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    Plenarprotokoll 11/227 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 227. Sitzung Bonn, Freitag, den 21. September 1990 Inhalt: Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde und den Richtlinien für Aktuelle Stunden in der Sitzungswoche ab 1. Oktober 1990 17961A Erweiterung der Tagesordnung 17961 A Bekanntgabe der Entscheidung des Bundesrates zu dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands 18001 A Tagesordnungspunkt 10: a) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Laufs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie dem Abgeordneten Kleinert (Hannover), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Drucksache 11/7423) b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Sechsunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Drucksachen 11/10, 11/7905) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Umweltschutzes als Grundrecht und als Staatsziel (Drucksachen 11/663, 11/7905) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Sechsunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Einfügung eines Artikels 20 a) (Drucksachen 11/885, 11/7905, 11/7939) Eylmann CDU/CSU 17962A, 17968 C Stahl (Kempen) SPD 17963 D Kleinert (Hannover) FDP 17965 C Wiefelspütz SPD 17966 B Häfner GRÜNE 17966 C Dr. Knabe GRÜNE 17968 B Frau Unruh fraktionslos 17968 D Engelhard, Bundesminister BMJ 17969 A Häfner GRÜNE 17969 C Koschnick SPD 17970 B Bachmaier SPD 17970 D Dr. Laufs CDU/CSU 17972 A Wüppesahl fraktionslos 17973 A Zusatztagesordnungspunkt: Beratung des Antrags des Abgeordneten Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Bredehorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Intervention von Getreide ab sofort, spätestens ab 1. Oktober 1990 (Drucksache 11/7954) 17974 B Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Müntefering, Conradi, Großmann, Häuser, Menzel, Dr. Niese, Dr. Osswald, Reschke, Scherrer, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Wohnungsnot (Drucksache 11/7356) II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21 September 1990 b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Sofortprogramm für eine aktive Wohnungspolitik zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ökologische und soziale Offensive gegen Wohnungsnot (Drucksachen 11/4083, 11/4181, 11/7828) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Konzeption für einen neuen sozialen Mietwohnungsbau (Drucksache 11/7771) d) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öffnung des sozialen Wohnungsbaus für unverheiratete Paare, homosexuelle Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften (Drucksachen 11/1955, 11/6876) e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN: Menschenwürdige Zimmer für Kinder und Jugendliche (Drucksachen 11/2259 [neu], 11/7483) f) Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Dr.-Ing. Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Grünbeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Zur Städtebaupolitik (Drucksachen 11/4914, 11/6880) Müntefering SPD 17975 B Dr.-Ing. Kansy CDU/CSU 17978A Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 17981B, 17993B Dr. Hitschler FDP 17983 A Frau Hasselfeldt, Bundesminister BMBau 17985 A Müntefering SPD 17987 D Dr. Hitschler FDP 17988 B Jahn (Marburg) SPD 17988 D Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE . . . 17990 A Geis CDU/CSU 17990 C Jahn (Marburg) SPD . . . . 17991A, 17992 D Müntefering SPD 17992 A Gattermann FDP 17994 D Reschke SPD 17996 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE . . . 17997 D, 17998 C Dörflinger CDU/CSU 17999 B Reschke SPD 18000 B Conradi SPD 18001 A Gattermann FDP 18002 A Zusatztagesordnungspunkt 10: Aktuelle Stunde betr. Bodenverseuchung auf Kinderspielplätzen und Konsequenzen der Bundesregierung für die Festlegung von Dioxin-Grenzwerten Frau Garbe GRÜNE 18004 B Schmidbauer CDU/CSU 18005 A Schmidt (Salzgitter) SPD 18006 A Baum FDP 18007 A Töpfer, Bundesminister BMU 18007 D Nächste Sitzung 18009 C Berichtigung 18009 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 18011* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zum Zusatztagesordnungspunkt 10 (Aktuelle Stunde: Bodenverseuchung auf Kinderspielplätzen und Konsequenzen der Bundesregierung für die Festlegung von Dioxin-Grenzwerten) 18011* C Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 18014* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 17961 227. Sitzung Bonn, den 21. September 1990 Beginn: 9.01 Uhr
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    Berichtigung 226. Sitzung, Seite 17839A: In der vierten Zeile ist das Wort „nicht" zu streichen. Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 21. 09. 90 * Bahr SPD 21. 09. 90 Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 21. 09. 90 Frau Becker-Inglau SPD 21. 09. 90 Bindig SPD 21. 09. 90 Büchner (Speyer) SPD 21. 09. 90 * Catenhusen SPD 21. 09. 90 Clemens CDU/CSU 21. 09. 90 Cronenberg (Arnsberg) FDP 21. 09. 90 Dr. Daniels (Bonn) CDU/CSU 21. 09. 90 Daweke CDU/CSU 21. 09. 90 Dreßler SPD 21. 09. 90 Dr. Ehmke (Bonn) SPD 21. 09. 90 Erler SPD 21. 09. 90 Frau Faße SPD 21. 09. 90 Dr. Feldmann FDP 21. 09. 90 Frau Fuchs (Köln) SPD 21. 09. 90 Dr. Geißler CDU/CSU 21. 09. 90 Graf SPD 21. 09. 90 Grünbeck FDP 21. 09. 90 Dr. Häfele CDU/CSU 21. 09. 90 Dr. Hauchler SPD 21. 09. 90 Haungs CDU/CSU 21. 09. 90 Dr. Haussmann FDP 21. 09. 90 Hedrich CDU/CSU 21. 09. 90 Freiherr Heereman von Zuydtwyck CDU/CSU 21. 09. 90 Heinrich FDP 21. 09. 90 Dr. Hennig CDU/CSU 21. 09. 90 Hörster CDU/CSU 21. 09. 90 Graf Huyn CDU/CSU 21. 09. 90 Jaunich SPD 21. 09. 90 Jung (Düsseldorf) SPD 21. 09. 90 Jung (Lörrach) CDU/CSU 21. 09. 90 Jungmann (Wittmoldt) SPD 21. 09. 90 Kalisch CDU/CSU 21. 09. 90 Kastning SPD 21. 09. 90 Kolb CDU/CSU 21. 09. 90 Kolbow SPD 21. 09. 90 Dr. Graf Lambsdorff FDP 21. 09. 90 Dr. Lammert CDU/CSU 21. 09. 90 Leidinger SPD 21. 09. 90 Linsmeier CDU/CSU 21. 09. 90 Dr. Mechtersheimer GRÜNE 21. 09. 90 Mischnick FDP 21. 09. 90 Dr. Müller CDU/CSU 21. 09. 90 * Niggemeier SPD 21. 09. 90 Paintner FDP 21. 09. 90 Pfeifer CDU/CSU 21. 09. 90 Dr. Pfennig CDU/CSU 21. 09. 90 Rappe (Hildesheim) SPD 21. 09. 90 Rawe CDU/CSU 21. 09. 90 Reuschenbach SPD 21. 09. 90 Richter FDP 21. 09. 90 Dr. Riedl (München) CDU/CSU 21. 09. 90 Frau Rock GRÜNE 21. 09. 90 Schäfer (Mainz) FDP 21. 09. 90 Schäfer (Offenburg) SPD 21. 09. 90 Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Schreiner SPD 21. 09. 90 Schröer (Mülheim) SPD 21. 09. 90 Schulze (Berlin) CDU/CSU 21. 09. 90 Singer SPD 21. 09. 90 Stiegler SPD 21. 09. 90 Dr. Stoltenberg CDU/CSU 21. 09. 90 Timm FDP 21. 09. 90 Dr. Unland CDU/CSU 21. 09. 90 Dr. Vondran CDU/CSU 21. 09. 90 Wischnewski SPD 21. 09. 90 Frau Dr. Wisniewski CDU/CSU 21. 09. 90 Wissmann CDU/CSU 21. 09. 90 Würzbach CDU/CSU 21. 09. 90 Zierer CDU/CSU 21. 09. 90 * Dr. Zimmermann CDU/CSU 21. 09. 90 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zum Zusatztagesordnungspunkt 10 (Aktuelle Stunde: Bodenverseuchung auf Kinderspielplätzen und Konsequenzen der Bundesregierung für die Festlegung von Dioxin-Grenzwerten) Müller (Düsseldorf) (SPD): Das Thema der Aktuellen Stunde ist: „Wieviel Umwelt braucht der Mensch?" Denn neben erblicher Veranlagung und persönlichem Fehlverhalten verursachen vor allem Umweltbelastungen in einem wachsenden Ausmaß physische und psychische Schäden, die schleichend zunehmen. Für die Volksgesundheit spielen Umweltfaktoren heute eine vielleicht sogar entscheidende Rolle, unmittelbar oder durch sie zum Ausbruch gebracht bzw. verstärkt. „Alle Krankheiten", so der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem 87er Gutachten, „sind letzten Endes auf genetische Ursachen oder solche aus der Umwelt zurückzuführen, in der Regel aber tragen genetische u n d Umweltfaktoren zum Krankheitsgeschehen bei". Vereinfachend lassen sich die Umweltfaktoren in soziale und in chemisch-physikalische einteilen. Zu den sozialen Faktoren gehören z. B. persönliche Lebenssituation, berufliche Bedingungen, soziale Kontakte oder Kommunikationsmöglichkeiten. Zu den chemisch-physikalischen Einwirkungen zählen neben den jeweiligen natürlichen Lebensbedingungen die anthropogenen Umweltbelastungen wie die alltägliche Chemisierung, die Veränderungen in Zirkulation und Umsetzung der Nährstoffe, radioaktive Ionisation oder Lärm. Die personalen Veranlagungen und die allgemeinen Umweltbelastungen können durch eigenes Fehlverhalten, z. B. durch ungesunde Ernährung oder Zigarettenmißbrauch, weiter verstärkt werden. Mit dem Anwachsen des umwelttoxikologischen Potentials erwächst hieraus eine Normalität für die 18012* Deutscher Bundestag — 11.Wahiperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 Pathologie. Die Gesundheit ist von daher mit einem Wandel im Krankheitsgeschehen konfrontiert. Chronisch-degenerative Erkrankungen treten in den Vordergrund. Für diese Krankheiten läßt sich jedoch keine lineare Zurechenbarkeit durch eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen ermitteln. Es handelt sich um Komplexkrankheiten. Auf den Organismus, besonders bei den sogenannten Problemgruppen, wozu Kinder gehören, wirken eine Fülle verschiedenartiger, in der Schadenswirkung sich oft wechselseitig verstärkender Umweltnoxen ein, bis im Zusammenspiel mit z. B. sozialen Faktoren das Widerstandspotential des Körpers zusammenbricht. Vor diesem Hintergrund müssen die Gefahren von Dioxin für die Gesundheit gesehen werden. Zuerst werden die Grenzzonen zwischen Außenwelt und innerem Organismus geschädigt. Dies zeigt sich vor allem an dem Anstieg der Allergien und Immundefekte, die von Umweltnoxen verursacht werden. Langfristig erscheint es wahrscheinlich, daß kleinere chronische Schäden mehr Unheil anrichten als akute Vergiftungen. Die Wirkungen können autoaggressiv sein. Die komplizierte Funktionsweise des Immunsystems wird geschwächt. Mit der Verschlechterung des regulativen Körpersystems nehmen Krankheiten zu, können sich möglicherweise selbst negativ verstärken. Notwendig sind Umwelt- u n d Sozialreformen. Wichtige Handlungsfelder sind beispielsweise — umwelt- und gesundheitsverträgliche Chemiepolitik. Hier hat die Bundesregierung auch bei der Novellierung des Chemikaliengesetzes aus unserer Sicht versagt; — umweltmedizinische Wirkungsforschung; — Aufstellung von Umweltparametern. Es muß Schluß sein, die Dioxin-Probleme zu verkleistern. Dazu gehört auch das unwürdige Gerangel um Grenzwerte für Dioxine und Furane. Wo immer es geht, brauchen wir Verbote. Frau Garbe, Sie haben Kritik an NRW geäußert. Ich will dazu nur eine Bemerkung machen: Ohne die systematischen Untersuchungen in NRW und Hamburg wäre das Thema weiter nur spekulativ geblieben. Sie wissen auch, daß nur diese beiden Bundesländer sich des Problems „Schadstoffe auf Kinderspielplätzen" konkret angenommen haben. Und NRW ist das einzige Land, das klare Richtlinien und Empfehlungen für Kinderspielplätze herausgegeben hat. Harries (CDU/CSU): Die Medien haben sich des Themas bereits angenommen. Bekannte Fernsehsendungen und bekannte Illustrierte und Wochenblätter haben dramatisch berichtet, daß Kinderspielplätze mit Dioxin belastet seien. Die Gesundheit unserer Kinder sei gefährdet. Zudem wurde der Eindruck in diesen Berichten vermittelt, daß Behörden noch nicht oder nt r unvollkommen tätig geworden seien und die Gefahren nicht erkannt hätten. Obwohl bei uns die Fähigkeit ausgeprägt ist, Gefahren nicht immer realistisch einzuschätzen und zu übertreiben, sage ich hier ausdrücklich, daß Handlungsbedarf besteht, daß Länder, die in erster Linie zuständig sind, bereits auf diesem sehr schwierigen Gebiet tätig geworden sind. Schwierigkeiten liegen z. B. in der aufwendigen und zeitraubenden Analyse und im Festsetzen eines realistischen Grenzwertes. Wie ist der Sachverhalt? In Hamburg sind auf einem Kinderspielplatz Dioxinbelastungen im Boden von weit über 1 000 ng/kg toxische Äquivalente gemessen worden. Im nachhinein wurden weitere Spielplätze aus dem gleichen Grunde gesperrt. Untersuchungen wurden eingeleitet. Das Ergebnis liegt der Hansestadt im Prinzip vor. Die Analyse spricht eindeutig dafür, daß verunreinigte Baumaterialien für die Belastung des Bodens mit Dioxin ursächlich gewesen sind. Vor Jahren sind Flugasche und Filterstäube zur Befestigung im Kinderspielplatzbereich mit eingebaut worden. Man ist sich in Hamburg einig, daß bei vorhandenen hohen Belastungen die Spielplätze saniert werden müssen. Offenbar liegt aber zum Glück nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von gemeldeten kontaminierten Spielplätzen vor, da öffentliche Spielplatzanlagen in der Regel alle fünf bis sieben Jahre eine neue Deckschicht erhalten. Auch das Land Nordrhein-Westfalen hat kontaminierte Bodenbeläge bei Kinderspielplätzen festgestellt. Das Land hat toxische Untersuchungen eingeleitet. Kinderspielplätze wurden geschlossen. Umfangreiche Untersuchungen sind auch in NRW im Gange. Wenn ich die Untersuchungsberichte richtig werte, kann zur Zeit nicht gesagt werden, daß Gesundheitsgefährdungen konkret bereits eingetreten sind. Aber die Untersuchungen auf toxische Belastungen haben auf jeden Fall gezeigt, daß in Einzelfällen eine mögliche Gesundheitsgefährdung spielender Kinder nicht ausgeschlossen werden kann. Von daher gilt, was ich eingangs sagte: Es besteht Handlungsbedarf. Der Ruf nach einem Tätigwerden des Bundes ist unüberhörbar geworden. Man erwartet die Festsetzung von Richtwerten für Dioxin-Grenzwerte. Wir begrüßen es ausdrücklich, daß der Bundesumweltminister und Bundesbehörden hier längst tätig geworden sind, um generell für das Bundesgebiet zu Aussagen zu kommen. Bundesgesundheitsamt, Bundesumweltamt und Umweltministerium stehen in engem Kontakt. Ich erinnere an das Dioxin-Symposium in Karlsruhe zu Beginn dieses Jahres. Bedauerlich war, daß Abgeordnete des Umweltausschusses nicht die Möglichkeit hatten, an diesem Symposium teilzunehmen. Eine frühe Information wäre dadurch ermöglicht worden. Wir gehen davon aus, daß wir regelmäßig und umfassend über den Fortgang der Überlegungen im Bundesumweltministerium informiert werden. Die Schwierigkeit der Grundsatzarbeit ist mir bewußt. Eltern müssen beruhigt und Kinder vor Verstrahlungs- und Vergiftungsmöglichkeiten geschützt werden. Den Betreibern von Kindergärten müssen klare Anweisungen gegeben werden. Zu überlegen ist, ob die derzeitig bestehenden gesetzlichen Grundlagen für die Festsetzung von Grenzwerten ausreichen. Ich fasse zusammen: Es besteht erstens Handlungsbedarf, es besteht aber zweitens kein Anlaß zur Panik. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. September 1990 18013* Frau Dr. Götte (SPD): Die Untersuchung eines Hamburger Wissenschaftlers, über die in einer Illustrierten kürzlich berichtet wurde, ist Anlaß, aber nicht Thema dieser Aktuellen Stunde. Wir brauchen uns deshalb auch gar nicht herumzustreiten, ob die Methoden stimmig, die Grenzwerte zu hoch oder die Stichprobe richtig ausgewählt sind. Tatsache ist, daß Kinder in unserer Zeit in unverantwortlich hohem Maß mit Umweltgiften traktiert werden. Das beweisen die steigenden Zahlen der krebskranken Kinder. Das beweisen vor allem auch die unerträglich hohen Zahlen der allergiekranken Kinder. Nachdem dieses Problem von der Bundesregierung viele Jahre verharmlost wurde, hat sie jetzt bekanntgegeben, daß inzwischen jedes vierte Kind davon betroffen ist. Manche versuchen, sich aus der Beklemmung, die diese Zahlen auslösen, dadurch zu befreien, daß sie sich einreden, der gigantische Anstieg der Allergieerkrankungen käme daher, daß heutzutage (ich zitiere aus einer Podiumsdiskussion) „wegen jedem Pickelchen zum Arzt gerannt wird" . Nein, hier geht es um mehr, um Asthma, schlimme Hautausschläge, schwere Erkrankungen der Atemwege bis hin zum tödlichen Pseudo-Krupp. Die Bundesrepublik, so lautete letzte Woche eine Schlagzeile in der „Zeit", sei flächendeckend dioxin-verseucht. Und dieses Gift wird flächendeckend ergänzt durch Arsen, Asbest, Benzol, Blei, Cadmium, Kupfer, PCB, Quecksilber, Zink und andere gefährliche Stoffe. Das beginnt bei der Muttermilch und setzt sich fort in Belastungen des Bodens und der Luft, in Spielplätzen, Klassenzimmern, Kinderzimmern. Im Vergleich zur Umweltvergiftung in der DDR sei das, was bei uns los ist, aber noch harmlos, höre ich. Angesichts dieser Tatsache kann ich nicht begreifen, daß wir noch nicht einmal ein Tausendstel dessen, was wir zur Abwendung militärischer Bedrohung ausgeben, zur Abwendung der gesundheitlichen Gefährdung der Kinder ausgeben. Ein Umdenken ist überfällig! Was wir brauchen, ist ein Radikalprogramm zum Umweltschutz. Aber wie schwer die Mehrheit innerhalb und außerhalb des Bundestages für konkrete, einschneidende Maßnahmen zu gewinnen ist, erleben wir gerade jetzt schmerzhaft im Bundestagswahlkampf. Frau Garbe (GRÜNE): Die GRÜNEN im Bundestag verlangen seit Jahr und Tag ein integriertes Maßnahmenbündel gegen die Dioxingefahr. Dioxine sind erst mit dem Herstellen von Chlorchemikalien zu einer Umweltgefahr geworden. Mit einer Jahresproduktion von 5 Millionen Tonnen nehmen sie heute eine zentrale Rolle unter den Industriechemikalien der Bundesrepublik ein. Unsere Grundforderung besteht daher in einem Umbau der Chlorchemie zu einer umweltfreundlichen sanften Chemie. Durch den politischen Druck der GRÜNEN sind bereits die größten Dioxinfabriken stillgelegt worden. Jetzt gilt unser Hauptaugenmerk dem PVC. Wir haben aufgezeigt, daß es in vielen Bereichen ersetzt werden kann. Zur unmittelbaren Entlastung der Umwelt fordern wir: — Eine Null-Emission für alle Anreicherungsgifte aus Industriebetrieben; — verschärfte Anforderungen in der TA-Luft; — Verschärfung der Vorschriften in der Gefahrstoffund Störfallverordnung: Aufnahme aller Stoffe, die mit Dioxinen verwandt sind und einen ähnlichen biologischen Wirkungsmechanismus aufweisen; — Aufnahme von Bodengrenzwerten in ein Bodenschutzgesetz mit Sanierungsvorschriften; — ein umfassendes Dioxin-Monitoring-Programm in allen Bundesländern. Wir bemühen in diesen Tagen oft unser Grundgesetz und preisen es der DDR-Bevölkerung an. In Art. 2 Abs. 2 Satz 1 dieses Grundgesetzes wird uns das Recht auf körperliche Unversehrtheit garantiert. Wir werden im Wahlkampf sehr deutlich machen, daß die Garantie auf körperliche Unversehrtheit durch willfähriges Beugen vor Lobbyisten abgelaufen ist. Reimann (SPD): Wieder einmal ist eines der Reizworte Dioxin, ein Gefahrstoff von 100 000, in der Diskussion. Obwohl die Wissenschaft immer noch nicht weiß, wie dieses Gift im Körper eigentlich wirkt und welche Reaktionen es auslöst, hat sich eines doch als sicher herausgestellt: Dioxin löst Krebs aus. Unklar ist bis heute, welche Mengen dafür nötig sind, ob bloße Spuren im menschlichen Körper bereits diese tödliche Krankheit hervorrufen oder ob dieser Stoff lediglich die Krebsentwicklung im Körper fördert. Diese Unklarheit verdeutlicht erneut, welche Bedeutung dem Thema „arbeitsbedingte Gesundheitsgefährdungen" im Rahmen der bisherigen Forschung zur Humanisierung der Arbeitswelt zukommen kann (Latenzzeit). Dioxin ist ein Stoff, der im Bereich der Arbeitsmedizin bereits seit langem für unrühmliche Schlagzeilen gesorgt hat. Die Wissenschaft hat sich damit schwergetan, seine Gefährlichkeit für die Menschen anzuerkennen. Grund dafür ist, daß eine damit zusammenhängende Krankheit nicht wenige Tage oder Wochen nach einer Berührung mit dem Gift ausbricht, sondern daß es dazu erst nach vielen Jahren kommen kann. Besonders problematisch ist es mit den Stoffen, die den Bereich eines Betriebes erst einmal verlassen haben. Sie belasten als Abfall die Umwelt eben auf Kinderspielplätzen usw., auch wenn wir durch Recycling versuchen, dieses Problem jetzt zu lösen. Es muß überlegt werden, die Beweislast dahin gehend zu verändern, daß ein Material so lange gefährlich ist, bis das Umgekehrte bewiesen ist. So lange darf es nicht eingesetzt werden. Es darf doch nicht sein, daß die Wissenschaft alles erfinden und die Industrie alles vermarkten darf, die Bürger aber alles bezahlen müssen. Bezahlen heißt in diesem Fall auch, mit gesundheitlichen Belastungen leben zu müssen. Hätten wir diese Beweislastumkehr bereits eingeführt, dann wären die Spielplätze jetzt nicht von einer erhöhten Dioxinbelastung betroffen. Dann hätten wir keine Asbest verseuchten Turnhallen. Kinder sind besonders gefährdet, da ihr kleiner Körper besonders unter den Umweltbelastungen leidet (Atemwegser- 18014* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 227. Sitzung, Bonn, Freitag, den 21. September 1990 krankungen hab en zugenommen, die Bleikonzentration ebenfalls). Weil auch bei besten Schutzmaßnahmen im Arbeitsleben eine gewisse gesundheitliche Gefährdung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bestehen zu bleiben scheint (Restrisiko), ist wichtig, daß die jungen Arbeitnehmer nicht schon in jungen Jahren einen mit Schadstoffen belasteten Körper haben, der sie früher als nötig krank machen kann. (Immerhin bricht heute schon eine große Anzahl von Azubis ihre Lehre aus gesundheitlichen Gründen ab, weil ihre Körper so sensibilisiert sind, daß sie bei einem weiteren Umgang mit diesen Arbeitsstoffen zur frühen Berufsunfähigkeit verurteilt wären.) Um diese Gefahr einzuschränken, muß die stoffliche Vorbelastung im Blut, in den Knochen und im Gewebe so gering wie möglich sein. Aber auch noch ein anderer Aspekt spielt eine Rolle. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die gezwungen sind, zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes mit gefährlichen Stoffen umzugehen, weil unsere Industriegesellschaft ansonsten nicht funktioniert, diese Menschen wollen zumindest, daß ihre Familien zu Hause vor den Einwirkungen dieser Gefahrstoffe geschützt sind. Deshalb gilt, neben dem Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb mehr denn je die Frage: Wie schütze ich Menschen außerhalb der Produktion? Können unsere Aufsichtsbehörden überhaupt Schritt halten mit dem Aufgabenzuwachs der letzten Jahre, Gesetzesüberwachung usw., hier vorrangig in den Gemeinden? Läßt deren personelle Ausstattung auch in Hinsicht der sachlich-fachlichen Kompetenzen überhaupt zu, daß verantwortungsvoll überwacht wird? Können durch Messungen vor Ort, die Festlegung gemeinsam verpflichtender Werte und den Vollzug von Maßnahmen, Kinder und Erwachsene geschützt werden? Hier gilt die Vorsorge des Staates. Hier müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Es heißt immer, wir haben genug Geld. Na bitte, dann laßt uns handeln! Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Die Fraktion DIE GRÜNEN hat mit Schreiben vom 11. September 1990 ihren Antrag Verkürzung des Grundwehrdienstes und des Zivildienstes auf 12 Monate — Drucksache 11/6243 — zurückgezogen. Damit ist die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/7312 gegenstandslos geworden. Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Haushaltsauschuß Drucksache 11/7629 Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 11/5793 Drucksache 11/7374 Der Vorsitzende des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit hat mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen bzw. von einer Beratung abgesehen hat: Drucksache 11/6738 Nr. 2.10 Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat mit Schreiben vom 19. September 1990 gem. § 30 Absatz 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 den Wirtschaftsplan nebst Stellenplan der Deutschen Bundesbahn für das Geschäftsjahr 1990 einschließlich Anlagen mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Der Bundesminister für Verkehr hat den Wirtschaftsplan und den Stellenplan zum Wirtschaftsplan 1990 im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen genehmigt. Die Unterlagen liegen im Parlamentsarchiv zur Einsichtnahme aus.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Franz Müntefering


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hätten eine namentliche Abstimmung ankündigen sollen, dann hätten wir jetzt ein paar Leute mehr im Saal. Es ist wichtig, daß wir uns heute morgen die Zeit nehmen, in Ausführlichkeit über die wohnungspolitische Situation in der Bundesrepublik Deutschland zu sprechen.
    Die Koalition hat sich in dieser Woche nun endgültig wohnungspolitisch blamiert. Sie hat nach vielen Anläufen und vielen Ankündigungen sich in dieser Woche mal wieder nicht einigen können und ist ohne ein klares wohnungspolitisches Ziel auseinandergelaufen. Der Kanzler hat nicht gekämpft, die Frau Ministerin ist mit ihren Vorschlägen gescheitert. Es sind viele Scherben entstanden; diese Scherben werden der Union und auch der CSU zur Bayernwahl kein Glück bringen.
    Trotzdem sagen wir Sozialdemokraten: Zur Schadenfreude ist absolut kein Anlaß. Während 1 Million, wahrscheinlich aber sehr viel mehr Menschen eine Wohnung suchen, während viele Mieter Angst haben, die Miete bald nicht mehr bezahlen zu können, während Mieter verdrängt werden, während immer mehr Menschen obdachlos sind, kann sich diese Koalition nicht auf eine Wohnungspolitik einigen, die diesen Dingen gerecht wird. Kohl, Lambsdorff und Waigel verlieren sich in kleinlichem Gezänk. Die Herren haben offensichtlich kein Interesse, oder sie nehmen sich keine Zeit für die Not der Menschen, die eine Wohnung brauchen, die eine Wohnung suchen, die keine Wohnung haben.
    Der Kanzler hat die Wohnungspolitik vor Monaten zur Chefsache erklärt, aber er ist in dieser Sache unsichtbar geblieben.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Von diesem Kanzler und seiner Regierung haben die Wohnungssuchenden, diejenigen, die in Wohnungsnot sind, und die Mieter in unserem Lande ganz sicher nichts Gutes zu erwarten.
    Frau Hasselfeldt und die CSU verweisen nun auf die unwillige FDP, die nun an allem schuld sein soll. Wir Sozialdemokraten haben weiß Gott keinen Grund, die Wohnungspolitik der FDP zu loben, aber wenn Herr Kohl und Herr Waigel, wenn die CDU und die CSU wirklich kämpfen würden, dann würde sich an der Stelle auch etwas bewegen, aber sie haben nicht gekämpft. Daß der Schwanz mit dem Hund wackelt, ist doch etwas Neues. Deshalb sagen wir: Die Verantwortung liegt bei Kohl und bei Waigel; sie liegt bei der CDU/CSU, die an dieser Stelle nicht gekämpft hat.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Teubner [GRÜNE])

    Das Verhalten der Bundesregierung in diesen Tagen steht allerdings in Übereinstimmung mit ihrer Wohnungspolitik in den Jahren seit 1982/83. Seit Ihrer Regierungsübernahme heißt die Parole: Nieder mit dem sozialen Wohnungsbau, der Markt wird es richten. — Das Mietrecht wurde geschleift, die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wurde minimiert. Die Wohnungsgemeinnützigkeit wurde abgeschafft. Der soziale Mietwohnungsbau wurde überhaupt nicht mehr gefördert; die Wohnungsprobleme wurden schlichtweg für erledigt erklärt. Kanzler Kohl und Bauminister Schneider stehen für eine mißratene Wohnungspolitik, die die soziale Aufgabe, die dabei zu lösen ist, nicht aufgenommen und nicht akzeptiert hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Frau Hasselfeldt weiß es besser, aber sie macht es nicht besser. Sie wendet das Blatt nicht. Sonntags den Forderungen der Sozialdemokraten zustimmen, Frau Ministerin, und alltags im alten Trott weitermachen, das löst die Probleme nicht.
    Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Einheit wird die Wohnungsprobleme zunächst einmal nicht erträglicher machen, sondern sie eher verschärfen. Das gilt für die Finanzierungsprobleme, das gilt für die Kapazitätsprobleme. Statt hier aber nun aufs Gaspedal zu treten und die Chancen zu nutzen, die in der DDR, in den neuen Bundesländern, bestehen, um im Bereich Instandsetzung und Modernisierung und Neubau standortgebunden Arbeitsplätze zu schaffen und die Wohnungsnot der Menschen zu beheben, hat die Bundesregierung das Jahr 1990 untätig verstreichen lassen. Sie hat die Chancen verpaßt, die es in der DDR gegeben hat, im Bereich des Hoch- und Tiefbaus Arbeitsplätze zu schaffen und einen Teil der Wohnungsnot abzubauen, die es auch dort gibt.
    Es ist ja absurd, wenn wir in diesen Tagen hören, daß Baufirmen, Handwerksbetriebe in der DDR, die mit viel Engagement gegründet worden sind, inzwischen schon wieder schließen müssen, weil sie keine Aufträge bekommen. Wer die Situation in der DDR kennt, der weiß, daß der Bedarf an Instandsetzung,



    Müntefering
    Modernisierung und Umbau zum Himmel schreit. Es ist unglaublich, gleichzeitig erfahren zu müssen, daß keine Arbeit vorhanden ist, weil Handwerksbetriebe, die erst vor kurzem gegründet worden sind, wieder eingehen, da sie keine Aufträge bekommen.
    Meine Frage an den Bundeswirtschaftsminister ist — er ist jetzt nicht hier, aber wann ist er auch schon einmal hier? — : Was hat denn der Bundeswirtschaftsminister, der sonntags so viel über Mittelstand redet und der immer nur appelliert, in den vergangenen Monaten eigentlich getan? Er hat nichts getan, um diese Probleme zu lösen. Das ist eines der schwersten Versäumnisse der Bundesregierung im Prozeß der deutschen Einheit im Jahre 1990.

    (Beifall bei der SPD)

    Aber die Sache ist ja noch schlimmer. In diesen Tagen wird ja deutlich, daß sich auch nach dem 3. Oktober nichts ändern wird. Die Bundesregierung teilt mit, nach dem 3. Oktober werde nichts Neues passieren; alles habe Zeit bis zum nächsten, bis zum übernächsten Jahr. Selbst wenn man im Augenblick noch kein fertiges Konzept für die Wohnungspolitik in den neuen Bundesländern hätte — das wäre ja wohl verständlich —, dann gäbe es doch konkrete Aufgaben, die in Angriff genommen werden müßten.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Ich nenne z. B. ein wirkungsvolles Programm zur Förderung von Investitonen im Bereich Instandsetzung und Modernisierung. Zinshilfen in Höhe von 3 % sind an dieser Stelle keine Lösung.
    Ich nenne weiter ein Programm „Eigene Wohnung", mit dem diejenigen, die ihr privates Geld aufwenden, um ihre Wohnung oder die Mietwohnung instandzusetzen, zu modernisieren, neuzubauen, umzubauen, gefördert werden. Das wäre ein Anreiz für solche Vorhaben. Es ist sinnvoller, dafür Geld auszugeben, als es für Gebrauchtwagen auszugeben, die aus dem Westen dorthin transportiert werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Damit würden viele Probleme auf einmal gelöst.
    Oder nehmen wir ein Energiesparprogramm: Wir wissen doch, wie mit Energie geaast wird, aber keiner redet darüber, wie zwar mit kleinen Ansätzen, aber doch energisch darangegangen werden könnte, da sehr schnell Impulse zu geben und dafür zu sorgen, daß sich die Dinge bewegen.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ganze Verhalten der Bundesregierung in Sachen Wohnungsbau, Mieten, Städtebau in bezug auf die DDR, auf die neuen ostdeutschen Länder, zeigt nur, einen wie geringen Stellenwert dieser Politikbereich bei dieser Bundesregierung hat.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Trotz der Sorgen, die wir in bezug auf diese Bundesländer haben, bleibt es auch nötig, hier in der bisherigen Bundesrepublik, in unseren Bundesländern, eine neue Wohnungspolitik, eine sozial orientierte Wohnungspolitik zu betreiben.
    Die Pleite des Systems Honecker ist keine Rechtfertigung für die Wohnungsnot bei uns. Jeder, der meint,
    er könne das, was dort noch schlimmer ist, zum Anlaß nehmen zu sagen, dann bräuchten wir bei uns nicht viel zu tun, der irrt sich sehr.

    (Dr. Möller [CDU/CSU]: Wer sagt das denn?)

    Die Wohnungsnot bei uns im Lande nimmt zu, und wir müssen handeln. Deshalb haben wir Sozialdemokraten einen Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt, in dem wir zusammen mit dem Bundesrat wollen, daß noch dieser Deutsche Bundestag Beschlüsse faßt, die den Menschen helfen und zwei Dinge im Auge haben: erstens den Neubau verstärken und zweitens die soziale Funktion des Bestandes sichern.

    (Beifall bei der SPD)

    Uns geht es um Neubau als Mietwohnungsbau und als Eigenheimbau, Neubau als ungebundenen, sogenannten frei finanzierten Wohnungsbau und als sozialen Wohnungsbau, aber z. B. auch um Neubau als Arbeitgeberwohnungsbau. Wir geben den Unternehmen auf, daß sie für ihre Arbeitnehmer Parkplätze ausweisen. Wir sollten sie auch ermutigen — vielleicht ein bißchen mehr — , für ihre Arbeitnehmer auch Wohnungen zu besorgen,

    (Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

    mitzufinanzieren und zu helfen, daß sich die Dinge da bewegen. Wir haben in unserem Antrag Vorschläge, die auch an dieser Stelle hilfreich sein können. Wer sich in der Wohnungspolitik auf eine Fördermethode kapriziert, der irrt sich. Das ist der Fehler, den diese Bundesregierung, den die Koalition von Anfang an gemacht hat.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Den Sie machen, Herr Müntefering!)

    Wir haben in der Bundesrepublik faktisch einen gespaltenen Wohnungsmarkt. Wir haben einen großen Teil ungebunden, sogenannten frei finanzierten Wohnungsbau, und wir haben einen kleineren Teil, den sozialen Wohnungsbau, dessen Anteil immer kleiner wird. Heute sind noch ungefähr 18 % der Wohnungen in der Bundesrepublik Wohnungen, die gebunden sind, die Sozialwohnungen sind. Wer davon redet, die Sozialdemokraten seien immer nur dabei, sozialen Wohnungsbau zu machen, den will ich an das erinnern, was in unserem Gesetzentwurf steht. Wir wollen 350 000 bis 400 000 Wohnungen in jedem Jahr haben; die brauchen wir, um überhaupt einen Ausgleich zu schaffen. Damit wird der Berg noch gar nicht abgebaut. Von diesen 350 000 bis 400 000 Wohnungen, so sagen wir, müssen 100 000 bis 120 000 Sozialwohnungen sein.

    (Dr. Müller [CDU/CSU]: Das werden wir ja auch machen!)

    — Ich meine Sozialwohnungen mit langfristigen Bindungen; darauf komme ich gleich noch. Was Sie da an Überschriften für ganz andere Dinge wählen, ist ja etwas Falsches.
    Wir wissen, daß wir beides brauchen: den frei finanzierten, ungebundenen und den sozialen Wohnungsbau. Aber Ihr Problem ist, daß Sie einseitig darangegangen sind, den sozialen Wohnungsbau kleinzumachen und nur noch zu versuchen, den Weg über den



    Müntefering
    Markt zu gehen. Aber der Markt ist nun einmal, wie er ist. Er macht genau das, was wir immer gesagt haben. Wer in der Bundesrepublik Deutschland für einen Quadratmeter Wohnung 15 DM, 20 DM oder 30 DM im Monat zahlen kann, der bekommt natürlich auch seine Wohnung; sie wird schnell für ihn gebaut. Das ist der ungebundene freie Markt; er funktioniert. Wer aber nur 5 DM oder 6 DM zahlen kann und wer bei 10 DM passen muß, weil da das Wohngeld auch nicht mehr greift, der bekommt in der Bundesrepublik auf dem freien Wohnungsmarkt keine Wohnung.

    (Conradi [SPD]: So ist es!)

    Deshalb müssen wir Wohnungen bauen, die stärker gefördert sind und die für Menschen innerhalb bestimmter Einkommensgrenzen gebunden sind. Es geht um langfristige Bindungen, nicht um drei, fünf oder sieben Jahre. Die Wohnungen müssen langfristig zur Lösung dieser Probleme zur Verfügung stehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wer das jetzt verpaßt, muß wissen, daß bis Mitte der 90er Jahre die Hälfte der Sozialwohnungen, die es heute noch gibt, aus den Bindungen herausfallen werden. Das heißt, wir werden dann einen Bindungsbestand von vielleicht 9 oder 10 % haben. Damit schieben wir alle die Kommunen vor dieses Problem; denn die stehen ja vor der Frage, was sie mit den Menschen machen sollen, die zu ihnen kommen und eine Sozialwohnung brauchen, weil sie keine andere am Markt bekommen. Die Kommunen sollen dann in diesen 9 oder 10 % Sozialwohnungen, die es dann noch geben wird, alle Problemfälle, die es gibt, unterbekommen. Das ist auch für die Sozialstruktur solcher Wohngebiete überhaupt nicht gut. Deshalb ist es so zwingend, daß ein stärkerer Impuls für den Bau von Sozialwohnungen, insbesondere von Sozialmietwohnungen gegeben wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir fordern aber nicht nur Mietwohnungen, sondern auch gefördertes selbstgenutztes Wohneigentum und schlagen dazu vor, von der heutigen Förderung — § 10e des Einkommensteuergesetzes; die Freibetragsregelung mit all ihren sozialen Ungerechtigkeiten und mit ihrer Unfähigkeit, an der entscheidenden Stelle die unteren Einkommensgruppen auch zu erreichen und ihnen den Bau möglich zu machen — auf den Abzug von der Steuerschuld umzustellen, verbunden mit einem entsprechenden Baukindergeld.
    Diese Bundesregierung hat immer gerne über Wohneigentum geredet. Sie hat es aber jämmerlich im Stich gelassen, jetzt wieder durch die Zinstreiberei, die betrieben wird.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: „Zinstreiberei "?)

    Wer heute bauen will und 150 000 Fremdkapital braucht, der bezahlt pro Monat 400 DM mehr für Zinsen und Finanzierungskosten als noch vor zwei oder drei Jahren. Diese Zinstreiberei lassen Sie zu; Sie
    machen auch gar nichts dagegen. Das verharmlosen Sie; da gehen Sie beiseite. Der Bundeswirtschaftsminister sagt sogar, das sei ja alles gar nicht so schlimm.
    Nun kündigen Sie noch an, die deutsche Einheit solle ganz überwiegend durch Schuldenmacherei finanziert werden. Für jemanden, der weiß, was das für den sozialen Wohnungsbau und für die Mieten, worauf es ja inzwischen ebenfalls durchschlägt, für den Eigenheimbau und für diejenigen, die heute schon nicht mehr, in ihren Eigenheimen sitzend, ihre Verpflichtungen erfüllen können und die vor Zwangsversteigerungen stehen, bedeutet, ist diese Art der Schuldenmacherei, die sich jetzt andeutet, noch einmal eine ganz böse Perspektive wohnungspolitischer Art.
    Aus diesem Grunde muß alles getan werden, damit die Zinsen herunter- und nicht weiter heraufgehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir haben in unserem Gesetzentwurf Vorschläge, wie wir denn diesen Bereich der Hochzinsphase überbrücken wollen.
    Wir haben in unserem Gesetzentwurf zur Sicherung der sozialen Funktion des Bestandes unter Punkt 2 ausführliche Vorschläge zum Bereich des Mieterschutzes. Dies wird hier gleich noch breiter erläutert werden.
    Der Schutz der Mieter vor spekulativem Umgang mit Wohnungen, z. B. durch Umwandlungsdruck, der Schutz der Mieter vor ungerechtfertigten Eigenbedarfskündigungen und der Schutz der Mieter vor exorbitanten Mieterhöhungen ist auch und gerade in dieser Situation der Wohnungsnot erforderlich. Wer da sagt, wir müssen es hinnehmen, daß es viele bzw. immer mehr Menschen bei uns gibt, die keine Wohnung haben, die Angst haben und keine Chance haben, der ist in der Tat sozial kalt.

    (Dr. Hitschler [FDP]: Das sagen Sie?)

    Ich nehme das auf, was von anderer Seite in Ihre Richtung gesagt worden ist. Ich finde es schlimm, daß die FDP und Teile der CDU offensichtlich nicht bereit sind, sich an dieser Stelle wirklich für die Menschen, die in bitterer Not sind, einzusetzen. Die Wahrheit ist: In diesem Augenblick läuft im Unterdeck in der dritten Klasse das Wasser ein.

    (Dr. Hitschler [FDP]: Sie sind ein Scharlatan!)

    Da muß gepumpt werden, und da muß das Leck dicht gemacht werden; da kann man nicht sagen: Wir brauchen das Geld für irgend etwas anderes. Denen, die keine andere Chance haben, muß geholfen werden. Deshalb sagen wir, im Mieterschutz muß etwas passieren.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Bekämpfung der Wohnungsnot, liebe Kolleginnen und Kollegen verträgt keinen Aufschub. Dieser Bundestag muß noch im Oktober Entscheidungen treffen. Die Sozialdemokraten sind bereit, im Ausschuß nötigenfalls auch über Sondersitzungen zu erreichen, daß wir in den letzten Oktobertagen an dieser Stelle in Verbindung mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates über die Dinge entscheiden, die zum Neubau



    Müntefering
    und zum Mieterschutz aufgeschrieben und von uns vorgeschlagen sind. Wir sind zu Kompromissen bereit, wenn das, was da aufgeschrieben wird, keine Farce ist.
    Jeder in diesem Haus, der für die Mieter Gutes will, der den Neubau will und der die Wohnungspolitik voranbringen und sozial orientieren will, der soll wissen: Er kann in diesem Haus zusammen mit den Sozialdemokraten eine Mehrheit bekommen. Es liegt an Ihnen, ob Sie bereit sind, sich in dieser Sache wirklich zu bewegen. Wir sind dazu bereit.

    (Beifall bei der SPD)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Kansy.

(Conradi [SPD]: Zu beneiden sind Sie nicht, Herr Kansy!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr.-Ing. Dietmar Kansy


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man ist wirklich nicht zu beneiden, Herr Conradi, wenn man zu Ihnen sprechen muß und kann.
    Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fragen der Wohnungs- und Städtebaupolitik — wir haben heute nicht nur eine Wohnungsbaudebatte — stehen wieder auf der Tagesordnung — Herr Müntefering, das ist richtig — , und zwar nicht nur hier bei uns im Plenum des Deutschen Bundestages, sondern generell. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge erinnere ich mich daran, daß wir hier noch vor wenigen Jahren mit allen Ministerpräsidenten, einschließlich der SPD-Ministerpräsidenten, die unbedingt das Wohnungsbauministerium in Bonn auflösen wollten, weil angeblich nichts mehr im Wohnungsbau zu tun war, gerungen haben. Auch das gehört zur Wahrheit.

    (Jahn [Marburg] [SPD]: Es war ja nichts mehr wert! — Reschke [SPD]: Sie haben ja selbst den Minister weggejagt! Sie haben doch den Minister in die Wüste geschickt!)

    — Ich freue mich immer, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn Sie laut werden. Laut wird man meistens, wenn es piekt. Das war nämlich die Wahrheit.
    Es ist auch peinlich, Herr Müntefering, Ihren Vortrag hier anhören zu müssen. Wir haben jetzt monatelang in den verschiedensten Bereichen gerungen

    (Conradi [SPD]: Mit der FDP gestritten!)

    und innerhalb der letzten sieben, acht Monaten eine Fülle von Gesetzgebungsvorhaben, die wir als Koalition als Wohnungsbaupaket bezeichnet haben, fast aus dem Stand auf den Weg gebracht.
    Sie kommen nun mit den alten Kamellen und sagen, der Bund ziehe sich aus dem sozialen Wohnungsbau zurück — ich sage dazu gleich noch etwas — , verschweigend, daß dem alle zugestimmt haben — warum auch nicht, wo noch vor fünf Jahren in diesem Land eine halbe Million Wohnungen leerstanden.
    Ihr Heimatland, Herr Müntefering, Nordrhein-Westfalen, war ein unrühmliches Beispiel. Kein Bundesland hat vor wenigen Jahren den Wohnungsbau so drastisch zurückgeführt, wie es Herr Rau getan hat:

    (Müntefering [SPD]: Das ist unwahr!)

    von 1,7 Milliarden auf 0,8 Milliarden DM. Fast ein Drittel der gesamten Wohnungsbauförderung der Republik ist allein von nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten gestrichen worden — damit das einmal auf dem Tisch ist.

    (Müntefering [SPD]: Das ist eine dreiste Unwahrheit!)

    Dann wird wieder die peinliche Platte aufgelegt — ein bißchen differenzierter, als es gestern Herr Lafontaine gemacht hat — , nach dem Motto: Seht ihr, liebe Leute, das habt ihr von der Einheit; die Zinsen steigen, weil jetzt die Wiedervereinigung kommt. Was für ein Hohn!
    Auch was für ein Hohn, jetzt ausgerechnet dieser Regierung 40 Jahre Sozialismus mit verfallenen Städten und Wohnungen in die Schuhe schieben zu wollen, wo doch jeder weiß, wie die Sache da drüben gelaufen ist.

    (Reschke [SPD]: Das ist doch kein Grund, nichts zu tun!)

    Wir können uns auch noch daran erinnern, wer dieser Jubeltruppe da drüben bescheinigt hat, daß sie mit ihnen gemeinsam auf dem Boden einer humanistischen Geschichtsentwicklung hier in Deutschland stehen. Was soll das ständige Aufwärmen dieser alten Kamellen?
    Dasselbe gilt allerdings — das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen — auch bei dem, was Herr Müntefering in Richtung langfristige Belegungsbindung vorgetragen hat. Ich habe gestern durch Zufall durch meinen Pressedienst folgendes über Niedersachsen gefunden: Dieses Land liegt bei den Wohnungsbauneubauten bezogen auf die Bevölkerung an der Spitze, allerdings nicht deswegen, weil Herr Schröder jetzt regiert, sondern weil die alte Regierung das vor Jahr und Tag angeschoben hatte. Herr Schröder hat großartig erklärt: Ja, das Wohnungsbauprogramm ist gut, aber es ist falsch finanziert — wie es auch Herr Müntefering sagt —; wir brauchen langfristige Belegungsbindungen, nicht nur welche von 10, 12 und 14 Jahren, wie es die vereinbarte Förderung vorsieht.

    (Müntefering [SPD]: Sieben Jahre sieht er vor!)

    Jetzt steht in diesem Artikel unten ganz klein über die SPD-Fraktion des niedersächsischen Landtags: Es wächst die Einsicht bei den Genossen, daß man sich bei den Absichten finanziell erheblich übernommen hat. So hat sich herausgestellt, daß für das Land das Wohnungsbauprogramm nicht finanzierbar wäre, da es in der Regel auf eine 33jährige Belegungsbindung hinausläuft.
    Das ist doch die Diskussion, die wir hier führen. Wollen Sie für 120 000 DM erst einmal drei Wohnungen fördern, weil wir dringend welche brauchen, oder eine wie bei Ihnen in Nordrhein-Westfalen? Es kommt doch jetzt darauf an, daß schnell Wohnungen gebaut werden; das haben Sie selber gefordert.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




    Dr.-Ing. Kansy
    Sie aber kommen immer wieder mit Ihrer sozialistischen Leier.
    Wollen wir hier die richtigen Entscheidungen für die Zukunft treffen und nicht nur Wahlkampffeuerwerk machen, dann müssen Sie erst einmal dazu bereit sein, noch einmal eine Bestandsaufnahme zu machen. Ich habe Ihnen schon gesagt: Es standen vor drei, vier, fünf Jahren fast eine halbe Million Wohnungen in diesem Land leer.

    (Conradi [SPD]: Das war eine Propagandazahl!)

    — Es ist müßig, zu überlegen, ob es 300 000, 400 000 oder 500 000 Wohnungen waren. Genauso weiß heute keiner, ob 700 000, 800 000 oder vielleicht eine Million Wohnungen fehlen.

    (Müntefering [SPD]: Was schätzen Sie denn?)

    Wir müssen uns überlegen, wie es dazu kam. Ich habe Ihnen schon erklärt: Nach den großen Leerständen hat uns die Wissenschaft, hat uns die Fachwelt großartig beraten: Ihr dummen Politiker, ihr müßt Arbeitsplätze und keine Schlafplätze bauen; ihr müßt aus eurem Trott heraus, in dem ihr 30 Jahre in der Nachkriegszeit gewesen seid. Ihr müßt aufhören, immer weiter zu bauen. Ihr betoniert das Land zu. — Der nordrhein-westfälische Minister Zöpel sprach von Rückbau, sprich: Abreißen; es klang nur ein bißchen vornehmer.
    In diesen Jahren sind als erstes von den privaten Investoren Entscheidungen getroffen worden, die gefragt haben: Warum soll ich mein Geld in Wohnungen anlegen, wenn ich jeden Tag höre, daß eine halbe Million Wohnungen leerstehen?
    Dann kam der Staat hinterher. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, daß der Bund den sozialen Wohnungsbau in erheblichem Umfang gekürzt hat. Aber ich sage noch einmal: Die Länder haben genauso gekürzt; sie sind nach der Verfassung und dem Zweiten Wohnungsbaugesetz mitverantwortlich. Die Gemeinden haben dort, wo sie gebaut haben, mit gekürzt.
    Meine Damen und Herren, in den Jahren, als scheinbar zuviel Wohnraum vorhanden war und private und öffentliche Investoren gekürzt haben, begann nun, als Erfolg der Politik dieser Bundesregierung, ein ständiges viele Jahre währendes, reales Ansteigen der Einkommen, und zwar Jahr für Jahr. Das hat dazu geführt, daß ein erheblicher Teil dieser Einkommenssteigerung in zusätzlichen „Wohnungsverbrauch" — hier hat mal jemand gesprochen, der das nicht so deutlich gemacht hatte — gesteckt wurde.
    Wir müssen den Menschen in diesem Lande jetzt einmal sagen, daß zur Zeit der größte Flächenverbrauch von neuen Wohnungen, von modernisierten Wohnungen die Bevölkerungskreise betrifft, die eigentlich schon gut mit Wohnungen ausgestattet sind.

    (Conradi [SPD]: Der größte Teil der Subventionen geht da rein!)

    Wir haben zur Zeit pro Person und pro Jahr ein Viertel Quadratmeter an zusätzlicher Wohnfläche. Das hört sich nach wenig an. Bei über 60 Millionen Einwohnern sind das aber 15 Millionen Quadratmeter.
    150 000 Hundert-Quadratmeter-Wohnungen gehen zur Zeit auf verschiedene Art und Weise an Leute, die eigentlich gut ausgestattet waren.
    Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ich beklage nichts, aber wenn wir ehrlich miteinander umgehen, müssen wir sie nennen. Da sind die Jugendlichen, die viel früher als noch vor einer Generation, ja, noch vor zehn Jahren, die elterliche Wohnung verlassen. Da sind die alten Menschen, allein oder zu zweit, die in den Häusern und in den großen Wohnungen bleiben. Geschiedene Ehepaare verdoppeln ihre Wohnungsansprüche. Kleine Wohnungen werde zu großen zusammengelegt. Das neue Eigenheim ist natürlich größer als die alte Mietwohnung.

    (Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: Wir sind doch nicht in der Märchenstunde! Das kann man doch gar nicht mehr mitanhören!)

    — Nein, das ist die Wahrheit. Wenn Sie endlich aus Ihrer ideologischen Wohnungsbaudiskussion herauswollen und überlegen wollen, wo wir was für wen tun können, dann müssen wir zuerst die Gruppe benennen, über die wir uns unterhalten wollen.

    (Reschke [SPD]: Sagen Sie doch einmal, was Sie machen wollen!)

    Meine Damen und Herren, viele Menschen kamen dazu, haben das Problem aber nicht geschaffen. Anderthalb Millionen Menschen, seit knapp zwei Jahren neu in diesem Land, verschärfen das Problem.
    Jetzt will ich Ihnen, Herr Kollege Reschke, die Frage beantworten. Vor der Tür der Wohnungsmärkte bleiben vor diesem Hintergrund einer weitgehend gut versorgten Bevölkerung und von außen hinzukommenden Leuten, die von heute auf morgen untergebracht werden müssen, eben die erstmalig Wohnungsuchenden, junge Ehepaare oder junge Leute,

    (Müntefering [SPD]: Das wissen wir alles! Aber was wollen Sie jetzt machen? — Gegenruf des Abg. Dr. Hitschler [FDP]: Wohnungen bauen!)

    die vor der Tür stehen, die umziehen müssen, weil sie den Arbeitsplatz wecheln.

    (Müntefering [SPD]: Insoweit ist das richtig!)

    Diesen Gruppen, Herr Müntefering, müssen wir helfen. Aber wie wollen Sie einem jungen Paar helfen, das sich Freitag nacht die Zeitung am Kiosk holt und schnell zum Telefon läuft?

    (Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: Die jungen Paare werden Ihnen bald helfen! — Zurufe von der SPD)


    (V o r sitz : Vizepräsidentin Renger)

    — Ich habe wirklich nichts dagegen, wenn Debatten lebhaft sind. Wenn ich aber zwischendurch noch zu Wort kommen darf, bin ich sehr dankbar.
    Es geht also um diejenigen, die in der Nacht von Freitag auf Samstag die Zeitung kaufen und zum Telefon rennen. Sie setzen ihren Schwerpunkt in der ganzen Politik — Sie haben es wieder einmal vorgetragen — darauf, immer wieder die alte Platte zu spielen, als ob unser Hauptproblem darin bestünde, der



    Dr.-Ing. Kansy
    großen Menge unserer Bevölkerung in der Wohnungsbaupolitik unter die Arme zu greifen, allen mit möglichst verschärften Mietrechtbestimmungen die Mieten festzusetzen, ganz egal, ob es sich um ein Yuppie-Ehepaar handelt, das 15 000 DM im Monat verdient, oder nicht. Nein, solange Sie nicht begreifen, daß wir uns jetzt auf die Leute konzentrieren müssen, die wirklich betroffen sind, und nicht Wohltaten über das Land streuen, wo viele gut ausgestattet sind, werden wir nicht zu einem vernünftigen Lösungsansatz mit Ihnen kommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wir sind als Union die Partei der sozialen Marktwirtschaft auch im Wohnungsbau. Aber — jetzt nehme ich gerne die Diskussion auf — für uns bedeutet der Begriff soziale Marktwirtschaft gleichermaßen „sozial" wie ,,Marktwirtschaft". Das unterscheidet uns eben von Ihnen. Meine Herren von der SPD — leider ist die Quote zur Zeit nicht erfüllt — , Sie suchen Ihr Heil fast ausschließlich im staatlichen Dirigismus, sei es im Bereich des Neubaus, sei es im Bereich des Mietrechts.
    Aber das unterscheidet uns auch — da gibt es doch überhaupt keinen Zweifel — von einer ganzen Gruppe von Ordoliberalen, die sagen: Warum nicht auch hier Marktwirtschaft? Der Markt wird es schon richten. — Wir versuchen die schwierige Brücke zwischen beiden Gruppen.

    (Müntefering [SPD]: Jetzt gucken Sie einmal zur anderen Seite!)

    — Ich gucke auch gerne zu dem Kollegen Hitschler und dem Kollegen Gattermann.
    Meine Damen und Herren, für uns ist die Wohnung also sowohl ein hohes Sozialgut — der Mittelpunkt unseres Lebens, der Mittelpunkt der Familien — als auch ein teures Investitionsgut, bei dessen Erstellung und Unterhaltung man Marktgesetze nicht verleugnen darf, wenn man nicht Schiffbruch erleiden will.
    Wer die Wohnung nur als Sozialgut betrachtet, sich insbesondere in Wahlzeiten aufbläht, Versprechungen macht und dann wie überall endet, wo man ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Verluste so Politik gemacht hat, wird genauso scheitern, wie, meine ich, der, der Wohnung nur als Investitionsgut betrachtet und nicht sieht — vor allen Dingen in Zeiten großer Defizite — , daß soziale Flanken aufgerissen werden, die politisch zumindest für die Union nicht tragbar sind.
    Wir haben — die Frau Ministerin wird das sicherlich anschließend erläutern — in diesen Monaten mit unserem Wohnungsbaupaket, das die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wesentlich verstärkt, das den privaten Mietwohnungsbau anreizt, das dem Eigenheimbau durch das Bausparzwischenfinanzierungsprogramm hilft, das den Studentenwohnungsbau durch den Bund neu aufgenommen hat und das eine riesige Wohngelderhöhung, Baulandbeschaffungsprogramme usw. beinhaltet, getan, was wir in dieser Situation tun konnten.

    (Conradi [SPD]: Zu wenig! Zu spät! — Dr. Möller [CDU/CSU]: Diese Maßnahmen sind sehr erfolgreich!)

    Wenn ich Ihnen einen Blick in den Bericht der Deutschen Bundesbank, der vor drei Tagen herausgekommen ist, erlauben darf: Wir haben bereits jetzt Baupreissteigerungen von ungefähr 9 %. Wir müssen bei all unseren Anstrengungen aufpassen, daß nicht ein zu großer Teil öffentlicher und privater Gelder letzten Endes nur in erhöhten Baupreisen und nicht mehr in Wohnungen landet.
    Dieses Programm greift. Wir hatten schon im letzten Jahr ein steiles Ansteigen der Zahl der Baugenehmigungen und haben mit einer gewissen Differenz zwischen Bau und Fertigstellung jetzt ein kräftiges Anziehen der Baufertigstellung. Unser Ziel ist oft erläutert worden: 1 Million Wohnungen von 1990 bis 1992 und danach ein Standard von etwa 400 000 Wohnungen jährlich. Da sind wir uns einig, Herr Kollege Müntefering. Dies werden wir brauchen, um das Defizit abzubauen und nicht nur die Lücke zu schließen, die wir heute haben.
    Meine Damen und Herren, aber selbst nach Erreichen dieses Ziels wird es eben einige Jahre dauern, bis wir wieder einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt haben. Deswegen wird insgesamt in den Ballungsräumen auch noch für einige Jahre eine Situation bleiben, die man eigentlich nicht mehr Soziale Marktwirtschaft nennen kann. Da ist nämlich zur Zeit fast kein Markt mehr.

    (Conradi [SPD]: Wohl wahr!)

    Das ist eine Situation, wo der Anbieter auf dem Stuhl sitzt wie ein König und wo der Nachfrager wie zu einen Wohnungsamt kommt.

    (Conradi [SPD]: Das wollen Sie doch so!)

    Deswegen, Herr Kollege Conradi, hat die Union, wenn bisher auch noch ohne Erfolg, maßvolle und auf diese besonderen Regionen und auf sehr befristete Zeit ausgerichtete Mietpreisdämpfungsvorschläge gemacht, die in diesem Deutschen Bundestag bisher noch nicht haben mehrheitsfähig werden können,

    (Reschke [SPD]: Wir stimmen doch zu!)

    die aber — das ist unbestritten — genau das Profil der Union zeigen, das ich vorhin dargelegt habe, daß wir auf der einen Seite nichts auf Ihre populistischen, aufgeblasenen Staatsprogramme geben können und wollen,

    (Geis [CDU/CSU]: So ist es!)

    auf der anderen Seite aber auch nicht sagen: Der Markt wird es schon alleine richten.
    Meine Damen und Herren, zum Abschluß ein Wort zum Bauland. Es kommt in dieser klassischen Mietrechtsdiskussion „Wohnung Sozialgut — Wohnung Investitionsgut" ein Bereich zu kurz. Das ist das immer stärker werdende Problem, überhaupt Grund und Boden zu schaffen, um zu bauen.

    (Dr. Möller [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

    Erstaunlicherweise verdrängen das die Leute am stärksten, die am meisten fordern, die die größten Wohnungsbauprogramme

    (Müntefering [SPD]: Das steht doch da drin! Sie haben das noch nicht gelesen!)




    Dr.-Ing. Kansy
    und die die stringentesten Mietrechtseingriffe fordern und dann, wenn sie gefragt werden: „Wo wollt ihr denn den Boden hernehmen?", sagen: Da sind Baulücken, die man bebauen kann, da sind leere Dachgeschosse, die man ausbauen kann. — Nein, meine Damen und Herren, 3 bis 4 Millionen Wohnungen — das bedeutet das nämlich, was wir hier eben vorgetragen haben — in diesem Jahrzehnt kann man nicht mehr in Baulücken und Dachgeschossen schaffen,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    sondern wir müssen wieder, obwohl es uns wehtut, Bauland ausweisen und den Konflikt zwischen Landschaftsverbrauch und Wohnung offen austragen. Da müssen wir sagen, was wir wollen.

    (Müntefering [SPD]: Da haben wir doch Vorschläge drin!)

    Die Worte sind groß. Sehen Sie überall dorthin, wo Sie regieren. Herr Kronawitter macht jeden Tag eine Pressekonferenz, wo er sagt: Wir brauchen neue Wohnungen. — Dann geht es um die Bebauung der sogenannten Panzerwiese, da sagt er nein. Herr Hauff hat sich hier mit einer Rede als Kandidat für den Frankfurter Oberbürgermeister verabschiedet. Im ersten Jahr, so hat er versprochen, wollte er 4 000 Wohnungen bauen. 1 000 hat er gebaut, weil er mit seiner rotgrünen Koalition kein Bauland zur Verfügung stellen konnte.

    (Bohl [CDU/CSU]: So ist es!)

    Und Herr Kollege Conradi kommt nach Hannover — es ist immer eine schöne Sache, nach Hannover zu kommen — und veranstaltet eine Pressekonferenz und macht ausgerechnet die Hannoverschen Kommunalpolitiker und den Mieterbund madig, die sich dafür einsetzen, Neubaugebiete auszuweisen, und assistiert denen Schwachsinn.
    Nein, Herr Kollege Conradi, die Politik von Ihnen ist keine Politik für das Ehepaar, das Freitag nacht am Kiosk eine Zeitung kauft und zum Telefon läuft. Das ist eine Politik für Ihre Schickimicki-Truppen,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    die sich mit einem Einkommen von 10 000 DM in den Bestand in den Innenstädten einkaufen und dann beim Sektempfang beklagen, daß der Landschaftsverbrauch vor ihrer Tür stattfindet. Das ist nämlich die Wahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Solange Sie nicht bereit sind, auch in diesem Bereich umzudenken, können wir uns alles, was wir im Wohnungsbau vorhaben, abschminken.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)