in den verschiedensten Bereichen gerungen
und innerhalb der letzten sieben, acht Monaten eine Fülle von Gesetzgebungsvorhaben, die wir als Koalition als Wohnungsbaupaket bezeichnet haben, fast aus dem Stand auf den Weg gebracht.Sie kommen nun mit den alten Kamellen und sagen, der Bund ziehe sich aus dem sozialen Wohnungsbau zurück — ich sage dazu gleich noch etwas — , verschweigend, daß dem alle zugestimmt haben — warum auch nicht, wo noch vor fünf Jahren in diesem Land eine halbe Million Wohnungen leerstanden.Ihr Heimatland, Herr Müntefering, Nordrhein-Westfalen, war ein unrühmliches Beispiel. Kein Bundesland hat vor wenigen Jahren den Wohnungsbau so drastisch zurückgeführt, wie es Herr Rau getan hat:
von 1,7 Milliarden auf 0,8 Milliarden DM. Fast ein Drittel der gesamten Wohnungsbauförderung der Republik ist allein von nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten gestrichen worden — damit das einmal auf dem Tisch ist.
Dann wird wieder die peinliche Platte aufgelegt — ein bißchen differenzierter, als es gestern Herr Lafontaine gemacht hat — , nach dem Motto: Seht ihr, liebe Leute, das habt ihr von der Einheit; die Zinsen steigen, weil jetzt die Wiedervereinigung kommt. Was für ein Hohn!Auch was für ein Hohn, jetzt ausgerechnet dieser Regierung 40 Jahre Sozialismus mit verfallenen Städten und Wohnungen in die Schuhe schieben zu wollen, wo doch jeder weiß, wie die Sache da drüben gelaufen ist.
Wir können uns auch noch daran erinnern, wer dieser Jubeltruppe da drüben bescheinigt hat, daß sie mit ihnen gemeinsam auf dem Boden einer humanistischen Geschichtsentwicklung hier in Deutschland stehen. Was soll das ständige Aufwärmen dieser alten Kamellen?Dasselbe gilt allerdings — das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen — auch bei dem, was Herr Müntefering in Richtung langfristige Belegungsbindung vorgetragen hat. Ich habe gestern durch Zufall durch meinen Pressedienst folgendes über Niedersachsen gefunden: Dieses Land liegt bei den Wohnungsbauneubauten bezogen auf die Bevölkerung an der Spitze, allerdings nicht deswegen, weil Herr Schröder jetzt regiert, sondern weil die alte Regierung das vor Jahr und Tag angeschoben hatte. Herr Schröder hat großartig erklärt: Ja, das Wohnungsbauprogramm ist gut, aber es ist falsch finanziert — wie es auch Herr Müntefering sagt —; wir brauchen langfristige Belegungsbindungen, nicht nur welche von 10, 12 und 14 Jahren, wie es die vereinbarte Förderung vorsieht.
Jetzt steht in diesem Artikel unten ganz klein über die SPD-Fraktion des niedersächsischen Landtags: Es wächst die Einsicht bei den Genossen, daß man sich bei den Absichten finanziell erheblich übernommen hat. So hat sich herausgestellt, daß für das Land das Wohnungsbauprogramm nicht finanzierbar wäre, da es in der Regel auf eine 33jährige Belegungsbindung hinausläuft.Das ist doch die Diskussion, die wir hier führen. Wollen Sie für 120 000 DM erst einmal drei Wohnungen fördern, weil wir dringend welche brauchen, oder eine wie bei Ihnen in Nordrhein-Westfalen? Es kommt doch jetzt darauf an, daß schnell Wohnungen gebaut werden; das haben Sie selber gefordert.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17979
Dr.-Ing. KansySie aber kommen immer wieder mit Ihrer sozialistischen Leier.Wollen wir hier die richtigen Entscheidungen für die Zukunft treffen und nicht nur Wahlkampffeuerwerk machen, dann müssen Sie erst einmal dazu bereit sein, noch einmal eine Bestandsaufnahme zu machen. Ich habe Ihnen schon gesagt: Es standen vor drei, vier, fünf Jahren fast eine halbe Million Wohnungen in diesem Land leer.
— Es ist müßig, zu überlegen, ob es 300 000, 400 000 oder 500 000 Wohnungen waren. Genauso weiß heute keiner, ob 700 000, 800 000 oder vielleicht eine Million Wohnungen fehlen.
Wir müssen uns überlegen, wie es dazu kam. Ich habe Ihnen schon erklärt: Nach den großen Leerständen hat uns die Wissenschaft, hat uns die Fachwelt großartig beraten: Ihr dummen Politiker, ihr müßt Arbeitsplätze und keine Schlafplätze bauen; ihr müßt aus eurem Trott heraus, in dem ihr 30 Jahre in der Nachkriegszeit gewesen seid. Ihr müßt aufhören, immer weiter zu bauen. Ihr betoniert das Land zu. — Der nordrhein-westfälische Minister Zöpel sprach von Rückbau, sprich: Abreißen; es klang nur ein bißchen vornehmer.In diesen Jahren sind als erstes von den privaten Investoren Entscheidungen getroffen worden, die gefragt haben: Warum soll ich mein Geld in Wohnungen anlegen, wenn ich jeden Tag höre, daß eine halbe Million Wohnungen leerstehen?Dann kam der Staat hinterher. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, daß der Bund den sozialen Wohnungsbau in erheblichem Umfang gekürzt hat. Aber ich sage noch einmal: Die Länder haben genauso gekürzt; sie sind nach der Verfassung und dem Zweiten Wohnungsbaugesetz mitverantwortlich. Die Gemeinden haben dort, wo sie gebaut haben, mit gekürzt.Meine Damen und Herren, in den Jahren, als scheinbar zuviel Wohnraum vorhanden war und private und öffentliche Investoren gekürzt haben, begann nun, als Erfolg der Politik dieser Bundesregierung, ein ständiges viele Jahre währendes, reales Ansteigen der Einkommen, und zwar Jahr für Jahr. Das hat dazu geführt, daß ein erheblicher Teil dieser Einkommenssteigerung in zusätzlichen „Wohnungsverbrauch" — hier hat mal jemand gesprochen, der das nicht so deutlich gemacht hatte — gesteckt wurde.Wir müssen den Menschen in diesem Lande jetzt einmal sagen, daß zur Zeit der größte Flächenverbrauch von neuen Wohnungen, von modernisierten Wohnungen die Bevölkerungskreise betrifft, die eigentlich schon gut mit Wohnungen ausgestattet sind.
Wir haben zur Zeit pro Person und pro Jahr ein Viertel Quadratmeter an zusätzlicher Wohnfläche. Das hört sich nach wenig an. Bei über 60 Millionen Einwohnern sind das aber 15 Millionen Quadratmeter.150 000 Hundert-Quadratmeter-Wohnungen gehen zur Zeit auf verschiedene Art und Weise an Leute, die eigentlich gut ausgestattet waren.Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ich beklage nichts, aber wenn wir ehrlich miteinander umgehen, müssen wir sie nennen. Da sind die Jugendlichen, die viel früher als noch vor einer Generation, ja, noch vor zehn Jahren, die elterliche Wohnung verlassen. Da sind die alten Menschen, allein oder zu zweit, die in den Häusern und in den großen Wohnungen bleiben. Geschiedene Ehepaare verdoppeln ihre Wohnungsansprüche. Kleine Wohnungen werde zu großen zusammengelegt. Das neue Eigenheim ist natürlich größer als die alte Mietwohnung.
— Nein, das ist die Wahrheit. Wenn Sie endlich aus Ihrer ideologischen Wohnungsbaudiskussion herauswollen und überlegen wollen, wo wir was für wen tun können, dann müssen wir zuerst die Gruppe benennen, über die wir uns unterhalten wollen.
Meine Damen und Herren, viele Menschen kamen dazu, haben das Problem aber nicht geschaffen. Anderthalb Millionen Menschen, seit knapp zwei Jahren neu in diesem Land, verschärfen das Problem.Jetzt will ich Ihnen, Herr Kollege Reschke, die Frage beantworten. Vor der Tür der Wohnungsmärkte bleiben vor diesem Hintergrund einer weitgehend gut versorgten Bevölkerung und von außen hinzukommenden Leuten, die von heute auf morgen untergebracht werden müssen, eben die erstmalig Wohnungsuchenden, junge Ehepaare oder junge Leute,
die vor der Tür stehen, die umziehen müssen, weil sie den Arbeitsplatz wecheln.
Diesen Gruppen, Herr Müntefering, müssen wir helfen. Aber wie wollen Sie einem jungen Paar helfen, das sich Freitag nacht die Zeitung am Kiosk holt und schnell zum Telefon läuft?
— Ich habe wirklich nichts dagegen, wenn Debatten lebhaft sind. Wenn ich aber zwischendurch noch zu Wort kommen darf, bin ich sehr dankbar.Es geht also um diejenigen, die in der Nacht von Freitag auf Samstag die Zeitung kaufen und zum Telefon rennen. Sie setzen ihren Schwerpunkt in der ganzen Politik — Sie haben es wieder einmal vorgetragen — darauf, immer wieder die alte Platte zu spielen, als ob unser Hauptproblem darin bestünde, der
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Dr.-Ing. Kansygroßen Menge unserer Bevölkerung in der Wohnungsbaupolitik unter die Arme zu greifen, allen mit möglichst verschärften Mietrechtbestimmungen die Mieten festzusetzen, ganz egal, ob es sich um ein Yuppie-Ehepaar handelt, das 15 000 DM im Monat verdient, oder nicht. Nein, solange Sie nicht begreifen, daß wir uns jetzt auf die Leute konzentrieren müssen, die wirklich betroffen sind, und nicht Wohltaten über das Land streuen, wo viele gut ausgestattet sind, werden wir nicht zu einem vernünftigen Lösungsansatz mit Ihnen kommen.
Meine Damen und Herren, wir sind als Union die Partei der sozialen Marktwirtschaft auch im Wohnungsbau. Aber — jetzt nehme ich gerne die Diskussion auf — für uns bedeutet der Begriff soziale Marktwirtschaft gleichermaßen „sozial" wie ,,Marktwirtschaft". Das unterscheidet uns eben von Ihnen. Meine Herren von der SPD — leider ist die Quote zur Zeit nicht erfüllt — , Sie suchen Ihr Heil fast ausschließlich im staatlichen Dirigismus, sei es im Bereich des Neubaus, sei es im Bereich des Mietrechts.Aber das unterscheidet uns auch — da gibt es doch überhaupt keinen Zweifel — von einer ganzen Gruppe von Ordoliberalen, die sagen: Warum nicht auch hier Marktwirtschaft? Der Markt wird es schon richten. — Wir versuchen die schwierige Brücke zwischen beiden Gruppen.
— Ich gucke auch gerne zu dem Kollegen Hitschler und dem Kollegen Gattermann.Meine Damen und Herren, für uns ist die Wohnung also sowohl ein hohes Sozialgut — der Mittelpunkt unseres Lebens, der Mittelpunkt der Familien — als auch ein teures Investitionsgut, bei dessen Erstellung und Unterhaltung man Marktgesetze nicht verleugnen darf, wenn man nicht Schiffbruch erleiden will.Wer die Wohnung nur als Sozialgut betrachtet, sich insbesondere in Wahlzeiten aufbläht, Versprechungen macht und dann wie überall endet, wo man ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Verluste so Politik gemacht hat, wird genauso scheitern, wie, meine ich, der, der Wohnung nur als Investitionsgut betrachtet und nicht sieht — vor allen Dingen in Zeiten großer Defizite — , daß soziale Flanken aufgerissen werden, die politisch zumindest für die Union nicht tragbar sind.Wir haben — die Frau Ministerin wird das sicherlich anschließend erläutern — in diesen Monaten mit unserem Wohnungsbaupaket, das die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wesentlich verstärkt, das den privaten Mietwohnungsbau anreizt, das dem Eigenheimbau durch das Bausparzwischenfinanzierungsprogramm hilft, das den Studentenwohnungsbau durch den Bund neu aufgenommen hat und das eine riesige Wohngelderhöhung, Baulandbeschaffungsprogramme usw. beinhaltet, getan, was wir in dieser Situation tun konnten.
Wenn ich Ihnen einen Blick in den Bericht der Deutschen Bundesbank, der vor drei Tagen herausgekommen ist, erlauben darf: Wir haben bereits jetzt Baupreissteigerungen von ungefähr 9 %. Wir müssen bei all unseren Anstrengungen aufpassen, daß nicht ein zu großer Teil öffentlicher und privater Gelder letzten Endes nur in erhöhten Baupreisen und nicht mehr in Wohnungen landet.Dieses Programm greift. Wir hatten schon im letzten Jahr ein steiles Ansteigen der Zahl der Baugenehmigungen und haben mit einer gewissen Differenz zwischen Bau und Fertigstellung jetzt ein kräftiges Anziehen der Baufertigstellung. Unser Ziel ist oft erläutert worden: 1 Million Wohnungen von 1990 bis 1992 und danach ein Standard von etwa 400 000 Wohnungen jährlich. Da sind wir uns einig, Herr Kollege Müntefering. Dies werden wir brauchen, um das Defizit abzubauen und nicht nur die Lücke zu schließen, die wir heute haben.Meine Damen und Herren, aber selbst nach Erreichen dieses Ziels wird es eben einige Jahre dauern, bis wir wieder einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt haben. Deswegen wird insgesamt in den Ballungsräumen auch noch für einige Jahre eine Situation bleiben, die man eigentlich nicht mehr Soziale Marktwirtschaft nennen kann. Da ist nämlich zur Zeit fast kein Markt mehr.
Das ist eine Situation, wo der Anbieter auf dem Stuhl sitzt wie ein König und wo der Nachfrager wie zu einen Wohnungsamt kommt.
Deswegen, Herr Kollege Conradi, hat die Union, wenn bisher auch noch ohne Erfolg, maßvolle und auf diese besonderen Regionen und auf sehr befristete Zeit ausgerichtete Mietpreisdämpfungsvorschläge gemacht, die in diesem Deutschen Bundestag bisher noch nicht haben mehrheitsfähig werden können,
die aber — das ist unbestritten — genau das Profil der Union zeigen, das ich vorhin dargelegt habe, daß wir auf der einen Seite nichts auf Ihre populistischen, aufgeblasenen Staatsprogramme geben können und wollen,
auf der anderen Seite aber auch nicht sagen: Der Markt wird es schon alleine richten.Meine Damen und Herren, zum Abschluß ein Wort zum Bauland. Es kommt in dieser klassischen Mietrechtsdiskussion „Wohnung Sozialgut — Wohnung Investitionsgut" ein Bereich zu kurz. Das ist das immer stärker werdende Problem, überhaupt Grund und Boden zu schaffen, um zu bauen.
Erstaunlicherweise verdrängen das die Leute am stärksten, die am meisten fordern, die die größten Wohnungsbauprogramme
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Dr.-Ing. Kansyund die die stringentesten Mietrechtseingriffe fordern und dann, wenn sie gefragt werden: „Wo wollt ihr denn den Boden hernehmen?", sagen: Da sind Baulücken, die man bebauen kann, da sind leere Dachgeschosse, die man ausbauen kann. — Nein, meine Damen und Herren, 3 bis 4 Millionen Wohnungen — das bedeutet das nämlich, was wir hier eben vorgetragen haben — in diesem Jahrzehnt kann man nicht mehr in Baulücken und Dachgeschossen schaffen,
sondern wir müssen wieder, obwohl es uns wehtut, Bauland ausweisen und den Konflikt zwischen Landschaftsverbrauch und Wohnung offen austragen. Da müssen wir sagen, was wir wollen.
Die Worte sind groß. Sehen Sie überall dorthin, wo Sie regieren. Herr Kronawitter macht jeden Tag eine Pressekonferenz, wo er sagt: Wir brauchen neue Wohnungen. — Dann geht es um die Bebauung der sogenannten Panzerwiese, da sagt er nein. Herr Hauff hat sich hier mit einer Rede als Kandidat für den Frankfurter Oberbürgermeister verabschiedet. Im ersten Jahr, so hat er versprochen, wollte er 4 000 Wohnungen bauen. 1 000 hat er gebaut, weil er mit seiner rotgrünen Koalition kein Bauland zur Verfügung stellen konnte.
Und Herr Kollege Conradi kommt nach Hannover — es ist immer eine schöne Sache, nach Hannover zu kommen — und veranstaltet eine Pressekonferenz und macht ausgerechnet die Hannoverschen Kommunalpolitiker und den Mieterbund madig, die sich dafür einsetzen, Neubaugebiete auszuweisen, und assistiert denen Schwachsinn.Nein, Herr Kollege Conradi, die Politik von Ihnen ist keine Politik für das Ehepaar, das Freitag nacht am Kiosk eine Zeitung kauft und zum Telefon läuft. Das ist eine Politik für Ihre Schickimicki-Truppen,
die sich mit einem Einkommen von 10 000 DM in den Bestand in den Innenstädten einkaufen und dann beim Sektempfang beklagen, daß der Landschaftsverbrauch vor ihrer Tür stattfindet. Das ist nämlich die Wahrheit.
Solange Sie nicht bereit sind, auch in diesem Bereich umzudenken, können wir uns alles, was wir im Wohnungsbau vorhaben, abschminken.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir halten es für ungeheuer unverantworlich, das wohnungspolitische System der Bundesrepublik Deutschland, das schon hier zur Mietenexplosion und zu ungeheurer Wohnungsnot geführt hat, auf das Gebiet der DDR zu übertragen. Wohnungsnot gibt es in beiden deutschen Staaten. Sie hat aber in beiden Staaten verschiedene Formen und verschiedene Ursachen. Während in der DDR viele Wohnungen verfallen, während dort der Wind durch so manches Fenster bläst und die Dachrinnen tropfen, gibt es hierzulande 200 000 Obdachlose, 200 000 Menschen in Notunterkünften und 700 000 Menschen, die in Substandardwohnungen leben, die nicht besser sind als die schlechtesten Wohnungen in der DDR.Vor zwei Wochen war ich in Ost-Berlin am Prenzlauer Berg und habe mir dort die teilweise zerfallenen Wohnungen angesehen. Das war kein schöner Anblick.
Wenige Tage später war ich allerdings in MünchenGiesing bei einer Versammlung der Mieterinnen und Mieter der verkauften Neuen Heimat. Auch das war nicht besonders erhebend.
Die Mieterinnen und Mieter haben Angst, sie sind verzweifelt. Der Herr Doblinger bietet ihnen ihre Wohnungen für 325 000 DM zum Kauf an. Ich frage Sie jetzt: Welche Mieterin und welcher Mieter des sozialen oder des abgelaufenen sozialen Mietwohnungsbaus kann sich diese Preise überhaupt leisten? Einige haben allerdings schon gekauft, zu einer Zeit, als die Preise noch anders waren. Aber auch von denen mußten einige mittlerweile wieder ausziehen, weil sie sich übernommen haben und es dadurch zu Zwangsversteigerungen gekommen ist.Um die Kauflust bei den Kaufunfähigen zu steigern, droht Herr Doblinger jetzt mit Mieterhöhungen von 3 DM pro qm, also Mieterhöhungen von ca. 50 %. Damit macht Herr Doblinger in München genau das, was der Herr Kansy von der CDU neulich im Ausschuß für die DDR vorgeschlagen hat. Herr Kansy hat nämlich gesagt: Die Mieten müssen spürbar steigen, damit die Motivation zur Eigentumsbildung erhöht wird.
Das muß man sich doch einmal auf der Zunge zergehen lassen. Wissen Sie, was das bedeutet? Das heißt, das Brot unerschwinglich teuer zu machen, damit die Leute sich endlich dazu bereit erklären, den ebenfalls überteuerten Kuchen zu kaufen.
Menschen, die sich dann allerdings weder Brot noch Kuchen kaufen können, bleiben auf der Strecke, werden obdachlos, kommen in die Notunterkunft, verlieren ihre Wohnung, fallen der Zwangsversteigerung zum Opfer und kommen in Wohnungen hinein, die noch viel schlechter sind als die, die sie vorher hatten. Das ist die Folge Ihrer Politik!
Die Ursachen für die Wohnungsnöte in der Bundesrepublik und in der DDR sind ebenso verschieden wie ihre Formen. Während die Gründe dort Bürokratie, Geldmangel und staatliche Willkür sind, sind es hier die freie, unsoziale Marktwirtschaft und die Konzen-
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17982 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Frau Oesterle-Schwerintration fast sämtlicher Förderungsmittel auf die Bevölkerungsschichten der Reichen und des oberen Mittelstandes.Staatssekretär Echternach sagt immer — und Sie, Herr Kansy, haben das heute wiederholt —, es sei der steigende Wohlstand, der zur Wohnungsnot führt. Das stimmt; das ist richtig. Es ist allerdings der steigende Wohlstand der Wohlhabenden, und es sind die riesigen staatlichen Förderungen, die diese noch zusätzlich zu ihrem schon bestehenden Wohlstand bekommen, die es ihnen ermöglichen, den weniger Wohlhabenden ihre Wohnungen wegzukaufen und sie zu verdrängen.Warum bekommt ein Spitzenverdiener mit einem Einkommen von 130 000 DM im Jahr einen monatlichen Steuernachlaß von 670 DM? 670 DM im Monat bekommt er vom Staat geschenkt, wenn er zwei Rentnerinnen ihre Mietwohnungen wegkauft, diese Wohnungen zusammenlegt und sich daraus eine Luxusmaisonette macht. Dieser Mann wird vom Staat mit 670 DM im Monat gefördert!Warum sieht der Staat diesen asozialen Akt als förderungswürdig an?
Warum gibt der Staat in jedem Jahr 8,5 Milliarden DM für die steuerliche Eigentumsförderung aus, während ihm das, was er sozialen Wohnungsbau nennt, nur noch knapp 2,2 Milliarden DM wert ist? Ich frage Sie: warum?
— Wohnungen für Reiche. Den Armen werden Wohnungen weggenommen; die Reichen werden dabei unterstützt, diese Wohnungen zu kaufen. Das ist Ihre Politik.Anstatt endlich das Miethöhengesetz zu ändern, reist Frau Hasselfeldt schon seit Monaten landauf und landab und macht überall große Versprechungen. Aber sie kann sich in der eigenen Regierung nicht gegen den kleineren Koalitionspartner durchsetzen,
was lächerlich ist. Anstatt endlich das unsoziale Miethöhengesetz zu ändern, will die Regierung dieses untaugliche Gesetz, das zu Mietenexplosionen führt, jetzt auch noch auf das Gebiet der erweiterten Bundesrepublik ausdehnen.Die CDU/CSU-FDP-Regierung wird es den Bürgerinnen und Bürgern der DDR schon noch beibringen, was kapitalistische Wohnungspolitik ist. Die DDRler und DDRlerinnen kommen vom Regen in die Traufe. Ihre kaputten Wohnungen werden zwar im Laufe der Jahre saniert und modernisiert, aber sie werden für viele — nicht für alle, aber für viele — nicht mehr erschwinglich sein.
Die Bürgerinnen und Bürger der DDR werden im Prinzip das gleiche Schicksal erleiden wie Sanie-rungsverdrängte hierzulande. Was wird dann passieren? — Es besteht zumindest die G e f ahr, daß die Volkswanderung in Richtung Westen dadurch beschleunigt wird und daß das wiederum den Konkurrenzkampf um preiswerte Wohnungen hierzulande verschärft. Sie machen diese Politik sehenden Auges und wider besseres Wissen. Sie erzeugen ein ungeheures Chaos, das leider nicht Sie selbst, sondern andere werden auslöffeln müssen.Wir GRÜNEN haben ein besseres Konzept.
Wir fordern in verschiedenen Anträgen, die wir heute und in den letzten Wochen hier vorgelegt haben, eine Politik der Bestanderhaltung: Bestanderhaltung von Wohnungen, Bestanderhaltung von Sozialbindungen, Bestanderhaltung von bezahlbaren Mieten. Wir fordern einkommensabhängige Mieten. Das Wohngeld ist untauglich.
Wir brauchen eine einkommensabhängige Miete.
Wir brauchen dauerhafte Sozialbindungen für alle Wohnungen, die mit öffentlichen Mitteln gebaut, saniert und moderinisiert werden, und zwar hier und in der DDR.Natürlich müssen die Mieten in der DDR steigen. Kein vernünftiger Mensch wird daran zweifeln.
Aber die Entscheidung darüber, um wieviel sie steigen müssen, Ihrer Regierung zu überlassen, das heißt wirklich, den Bock zum Gärtner zu machen.
Kolleginnen und Kollegen, kapitalistische Wohnungspolitik, das heißt guter und ausreichender Wohnraum für zwei Drittel der Bevölkerung, aber Angst vor dem Verlust der Wohnung, niedriger Lebensstandard wegen zu hoher Mieten, drohende Obdachlosigkeit für den Rest der Bevölkerung. Wohnungspolitik im ehemals real existierenden Sozialismus, das hieß Schlendrian, kaputte Wohnungen und Inkaufnahme des Verfalls ganzer Städte.
Mit unserem Antrag „Ökologische und soziale Offensive gegen Wohnungsnot" und mit unserer Konzeption für einen neuen sozialen Mietwohnungsbau bieten wir einen dritten Weg an.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hitschler.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17983
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte gibt uns Gelegenheit, die Wohnungspolitik dieser Koalitionsregierung auf den Prüfstand zu stellen und sie an den alternativen Vorstellungen der Opposition zu messen. Allenthalben kann man lesen, daß die SPD und ihr Kanzlerkandidat die Wohnungspolitik zu einem zentralen Wahlkampfthema machen möchten, wohl nach dem Motto, ein Angriff verberge am geschicktesten die eigenen Schwächen.Diese Herausforderung nehmen wir gerne an, gibt sie uns doch die Möglichkeit, einerseits die sichtbaren Erfolge der Regierungspolitik hervorzuheben und andererseits auf die vielfachen Blockadeversuche auf Landes- und Gemeindeebene hinzuweisen, die den privaten Wohnungsneu- und -ausbau behindern. Herr Kansy hat das mit eindrucksvollen Beispielen schon belegt.Am deutlichsten wird das in der Tat bei den Prototypen einer Bauverhinderungspolitik in Berlin und München, wo durch die konstante Verweigerung, dringend erforderliches Bauland auszuweisen, die Baulandpreise derart gestiegen sind, daß die Umlegung der Kosten des Baugrundstücks auf die Miete inzwischen bei einem Betrag von über 10 DM pro Quadratmeter Wohnfläche angelangt ist.
Daran ist nicht die Bundesregierung schuld. Das ist ausschließlich Sache der Kommunen und der Landesplanung. Jeder Bauherr und jeder Mieter muß wissen, wem er diese Bescherung zu verdanken hat. Viele Kommunen haben in der Vergangenheit eine sehr restriktive Haltung bei der Baulandausweisung an den Tag gelegt und die immense Steigerung der Baulandpreise aus ideologischer Verklemmung in Kauf genommen, da sie den Vorwurf des Landschaftsverbrauchs mehr fürchteten als der Teufel das Weihwasser. Wohnungen können aber bedauerlicherweise immer noch nicht wie das Weltwunder der Hängenden Gärten der Semiramis in der Luft schweben. Wenn ein unbestritten erheblicher Wohnungsbedarf vorhanden ist, brauchen wir dafür Baugrund.Doch selbst dort, wo kein Quadratmeter Boden zusätzlich benötigt wurde, beim Dachgeschoßausbau, ging man in München bis vor die Obergerichte, um die Zurverfügungstellung zusätzlichen Wohnraums zu verhindern. Das geschieht in der Regel in denjenigen Kommunen, die am lautesten über die Wohnungsmarktverhältnisse lamentieren. Wenn man sich beispielsweise die Inventur der Berliner Wohnungsbaupolitik des rot-grünen Senats anschaut, der mit besonders verfeinerten Methoden Privatinitiativen hemmt, kann man nur von einem Dokument der Trostlosigkeit sprechen.Im Bundesgebiet insgesamt, meine Damen und Herren, ist der Wohnungsbau dank des Programms, das die Koalition zur Förderung des Wohnungsbaus 1989 beschlossen hat, in Fahrt gekommen. Eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik seit der Wende hat jährliche Einkommenssteigerungen ermöglicht, die weit höher lagen als die Mietsteigerungen und die Steigerungen der Lebenshaltungskosten. Diese Einkommenszuwächse sind auch die wesentliche Ursache für die gestiegene Nachfrage an unseren Wohnungsmärkten. Nach Leerstandsdebatten noch 1987 führen wir heute Klagen über Wohnungsengpässe. Wir haben gehandelt. Ein wirksames Programm zur Ankurbelung des Wohnungsbaus, das Wohnungsbauerleichterungsgesetz, die gerade in den nächsten Tagen wirksam werdende Erhöhung des Wohngeldes um durch schnittlich 14%, das sind die Marksteine einer erfolgreichen Wohnungspolitik dieser Regierung, die es geschafft hat, die Zahl der fertiggestellten Wohnungen in diesem Jahr um fast ein Drittel zu erhöhen.
Die Kapazitäten der Bauwirtschaft, die bereits spürbare Erweiterungsinvestitionen vornimmt, sind weitgehend ausgelastet. Der Arbeitsmarkt ist von Baufacharbeitern leergefegt. Die Baukonjunktur läuft auf vollen Touren bei günstigen Perspektiven. In der mittelfristigen Perspektive ist die Branche rundum zufrieden.Was empfiehlt uns die Opposition in dieser Situation? Wie gehabt: im Westen nichts Neues, ein interventionistisches Sammelsurium, das in seinem angebotsorientierten Teil eine Aufstockung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau vorsieht, und das zu einem Zeitpunkt, in dem der Präsident der Deutschen Bundesbank eindringlich vor weiteren Wohnungsbauprogrammen warnt,
weil dies lediglich zu einer Erhöhung der Baupreise und zu einer zusätzlichen Belastung des Kapitalmarkts führt. Daß dies natürlich auch noch teuerere Mieten bei der Erstvermietung nach sich ziehen würde, wird geflissentlich übersehen. Dafür aber wird im mietrechtlichen Teil — um es mit Kishon zu sagen — ein heiliger Krieg gegen die „feisten Hausbesitzer" geführt, die sich bei einer Rendite von 4,5 % gegenüber 8 bis 10 % bei alternativen Kapitalanlagemöglichkeiten im Vermietungsgeschäft ja geradezu als „unersättliche Profitgeier" betätigen. Deshalb wird ein Konglomerat von Mietbegrenzungsmaßnahmen vorgeschlagen, vor dem alle Fachleute, vor allem der Sachverständigenrat, warnen, weil es dem privaten Wohnungsbau wie eine Garotte den Hals zudrücken würde.Zur Freude der GRÜNEN bliebe dann als einzige Möglichkeit übrig, den Wohnungsbau ganz von der öffentlichen Hand zu betreiben. Der deutsch-sowjetische Vertrag mag dem mit Wohnungsbauproblemen wenig Vertrauten deutlich vor Augen führen, was dies bedeuten würde: 36 000 Wohnungen à 60 qm mit niedrigem Komfortstandard in der Sowjetunion zu bauen kostet uns 7,9 Milliarden DM, und zwar ohne Grundstückskosten. Wollten wir in der Bundesrepublik im nächsten Jahr 360 000 Wohnungen bauen und von Vater Staat bezahlen lassen, müßte dieser 79 Milliarden DM löhnen, wieder ohne Grundstückskosten. Das kann nicht die Lösung sein.Nein, jeder wird einsehen, daß ein Bauherr zumindest die echten Kosten, die seine Investition verursacht, über die Mieten wieder hereinbekommen muß. Nur ist jeder heute erschrocken darüber, daß diese echte Kostenmiete in der Regel schon über 15 DM
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17984 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Dr. HitschlerQuadratmetermiete bedeutet und in einigen Extremfällen, bei besonders hohen Grundstückspreisen und hohem Komfort, auf über 30 DM klettert. Diese Mieten sind in der Tat nur von wenigen aufzubringen. Der Markt zeigt sich allerdings bei Mieten bis zu 12 und 15 DM wenig reagibel.Die Wohnungsmärkte insgesamt werden freilich von den Erstvermietungen nur marginal beeinflußt; denn nur 1 9' aller Wohnungen sind Neubauwohnungen. Das allgemeine Mietniveau wird geprägt von den Bestandsmieten, die in den zurückliegenden Jahren sehr stabil geworden sind.
Das wissenschaftliche Institut „Wohnen und Umwelt", Darmstadt, formulierte bei unserer Anhörung letzte Woche — ich zitiere —:Insgesamt ist die Entwicklung der Bestandsmieten kaum als dramatisch zu bezeichnen.
— Das ist ein Institut, das Ihnen besonders nahesteht.
Mietsteigerungen werden in der Regel bei Wiedervermietung einer Wohnung realisiert, vor allem auch dann, wenn die Sozialbindung einer Wohnung entfällt und die Miete schrittweise an die Vergleichsmiete herangeführt wird. Diesen Spielraum einzuengen hieße aber, die Grundlage einer langfristigen Durchschnittsrendite einer Kapitalanlage im Wohnungsbau zu zerströren und das Vertrauen der Investoren in konstante Rahmenbedingungen zu enttäuschen. Diese Voraussetzungen müssen aber gegeben sein, wenn privates Kapital für Wohnungsinvestitionen bereitgestellt werden soll. Ich glaube hinreichend deutlich gemacht zu haben, daß wir auf dieses private Kapital angewiesen sind.Wenn sich die privaten Investoren aus dem Wohnungsbau zurückziehen, werden wir bei steigender Nachfrage ein stagnierendes Angebot bekommen, das Wohnungsbesitzer zum Horten preiswerten Wohnraums anhält. Bei dirigistisch begrenzten Mieten werden die Hausbesitzer die Wohnungen verwahrlosen lassen, und es entstehen graue Märkte von unkontrollierbaren Nebenleistungen, wie dies die Erfahrung aus anderen Ländern lehrt.Der eigentliche Skandal unserer Situation an den Wohnungsmärkten sind nicht die Einzelfälle überhöhter Mietforderungen, gegen die unsere Mieter durch unsere Rechtsprechung und durch die Vorschriften des Wirtschaftsstrafgesetzes wirksam geschützt sind;
der eigentliche Skandal ist die Tatsache, daß Hunderttausende von Fehlbelegern Sozialwohnungen belegen, auf die sie ihrem Einkommen nach eigentlich keinen Anspruch mehr haben. Diese Fehlbeleger denken gar nicht daran, die billigen Mietwohnungen,die der kleine Mann mit seinen Steuergeldern subventioniert, aufzugeben.
Daher treten wir, die FDP, für eine gerechtere Lösung ein. Wir wollen denjenigen, die die Marktmieten aus eigener Tasche nicht zahlen können, die wirklich überfordert sind, dadurch helfen, daß wir den individuellen Wohngeldanspruch verbessern. Das Wohngeld hat sich bewährt. Wir sollten bei steigenden Mieten dieses Instrument daher ausbauen, die Mittel aufstocken, die Höchstbeträge anheben, und dies zu Lasten des Mitteleinsatzes für den fehlgesteuerten sozialen Wohnungsbau. Wir wollen also weg von der Objektförderung hin zur Subjektförderung. Dies brächte ein wesentlich höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit. Es würden diejenigen nicht mehr in den Genuß von Mietvergünstigungen kommen, die ihre Miete eigentlich selbst zahlen können.Wir meinen ferner, daß die Kommunen verstärkt das Instrument des Belegrechtes zugunsten derjenigen nutzen müssen, die auf der Schattenseite unserer Wohlstandsgesellschaft leben.Die soziale Abfederung einkommenschwächerer Mieter ist jedenfalls mit Hilfe dieser Instrumente besser und gerechter zu erreichen als mit Ihren mieterfeindlichen Mietänderungsvorschlägen. Wir freuen uns darüber, daß wir in dieser Beurteilung nicht alleinstehen und Zuspruch von Institutionen erhalten, von denen wir es gar nicht erwartet hätten.Die Alternativen in der Wohnungspolitik liegen klar auf dem Tisch: Sie wollen mit noch mehr öffentlichen Geldern Fehler des bestehenden Systems multiplizieren und mit neuen dirigistischen Eingriffen neue Fehlentwicklungen initiieren, als hätten Sie das Desaster in der DDR nicht vor Augen. Wir wollen privates Kapital für den Wohnungsmarkt mobilisieren, mehr Markt in der Wohnungswirtschaft realisieren, Reglementierungen abbauen und das mit einer wirksameren sozialen Abfederung mittels des zielgerechten Wohngelds und des kommunalen Belegrechts verknüpfen.Deshalb ist der Vorwurf von Herrn Stoiber, der vom Mietrecht auch keine Ahnung zu haben scheint, die FDP sei allein schuld an den hohen Mieten, zwar starker Tobak, aber so ausgesprochen unbedarft und lächerlich, daß man darauf nicht näher einzugehen braucht.
Herr Kollege Jahn versteigt sich sogar dazu, zu einer großen Koalition der Unvernunft aufzurufen. Wir halten es da mit dem Sachverständigenrat, der zu dem Schluß kommt: Mietrechtsänderungen wirken sich letztlich immer gegen die Mieter aus. Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, wollen alles tun, damit Wohnungen gebaut werden, und alles verhindern, was diesen erforderlichen Neubau hemmt. Nur mehr Wohnungen beseitigen die Wohnungsengpässe und üben echten Druck auf die Mieten aus.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17985
Dr. HitschlerDie soziale Absicherung ist über die Wohngelderhöhung gerechter zu leisten. Deshalb können wir uns mit Ihren Vorstellungen nicht anfreunden.
Das Wort hat die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf unserem Tisch liegt heute der Entwurf eines sogenannten Gesetzes zur Bekämpfung der Wohnungsnot.
Die Sozialdemokraten wollen damit neuen Wohnraum schaffen, sie wollen damit die Mieter besser schützen. Das klingt aufs erste und oberflächlich gesehen gar nicht schlecht — mehr aber auch nicht. Die Maßnahmen, die zur Erreichung dieser Ziele vorgeschlagen werden, sind dafür nicht geeignet.
Meine Damen und Herren, Sie fordern immer neue milliardenschwere Subventionen in einer Größenordnung, die die florierende Bauwirtschaft überfordern, die das dringend notwendige Privatkapital verdrängen und die die Preise und Zinsen kaputtmachen. Sie fordern massive Eingriffe in das Mietrecht. Hier liegt ein deutlicher Unterschied zu dem, was ich als notwendig erachte.
Ohne jeden regionalen Unterschied sollen die Mieten auf Dauer quasi festgeschrieben werden.
Das wäre der Tod des privaten Wohnungsbaus, und die Zeche dafür müßte allein der Mieter zahlen, und zwar mit horrenden Schwarzmarktpreisen.
Dies ginge zu Lasten der Wohnungssuchenden, dies ginge zu Lasten der Bauherren, und dies ginge zu Lasten der Mieter. Deshalb ist der vorliegende Gesetzentwurf der SPD lediglich ein Versuch, den Menschen Sand in die Augen zu streuen.
Meine Damen und Herren, ich leugne nicht, daß die derzeitige Situation auf dem Wohnungsmarkt nicht ganz frei von Problemen ist.
Es fehlen noch viele Wohnungen. Familien mit Kindern, Alleinerziehende, einkommensschwächere Haushalte, junge Leute, die eine Familie gründen wollen, stehen hei der Wohnungssuche vor besonderen Schwierigkeiten.
Immer mehr Mieter sind von einem kräftigen Anstieg der Mieten betroffen.Die Bundesregierung kennt diese Probleme. Sie hat sie nie geleugnet.
Sie diskutiert sie offen, und sie handelt. — Herr Conradi, wir machen heute keine Vergangenheitsbewältigung, sondern müssen uns auf die heutige Situation konzentrieren. Für die Zeit, in der ich Verantwortung für dieses Ressort trage, kann ich mit Fug und Recht behaupten, daß ich die Sorgen der Mieter, die Sorgen der Wohnungssuchenden nicht nur ernst nehme, sondern auch gehandelt habe.
Wir haben im vergangenen Herbst in der Koalition ein wohnungspolitisches Milliardenprogramm beschlossen. Die Opposition kommt heute, zu einem Zeitpunkt, da unsere Maßnahmen bereits erfolgreich sind. Eine Fülle von finanzwirksamen Entscheidungen, von planungsrechtlichen, baurechtlichen, mietrechtlichen Erleichterungen haben dazu beigetragen, daß wir die ersten Erfolge jetzt schon sehen können.Nicht zuletzt haben wir vor kurzem — als Antwort auf die gestiegenen Zinsen — das Maßnahmenpaket weiter verstärkt, z. B. durch die Aufstockung der Mittel im Wohnungsbaukreditprogramm für Umbauten und Ausbauten auf 4 Milliarden DM. Diese Summe ist inzwischen fast vollständig mit Anträgen belegt.Allein dieses Programm wird eine Förderung von etwa 80 000 zusätzlichen Wohnungen mit möglich machen. Das Wichtige dabei ist, daß wir in dieser Frage eben nicht von der restriktiven Handhabung so mancher Städte abhängig sind, vor allem der Großstädte, die von den Sozialdemokraten regiert werden und die bei der Ausweisung von Bauland, bei der Anwendung von Baurecht so restriktiv sind, daß das, was dringend notwendig ist, nämlich zusätzliche Wohnungen zu bauen, vor Ort blockiert wird.
In diesem Programm — das möchte ich schon mit Nachdruck erwähnen — haben wir den sozialen Wohnungsbau, Herr Kollege Müntefering, nicht kurzgehalten, wie Sie es gesagt haben. Im Gegenteil: Der soziale Wohnungsbau hat wieder einen hohen Stellenwert, im Gegensatz zu dem, was alle Ministerpräsidenten der Länder uns und der ganzen Republik vor einigen Jahren weismachen wollten.
Aber wir wissen auch, daß dieses Instrument allein nicht ausreicht. Wir brauchen beides: den sozialen Wohnungsbau und den freifinanzierten. Bei beidem sind wir auf gutem Weg.
Die Statistik zeigt das deutlich. Allein im sozialen Wohnungsbau stiegen die Bewilligungen bereits im17986 Deutscher Bundestag — 11 Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990Bundesminister Frau Hasselfeldtletzten Jahr kräftig an. Im ersten Halbjahr 1990 hatten wir eine erneute Zunahme um 85
Alles spricht dafür, daß wir unser Ziel von 100 000 Sozialwohnungen in diesem Jahr erreichen werden.
Im übrigen: Nur mehr Geld zu fordern, ohne Rücksicht darauf, woher das Geld kommt, ist zu einfach. Und genau da, Herr Kollege Dr. Möller, liegt in der Tat der Unterschied zwischen unseren Bemühungen, zwischen unserem Programm und den Forderungen der Sozialdemokraten.Vor allem die Entwicklung bei den Baugenehmigungen zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg sind: Im ersten Halbjahr 1990 ergab sich bei den Baugenehmigungen im Wohnungsbau insgesamt ein Anstieg um mehr als 50 %, bei den Mehrfamilienhäusern sogar um mehr als 80 %. Wir sind auf dem besten Weg, das zweitbeste Ergebnis seit Mitte der 70er Jahre zu erreichen, und dies aus einer Situation heraus, die uns alle teilweise überrascht hat.
Denken Sie z. B. nur an den großen Zustrom der Aus- und Übersiedler.
Es hat sich aber nicht nur die Zahl der Baugenehmigungen positiv entwickelt. Auch die Zahl der Fertigstellungen ist bereits um mehr als 25 % gestiegen. Das macht deutlich: Es werden nicht nur Genehmigungen erteilt, sondern es wird auch gebaut. Die Investitionen im Wohnungsbau sind in der gesamten Bauwirtschaft wieder mit an der Spitze. Es ist nicht mehr so wie noch vor wenigen Monaten, als der Wirtschaftsbau überwogen hat. Jetzt überwiegt wieder der Wohnungsbau. Die Fertigstellungszahlen machen das deutlich; die ersten Erfolge sind sichtbar.Lassen Sie mich in dieser Debatte aber auch einige Sätze zur deutschen Einheit sagen, weil dies vorhin auch mit angesprochen worden ist. Es gibt Parteien — allen voran die SPD — , die mit dem Thema „Wohnungspolitik im vereinten Deutschland" eigene Handlungsschwächen verschleiern wollen. Wer behauptet, die Bundesregierung habe kein wohnungspolitisches Konzept für die fünf neuen Bundesländer, der hat den Einigungsvertrag nicht gelesen, meine Damen und Herren.
Und wer behauptet, man könne die Mietenfrage in den wohnungspolitischen Brennpunkten Westdeutschlands nur im Zusammenhang mit der ostdeutschen Mietenfrage lösen, der läuft Gefahr, alles miteinander zu vermengen, was nicht zu vermengen ist und detaillierter gesehen werden muß. Tatsächlich brauchen wir gerade in dieser Frage differenzierte und auch schnelle Antworten.Doch nun zum vorliegenden Gesetzentwurf der SPD: Die SPD stellt maßlose Milliardenforderungen an den Bund. Auf die Kapazitätsgrenzen der Bauwirtschaft wird dabei keine Rücksicht genommen. Die Baupreise steigen schon jetzt mehr als die Preise allgemein. Nicht von ungefähr hat die Deutsche Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht gefordert — ich zitiere — : „Die staatlichen Stellen sollten bei Hochbauaufträgen und bei der Förderung des Wohnungsbaus fürs erste strikte Zurückhaltung üben."Jeder, der meint, den Bau von Wohnungen mit noch mehr öffentlichem Geld noch schneller vorantreiben zu können, der versündigt sich an den Bauherren und an den Mietern. Denn sie sind es, die die Konsequenzen, nämlich die steigenden Zinsen und Baupreise, zu tragen haben.
— Sie wissen doch genau, daß diese Zusammenhänge im gesamtwirtschaftlichen Kontext zu sehen sind.Im übrigen ist die Frage der Finanzierung Ihrer Milliardenforderungen etwas, was Sie nur beiläufig erwähnen. Auch das ist im höchsten Maße unseriös. Für jemanden, der politische Verantwortung trägt, ist es immer auch wichtig, zu fragen: Wie gehen wir denn mit den Steuergeldern um?
Diese Haltung gipfelt in einer Aussage des Direktors des Deutschen Mieterbundes. Er hat in einem Interview mit einer großen, auflagenstarken Zeitung gesagt — ich zitiere — : „Die Finanzierung dieses Wohnungsbauprogramms kann nicht das Problem des Deutschen Mieterbundes sein." Meine Damen und Herren, man kann nicht immer wieder in der Öffentlichkeit Forderungen in unmöglicher Größenordnung erheben, ohne dabei zu bedenken, woher dieses Geld kommt. Es ist hart erdientes, hart erarbeitetes Steuergeld. Deshalb können die Steuerzahler von uns auch erwarten, daß es effizient eingesetzt wird.
Ich hätte es lieber gesehen, wenn Sie Ihren Einfluß beim Verkauf der Neuen Heimat Bayern geltend gemacht hätten. Leider haben Sie da tatenlos zugesehen. So wurden auf Kosten der Mieter kräftige Spekulationsgewinne gemacht, und das mit dem Verkauf eines Unternehmens, das in den letzten 20 Jahren mit erheblichen Steuergeldern unterstützt wurde, das wirtschaftlich gesund war und deshalb nicht hätte verkauft werden müssen.Zu Recht hat sich die Bayerische Staatsregierung geweigert, die Neue Heimat Bayern zu einem Höchstpreis zu kaufen. Damit hätte der Staat dieses Gewerkschaftsunternehmen gleich doppelt mit Steuergeldern finanziert.
Gleichzeitig wäre der Bau neuer Wohnungen, die wirdringend brauchen, verhindert worden. Hier, meineHerren von den Sozialdemokraten, wäre Ihr Einsatz,
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Bundesminister Frau Hasselfeldtwäre Ihr Engagement erforderlich gewesen, um das zu verhindern. Das wäre aktiver Mieterschutz gewesen.
— Hören Sie mir doch auf mit der ewigen Diskussion um die Aufhebung der Wohnungsgemeinnützigkeit! Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun. Sie wissen doch auch, daß die Leistungsfähigkeit der ehemals gemeinnützigen Wohnungsunternehmen durch diese Aufhebung erst richtig zum Tragen gekommen ist. Das zeigt sich auch deutlich darin, daß gerade diese Unternehmen jetzt wieder stärker in den Wohnungsbau investieren. Das kann ich Ihnen schwarz auf weiß nachweisen.
Der Wohnungsbau geht nicht von heute auf morgen. Wir brauchen dazu Bauland, und wir brauchen dazu ein zügiges Genehmigungsverfahren. Aber es sind nicht nur die bautechnischen Anforderungen, die beim Wohnungsbau Zeit kosten. Es sind vielmehr auch verschiedene SPD-Praktiken, die einen raschen Neubau von Wohnungen verhindern. Der Kollege Kansy hat vorhin schon einige Beispiele genannt. Ich kann sie mit einer Reihe von großen Städten fortsetzen:In Kiel und in vielen anderen Großstädten wird der Dachgeschoßausbau ganz offensiv behindert. In Hannover werden Bauanträge schleppend bearbeitet. In Mannheim werden erhebliche Baulandreserven nicht genutzt.
Köln weigert sich, wenn es um die Schließung von Baulücken geht. In Frankfurt stehen Sozialwohnungen leer. In Hamburg wird der Tausch von Sozialwohnungen blockiert. Diese Beispiele könnten wir beliebig fortsetzen. Dabei handelt es sich um Großstädte, in denen die Sozialdemokraten, Ihre Parteifreunde, die Verantwortung tragen.
— Sehr richtig, Herr Kollege Geis.
Schließlich setzt München dem Ganzen wieder einmal die Krone auf.
Die städtischen Mittel für den sozialen Wohnungsbau werden gekürzt. Im gleichen Zeitraum, in dem die Verantwortlichen in München — an der Spitze der Oberbürgermeister — die eigenen Mittel kürzen, rufen Sie in Bonn und anderswo nach zusätzlichen Mitteln gerade für dieses Instrument.
In München wird die von der CSU eingeführte Förderung der Eigentumsbildung gestrichen. In Bonn fordern Sie mehr. Bei der Ausschöpfung von Baulandreserven — das Stichwort „Panzerwiese" ist genannt worden — sind der rot-grünen Koalition in MünchenGrünflächen wichtiger als der Neubau von Wohnungen,
ganz zu schweigen davon, daß heute auch in der Zeitung zu lesen ist, daß das Münchner kommunale Wohngeld mit der Erhöhung des Wohngeldes durch den Bund am 1. Oktober 1990 gestrichen wird. Das ist doch kein Miteinander in der Wohnungspolitik! Das macht doch deutlich, daß diejenigen, die vor Ort die Verantwortung tragen, die auch nach unserer Verf as-sung dafür zuständig sind, ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, ihre Hausaufgabe nicht gemacht haben.
Ich habe nie verschwiegen, daß die wohnungspolitischen Probleme nicht über Nacht gelöst werden können. Der erforderliche Wohnungsneubau braucht seine Zeit, und dies hat zu einem starken Druck auch auf die Mieten geführt, vor allem in den Ballungsregionen. Die Zahl der Haushalte, die dort die hohe Mietbelastung nicht mehr tragen können, nimmt zu, und deshalb haben wir auch das Wohngeld zunächst einmal schon in einer ersten Stufe zum 1. Januar dieses Jahres für diese Bereiche mit erhöht und haben es auch, in zehn Tagen wirksam, bundesweit massiv ausgeweitet. Damit wird das Leistungsvolumen um rund ein Drittel auf etwa 5 Milliarden DM aufgestockt. Der einzelne Haushalt wird dann durchschnittlich immerhin etwa 170 DM Wohngeld bekommen. Wir haben es nicht mit dem Gießkannensystem verteilt, sondern gezielt in den wohnungspolitischen Brennpunkten, dort, wo die Mieten besonders stark gestiegen sind, auch überproportional erhöht.
Genau um diese geht es mir auch bei meinen Vorschlägen für die Änderung des Mietrechts, um die wohnungspolitischen Brennpunkte. Diese vorgeschlagenen Änderungen sollen örtlich begrenzt und zeitlich befristet sein, und die Mieten von Neubauwohnungen sollen nicht betroffen sein. Dies ist etwas völlig anderes als das, was die SPD in ihrem Gesetzentwurf fordert. Sie wollen eine Einbeziehung der Erstbezugsmieten,
Sie wollen eine flächendeckende Regelung, und Sie wollen dauerhafte Änderungen.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Ja.
Frau Ministerin, Entschuldigung, es steht nirgendwo in einem Gesetzentwurf der Sozialdemokraten, daß wir eine Deckelung im Bereich der Erstvermietung fordern. Deshalb bitte ich, das entweder zur Kenntnis zu nehmen oder mir zu sagen, wieso Sie den Vorwurf erheben.
17988 Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Es steht auch nirgends, daß Sie diese ausnehmen.
— Doch, das steht da ganz genau. Es steht nirgends, daß Sie sie ausnehmen, d. h. Sie beziehen es auf alle.
Wiedervermietung ist ein besonderes Problem. Ich beziehe mich z. B. auf die Kappungsgrenze, wo Sie keine Unterscheidung zwischen Erstbezug und bestehenden Wohnungen machen. Bei uns ist diese Unterscheidung vorhanden.
Solche drastischen Eingriffe in das Mietrecht würden die bisherigen wohnungspolitischen Erfolge zunichte machen, und deshalb lehnen wir sie ab. Im Ergebnis besteht hier die Gefahr eines deutlichen Rückgangs der Wohnungsbauinvestitionen, und dieses kann nicht unsere Zielsetzung sein.
Sind Sie bereit, noch eine Zwischenfrage zuzulassen?
Ja, bitte.
Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß von uns — das sage ich sicher autorisiert für die Fraktion — nicht gewollt und in unserem Gesetzesvorschlag nicht aufgeschrieben ist, daß bei Erstvermietung eine entsprechende Deckelung vorzusehen ist?
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Natürlich bin ich bereit, alles, was Sie sagen, zur Kenntnis zu nehmen, Herr Müntefering.
Jetzt möchte Herr Dr. Hitschler noch eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Frau Minister, bedeutet die Vorschrift in dem Gesetzentwurf der SPD in Art. 7, Änderung des Wirtschaftsstrafgesetzes, die Streichung des § 5 Abs. 1 Satz 3, nicht, daß bei einer Erstvermietung einer Wohnung die Miete sich im Prinzip an der Vergleichsmiete orientieren muß?
Ich schlage vor, daß das der nächste Redner von der SPD beantwortet.
Natürlich ist, Herr Kollege Dr. Hitschler. auch eine Regelung in § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes vorgesehen, aber damit ist nicht das gemeint, was ich gesagt habe, sondern dies muß man ganz deutlich voneinander trennen.
Wir haben mögliche Mietrechtsänderungen in der Koalition intensiv und lange beraten, und wir haben auch weitgehende Kompromisse mit vorgeschlagen und diese auch diskutiert. Wir sind da auch noch nicht am Ende, auch wenn dies mancher behauptet. Ich persönlich dränge auf eine schnelle Entscheidung.
In diesem Zusammenhang ist es sicherlich auch nicht ganz uninteressant, daß es innerhalb der FDP keineswegs eine ganz geschlossene Haltung dazu gibt.
In Niedersachsen hat der Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion eine gesetzliche Regelung gegen überzogene Mietpreissteigerungen gefordert. Der Vorsitzende der Münchener FDP hat sich für eine Herabsetzung der Kappungsgrenze ausgesprochen.
Die hessische FDP hat zusammen mit der CDU einen Gesetzentwurf im Bundesrat eingebracht, der den Mietanstieg gesetzlich begrenzen soll. Nicht uninteressant sind auch die Äußerungen des FDP-Vorsitzenden, daß es — ich zitiere — „Unstimmigkeiten im Mietrecht gibt".
Dies macht deutlich, daß die Diskussion hier noch weitergeführt wird und daß wir diese Diskussion mit großer Verantwortung auch hinsichtlich der Nebenwirkungen führen werden. Vor diesem Hintergrund bin ich auch zuversichtlich.
In den entscheidenden Grundsatzfragen besteht innerhalb der Koalition Einigkeit. Wir sind gemeinsam der Überzeugung, daß der Neubau von Wohnungen die zentrale politische Herausforderung ist. Mietrechtliche Maßnahmen dürfen die Investitionsbereitschaft nicht beeinträchtigen.
Die SPD-Vorschläge verstoßen gegen diese Anforderungen. Deshalb lehnen wir Ihren Entwurf ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Jahn .
Herr Präsident! Verehrte Damen, meine Herren! In unserer wohlhabenden Bundesrepublik gibt es Wohnungsnot. Bundesweit fehlen 1,7 Millionen Wohnungen. Nüchterne Wissenschaftler erklären die 90er Jahre zum Jahrzehnt des Wohnungsmangels.
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Jahn
Was glauben Sie eigentlich, Frau Hasselfeldt, was die Mieter sich gedacht haben, als sie eben Ihre muntere Wahlrede hier gehört haben, die auf die eigentlich drängenden Probleme überhaupt keine einzige Antwort gibt?
Ich räume ja ein, daß Sie es schwer haben. Sie müssen die Fehler einer Politik der eigenen Regierung, der Sie erst kurze Zeit angehören, hier vertreten und verteidigen. Aber die Mieter haben ja wohl Anspruch darauf, von Ihnen etwas mehr zu hören als das, was Sie geboten haben: Eine nicht überzeugende Kritik an einem Gesetzentwurf, der wenigstens einen Weg weist, wie man aus den Schwierigkeiten, die Sie eingebrockt haben, herauskommt.
Wohnungsmangel heißt für immer mehr Menschen Wohnungsnot. Das sind jene, denen die Kommunen Obdach geben müssen, weil sie andernfalls auf der Straße stehen. Ich nehme nur einmal das Beispiel Köln, damit wir wissen, wovon hier dauernd theoretisiert wird, und was das in der Praxis heißt.45 000 Menschen müssen zur Zeit in städtischen Quartieren untergebracht werden, ein großer Teil in Notunterkünften. Es gibt überhaupt keine Reserven mehr. Der Oberstadtdirektor hat kürzlich die Bundeswehr, das Rote Kreuz und den Malteser-Hilfsdienst gebeten, Zelte und Wohncontainer aufzustellen, um die ständig wachsende Zahl von Obdachlosen unterzubringen. Das ist die schlimmste Seite der Wohnungsnot.
Es gibt aber auch die alltägliche Not derjenigen Wohnungssuchenden, die eine Wohnung brauchen, aber keine finden oder nur zu Mieten, die sie nicht bezahlen können; Menschen, die im Wettbewerb um das knappe Angebot ohne jede Chance sind. Und dann kommen Sie und halten uns entgegen, die Wohnungsversorgung in der Bundesrepublik Deutschland sei noch die so gut gewesen wie heute! Statistisch ist das richtig. Nur, was sollen die Leute mit Statistik, sie brauchen Wohnungen.Uns soll eingeredet werden, Wohnungsnot sei nur das Problem einer Minderheit. Genau da, meine Damen und Herren, liegt der Grundirrtum. Das belegt eine einzige Zahl: 50 % aller Mieterhaushalte haben ein monatliches Nettoeinkommen unter 2 000 DM. Das sind mindestens 7 Millionen Haushalte. Sie müssen zwischen 25 und 45 % ihres Einkommens für die Wohnung ausgeben. Sie alle sind von Wohnungsnot bedroht, wenn sie aus beruflichen oder familiären Gründen umziehen müssen, wenn sie ihre Wohnung durch Kündigung verlieren oder wenn die Mietlast weiter steigt. Daß die Mieten weiter steigen, dafür haben doch Sie 1982 mit ihrem Etikettenschwindelgesetz „zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen" gesorgt.
Sie haben die Vergleichsmiete ihrer sozialen Schutzfunktion beraubt. Sie haben im Mietrecht verankert,daß die hohen Neuvermietungsmieten von heute die Vergleichsmieten von morgen sind.
Sicheres Wohnen ist auch aus einem anderen Grund gefährdet. Die Wohnungsnot hat einen massiven Verdrängungswettbewerb ausgelöst. Dies zeigt sich bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Finanziell leistungsstarke Haushalte befriedigen ihren Wohnungsbedarf durch Eigentumserwerb auf Kosten der bisherigen Mieter, die kein Eigentum bilden können oder wollen.Die Verdrängung wird durch die Entscheidungen der höchsten Gerichte zur Eigenbedarfskündigung erleichtert. Das Verfassungsgericht hat eine Bewertung ausgesprochen, die sich auf die kurze Formel bringen läßt: Im Zweifel geht Eigennutz vor Mieterschutz, haben wirtschaftliche Interessen den Vorrang vor den sozialen Schutzinteressen des Mieters. Diese verhängnisvolle Rechtsprechung zusammen mit Wohnungsnot und Mietenexplosion bei Neuvermietungen wirkt als Einladung zum Mißbrauch.An der Wohnungsnot bereichern sich Geschäftemacher, die skrupellos abkassieren, die Not der Menschen betrügerisch mißbrauchen oder das Entmietungsgewerbe der Umwandlungsspekulanten betreiben. Es geht um den ganz legalen Mißbrauch von Wohnungsmangel und Marktmacht.Es sind die Vermieter, die voll zulangen, wenn sie ihre Wohnung neu vermieten, die im laufenden Mietverhältnis alle Mieterhöhungsspielräume voll ausschöpfen und die häufig genug nur noch mit der Kappungsgrenze von 30 % gestoppt werden können. Da sind die Makler, die allein das Geschäft des Vermieters treiben. Sie nehmen ihm die Auswahl des Mieters ab, die Provision aber kassieren sie beim Mieter.Das alles ist nach geltendem Recht zulässig. Diesen Mißbrauch der Rechte wollen wir mit unseren Vorschlägen verhindern. Er muß verhindert werden. Mieter brauchen Schutz gegen Verdrängung, und wir wollen ihn ihnen geben und zwar durch eine Kündigungssperrfrist für Eigenbedarf nach jedem Eigentumswechsel, durch eine Einengung der gesetzlichen Kündigungstatbestände, um z. B. den Mißbrauch der Eigenbedarfskündigung zu erschweren. Wir wollen die Umwandlungsspekulation im Keim ersticken und den Gemeinden das Recht geben, Umwandlungsverbote auszusprechen.
Wir wollen die Mieteninflation stoppen. Für die Ermittlung der Vergleichsmiete sollen wie vor 1983 alle Mietpreise herangezogen werden. Die Kappungsgrenze für Mieterhöhungen im laufenden Mietverhältnis muß halbiert werden. Innerhalb von drei Jahren dürfen die Mieten um höchstens 15% steigen. Mieterhöhungen nach Wohnungsmodernisierungen müssen begrenzt werden. Bei der Neuvermietung von Wohnraum sollen die Mieten höchstens 5 % über der Vergleichsmiete liegen. Bei der Neuvermietung wollen wir den Mietenanstieg auf ein erträgliches Maß begrenzen. Das hat mit Mietenstopp überhaupt nichts zu tun.
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17990 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin?
Bitte schön.
Herr Kollege Jahn, können Sie mir erklären, warum Sie einerseits ein Umwandlungsverbot verlangen und andererseits wie Ihrem Antrag zu entnehmen ist, die Förderung von Umwandlungen durch die steuerliche Eigentumsförderung nicht einstellen wollen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich selbst?
Das ist kein Widerspruch. Wir wollen, daß der Mißbrauch verhindert wird. Dazu dienen die Vorschläge, die wir in unserem Gesetzentwurf gemacht haben.
Ich fahre fort. Im Maklerrecht wollen wir gesetzlich regeln, was bei anderen Vertragsverhältnissen selbstverständlich ist: Der Auftraggeber, also der Vermieter, soll die Maklerleistung bezahlen. Wir wollen auch die Mieter vor überzogenen Forderungen schützen und die Provision auf eine Monatsmiete begrenzen. Unsere Forderungen zur Begrenzung des Mietenanstiegs und zum Maklerrecht haben sich die CDU und Frau Hasselfeldt jedenfalls gelegentlich, zum Teil und zumindest in Grundsätzen zu eigen gemacht.
Ich frage Sie heute: Was soll eigentlich diese Form der Debatte, die Sie mit uns führen?
Sie taumeln von einer Koalitionsverhandlung zur anderen. Sie kommen heraus und haben nichts erreicht. Dann gehen Sie vor die Mikrophone und erklären tapfer, Sie wollten weiter kämpfen.
Das ist ja ganz schön; nur, für die Mieter ist das nichts wert. Auch heute haben Sie hier wieder erklärt, Sie seien noch nicht am Ende Ihrer Bemühungen. Ja, nun, bald ist die Wahlperiode herum.
Wir haben hier ganz konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt, Frau Hasselfeldt. Sie haben sich hier darum bemüht, so zu tun, als sei das alles kein vernünftiges Angebot zur Lösung der Probleme, die hier umrissen und nicht einmal vollständig geschildert worden sind. So billig dürfen Sie es sich nicht machen, und so billig werden wir Sie auch nicht aus Ihrer Verantwortung herauslassen.
Bislang hat sich die Koalition und bislang hat sich die Bundesregierung als völlig handlungsunfähig erwiesen. Der vierte Anlauf in dieser Woche hat zu keiner Entscheidung geführt. Der Bundeskanzler hat vollmundig gesagt, die Wohnungs- und Mietenpolitik sei Chefsache. Ja, wo bleibt denn der Chef, was setzt er denn durch? Markige Worte für den Wahlkampf, meine Damen und Herren, nützen den Mietern überhaupt nichts.
Unser Gesetzentwurf, den wir Ihnen vorgelegt haben, ist ein durchdachtes Konzept zur Bekämpfung der Zustände, die von Ihnen verantwortet werden müssen. Er ist ein klares Konzept, das geeignet ist, den
Mietwohnungsbau in dem notwendigen Umfange wieder in Gang zu bringen. Da sollten Sie uns, Frau Hasselfeldt, nicht dauernd mit Ausreden kommen. Wer hat denn eigentlich die Verantwortung dafür, daß die Kapazitäten im Baugewerbe erst mühselig und in allmählichen Schritten wieder aufgebaut werden müssen? Es war doch Ihre verfehlte Wohnungsbaupolitik, die dazu geführt hat, daß wir den heutigen Zustand haben.
Ich sage Ihnen: Haben Sie den Mut, den Mietern zu geben, was sie jetzt brauchen: neue Wohnungen in ausreichender Zahl, neue Wohnungen zu bezahlbaren Preisen und den Schutz durch mehr Gerechtigkeit, ohne die Sie sozialen Frieden auf diesem Gebiet nicht werden herstellen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Jahn, Sie haben eben erwähnt, daß in Köln 48 000 Wohnungen fehlen. Vor zweieinhalb Jahren, im März 1988 — —
— Regen Sie sich doch nicht auf, regen Sie sich wieder ab!
Im März 1988, vor zweieinhalb Jahren, war der Wohnungsbauausschuß in Köln. Dort hat der von der SPD gestellte Minister Zöpel vorgeschlagen, daß die Wohnungen in den oberen Etagen der Hochhäuser abgesprengt werden, weil sie nicht zu vermieten sind. Das war vor zweieinhalb Jahren. Sie sollten also mit Ihren Vorwürfen etwas vorsichtiger sein und sollten dann auch mehr in die eigenen Reihen schauen.
Mit Ihrem Gesetzentwurf beweisen Sie, wie wenig es Ihnen um die Mieter und wie sehr es Ihnen um den Wahlkampf geht. Die SPD erweist sich damit als eine Partei, die all ihre sozialen Grundsätze dann über Bord wirft, wenn es um Stimmen und um Stimmenfang geht.
Herr Abgeordneter — —
Sie reden von Wohnungsverknappung — — Bitte sehr, ja.
Sie gestatten eine Zwischenfrage. — Bitte schön, Herr Jahn.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17991
Wenn Sie schon meinen, Sie könnten meinen Feststellungen von heute angebliche Erfahrungen von vor zwei Jahren gegenüberstellen,
dann frage ich Sie: Erinnern Sie sich noch an die Reaktion des von Ihnen gestellten Bauministers Schneider, der Bundesregierung und Ihrer Koalition, als ich vor drei Jahren öffentlich gesagt habe, es drohe eine neue Wohnungsnot? Waren Sie es nicht, der damals gesagt hat, ich machte Panik? Waren Sie es nicht, der damals gesagt hat, wir betrieben Schwarzmalerei?
Sie haben damals Schwarzmalerei betrieben und betreiben heute auch Schwarzmalerei.
Sie reden von Wohnungsverknappung. Sie reden davon, daß sich die Wohnungsverknappung — eben haben Sie es ja gerade gesagt — schon lange abgezeichnet habe. Herr Jahn, ich frage Sie: Wenn Sie über diese prophetischen Gaben verfügen, warum haben Sie dann nicht schon früher ein Gesetz gegen diese angeblich heraufziehende Wohnungskatastrophe vorgelegt? Erst jetzt, mitten in der angeblichen Wohnungskatastrophe, legen Sie ein Gesetz vor, das wahrlich nicht geeignet ist, dieser Katastrophe, wie Sie es bezeichnen, entgegenzuwirken, das vielmehr, genau betrachtet, selbst eine Katastrophe darstellt, und zwar eine Katastrophe für die Mieter.
Schon in der Begründung ihres Gesetzentwurfes beginnt die SPD mit Halbwahrheiten, Unwahrheiten und Panikmache. Der heute in manchen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland bestehende Wohnungsmangel ist eben nicht Folge einer verfehlten Wohnungsbaupolitik — ich sage es Ihnen noch einmal —, sondern es sind ganz wesentlich andere Gründe dafür Ursache, daß wir heute diese Situation haben. Sie sollten das auch einmal in der Öffentlichkeit so vertreten und dabei bei der Wahrheit bleiben.Die gewaltige Zuwanderungswelle — das sollten Sie erwähnen und mitbedenken — , die niemand vorausgesehen hat und die auch die wissenschaftlichen Institute nicht vorausgesehen haben, spielt natürlich eine Rolle bei der Wohnungsverknappung in den Ballungszentren.
Wir haben 1989 eine Zuwanderung von allein 380 000 Aussiedlern gehabt. Hinzu kommen noch die Asylanten; hinzu kommen die Übersiedler. Wir haben auch in diesem Jahr eine gewaltige Zuwanderung von Aussiedlern. Wir müssen registrieren und zur Kenntnis nehmen, daß diese Zuwanderung natürlich eine Rolle spielt bei der Frage: Wie kommt es zur Wohnungsverknappung?Auch Sie wissen, warum es noch zu einer weiteren Wohnungsverknappung gekommen ist. Sie wissen, daß wir einen erhöhten Wohlstand haben und daß es sich die Jugendlichen leisten können, aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, weil sie genug Geld haben und sich eine eigene Wohnung leisten können. Das ist heute der Fall. Erinnern Sie sich an Frankfurt! Es ist hier schon oft gesagt worden. Dort werden über 50 % der Wohnungen, und zwar nicht der vermieteten Wohnungen, sondern der Wohnungen insgesamt von Einzelpersonen, von Singles, bewohnt. Das ist doch eine Zahl, die nicht jeder voraussehen konnte und die uns auch die wissenschaftlichen Institute nicht vorausgesagt haben. Das ist ein Ergebnis des Wohlstandes.
— Das hat keiner vorausgesagt. Auch die Ihnen nahestehenden wissenschaftlichen Institute hätten ja nie zugegeben, daß wir einen so sagenhaften wirtschaftlichen Aufstieg in der Bundesrepublik Deutschland haben, daß selbst die Jugendlichen aus den elterlichen Wohnungen herausgehen können und als Singles in Wohnungen einziehen können. Keiner hätte dies vorausgesagt.
Aus dieser Wohnungsverknappung in den Ballungszentren nun einen Wahlkampfschlager zu machen und daraufhin den Kampfruf zu erheben, wir hätten eine Wohnungsnot, ist nicht nur in höchstem Maße unseriös, sondern auch in höchstem Maße unsozial. Die SPD weiß ganz genau, daß Mieten vom Markt bestimmt werden und letztlich auch vom Markt bestimmt werden müssen, weil es sonst nicht gelänge, privates Kapital auf den Wohnungsmarkt zu bringen. Wer wider besseres Wissen allzu laut hinausposaunt, überall bei uns im Lande bestehe Wohnungsnot, der verfälscht die Psychologie des Marktes, der heizt den Wohnungsmarkt an und treibt die Mieten in die Höhe. Das ist das Ergebnis Ihrer lauten Politik gerade in dieser Frage.
— Der verdirbt die Psychologie des Marktes; so ist es. Darüber sollen Sie einmal nachdenken, Herr Großmann, falls Sie dazu bei Ihrer ideologischen Verblendung überhaupt in der Lage sind.Man kann einer Partei im Wahlkampf vieles verzeihen. Aber man kann ihr nicht verzeihen, daß sie in einer solch eklatanten Weise ihre eigene Politik gegen die richtet, denen zu helfen sie vorgibt.Aber die Politik der SPD ist ja in dieser Frage nicht nur gegen die Schwachen im Lande gerichtet, sondern auch gegen die Investoren. Die Gesetzentwürfe bauen Investitionshindernisse ersten Ranges auf. Die SPD will bei neu errichteten Wohnungen nur eine Miete in Höhe der Vergleichsmiete plus 5 % zulassen, dies angesichts gestiegener Baupreise und Grundstückspreise und dies auch angesichts zugegebenermaßen gestiegener Zinsen. Kein vernünftiger Investor würde sich, wenn dies Wirklichkeit werden würde, bereit finden, auf dem freien Markt zu investieren, im Gegenteil: Sie würden sich alle zurückziehen.Ihre Politik würde in einen Teufelskreis zu Lasten der Schwachen führen, zu Lasten der Familien mit mehreren Kindern, zu Lasten der Ausländer, die Woh-
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17992 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Geisnungen suchen, und zu Lasten all derer, die sich auf dem Wohnungsmarkt schon immer schwergetan haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch einmal eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering? — Bitte schön, Herr Müntefering.
Herr Geis, wie würden Sie denn die Antwort beurteilen, die gestern morgen auf die folgende Aussage gegeben worden ist: Wenn für die Wohnungen keine Investoren gefunden werden, weil die Mieten zu niedrig bleiben, dann läßt es sich eben nicht bauen. Die Antwort: Das ist ein idiotischer Einwand. Ich kann in München oder Frankfurt durch den Wohnungsneubau alleine die Situation nicht entscheidend entzerren.
Derjenige, der da interviewt wurde, heißt Dr. Edmund Stoiber, Staatsminister des Innern in Bayern. Wie würden Sie das beurteilen?
Ich werde darauf im Laufe meiner Rede noch unmittelbar zu sprechen kommen. Sie dürfen sich inzwischen schon wieder hinsetzen. Gestatten Sie mir, daß ich die Antwort in die nächsten Ausführungen einpacke.
Ich möchte Ihnen zugeben, daß wir in den Ballungszentren — davor kann keiner die Augen verschließen — natürlich eine Wohnungsverknappung haben. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren; darüber brauchen wir nicht zu streiten.
Ich gebe Ihnen auch zu, daß dies mit den normalen Mitteln des Marktes nicht zu bewältigen ist. Aber wir haben — vorhin wurde schon darauf hingewiesen — ja nicht eine Marktwirtschaft, in der nur die freie Konkurrenz herrscht, sondern wir haben eine Soziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft bedeutet, daß man dem Schwachen dort, wo er in der freien Konkurrenz der Interessen durchfällt, helfend zur Seite treten muß. Genau dies wollen wir mit unserem Vorschlag von der CSU, dem Vorschlag der Frau Ministerin und auch mit dem Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung.
Wir wollen in den Ballungszentren — das wissen Sie — natürlich einen Eingriff in die Mietstruktur vornehmen, weil wir meinen, daß man nur auf diesem Weg den ärgsten Auswüchsen — davor kann man die Augen nicht verschließen — gerecht werden kann.
Wir müssen etwas unternehmen, um den Miethaien, um all denen, die auf Grund dieser jetzt bestehenden Verknappung glauben, ein großes Geschäft machen zu können, ein solches Geschäft zu verderben.
Das geht im Augenblick eben nicht durch das plötzliche Zurverfügungstellen von Neubauwohnungen,
weil man Wohnungen nicht wie Brötchen, die man
heute backen und morgen verkaufen kann, zur Verfügung stellen kann. Vielmehr braucht der Bau von Wohnungen seine Zeit. Wohnungen müssen geplant und gebaut werden; erst dann können sie bezogen werden.
Deswegen richte ich einen Appell an die FDP: In dieser Situation müssen wir einen Eingriff in das Mietrecht vornehmen. Wer dies nicht tut, handelt nicht im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft.
Die Marktwirtschaft ist nicht eine kalte Ordnung, sondern die Marktwirtschaft hat ihren sozialen Aspekt. Ich sage noch einmal: Wir müssen dann zupacken und dann mit Maßnahmen eingreifen, wenn die Gesetze des Marktes von sich aus nicht mehr funktionieren, weil die Schwachen dabei zu Schaden kommen. Das kann und darf keine Regierung hinnehmen.
Ich appelliere noch einmal an Sie, dies in Ihren eigenen Reihen erneut zu durchdenken. Ich glaube, daß wir in diesem Punkt zu einer vernünftigen Lösung kommen können.
Herr Abgeordneter, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Jahn.
Herr Kollege, machen Sie es doch nicht so schwer. Ihre Vorschläge bleiben weit hinter denen zurück, die wir für richtig halten. Aber immerhin kommen Sie einen Schritt in unsere Richtung.
Wenn wir nun sagen: Ein kleiner Schritt wäre als erster Schritt nicht schlecht, wir machen das mit Ihnen zusammen, dann möchten wir von Ihnen wissen: Warum machen Sie das eigentlich nicht?
Sie legen einen Gesetzentwurf vor, in dem Sie die Bundesregierung beschimpfen und von ihr behaupten, sie habe schon immer auf dem Wohnungsmarkt versagt.
Aber darauf würde ich bei dieser Frage nicht einmal so großen Wert legen — das gebe ich zu — , wenn wir in der Sache weiterkommen könnten. Sie legen aber einen Gesetzentwurf vor, der wirklich dazu geeignet ist, den letzten Investor auf dem Wohnungsmarkt zu vertreiben.
Das können wir nicht mitmachen. Wir brauchen das private Kapital auf dem Wohnungsmarkt. Wir können nicht so viel Geld über die Steuern hereinbekommen, um dieser Frage gerecht zu werden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17993
Geis— Ich habe Ihnen dazu in meiner Rede schon eine Antwort gegeben. Ich möchte dazu sagen — wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird, Herr Präsident — : Es ist natürlich notwendig, Herr Müntefering, daß wir die allzu starke Steigerung des Mietzinses in den Ballungszentren in den Griff bekommen. Das geht nur— das gebe ich Ihnen zu —, indem wir die Vorschläge befolgen, die — zuletzt von Herrn Dietmar Kansy vorgetragen — meiner Meinung nach in einer sehr gemäßigten Weise auf dem Tisch liegen. Diese Vorschläge sollten wir befolgen. Wir sollten mit der FDP noch einmal darüber reden.Es hat keinen Sinn, Herr Jahn, in dieser Frage mit der SPD zu reden, weil die SPD eine ganz andere Wählerklientel hat, von der sie meint, sie zufriedenstellen zu müssen, und dabei genau das Gegenteil bewirkt, nämlich die Investoren aus dem Markt vertreibt. Ihre Politik geht dahin: weniger Wohnungen, höhere Mieten; das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Sie sollten sich draußen hei Ihren Sonntagsreden zurückhalten, der Bundesregierung die Schuld an der jetzigen Situation pausenlos in die Schuhe zu schieben.Wenn Sie so prophetische Gaben gehabt haben, Herr Jahn — da brauchen Sie gar nicht so zu lachen —, wie Sie immer vorgeben, sie zu haben, dann muß ich fragen: \\Varum haben Sie nicht schon früher einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt? Warum legen Sie ihn erst jetzt zum Wahlkampf vor? Das hat doch ganz deutlich den bitteren Geschmack, daß es Ihnen nur um Wahlkampf geht.Diese Koalition hat nach meiner Auffassung in der vergangenen Legislaturperiode eine hervorragende Leistung vollbracht.Die Koalition hat, gerade was die Wiedervereinigung angeht, eine riesige Leistung aufzuweisen; sie kann auf eine stolze Bilanz verweisen. Es hat in der Koalition nicht alles funktioniert, und ich gebe zu, daß wir mit unseren Vorschlägen beim Koalitionspartner bislang nicht durchgedrungen sind. Ich meine aber, wenn einmal der Dampf des Wahlkampfes vorbei ist, sollten wir uns noch einmal zusammensetzen und den Versuch unternehmen, im Interesse der Mieter ein vernünftiges Ergebnis zu finden.Danke schön.
Das Wort hat nochmals Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte, gerade weil wir jetzt in ach so großen historischen Zeiten leben und Deutschland wieder so herrlich groß wird, einmal über ganz kleine Sachen reden und Sie auf die viel zu kleinen Kinderzimmer aufmerksam machen, in denen die Kinder im sozialen Mietwohnungsbau in der Bundesrepublik Deutschland heute noch leben.7 m2 für ein Kind, 11 m2 für zwei Kinder — so darf heute in Baden-Württemberg und in Hamburg nochgebaut werden. In anderen Bundesländern ist es heute schon etwas besser, aber auch dort sind die Kinderzimmer deswegen so klein, weil die Wohnzimmer entsprechend der noch gültigen DIN 18011 so groß sein müssen. Die Größe der Kinderzimmer ist zwar nicht vorgeschrieben, nur die Stellflächen für die notwendigen Möbel und die sogenannten „Bewegungsflächen", bei denen es sich aber um Flächen handelt, auf denen man sich nur sehr schlecht bewegen kann. Eine Fläche von 80 cm x 120 cm — das macht im ganzen 960 cm2 — gilt als ausreichende Spielfläche für ein Kind.Die Wohnzimmer müssen dagegen je nach Haushaltsgröße 18, 20, 22, oder 24 m2 groß sein. Darauf haben die Vertreter der Möbelindustrie, die bei der Erarbeitung dieser Norm seinerzeit Pate gestanden haben, schon geachtet.
— In den allermeisten Wohnungen ist die Nutzung der verschiedenen Räume so einseitig festgelegt, daß eine andere als die auf dem Reißbrett festgelegte Nutzung überhaupt nicht möglich ist.Langer Rede kurzer Sinn: Weil die Wohnzimmer in den relativ kleinen Wohnungen des sozialen Mietwohnungsbaus so groß sind, müssen die Kinderzimmer klein bleiben, egal ob die Architektinnen und Architekten es so gewollt haben oder nicht. Deswegen ist die gültige DIN 18011, Stellflächen, Abstände und Bewegungsflächen im Wohnungsbau, untauglich.Seit 1984 gibt es einen neuen Normentwurf. Er sieht Wohnungen vor, die aus einer Anzahl ähnlich großer, gleichwertiger Räume bestehen, die jeweils verschiedene Nutzungsmöglichkeiten zulassen. Über diesen Normentwurf wurde im zuständigen Ausschuß lange gestritten. Verschiedene Diskussionsteilnehmer und -teilnehmerinnen haben sich schließlich gegenseitig blockiert, und die Verabschiedung der Norm wurde leider verhindert.Alles, was wir heute von der Bundesregierung verlangen, ist, daß sie ihren Einfluß im Normausschuß wieder geltend macht, daß sie dort wieder Obmann- oder Obfraufunktionen übernimmt, daß sie eine Bund-Länder-Kommission mit dem Ziel einberuft, die neue Planungsnorm in die Musterbauordnung der Länder aufzunehmen, und daß sie eine Verordnung erläßt, in der die Neufassung der DIN 18011 in die Technischen Voraussetzungen für den öffentlich geförderten Wohnungsbau der Länder aufgenommen wird.Wer sich heute wider alle Vernunft dem widersetzt, der setzt sich dem Verdacht aus, die neue Norm deswegen abzulehnen, weil sie zu gut ist und weil man im Hinblick auf in Zukunft eventuell wieder opportun werdenden Schlichtwohnungsbau nicht zu große Verpflichtungen eingehen will. Diesem Verdacht setzen Sie sich also aus, wenn Sie dem heute nicht zustimmen.
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17994 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Frau Oesterle-SchwerinJetzt möchte ich noch etwas zu unserem zweiten Antrag, Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für unverheiratete Paare, homosexuelle Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften, sagen. Der soziale Mietwohnungsbau ist eindeutig eheorientiert. Es heißt zwar immer, er sei familienorientiert; aber unter „Familie" wird hierzulande die Ehe verstanden.
Alleinstehende kommen in den sozialen Mietwohnungsbau meistens schon deswegen nicht hinein, weil ihnen nur kleine Wohnungen zustehen und weil es im sozialen Mietwohnungsbau nicht genügend kleine Wohnungen gibt.
Ehepaare werden hingegen ungeheuer bevorzugt, und zwar unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht.
Ein Beispiel für diese Bevorzugung: Ein sogenanntes junges Ehepaar, also noch nicht 40 Jahre alt und keine fünf Jahre verheiratet
— weil sie eben auch 39 sein können; das ist nicht so besonders jung — , darf, um noch in den sozialen Mietwohnungsbau hineinzukommen, ein Bruttoeinkommen von 4 000 DM haben. Als Gegenbeispiel: Eine Alleinerziehende mit Kind, also auch ein Zwei-Personen-Haushalt, darf ein Einkommen von nur 3 200 DM haben, also 800 DM weniger.Daraus entsteht die Situation, daß zwei finanziell ungleich starke Haushalte auf dem engen Wohnungsmarkt um ein und die gleiche Wohnung konkurrieren.
Dreimal dürfen Sie raten, wer die Wohnung dann bekommt. Natürlich nicht die Alleinerziehende mit dem Kind, sondern das Ehepaar, erstens weil es verheiratet ist und zweitens weil es das höhere und sichere männliche Einkommen vorweisen kann.
Das ist nur eine der Ungerechtigkeiten, gegen die sich unser Gesetzentwurf betreffend die Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für unverheiratete Paare, homosexuelle Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften richtet. Wir wollen die Bevorzugung von Ehepaaren und die Benachteiligung aller anderer Lebensformen im sozialen Mietwohnungsbau abschaffen. Das betrifft die Lebensform der Wohngemeinschaft, die gerade für Alleinerziehende mit Kindern besonders praktisch ist. Das betrifft Lebensgemeinschaften von Lesben und Schwulen.
Das betrifft Wohngemeinschaften von Jugendlichen, Studenten und Studentinnen und alle unverheirateten Paare.Selbstverständlich leben viele Lesben mit Kindern zusammen, und auch schwule Paare leben mit Kindern zusammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben sich im Ausschuß zu diesem Antrag den grotesken Vorschlag geleistet, den sozialen Mietwohnungsbau ausschließlich für unverheiratete Paare mit Kindern zu öffnen. Sie wollen also die Erteilung eines Wohnberechtigungsscheines an unverheiratete Paare an das Vorhandensein von Kindern knüpfen, während verheiratete Paare völlig unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht, bevorzugt in den sozialen Mietwohnungsbau aufgenommen werden.
Ich meine, das müßten Sie sich noch einmal überlegen. Wenn Sie bei dieser Position bleiben, wenn Sie unseren Antrag heute wieder ablehnen, dann können Sie das ganze schöne Projekt der nichtehelichen Lebensgemeinschaft Ihrer Kollegin Renate Schmidt, zu der sie die große Anhörung gemacht hat, dem Hasen geben,
weil Sie dann bei den Gruppen der Unverheirateten, der Wohngemeinschaften und der Lesben und der Schwulen vollkommen unglaubwürdig sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich drei kurze Vorbemerkungen machen.Erste Bemerkung. Herr Kollege Müntefering, Sie haben vorhin der Ministerin vorgehalten, daß es keinen SPD-Antrag gebe, in dem auch eine Begrenzung der Mietfestsetzung bei Neuvermietungen und Erstvermietungen festgelegt sei.
— Gut.
Lesen Sie bitte § 2 a des Gesetzentwurfes des Bundesrates, der jegliche Form der Neuvermietung ohne jede Differenzierung nach Erstvermietung und Wiedervermietung in die gleiche Regelung einbezieht.
Zweite Bemerkung. Herr Kollege Jahn, es hat mich ein wenig erschüttert, daß ein ehemaliger Bundesjustizminister, nur weil er jetzt die Interessen des Mieterbundes vertritt, eine derart platte Schelte des Bundesverfassungsgerichts vornimmt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17995
GattermannDritte Bemerkung. Herr Kollege Geis, wir sind uns völlig einig, daß wir nicht wollen, daß sich irgendwelche Haie in Knappheitssituationen eine goldene Nase verdienen. Da gibt es überhaupt keinen Dissens. Aber warum wenden wir nicht das geltende Recht an, warum müssen wir flächendeckend alle, die Gerechten und die Ungerechten, daran hindern, sich wirtschaftlich vernünftig zu verhalten?Wohnungspolitische Debatten leiden immer unter einem ganz entscheidenden Mangel. Gibt es Probleme, dann sind diese Debatten emotionsbefrachtet und führen selten zu richtigen Ergebnissen; oder bis auf ein paar Fachleute interessiert sich dafür kein Mensch, weder hier in diesem Hohen Hause noch in der veröffentlichten Meinung oder sonst wo.Wir hätten jetzt — ich sage das ganz ernst —, in der Stunde, wo Gesamtdeutschland wird —
— ach, Kollege — , die Chance, die Wohnungspolitik wirklich konsistent für Gesamtdeutschland neu zu definieren.
Es ist in der Tat so, daß genau wie in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland die Wohnungspolitik auch in der Geburtsstunde Gesamtdeutschlands einen hohen Stellenwert hat. Nur müssen wir bitte zur Kenntnis nehmen, daß die Probleme hüben wie drüben mit den Problemen von damals überhaupt nicht vergleichbar sind und daß vor allen Dingen die Finanzierungssituation eine völlig andere als damals ist.
Damals gab es Null privates Kapital, und auch der Staat war nicht sonderlich reich. Heute ist das alles genau umgekehrt.Unbestritten bleibt, daß man die Wohnung als besonderes Versorgungsgut nicht mit irgend etwas anderem vergleichen kann. Aber diese unbestrittene Feststellung löst die Wohnung nicht aus den Grundregeln der Ökonomie. Es ist nun eimal so, daß es sich hier gerade um ein Versorgungsgut handelt, das extrem teuer ist, das extrem bewirtschaftungssensibel ist, dessen Herstellung außerdem außerordentlich lange dauert und das auf einem Markt zu vermarkten ist, der nicht e i n Markt ist, sondern ein Bereich der Hunderte von sektoralen und regionalen Märkten umfaßt.Es wäre also dringend an der Zeit — das bloße Abkupfern alter Rezepte und ihre schlichte Fortschreibung hilft uns bei dieser besonderen Fragestellung und neuen Ausgangslage nicht — , sich zunächst die Frage vorzulegen, von wem wir die für eine angemessene sozial verträgliche Wohnungsversorgung erforderlichen Investitionen eigentlich erwarten.In den Jahren 1980 bis 1989, also in zehn Jahren, sind bei uns in diesem Bereich 1,5 Billionen DM investiert worden. Offensichtlich war das noch zu wenig,wie die Knappheitsprobleme hier im Westen im Augenblick zeigen.
— Die Investitionen waren noch höher. Aber für dieses Thema ist das ein dankbarer Hinweis und unterstützt das, was ich sagen will.
Daß die Antwort auf die von mir gestellte Frage eigentlich schon gegeben ist, daß es nämlich im wesentlichen vom privaten Kapital kommen muß, ergibt sich allein aus der Bezugsgröße in Ihrem Antrag: 3,5 Milliarden DM plus X Rückflußmittel sollen festgeschrieben, Ländermittel, Kommunalmittel sollen hinzuaddiert werden. Mehr als der Bruchteil dessen, was notwendig ist, kommt dabei nicht heraus. Ich glaube auch, daß das unstreitig ist, Herr Kollege Müntefering, wenn man sich Ihren Abschnitt 2, selbstgenutztes Wohneigentum, privater Mietwohnungsbau, ansieht.Aber auch hier muß man mit der Effizienz-Elle herangehen, und man muß sich vor allen Dingen davor hüten, Kontraproduktives auf die Reise zu schicken. Das muß man aussortieren. Man muß einmal die Rolle des Staates in diesem Marktbereich wirklich präzise auf den Punkt definieren, neu definieren. Die Definition kann nicht mehr so lauten wie nach 1949. Die berühmten „breiten Schichten der Bevölkerung" als Zielgruppe für staatliche Wohnungsbaupolitik — das geht nicht mehr. Der Staat kann nicht länger der Hauptbauherr — mittelbar oder unmittelbar — und der Hauptfinanzier sein.
— Ich will nur, daß Klarheit herrscht.
Wir müssen diese Rolle definieren. Die erste und zentrale Aufgabenstellung ist, daß die planungsrechtlichen, baurechtlichen, steuerrechtlichen und mietrechtlichen Rahmendaten so gesetzt werden, daß genügend Anreize und Möglichkeiten vorhanden sind, damit sich privates Kapital in diesem genannten Umfang im Wohnungsmarkt engagiert.Das zweite ist — und da gehen wir jetzt auseinander — : Die begrenzten staatlichen Mittel müssen effektiv und müssen vor allen Dingen sozial treffsicher eingesetzt werden. Etwas anderes bleibt uns angesichts des Finanzierungsbedarfs in Gesamtdeutschland überhaupt nicht übrig. Es bleibt der Bereich von Stadtsanierung und Dorferneuerung als staatliche Aufgabe.Meine Damen und Herren, Mietrechtsdiskussionen sind in der Tat Gift. Ich will nicht wiederholen, was hier schon gesagt worden ist. Aber lassen Sie mich zwei prominente Sozialdemokraten zitieren, die wirklich etwas davon verstehen.Das eine hat Senator a. D. Jürgen Steinert, der Präsident des Gesamtverbandes der Wohnungswirtschaft— zu diesem Verband gehören immerhin 1 800 ehemalig gemeinnützige Wohnungsunternehmen mit17996 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 22/. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990Gattermannmehr als 1,8 Millionen Mitgliedern, einen Bestand von 3,4 Millionen Mi et- und Genossenschaftswohnungen und einem jährlichen Investitionsvolumen von 10 Milliarden DM — , am 14. September dieses Jahres in Regensburg gesagt — Zitat — :Dabei sind Mietbegrenzungsdebatten am Beispiel der Gesetzesinitiative des Bundesrates falsch und die Ablehnung der F.D.P. begrüßenswert. Wer Baupreis-, Baulandpreis- und Finanzierungskostensteigerungen glaubt auffangen zu können durch ein restriktiveres Mietrecht, erreicht nur eines: Der Investor, den man dringend braucht und ohne den es keine neuen Wohnungen gibt, läßt uns im Stich.
Das zweite Zitat stammt von einem ebenso angesehenen, renommierten Sozialdemokraten, nämlich von Friedel Neuber — der Chef der WestLB —, der am 30. August 1990 gesagt hat:Inwieweit eine Verlagerung vom gewerblichen zum Mietwohnungsbau tatsächlich erreicht werden kann, ist aber auch davon abhängig, daß private Investoren nicht länger durch Diskussionen und Gesetze zur Begrenzung der Miethöhe und zur Verbesserung des Mieterschutzes abgeschreckt werden.Meine Damen und Herren, wir brauchen eine konsistente, in sich stimmige, Rahmenbedingungsdiskussion für jede einzelne der in Frage kommenden Investorengruppen. Da paßt derzeit vieles nicht zueinander. Mit unserem Versuch, sozialen Wohnungsbau mit Steuerrecht zu verzahnen, haben wir, so glaube ich, einen Fehlweg eingeschlagen.Aber das alles müßte sorgfältig abgeklärt werden. Deshalb haben wir in den Diskussionen der letzten Wochen vorgeschlagen — und ich wiederhole das hier mit allem Ernst und mit allem Nachdruck — : Wir sollten ganz schnell eine hochrangige Expertenkommission einsetzen, ein paar Baufachleute, ein paar Finanzierungsfachleute, ein paar bewährte Wissenschaftler, ein paar Ministeriale, ein paar Politiker. Das hat nichts mit Parteigrenzen zu tun; ich könnte mir sogar einen sozialdemokratischen Vorsitzenden vorstellen
— ich habe einen ganz bestimmten im Auge — , der uns bis zum Frühjahr ein Konzept auf den Tisch legt, mit dem das gesamtdeutsche Parlament wohnungspolitische Weichenstellungen vornehmen kann, die hoffentlich ebenso segensreich sein werden wie die Grundentscheidungen, die unsere Väter nach dem Zweiten Weltkrieg getroffen haben. Ich meine, das sollten wir alle miteinander ernst nehmen.Zum Schluß muß ich doch noch eine Bemerkung zu Herrn Stoiber loswerden, weil danach gefragt worden ist und weil das vorhin so nicht richtig beantwortet worden ist,
bezüglich der berühmten „sozialen Kälte". Sie haben das auch gesagt, also gilt die Einladung auch für Sie: Besuchen Sie bitte den bayerischen Landesvorsitzenden der FDP, Josef Grünbeck, in seinem Betrieb.
Dann werden Sie feststellen, was liberal gestaltete, soziale Partnerschaft, soziale Wärme ist.Ein zweiter Satz. Diese schöne Behauptung, die FDP sei an den hohen Mieten schuld, ist sehr seltsam. Ich will jetzt keine häßlichen Worte gebrauchen. Ich will es positiv ausdrücken und Ihnen den zweiten Teil der Aussage für die Wahlauseinandersetzung vorschlagen, frei nach Tucholsky als CSU jedem bayerischen Mietsuchenden zu versprechen: Ein Häuschen, vorne der Stachus, hinten der Chiemsee, und das alles mietfrei. — Genauso absurd und lächerlich wie ein solches Wahlversprechen ist der Vorwurf, den Stoiber gegen die FDP erhebt.
Das Wort hat der Abgeordnete Reschke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Gattermann, ich persönlich muß sagen: Ich nehme gern Ihr Angebot an, weil wirklich festzustellen ist: Die Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau stimmen für ganz Deutschland nicht mehr. Allerdings darf das nicht dazu führen, daß wir alles noch weiter auf die lange Bank schieben. Finanzausschuß und Wohnungsbauausschuß hab en in dieser Periode vier große Anhörungen zum Wohnungsbau gehabt, und wir sind noch nicht zu Potte gekommen. Im Gegenteil: Gut ein Jahr, nachdem einige steuerliche Rahmenbedingungen für den sozialen Wohnungsbau geändert worden sind, stellen Sie fest: Barförderung und sozialen Wohnungsbau kann man einfach nicht verbinden. Schon 1986 haben wir davor gewarnt, bei der Umstellung der Eigentumsförderung die staatliche Förderung des Wohneigentums weiterhin von Progressionsminderung abhängig zu machen. Damals prophezeite die Regierung, Progressionsminderung bei der Steuer sei der beste Anreiz, sei die beste Förderung. Heute können wir feststellen, daß das genau der falsche Weg war, daß das jetzt in verstärktem Maße genau dazu führt — die letzten anderthalb Jahre zeigen die Tendenz deutlich — , daß der Traum vom Eigenheim für viele unerreichbar und unfinanzierbar geworden ist.Ich will dazu einige Zahlen nennen, die für die wichtigsten Industriestaaten in der EG gelten. Dort haben wir Eigentumsquoten zwischen 55 % und 85 %. Die Regierung und auch die Koalition haben bei der großen Diskussion um die Eigentumsförderung 1986 versprochen, die Eigentumsquote soll Anfang der 90er Jahre bei 50 % liegen. Wir krebsen heute noch bei 39 % herum, genau wie 1985, 1986 und 1987.
— Ich komme gleich dazu, Herr Kansy. — Wenn mangenau hinschaut, sieht man, daß exakt die Regionen,
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Reschkein denen der größte Bedarf an Wohnungen besteht, unsere Ballungsgebiete, eine Eigentumsquote zwischen 25 % und 35 % haben. Ganz deutlich gehen hier die Investitionen in die falsche Richtung. Staatliche Ressourcen in Milliardenhöhe werden fehlgeleitet. Die Regierung tut nichts, Frau Bauministerin, die Belastungen für Bauwillige erträglicher zu machen und für die Baulandbereitstellung zu sorgen. Machen Sie doch bitte die Gemeinden nicht für die Baulandbereitstellung verantwortlich. Hier hat die Regierung eine ganze Menge zu tun.
Im Gegenteil: Eine ganze Reihe von Beschlüssen hat die Eigenheimer der Republik in den letzten Jahren schwer gebeutelt: von der Streichung der Grundsteuervergünstigung über die Streichung der Ermäßigung von Gerichtsgebühren über Streichung der kostenfreien Unfallversicherung bei Eigenarbeit in Selbsthilfe bis zur Einschränkung der Absetzbarkeit von Bausparbeiträgen. Hier hilft nicht, Herr Kansy, eine Besserstellung bei der Zwischenfinanzierung. Die hilft wenig zur Förderung des Eigentums. Die Wohnungsbauprämie ist von 1 Milliarde DM auf 0,6 Milliarden DM 1990 zurückgefahren worden. Das muß für Sie ein deutliches Signal in puncto Eigentumsförderung sein. Nicht zuletzt hat die Steuerreform ab 1. Januar 1990 für alle diejenigen, die im Eigenheim wohnen, weniger gebracht. Der Finanzminister spart bei selbstgenutztem Wohneigentum 800 Millionen DM durch die Progressionsabflachung. Warum soll man diese Gelder nicht wieder in Wohneigentum stecken?
Warum wird das vom Finanzminister einfach einkassiert?Ich will auch die Streichung der Grunderwerbsteuerbefreiung 1984 ansprechen, die zu einer Kostenerhöhung von 2 % bei vielen Eigenheimern geführt hat. Vorher bestand Grunderwerbsteuerfreiheit.All das sind Maßnahmen, die in den letzten Jahren je nach persönlichen Voraussetzungen der Familien beim selbstgenutzten Wohneigentum zu einem Belastungszuschlag zwischen 200 DM und 300 DM geführt haben.Hinzu kommt, daß sich 1990 die Rahmenbedingungen für den Bau und Erwerb von Wohneigentum zunehmend verschärft haben:Erstens. Bau- und Bodenpreise haben mittlerweile eine Steigerungsrate von über 10 % erreicht.Zweitens. Der Zinsanstieg hat eine Höhe erreicht, die jeden Bauwilligen natürlicherweise abschrecken muß. Wer jetzt seinen Hypothekenvertrag erneuern muß, den kann man nur bedauern, weil er 30 % mehr geben muß als vor fünf oder als vor zehn Jahren.Drittens. Eine Eigentumsförderung nach § 10 e Einkommensteuergesetz wird in den nächsten Jahren auf Grund des Einkommenrückstandes in den neuen Bundesländern, die am 3. Oktober zu uns kommen, nicht wirksam oder überhaupt nutzlos sein. Frau Bauministerin, ich hätte wirklich gedacht, daß Sie zu diesem Punkt Eigentumsförderung in der DDR, wo 90 % der Bauleistungen für ein Eigenheim Eigenleistungen sind, hier etwas sagen würden. Sie schweigen sich aus. Sie versagen in diesem Punkt leider; ich bedaure das. Das muß man sich vor Augen führen: Ab 3. Oktober sind wir vereint, und § 10e Einkommensteuergesetz gilt in der DDR nicht ab 3. Oktober, sondern erst ab 1. Januar. Ab dem 1. Januar 1991 wird eine minimale, so gut wie gar keine steuerliche Entlastung der Eigenheimer in der DDR bei einem Jahreseinkommen zwischen 15 000 und 20 000 DM gewährt, da bei diesem Einkommen im Grunde genommen unwesentlich Steuern zu zahlen sind.
— Herr Kansy, hören Sie zu, das hilft Ihnen mehr.Ein vierter Punkt: Nicht nur die Situation in den neuen Bundesländern macht andere Formen der Eigentumsförderung erforderlich, sondern auch die rapide nach unten gehenden Genehmigungszahlen und Bauquoten im Eigenheimbau. Nachdem wir 1989 gegenüber 1988 ein Stück Anstieg zu verzeichnen hatten, ist der Zuwachs zum Erliegen gekommen. Wir müssen sogar davon ausgehen, daß 1990 und 1991 weniger Wohneigentum erstellt, gebaut oder gekauft wird als 1988 und 1989.Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Anreiz zur Wohneigentumsbildung erhöht, der hilft, mit einer Umverteilung der öffentlichen Mittel ein größtmögliches Wohnungsbauvolumen zu erreichen, der Hilfe leistet zum Abbau des Versorgungsdefizits an Wohnungen, ganz besonders in den Ballungsgebieten, der sofort in den neuen Ländern der DDR wirken kann. Das ist ein wichtiger Punkt, auf den es uns ankommt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau OesterleSchwerin?
Bitte schön.
Herr Kollege, wenn Sie sich hier so zum Apostel des § 10e Einkommensteuergesetz machen, dann muß ich Sie doch etwas fragen: Ich habe Ihre Konzeption studiert und festgestellt, daß man, wenn man das so macht, wie Sie vorschlagen, in Zukunft 14,5 Milliarden DM für die Eigentumsförderung ausgeben wird. Gleichzeitig fordern Sie im Antrag für den sozialen Wohnungsbau nur 3,5 Millarden DM. Also nur 25 % von dem, was Sie den Bessersituierten geben wollen, wollen Sie den Sozialmieterinnen und -mietern geben. Wie wollen Sie das angesichts dessen rechtfertigen, daß die Situation derer, die auf den sozialen Mietwohnungsbau angewiesen sind, wesentlich schlechter ist als die Situation derer, die ohnehin bauen können?
Liebe Kollegin, ich komme gleich noch zu den Zahlen und begründe Ihnen das. Wir geben nicht den Bessersituierten die meisten Mittel aus der Millarden-Umschichtung im Wohnungsbauetat des Staates aus Steuerverlusten oder Verlustzuweisungen von insgesamt 50 Milliarden DM, sondern denjenigen mit einem Durchschnittseinkommen von
17998 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bann. Freitag, den 21. September 1990
Reschke
40 000 DM — das ist unsere Rechenbasis — geben wir ungefähr 60 "o der Summe, weil wir es für notwendig halten. Wir halten es für den besten Mieterschutz, in diesem Punkt zu investieren.
Wir wollen diesen Anreiz, den ich genannt habe, durch einen festen Abzugsbetrag von der Steuerschuld, durch Zinszuschüsse, durch verbilligte Baulandbereitstellung und durch einmalige Investitionsbeihilfen erreichen. Jährlich könnten so 150 000 neue Wohneinheiten entstehen.
Die SPD will das selbstgenutzte Wohneigentum gerechter und wirksamer fördern. Heute werden Bau und Erwerb von Wohneigentum vom Staat um so stärker gefördert, je höher das Einkommen ist.
Wir wollen einen einheitlichen Abzugsbetrag von der Steuerschuld für selbstgenutztes Wohneigentum konsequent einführen. Deshalb weg von der Progressionsstaffelung! Wir wollen die grundsätzliche Umgestaltung der steuerlichen Förderung, vielleicht mit Einwilligung der FDP, in naher Zukunft und wollen § 10e des Einkommensteuergesetzes ablösen. Das geht ganz einfach: Entweder wird die Steuerschuld heruntergeschrieben, oder das Finanzamt zahlt, wenn nicht genügend Steuerschuld vorhanden ist, den Betrag aus.
Wenn man genau rechnet, stellt man fest, daß nach dem derzeit geltenden § 10e jeder die Möglichkeit hat, in acht Jahren — bei 40 000 DM Werbungskosten und Berücksichtigung von 5 % von maximal 300 000 DM — rund 160 000 DM vom zu versteuernden Einkommen abzuziehen.
Das hört sich toll an, aber die Steuerersparnis liegt bei einem Einkommen von 40 000 DM durchschnittlich nur bei 22,6 %. Das sind in acht Jahren 36 160 DM. Hinzu kommt — bei Verheirateten mit zwei Kindern — ein Baukindergeld in Höhe von 12 000 DM. Der Staat läßt sich also diese Eigentumsförderung in acht Jahren rund 48 000 DM kosten.
Herr Kollege Kansy, ich finde es schon sehr arrogant, einkommensstarke junge Leute mit einer guten Ausbildung, die sich der Staat etwas hat kosten lassen, deren Eigentum gefördert werden soll, hier vor dem Deutschen Bundestag als Schickimicki-Gruppe zu verhohnepipeln. Ich halte dies für soziale Arroganz hinter zehn Metern Terrassenfenster.
Warum sagen Sie nicht, daß ein Spitzenverdiener mit gleichen familiären Voraussetzungen mit einem Einkommen von über 160 000 DM und einem Grenzsteuersatz von 53 % dem Staat in acht Jahren 96 000 DM wert ist? Hier sage ich ganz deutlich: Da muß etwas geschehen.
Das dritte Fallbeispiel ist die DDR. Hier gibt es nichts abzuschreiben, da der Normalverdiener dort nicht in acht Jahren 160 000 DM verdient hat. Deswegen kann er steuerlich nichts abschreiben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Oesterle-Schwerin?
Ja, wenn Sie mir die Zeit jetzt abziehen. Beim erstenmal haben Sie es nicht getan.
Doch. Wir bleiben hier oben anständig.
— Der kann auch ein Wort vertragen. Es ist ja keine Kritik gewesen.
Bitte schön.
Bitte schön, Frau Oesterle-Schwerin.
: Herr Kollege, ich habe jetzt begriffen, daß sich Ihr Programm an die sogenannte Normalfamilie mit einem Einkommen von 40 000 DM richtet. Das bedeutet, daß der Personenkreis, von dem ich vorhin gesprochen habe, z. B. die Alleinerziehenden mit Kindern, völlig herausfällt.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie wissen, daß 72 aller erwerbstätigen Frauen ein Bruttoeinkommen von weniger als 3 000 DM haben. 24 % der erwerbstätigen Frauen haben ein Einkommen von weniger als 2 000 DM. Das sind die Menschen, die auf preiswerte Mietwohnungen angewiesen sind. Wie wollen Sie rechtfertigen, daß mit Ihrer Unterstützung diejenigen mit einem Einkommen von 40 000 DM, die Sie fördern wollen, den Alleinerziehenden mit niedrigerem Einkommen die billige Wohnung wegkaufen?
Sie vergessen dabei, daß — ich habe vorhin drei Punkte aufgeführt — die Barzuschüsse hinzukommen. Verdrehen Sie dies nicht. Sie müssen das im Zusammenhang sehen: Die Eigentumsförderung nach § 10e , wie ich es einmal nennen möchte, die Barförderung, den öffentlich geförderten Wohnungsbau, also den Eigenheimbau, und die Möglichkeiten der Baulandbereitstellung für sozial Schwache. Das müssen Sie als eine Komponente in drei Richtungen sehen.Der Unterschied zwischen einer Familie mit zwei Kindern und einem Alleinerziehenden mit einem Kind besteht bei der Förderung nur in der unterschiedlichen Kinderkomponente. Ansonsten gibt es keinen Unterschied. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir schlagen vor, diese Ungerechtigkeit in § 10e umzustellen. Wir schlagen vor, die Förderung des Wohneigentums grundsätzlich auf einen Abzug von der Steuerschuld umzustellen. Unser Vorschlag enthält noch etliche weitere Komponenten. Es ist nachdenkenswert, Herr Kollege Gattermann, daß wir in dieser Kommission vielleicht recht rasch, in den nächsten vier Wochen, auf Grund der vorliegenden Erhebungen des Bundestags einig werden. Nicht umsonst weisen Experten darauf hin, daß durch eine gezielte staatliche Förderung die Schwelle zur Wohneigentumsbildung herabgesetzt werden kann. Das derzeitige steuerliche System der Wohneigentumsförderung ist durch den Übergang von § 7 b auf § 10e noch unge-
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Reschkerechter und uneffizienter geworden, als das früher schon der Fall war.Die Entwicklung der Bautätigkeit ist hinter dem Anstieg der Steuerausfälle zurückgeblieben. Liebe Frau Bundesbauministerin, ich erkläre Ihnen gern die Zahlen. Sie müssen sie ja nicht mir glauben; aber glauben Sie sie wenigstens dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Diese Zahlen zeigen deutlich, daß die Verluste aus Vermietung und Verpachtung den Staat mittlerweile 50 Milliarden DM kosten. Das heißt: Rund 90 % der Verluste, die bei Einkommensteuererklärungen geltend gemacht werden, sind Verluste aus Vermietung und Verpachtung. Das kostet den Staat 20 bis 25 Milliarden DM. Dieser Betrag — und damit komme ich zum Schluß, Herr Präsident — könnte sinnvoller eingesetzt werden, um viele Menschen, viele Familien mit eigenem Wohnraum zu versorgen.Es muß jetzt dringend sichergestellt werden, daß mit diesem Betrag, mit diesen Steuerverzichten, die der Staat hier leistet, auch Bauleistungen und Wohnungen und Eigenheime in der DDR vorgenommen werden bzw. entstehen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dörflinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Jahren ist es leider in Mode gekommen, daß der Bund für die Lösung aller Probleme herangezogen und für die Verursachung dieser Probleme auch verantwortlich gemacht wird.
Solche Klage wird oft von denen geführt, die sich andererseits über die mangelnden Zuständigkeiten in den Ländern und in den Gemeinden beklagen. Deswegen sollten wir die heutige Debatte auch zum Anlaß nehmen, um daran zu erinnern, daß es eine ganze Reihe wichtiger Aufgaben gibt, die nur in einer Gesamtverantwortung aller erledigt werden können.Dazu zählt vor allem auch der Wohnungsbau. Denn z. B. die Frage der Treffsicherheit öffentlicher Hilfe, die Frage auch, ob man regionalen Unterschieden angemessen gerecht werden kann, diese Fragen hängen fundamental damit zusammen, daß wir z. B. Wohnungsbau als eine durchgängige Aufgabe, vom Bund bis hinunter zu den Gemeinden, begreifen.Ich frage auch einmal die Kollegen von der SPD, die in Ländern und Gemeinden Verantwortung tragen: Wo sind z. B. Programme wie etwa das Programm „Betreutes Wohnen" in Baden-Württemberg, mit dem dieses Land auf eine ganz herausragende Veränderung in der Altersstruktur unserer Bevölkerung eingeht? Wo sind die Initiativen in puncto Betriebswohnungen? — Auch dies in Baden-Württemberg gestartet.
Meine Damen und Herren, ich muß doch noch einmal daran erinnern, daß es nicht angeht, Herr Kollege Müntefering, irgendwo ein Schauerszenario zu entwickeln, den Leuten Angst zu machen und den Mangel zu beschwören, um die Dinge dann dort, wo man die politische Verantwortung konkret trägt, nämlich in vielen Gemeinden und Städten aus ideologischer Blockade heraus zu vereiteln, einer Doppelzüngigkeit zu folgen, die z. B. darin besteht, daß man gegen planungsrechtliche Erleichterungen ebenso ist wie gegen das zusätzliche Ausweisen von Bauland.Es kann doch nicht um das Verwalten des Mangels gehen. Wir brauchen mehr Wohnungen, wir brauchen schnell neue Wohnungen. Nur so haben wir die Chance, daß der Markt wieder in Ordnung kommt. Deshalb brauchen wir auch zusätzlich privates Kapital, und wir brauchen zusätzliche Bauflächen. Es ist ein trauriges Beispiel, das rot oder rot-grün regierte Städte hier geben. Wo sind die Anstrengungen, die Festlegungen der Gemeinden in Flächennutzungsplänen vor dem Hintergrund zu überarbeiten, daß wir vor Jahren von stagnierenden Bevölkerungszahlen ausgegangen sind? Wo bleibt das Ziehen der konkreten Konsequenzen aus einer veränderten Lage?Meine Damen und Herren, wir alle können uns anstrengen wie wir wollen, wir können weitere Milliarden und zusätzliche Maßnahmen fordern: Die Ehrlichkeit gebietet, in dieser Debatte auch zu sagen, daß wir mit der Verknappung an Wohnungen auf geraume Zeit leben müssen und daß es unseriös wäre, irgendein politisches Konzept anzubieten, das ein schnelles Überwinden dieses Mangels verspricht.
Meine Damen und Herren, zum Gegenstand unserer heutigen Beratungen gehören auch die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen zur Städtebaupolitik und die Antwort der Bundesregierung dazu.
— Das können Sie vergessen, weil Sie Ihnen wahrscheinlich nicht gefällt. Denn die Antwort der Bundesregierung macht deutlich, daß die Stadterneuerung eine Daueraufgabe bleibt und darüber hinaus auch eine große wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung hat.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns auch daran erinnern, daß die Stadtsanierung und die Dorferneuerung im Auf und Ab der Baukonjunktur vor einigen Jahren, vor allem im Baugewerbe, auch ein Faktor der Stabilität und der Verläßlichkeit waren. Deswegen braucht die Städtebaupolitik dauerhafte Rahmenbedingungen.Die Antwort der Bundesregierung macht — auch nach unserer Überzeugung — deutlich, daß sie diesen Anforderungen gerecht geworden ist. Wir haben erstens eine Finanzlage der öffentlichen Hand — insbesondere auch der Gemeinden — , die ebenso höhere Einnahmen wie den Abbau der Defizite ermöglicht hat. Damit haben sich z. B. die Kassandrarufe der Op-
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Dörflingerposition im Zusammenhang mit der Steuerreform eben als unberechtigt erwiesen. Die Wirklichkeit widerlegt die Opposition.Wir haben zweitens eine konstante Finanzhilfe des Bundes auf der Höhe von 660 Millionen DM, und das verstetigt. Aus dem Strukturhilfegesetz 1989 sind weitere 385 Millionen DM in die Städtebauförderung und in die Dorferneuerung geflossen, d. h. es stehen insgesamt 1,1 Milliarden DM zur Verfügung.Die Forderung der SPD, die in ihrem Antrag enthalten ist, nach 1 Milliarde DM Städtebauförderungsmittel ist deshalb ein doppeltes Eigentor; denn erstens stehen nicht 1 Milliarde DM, sondern 1,1 Milliarden DM zur Verfügung, und zweitens hat die SPD keine Legitimation, derartige Forderungen zu erheben, nachdem sie im letzten Jahr ihrer Regierungsverantwortung, 1982, die Städtebaufördermittel auf sage und schreibe 220 Millionen DM herabgeführt hatte.
Drittens haben wir durch die Verlängerung der Geltungsdauer der Bestimmungen der §§ 82g und 82 i der Durchführungsverordnung zur Einkommensteuer Anreize für Investoren geschaffen. Wir haben vor allem Investitionen zur Erhaltung von Bausubstanz im denkmalgeschützten Bereich ermöglicht.Wir haben viertens die Fördertatbestände um die Revitalisierung von Brachflächen erweitert. Das ist vor allem in Industrieregionen eine wichtige Aufgabe.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reschke?
Sicher.
Herr Kollege Dörflinger, sind Sie bereit, mir zuzustimmen, daß die Eigentumsförderung in denkmalgeschützen Gebäuden — ohne Obergrenze, in Millionenhöhe absetzbar — die dritte Säule der Eigentumsförderung ist?
Sicher.Sehr wichtig ist, daß Städtebau heute nicht nur in großen Städten stattfindet. Wir haben 1990 insgesamt 1 573 Sanierungsvorhaben und 19 Entwicklungsmaßnahmen in 1 162 Städten und Gemeinden. Mehr als die Hälfte aller Maßnahmen werden im ländlichen Raum durchgeführt. 1989 sind 37,6 To der Fördermittel in diese Bereiche geflossen. Über ein Drittel der in den letzten Jahren neu aufgenommenen Maßnahmen werden in Gemeinden unter 10 000 Einwohnern durchgeführt.Wir alle wissen, vor welchen gewaltigen Problemen wir im Bereich des Städtebaus, der Stadtsanierung, der Dorferneuerung auch in der DDR stehen. Da wird viel Geld notwendig sein. Vor allem aber wird es notwendig sein, privates Kapital zu mobilisieren, insbesondere durch ein geschicktes Anbieten des jetzt noch kollektivistisch verwalteten Wohnungsbestandes gegenüber Privaten, um ihnen die Möglichkeit zu geben, diesen Wohnungsbestand durch Einsatz privaten Geldes zu renovieren.Aber das sollte uns nicht daran hindern, die Stadterneuerung auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland konsequent fortzusetzen; denn dabei handelt es sich um Vorhaben, die von den Gemeinden langfristig geplant sind und für die man die entsprechenden Mittel in den Haushalten der Städte mittelfristig auch bereithält.Stadtsanierung braucht auch verläßliche Daten. Deswegen darf ich für unsere Fraktion den dringenden Wunsch an die Bundesregierung richten, diese 660 Millionen DM, die ja in der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes enthalten sind, auch in den nächsten Jahren für Stadt- und Dorferneuerung auf dem Territorium der bisherigen Bundesrepublik zur Verfügung zu stellen,
— mindestens —, weil sonst die Gemeinden und Städte, die sich in konkreten Planungen befinden, tatsächlich ins Schleudern geraten. Die 660 Millionen DM sollten also für die nächsten Jahre beibehalten werden.
Wir haben darüber hinaus versucht, die städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen zu flankieren, beispielsweise im Planungsrecht. Wir haben im Baugesetzbuch den Gesichtspunkt der Ökologie wesentlich verankert. Wir haben das Instrument der Erhaltungssatzung im Baugesetzbuch verankert, wo sich jetzt zeigt, daß diese Erhaltungssatzung für viele Gemeinden ein wichtiges Hilfsmittel ist. Wir haben den Denkmalschutz aufgewertet, wir haben im Bereich der Stadtsanierung ein vereinfachtes Verfahren angeboten, das insbesondere kleineren Gemeinden ermöglicht, Sanierungsmaßnahmen durchzuführen, ohne das große und komplizierte Regelwerk des Städtebaurechts in Anspruch nehmen zu müssen.Wir haben im Wohnungsbauerleichterungsgesetz dafür gesorgt, daß das Baugebot vollzugstauglicher wird und daß wir flexibler bei Planung und Genehmigung vorgehen können.Ich darf schließlich an die Baunutzungsverordnung erinnern, wo wir, wie wir meinen, einem dringenden Anliegen der Gemeinden in der Weise entsprochen haben, daß wir bessere planungsrechtliche Grundlagen für die Überplanung innerstädtischer Gebiete zur Verfügung stellen, daß wir zu einer vernünftigen Neuregelung der Zulässigkeit von Vergnügungsstätten gekommen sind, was auch für den Erhalt der Eigenart der städtischen Quartiere wesentlich ist. Wir haben die Erleichterung des Ausbaus von Dachgeschossen vorgesehen, etwas, was sich im Zusammenhang mit den Finanzierungsmaßnahmen der Bundesregierung im gesamten wohnungsbaupolitischen Programm als absolut richtig erwiesen hat, weil wir dadurch neue Wohnungen bekommen, ohne zusätzliche Flächen in Anspruch nehmen zu müssen.Ich darf in dem Zusammenhang darauf hinweisen, daß auch die wohnungsbaupolitische Offensive der Bundesregierung sich insgesamt positiv auf die Städtebaupolitik in der Bundesrepublik Deutschland ausgewirkt hat und sicher auch in der Zukunft auswirken wird.
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DörflingerMeine Damen und Herren, Städtebau gehört mit zu den Aufgaben, wenn wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein besseres, qualitativ besseres und auch von der Zahl her besseres Angebot an Wohnungen unterbreiten wollen. Ich glaube, daß der Bericht der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage deutlich macht, daß sie die Intention der Koalitionsfraktionen konkret umsetzt und daß sie mittel- und langfristig die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt hat, damit wir diese erfolgreiche Politik auch fortsetzen können.
Meine Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, glaube ich, daß es Sie interessieren wird, zu erfahren, daß der Bundesrat einstimmig den Einigungsvertrag mit der DDR gebilligt hat und damit die verfassungsmäßigen Bedingungen für die Ratifizierung des Vertrags erfüllt hat.
Ich gebe nun dem nächsten Redner, dem Herrn Abgeordneten Conradi, das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht nur der letzte Redner dieser Debatte, sondern wahrscheinlich auch der letzte Redner, in einer ordentlichen Debatte jedenfalls, in diesem 11. Bundestag in dieser Zusammensetzung. Wenn wir wieder zusammen kommen, wird der Bundestag anders sein, und auch die wohnungspolitischen Debatten werden anders sein. Es werden Abgeordnete aus der DDR neue Akzente setzen, und vielleicht wird es uns sogar gelingen, für unsere Wohnungspolitik eine größere Beteiligung hier im Hause zu bekommen.
Herr Kollege, lassen Sie mich unterbrechen. Der letzte Redner heute bin ich.
Ich will nicht bezweifeln, daß der Präsident, der die Sitzung schließt, der Letzte ist, aber der letzte Debattenredner bin ich, glaube ich.
Ich will versuchen, jenseits der wahlkampfbedingten Wadenbeißereien, Frau Ministerin, und mancher Schlagabtausche hier etwas auch von dem aufzunehmen, was Herr Gattermann begonnen hat, und zu prüfen, was ist strittig, was ist unstrittig, und wo werden Wahrheiten und Unwahrheiten verbreitet.
Ich will mal beim Wohnungsbedarf anfangen. Immer wieder wird von Ihrer Seite gesagt — gestern von Herrn Stoiber, heute von Herrn Geis — , für die Wohnungsnot sei vor allem der unerwartete Zuzug von Aussiedlern und Übersiedlern verantwortlich.
Wir wollen hier doch festhalten: Seit 1988 sind 1 Million Menschen gekommen, und in Haushalten von drei bis vier Personen führt das zu einer zusätzlichen Wohnungsnachfrage irgendwo bei 300 000 Wohnungen. Tatsächlich liegt der Wohnungsbedarf aber
irgendwo zwischen 800 000 und 1,5 Millionen Wohnungen.
Herr Dr. Kansy hat hier ganz korrekt darauf hingewiesen: Die längere Lebensdauer der Menschen, die größere Zahl von Haushalten, auch der größere Wohlstand haben zu einer Wohnungsnachfrage geführt, die allerdings, Frau Ministerin, vorhersehbar war. Die hat Sie nicht unvorhergesehen getroffen. Deswegen halten wir Ihnen vor, daß Sie zu spät und zu schwach reagiert haben.
Zum Wohnungsneubau. Sie, Frau Ministerin, haben noch am 6. April gesagt, sicher werde das Ziel von 300 000 Neubauwohnungen in diesem Jahr erreicht. Heute klangen Ihre Äußerungen schon etwas zaghafter. Wir haben Sie damals gewarnt: Man kann die Bauindustrie nicht acht Jahre lang ausbluten lassen und dann in einem Jahr oder in zwei Jahren eine 50 %ige Produktionssteigerung durchsetzen. Das geht nicht. Sie haben selbst gesehen: Ihre Zahl wird nicht erreicht werden. Wir kommen in diesem Jahr bei weitem nicht auf 300 000 neue Wohnungen.
Sie müßten die Umschulung und die Fortbildung von Arbeitslosen vor allem in der DDR fördern, damit wir in der Bauindustrie wieder Arbeitskräfte haben, denn die Arbeitskräfte, die in den letzten zehn Jahren, vor allem in den Jahren, als Sie an der Regierung waren, weggelaufen sind, kommen so schnell nicht auf den Bau zurück.
Schließlich, Frau Ministerin, wird die Zahl der Neubauwohnungen auch deshalb geringer werden, als Sie gehofft hatten, weil die Zinsen auf Grund der Politik Ihrer Regierung, auf Grund der Pumpfinanzierung für die deutsche Einheit auf einen Nachkriegshöchststand gestiegen sind.
— Sie können sich jede Zinstabelle angucken.
Es hat hier seit 1949 keinen Realzins in dieser Höhe gegeben.
— Ich rede vorn Realzins. Sie können offenbar den Realzins nicht vom Nominalzins unterscheiden. — Das wird die Neubauzahlen natürlich erheblich drücken. Ich nenne schließlich auch die gestiegenen Baupreise, die ja nicht zuletzt auch auf Grund Ihrer Ankündigungen gestiegen sind. Das heißt: Statt der notwendigen 300 000 bis 350 000 neuen Wohnungen werden es 1990 gerade 260 000, 270 000 sein.
— Bitte, Herr Gattermann.
Herr Gattermann, bitte schön.
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Herr Kollege Conradi, können Sie mir bestätigen, daß die Kapitalmarktzinsen nicht nur im gesamten EG-Bereich, sondern auch in Amerika, Australien, Japan, mit anderen Worten weltweit ein Niveau erreicht haben, angesichts dessen das deutsche Niveau in keiner Weise untypisch ist, sondern eher dem unteren Bereich als dem oberen Bereich zuzuordnen ist, so hoch es — nach meiner Meinung ist es sehr hoch, zu hoch — absolut auch sein mag?
Herr Gattermann, das ist unstreitig. Nur, das hohe Zinsniveau wird vor allem durch die Schuldenpolitik der amerikanischen Regierung verursacht. Dabei handelt es sich wirklich um eine Welt-schuldenpolitik, wie wir sie nie zuvor erlebt haben. Diese Politik wird nun durch die Schuldenpolitik dieser Regierung weiter angeheizt.
— Sie haben ja im Inland nicht einmal die erste Tranche der Bundesanleihe untergebracht. Kein Mensch wollte bei Ihnen kaufen, als Sie das Geld für die deutsche Einheit zusammenkratzen wollten, denn die Bedingungen waren zu schlecht. Das heißt: Sie werden die internationale Tendenz hin zu steigenden Realzinsen durch Ihre Politik weiter fördern.
Es ist unstrittig, daß das auch in anderen Ländern so ist. Hohe Zinsen müßte es bei uns nicht in dem Ausmaß geben, wie es gegenwärtig der Fall ist.
Gestatten Sie noch eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Gattermann?
Wenn die Uhr stehenbleibt, gerne.
Meine Frage ist ganz kurz. — Können Sie mir bestätigen, daß die Kapitalmarktzinsen ausgerechnet in dem Land, in dem statt einer Verschuldungspolitik eine extreme Politik der Rückzahlung von Schulden betrieben wird, nämlich in Großbritannien, am höchsten sind?
In diesem Land regiert nun ihre besondere Freundin, Frau Thatcher. In ihrer Amtszeit ist die Inflation nachgerade so hoch gestiegen, daß natürlich auch die Zinsen den höchsten Stand in Europa erreicht haben. Ich würde das hier nicht unbedingt als ein Beispiel für eine verfolgenswerte Politik anführen. Ich glaube, da liegen Sie schief, Herr Gattermann.Ich möchte gerne noch etwas zum sozialen Wohnungsbau sagen. Ihre Behauptung, Frau Ministerin, der soziale Wohnungsbau komme voran, stimmt doch nicht. Wahr ist, daß die Bundesregierung, der Sie angehören, in diesem Jahr der Entspannung mehr Geld für Munitionskäufe als für den sozialen Mietwohnungsbau ausgibt.
— Das sind die Wertigkeiten. — Wahr ist ferner, daß dieser soziale Mietwohnungsbau doch den Namen nicht verdient.
In Baden-Württemberg geben Sie jemandem, der investiert, 55 000 DM. Dazu kommen noch einmal 100 000 DM, die in den nächsten zehn Jahren an steuerlichen Verlusten aus dieser Wohnung resultieren. Für diese 150 000 DM kaufen Sie gerade eine zehnjährige Preis- und Belegungsbindung ein. Das ist doch herausgeschmissenes Steuergeld. Mit sozialem Mietwohnungsbau hat das nichts zu tun.
Nun verweisen Sie tapfer auf die steigende Zahl der Baugenehmigungen. Wenn man mit einer niedrigen Ausgangszahl anfängt, Frau Ministerin, dann sind prozentuale Erhöhungen natürlich immer ganz gewaltig. Sie sollten einmal die realen Zahlen nennen. Sie haben sich hier heute wie die Wohnungsbauministerin des Fürsten Potjemkin verhalten. — Die Regierung Ryschkow will ich hier nicht nennen. — Der hat auch mit solch komischen Zahlen operiert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einer Wohnungsbaugenehmigung kann kein Mensch leben. In einer Genehmigung kann man nicht wohnen. Schauen Sie sich einmal die aktuellen Zahlen beim Baubeginn an. Dann werden Sie sehen, daß viele Tausende von Bauherren, die eine Genehmigung zum Bau einer Wohnung haben, nicht anfangen zu bauen, weil sie das Geld nicht haben, weil ihnen die Zinsen zu sehr gestiegen sind und weil ihnen die Baupreise zu sehr gestiegen sind. Reden Sie also nicht von Baugenehmigungen, sondern lassen Sie uns am Ende dieses Jahres zählen, wie viele Wohnungen tatsächlich neu gebaut worden sind. Es werden nicht so viele sein, wie Sie versprochen haben.Nun zum Mietrecht! Da wird bis zum Überdruß die Behauptung wiederholt und von den konservativen Wirtschaftsjournalisten beflissen nachgebetet, eine gesetzliche Begrenzung der Mietsteigerungen würde die Investoren im Wohnungsbau abschrecken. Dafür gibt es nicht die Spur eines Tatsachenbeweises. Es gibt keine Zahl, die das belegt; umgekehrt ist es richtig.Verehrter Herr Gattermann, denken Sie daran: Als wir gemeinsam in der sozialliberalen Koalition 1971 das Mietrecht deutlich verschärft haben, sind in den folgenden Jahren die Neubauzahlen im Mietwohnungsbau auf einen Nachkriegshöchststand gestiegen. Das heißt, ein schärferes Mietrecht hat die Investoren nicht abgeschreckt, sondern Spitzenwerte im Wohnungsbau zur Folge gehabt.Sie haben dann in der anderen Koalition 1982 als erstes das Gesetz zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen eingebracht. Das war ja in Wirklichkeit ein Gesetz zum Abbau des sozialen Mietrechts. Mein Kollege Ludwig Stiegler, den ich hier zitieren will, hat damals gesagt, diese Gesetzesbezeichnung hätte im Wahrheitsministerium in George Orwells „ 1984 " erfunden werden können. Es war ein Gesetz, das vorgab, das Angebot an Mietwohnungen zu erhöhen, das aber in Wirklichkeit das soziale Mietrecht
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Conradibeschädigte. Nur, was haben denn Ihre Lockerungen im Mietrecht 1982 gebracht? Seit 1982 sind die Neubauzahlen, sind die Investitionen im Wohnungsbau ständig gesunken.
— Sie sind ständig gesunken. Das heißt, der behauptete Zusammenhang zwischen Lockerungen im Mietrecht und Mehrinvestitionen bzw. Verschärfungen im Mietrecht und weniger Investitionen stimmt nicht.Die Investoren werden, wenn sie in den Wohnungsbau investieren, von ganz anderen Überlegungen geleitet. Natürlich wollen sie die Mieten im Laufe der Jahre erhöhen können. Herr Engels hat neulich gesagt, 5 Prozent reichten völlig aus. Genau das schlagen wir vor. Aber sie schauen doch vor allem auf das, was sie steuerlich absetzen können, und sie wissen, daß wir in den ersten zehn Jahren eine angeblich frei finanzierte Mietwohnung mit 100 000 DM aus Staatsgeldern mitfinanzieren. Natürlich sieht der Investor auch die enorme Wertsteigerung, die er nach wenigen Jahren meistens steuerfrei kassieren kann.Sie behaupten, das Mietrecht wäre hier ausschlaggebend, wenn es darum geht, die Investoren zum Bauen zu bewegen. Dies ist eine Verfälschung der Tatsachen.Das Fazit: Die Bundesregierung belügt sich selbst. Das muß man hinnehmen. Aber die Wähler werden es nicht hinnehmen, wenn sie ständig mit Unwahrheiten getäuscht werden sollen.
Wir haben zur Zeit den Niedergang des Wohnungsbaus auf einen Tiefstand seit 1949. Wir haben einen Niedergang des Sozialmietwohnungsbaus wie in keinem Zehnjahreszeitraum zuvor. Wir haben Lockerungen des sozialen Mietrechts. Wir haben die real größten Mietsteigerungen seit zehn Jahren. Die Mieten steigen weit schneller als die Löhne und die Renten. Wir haben die höchsten Baupreise und die höchsten Realzinsen mit allen Folgen, die das für die Eigenheimer und Mieter hat. Das heißt, Ihre Wohnungspolitik war so furchtbar erfolgreich nicht.Jetzt könnten wir uns zurücklehnen und könnten nach der Sonthofener Methode des seligen Herrn Strauß sagen, es könne ja nur noch schlimmer werden, so daß wir in allen anderen Städten auch noch Mehrheiten bekommen könnten.
Wir tun das nicht. Wir haben eine ganze Fülle von konkreten Vorschlägen gemacht. Frau Ministerin, wir haben kein „sogenanntes" Gesetz gemacht. Diese Sprachwahl aus der alten Zeit der DDR sollten wir uns hier gegenseitig ersparen.Wir haben Ihnen konkrete, durchsetzungsfähige Vorschläge gemacht, und zwar nicht mit der Absicht, daß Sie dazu nein sagen. Ihr Parlamentarischer Staatssekretär hat im Ausschuß wörtlich gesagt, die Mietenfrage sei ein Nebenkriegsschauplatz. Das ist kein Nebenkriegsschauplatz, das ist für viele Menschen be-drückende Realität. Wir fordern Sie auf: Tun Sie mit uns etwas dagegen, daß bei der jetzigen Knappheit die Mieten weiter steigen! Wir haben Ihnen ein faires Angebot gemacht, und wir haben die Mehrheit im Bundesrat dafür. Wir lassen uns auch von unseren Forderungen noch etwas abhandeln. Da sind wir gar nicht so. Frau Ministerin, wir werden Sie bis zum Wahltag mit Sirenenklängen umwerben. Wir werden Ihnen die schönsten Vorschläge machen, damit Sie endlich mit uns etwas tun, um hier die Mietenexplosion — —
— Wir sind zu Sondersitzungen bereit, Herr Kollege Gattermann. Aber die Koalition ist jedenfalls in der heutigen Debatte zu schwach. Sie sind bewegungsunfähig. Der Bundeskanzler ist nicht in der Lage, von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen, und die CSU traut sich nicht, mit den GRÜNEN und mit uns — das würde ja reichen — einen Mieterschutz zu beschließen, der wirksam wäre.Sie werden hier noch vor Ablauf dieser Wahlperiode in einer namentlichen Abstimmung zeigen müssen, was die Wähler von Ihren Sprüchen halten dürfen und ob Ihnen das Schicksal von Millionen Menschen wirklich wichtiger ist als das Wohlwollen der Partei der sozialen Kälte des Herrn Lambsdorff. Das werden wir Ihnen nicht ersparen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Zu Tagesordnungspunkt 11 a und 11 c schlägt der Ältestenrat vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/7356 und 11/7771 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Bei Tagesordnungspunkt 11b kommen wir zunächst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/7828. Der Ausschuß empfiehlt unter Ziffer 1, den Antrag der Fraktion der SPD „Sofortprogramm für eine aktive Wohnungspolitik" auf Drucksache 11/4083 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.Der Ausschuß empfiehlt weiterhin unter Ziffer 1, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN „Ökologische und soziale Offensive gegen Wohnungsnot" auf Drucksache 11/4181 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei Enthaltung der Fraktion der SPD ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden.Der Ausschuß empfiehlt darüber hinaus unter Ziffer 2 der Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschluß-
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18004 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
Vizepräsident Westphalempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden.Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 11 d, und zwar zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für unverheiratete Paare, homosexuelle Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften. Das sind die Drucksachen 11/1955 und 11/6876. Der Ausschuß empfiehlt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen.Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 11 e und stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/7483 zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN über menschenwürdige Zimmer für Kinder und Jugendliche auf Drucksache 11/2259 ab.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden.Zu Tagesordnungspunkt 11 f — Große Anfrage der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP — gibt es keine Abstimmung.Meine Damen und Herren, ich rufe nun den Zusatztagesordnungspunkt 10 auf:Aktuelle StundeBodenverseuchung auf Kinderspielplätzen und Konsequenzen der Bundesregierung für die Festlegung von Dioxin-GrenzwertenDie Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde gefordert.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, um uns nach dem Tag des Kindes und wenige Tage vor dem Weltgipfeltreffen für Kinder in New York auch hier für das schwächste Glied unserer Gesellschaft einzusetzen.In den vergangenen Wochen haben sich Schrekkensmeldungen über giftverseuchte Kinderspielplätze in der gesamten Bundesrepublik gehäuft. Auf Hunderten solcher Spielplätze sind hohe Konzentrationen von Schwermetallen, krebserregenden Kohlenwasserstoffen und vor allem von ultragiftigem Dioxin gefunden worden. In Köln, Hamburg, Essen, Bochum, Frankfurt und anderswo mußten jeweils Dutzende von Kinderspielplätzen gesperrt werden. Wissenschaftler vermuten, daß jeder vierte Spielplatz mit Umweltgiften verseucht ist. Dies soll bereits zu Todesfällen bei Kindern geführt haben.Verehrte Kollegen und Kolleginnen wir GRÜNEN haben bereits vor sieben Jahren hier im Parlament davor gewarnt, daß uns die Dioxine in der Zukunft eine nicht mehr zu bewältigene Umweltlast aufbürden könnten. Heute zeigt beinahe jedes Dioxin-Meßprogramm, daß diese langlebigen Ultragifte in unserer Umwelt allgegenwärtig und nicht mehr aus ihr zu entfernen sind. Die alltägliche Verseuchung ist Wirklichkeit geworden.Wissenschaftler des Umweltbundesamtes haben festgestellt, daß die Umweltkonzentration der Dioxine bereits oberhalb des Schwellenwertes für eine meßbare Beeinflussung von Ökosystemen liegt.Das Bayreuther Dioxin-Symposium brachte vor zwei Wochen neue beunruhigende Erkenntnisse hervor. Danach bauen sich Dioxine im Boden überhaupt nicht ab. Die vermutete Halbwertzeit beträgt nach Auskunft von Professor Hagenmeier 2000 Jahre. Die Studie an BASF-Arbeitern hat den eindeutigen Nachweis der krebserzeugenden Wirkung beim Menschen erbracht.Um wieder auf die Kinder zurückzukommen: Sie gelten als die größte Risikogruppe überhaupt. Säuglinge werden bereits durch die Muttermilch mit dem 90fachen der duldbaren täglichen Dioxindosis belastet. Nach der Stillphase besitzen sie den Dioxinlevel eines Erwachsenen. Dioxine können Kleinkinder unmittelbar schädigen; denn sie greifen deren Immunsystem an, welches bei ihnen noch unterentwickelt ist.Insgesamt ist unsere Nahrung bereits so hoch belastet, daß jeder Bundesbürger durchschnittlich das Doppelte der duldbaren täglichen Dioxindosis lebenslang aufnimmt.Wer die Hoffnung hatte, daß nach Karlsruher Dioxin-Kongreß vom Februar 1990 unter der Federführung des Umweltministers ein Durchbruch bei der politischen Lösung des Dioxinproblems erfolgen würde, muß sich heute weitgehend getäuscht sehen.Kaum waren akzeptable Richtwerte für die Bodenbelastung und die Belastung des Menschen ausgehandelt, da begann das entwürdigende Gerangel zwischen Bundesgesundheitsamt und Umweltbundesamt. Einzelne Länder meldeten kleinkariert egoistische Bedenken an.Der Präsident des Bundesumweltamtes, Heinrich von Lersner, zog sein Einverständnis in letzter Sekunde zurück, die ausgehandelten Grenzwerte offiziell per Presseerklärung publik zu machen. Offensichtlicher Grund war der zu erwartende Protest insbesondere von der Landwirtschaftslobby und von einzelnen Bundesländern.Ein Mitarbeiter des Bundesgesundheitsamtes wurde von einem Mitglied der Landesregierung Nordrhein-Westfalen so lange weich geklopft, bis er zu einer Aufweichung der Bodengrenzwerte bereit war und dies auch als Empfehlung z. B. an die Umweltberaterin der Stadt Rheinfelden weitergab. Erst durch energische Intervention aus dem Umweltbundesamt konnte dieses Hintergehen gemeinsamer Beschlüsse gestoppt werden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 18005
Frau GarbeMittlerweile ist das Gerangel um politisch genehme Werte in eine Unterarbeitsgruppe „Richtwerte" verschoben worden. Dort werden vor allem — ich muß es leider sagen — die SPD-Länder Hamburg und Nordrhein-Westfalen erneut versuchen, die Karlsruher Vorschläge zu kippen. Damit sollen die dort dringend anstehenden Bodensanierungen auf kaltem Wege umgangen und Ausgaben in Millionenhöhe eingespart werden. Die dioxingeschädigten Kinder werden es diesen politischen Meistervergiftern später einmal danken.Ich danke für die Aufmerksamkeit, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen. Der zweite Teil mit unseren grünen Forderungen, um aus dieser Misere herauszukommen, wird wegen der fortgeschrittenen Zeit am heutigen Nachmittag zu Protokoll gegeben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Garbe, ich denke, daß wir unabhängig von der Zuständigkeit für diese Thematik gut daran tun, einmal deutlich zu machen, daß es nicht damit getan ist, nur über die Probleme zu reden. Vielmehr sollte man auch deutlich machen, was in den letzten Jahren geschehen ist, um dieses Grundübel an der Wurzel anzupacken.Ich denke, Sie haben in dem Punkt recht, daß auch bei denen, die die Zuständigkeit besitzen, ein großes Durcheinander feststellbar ist. Ich stimme Ihnen auch darin zu, daß ein Gerangel über Grenzwerte in der Sache nichts nützt.Deshalb rege ich an, auch im Landtag von Nordrhein-Westfalen einmal eine solche Aktuelle Stunde durchzuführen, um die Dinge zu erhellen
— auch in Hamburg und in anderen Ländern.Es war eine kluge Entscheidung von Klaus Töpfer, diese Problematik in Karlsruhe zu Beginn dieses Jahres bei einem internationalen Dioxin-Symposium aufzuarbeiten. Ziel war, den aktuellen Wissensstand zu Dioxinen und Furanen zu diskutieren sowie Grundlagen für eine Risikoabschätzung und einheitliche Bewertungsmaßstäbe für den Vollzug zu erarbeiten, um Maßnahmen für eine Minimierung aufzuzeigen. Dabei sollten u. a. Bodenrichtwerte für die Beurteilung von Bodenkontaminationen im Hinblick auf Bodennutzungen und Sanierungserfordernisse einer näheren Prüfung unterzogen werden.
Die Ergebnisse dieses Symposiums sind uns allen vom Minister im Umweltausschuß sehr ausführlich dargelegt worden. Ich will auf die Empfehlungen kurz eingehen; denn ich finde, das Umweltbundesamt hat mit seinen Empfehlungen recht und hat gut darangetan, diese Empfehlungen entsprechend zu veröffentlichen.Dort wird festgestellt, daß bei Dioxingehalten im Boden von über 1 000 ng/kg toxikologische Äquivalent ein Bodenaustausch durchgeführt werden muß. Dieser empfohlene Richtwert gelte unter der Voraussetzung, daß sich im Belastungsgebiet mit 100 bis 1 000 ng/kg keine Kinder für längere Zeit aufhalten. Für Flächen, auf denen Kinder dauerhaft spielen, soll nach Ansicht des UBA — ich würde mich dem anschließen — ein Bodenbelastungswert von 100 ng/kg TE nicht überschritten werden. Deshalb hat das UBA empfohlen, aus dem Belastungsgebiet mit über 100 ng/kg TE im Boden Kinderspielplätze auszulagern, umzuschichten und für bessere Verhältnisse zu sorgen.Die Umweltministerkonferenz hat einen entsprechenden Bericht von UBA und BGA zustimmend zur Kenntnis genommen. Dies ist eine gute Basis, damit die Länder entsprechend ihrer politischen Verantwortung handeln und damit das Übel an der Wurzel angehen, nämlich Altlasten abbauen.Wir haben das Dioxin-Problem mit Priorität und, wie ich denke, auch mit großer Sorgfalt behandelt. So wurde z. B. für Dioxine in der Gefahrstoffverordnung der weltweit niedrigste Wert von 0,005 mg/kg als Summengrenzwert festgelegt. Dies ist, finde ich, beispielhaft.Als eine der Hauptquellen von Dioxinbelastungen hat sich bei der Anhörung der Umgang mit PCP, also mit Pentachlorphenol, erwiesen. Auch hier kann die Bundesregierung Erfolg melden. Ich möchte dem Minister an dieser Stelle sagen, das es gut war, ein Verbot auszusprechen. Seit dem 23. Dezember 1989 ist die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von PCP in der Bundesrepublik Deutschland verboten. Dies ist ein wichtiger Schritt, weiteren Belastungen vorzubeugen.Wir sind heute dabei — hier geht mein Appell an den Umweltminister — , im Bereich des Verkehrs den Einsatz von Scavenger zu verbieten, die Qualität unseres Benzins zu verbessern — dieses Ziel gehen wir im europäischen Raum an — und damit auch die Belastung, die von bleihaltigem Benzin ausgeht, weiter zu reduzieren.Hier gäbe es verschiedene Möglichkeiten: Einmal könnte bleihaltiges Benzin, auch die Super-Qualität, in der Bundesrepublik Deutschland generell verboten werden — es ist heute möglich, dies mit entsprechenden Stoffen zu realisieren — , oder es könnte zumindest darauf hingewiesen werden, daß wir ohne den Einsatz von Scavenger in der Zukunft leben müssen. Die Mineralölindustrie ist bereit, hier mitzuziehen. Dies ist ein wichtiger Punkt, um eine weitere Quelle zu reduzieren.Eine letzte Bemerkung: Im Bereich der Müllverbrennung haben wir heute mit einem reduzierten Wert von 0,1 ng/m3 für Dioxine den weltweit strengsten Wert realisiert. Auch dies ist als drittes Beispiel ein wichtiger Punkt.Zum Schluß: An den Beispielen Müllverbrennung, Scavenger, PCP wird deutlich, daß sich unsere High-
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18006 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990
SchmidbauerTech-Gesellschaft nicht, wie von den GRÜNEN vielfach gefordert, in das starre Schema von Ge- und Verboten pressen läßt. Entscheidend ist vielmehr, daß wir zu intelligenten Lösungen kommen, die unserer modernen Industriegesellschaft angemessen sind.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, daß es natürlich wichtig ist, Herr Schmidbauer, intelligente Lösungen anzustreben.
Sie sollten aber nicht so oberflächlich sein, wie sie sich bisher in dieser Debatte darstellen. Ich bin schon der Auffassung, daß Sie auch die Einäugigkeit, was die Verdrängung von Kompetenzen auf die Länder hin anbetrifft, aufgeben sollten. Sie sollten zugeben, daß das Umweltbundesamt und das Bundesgesundheitsamt — und damit natürlich auch alle Behörden des Bundes — mithelfen müssen, solche Belastungen zu beseitigen.
Von daher sollten Sie die Ergebnisse dieser Art mit Nachdruck weiterbefördern und die Verantwortung nicht nur auf die Länder abwälzen. Dies ist nicht ausreichend und angemessen.
— Das habe ich getan, Herr Kollege. Deswegen sage ich Ihnen das genau in dieser Form.Die Debatte zeigt, meine Damen und Herren, daß wir auch in dieser Woche noch in der Lage sind, uns den aktuellen Tagesthemen zu widmen. Eine Frage, die natürlich gleichzeitig zu hinterfragen ist, ist, ob es sich tatsächlich nur um ein Tagesthema handelt. Ich glaube schon: Es ist ein Thema von längerer Dauer, und zwar in der Vergangenheit wie in der Zukunft.Wenn wir uns nun speziell den Kinderinteressen zuwenden, ist der Verweis auf den Weltkindertag in dieser Woche natürlich durchaus angebracht, aber auch darauf, daß der Weltkindertag unter dem Motto stand: Mehr Politik für Kinderwagen. Das heißt, wir müssen alle Politikerinnen und Politiker auf Bundeswie auf Landesebene und natürlich auch auf kommunaler Ebene mit Nachdruck dazu auffordern, sich den hier auftauchenden Problemen zu stellen und sie dann jeweils konkret anzufassen.Dies scheint im vorliegenden Fall tatsächlich vernachlässigt worden zu sein; denn nicht umsonst häufen sich die Meldungen, die Anlaß waren, diese Aktuelle Stunde zu beantragen.Von daher muß uns dies einfach aufrütteln, und es muß auch zu entsprechenden Reaktionen im politischen Raum kommen.Machen wir uns doch einmal die Mühe, uns in die Situation von Kindern in unserer Gesellschaft zu versetzen. Wo begegnen sie denn heutzutage überall Einschränkungen und Eingrenzungen? Wo können sie denn noch ungehindert und ungefährdet spielen und aufwachsen? Wo ist das eigentlich noch möglich, außer vielleicht in Inselsituationen? Dies kann doch wohl nicht der Hintergrund für das mögliche Aufwachsen von Kindern sein. Wir müssen unsere ganze Lebenswelt wieder für Kinder erfahrbar und erspiel-bar machen. Wir müssen den Kindern die Möglichkeit schaffen, tatsächlich wieder ungefährdeter aufzuwachsen.Dazu bedarf es ganz besonders einer nachdrücklichen Auseinandersetzung mit den Umweltbelastungen. Gerade die Umweltbelastungen waren ein wichtiger Teilbereich der Auseinandersetzungen am Weltkindertag, am gestrigen Tage also. Ich meine, daß wir deshalb speziell auf die Gefährdungen von Kindern durch Umweltbelastungen aufmerksam machen müssen.Die Kinder leiden einfach unter diesen Umweltbelastungen am meisten, nicht weil sie nur halbe Erwachsene sind, sondern weil sie von ihren organischen Voraussetzungen her den Umweltbelastungen am wenigsten Schutz entgegensetzen können.Dies führt dazu, daß wir — wir wissen das inzwischen — bei fast einem Drittel aller Kinder Allergien, Katarrhe, Brechdurchfall und ähnliche Erscheinungsformen und Krankheiten feststellen und daß tatsächlich ein hoher Grad an gesundheitlichen Dauerbelastungen an Kinder herangetragen worden ist, unter dem sie nachhaltig und wahrscheinlich mit vielen Spätfolgen leiden werden.Deswegen ist es nicht unerheblich, die Forderungen, die hier angedeutet worden sind, zu erörtern und sie vor allen Dingen so bald wie möglich konkret in die Tat umzusetzen. Wir brauchen Grenzwerte, die Rücksicht auf die besonderen Belange und die besonders geringe Belastungsfähigkeit von Kindern nehmen. Wir müssen gerade unter diesem Aspekt die Grenzwertdiskussion neu führen, weil sie eben nur an Erwachsenengesichtspunkten orientiert war.
In erster Linie jedenfalls.
Ich denke, daß wir auf diese Weise auch dafür sorgen müssen, daß die Kinder in den Blickpunkt bei dieser Auseinandersetzung geraten; denn wenn wir verträgliche Grenzwerte für Kinder in unsere Bestimmungen einführen, dann haben wir mit Sicherheit auch verträgliche Grenzwerte für Erwachsene geschaffen.Insofern ist es eine Forderung von uns, daß wir uns in dieser Weise noch intensiver als bisher mit den Themen auseinandersetzen. Es sind übrigens die Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg gewesen, die dies als erste getan haben. Es war vielleicht nicht ausreichend. Dies will ich im Ansatz durchaus zugeben. Aber sie sind die einzigen Länder, die bisher über-
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Schmidt
haupt mitdiskutiert und etwas Konkretes in den Untersuchungsrahmen eingebracht haben. Auch dies sollte, glaube ich, zur Kenntnis genommen und nicht noch diskriminiert werden.Ich bin sicher, daß wir alle gemeinsam hier in diesem Hause — über diese Aktuelle Stunde weit hinausgehend — in den nächsten Wochen und Monaten noch mehr für die Kinderinteressen, auch im Zusammenhang mit dem Bereich der Umweltschädigungen, eintreten sollten.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, natürlich ist das Problem in Nordrhein-Westfalen und in Hamburg besonders akut, denn beim Bau von Kinderspielplätzen sind Schlacken und Filterstäube verwendet worden. Aber natürlich sind auch die anderen Bundesländer aufgefordert, die Kinderspielplätze zu überprüfen, denn in der Tat — da stimme ich Ihnen zu — sind die Kinder für Staubaufnahme und andere Emissionen in besonderer Weise anfällig. Deshalb gibt es ja schon Grenzwerte, die sich auf Kinderspielplätze beziehen. Die Fürsorge für das Kind beginnt bei diesen Grenzwerten.
Ich bin auch der Meinung, daß eine Minimierung der Emissionen von Dioxinen und Furanen notwendig ist. Die Belastung hat viele Quellen: die Abfallverbrennung, die Schlacke- und Filterstaubverwendung, Flugasche, emittierende Betriebe, Verwendung von verseuchten und mit problematischen Holzschutzmitteln behandelten Hölzern usw. Nicht nur die Kinderspielplätze sind betroffen. Das Dioxin-Problem ist ein umfassendes Problem. Ich erinnere mich an den Bericht des Sachverständigenrats für Umweltfragen von 1987. Bereits damals ist auf die Gesundheitsgefahren hingewiesen worden.
Ich finde es sehr gut, Herr Töpfer, daß im Januar dieses Jahres ein Symposium stattgefunden hat. Dieses Symposium hat mir einen deutlichen Handlungsbedarf aufgezeigt, allerdings auch die Schwierigkeiten, sehr schnell mit den unterschiedlichen Quellen zurechtzukommen.
Einige Maßnahmen sind eingeleitet worden — Herr Kollege Schmidbauer hat darauf hingewiesen — : TA Luft, Gefahrstoffverordnung, PCB-, PCP-Verbot. Die Dioxin verursachenden Stoffe im bleihaltigen Benzin müssen eliminiert werden. Es gibt Erklärungen dahingehend, dieses Ziel zu erreichen. Die Müllverbrennungsanlagen-Verordnung ist auf dem Wege; ich weiß nicht, ob sie schon in Kraft ist. Wir müssen für besondere Formen der Verbrennung, z. B. Kabelabbrennanlagen, besondere Emissionsgrenzwerte festlegen. Bodenrichtwerte für die Beurteilung von Kontaminationen bei der Bodennutzung sowie Begrenzungen in Lebensmitteln und Futtermitteln und besondere Empfehlungen für stillende Mütter sind notwendig. Ich appelliere an die Industrie, Umweltbelastungen gerade in bezug auf die Dioxine und Furane zu vermindern und vor allem weniger problematische Verfahrenstechniken und Produkte zu wählen. Die
Verbraucher, meine ich, müßten über die Produkte besser informiert werden. Warum informiert man die Verbraucher nicht durch Kennzeichnung der Produkte?
Auf dem Symposium im Januar 1990 haben die Wissenschaftler die Belastung der Umwelt durch Dioxine in den Industriestaaten einmütig als zu hoch bezeichnet. Natürlich haben wir hier, auch im Vergleich zu anderen Industriestaaten, eine Menge getan, aber diese Feststellung bleibt auch für unser Land gültig. Hier sind nicht nur Eingriffe durch nationales Recht gefordert, sondern auch ein EG- und weltweites Vorgehen.
Die Kommunen sind aufgefordert, die Spielplätze flächendeckend zu überprüfen. Ich meine, daß wir dieses Thema, das heute leider zu so später Stunde und unter geringer Beteiligung behandelt wird,
in einer gründlicheren Art in der nächsten Legislaturperiode behandeln sollten.
Wir sind bei den einzelnen Maßnahmen durchaus zu Gange. Wir sollten dieses Thema aber nicht in der Weise erörtern, daß wir immer mit gegenseitigen Schuldzuweisungen arbeiten. Ich finde es langweilig und ungerecht, immer den anderen, denjenigen, der gerade regiert, verantwortlich zu machen.
Es gibt sicherlich eine Oppositions- und eine Regierungsrolle. Aber gerade das Dioxin-Problem zeigt, wie schwierig eine Lösung ist. Schon die Grenzwertfestlegung ist wissenschaftlich außerordentlich schwierig. Es ist sehr schwierig, das Auftreten von Dioxin einzuschränken, weil die Quellen so vielfältig sind.
Alles dies sollte Anlaß zu ruhiger Behandlung geben, um die ich mich bemüht habe.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich bin der festen Überzeugung, daß dies ein Thema ist, das man nicht unter dem Gesichtspunkt der wechselseitigen Schuldvorwürfe behandeln sollte, sondern mit dem Ziel, zu Lösungen zu kommen und Handlungsverbesserungen einzuleiten. Deswegen sage ich auch nicht mit anklagender Stimme, daß die Bundesländer diese Aufgabe erst einmal zu bearbeiten haben — von der Analyse der Belastungen von Böden bis hin zu Sanierungsmaßnahmen.Ich kann nur festhalten, daß einzelne Bundesländer dies — auch gezielt — in Angriff genommen haben; denn wir wissen, daß die Altlasten dort sind, wo z. B. in der Nachbarschaft Industrieanlagen sind oder — wie gerade gesagt — Schlacken oder ähnliche Ab-
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Bundesminister Dr. Töpferfälle in die Packlage von Kinderspielplätzen und anderen Einrichtungen eingebaut worden sind. Man kann also gezielt nach solchen Belastungen suchen; man hat das getan. Man sollte dann diejenigen, die gezielt gesucht und auch etwas gefunden nicht dafür kritisieren, daß sie etwas gefunden haben. Dies ist der erste wichtige Punkt.Der zweite Punkt ist dieser: Wir müssen alles daransetzen, zu Sanierungen zu kommen. Es ist nun wirklich die Aufgabe der Kommunen, die Anlagen nicht nur zu schließen, sondern sie auch zu sanieren. Ferner müssen wir alles daransetzen, um durch aktuelles Handeln weitere Belastungen zu vermeiden. Das liegt entscheidend auch mit in unserer Verantwortung. Hier haben wir uns nun wirklich bemüht, Frau Abgeordnete Garbe, ein breites Programm zur Vermeidung von Dioxin in die Wege zu leiten, und wir haben es in wichtigen Punkten bereits abgeschlossen.In der Europäischen Gemeinschaft sind wir das einzige Land, das eine PCP-Verordnung hat, die Verbote enthält.
Wir haben bis zur Stunde Schwierigkeiten, dieses akzeptiert zu bekommen. In Europa liegt eine andere Verordnung auf dem Tisch. Wir haben Verbote nicht nur angekündigt, sondern auch durchgesetzt.Wir haben eine Verordnung für die Verbrennungsanlagen auf den Weg gebracht. Ich hoffe, daß sie heute — zeitgleich mit unserer Debatte — im Bundesrat akzeptiert worden ist.
Diese Verordnung schreibt einen Richtwert von 0,1 Nanogramm fest. Das ist ein Richtwert, im Hinblick auf den uns auch das Dioxin-Symposium in Karlsruhe, wo ich selbst gesprochen habe, bestätigt, daß dies ein Vorsorgewert ist, der keine Bedenken mehr auslöst. Ich habe den Wert dort genannt, und alle anwesenden Wissenschaftler haben ihn akzeptiert oder ihn zumindest nicht in Frage gestellt.
Wir haben uns drittens darum bemüht, die im Moment wichtigste Dioxinquelle zu stoppen, nämlich die sogenannten Additive, also die Beimischungen zum bleihaltigen Benzin. Diese Verordnung geht nächste Woche nach Brüssel. Sie ist fertig; sie muß dort nur ebenfalls — wie jeder weiß — notifiziert werden.Wir haben ein breites Programm, das an den Quellen ansetzt, von denen für die Menschen noch heute Belastungen durch Dioxine ausgehen können. Wir sind ganz sicher, daß wir damit in Europa an der Spitze stehen, und hoffen, daß uns andere auf diesem Weg folgen werden.Ich glaube, daß ein weiterer Teilbereich ebenfalls sinnvoll und richtig bearbeitet worden ist, nämlich Richtwerte festzulegen. Nun danke ich Ihnen, Frau Abgeordnete Garbe, zunächst einmal sehr herzlich für die positive Bewertung des Umweltbundesamtes. Damit es noch einmal deutlich wird: Das Umweltbundesamt ist nicht irgendeine Institution, sondern ist eine mir nachgeordnete Einrichtung.
Das heißt, das, was das Umweltbundesamt sagt, sagt der Bundesumweltminister — das muß man ganz klar sagen — , und er sagt das nicht geheim, er sagt das nicht irgendwo, sondern das wird sogar, meine Damen und Herren, veröffentlicht. Der Bericht über das Karlsruher Dioxin-Symposium ist im gemeinsamen UBA-BGA-Bericht vom 22. März 1990 veröffentlicht worden. Dort stehen die Werte — wir haben sie auch schon auf Kleine Anfragen hin mitgeteilt — : bis 5 ng/kg: uneingeschränkte landwirtschaftliche Nutzung; bis 40 ng/kg: eingeschränkte landwirtschaftliche Nutzung; ab 40 ng/kg: nur landwirtschaftliche Nutzung mit nachweislich minimalem Dioxintransfer; ab 100 ng/kg: Bodenaustausch auf Kinderspielplätzen, Kindergärten und eventuell auf Schulhöfen; ab 1 000 ng/kg — dieser Wert ist genannt worden — : gesamter Bodenaustausch.Uns zu sagen, wir hätten unsere Aufgabe nicht erfüllt, Richtwerte zu fixieren, ist schlicht und einfach nicht richtig. Daß wir sie nicht gesetzlich festlegen können, weiß auch jeder. Ich habe keine gesetzliche Grundlage, um Grenzwerte gesetzlich vorzuschreiben. Ich kann — zumindest bisher — nur Richtwerte im Sinne von Empfehlungen festlegen. Darüber nachzudenken, ob wir hier nicht eine gesetzliche Grundlage brauchen, um über die Dioxinwerte hinaus — —
— Wenn wir soweit sind, Herr Abgeordneter Schmidt, daß man hier nur noch sagen kann, was schon unstrittig ist, dann brauchen wir uns doch nicht mehr zu unterhalten. Ich bin doch gerade hierhergekommen, um nicht zu einer Polarisierung in der Diskussion beizutragen, sondern um zusammenzufassen. Ich finde es richtig, daß wir uns auf dem Gebiet Gedanken machen, ob wir in einer Entwicklung des Immissionsschutzgesetzes oder in einem Bodenschutzgesetz solches aufgreifen und entsprechend gesetzlich fixieren können.
Zusammengefaßt: Wir halten das für ein so ernstes Thema, daß es der vordergründigen Profilierung nicht zugeführt werden sollte. Wir wollen niemanden in den Ländern kritisieren, weil sie noch nicht so weit sind, wie wir es alle gerne hätten. Aber dann muß man auch zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesregierung das, was sie zu tun hatte, getan hat. Wir haben ein breites Handlungsprogamm gegen Dioxine. Wir haben ein klares Symposium mit weltweit beachtlichen Ergebnissen und dem zusammengefaßten Sachverstand gemacht. Wir haben Richtwerte veröffenlicht. Und wir werden dazu beitragen, dies in Handlungen vor Ort umzusetzen.Ich danke sehr herzlich.
Meine Damen und Herren, es liegen noch einige Wortmeldungen vor, aber mit
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 18009
Vizepräsident Westphaldem Vorschlag verbunden, daß die Reden zu Protokoll genommen werden sollen. Sind Sie mit einer solchen Abweichung von unserer Geschäftsordnung einverstanden? — Ich stelle das fest. *) Dann ist die Aktuelle Stunde beendet.Meine Damen und Herren, bevor ich diese Sitzung schließe, gestatten Sie mir ein kurzes Wort.Üblicherweise werden, wenn es Abschied zu nehmen gilt, eher Töne der Wehmut angeschlagen. Mit der heutigen, der letzten Plenarsitzung des 11. Deutschen Bundestages vor dem Vollzug der deutschen Einheit, nehmen wir hier Abschied von dem Parlament der Bundesrepublik Deutschland, wie wir es über 41 Jahre hin kannten: als Parlament des westlichen deutschen Teilstaates, allerdings auch als das einzige frei gewählte Parlament auf deutschem Boden nach der schlimmen Zeit der Diktatur.*) Anlage 2Aber bei allem Respekt vor der Leistung dieses Parlaments und derer, die ihm in dieser ganzen Zeit angehört haben: Dieser Abschied ist kein Anlaß zur Wehmut, sondern zur Freude, zur Freude darüber, daß mit der nächsten Plenarsitzung der Wunsch in Erfüllung geht, den Paul Löbe, der Alterspräsident des 1. Deutschen Bundestages und ehemaliger Präsident des Deutschen Reichstags, am 7. September 1949 bei der Eröffnungssitzung äußerte: daß bald die Vertreter des gesamten deutschen Volkes ihre Plätze in diesem Hause einnehmen können. Das wird nun folgen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 4. Oktober 1990, 10 Uhr nach Berlin ein.Die Sitzung ist geschlossen.